Der urbane Code Chinas [2., überarb. u. akt. Aufl.] 9783034609029, 9783034613033

Cracking the code of the Chinese city When reading the Chinese city, which this book sets out to do, it is not the wel

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German Pages 200 Year 2013

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Der urbane Code Chinas [2., überarb. u. akt. Aufl.]
 9783034609029, 9783034613033

Table of contents :
Vorwort zur Neuausgabe
Einführung
1 Kann man Stadt lesen
2 Transformationen des leeren Stadtraumes
Schlafanzug und Wäscheleine
Offene und öffentliche Stadtplätze
Stein und Pflanze
3 Schwingende Zeilen und tanzende Punkte
4 Der abgeschlossene Stadtraum
Verriegelte Nachbarschaften
Introverse Nachbarschaftshöfe
Dach- und Lichtskulpturen
‹Compound›: Die Verpackung muss stimmen
Orient trifft Okzident - hybride Wohnquartiere
5 Der aufgeschlossene Stadtraum
Lineare Zentralität oder Magie des Goldenen Korridors
Der offene Raum der Nachbarschaften
Integrierte Blockrandzeilen
Die Nachbarschafts-Fußgängerstraße
Nachbarschafts- und Gemeindezentren
Die ‹Marketender› des Städtewachstums
Mediapolis
Postmoderner Eklektizismus im Städtebau
6 Stadtfiktionen
Die neuen Satellitenstädte in Shanghai
Ein Stück ‹richtiges Deutschland›: Anting Neustadt
Europäische Travestien der chinesischen Stadt
Taiwushi Neustadt (Thames Town)
Luodian Neustadt (die nordische Stadt)
Holland Village in Shenyang: eine Stadtparodie
Blick vom Eiffelturm auf Angkor Wat
7 Kompakte stadt
Große Straße -vertikaler Block
Die Urbanen Dörfer von Shenzhen
Die große Stadt
Sprung über den Fluss
Hyperwachstum
8 Die chinesische stadt als system von Bedeutungen
Zusammenfassung
Anhang
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweise

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Dieter Hassenpflug Der urbane Code Chinas

Dieter Hassenpflug Der Urbane Code Chinas Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe

Birkhäuser Basel

Einführung

11 Vorwort zur Neuausgabe

9

Schwingende Zeilen und tanzende Punkte

3 52

kann man stadt lesen?

1 21

transformationen des leeren stadtraumes

2 28 Schlafanzug und Wäscheleine Offene und öffentliche Stadtplätze Stein und Pflanze

Der abgeschlossene Stadtraum

4 60

Verriegelte Nachbarschaften Introverse Nachbarschaftshöfe Dach- und Lichtskulpturen ‹Compound›: Die Verpackung muss stimmen Orient trifft Okzident  –  hybride Wohnquartiere

Die chinesische Stadt als System von Bedeutungen

Der aufgeschlossene Stadtraum

5 84

Lineare Zentralität oder Magie des Goldenen Korridors Der offene Raum der Nachbarschaften Integrierte Blockrandzeilen Die NachbarschaftsFußgängerstraße Nachbarschafts- und Gemeindezentren Die ‹Marketender› des Städtewachstums

Mediapolis Postmoderner Eklektizismus im Städtebau

Kompakte Stadt

Stadtfiktionen

6 110

Die neuen Satellitenstädte in Shanghai Ein Stück ‹richtiges Deutschland›: Anting Neustadt Europäische Travestien der chinesischen Stadt Taiwushi Neustadt (Thames Town) Luodian Neustadt (die nordische Stadt) Holland Village in Shenyang: eine Stadtparodie Blick vom Eiffelturm auf Angkor Wat

7 139 Große Straße – vertikaler Block Die urbanen Dörfer von Shenzhen Die große Stadt Sprung über den Fluss

8 163 Zusammenfassung

179

Hyperwachstum

Anhang

183 Anmerkungen Bibliografie Bildnachweise

Vorwort zur Neuausgabe

Der vorliegende Band richtet sich an alle, die sich für den rasanten Aufstieg Chinas interessieren und mehr über die Hintergründe, Ziele und Resultate der sich mit dramatisch hoher Geschwindigkeit vollziehenden Urbanisierung des riesigen Landes wissen möchten. Vorrangig jedoch wendet er sich an Stadtplaner, Städtebauer, Architekten und Stadtforscher aller Art, an jene Berufsakteure mithin, die in Praxis und Theorie mit der chinesischen Stadtentwicklung befasst sind. __ Die Erstausgabe des Buches Der urbane Code Chinas erschien im Herbst 2008. Bereits nach etwa eineinhalb Jahren, im Sommer 2010, war die als Band 142 in der Reihe «Bauwelt Fundamente» erschienene Studie vergriffen. Mit den Vorbereitungen einer Zweitauflage wurde sofort begonnen, und bereits Ende 2010 lag dem Birkhäuser Verlag ein druckfertiges Manuskript vor. Doch zur Publikation kam es nicht, denn mit dem Verkauf an den spanischen Architekturverleger Actar geriet Birkhäuser in eine schwere wirtschaftliche Schieflage, die schließlich, im Frühjahr 2012, in eine Insolvenz mündete. __ Mit der Übernahme durch De Gruyter, Berlin, änderte sich die Situation schlagartig: das Verlagsboot wurde nach turbulenten Zeiten endlich in ruhiges Fahrwasser gesteuert, und Ulrich Schmidt erklärte sich als Programmleiter in dankenswerter Weise sofort bereit, das Projekt der Neuauflage wieder aufzugreifen. Inzwischen war jedoch sehr viel Zeit verstrichen. Das für die zweite Auflage ursprünglich vorgesehene Manuskript, dessen Überarbeitungen sich an der im Jahr 2010 bei Birkhäuser als Solitär erschienenen amerikanischen Ausgabe The Urban Code of China orientierten, konnte den Ansprüchen an Aktualität auch nicht mehr genügen. Die Konsequenz ist eine nunmehr vollständig durchgesehene, korrigierte und abermals aktualisierte Ausgabe. __ Die Gründe für die Überarbeitung liegen nicht nur in dem erwähnten zeitlichen Abstand, sondern auch in der singulären Änderungsdynamik der chinesischen Stadtentwicklung. So reflektiert die vorliegende Neuausgabe nicht nur den Stand der amerikanischen Übersetzung, sondern überprüft und verarbeitet in Text und Bild die neuesten Entwicklungen der städtischen Raumproduktion. Dies betrifft insbesondere die Themen ‹öffentlicher Raum›, Suburbanisierung bzw. Städtewachstum, Siedlungsformen und die Verarbeitung globaler Einflüsse. Von den Aktualisierungen unberührt bleiben indes die inhaltliche Struktur des Bandes, der Theoriegehalt und die methodische Ausstattung, in deren Zentrum die Städtebau-Semiotik steht. __ Das vorliegende Buch ist ein Ergebnis von Forschungen, die über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ab 2002 bei Reisen in China und bei Gastaufenthalten an verschiedenen Universitäten des Landes durchgeführt wurden. Meine China-Studien begannen mit einer von der Deutschen Forschungsgesellschaft (dfg) finanzierten Kontakt- und Vortragsreise, die mich zunächst an die Tsinghua-Universität in Peking, dann an das hit

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in Harbin, die Architektur-Universität Shenzhen, die Technische Universität Qingdao und schließlich an das caup der Tongji-Universität in Shanghai brachte. Die sich anschließenden Reisen führten mich in viele große Städte vor allem im Osten und Norden des Landes, nach Peking, Shanghai, Harbin, Changchun, Jilin, Shenyang, Dalian, Qingdao, Zengzhou, Xi’an, Ningbo, Changsha, Shenzhen, Hongkong, Macao, Zhongshan, Guangzhou und andere mehr. __ Die wichtigsten Stationen waren jedoch Gastprofessuren von jeweils ca. sechs Wochen jährlich über einen Zeitraum von vier Jahren an der School of Architecture and Urban Planning des Harbin Institute of Technology (hit) ab 2003, von zahlreichen Gast­ aufenthalten an der School of Architecture and Urban Planning an der Shenyang Jian­zhu Universität ab 2008 und von ca. fünf Wochen im Jahr 2005 und von sieben Monaten im Jahr 2007 am Centre for Architecture and Urban Planning (caup) an der Tongji-University Shanghai. Im Rahmen der Gastaufenthalte erhielt ich nicht nur Gelegenheit zu intensiven Feldstudien, sondern auch zur wiederholten Mitwirkung an städtebaulichen Entwicklungsprojekten, an der Erstellung von strategischen Stadtentwicklungsplänen und Masterplänen. Mit der Tongji-University verbindet mich speziell der Aufbau des Doppeldiplomstudiums «Integrated International Urban Studies» (iius) für das von mir bis Ende 2006 als Gründungsdirektor geleitete Institut für Europäische Urbanistik (ifeu) an der Bauhaus-Universität Weimar. Dieses Studiengangsprojekt zog weitere Projekte, Forschungsvorhaben und Tagungen und dementsprechend zahlreiche Aufenthalte in Shanghai nach sich. __ Die erste Auflage von Der urbane Code Chinas erfuhr enorme Aufmerksamkeit in der Fachwelt der Architekten, Städtebauer und Stadtplaner, insbesondere jedoch bei jenen Berufsakteuren, die mit der chinesischen Stadtentwicklung befasst waren (und sind). Das große Interesse spiegelte sich in einem breiten Medienecho, das über einschlägige Fachzeitschriften hinaus nahezu alle wichtigen Tages- und Wochenzeitungen erreichte. So erschienen Rezensionen und Beiträge zum Buch nicht nur in der Architectural Review, der Bauwelt und der disp der eth Zürich, sondern auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (faz), der Welt, der Süddeutschen Zeitung (sz), der Neuen Zürcher Zeitung (nzz), der Frankfurter Rundschau (fr), der Tageszeitung (taz), dem Online-Magazin des Deutsch-Chinesischen Kulturnetzwerks und dem Fachjournal für Ostasienwirtschaft AsiaBridge. __ Bei der vorliegenden überarbeiteten Neuauflage konnte ich mich in großen Teilen auf die bereits für die amerikanische Ausgabe erfolgten Korrekturen und Aktualisierungen stützen. Gleiches gilt auch für das Angebot an grafischen Darstellungen, Tabellen und Fotos. Wie schon bei der ersten Auflage wurde auch dieses Mal großer Wert auf eine leicht verständliche, transparente Sprache gelegt – ohne bei der wissenschaftlichen Substanz Kompromisse einzugehen. Leserinnen und Leser, denen aufgrund beruflicher Orientierung oder persönlicher Vorlieben eher an unmittelbar praxisrelevanten Informationen gelegen ist, können problemlos die Kapitel 1 und 8 überschlagen, die beide der wissenschaftlichen Fundierung und Aufbereitung des vorgelegten Materials dienen. __ Den geneigten Leserinnen und Lesern wünsche ich eine anregende und gewinnbringende Lektüre.

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vorwort zur neuausgabe

Einführung

Wer sich mit China befasst, wendet sich einer aufstrebenden Weltmacht zu. Hier ist alles wichtig, die wirtschaftliche, politische, soziale Entwicklung, aber auch die Produktion des städtischen Raumes, seine ‹Sprache›, ‹Grammatik›, ‹Syntax›, sein Code. Das in der gegenwärtigen räumlichen Stadtentwicklung Chinas Bemerkenswerteste ist wohl die Geschwindigkeit und Konsequenz, mit denen das alte, arme, gestrige Land buchstäblich ab- und beiseitegeräumt und durch ein neues, vertikal aufstrebendes, in Glasfassaden sich spiegelndes, glitzerndes China von Morgen ersetzt wird. In diesem, der Zukunft zugewandten China, das vor unseren Augen geradezu im Zeitraffertempo Gestalt annimmt, spiegeln sich die Visionen einer Nation, die nach fast zwei Jahrhunderten der Revolutionen, Prüfungen und Heimsuchungen zu sich selbst findet und vergangene Größe wieder auferstehen lässt. __ Doch wodurch ist dieses Neue charakterisiert? Handelt es sich hier um Importe von Ideen und Konzepten, um Kopiertes, Nachgeahmtes – in Ermangelung eigener Vorstellungen? Oder haben wir es mit Eigenem zu tun, mit authentisch Chinesischem? Steckt in dem Neuen auch Altes, ohne das, nach einem Diktum Ernst Blochs, wirklich Neues gar nicht entstehen kann? __ Die Öffnung Chinas, eingeleitet durch den legendären Reformer Deng Xiao Ping vor etwa 35 Jahren, beschert dem einstigen Reich der Mitte eine gewaltige, nicht enden wollende Flut von Einflüssen von innen, aus der eigenen, teilweise neu zu entdeckenden, neu zu deutenden Geschichte, und von außen. Durch die nur schwer kontrollierbaren Portale des Internet, durch die offenen Fenster des Fernsehens und im Schlepptau von Waren und Diensten, die der internationale Handel in das riesige Land spült, halten ausländische Ideen, Zeichen, Bilder, Stile, Konzepte, Techniken und Gebräuche Einzug. Insbesondere Einflüsse aus den usa, schon seit geraumer Zeit Heimat zahlreicher dort integrierter chinesischer Auswanderer, aber auch aus Europa und entwickelten ost­asiatischen Anrainerstaaten, sickern in die Metropolen der östlichen Küstenregionen, des Nordens und inzwischen auch in das weite westliche Hinterland. __ Aus der globalen Kommunikationssphäre kommt auch die Sprache. Englische Wörter und Sätze, häufig immer noch in einem erheiternden ‹chinglish›1, sind heute aus dem Zeichensystem des ‹öffentlichen Raums› chinesischer Städte nicht mehr wegzudenken. Ob Hinweis- oder Straßenschild, Wegweiser, Werbeplakat oder Fahrkartenautomat, ausländische Gäste müssen auf die englischsprachige Ergänzung in der Regel nicht verzichten. __ Aus den Vereinigten Staaten kommen Windows, Google, iPhone und die Fast-FoodRestaurants. Kaum ein neues Einkaufszentrum kommt ohne ein Ladenlokal aus der Riege kfc, Starbucks, Pizza Hut, Burger King, McDonalds und so weiter aus – dies sorgt für eine geradezu überwältigende Präsenz der zugehörigen Markenzeichen im Stadt-

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raum. Die ‹McDonaldisierung› der außergewöhnlich vielfältigen chinesischen Esskultur scheint kaum noch zu stoppen. Mit Begeisterung wird die einst us-amerikanische, heute globalisierte Fast-Food-Kultur sogar auf chinesische Rezepte übertragen: McNoodle lässt grüßen! __ Aus Frankreich kommen Bordeaux, Chanel und Louis Vuitton nach China, aus Italien die Fiktionen der toskanischen Villa, Armani, Alessi und der Herrenanzug, aus England die Bilder der Premier League, James Bond und die Inspirationen für den Chinapop – und aus Deutschland, dem Weltmeister der konsumentenfernen ‹backstage economy› des Maschinenbaus, natürlich Kläranlage und Prozesssteuerung, überhaupt das Engineering – aber eben auch die Konsumprodukte Automobil und Bratpfanne. Natürlich ist diese Auflistung bloße Karikatur. Sie steht als solche jedoch für die Unzahl sogenannter westlicher Importe in das nunmehr ‹aufgeschlossene› China.2 __ Die architektonischen Stile und Moden, dazu die Prinzipien des Städtebaus, scheinen gleichfalls westlicher Herkunft. Der von der Bewegung des neuen Bauens im frühen 20. Jahrhundert propagierte und 1933 in der berühmten Charta von Athen des Congrès International d’Architecture Moderne (ciam) dogmatisierte Zeilenbau feiert in China seit der sowjetisch dominierten kommunistischen Frühphase Triumphe und ist aus dem Bild seiner Städte überhaupt nicht mehr wegzudenken. Die neuen Wohnsiedlungen der aufstrebenden Mittel- und Oberschicht erinnern mit ihren Mauern, Zäunen und schlagbaumbewehrten Einfahrten stark an amerikanische ‹gated communities›. Auf Planung und Bau neuer ‹Central Business Districts› (cbd s) will heute keine der selbstbewussten chinesischen Megastädte mehr verzichten. Angefüllt werden die cbd s mit Wolken­ kratzern im internationalen Stil, gelegentlich aufgelockert durch Leuchtturm-Architekturen postmoderner oder sogar dekonstruktivistischer Provenienz. Die Metropolen Peking, Guangzhou und Shanghai liefern sich seit geraumer Zeit einen Wettbewerb um die imponierendsten Bauwerke international renommierter Architekten wie Rem Koolhaas, Arata Isozaki, Richard Rogers, Norman Foster, Herzog & de Meuron, Paul Andreu, von Gerkhan, Marg & Partner, Albert Speer, Gunter Henn, Zaha Hadid und anderer mehr. Mittlerweile beteiligen sich die meisten Provinzhauptstädte nach Kräften an diesem Wettlauf der Architekturmarken. Auch die Planungspraxis der raumfunktionalen Spezialisierung (Zonierung), die ihre Wurzeln im Westen hat, erfreut sich enormer Beliebtheit und wird ganz und gar in den Dienst der Steigerung des lokalen und regionalen ‹Gross Domestic Product› (gdp, Bruttoinlandsprodukt) gestellt. __ Es kann bei alledem kaum überraschen, wenn wir häufig hören und auch lesen, dass der westliche Einfluss auf die chinesische Entwicklung groß, ja tiefgreifend sei. China, so heißt es mit sinophil angehauchtem Bedauern, würde verwestlichen – was nichts anderes bedeutet, als dass das Land seine Identität zumindest in Teilen preisgeben würde.3 Shanghai, die einstige Kolonialmetropole und heutige Weltstadt, gilt als Sturmvogel dieser Preisgabe chinesischer Identität. Gestützt wird dieses Urteil übrigens auch durch zahlreiche chinesische Experten. Angesprochen auf die vermeintliche Verwestlichung erhält man oft die Antwort, dass China um seiner zukünftigen Entwicklung willen gar keine andere Wahl habe, als dem Westen nachzueifern. Insbesondere die Vereinigten Staaten seien eine Weltmacht, seien erfolgreich – und um selbst erfolgreich zu sein, müsse man dem amerikanischen Vorbild folgen. __ Doch folgt China tatsächlich westlichen Vorbildern? Wie weit folgt es ihnen? Be­ zie­h­ungsweise wie weit vermag es ihnen überhaupt zu folgen? Dass die Rede von der

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Verwestlichung Chinas mit Vorsicht zu behandeln ist, lässt sich bereits an zwei einfachen, aus dem Alltagsleben gegriffenen Beispielen verdeutlichen: __ Die Schnellimbiss-Ketten kfc und Pizza Hut sind in China von beispiellosem Erfolg gekrönt. In den Großstädten des Ostens sind die Läden geradezu omnipräsent. Wenn man deren Speisekarten untersucht, kann man allerdings deutliche Unterschiede zum westlichen Angebot entdecken. Diese reichen von den verwendeten Würzmischungen bis zu chinesischen Gerichten. Der Erfolg der Ketten basiert offenbar nicht allein auf der Neugier chinesischer Kunden auf neue kulinarische Erfahrungen, sondern auch auf der Anpassungsfähigkeit von kfc & Co. an deren Wünsche. Hinter dem Erfolg steht demnach, zumindest teilweise, die interkulturelle Kompetenz des jeweiligen Managements. Wo China sich westlichen Einflüssen aufschließt, öffnen sich diese Ketten offenbar erfolgreich den kulinarischen Vorlieben des Landes – ohne ihre Markenidentität preiszugeben. Als Ergebnis dieser Anpassung entstehen nordamerikanisch-chinesische Fast-Food-Hybride. Was also bedeutet hier Verwestlichung? __ Ähnliches lässt sich am Beispiel des Westprodukts Automobil demonstrieren. An­deren ostasiatischen Völkern, etwa den Koreanern, vergleichbar, bevorzugen die Chinesen große Autos. Die Gründe dafür sind letztlich in der extrem hierarchischen Gesellschaftsstruktur zu suchen. In dieser wird Status mittels akzentuierter Symbolik demonstriert. Was einst mittels Bekleidung und Wohnhaus, präziser: durch Kopfbedeckung und Dachkonstruktion, zum Ausdruck gebracht wurde, wird heute vor allem durch das Automobil auf die Bühne der Eitelkeiten gebracht. Bis in die jüngere Vergangenheit konnten sich vor allem diejenigen Autos leisten, die imstande waren, zugleich einen Chauffeur zu beschäftigen. Die Autos mussten groß sein und viel Platz bieten, denn der Fahrzeugeigner saß vorzugsweise im Fond und wünschte sich entsprechende Beinfreiheit. So wurden zum Beispiel die Autos der Firma Volkswagen mit den Markennamen Passat und Audi im Zuge eines Redesigns gegenüber den deutschen Originalen um etwa 10  Zentimeter verlängert. Analog werden viele Modelle von bmw oder Daimler, vorzugsweise Limousinen (Kombis sind weniger beliebt, da sie nicht wie ‹richtige Autos› aussehen), ‹gestretcht›, um dem Geschmack und Distinktionsbedarf wohlhabender chinesischer Kunden entgegenzukommen. Vielleicht lässt sich die kulturelle Gestaltungskraft, die hier wirksam ist, als ‹RikschaMentalität› bestimmen ... __ Mittlerweile hat sich vieles geändert. Preiswertere Automobile wurden auf den Markt gebracht, die Löhne sind gestiegen und Lebensstile haben sich verändert. Viele, die einen Fahrer beschäftigen könnten, wollen dies heute gar nicht mehr. Und andere, die sich keinen Chauffeur leisten können, sind sehr wohl in der Lage und willens, sich ein Auto zu kaufen. Geblieben jedoch ist der Hang zum großen Fahrzeug. Ein bemerkenswertes Paradoxon angesichts der hohen Bevölkerungszahl und Dichte chinesischer Städte. __ China, so unsere Behauptung, verwestlicht keineswegs. Es konsumiert vielmehr westliche Angebote extensiv – und ‹verdaut› sie gründlich, um sie zum Bau einer neuen chinesischen Welt zu verwenden. Der hungrige, große chinesische ‹Magen› nutzt offenbar kulturelle Gestaltungskräfte (gleichsam ‹kulturelle Enzyme›), die bewirken, dass eine mal mehr, mal weniger kraftvolle Sinisierung 4 des von überall her importierten Materials stattfindet. China, so Daniel Bell, adoptiert nicht nur dieses Material, sondern adaptiert es auch an seine Bedürfnisse (Bell 2008).

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Dieser Satz ist auch für die gegenwärtige Stadtentwicklung gültig. Was auf den ersten Blick als Ergebnis sogenannter Verwestlichung erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als tief in chinesischen Traditionen verwurzelt. Ein gutes Beispiel dafür ist der populäre südorientierte Zeilenbau, der zwar eine europäische Wurzel haben mag, in seiner Realisierung jedoch chinesischen Traditionen gehorcht. Vergleicht man etwa die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Satellitenstädte und Plattenbau-Siedlungen mit den fordistischen Siedlungen des kommunistischen und post-sozialistischen China, dann fällt auf, dass in diesen die Orientierung viel konsequenter realisiert wurde und wird. Der Grund liegt nicht nur in den klimatischen Vorzügen der Südorientierung, sondern auch in dem durch diese Orientierung verbürgten sozialen Kapital beziehungsweise Status. Auf diese Zusammenhänge wird noch zurückzukommen sein. __ Über den Blick auf das Schicksal der in China eingewanderten Produkte und Ideen sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass beim Bau des neuen China das alte – vor allem das China der Kaiserzeit, jedoch auch dasjenige der Republik und der MaoEpoche – von innen her, mit endogenen Kräften fortgeschrieben wird. In der chinesischen Geschichte, in seinen in Tausenden von Jahren tief verwurzelten Traditionen, liegt das Geheimnis der erwähnten Gestaltungskräfte.5 Beides ist demzufolge im Blick zu behalten: das chinesische Projekt der Wiederaufrichtung des Landes aus Eigenem und aus Fremdem. __ Unsere Studie zum urbanen Code Chinas bewegt sich auf zwei miteinander verschränkten Ebenen. Die erste ist beschreibend-analytisch. Dabei handelt es sich um die eigentliche ‹Lektüre› des chinesischen Stadtraumes. Die zweite ist erläuternd und bietet Begriffe und Theorien zur diskursiven Einordnung des empirisch Vorgefundenen an. So stellt die erste Ebene den Leser vor die Bühne, um ihn am Bühnenbild (die chinesische Stadt) und an der Aufführung (die Stadtlektüre) teilhaben zu lassen. Die zweite Ebene führt ihn gleichsam hinter und unter die Bühne, zu Probe, Bühneninfrastruktur und Bühnentechnik. __ Wir beginnen mit einer Erörterung der Frage, wie das Lesen des städtischen Raums überhaupt bewerkstelligt werden kann. In den Blick kommt hier zweierlei: Zum einen die Semiotik des gebauten Raums, also die Wissenschaft, welche Landschaft, Dorf, Stadt, Stadträume und Architektur als Zeichen behandelt. Zum anderen begegnen wir dem Wissen um die historischen und geschichtlich überkommenen chinesischen Praktiken der Aneignung und Produktion von Raum. Beide, Raum und Tradition, sind eng mit­ einander verwoben. Es folgt aus dieser Verbindung, dass der produzierte Raum nicht nur von beliebigen Nutzungen, vergänglichen Moden und transitorischen Ideologien berichtet, sondern immer auch von tief in sozialen Zusammenhängen verwurzelten kulturellen Praktiken. Die Semiotik des gestalteten Raums ist insofern immer schon eine Wissenschaft kulturbedingter Raumzeichen. Hier verbinden sich die Gebiete der (historischen) Sinologie und der Kulturgeografie. __ Wer das erste und achte Kapitel – sie sind den Methoden, Theorien und Konzepten der Stadtlektüre und Stadtsprache6 gewidmet – als theorielastige Umwege betrachtet und daher überspringen möchte, kann dies problemlos tun: Wer einen Becher Joghurt auslöffelt, muss ja auch nicht unbedingt dessen Wertschöpfungskette kennen, um ihn sich schmecken zu lassen. __ Unter der Überschrift «Schlafanzug und Wäscheleine» beginnen wir die eigentliche Stadtlektüre mit einem Thema, das wie kein zweites auf den Kern der chinesischen

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Raumkultur zielt, dem Verhältnis von ‹offenem› und ‹öffentlichem› Raum. Der Beobachtung und Interpretation von Straßenszenen folgt die Identifizierung wichtiger Typen offener Stadtplätze, der Versuch mithin, ihre soziale Botschaft zu verstehen (Kapitel 2). Es wird deutlich, dass das, was im westlichen Blick allzu vorschnell und vereinfachend als ‹öffentlicher› Stadtraum identifiziert wird, in Wahrheit ‹offener› Stadtraum ist, sozusagen ein ‹unbeschriebenes Blatt› soziokultureller Raumaneignung, ein Raum, der immer und überall, im Kleinen und Großen, vom Mikrokosmos irgendeiner Gehsteig-Szene bis zum Makrokosmos des Straßengewebes erfahrbar ist. Es wird zudem deutlich, dass sich zwischen die Extreme des öffentlichen und des offenen Stadtraumes die Kategorie des ‹Gemeinschaftsraumes› positioniert, eines Raumes, in dem sich die fortwährende kulturelle Hegemonie der chinesischen Familie manifestiert. __ Der Rang des Themas ‹leerer› beziehungsweise ‹offener Raum› teilt sich auch unserer Studie mit. In dieser verhält es sich wie eine Grundmelodie, die in den einzelnen Kapiteln variiert und thematisch um- und überspielt wird. Aufgrund seiner Bedeutung erhält das Thema ‹offener Stadtraum› die Pole-Position in unserer Studie. __ Gefolgt wird dieses Kapitel von Betrachtungen über die Weiterentwicklung der funktionalistischen Agenda des aus Europa nach China migrierten modernen Wohnungsbaus (Kapitel 3). Wir erfahren, dass der chinesische Urbanismus in ebenso eigenwilliger wie eigenständiger Weise das Erbe des fordistischen Siedlungsbaus antritt. Er bewahrt ihn, indem er fortfährt, ihn als Stadtbaustein zu nutzen. Er lässt ihn hinter sich, indem er ihn zu ‹schwingenden Zeilen und tanzenden Punkten› weiterentwickelt, wie es in der Überschrift heißt. __ Der Rang des Themas Wohnsiedlung in dieser Arbeit spiegelt die Bedeutung des Wohnens für die gegenwärtige chinesische Stadtentwicklung insgesamt. Denn die neue chinesische Stadt ist zu einem Gutteil die Stadt des weiterentwickelten sozialistischen Siedlungsbaus. Sie ist jedoch zugleich die Stadt der verriegelten Nachbarschaften, der introversen Nachbarschaftshöfe, der vertikalen Form, der Dach- und Lichtskulpturen und, nicht zuletzt, der Nachbarschaft als eines mit Markenidentität versehenen LebensstilProdukts.7 (Kapitel 4) In den neuen, abgeschlossenen Nachbarschaften vermischen sich das alte und neue China auf eigene, kreative Weise. __ Es bietet sich an, an dieser Stelle, wo der siedlungsräumliche Dialog des alten mit dem neuen China dokumentiert wird, die Ergebnisse der Untersuchung raumkultureller Hybriden anzuschließen. Diese Hybriden sind aus der unmittelbaren Begegnung von Orient und Okzident hervorgegangen. Ein aufregendes Beispiel bieten die um 1860 erstmals auftauchenden, Lilong 8 genannten Shanghaier Wohnsiedlungen. Es folgt das Beispiel der aus einer Kreuzung russischer und chinesisch-mandschurischer Einflüsse hervorgegangenen Jingyu-Blocks in der historischen Innenstadt von Harbin (DaowaiDistrikt). __ Der abgeschlossenen Stadt steht im neuen China die, wenngleich noch nicht wirklich öffentliche, so doch ‹offene› Stadt gegenüber. Die Manifestationen dieser offenen Stadt – vom Residualraum über den intimisierten Bürgersteig, die Erschließungsstraße, den kommerzialisierten Blockrand bis zum Distrikt-Einkaufszentrum – sind Gegenstand des 5. Kapitels. __ Bevor wir allerdings diese Strukturen unter einem vorwiegend an kom­mer­ziellen Nutzungen ausgerichteten Blick näher untersuchen, wenden wir uns einer Betrachtung des Zentralitätskonzepts chinesischer Großstädte zu. Hier treffen wir auf Bemühungen

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um eine Reaktivierung der historisch überkommenen linearen Zentralität. Als Zeichen reflektiert diese Form einen hierarchischen Gesellschaftsaufbau. Es fragt sich daher, was es zu bedeuten hat, wenn diese Raumfigur heute reanimiert wird, und das, wie das Beispiel des ‹Goldenen Korridors› in Shenyang zeigt, mit großem Erfolg. Offenbar vermag sich die chinesische Gegenwartsgesellschaft in der hierarchisch gegliederten Abfolge bedeutungsgeladener Räume entlang großer städtischer Achsen immer noch problemlos wiederzuerkennen. __ Die europäische Stadt bezieht bis auf den heutigen Tag ihre Atmosphäre aus der Begeisterung des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bürgertums für die extraverse Stadtbühne, mithin für die Inszenierung öffentlicher Räume mittels dekorierter Häuserfassaden. Was die Liebe zur Inszenierung betrifft, stehen die Chinesen den Europäern nicht nach. Im Gegenteil: Während in Europa die Freude am Theatralischen oder Dekorativen durch den Einfluss der ästhetischen Regeln und Dogmen der ‹klassischen› Moderne merklich gelitten hat, feiert sie im aufblühenden, offenen China eine ebenso fröhliche wie bunte Wiederauferstehung. __ Allerdings gilt es einen gewaltigen Unterschied zu beachten: Die gegenwärtige Leidenschaft für das städtische Raumtheater artikuliert sich nicht in Fassadenornamenten, denn das historische China kannte weder dekorierte Gebäudefassaden noch die zugehörigen, durch die Fassaden inszenierten öffentlichen Räume. Die neue chinesische Freude an Ornament, Dekor und Bildhaftigkeit äußert sich vielmehr in einer gelegentlich an das Ekstatische grenzenden und westliche Grundsätze gestalterischer Disziplin souverän ignorierenden Freude an Bling-Bling, buntem Glitter, Neonleuchten, Leuchtschlangen und farbigen Strahlern, an modischen Symbolen, Zeichnungen, Logos, Piktogrammen und diversen anderen Artefakten zur Veranstaltung eines gehörigen Budenzaubers. Mit diesem Stoff, gewebt aus Farben und Licht, wird ein völlig neues urbanes Ambiente entworfen, ein hyperrealer städtischer Medienraum. China, so die an Gewissheit grenzende Vermutung im vorletzten Teil des 5. Kapitels, ist das dynamisch agierende Laboratorium der zukünftigen Medienstadt. Die teils verblüffenden, teils spektakulären, jedoch immer beeindruckenden Resultate dieser Form der Inszenierung des städtischen Raums lassen sich bereits heute in den meisten Megastädten des Landes besichtigen. __ Das Kapitel über den offenen Stadtraum schließt mit einer beispielhaften Analyse zweier Mastermodelle der neuen Stadtzentren von Harbin und Shenzhen. Exemplarisch wird aufgezeigt, wie unterschiedliche importierte Stilelemente in eine eklektische chinesi­sche ­Struktur einfließen und zugleich einer städtebaulichen Sinisierung unterzogen werden. __ Als thematisch benachbart erweist sich der medialisierende Umgang Chinas mit dem Kulturerbe der westlichen, namentlich der europäischen Stadt, weshalb wir das Kapitel «Stadtfiktionen» der Analyse der Medien-Stadt folgen lassen (Kapitel 6). In China ist in den vergangenen 20 Jahren eine enorm vielfältige Landschaft urbaner Inszenierungen entstanden, so facettenreich, dass sich eine typologische, an der Theatersprache orientierte Differenzierung empfiehlt. Wir beginnen mit einer Betrachtung von drei bereits größtenteils fertiggestellten thematischen Satellitenstädten des Shanghaier ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plans›9, von Anting New Town, Taiwushi und Luodian. Es folgen Betrachtungen einer Siedlung in Shenyang (Holland Village), die mit 1 : 1 - Kopien niederländischer Gebäude-Ikonen vollgestellt wurde. Das Kapitel schließt mit der Betrachtung eines mit urbanen Versatzstücken aufwartenden, in China sehr populären Themenparks in der südchinesischen Stadt Shenzhen.

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Anting, die ‹Deutsche Stadt›, weist in ihrer offenen Grundstruktur tatsächlich Merkmale der deutschen beziehungsweise europäischen Stadt auf – und kommt damit dem chinesischen Dualismus von geschlossener und offener Stadt schwer ins Gehege. Unlösbare Widersprüche scheinen vorprogrammiert. Taiwushi, auch Thames Town genannt, ist die sogenannte englische Stadt im Reigen der Neustädte. In Wirklichkeit handelt es sich, wenn man die Grundstruktur analysiert, um eine rein chinesische Satellitenstadt, deren offene, kommerziell geprägte Stadtbühne mit Kopien englischer Gebäude bestückt wurde. Taiwushi ist die englische Travestie10 einer chinesischen Neustadt. Gleiches gilt auch für die skandinavische Satellitenstadt Luodian. Mit Holland Village in Shenyang begegnen wir schließlich dem schon tragikomischen Beispiel einer europäischen Parodie11 der chinesischen Stadt. __ Diesen Betrachtungen folgt ein integrierender Blick auf die idealtypische chinesische Stadt, auf ihre Größe, ihre Dichte, ihren Wachstumstyp und ihre Gestalt; denn nicht nur gibt es die Idee der deutschen bzw. europäischen Stadt (dies anzunehmen, war nicht der Fehler von Albert Speer), sondern es existiert auch die Idee der modernen chinesischen Stadt. In den zurückliegenden 30 Jahren bildete sich ihr Code aus. Wir zeigen, wie die Grundstruktur dieser neuen chinesischen Stadt vom Rhythmus der ‹großen Straße› und des ‹vertikalen Blocks› geprägt wird ( Kapitel 7). __ In diese räumliche Grundmelodie von ‹großer Straße und vertikalem Block› mischen sich gelegentlich unüberhörbar Töne, von denen die ‹Dörfer› von Shenzhen zu den eigenartigsten gehören. Denn diese ‹Dörfer› zählen zu den am höchsten verdichteten Stadträumen der Welt. Ihre Bewohner sind Abkömmlinge derselben Familien, die einst in agrarischen Dorfkollektiven zusammenlebten, bevor die rasend schnell wachsende Stadt ihre Reisfelder und Fischgründe in einem Tsunami der Verstädterung fortriss. Statt Reisfelder und Fischfarmen werden jetzt Arbeitsmigranten ‹beackert›. Dies unter der prekären, von Interventionen der städtischen Behörden drangsalierten Leitung einer informell agierenden Quartiersregierung, die teils aus den kommunistischen Dorfkollektiven hervorgegangen ist, teils jedoch auch noch in überkommenen Clanstrukturen fußt. __ Ein weiterer interessanter Ton in der chinesischen Stadtmelodie ist die Praxis des ‹Über-den-Fluss-Springens›, die sich seit dem erfolgreichen Sprung Shanghais von Puxi nach Pudong – und angetrieben durch die atemlose Suche nach Bauland für die explodierenden Städte – zu einer Art von städtebaulicher Mode entwickelt hat (Kapitel 7). __ Das achte Kapitel, das für die vorliegende Auflage ebenso wie das erste, mit den semiotischen Grundlagen befasste Kapitel stark überarbeitet wurde, unternimmt es, die aufgespürten, partikularen Signifikate, Bedeutungen und Inhalte zu einem konsistenten Text der chinesischen Stadt zu integrieren. Um dies zu leisten, wird auf eine strukturale Hermeneutik rekurriert, deren Ausgangs- und Endpunkt der ‹binäre Code› von Gemeinschaft und Gesellschaft (räumlich: von Landleben und Stadtleben) ist. Auf dieser Grundlage lässt sich ein System von Begriffen entfalten, das den erarbeiteten Codes wissenschaftlichen Halt verleiht. __ Im heutigen China, so wird in Kapitel 8 verdeutlicht, sind die gesellschaftskonstitutiven Kräfte, insbesondere die wirtschaftlichen, von Verhältnissen und Strukturen der Gemeinschaft durchdrungen. Dieses Ineinanderreflektieren von Gesellschaft und Gemeinschaft teilt sich dem städtischen Raum mit: Dieser liest sich als Landschaft urbanisierter Dörfer. Entschiedener als der aufgeklärte Westen scheint China im Verlauf

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seines Modernisierungsprozesses am Erbe des rural konnotierten traditionalen Gemeinschaftslebens, an Clan- und Familienstrukturen festzuhalten. __ Diese Anwesenheit des Gemeinschaftlichen verweist auf das Adjektiv ‹konfuzia­n­isch›. Dabei geht es um die Charakterisierung eines Entwicklungsmodells, das auf Modernisierung – auf Urbanisierung und Individualisierung – zielt, ohne auf Tradition – auf dörflich-rurale, gemeinschaftszentrierte Lebensformen – zu verzichten. In diesem Zusammenhang begegnen wir etwa dem ‹konfuzianischen Kapitalismus›, einer Unternehmenskultur, in der unternehmerisches Handeln mit radikaler Familienorientierung verschmilzt. In entschiedenerer Weise als dem Westen scheint es China zu gelingen, das Erbe des Gemeinschaftslebens im Zuge der Modernisierung zu bewahren. __ Die Studie endet mit einer weitgehend enumerativen Zusammenfassung der wich­ tigsten Ergebnisse der Stadtlektüre. Das Buch ist um Lesbarkeit und Anschaulichkeit bemüht. So wird durchgängig versucht, die stadtsoziologische, städtebautheoretische und semiotische Fachsprache so weit wie möglich zu öffnen, um die verhandelten Inhalte einem breiteren Publikum zu erschließen. Zudem werden die beschriebenen Objekte und analysierten Sachverhalte durch geeignetes Bildmaterial, durch zahlreiche Fotos, Illustrationen und Tabellen veranschaulicht. __ Es versteht sich, dass die Dekodierung der chinesischen Stadt dem westlichen Leser einen Spiegel vorhält, in dem er sich und seine eigene Lebenswelt besser zu erkennen vermag. Wenn wir also behaupten, dass in einem Buch über den urbanen Code der chinesischen Stadt zugleich der Code der westlichen Stadt mitverhandelt wird, dann ist dies keineswegs Ausdruck von Unbescheidenheit. Im Anderen erkennen wir uns selbst.

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Kapitel

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Kann man Stadt lesen?

1 Der Titel dieser Studie verweist auf die Annahme, dass der gebaute Raum ein soziokultureller Text sei, den man lesen und deuten könne.12 Menschen produzieren Räume zum Leben – und indem sie dies tun, schreiben sie dem Raum die Formen ihres erwünschten, erhofften und ihres wirklichen Zusammenlebens ein. Ihre Habitate formieren sich auf diese Weise zu räumlichen ‹Essays›, die, wenn man sie zu lesen versteht, über das Leben, die Vorstellungen und Auseinandersetzungen ihrer Planer, Erbauer, Bewohner und Nutzer wertvolle Auskunft geben. __ Doch genau hier liegt auch ein Problem: Wir mögen den städtischen Raum zu nutzen und zu gestalten verstehen – doch zu lesen? Wie liest man einen Text, der nicht aus Buchstaben, Silben und Wörtern besteht, sondern aus Bildern, Konturen, Fassaden und Körpern, aus Gebäuden, Straßen, Plätzen, Parks – und darin die verschiedensten Menschen: arme und reiche, junge und alte, einheimische und fremde, Männer und Frauen, die diesen Raum auf unendlich verschiedene Weise bevölkern? __ In methodischer Hinsicht mag die Semiotik des urbanen Raumes13 eine gewisse Hilfe bieten. Dieser von Wissenschaftlern wie Roland Barthes, Henri Lefèbvre, Umberto Eco und Mark Gottdiener prominent vertretenen Erkenntnismethodik zufolge lassen sich nicht nur Straßen- und Verkehrsschilder, Lichtsignale, Werbebotschaften, Fassaden­ dekorationen etc., sondern auch Elemente des gebauten Stadtraumes wie Gebäude, Plätze, Straßen, Siedlungen, Stadtzentren etc. als Zeichen interpretieren – und auf diese Weise mit den Medien Sprache bzw. Schrift vergleichen. Damit wird dem sozialen, funktionalen und ästhetischen Raumverstehen eine weitere Dimension hinzugefügt: die semiotische. Diese interpretiert räumliche Tatsachen als kulturelle Zeichen beziehungsweise als Bedeutungsträger. Alle vier Dimensionen, die soziale, funktionale, ästhetische und die semiotische, interferieren, überlagern sich und beeinflussen einander wechselseitig. __ Dass sich städtebauliche Funktionen (Nutzungen) auf Gestalt, Form und Ästhetik unmittelbar auswirken, ist ein architekturtheoretischer Gemeinplatz im Diskurs der Architekturmoderne. Und dass die Ästhetik – der Bauhaus-Architektur beispielsweise – Botschaften bereithält, mithin zeichenhaften Charakters ist, leuchtet unschwer ein, wenn man die ideologischen Ambitionen der modernen Bewegung ins Feld führt. Diese richten sich nämlich auf Ziele wie ‹soziale Gleichheit›, ‹preiswertes Wohnen› oder ‹gesundes Wohnumfeld›. In den paradigmatischen städtebaulichen Entwürfen prominenter Vertreter der Architekturmoderne, wie etwa die von Le Corbusier, Gropius oder Hilberseimer, sind das Soziale, Funktionale, Ästhetische und Semiotische in einer umfassenden Vision funktionsdifferenzierter, egalitärer und parkartiger Maschinen­städte vollständig miteinander verwoben. Als Raumzeichen künden diese Stadtmaschinen nach

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dem Willen ihrer Entwerfer von einer besseren, weil gerechteren, effizienteren und schöneren, vom Kitsch befreiten Welt. __ Im Blick der Semiotik verwandeln sich städtische Raumelemente in Bedeutungsträger (Signifikanten), die auf Bedeutetes (Signifikate) verweisen. Nach einer auf den bedeutenden amerikanischen Erkenntnistheoretiker Charles S. Peirce zurückgehenden Klassifizierung lassen sich grundsätzlich drei Arten von Zeichen (Bedeutungsträgern), unterscheiden: erstens ikonische Zeichen, wenn Zeichen und Bedeutung einander ähnlich sind; zweitens indikative Zeichen, wenn die Zeichen in sinnfälliger Weise auf ihre Bedeutung hinweisen, und drittens symbolische Zeichen, wenn die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung willkürlich zu sein scheint. (Peirce 1931/1991) Dass diese Typologie auch für städtebauliche und architektonische Zeichen relevant ist, bestätigt sich an unserer Erforschung des chinesischen Stadtraums wiederholt. __ Mit Blick auf die Architektur spricht der Semiotiker Umberto Eco vom Vorrang ikonischer Botschaften14 (Eco 1972/1994). Das mag für architektonische Entwürfe und Werke zutreffend sein. Die semiotische Analyse der chinesischen Stadt lehrt uns allerdings, dass bei komplexen Stadtelementen wie Stadtgrundrissen, Wohnblocks, Straßenzügen, Stadtzentren etc. alle drei Sendeformate eine Rolle spielen. Mehr noch, es kommt auch zu Überlagerungen und Interferenzen ikonischer, indikativer und symbolischer Botschaften. Am Beispiel nachträglich errichteter Nachbarschaftstore in der Shanghaier Satellitenstadt Anting stoßen wir auf einen einprägsamen Fall einer Überlagerung aller drei Sendeformate. ( Kapitel 6) __ In Anlehnung an Roland Barthes (Barthes 1976) und mit Blick auf die von ihm untersuchten architektonischen Signifikanten unterscheidet Eco zudem denotative und konnotative Botschaften. Denotiert werden primäre Funktionen oder Bedeutungen, konnotiert werden hingegen sekundäre (nachrangige) Funktionen oder Bedeutungen. Mit Blick auf eine urbane Semiologie (Gottdiener 1994) ist diese funktionsorientierte Interpretation allerdings zu verallgemeinern: Denotiert wird demnach das Essentielle beziehungsweise Wesentliche, das objektiv Gültige, dasjenige, was dem Bedeutungs­ träger ‹naturgemäß› zukommt. Konnotiert wird nach dieser Lesart hingegen das Subjektive oder Ephemere. __ Mit der Unterscheidung von Denotation und Konnotation ist ausgedrückt, dass Bedeutung nicht nur eine Konstruktion des die Botschaft ‹empfangenden› Individuums ist (und insofern subjektiv oder ephemer), sondern dass Bedeutung zugleich objektiv vorgegeben, mithin wesentlich sein kann. Diese Objektivität schränkt den subjektiven Deutungs- bzw. Konstruktionsspielraum ein, beseitigt ihn allerdings nicht. Auch Denotationen bleiben Konstruktionen. __ Nehmen wir ein Beispiel: Eine repräsentativ gestaltete Villa denotiert familiäre Geborgenheit, Intimität oder Privatheit. In diesen ‹Funktionen› unterscheidet sie sich nicht von einer bescheidenen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Konnotiert wird hingegen, was mit der Villa subjektiv assoziiert oder in sie hineinprojiziert wird, das Flüchtige, Veränderliche, Akzidentielle. In diesem Falle kann die Villa beispielsweise Reichtum, Status oder Exklusivität konnotieren – insofern diese Zuschreibungen nicht von allen anderen Betrachtern geteilt werden. __ Tore, Schlagbäume, Mauern und Zäune lassen sich, um ein weiteres Beispiel zu bemühen, als indikative Zeichen verstehen, als Signifikanten, die auf eine abgeschlossene räumliche Einheit verweisen. Dabei kann es sich um eine Kaserne, einen Industriepark

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oder auch um eine Wohnsiedlung handeln. Ist der Referent eine Wohnsiedlung in ­China, dann sind die auf indikativem Wege gewonnenen, denotierten Bedeutungen zum Beispiel Gemeinschaft, Exklusion oder Introversion. Die folgende Darstellung, die sich an die triadische Strukturierung bei Peirce (Peirce 1991) anlehnt, veranschaulicht diesen Zusammenhang. Referent (Objekt) geschlossene Nachbarschaft

Signifikant (Bezeichnendes, Sender): Tor, Barriere, Mauer

denotiert wird

Signifikat (Bezeichnetes, Inhalt): Exklusion, Introversion, Gemeinschaft

Der Zeilenbau mit vorfabrizierten Elementen, um noch ein Beispiel aus der Urbanistik anzuführen, denotiert als ikonischer Sender sozialen Massenwohnungsbau, Serialität, moderne Hygienestandards oder auch Monofunktionalität. Er konnotiert hingegen – und nun werden die Deutungen subjektiv und damit auch strittig – Kollektivismus, gesellschaftliche Marginalität, Armut oder was sonst noch im Auge des einzelnen Betrachters liegen mag. Wir sprechen von ‹konnotieren›, weil es eben auch andere Deutungen geben kann, beispielsweise Gleichheit, soziale Ausgewogenheit und andere Interpretationen, sofern sie eine gewisse Plausibilität beanspruchen können. __ Denotierte Bedeutungen reklamieren, obwohl es sich um Konstruktionen von Beobachtern handelt, intersubjektive Geltung. Konnotierte Bedeutungen hingegen werden dem assoziierenden oder auch projektierenden Betrachter exklusiv zugewiesen. Denotationen für den Referenten ‹Wohnhaus› sind objektiv, und man kann sich problemlos auf deren universelle Gültigkeit verständigen: Überall auf der Welt, zu allen Zeiten und in allen Kulturen bauen sich Menschen Häuser zum Leben. Insofern liegt man richtig, wenn man Menschen als wohnungsbedürftige Wesen und Wohnhäuser als lebensnotwendige Orte der Geborgenheit und Privatheit bezeichnet. __ Im wirklichen Leben haben wir es allerdings nicht nur mit dem ‹Wohnhaus› im platonischen Sinne einer unveränderlichen Realie zu tun. Hier begegnen wir einer ungeheuren Vielfalt von Wohngebäuden, die sich beispielsweise aufgrund individueller Präferenzen ihrer Entwerfer, Erbauer oder Nutzer unterscheiden oder auch aufgrund sozialer, kultureller, ökonomischer oder technischer Unterschiede ihrer Produktion,

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Distribution und Ver­wendung. Wenn in diesem Buch von ‹Wohnhaus› die Rede ist, dann stehen vor allem die soziokulturellen und somit auch regionalen bzw. lokalen Dimensionen des Wohnens bzw. der Wohngebäude zur Diskussion. Wir entdecken dann, dass sich die Wohnhäuser aufgrund gemeinsamer Merkmale zu Gruppen bzw. Gattungen zusammenfassen lassen. Mit einer dieser soziokulturell bestimmten Gruppen haben wir es im Folgenden zu tun: mit dem chinesischen Wohnhaus. __ Welche (universell gültigen) Botschaften denotiert das chinesische Wohngebäude? Eine Wohnhaus in China ist zunächst auch nur eine Wohnhaus, ein Ort der Geborgenheit und Privatheit – und insofern von Wohnhäusern in Europa (und überall sonst auf der Welt) nicht verschieden. Ebenso sind chinesische Wohngebäude von einer unüberseh­ baren Vielfalt individueller Präferenzen ihrer Planer und Nutzer geprägt und scheinen sich insofern jeder Klassifizierung zu entziehen. Gleichwohl senden chinesische Wohngebäude ganz eigene, von Europäern meist unverstandene – und bestenfalls als fremd erlebte – Botschaften. Der Sinn dieser Botschaften wird nicht umstandslos verstanden, da sie in einer dem Gast aus der westlichen Fremde nicht geläufigen Raumsprache verfasst sind. In dieser Situation neigt dieser dann dazu, seine individuellen Deutungsmuster auf das chinesische Wohngebäude zu projizieren – mit der Folge, dass er sieht, was er mitbringt, jedoch nicht, was er vorfindet. __ Im Prinzip besteht auch bei der Deutung der chinesischen Stadt eine vergleichbare Gefahr projektiver Wahrnehmung. Um sie zu verstehen, muss bekannt sein, was sie soziokulturell denotiert: ihr räumlicher Code. Ist dieser Code nicht entziffert, besteht die Gefahr, diese Stadt zur ‹Leinwand› von ebenso subjektiven wie äußerlich bleibenden westlichen Projektionen zu machen. __ Mit Städten verhält es sich ganz ähnlich wie mit Texten, die aus Buchstaben, Silben und Wörtern zusammengesetzt sind. Sie zu verstehen setzt die Kenntnis der Sprache voraus, in der sie verfasst sind. Die vorliegende Schrift hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau dies zu leisten: unsere Kenntnis der chinesischen Raumsprache zu verbessern und zu vertiefen – in der Absicht, uns zu befähigen, das Essentielle vom Akzidentiellen zu unterscheiden, das Wesentliche vom Ephemeren. __ Dieser Anspruch ist freilich nicht einfach einzulösen, bedarf es dazu doch eines beträchtlichen Maßes an kulturellem und interkulturellem Wissen. Denn die chinesischen urbanen Bedeutungsträger senden zwar unentwegt, liefern ihre Decodierung jedoch nicht mit. Um Stadt zu lesen, ihren urbanen Code zu verstehen, reicht das semiotische Werkzeug allein nicht aus. Zwar hilft die semiotische Methode bei der gewünschten Sinnproduktion, leistet diese jedoch nicht allein. Wie bereits zuvor angedeutet, ist der Empfänger der urbanen Signale immer an der Entstehung der in ihnen enthaltenen Bedeutungen beteiligt. Erst durch diese Sinnzuweisung (auch als ‹Semiose› bezeichnet) verwandeln sich urbane Signale in gehaltvolle Botschaften, in Erkenntnisse. Wie aber schützt sich der Beobachter davor, bloße Projektionen oder willkürliche Sinnzuweisungen vorzunehmen? Wie kann es ihm gelingen, primäre von sekundären Bedeutungen zu trennen, das Wesentliche vom Ephemeren? __ Die Antwort liegt im Akt der ‹Semiose›: Es ist möglich, dass das jeweils beobachtete urbane Zeichen ein Stück seines Geheimnisses preisgibt, indem es eine Art von ‹Gebrauchsanweisung› zur Formulierung einer ‹erklärenden Hypothese› anbietet, wie Ugo Volli das von Charles S. Peirce ersonnene Schlussverfahren der Abduktion umschreibt. Mit dem Begriff der Abduktion verbinden wir die Möglichkeit einer hypothetischen, vor-

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läufig gültigen oder auch halb-logischen Erschließung des Sinns von gesendetem Code. Wir können insofern davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Sendeformate städtischer Zeichen auf jeweils eigene Art – ikonisch, indikativ oder symbolisch – Brücken des Sinns anbieten, die zu betreten wir uns trauen sollten. In der Sinnermittlung, und diese mag ihren Ausgangspunkt in einer erklärenden Hypothese (einer zunächst völlig hypothetischen Antwort auf eine sinnerheischende Frage) haben, besteht der «grundlegende semiotische Akt.» (Volli 2002, 13ff) Mittels der Semiose lassen sich eine Fülle vorläufig gültiger Bedeutungen generieren, deren Tragfähigkeit bzw. Aussagekraft nicht zuletzt davon abhängen wird, ob sie sich als Bausteine eines strukturierten Systems von Bedeutungen bewähren. Dieser Überprüfung der Tragfähigkeit von abduktiv ermittelten Bedeutungen wenden wir uns ausführlich im 8. Kapitel zu. __ Neben den diversen Möglichkeiten assoziativer oder halb-logischer (abduktiver) Sinnermittlung bietet sich unseres Erachtens für kulturelle Raumzeichen15, und dazu zählen wir die Elemente der gebauten Stadt, insbesondere die von Walter Benjamin vorgeschlagene Technik der ‹Superposition› beziehungsweise ‹Überlagerung› an. Superposition meint die Fähigkeit, Neues zu erinnern, das heißt im Gegenwärtigen zugleich das Vergangene und das Zukünftige zu erkennen (Benjamin 1991, v 1, 493, 576; v 2, 1023f). Superpositionieren bedeutet also, die Elemente der urbanen Gegenwart als Manifestationen eines umfassenden kulturellen Gedächtnisses und damit zugleich als Zwischenstationen der städtischen Reise in die Zukunft zu bestimmen. Die Technik der Superposition verweist insofern auf die Bedeutung von Geschichte und Tradition, die in den Elementen der Stadt aufbewahrt sind. Wir meinen, dass es notwendig ist, diese Technik in den Kontext einer semiotisch informierten Betrachtung des Stadtraumes einzubringen. __ Zwei wichtige Deutungslieferanten können demzufolge den Prozess der urbanen Semiose bereichern: der Wissensschatz der Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und der chinesischen Geschichtsschreibung (namentlich der Kulturgeschichtsschreib­ ung) andererseits. Wir benötigen interdisziplinäre Kenntnisse der Geschichte Chinas, seiner Traditionen, seiner Gesellschaft, seines Denkens und Handelns. Erst der Rückgriff auf diese vielfältigen Wissensbestände gestattet uns, die Bedeutungsangebote des chinesischen Stadtkörpers in informativer Weise aufzuschließen. Die semiotisch informierte Betrachtung der Raumphänomene ist mithin durch ein integrierendes, ganzheitliches Wissen um die Besonderheiten der chinesischen Geschichte und Kultur zu unter­mauern.16 __ Wenn ein Wohnhaus, um auf unser vorheriges Beispiel zurückzugreifen, einen Innenhof (etwa einen Tíng Yuàn, dem römischen Peristyl vergleichbar) besitzt, jedoch keine dekorierte Fassade, dann sendet es völlig andere Botschaften als ein Haus, das eine Schmuckfassade exponiert, jedoch über keinen gestalteten Innenhof verfügt. Ersteres, dem wir im chinesischen Sìhéyuàn begegnen, denotiert durch seine introverse Konzep­ tion unabweisbar den Vorrang von Familie und Gemeinschaft. Letzteres hingegen verweist mit seiner extraversen Geste auf die Anwesenheit des bürgerlich-vergesellschafteten Individuums. __ Wo es in China zu Kolonialzeiten (wie auch gegenwärtig) zu einer Vermischung westlicher und östlicher Raumsprachen kommt, entstehen raumsprachliche Hybride, gleichsam Hofhäuser mit Schmuckfassaden. Diese Spezies vermag, einer Sphinx gleich, doppelt zu denotieren, westlich und östlich, introvers und extravers. Im Abschnitt

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«Orient trifft Okzident – Hybride Wohnquartiere» stellen wir unter anderem den Shanghaier Lilong und den Jingyu-Block Harbins als Beispiele dieser raumkulturellen Hybridisierung vor. __ Wenn wir uns der Stadt in semiotischer Absicht zuwenden, dann ist dies eine große Herausforderung. Denn bei diesem Signifikanten lässt sich die von Eco mit Blick auf Objekte von Architektur und Design vorgeschlagene Terminologie der primären und sekundären Funktionen aufgrund der Vielzahl von sich mischenden und einander überlagernden Funktionen nicht umstandslos anwenden. Die urbane Komplexität führt dazu, dass Essentielles und Akzidentielles oft weit auseinanderfallen. Vor diesem Hintergrund mag es überraschend klingen, doch hinsichtlich der Denotationen (verstanden als intersubjektiv gültige Bedeutungszuweisungen) erlaubt ‹Stadt› ebenso wenig Spielraum wie ‹Wohnung› oder ‹Haus›. __ In universaler Perspektive denotiert Stadt vor allem (bürgerliche) Gesellschaft (Hegel, Marx, Tönnies, Weber), verweist also auf einen Ort, in dem und durch den sich Individualisierung und somit die Differenzierung von «Gemeinschaft und Gesellschaft» (Tönnies 1991) vollzieht. Nach einer Definition Georg Simmels denotiert Stadt hingegen die «Anwesenheit des Anderen und Fremden» (Simmel 1992) oder, nach Lefèbvre, «räumliche Zentralität».17 Wenn man anstatt der Gattungsbezeichnung ‹Stadt› die historische Typenbezeichnung ‹Großstadt› zugrunde legt, könnte zum Beispiel das Bahrdt’sche Theorem der «unvollständigen Integration» als essentielle Deutung Anwendung finden (Bahrdt 1961). Diesem Theorem zufolge hintertreibt die Großstadtbildung die familiär verbürgte soziale Integration der Individuen.18 __ Es gibt – imaginierte und reale – Städte, die den genannten Denotationen nicht genügen.19 Als Beispiel können hier die Stadtutopien der klassischen Moderne angeführt werden. Diese von Henri Lefèbvre dem geplanten Raum (espace conçu) zugeordneten Visionen, etwa Le Corbusiers berühmte Studie zur Ville Contemporaine, haben eher etwas mit kollektivistischen Raummaschinen zu tun als mit Räumen, in denen sich Gesellschaft vergegenständlicht oder wo, in Ermangelung öffentlicher Räume, Fremde und Andere einander begegnen können. __ Man kann diesen Befund für die Moderne verallgemeinert auch so formulieren: Der Körper der modernen Stadt denotiert Tatbestände, denen er selbst nicht genügt. Idee (z. B. der Egalität) und Wirklichkeit (der Egalität) brechen auseinander: Das Gesendete bzw. Empfangene steht weder in einer ikonischen noch in einer indikativen oder symbolischen Beziehung zum Sender. Das Denotierte entspricht eher einer Projektion, einem Wunschdenken oder einer Ideologie. Will man also den Bedeutungsträger ‹Stadt› nicht in eine Projektionsfläche von ihm völlig äußerlichen Inhalten umwandeln, dann muss man die Begrenztheit der Zahl strenger Bedeutungszuweisungen (Denotationen) respektieren.20 In diesem Sinne mag die moderne Stadt nach Maßgabe der Charta von Athen zwar Städtisches konnotieren, doch denotiert sie dieses nicht bzw. nur in fragmentarischer Weise. __ Stadt, so hieß es beispielsweise mit Bezug auf Lefèbvre, denotiert Zentralität. Nun gilt es allerdings die kulturelle Dimension des Bedeuteten zu beachten. Vergleicht man etwa die Zentralität nordamerikanischer, europäischer und chinesischer Städte, so findet man in der amerikanischen die kommerziell getriebene Zentralität der ‹Downtown› beziehungsweise des cbd (Central Business District), in der traditionellen europäischen Stadt die öffentliche Zentralität der Mitte mit Marktplatz, Rathaus und Kirche und in der

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chinesischen Stadt die an die römische Stadt erinnernde lineare Zentralität hierarchisch strukturierter Raumfolgen. __ Welche Botschaften sendet die chinesische Stadt darüber hinaus? Kompakte Stadt? Verriegelte Stadt? Zelluläre Stadt urbaner Dörfer? Mediastadt? Die vorliegende Arbeit beansprucht, Antworten auf diese Fragen anzubieten. Eine einfache, sich auf eine oder wenige festgefügte Botschaften stützende Antwort gibt es dabei nicht. Dazu ist der Gegenstand Stadt in seiner kulturellen und geschichtlichen Ausprägung a priori viel zu komplex. Hinzu kommt, dass wir es in China mit einer einzigartigen urbanen Dynamik zu tun haben. So ist der Urbanisierungsgrad der chinesischen Gesellschaft in den vergangenen 34 Jahren (1978–2012) von unter 20 Prozent auf etwa 50 Prozent emporgeschnellt. Diese ‹Hyperurbanisierung›, der seit der Öffnung vor ca. 35  Jahren täglich im Durchschnitt 37 Dörfer zum Opfer gefallen sind (Long 2012), beeinflusst selbstverständlich den urbanen Code Chinas. Indem die Chinesen im Begriff sind, sich als Kulturnation (repräsentiert durch die Hauptstadt Peking) und Weltwirtschaftsmacht (repräsentiert durch die Kommerzstädte Shanghai und Shenzhen) neu zu erfinden, stellen sie auch ihre Idee von Stadt zur Disposition. __ China ist im Begriff, die Stadt für sich selbst neu zu erfinden – und ist bereit, für dieses Ziel ungewöhnliche Wege zu gehen. Andererseits sollte von einer gewissen Bodenhaftung der Stadtidee in China ausgegangen werden, von der Wirksamkeit eines mehr oder weniger invarianten Satzes von Traditionen, sozialen Mustern und kulturellen Regeln, welche die Plastizität der Stadtidee erheblich einschränken. __ So findet der allgemeine Wille, sich urbanistisch am Westen zu orientieren, an den tief in der chinesischen Kultur verwurzelten Beharrungskräften seine Grenze. Auf diese Gravitations- beziehungsweise Beharrungskräfte sind wir bei unserer Stadt- und Raumanalyse immer wieder gestoßen. Sie helfen uns, nicht nur die urbane Gegenwart Chinas zu verstehen, sie zeigen auch an, dass China sich, allen Veränderungen zum Trotz, in einem ebenso überraschenden wie beachtlichen Ausmaß treu bleibt.

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Transformationen des leeren Stadtraumes

2 Schlafanzug und Wäscheleine __ In Shanghai ist es im Sommer sehr heiß, wie überall in China. Es kann dann vor-

kommen, dass man mitten in der Stadt am helllichten Tage Männer und Frauen im luftigen, leichten Schlafanzug auf der Straße antrifft. Als ich das erste Mal im Shanghaier Yangpu-Distrikt auf einen so gekleideten Mann in Begleitung einer mit Jeans und T-Shirt bekleideten Frau traf, glaubte ich noch, einen Patienten vor mir zu haben, der für einen Moment das Gelände des nahe gelegenen Krankenhauses verlassen hat. In der Nähe gab es jedoch kein Krankenhaus. Zudem traf ich im Laufe des tropisch-heißen Junitages noch auf weitere Passanten im Schlafanzug. Nein, dachte ich, so etwas würde es in Europa nicht geben! Das würde man als peinlich empfinden oder als Verwahrlosung der Sitten anprangern. __ Bereits kurz nach der ersten Begegnung mit dem unbekümmerten SchlafanzugTräger erblickte ich ein mir inzwischen schon vertrautes Bild: Auf dem Gehweg waren Wäscheleinen zwischen Bäumen, Zäunen und Beleuchtungsmasten gespannt, und von der Bettwäsche über Hemden und Hosen bis zur Unterwäsche flatterte der komplette häusliche Wäschesatz unschuldig im staubigen und abgasgeschwängerten Stadtwind. Wie alle Passanten wurde auch ich durch diese heterotopische Idylle genötigt, vom Trottoir auf die Straße zu wechseln, um einige Schritte weiter wieder auf dem Gehsteig Zuflucht vor dem hektischen Verkehrsgeschehen zu finden.

Bürgersteig mit Wäscheleine in Shanghai

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Bürgersteig mit Wäscheleine in Shanghai

Es bedarf keiner besonders intensiven Studien, um den Zusammenhang zwischen dem Schlafanzugträger und der Wäscheleine auf dem Trottoir zu verstehen. In beidem drückt sich eine eigentümliche Unbefangenheit im Umgang mit jenem Stadtraum aus, den wir als ‹öffentlich› bezeichnen, eine sorglose Überschreitung jener Schwelle, die den privaten, intimen Raum von der offenen Stadtbühne trennt. Kein Problem, Leute zu entdecken, die auf dem Bürgersteig, neben ihrer kleinen Suppenküche, auf einem ausgebauten Autositz ein Nickerchen machen oder, um eine umgedrehte Obstkiste herum sitzend, Mah-Jongg oder Karten spielen. Lautstarkes Räuspern und Spucken gehört auch hierher. Ohne viel Federlesens werden nahezu alle Wohnfunktionen in den städtischen Straßenraum hinein verlängert – wie auf dem Dorf. Der Gehsteig als Küche, Schlaf- und Wohnzimmer, als Ort selbstverständlicher «Intimisierung» (vgl. Busch/Ebrecht 2005).

Bürgersteig als Wohnzimmer, Changsha

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Bezeugt wird die Leichtigkeit des Überschreitens der Grenze zwischen privat und öffentlich auch durch den Brauch, Grünanlagen beziehungsweise Parks mit Musik aus meist sichtbaren, gelegentlich aber auch versteckten Lautsprechern zu berieseln. In Deutschland würde man diese unfreiwillige Beschallung vermutlich als Zumutung empfinden und mit dem Vorwurf der akustischen Luftverschmutzung kommentieren. In China, einem ungewöhnlich lärmtoleranten Land (Hassenpflug 2006c), bewertet man die Musik im öffentlichen Grünraum als Bereicherung des Ambientes, vergleichbar mit der ‹Verschönerung› von Gebäudevorplätzen mit Rabatten aus Plastikblumen, mit Plastikpalmen und Plastikbambus. Vergleichbar auch mit der verbreiteten nächtlichen ‹Verzauberung› von lebendigen Blumen, Büschen und Bäumen durch grellbunte Lichtstrahler oder Lichtschlangen. Typisch Bling-Bling – chinesisch eben! Oder etwa nicht?

Beleuchtete Grünanlage in Suzhou

Doch nicht nur die Funktionen der privaten Wohnung, auch diejenigen der Werkstatt und Verkaufstheke werden in den Straßenraum exportiert. Dabei verwandelt sich der Gehsteig nicht selten in eine Werkbank, auf der Fahrräder, Mopeds, Fernseher und Schuhe repariert, oder in eine Tischlerei, in der Türen und Fenster montiert werden; oder in ein Ladenlokal, in dem Zierfische, Singvögel und Katzen angeboten, Knödel, Maul­ taschen und Pfannkuchen zubereitet und verkauft und auch schon mal ein mobiler Frisiersalon eröffnet wird. Ganz zu schweigen von den zahllosen Händlern und Bauern, die spät des Nachts außerhalb der Dienstzeiten der Polizei die Gehwege in veritable informelle Basare mit einem kaum überblickbaren Warenangebot verwandeln. __ Die großstädtischen Gehsteige mögen zwar wie Bürgersteige aussehen – in strenger Wortbedeutung sind sie dies jedoch (noch) nicht. Es sind vielmehr Protobürgersteige, Funktionsflächen, die auf eine gesellschaftliche Kategorie (das bürgerliche Individuum) verweisen, die in China noch im Entstehen begriffen ist. Unterstrichen wird der in diesem gesellschaftlichen Sinne unfertige Charakter chinesischer Gehwege, wenn man sich die Straßenräume kleiner, abgelegener Städte anschaut. Hier sind die Straßen selbst in den Stadtzentren noch Dorfstraßen vergleichbar. So kann man oft gar nicht genau erkennen, wo die Grenze zwischen Verkehrsstraße und Gehsteig verläuft. Farbmarkierungen sind verblasst oder fehlen häufig ganz, die Bordsteine sind lückenhaft oder nicht erkennbar und dort, wo die Markierungen sichtbar sind, werden sie von den Verkehrsteilnehmern weitgehend ignoriert.

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Schwach definierter Bürgersteig in der Kleinstadt Panjin, Liaoning

So dienen die schwach definierten Verkehrsflächen zwischen den Gebäudekanten einer Vielzahl unterschiedlichster Verrichtungen als Aktionsfläche. Um hier vorwärts zu kommen, verhalten sich Kraftfahrzeugfahrer wie Abenteurer, die mit ‹Macheten› aus Beschleunigung und Hupen Schneisen durch das städtische Gestrüpp von Aktivitäten schlagen müssen. Die Verkehrsregeln sind klar: Fußgänger, Radler und andere verletzliche Nutzer des Straßenraums müssen den heranbrausenden Motorfahrzeugen immer den Vortritt lassen. In ihrer Undefiniertheit erinnern diese Kleinstadtstraßen ein wenig an unsere geplanten funktionsdiffusen Verkehrsräume (‹shared spaces›), mittels derer man hierzulande versucht, mehr Gleichberechtigung im Verkehrsgeschehen von Innenstädten zu verankern. Während man hier jedoch auf egalitäres Aushandeln der Raumnutzung setzt, beansprucht in China in aller Regel noch das ‹Gesetz des stärkeren Verkehrsteilnehmers› alleinige Geltung. __ Die Unbekümmertheit oder auch Ruppigkeit Chinas im Umgang mit dem Stadtraum, den wir gemeinhin als öffentlichen apostrophieren, spiegelt sich in der nach wie vor kärglichen Ausstattung der Städte mit solchen Räumen und, wenn überhaupt vorhanden, in deren Zustand. So gibt es auffallend viele mehr oder weniger durchgestaltete Plätze, insbesondere offene Stadträume an und in Einkaufszentren, denen jegliche Möblierung fehlt. Piazzas unter freiem Himmel oder unter gläsernen Arkaden sind auch in China inzwischen ein ebenso beliebtes wie vielfach anzutreffendes Gestaltungselement. Doch das darin schlummernde öffentliche Raumpotential wird entweder nicht erkannt oder als zu vernachlässigen gedeutet. Um so entschiedener werden diese Räume kommerziell verwendet. Das Bestreben geht dahin, sie bis auf den letzten Quadratmeter zu verwerten. Wer sitzen und sich ausruhen möchte, muss schon ein Restaurant oder Café betreten – und davon gibt es mittlerweile reichlich. __ Anschauungsmaterial für die Respektlosigkeit, mit der öffentliche Stadträume behandelt werden, liefert auch der optische beziehungsweise hygienische Zustand vieler kleinteiliger Grünräume an Straßen aller Größenordnung. Diese sind oft mit Abfällen und Unrat übersät, ungepflegt, verschmutzt, niedergetreten. Auch die Reinigungs­diens­te ­machen hier und da einen mehr als kläglichen Eindruck: Welcher Gast in China hat sie nicht schon gesehen, die armen, mit einem Mund- und Atemschutz maskierten Frauen (gelegentlich auch Männer) unter großen Hüten aus Reisstroh, die mit einem primitiven Besen aus den Zweigen der achtblättrigen Besenblume, dem Stroh der Reispflanze oder Ähnlichem für einen Hungerlohn den Straßenstaub aufwirbeln.

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Wenn man dennoch mittlerweile in den großen Metropolen des Ostens viele gepflegte Grünanlagen findet, dann hat dies mit einer zunehmend professionell agierenden Stadtreinigung zu tun, die den Imperativen der Hygiene und der Verschönerung des Stadtbildes zu genügen trachtet und emsig aufliest, was andere zuvor acht- und rücksichtslos weggeworfen haben. __ Absichtsvoll gestaltete, einladende öffentliche Stadträume, die der Begegnung, der Versammlung, Kommunikation, dem geplanten und ungeplanten Zusammensein, dem Spiel oder einfach nur dem Sehen-und-Gesehenwerden dienen, sind in China immer noch Mangelware – insbesondere in weniger begünstigten, alten Stadtgebieten. Das Faktum des Mangels an öffentlichem Stadtraum tritt zutage, wenn eine größere Zahl von Leuten unterhaltsam zusammen sein möchte, sei es zu den gymnastischen Übungen des Taiji, zur Unterhaltung, zum Spiel oder, ganz besonders beliebt, zum abendlichen Tanzen nach Dienstschluss, wenn die Temperaturen auf ein erträgliches Maß absinken. Die Chinesen lieben diese Dinge, sind sie doch ein vergnügtes, ungezwungenes, geselliges und friedfertiges Volk. In Ermangelung geeigneter Plätze sehen wir dann die exerzierenden, zockenden oder tanzenden Leute meist abends unter den Brücken der Hochstraßen, auf Vorplätzen von Bürogebäuden, verlassenen Parkplätzen oder lärm­ umtosten Verkehrsinseln.

Treffpunkt unter einer Hochstraße, Changsha

Öffentlicher Raum wird im aufgeschlossenen, sich urbanisierenden China dringend benötigt, zumal vor dem Hintergrund einer stetig wachsenden Mittel- und Oberschicht mit entsprechenden Lebensstilen und Raumansprüchen. Man hat jedoch wenig öffentlich nutzbaren Raum, und dessen Zustand ist häufig so armselig, weil man keine Traditionen für ihn besitzt. Man verhält sich ambivalent: Man will ihn, weil man ihn braucht; man will ihn nicht, da er eine Raumsprache spricht, die man nicht versteht. Gemeinschaft­ licher, nachbarschaftlicher, familiärer Raum: Ja! Gesellschaftlicher, ziviler Raum: Was ist das? Schwanken zwischen Abwehr und Verlangen ist daher das Muster des Umgangs mit dem, was wir als öffentlichen Raum bezeichnen. __ Wenn behauptet wird, es gebe einen unbekümmerten, nachlässigen oder sogar despektierlichen Umgang mit öffentlichem Raum in China, dann wird unterstellt, dass ­dieser Raum als öffentlicher Raum wahrgenommen wird. Dem ist jedoch nicht so. Für Chinesen ist der Raum außerhalb des ummauerten beziehungsweise umzäunten Lebens-,

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Wohn-, Arbeits- und Bildungsbereichs, der Raum außerhalb von Familie und Gemeinschaft, immer noch primär ein Nicht-Raum oder «Nicht-Ort»21, eine stadträumliche Leerstelle mit bestenfalls funktioneller Bedeutung, zum Beispiel als Verkehrsraum. Diesen Raumtyp bezeichnen wir als offenen Raum. Offener Stadtraum ist ein bedeutungs­armer Raum, den man durchqueren muss, um am Ende wieder in einen bedeutungsvollen Raum einzutreten; ein Raum, dem man Bedeutung durch alltägliche familienbezogene Verrichtungen verschafft, durch Intimisierungen aller Art oder durch dessen Nutzung für händlerische oder gewerbliche Aktivitäten.

Nächtliches Tanzvergnügen unter einer Hochstraße, Harbin

In einer Schrift zur Stadtgeschichte Suzhous, dem einstigen ‹Venedig des Ostens›, schreibt der Autor Xu, dass offener Stadtraum in China von jeher mit Unordnung, mit einem Raum außerhalb der Aufmerksamkeit und Zuwendung der chinesischen Gesellschaft, assoziiert wird (Xu 2000).22 Wer wissen möchte, was mit Unordnung als Charakteristikum des öffentlichen Raums gemeint sein könnte, sollte sich nur einmal der Zustände auf den belebten Straßen der Großstädte vergewissern. Allen Regeln des auch in China geltenden zivilen Verkehrscodex zum Hohn gilt das Recht des Stärkeren – mit klarer Hackordnung: vom Fußgänger über Fahrrad, Motorrad, Auto, Bus, Lastwagen bis zur schwarzen Limousine des Mächtigen mit getönten Scheiben. Fußgängermarkierungen sind bloße Dekoration, Zebrastreifen verleihen dem Fußgänger keine Rechte, es wird gehupt, gedrängelt, rechts überholt, links gefahren – all das natürlich auch dann, wenn es ausdrücklich nicht gestattet ist.

Bürgersteig als zusätzliche Fahrspur, Harbin

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Was heißt hier ‹Bürgersteig›?

In der nordchinesischen Metropole Harbin ließ sich in unmittelbarer Nähe des Gebäudes der Fakultät für Architektur und Stadtplanung beobachten, wie nicht nur Taxifahrer bei dem obligatorischen Stau ab 16:00 Uhr die Gehsteige in eine zusätzliche Fahrbahn verwandeln. Wer nun meint, dass sich die Fußgänger dagegen zur Wehr setzen, muss ansehen, wie diese mit Hupen und automobilen Drohgebärden wie das Federvieh auf der Dorfstraße davongejagt werden. Der Gehsteig ist ein Bürgersteig unter Vorbehalt. __ Allerdings wächst dem im Prinzip nichtssagenden offenen Raum Bedeutung zu, wenn er durch die Lebensäußerungen von Familie und Nachbarschaft vereinnahmt wird, das heißt wenn er etwa zur erweiterten Küche, zum erweiterten Speisezimmer, zur erweiterten Verkaufstheke oder zur erweiterten Werkstatt erkoren wird. Gerade für die mobilen Arbeitsmigranten, die in großer Zahl in die Metropolen der östlichen Landes­ hälfte strömen, bieten sich die in vielfältigen Formen vorhandenen städtischen Residualräume als informell anzueignende (Überlebens-)Räume an. Sie werden von dieser Bevölkerungsgruppe, jedoch auch durch die kommerziellen und nichtkommerziellen Nutzungen der ansässigen Bevölkerung, auf eine für die Stadtplanung höchst informative Weise sozial programmiert. (Ruff 2007, 6ff) __ Ohne die Aufwertung durch Familie und Gemeinschaft, durch Alltagsleben oder Kommerz, bleibt der offene Raum jedoch grau, leer, inhaltslos und nichtssagend. Was demnach als Ungenauigkeit in der Bestimmung der Grenze zwischen privat und öffentlich erscheint, ist in Wahrheit nur Ausdruck der kulturellen Hegemonie des Familiären beziehungsweise Gemeinschaftlichen. Die Wäscheleine auf dem Gehweg ist nichts anderes als eine private Landnahme, durch welche bedeutungsarmer Raum temporär Bedeutung erhält. __ Die westliche Rede vom ‹öffentlichen› Raum enthält ein projizierendes Element: Der chinesischen Stadt wird durch diese etwas zugetragen, das sie selbst nicht reklamiert, beziehungsweise erst in Ansätzen beansprucht. Was wir als öffentlichen Stadtraum in China identifizieren, mag zwar in einem formalen Sinne als öffentlicher Raum (öffentlichrechtlicher Raum) gelten. Doch in Wahrheit handelt es sich in der alltagskulturellen Wahrnehmung der Chinesen nur um offenen, will heißen: undefinierten Stadtraum. Es ist der Raum, der den Abstand zwischen den bedeutungsvollen Räumen mit Leere füllt.

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Dem offenen, bedeutungsarmen Raum steht der abgeschlossene, bedeutungsvolle Raum entschieden gegenüber. __ Öffentlicher Stadtraum ist demgegenüber ein mit westlichen Normen wie Zivilgesellschaft, Demokratie, Partizipation, Individualität, Freiheit der Stadt und vergleichbaren Inhalten gefüllter Begriff. In dem Maße allerdings, in dem China sich auf die mit diesen Inhalten verknüpften Normen zubewegt, wird man auch von öffentlichem Raum in China sprechen können. Für die Hermeneutik der chinesischen Stadt empfiehlt sich allerdings vorerst der Dualismus von offenem und geschlossenem Stadtraum als strategischer Ansatz. __ Chinesischen Stadtplanern sind die Probleme der unkultivierten Nutzung und der Qualitätsmängel offener Räume durchaus bewusst. Dementsprechend genießt das Thema ‹öffentlicher Raum› in Fachkreisen große Aufmerksamkeit. Es wird viel darüber publiziert und auf Kongressen vorgetragen – wenngleich, in Ermangelung einer aufgeklärten öffentlichen Debattenkultur, wenig diskutiert. Vieles wurde bereits unternommen. So hat man Hup- und Spuckverbote erlassen, und anlässlich der expo 2010 in Shanghai wurde das Tragen von Schlafanzügen im offenen Stadtraum untersagt. Es gibt zudem sichtbare Anstrengungen, offene Räume zu öffentlichen Räumen zu qualifizieren. Viele frei zugängliche, oft aufwendig gestaltete Parkanlagen und Promenaden wurden bereits gebaut. __ Wichtigster Motor dieser für die Einwohner der riesigen Städte segensreichen Entwicklung von Grünräumen ist die Verwirklichung stadtökologischer Ziele. Geht man nach den 1994 erlassenen ‹Richtwerte(n) für die Entwicklung und Planung der Stadtbegrünung›, stehen Frischluftkorridore, Naherholungsbereiche und Verbesserung des Mikroklimas eindeutig im Vordergrund. Diese Planungsrichtlinien geben beispielsweise vor, in den Großstädten des Landes ein durchschnittliches Grünflächenangebot pro Person von 6–8 Quadratmetern bis 2010 zu erreichen, eine Zahl, die laut Statistik inzwischen in vielen Städten deutlich überschritten wird. (Xiuhui Qiu 2012) So soll Peking bereits 2009 über 14 Quadratmeter erreicht haben, Hangzhou, die alte Kaiserstadt und heutige Hauptstadt der Zhejiang-Provinz, sogar über 15 Quadratmeter. Die südchinesische Küstenstadt Zhuhai brüstet sich mit rekordverdächtigen 30  Quadratmeter pro Kopf und Shanghai hatte sich zum Ziel gesetzt, zur Weltausstellung 2010 mit mindestens 10 Quadratmetern pro Kopf aufzuwarten.

Öffentlicher Gemeindepark in Pudong, Shanghai

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Ob Parks und Grünräume immer offen bzw. öffentlich zugänglich sind, ist keineswegs verbürgt. In der Regel werden Eintrittspreise erhoben. Dies gilt auf jeden Fall für Parkanlagen, die kaiserliche Grabstätten umgeben (zum Beispiel Bei Ling und Dong Ling in Shenyang), für die historischen Gärten reicher Kaufmannsfamilien und für die Gärten einstiger Mandarinpaläste. Auch der neue Shanghaier Central Park in Pudong kann nur nach Erwerb einer Eintrittskarte betreten werden – nicht gerade das, was man in Europa als öffentlichen Raum bezeichnen würde. Wer sich tagsüber in der Nähe des Shanghaier Shi Ji Parks aufhält, stellt nicht ohne Verwunderung fest, dass zahlreiche Jogger auf Gehsteigen und Radwegen um den Park herumlaufen, um auf diese Weise den Eintrittspreis von 30 rmb (etwa 3 Euro) zu vermeiden und dennoch ein wenig von den Vorzügen der grünen Lunge Pudongs zu profitieren. __ Auf die zunehmende Kritik an den Eintrittsgebühren für städtische Parks hat man in Shanghai reagiert und an einigen Parks die Schalterhäuschen stillgelegt. Der Eintritt ist nun frei. Zugleich hat man jedoch durchwegs die Vergabe von Standflächen für kommerzielle Aktivitäten im Inneren der Parks liberalisiert. Zwar bezahlen Besucher keinen Eintritt mehr, doch müssen sie sich jetzt ihren Weg zwischen Ständen und Buden hindurch bahnen – und gelegentlich mit Erstaunen feststellen, dass sie mehr Geld im Park gelassen haben als zu Zeiten, als es noch Eintritt kostete. __ Auf die Kommerzialisierung als wichtigste Kraft der Nutzung und Gestaltung des offenen städtischen Raums wird noch ausführlich zurückzukommen sein. Politische Repräsentationsinteressen und die bereits skizzierten privaten Landnahmen folgen demgegenüber mit großem Abstand. __ Halten wir fest: Was der westliche Beobachter als öffentlichen Raum zu interpretieren und einzuordnen trachtet, ist in aller Regel offener Stadtraum. Im Verständnis des chinesischen Bürgers hat dieser Raum keinen Respekt verdient. Er ist gleichsam der Packesel der Stadt, wird malträtiert, geschlagen und verschlissen. Die einzige Chance,­ dieser Schinderei zu entkommen, sind die kleineren oder größeren gemeinschafts­ basierten – politischen, kommerziellen und nicht-kommerziellen – Landnahmen, mittels derer der leere Raum in einen sozial relevanten Ort transformiert wird. Für öffentlichen Stadtraum gibt es eigentlich (noch) keine richtige Verwendung; denn das Telos jedweder Verrichtung im städtischen Raum sind Familie und Gemeinschaft – und nicht Individuum und Gesellschaft. Um Geschäfte zu machen, Kunden anzulocken und Waren­lieferungen sicherzustellen benötigt man offenen Stadtraum. Aber öffentlichen?

Offene und öffentliche Stadtplätze __ In der chinesischen Stadt finden wir in erster Linie zwei Arten von Plätzen, den

‹erhabenen› und den ‹kommerziellen› Platz. Bei beiden handelt es sich um Produkte sinnstiftender Transformationen von offenem in machtsymbolisch oder wirtschaftlich angeeigneten Raum. Durch diese Aneignungsformen wird undefinierter Stadtraum zum Ort sozialer Handlungen. Neben diesen beiden Hauptformen beobachten wir noch die Entstehung eines dritten Typus, der in der Genese des öffentlichen Stadtraums eine wichtige Rolle einnimmt: den Nachbarschafts- beziehungsweise Gemeindeplatz. __ Der ‹erhabene› Platz, als dessen Vorbild unzweifelhaft der Tian An Men angesehen werden kann, ist ein mächtiges Symbol des neuen China. Er ist vor allem groß, maßstabssprengend, beeindruckend. Er lässt den menschlichen Körper schrumpfen, macht ihn

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klein. Er dient vorzugsweise der Massendemonstration, dem Aufmarsch beziehungsweise der Massenornamentierung (Kracauer 1977).23 Zweifellos hypostasiert er die Idee der Volksgemeinschaft und muss insofern als Verräumlichung einer «hypermoralischen Gesellschaft» (Gehlen 2004) verstanden werden. __ Ein Stück Tian An Men, ein Hauch seiner Erhabenheit, weht einem in China überall dort an, wo wir Skulpturen und Denkmäler wichtiger Parteiführer und bedeutender Ereignisse finden. Auch neuere Gebäude der Stadt- oder Provinzregierungen nehmen dieses Flair gern in Anspruch. Wie Glacis breiten sich vor ihren Pforten ausgeräumte, leere, gelegentlich von geometrischen, barock anmutenden Grünanlagen aufgelockerte Flächen aus. Diese dienen primär einem Zweck: den Rang dieser Gebäude durch Abstand, Strenge und Fokussierung ‹angemessen› zu inszenieren. Diese Stadtplätze sind zweifellos Chiffren für Macht. Dass sich diese humorlosen Orte in den Abendstunden oft mit Tanzbühnen, Skaterbahnen, spontanen Stehkonventen und informellen Imbissständen füllen und auf diese Weise in lebendige, fröhliche Orte der Begegnung, des Spiels und des Tratschens verwandeln, zählt zu den vielen Paradoxien, denen wir in einer Gesellschaft auf dem langen Weg in die Zivilgesellschaft begegnen.

Platz in Peking zu später Stunde

Eine der Zivilgesellschaft beziehungsweise dem dazugehörigen öffentlichen Stadtraum bereits näherstehende Variante des ‹erhabenen› Platzes können wir am Ufer des Huangpu in Shanghai, in Höhe des Bund entdecken. Hier stoßen wir auf einen offenen Stadtraum mit spektakulärer Anmutung. Diese Wirkung verdankt er allerdings nicht allein der pudong-seitigen Wolkenkratzer-Kulisse des neuen Central Business District Lujiazhui und dem behäbig dahinfließenden Huangpu, sondern ganz entscheidend auch dem Fassadenspiel der vorwiegend britischen Kolonialarchitektur des Bund. Diese Kulisse tritt in einen aufregenden Kontrast zur Silhouette des neuen China am gegenüberliegenden Flussufer. Gerade diese räumlichen Eigenschaften bewirken andererseits eine ebenso rasche wie gründliche Kommerzialisierung des Areals. __ Der ‹kommerzielle› Stadtplatz, um zu dem zweiten wichtigen Typ des offenen Stadtraumes zu kommen, nutzt jedes Medium, das geeignet ist, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um Kunden in die Geschäfte, Restaurants, Cafés, Bars, Teehäuser, Boutiquen und Galerien zu locken. Besonders geeignet für diesen Zweck scheint sich – neben Musik, Neonreklame, Videobildschirmen und die ins Bild gesetzte Exotik des Fremden – ein

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Tian An Men, Peking

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Medium herauszukristallisieren, das wir als urbanes Ambiente bezeichnen können. Dieses Medium ist aus Bildern komponiert, die die Intimität der mediterranen Piazza, die Extraversion des europäischen Marktplatzes, dazu die Werbelogos amerikanischer Coffee Shops und Fast-Food-Ketten mit den Qipaos chinesischer Dienstmädchen vor den zahlreichen Restaurants zu einem multikulturellen Bühnenbild assemblieren. Die Straßen und Plätze von Xintiandi, einem sanierten Lilong-Teilstück in Shanghai, sind für diese kommerzialisierte Form des offenen Stadtraums ein überaus bekanntes Beispiel – viel besprochen und von westlichen Touristen gern aufgesucht, da Xintiandi seiner Stadterfahrung entgegenkommt. __ Da der Kommerz bei dieser Form urbaner Inszenierung die treibende Kraft der Platzgenerierung ist, begegnen wir diesem an westliche Vorbilder angelehnten Platztypus auch an und in den überall aus dem Boden sprießenden Einkaufszentren. Nicht selten findet das Wort ‹Platz› in seiner latinischen Version als ‹Plaza› Eingang in den Namen von Einkaufszentren, in Shanghai beispielsweise als ‹Brilliance Zhonghuan Commercial Plaza›, ‹Hongkong Plaza›, ‹Plaza 66›, ‹Brilliance Shimao International Plaza›, ‹Join Buy City Plaza›, ‹Grand Gateway Plaza›, ‹Infinity Plaza› und viele mehr. In den meisten der ebenfalls brandaktuellen Fußgängerzonen können wir zudem lineare Versionen des offenen kommerziellen Platzes erblicken, allen Fußgängerstraßen voran die nächtlich in einem delirierenden Lichtermeer badende Einkaufsstraße Nanjing Lu in Shanghai. __ Beide Platztypen, der ‹erhabene› und der ‹kommerzielle›, sind dem offenen Stadtraum zuzuordnen. In ihnen spiegelt sich der die Nation gegenwärtig prägende Dualismus von zentralistisch verfasster Staatsautorität und liberalem Kapitalismus. Durch die autoritative beziehungsweise kommerzielle Widmung erfährt der offene Raum eine ihn aus bloßer Funktionalität, Bedeutungsarmut und Nichtbeachtung heraushebende Sinnstiftung. __ Mit einer Widmung zum öffentlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Raum hat diese Attribuierung von Sinn allerdings wenig zu tun. Wir sagen wenig; denn nichts zu sagen würde das öffentliche Potential dieser Räume außer Acht lassen. Nehmen wir den kommerziellen Raum: Dieser bietet Tauschhandlungen einen Ort. Diese Handlungen vollziehen sich per se außerhalb der sozialen Unmittelbarkeit von Familie und Gemeinschaft. Tauschhandlungen sind insofern nicht gemeinschaftsbildend. Sie sind vielmehr als Interaktionsform rechtsgleicher (isonomischer) Wirtschaftssubjekte gesellschaftskonstitutiv. Kommerzialisierung ist insofern für die Genese gesellschaftlicher – und somit öffentlicher – Räume unabdingbar. Der Markt ist immer schon die nicht hintergehbare Voraussetzung von öffentlichem Raum, und der Marktplatz sein Prototyp.24 __ Zugleich aber gilt, dass in China Institutionen der Gemeinschaft (Familie, Volksgemeinschaft) die Formierung von Gesellschaft untergraben und dadurch das gesellschaftliche Potential der Kommerzialisierung bedrohen. Dort, wo die Geschäfte von Familien beziehungsweise Clansubstituten beherrscht werden, wird vor allem – um nicht zu sagen: nahezu ausschließlich – die familiäre Vergemeinschaftung des Erfolgs unternehmerischen Handelns angestrebt – und nicht dessen ‹Vergesellschaftung› im Sinne individueller und öffentlicher Zurechnung des Gewinns. Man bezeichnet diese gemeinschaftszentrierte Form der Kommerzialisierung, wie Anfangs bereits angemerkt, als ‹konfuzianische Ökonomie›.25 __ Seit der Öffnung Chinas werden erhebliche Anstrengungen unternommen, qualitativ hochwertige öffentliche Stadträume zu gestalten (Hassenpflug 2004a). Wie schwer die

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Bund bei Nacht, Shanghai

Blick von Pudong nach Puxi auf den Bund, Shanghai

Am nächtlichen Bund, Shanghai

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Verwirklichung dieser Absicht allerdings immer noch fällt, zeigen zahlreiche Beispiele, etwa der Platz des Volkes in Shen­yang oder der Platz an der Pagode der großen Wildgans in Xi’an. Wenn es um offene Stadtplätze geht, wandert der Blick der Gestalter nur allzu leicht nach Peking, wo auf Geheiß Mao Zedongs Ende der fünfziger Jahre südlich der Verbotenen Stadt der Tian An Men zu einem Platz von gewaltigen Ausmaßen erweitert wurde. Auf diese Weise schuf er ein von machtbewussten Stadtoberhäuptern bewundertes Modell des heutigen chinesischen Stadtplatzes. Der Tian An Men wurde zum Idol des ‹erhabenen Platzes›, einem bevorzugten Objekt der Selbstverwirklichung großer Männer – und fand entsprechend viele Nachahmungen. __ Der Tian An Men ist in seiner Dimension und Anmutung alles andere als bürgerlich. Er ist weder Marktplatz oder Plaza noch Square, sondern eine an barocke Raumgestaltungen erinnernde Machtdemonstration, eine kommunistische Version des Champs de Mars (Exerzier- und Aufmarschplatz) beziehungsweise des Place Royal. Ein Platz, der Zentralmacht denotiert, die Verräumlichung eines Machtanspruches, der unschwer als in der Tradition des Zentralismus stehend identifiziert werden kann. __ Wenn der Tian An Men dennoch immer wieder ein ‹menschliches Maß› aufblitzen lässt, dann ist dies den ungeheuren Menschenmassen, den Stadtbewohnern, in- und ausländischen Touristen und Gästen, zu verdanken, die sich hier, vor den Toren der Verbotenen Stadt, des Nationalmuseums und des – dem Washingtoner Lincoln-Memorial nachempfundenen – Mao-Mausoleums versammeln und mit ihren spontanen und ungeordneten Bewegungen, ihren Zusammenballungen, ihrem Auseinanderstieben, ihren bunten Kleidern und ihrer unterschiedlichen Haar- und Hautfarbe dem Platz ein wenig die Strenge nehmen. __ Vergleichbares gilt für den Platz der großen Wildgans in Xi’an. Auch dieser ist so weitläufig geraten, dass man auf ihm schon einmal die Orientierung verlieren kann. Die Regierung in Peking, so wurde mir vor Ort von einem kundigen Begleiter versichert, soll über die Platzgestaltung in Xi’an nicht sonderlich amüsiert gewesen sein; denn nach Auffassung der politischen Führer kann es nicht angehen, dass eine Stadt in China es wagt, einen Platz zu bauen, der die Größe des Tian An Men zu erreichen oder gar zu übertreffen sucht.

Platz an der Pagode der großen Wildgans, Xi’an

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Gleichwohl ist der Platz der großen Wildgans – wie viele vergleichbare ‹erhabene› Plätze im Lande – für die Stadtbewohner ein Glücksfall, können sie ihn doch für alle kleinen und großen Freuden des städtischen Lebens beanspruchen und genießen, zur Begegnung und Entspannung, zum Taiji und Joggen, zum Tanzen, Spielen und Handeln – und natürlich, nicht zu vergessen, zum Drachen steigen lassen. Vergleichbares ließe sich auch für die ‹Plätze des Volkes› in Shenyang, Shanghai und vielen anderen Städten sagen. __ Damit erzielen diese Plätze einen urbanen Rang, den man als proto-öffentlich bezeichnen kann. Hat es im alten China überhaupt keine frei zugänglichen öffentlichen Plätze (außer an Tempeln oder Brückenköpfen) gegeben, so vermitteln die ‹erhabenen Plätze›, darin den kommerziellen Plätzen gleich, in Richtung öffentlicher Stadträume. Einer zivilgesellschaftlichen Aneignung durch die Stadtbewohner stehen sie im Prinzip nicht im Wege. __ In den Neuplanungen der Stadtrandgebiete setzt sich inzwischen immer stärker die Praxis durch, die neuen Nachbarschaften nicht nur mit kommerziellen Nachbarschaftszentren oder Gemeindezentren auszustatten, sondern diesen beiden Typen von Einzelhandelszentren korrespondierende Aufenthaltsorte, wenn schon nicht zur Seite, so doch gegenüberzustellen. Neben den beiden besprochenen Platzformen, dem ‹kommerziellen› und dem ‹erhabenen› Platz, drängt so ein dritter Typ nach vorn, der Nachbarschafts- beziehungsweise Gemeindeplatz, der in der Regel als offener Gemeindepark26 angeboten wird. __ Parks in älteren Stadtteilen sind, wenn überhaupt vorhanden, meist eingezäunt, abschließbar und in der Regel nur nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes zu betreten. Der Nachbarschafts- bzw. Gemeindepark ist demgegenüber grundsätzlich frei zugänglich, nicht eingehegt und (im Prinzip) nicht-kommerziell. Räumlich steht er in derselben Beziehung zur Nachbarschaft oder zum Stadtteil wie das kommerzielle Nachbarschaftsbeziehungsweise Gemeindezentrum. Wie bei diesen entscheidet der Bezug auf eine mehr oder weniger große Zahl an Nachbarschaften (mithin die Stufe in der Hierarchie der Stadtstruktur) darüber, ob es sich um einen ‹Nachbarschaftspark› oder um einen ‹Gemeindepark› handelt. __ Der Nachbarschafts- beziehungsweise Gemeindepark ist darüber hinaus ein offener Gegentyp zum geschlossenen, introvertierten Nachbarschaftshof, dem wir uns im nächsten Kapitel ausführlich zuwenden. So unauffällig die Ausbreitung der Nachbarschaftsund Gemeindeplätze in China vor sich geht, so bedeutsam ist deren Herausbildung. In ihnen wird nicht weniger denotiert als die allmähliche Herausbildung von öffentlichem Raum. Damit signalisieren die Nachbarschafts- bzw. Gemeindeparks das Vordringen zivilgesellschaftlicher Elemente, das heißt die Stärkung von Gesellschaft und Individuum gegenüber Gemeinschaft und Familie. __ Die Nachbarschafts- und Gemeindeparks sind freiraumarchitektonisch durch­ge­ staltet, mit Rasen, Baumgruppen, Blumenrabatten und Büschen in ausgewogenem Verhältnis ausgestattet, gelegentlich mit Pavillons und überdachten Lauben bestückt, ausreichend möbliert und mit Aufenthaltsflächen versehen. Der Versiegelungsgrad ist im Vergleich mit europäischen Stadt- oder Gemeindeparks relativ hoch, was auf erklärungsbedürftige chinesische Einflüsse schließen lässt (vgl. dazu den Abschnitt «Stein und Pflanze» in diesem Kapitel). __ Die offenen Nachbarschafts- und Gemeindeparks sind neueren Datums, weshalb wir sie auch nur in Neubaugebieten antreffen. Die Frage nach ihrer Dauer beziehungsweise

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Öffentlicher Nachbarschaftspark in Pudong, Shanghai

Nachhaltigkeit ist daher noch eher akademischer Natur. In jedem Fall bieten sie eine Fülle jener Annehmlichkeiten, nach denen sich insbesondere Familien mit Kindern in der Großstadt sehnen, Raum zum Spazieren und Joggen für die jungen Leute, zum Ruhen und Tratschen für die Senioren, zum Spielen für die Kinder und so weiter. __ Allerdings fällt auf, dass die Pflege dieser Orte nicht ganz einfach zu sein scheint. Das muss nicht einmal an Defiziten bei der öffentlichen Pflege (Häufigkeit der Pflege- und Instandhaltungseinsätze) liegen – obschon ein entsprechender Befund in einem Land mit einer noch jungen zivilen Institutionenkultur nicht ganz überraschend wäre. Die Gründe scheinen eher in der Art der Nutzung zu liegen: Der Zustand der introvertierten Nachbarschaftshöfe liegt in der Verantwortlichkeit sogenannter Nachbarschaftskomitees oder auch der kommerziellen Siedlungsverwaltungen. Einen entsprechend gepflegten Eindruck hinterlassen sie. Doch unabhängig von diesen Zuständigkeiten wird den Nachbarschaftshöfen von den Bewohnern viel Respekt gezollt. Manche sehen sich sogar in der Verantwortung für deren Pflege und legen ungefragt Hand an. Demgegenüber trägt die Nutzung der öffentlichen Stadt- und Gemeindeparks eher raue Züge: Papier, Flaschen, Zigarettenkippen und andere Abfälle werden nach dem abendlichen Picknick in der Regel achtlos liegen gelassen, eine Haltung, die allerdings durch eine oft viel zu geringe Zahl von Abfallbehältern unterstützt wird. __ In China gibt es derzeit noch keine gefestigte Stadtbaukultur öffentlicher Räume – zumindest nicht im europäisch aufgeklärten Verständnis des bürgerschaftlichen, demokratischen beziehungsweise zivilgesellschaftlichen Raums. Die allgemeine und immer noch tief verwurzelte Geringschätzung des offenen Stadtraums steht dem entgegen. Wenn der familiäre Raum auf die anfangs beschriebene Art und Weise, d. h. mittels Intimisierung und informeller Kommerzialisierung, den offenen Raum sozial programmiert, dann sind diese Aktivitäten ein Indiz dafür, dass Gemeinschaft und Gesellschaft noch unzureichend ausdifferenziert sind. Bestenfalls ist von einem Stadium der ProtoÖffentlichkeit zu sprechen. Im Reich der Mitte sind es von jeher und immer noch die Familie und die dieser zuzuordnenden sozialen Regeln, die das Stadtleben entscheidend bestimmen – also auch das Leben in jenen Räumen, die wir gemeinhin als ‹öffentlich› betrachten.

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Selbst gesellschaftliche Interaktionen, die ihrem Wesen nach auf den Institutionen der Vertraglichkeit und Rechtsförmigkeit beruhen, werden mit Vorliebe durch gemeinschaftliche Interaktionen unterlaufen, etwa durch familiäre oder familienähnliche Netzwerke (guanxi), die hier insgesamt eine viel größere Bedeutung haben als in Europa. Jeder Geschäftsmann kann bestätigen, wie wichtig ein gemeinsames Essen und Trinken für erfolgreiche Vertragsverhandlungen ist. Erst durch das Abendessen, durch die solcherart initialisierte Gemeinsamkeit und Freundschaft können Verträge (als gesellschaftlichformale Akte) jenen gemeinschaftlichen (familienanalogen) Grund erhalten, ohne den sie oft nicht das Papier wert sind, auf das sie geschrieben wurden. Diese beispielhafte Form der Intervention des Gemeinschaftlichen in die formalen Strukturen des Gesellschaftlichen ist in China auch raumrelevant: Gemeint ist die Lokalisierung und die Präsenz chinesischer Restaurants – um nicht zu sagen: Esstempel – im offenen Stadtraum. __ Mit den offenen Stadträumen verhält es sich wie mit den Verträgen: Von der überwältigenden Realität von Gemeinschaft und Familie her erklärt sich die Indifferenz der Stadtbewohner im Umgang mit ihnen. Allerdings geht diese nonchalante Haltung sofort in fürsorgliches Handeln über, wenn der offene Raum durch die Anwesenheit des Familiären oder Gemeinschaftlichen, durch die politische Symbolhaftigkeit seiner Inszenierung und, vor allem, durch die Kommerzialisierung seiner Nutzung aufgewertet wird. Durch Zuwendungen dieser Art verwandelt sich das Aschenputtel ‹offener Raum› in eine attraktive Prinzessin des chinesischen Stadtraums. Chinas Platztypen im Spannungsfeld von Gemeinschaft und Gesellschaft Gesellschaft

Gemeinschaft geschlossener Raum

offener Raum erhabener Platz

Nachbarschaftshof

öffentlicher Raum

kommerzieller Raum Nachbarschafts- oder Gemeindepark

Stein und Pflanze __ Bisher wurden die offenen Stadträume, auch die Nachbarschafts- und Gemeinde-

parks, vor allem aus der Perspektive einer sozialen Semiotik beschrieben. Es fehlt jedoch noch die Perspektive einer umfassenden kulturellen Semiotik beziehungsweise, wie man mit Bezug auf architektonische Werke auch sagen könnte, einer kulturell informierten Ikonologie. Werfen wir hier also einen exemplarischen Blick auf die gestalteten Nachbarschafts- und Gemeindeparks in der Absicht, die kulturellen Botschaften zu entziffern. __ Der von den heutigen Gestaltern öffentlicher Anlagen, von Gärten, Parks, Freiräumen aller Art hinterlassene Text ist diesbezüglich nicht einfach zu lesen. Nicht so sehr aufgrund unzähliger individueller Handschriften, sondern aufgrund des Nebeneinanders unter­ schied­licher, westlicher und östlicher, Raumsprachen. Man muss also schon zweimal hinsehen, um festzustellen, dass chinesische Stadtgärten im Großen und Ganzen artifi­zieller, dekorationslastiger und bildmächtiger wirken als vergleichbare europäische Anlagen. __ So scheint es allgemein einen höheren Grad an Versiegelung zu geben, eine üppigere Möblierung und Überbauung. Häufiger als in westlichen Beispielen sind Brücken, Pavillons, Lauben, Plätze, Gesteinsformationen anzutreffen, viele und breite gepflasterte Wege, mehr Fels, Stein und Kies, mehr technische Ausstattung mit Leuchten aller Art und Lautsprechern, aus denen unentwegt Musik rinnt oder tröpfelt. Die Grundrisse sind

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vorzugsweise organisch geschwungen, Bäume ungezwungen zu Gruppen zusammen­ gestellt, gelegentlich auf angedeuteten Hügeln – und insofern scheinen die Grünanlagen in der Tradition pittoresker Gartengestaltung zu stehen. Doch zugleich wirkt das Ganze barock durchdrungen: Es gibt axiale Wege und geometrische Anordnungen, viele geschnittene Hecken, Sträucher und Bäume – und immer wieder rechteckige Bambusbeete. __ Es mag sein, dass die Auflösung der Gestaltungsparadigmen zu eklektischen, orga­ nisch-geometrischen Mischgebilden eine Ingredienz des internationalen Stils in der Freiraumgestaltung ist, doch scheint es hier nicht nur um bloße Formen und deren Mischung zu gehen, sondern zugleich um Bedeutungen, die der verwendeten Materialität und ihrer Inszenierung direkt anhaften. Ein Hauch von Zen beziehungsweise Ikebana lässt sich gelegentlich verspüren, ein Echo der Sprache des traditionellen chinesischen Gartens, die als ein kulturelles Dispositiv dem individuellen Gestaltungswillen des Landschaftsarchitekten (oder wer auch immer chinesische Stadtplätze entwirft) offenbar zu trotzen scheint. Um richtig zu lesen, sollten wir uns also über die Kultur des chinesischen Gartens verständigen. Ein Blick auf neuzeitliche Traditionen europäischer Gartengestaltung ist dabei hilfreich. __ In Europa hatte die Emanzipation urbanen Denkens im Zuge der Renaissance-Kulturrevolution zur Praxis vernunftgemäßer, das heißt idealer Räume, Städte, Gärten und Landschaften geführt. Der zwittrige, zugleich feudale und bürgerliche Absolutismus griff die Idee des subjektiven – und darum perspektivischen – Raumes auf und entwickelte diesen zur Grammatik des Macht-Raumes weiter. So entstand der geometrisierte Barockgarten. Indem er die Vorherrschaft der subjektiven gegenüber der objektiven Vernunft veranschaulicht, thematisiert er zugleich die Beherrschung der Natur durch den Menschen. In seiner Ikonografie der Macht, mit seinen Zentralachsen, Trivien, rasterförmigen Wegführungen, Labyrinthen, gestutzten Bäumen, Sträuchern, ornamentalen

Goethes Gartenhaus im pittoresken Ilmpark, Weimar

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Schloss-Modell im zerstörten Yuan Ming Yuan-Park, Peking

Rabatten und sonstigen Zierflächen veranschaulicht er das absolutistische Zweckbündnis von bürgerlicher Vernunft und feudaler Herrschaft: die Verbürgerlichung des Hofes beziehungsweise die Feudalisierung des Marktes (Elias 78, Bd. II, 222ff). Man muss sich nur Hubert Roberts Gemälde vom Park von Versailles anschauen, um sofort zu erkennen, dass bereits Zeitgenossen die Anmaßung der räumlichen Geste des Französischen Gartens zurückwiesen. Und so entstand eine Gegenbewegung, die ihr wichtigstes Argument in den pittoresken Gärten des halbstädtischen niederen englischen Adels fand. __ Während die geometrische Künstlichkeit des Barockgartens als Metapher für Naturbeherrschung und Symbol absolutistischer Macht gedeutet werden muss, verhält sich der Englische Garten reflexiv zur Naturbeherrschung, zur kulturellen Bedingtheit seiner Form: Als Gegenentwurf zum Französischen Garten zelebriert er natürliche Natur, Natur in Harmonie mit einer Kultur, welche ihr Rationales, Beherrschendes, Künstliches nicht preisgibt. Anders ausgedrückt: Im pittoresken Garten, dem gebauten arkadischen, pastoralen beziehungsweise bukolischen Landschaftsgemälde, wird das Künstliche so weit in das Natürliche gesteigert, bis jenes vollständig in dieses aufgehoben ist und verschwindet: Es bleibt die Illusion natürlicher Natur. __ Schauen wir uns demgegenüber den klassischen Chinesischen Garten an: Was im Französischen und Englischen Garten getrennt wird (das artifizielle und das pittoresknatürliche), ist in diesem eins: Der Chinesische Garten exponiert zugleich vollständige Künstlichkeit und vollendete Natürlichkeit. Er verbirgt seine Künstlichkeit nicht, seine kulturelle Herkunft, das heißt die menschliche Fähigkeit, Natur zu beherrschen und zu transformieren. Insofern ist er mit den ikonischen Botschaften des Barockgartens in Übereinstimmung.

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Ebenso wenig negiert er jedoch das Natürliche. Vielmehr bringt er eine übersteigerte und eben darin vollendet natürliche Natur zur Anschauung. Darin wiederum liegt er mit dem pittoresken Landschaftsgarten ‹auf einer Wellenlänge›. Dem Chinesischen Garten geht es demzufolge um die Vergegenständlichung einer alles übergreifenden Einheit von Kultur und Natur. Er zeigt eine Idee des Pittoresken, in der sich das Artifizielle und das Natürliche, das Rationale und das Emotionale oder das Ornamentale und das Organische in vollständiger Harmonie befinden. __ Im historischen Chinesischen Garten durchdringt das Künstliche das Natürliche von jeher bis zur Ununterscheidbarkeit – ganz im Unterschied zur europäischen Tradition der Gartenbaukunst, die sich in polarisierender Auseinandersetzung von geometrischem Barockgarten und organischem Landschaftsgarten entfaltet. Während der Barockgarten der Natur genau das verweigert, was sie wesensmäßig ausmacht, nämlich Eigensinn und Unverfügbarkeit, weist der pittoreske Garten die Idee einer künstlich-synthetischen zweiten Natur als Anspruch von Kultur zurück. Die Praxis des pittoresken Gartens stellt sich insofern ganz in den Dienst einer als objektiv erachteten Naturästhetik. __ Englischer und Französischer Garten stehen auf diese Weise gegeneinander – und exponieren genau darin etwas genuin Europäisches: die Konzeptionalisierung von Dialektik als Kampf, Streit, Gegensatz.27 Die Gartenbaukunst wird damit zum Austragungsort eines erbitterten Streits zwischen Kultur und Natur (zwischen philosophischem Kulturalismus und philosophischem Naturalismus), worüber leicht verloren geht, dass das eine immer schon im anderen enthalten ist, dass erst die gestaltende Bewusstwerdung der Einheit dieser Gegensätze eine dem Gegenstand adäquate Formensprache hervorbringen kann.

Chinesischer Garten in Suzhou

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Chinesischer Garten in Zhujiajiao bei Shanghai

Genau dies jedoch, die Harmonie der Gegensätze zu verräumlichen, leistet der chinesische Garten auf einzigartige Weise. Nicht überraschend insofern, dass zum Beispiel der kluge französische Revolutionsarchitekt Moll im Zentrum seiner republikanischen Idealstadt vier Gärten vorsah: einen Französischen Garten im Westen, einen Englischen Garten im Norden, einen botanischen (wissenschaftlichen) Garten im Süden und einen Chinesischen Garten (Harten/Harten 1989, 174ff). Sie sollten in einer republikanischaufgeklärten Stadt alle ihr Recht erhalten. __ Wie bei keiner anderen Architektur erscheint beim Chinesischen Garten das Künstliche als absolut natürlich, das Natürliche als nicht minder künstlich. Es gibt keinerlei Differenz zwischen Mensch und Welt, nichts kann die prästabilierte Harmonie von Kultur und Natur trüben. Materiell artikuliert sich diese Weltsicht in einer doppelt codierten Inszenierung: erstens in einer in höchstem Maße artifiziellen Zusammenfügung natürlicher Elemente. So werden beispielsweise unbehauene Felsbrocken zu wildromantischen Landschaften aus miniaturisierten Zinnen und Schluchten geformt, in deren Spalten verwegene Pflanzen imaginären Unwettern trotzen. Und zweitens in einer nicht weniger natürlichen Komposition völlig artifizieller Elemente. So finden wir kleine Pavillons, Lauben, Gewässer oder Plätzchen, die von nach Bonsai-Art geschnittenen, alpinen Formen nachempfundenen Bäumen gerahmt werden. Auf diese oder vergleichbare Weise sind Künstliches und Natürliches in einer Weise miteinander verquickt und verwoben, die eine Unterscheidung völlig unmöglich, und das bedeutet: zu einer rein analytischen beziehungsweise akademischen Übung macht, zu einer Frage des Wissens und des Denkens.28 __ Im Chinesischen Garten geht es jedoch weder um Wissen, noch um Denken. Es geht nicht um das Bekenntnis zu einem Gestaltungskonzept, für das es auch Alternativen gäbe. Der Chinesische Garten lädt vielmehr zur Anschauung ein, das heißt zur «höchsten Form des Erkennens», wie der sinologisch keineswegs unbewanderte Goethe29 dies ausdrückte. In der kontemplativen Versenkung in die Ästhetik des Chinesischen Gartens als Gegenüber erfahren wir uns als Wesen, die in ihrem Denken und Handeln die Na-

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tur übergreifen, und zugleich von ihr in unserer natürlichen und kulturellen Existenz ‹übergriffen› sind (vgl. Schmied-Kowarzik 1984, 35ff).30 __ Der klassische Chinesische Garten ist ein Hofgarten. Er ist exklusiv und introvers, durch Gebäude und Mauern von der Außenwelt abgeschirmt. Außerhalb der kaiserlichen Anwesen konnten nur hohe Staatsdiener und reiche Kaufleute sich eine solche Gartenanlage leisten. Zutritt hatten selbstverständlich nur geladene ranghohe Gäste. Für die ‹Öffentlichkeit› gab es dergleichen nicht. Natürlich hat sich das inzwischen geändert. Zahlreiche der einst exklusiven Chinesischen Gärten sind heute allgemein gegen eine Eintrittsgebühr zugänglich. __ Im offenen chinesischen Stadtraum taucht das Konzept der elitären Hofgärten nicht auf. Hier gestalten heute Landschafts- und Freiraumarchitekten, und die Art und Weise, in der sie entwerfen, ist derjenigen der Architekten strukturverwandt. Es werden bildmächtige Räume geschaffen, die eher eklek­tischen Stilsammlungen gleichen als klassischer chinesischer Gartenbaukunst. Allerdings scheinen hier und dort Elemente, vielleicht auch Zitate des klassischen Chinesischen Gartens einzufließen. Und selbst wenn dies nicht geschehen sollte, bliebe doch eine Art von Grundmelodie erhalten, die sich in dem bereits erwähnten hohen Versiegelungsgrad oder im Hang zu starker Bildhaftigkeit artikuliert. __ In der Bildhaftigkeit kommt eine traditionelle Disposition zum Ausdruck, der zufolge Form und Funktion des zu Gestaltenden als gleichwertig und ungeschieden betrachtet werden. Die westliche Trennung dieser Dimensionen, die erst ihre Entgegensetzung oder Hierarchisierung ermöglicht, ist dieser chinesischen Betrachtungsweise trotz aller Verwestlichung eher fremd geblieben. Das gilt für das architektonische Entwerfen ganz allgemein, Landschafts- und Freiraumarchitektur eingeschlossen. __ Deutsche Architekten und Städtebauer beispielsweise neigen aufgrund eines ausgeprägteren funktionalistischen Entwurfsverständnisses dazu, das Nutzungskonzept von der Bedeutung und somit von der Form analytisch zu trennen. Dem chinesischen Harmonieverständnis hingegen ist beispielsweise die Formel ‹form follows function›31 eher fremd. Hier werden Baugestalt und funktioneller Baukörper sozusagen ‹simultan› gedacht und bis zur Ununterscheidbarkeit zusammengefügt. Der gebaute Raum hat demzufolge nicht allein funktionellen Anforderungen zu genügen, er muss uno actu auch den Bedarf an Bedeutung, und das heißt: an Bild- und Zeichenhaftigkeit befriedigen. Jeder Entwurf ist damit zugleich Symbol oder Chiffre einer Verheißung, und gut beraten sind insofern jene Architekten, deren Entwurfssprache auch von Glück, Gesundheit und Wohlstand kündet. (Lu 2008) Dazu ist es jedoch erforderlich, sich den ikonischen Vorrat, den die chinesische Kultur etwa in den Regeln des Feng Shui bereithält, anzueignen. __ Das Einander-Durchdringen des Rationalen und Emotionalen finden wir in den grundlegenden Mustern der chinesischen Kultur und der zugehörigen Kulturtechniken. Nehmen wir nur einmal die Schrift als Beispiel. In Europa gehören die Schrift beziehungsweise das Wort der rationalen, das Bild hingegen der emotionalen Welt an. So konnten zum Beispiel im protestantischen Bildersturm Wort und Bild auf folgenreiche Weise miteinander in Konflikt geraten, wobei das Wort mit der mächtigen Waffe der Bibel auf seiner Seite, wo es im ersten Satz des Johannes-Evangeliums ganz platonisch heißt: «Am Anfang war das Wort [...]», den Sieg davontrug. Mit Folgen, die wir bis heute spüren – etwa im ‹protestantischen Charakter› der architektonischen Moderne.

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Wie das Beispiel der Kulturrevolution gezeigt hat, ist auch China gegen Bilderstürmerei nicht gefeit. Allerdings ging es hier wohl eher um die Beseitigung ‹alter› zugunsten ‹neuer› Bilder. Auf jeden Fall müssen die kulturellen Abwehrkräfte Chinas gegen einen Angriff auf das Bild im Namen des Wortes als beträchtlich eingeschätzt werden, zumal Bild und Wort immer schon sehr nah beieinander liegen. So gibt es kein Alphabet, daher keine Buchstaben und deren Organisation zu Worten. In China gibt es Silben, und jede Silbe ist ein Bild. __ Ähnliches gilt für die Sprache. Sie wird in gewisser Weise ‹gesungen›, denn die Artikulation der Silben erfolgt nach Maßgabe von vier verschiedenen Tonverläufen (wenn man den beinahe tonlosen ‹Abspann› – etwa beim Xiexie = Danke – hinzunimmt, sind es sogar fünf ‹Töne›, die chinesische Sprache ist mithin ‹pentatonisch›). In diesem Sinne könnte man ein wenig überspitzt sagen: Chinesen sprechen, wenn sie singen, sie singen, wenn sie sprechen. Sie sind emotional, wo sie rational sind und bildhaft, wo es um Funktionen geht.32 Der Westen demgegenüber spricht oder singt.33 Er ist emotional oder rational, bildhaft oder funktional. Beide Seiten kommen nicht so einfach zusammen – und es bedurfte hier wohl einer Semiotik, um zu begreifen, weshalb Worte (emotionale) Bedeutungen zu transportieren vermögen.

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Schwingende Zeilen und tanzende Punkte

3 Es scheint, als seien die städtebaulichen Regeln der Charta von Athen keine europäische, sondern eine chinesische Erfindung. Wohl nirgendwo sonst ist der Wohnzeilen- und Wohnpunktbau mit seiner Nord-Süd-Orientierung, seinem ‹Abstandsgrün› – in China häufig auch Abstandsgrau, wenn die Zeilen-Zwischenräume mit tristem Asphalt oder Betonplatten versiegelt sind – und seiner kleinteiligen Funktionsdifferenzierung so konsequent umgesetzt worden wie dort. Allenfalls einige Staaten des sowjetischen Machtbereiches nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989 können da noch mithalten. __ Für die ausgeprägte Praxis der Orientierung sind natürlich immer schon die geoklimatischen Bedingungen des sich nördlich und südlich des 35. Breitengrades ausdehnenden Landes von ausschlaggebender Bedeutung.34 Eine Orientierung des Wohnbaus nach Westen oder Osten empfiehlt sich wegen der Aufheizung des Wohnungsinneren durch eine jeweils tiefer stehende, auf- beziehungsweise untergehende Sonne nicht, während die Südsonne hoch genug steht, um zur Sommerzeit in einem vergleichbar spitzen Winkel auf das Wohngebäude zu treffen. Im Winter hingegen steht die Südsonne tief genug, um Wärme in die Wohnung zu bringen. Die Nordorientierung spielt für den Wohnbau auf der nördlichen Halbkugel nördlich des 30. Breitengrades kaum eine Rolle – ganz im Unterschied zum Industriebau, dessen in die Sheddächer eingelassene Fenster das gewünschte nördliche Streulicht sammeln. __ Eine vergleichende Untersuchung von Wohngroßsiedlungen in Deutschland – vom Märkischen Viertel im Berliner Westen bis nach Marzahn im Osten, von Bremen-­Osterholz bis Hoyerswerda und von Halle-Neustadt bis München-Neuperlach – fördert zutage, dass das ‹Orientierungsgebot› der Charta von Athen in Deutschland niemals so streng umgesetzt wurde, wie in China. Selbstverständlich spielt dabei wieder die geoklimatische Position eine Rolle. Im vergleichbar nördlich gelegenen Zentraleuropa mindert sich die Strahlungsintensität der West- und Ostsonne. Bereits in historischer Zeit wurde der Südorientierung daher weniger Aufmerksamkeit gewidmet, und die für die alteuropäische Stadt charakteristische (parzellierte) Blockrandbebauung mit ihrer Orientierung in alle Himmelsrichtungen konnte sich etablieren. __ Selbst in modernen Zeiten wurde der Orientierungswechsel von Nord-Süd in Richtung West-Ost als Möglichkeit zur Gewinnung von städtebaulichem Handlungsspielraum, etwa als Chance raumfigürlicher Auflockerung und Individualisierung im Massensiedlungsbau betrachtet. So wurden keineswegs selten Zeilenbauten zur Rahmung von Straßen verwendet, zum Beispiel als distanziert aufgestellte Spaliergebäude für Hauptstraßen und -achsen oder einfach nur als definierende Strukturen für Straßen untergeordneter Bedeutung. In vergleichsweise freier Deutung des Ideals der ‹neuen Stadt im Park› wurde in Europa die südorientierte Zeilenbauweise im Wohnungsbau niemals konsequent umgesetzt.

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Oben: Fordistischer Zeilenbau in China, Shenyang

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Unten: Schwingende Wohnzeile, Shanghai

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Diese Praxis bedeutet jedoch keinesfalls, dass Strukturen oder Elemente der klassischen europäischen Blockrandbebauung mit ihrer Fassadenschau integriert werden sollten – etwa zur Definition öffentlicher Plätze. Denn der moderne Wohnungsbau fordistischer Prägung lehnt raumpolitisch die Bürgerlichkeit und Individualität dekorierter Fassaden einschließlich der zugehörigen öffentlichen Stadtbaukultur ab und ist diesbezüglich kaum zu Kompromissen bereit. Die fordistischen Annäherungen an die Blockrandbebauung in Europa haben daher ihre Grenzen in der Verwendung der ansonsten dem Zeilenbau zugeordneten Elemente und in funktionalen Erwägungen. __ Vor diesem Hintergrund versteht sich von selbst, dass die Aufgabe der Rahmung der Straße, so diese denn gewollt ist, dem Einzelhandelsgeschäft, dem Dienstleistungsbetrieb, der Werkstatt oder auch dem Bürogebäude überlassen wird. Der Grund liegt auf der Hand: Für diese Funktionen ist die Orientierung nicht so wichtig. Dieser Umstand wird im modernen Städtebau weltweit als Möglichkeit der Stadtgestaltung, der Verdichtung, der Zentrierung und Funktionsmischung gesehen – und auch genutzt. In dieser Entkopplung vielfältiger Stadtfunktionen von der Orientierung ist auch der Grund dafür zu sehen, warum sich die städtebauliche Moderne mit den alteuropäisch geprägten Innenstädten im Medium der Fußgängerzone versöhnen konnte; integriert diese doch beides: die Struktur der kleinteilig-parzellierten Blockrandbebauung und die Anforderungen der Moderne an raumfunktionale Spezialisierung. Die Fußgängerzone ist jedoch die einzige Monostruktur, die sich mit dem Erbe der alteuropäischen Stadt problemlos verbinden ließ. __ Auf die Bedingungen der Möglichkeit attraktiver chinesischer Fußgängerzonen kommen wir in dem Kapitel über die urbane Medienfassade noch zu sprechen. An dieser Stelle ist zunächst allein der Hinweis wichtig, dass auch der gegenwärtige chinesische Städtebau – darin von der europäischen Praxis nicht unterschieden – die Orientierungsfreiheit der genannten Basisfunktionen selbstverständlich für die gestalterische und funktionale Aufwertung des städtischen Raums nutzt: durch die Rahmung von Nachbarschaftsquartieren, durch die Bereitstellung von Nahversorgungseinrichtungen oder als willkommener Emissionspuffer zwischen Straße und Wohnsiedlung. __ Allerdings lässt sich eine mit den europäischen Gepflogenheiten vergleichbare Flexibilität bei der Verwendung der Zeilenbauelemente für eine Blockrandtypologie im chinesischen Wohnungsbau nicht nachweisen. Diesbezüglich erfolgt die Umsetzung der Ideale der Charta von Athen viel rigoroser. Luftaufnahmen chinesischer Städte sprechen dazu eine überaus klare Sprache. Wer etwa mit Google Earth auf eine chinesische Großstadt hinunterzoomt, oder von einem Fernsehturm oder einem Wolkenkratzer auf eine solche schaut, wird feststellen, dass die ausgedehnte Textur der Stadt immer noch ein wenig an einen Aufmarschplatz erinnert. Wie Soldaten in Reih und Glied scheinen die Gebäude der Städte mehr oder weniger komplett nach Süden ausgerichtet. Dabei verlaufen die Gebäudezeilen wie magnetisch aufgeladene Eisenspäne in Ost-West-Richtung. Die Ausnahmen mehren sich allenfalls im äußersten Norden (etwa in Harbin) und im Süden des Landes (etwa in Guangzhou). __ Dieses steife Muster verschwindet nicht einmal dort, wo die Wohnsiedlungen der neuen Mittel- und Oberklassen sich ausdehnen. ‹Dort› meint hier in einem äußeren städtischen Ring, der sich um die vorausgegangene Generation des fordistischen Wohnungsbaus schließt. Hier sehen wir nun jedoch sich eigentümlich schlängelnde Häuserzeilen, die aus der Vogelperspektive wie mäandernde Ketten aus grauen und braunen Strei-

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fen und Klötzchen wirken. Doch damit ist die Orientierung keineswegs aufgekündigt, denn im großen und ganzen halten die nunmehr schwingenden und tanzenden Häuserkettchen die Ost-West-Richtung ein. Die Kraftfelder des Magnets der Südorientierung bleiben weiterhin wirksam. Die organischen Grundmuster der neuen Wohnsiedlungen finden ihre Grenze genau dort, wo die Schwelle zur allgemeinen Südorientierung überschritten wird. __ Während man in Europa und Amerika – etwa im Städtebau des New Urbanism – das ohnehin schwach wirksame Orientierungsgebot im Wohnungsbau weitgehend aufkündigt, um sich, unter Nutzung der Potentiale fortgeschrittener Technik und moderner Baumaterialien, der Blockrandbebauung, der Stärkung urbaner Zentralität, der kleinteiligen Mischnutzung und der kultivierten Bestandserhaltung zuzuwenden, lässt sich für China eine vergleichbare Entwicklung nicht nachweisen. Diese Aussage gilt trotz des auch in China populären New Urbanism und trotz der zahlreichen europäischen Themenstädte beziehungsweise Stadtfiktionen – denn all diese importierten Stadtgebilde dienen, wo sie dem Orientierungsgebot nicht unterliegen, ausschließlich der städtebaulichen Inszenierung und Dekoration kommerzieller Räume. __ China bleibt im Wohnungsbau bei der Südorientierung und geht dabei durchaus kreative Wege. So lässt sich die Verknüpfung von technizistisch-funktionalistischem ‹Fordismus›35, dessen städtebauliches Leitbild bekanntlich die Stadtmaschine ist, mit den gefälligen Formen organischer Raumgestaltung als eine beachtliche postfordistische Weiterentwicklung des Zeilen- und Punktbaus würdigen. Man muss nur einmal unvoreingenommen eines dieser neuen Wohnquartiere betreten, um sich von den Vorzügen des postfordistischen Zeilen- und Punktbaus für das Wohnumfeld überzeugen zu lassen – allen Merkwürdigkeiten der verwendeten Baustile, der Parkpflege, der Bewachung und Introvertiertheit zum Trotz. Aus dem Abstandsgrün sind tatsächlich Elemente einer parkartigen Nahraumgestaltung geworden, es gibt Bäume, Sträucher, Wiesen und Blumenrabatten, komfortable Sitzbänke, Brunnen, viele offene Wasserflächen, Fitness­ räume, gelegentlich sogar verwendbare Kinderspielplätze und dergleichen mehr.

Tanzende Punkte, Shenyang

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Modell eines traditionellen Sìhéyuàn (Liu, 1980, 316)

Wie jedoch erklärt sich diese radikale, offenbar zur kreativen Weiterentwicklung zwingende Hingabe an eine Bauregel, die wir gemeinhin dem modernen, fordistischen Wohnungsbau zuordnen? Ist dies wirklich nur der Furor der Moderne, der in einem sich rückständig empfindenden China auf besonders fruchtbaren Boden gefallen ist? Oder ist es die pure Notwendigkeit des Festhaltens am fordistischen Massenwohnungsbau in einem bevölkerungsreichen Land? An beidem ist etwas dran: Die Energien der Erneuerung sind beim einstigen Opfer des westlichen Kolonialismus nicht zu unterschätzen. China will nach ganz oben und ist dabei nicht nur bereit, alte städtebauliche Zöpfe abzuschneiden, sondern auch dazu, die Errungenschaften der Moderne exzessiv für sich zu nutzen. __ Zu diesen Errungenschaften zählt der Massenwohnungsbau, und es leuchtet absolut ein, dass sich für ein Milliardenvolk wie das chinesische hier ein unverzichtbares städtebauliches Potential verbirgt, das man ohne Not nicht preisgeben wird.36 Bereits im Juni 2006 hat die chinesische Zentralregierung (das Ministerium für Land und Ressourcen) einen Erlass veröffentlicht, demzufolge der Bau von Villen, Einfamilienhäusern und anderen niedriggeschossigen Wohngebäuden, dazu von Siedlungen mit niedriger Einwohnerdichte, nicht mehr genehmigungsfähig ist.37 Die Zukunft des chinesischen Wohnungsbaus liegt einleuchtenderweise im vertikalen Wohnhochhaus – und der Fordismus liefert hier nun einmal die relevanten baukonzeptionellen Argumente. __ Doch dies ist es nicht allein. Die Radikalität der Hingabe an die Südorientierung im Wohnungsbau erklärt sich vor allem (wieder einmal) aus der chinesischen Geschichte: Denn in der räumlichen Positionierung historischer Wohnhäuser spielt die Südausrichtung von jeher eine eminente Rolle. Als Beispiel kann das im Norden Chinas verbreitete, durch den großflächigen Abriss in Peking zu trauriger Berühmtheit gelangte HutongSystem dienen. Auf einem schachbrettartigen Grundriss organisiert der Hutong Familien und Nachbarschaften. Dabei galt seit der Zhou-Dynastie für lange Zeit die Regel, wonach eine jeweils definierte Anzahl von Familien eine Nachbarschaft (Ling oder Bi) bilden. Eine wiederum definierte Anzahl von Nachbarschaften Ling bilden ein Quartier (Li) und eine definierte Anzahl von Quartieren bilden eine Verwaltungseinheit (Zhu). Wenn die Nachbarschaft aus fünf Familien besteht, das Quartier aus fünf Nachbarschaften und die Verwaltungseinheit aus vier Quartieren, dann kann ein Zhu 100 Soldaten aufbringen, wenn jede Familie einen Sohn stellt. Im Li haftete einst jeder für jeden – auch mit dem Leben (Wu, Weijia 1993, 90ff).

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Die Familie beziehungsweise der Familienverband wohnt in einer Hofhausanlage, einem Sìhéyuàn. Die Innenhöfe des hierarchisch strukturieren Sìhéyuàn sind an allen vier Seiten von Gebäuden umschlossen. ‹Sì› bedeutet ‹vier›; ‹Hé› verweist auf einen Mehrgenerationen-Haushalt und ‹Yuàn› ist das chinesische Wort für ‹Innenhof›. Das Eingangstor befindet sich im Süden der Anlage. Das – elterliche – Haupthaus ist das größte Gebäude im Geviert und beherbergt immer die jeweils älteste Generation. Es liegt im Norden und ist nach Süden, zum Hof hin, orientiert. Dadurch verbindet sich die Südorientierung mit der hochrangigen Stellung der Eltern in der Familienhierarchie. __ Da vergleichbare Strukturen auch für traditionelle Wohnraumkonzepte anderer Regionen galten, verbinden sich in China die Südorientierung und die Größe der Wohnung zu einer auch heute noch unvermindert wirksamen Kernaussage über sozialen Status. In den neuen Wohnquartieren der Mittel- und Oberschichten lässt sich dieses Zusammenspiel von Orientierung und Größe problemlos nachprüfen. So ist eine chinesische Mittel­ schichtswohnung nicht nur fast ausnahmslos südorientiert, sie ist im Durchschnitt auch deutlich größer als entsprechende Wohnungen in Deutschland.38 __ Die chinesische Stadt, auf die man heute aus der Vogelperspektive blickt, ist nicht mehr die Stadt der Lis und Zhus. Es ist die durch sowjetische Vermittlung nach China migrierte fordistische Stadt. War die Charta von Athen mit ihren Idealen des industriellen und sozialen Wohnungsbaus in der kommunistischen Sowjetunion schon auf frucht­ baren Boden gefallen, so erwies sich derjenige des kommunistischen China als mindestens ebenso ergiebig. Denn hier konnte sich die aus der Hygienebewegung abgeleitete Südorientierung mit ihrer Forderung nach Licht, Luft und Sonne mit der uralten chinesischen Tradition der Südorientierung und dem damit verbundenen Prestige umstandslos verbinden. Im fordistischen Städtebau blieb insofern immer auch ein Stück des alten China bewahrt – neben der kostengünstigen Bauweise und der hohen Dichte, die sich mit ihren kompakten Baukörpern erzielen lässt, die beste Voraussetzung für den phänomenalen Erfolg des modernen Siedlungsbaus. __ Vor diesem Hintergrund kann es daher kaum überraschen, wenn die Praxis des orientierten Zeilenbaus sogar durch lokale Bauvorschriften verlangt wird. Beispielsweise ist in Shanghai eine Abweichung vom Gebot der Südorientierung ohne eine besondere Genehmigung nicht zulässig. Ob es überhaupt einer solchen Vorschrift bedarf, kann allerdings angezweifelt werden; denn der chinesische Wohnungsmarkt verlangt nach strikter Südorientierung, und jeder ausländische Architekt und Städtebauer ist gut beraten, den chinesischen Orientierungswunsch zu beherzigen. Auf diesen Punkt ist weiter unten bei der Betrachtung chinesischer Stadtfiktionen (Kapitel 6) noch zurückzukommen.

Erschließungsstraße in einem HutongQuartier, Peking

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Tribünenartige Anordnung von Wohnzeilen in einer Nachbarschaft, Qingdao

Zur besseren Nutzung des Lichtes und des Blicks von innen nach außen bei gleichzeitiger Optimierung der Dichtewerte (zum Beispiel Geschossflächenzahl) findet sich zudem sehr häufig eine gestufte, kaskaden- beziehungsweise tribünenförmige Anordnung der Gebäude, wobei die Zahl der Geschosse nach Norden hin in zwei bis vier Stufen (am häufigsten drei Stufen) ansteigt. Danach stehen die zwei- bis dreigeschossigen Villen in der ‹ersten Reihe›, der Bautyp mit fünf bis zehn Stockwerken nimmt die mittleren Ränge ein, und die Massen, also die Wohnhochhäuser mit mehr als zehn Etagen, werden in den hinteren Rängen untergebracht. Hoch aufragende Wohngebäude können einander erheblich im Wege stehen, gerade wenn es um den begehrten Blick auf das Meer, die Berge, die Skyline oder dergleichen Veredlern von Wohnlagen geht. Es versteht sich daher, dass Architekten inzwischen allerorts auf softwaregestützte Schattenberechnungen zurückgreifen, um das Stufenmodell weiter zu verbessern. __ Durch die Stufung differenzieren sich die Lagequalitäten innerhalb des Quartiers kleinräumig. Insofern spiegelt diese Anordnung auch die finanziellen Möglichkeiten der Bewohner. Die obere Mittelschicht wohnt ‹vorn›, die mittlere ‹dazwischen›, und die untere Mittelklasse wohnt ‹hinten›, sozusagen auf den preiswerten Rängen in den unteren Stockwerken. Die Gebäudehöhen sind jedoch nicht der alleinige Differenzierungsfaktor. Auch die Lage im Verhältnis etwa zu Parkplätzen, Kinderspielplätzen und Abständen zu Straßen oder Grünflächen spielen eine Rolle bei der Bewertung der Immobilien. Sogar die Hausnummern können von großer Bedeutung sein.39 Ob stufenförmige Anordnung oder nicht – selten wird versäumt, die Gebäude um einen zentral gelegenen grünen Innenhof herum zu arrangieren. __ In China müssen, wie bereits erwähnt, hohe Dichten generiert werden. Dementsprechend hoch hinaus muss gebaut werden. Wohngebäude mit zwanzig bis dreißig und noch mehr Stockwerken sind keine Seltenheit. Inzwischen ist landesweit der Wohnungshochbau per Erlass vorgeschrieben, um die Überbauung und Zersiedlung von wertvollem Ackerland einzugrenzen. __ Mittlerweile ist es dem chinesischen Siedlungsbau in überzeugender Weise gelungen, den modernen Zeilenbau – und damit die hygienischen Anliegen der Charta von Athen – mit einer ansprechenden, den Bedürfnissen der einkommensstarken chinesischen Großstadtbewohner entgegenkommen­den Wohnumfeld­gestal­tung zu verbinden:­

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den seriellen sozialistischen Plattenbau mit dem vielfältig und variabel gestalteten Wohnhochhaus, den orthogonal-starren Grundriss der modernen Wohnsiedlung mit dem organischen Grundriss einer Stadt im Grünen, die Wohnzeile mit dem orientierungsfreien kommerziellen Blockrand, die Monostruktur mit einer funktional vielfältigen Rahmung, sozusagen mit einer kleinteiligen Zonierung. Die monofunktionalen fordistischen Quartiere mit ihrer utilitaristischen Struktur, ihren wie festgefroren wirkenden Zeilen und ihrem trostlosen Abstandsgrün sind dabei in Bewegung geraten, die Zeilenbauten begannen zu schwingen, die Punktbauten zu tanzen. __ Schon am Aufstieg Japans, Südkoreas und Taiwans konnte der Westen lernen, dass das Kopieren und Nachahmen weder ein ostasiatischer Volkscharakter noch eine Einbahnstraße ist, sondern ein Stadium im Prozess nachholender Entwicklung. Der Städte­ bau dürfte zu jenen Bereichen zählen, in denen China frühzeitig die Episode des Nach­ holens hinter sich lässt. Und es gibt Anlass zu der Vermutung, dass dies bereits geschehen ist – selbstverständlich mit kräftiger Unterstützung der für die chinesische Stadtentwicklung wichtigen Leitbilder Hongkong, Taiwan und Singapur.40 __ Bleibt zusammenfassend zu sagen, dass China das Erbe des Fordismus angetreten hat – der chinesische Siedlungsbau der schwingenden Zeilen und tanzenden Punkte hat ihn allerdings überwunden, indem er ihn postfordistisch fortentwickelte.41 Manches spricht dafür, dass die vertikale und organische Form chinesischer Quartiersplanung für die sich dramatisch verstädternde Welt die Rolle eines städtebaulichen Vorbildes übernehmen kann. In den mega-urbanen Landschaften des Pearl-River-Deltas, des Yang Zi Jiang-Deltas, der Metropolregion Peking-Tianjin, der Nordachse von Dalian über Shenyang, Changchun bis Harbin und entlang des Yang Zi Jiang werden bereits heute jene räumlichen Siedlungsmodelle entworfen und realisiert, die für die Zukunft hoch verdichteter, vertikaler und zugleich lebenswerter Megastädte diskussionswürdige Lösungsansätze bieten. __ Da in der chinesischen Tradition Armut soziokulturell stigmatisiert wird, richtet sich die städtebauliche Kreativität weitgehend auf die stark wachsende Mittel- und Oberschicht aus – und hier ganz überwiegend auf die gut verdienende Gruppe der Frauen und Männer mittleren Alters. In der Stigmatisierung der Armut unterscheidet sich das konfuzianisch geprägte China beispielsweise deutlich vom überwiegend katholischen Lateinamerika, wo Armut gesellschaftlich als weit weniger anstößig bewertet wird. Die öffentliche Akzeptanz von Armut liefert hier einen wichtigen Grund für die erhöhte Aufmerksamkeit, die entsprechende Bevölkerungsgruppen auch von Architekten und Städtebauern erfahren. __ In China setzt man demgegenüber stark auf eine innerhalb der Familien, mithin im privaten Bereich organisierten sozialen Aufwärtsmobilität und verschwendet eher wenig öffentliche Gedanken auf den Umgang mit den Siedlungsgebieten der armen Bevölkerungsgruppen. Das muss nicht so bleiben. Doch fällt auf, dass in Lateinamerika die Formalisierung und Aufwertung von informellen Siedlungen (Favelas) und die Weiterentwicklung des sozialen Wohnungsbaus nicht nur ein öffentliches Anliegen, sondern einen dauerhaften Schwerpunkt urbanistischer Theorie und Praxis bilden.

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Der abgeschlossene Stadtraum

4 Verriegelte Nachbarschaften __ ‹Exklusion› beziehungsweise ‹Introversion› sind Schlüsselwörter im Text der heu-

tigen chinesischen Stadt. Denn diese ist eine verriegelte, aus allgegenwärtigen Mauern, Zäunen, Riegeln und Toren bestehende Stadt, eine zellulare Landschaft aus abgeschotteten Teilräumen: gewerblichen Räumen (zum Beispiel Industrieparks und Hotelanlagen), öffentlichen Einrichtungen (zum Beispiel Gerichtsgebäude, Stadtverwaltungen und Ämter aller Art), Bildungseinrichtungen (zum Beispiel Schulen, Universitäten), sozialen Einrichtungen (zum Beispiel Krankenhäuser) – und, dies vor allem, Wohnquartieren.42 __ In den Groß- und Megastädten des heutigen China sind Wohnsiedlungen nahezu durchgängig abgeschlossen. Angesichts der Tatsache, dass das chinesische Wort für Wohnquartier (zhù zhái xiăo qū) mit ‹abgeschlossener Nachbarschaft› übersetzt werden muss, ist dies auch kaum verwunderlich. Abriegelung wird bei dem Wort ‹Nachbarschaft› oder ‹Wohnquartier› immer schon mitgedacht – und in der Verwirklichung der Wohneinheiten materialisiert.43 In gewissem Sinne handelt es sich bei abgeriegelten Nachbarschaften um Dörfer in der Stadt, um rurale Elemente, aus denen die chinesische Stadt zusammengesetzt ist. __ «Räumlich sind die mrds [Micro Residential District, d.h. die Nachbarschaft als unterste Verwaltungseinheit – d.h.] genau definierte Gebiete», schreibt Barbara Münch, «die nicht nur durch Mauern, Zäune oder Gebäude begrenzt werden, sondern auch durch Straßen und Grünflächen bewusst einen insularen Charakter bekommen. Wie schon die Hofhäuser und die alten Danweis, zeichnen auch die modernen Wohngebiete nicht nur genaue Grenzen, sondern auch die klare Trennung von Innen und Außen aus. Folglich ist ihr inneres Erschließungssystem nicht Teil des städtischen Verkehrssystems. Außerdem gibt es immer einen Kern, sei es eine Schule, ein Kulturzentrum oder nur eine große Rasenfläche, welcher symbolisch Innen von Außen unterscheidet.» (Münch 2004, 45) Vor diesem Hintergrund können die folgenden Zahlen auch nicht überraschen: «Chinese suburbs are becoming ‹gated suburbia›, ranging from luxury gated compounds to more ‹ordinary› commodity housing estates. From 1991 to 2000, about 83 % of Shanghai’s residential areas have been gated. In the same period, in Guangdong, 54.000 communities became gated, covering 70 % of residential area and 80 % of population [...].» (Wu, Fulong 2006, 1) Seit der, dieser Veröffentlichung zugrundeliegenden, Erhebung dürfte sich der Grad der Verriegelung nochmals deutlich erhöht haben.44 __ Die Wohnquartiere sind jedoch nicht nur räumlich durch Mauern, Zäune, kommerzielle Gebäudezeilen und so weiter abgeriegelt, sie sind auch sozial exklusiv organisiert. So ist jedes Wohnquartier gesetzlich zur Bildung eines Nachbarschaftskomitees verpflichtet (Lü Junhua, Shao Lei 2001, 270f). Diese Komitees, die am untersten Ende

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des hierarchisch gegliederten städtischen Verwaltungssystems stehen, sind aus Vertreterinnen und Vertretern sogenannter Wohn- beziehungsweise Hausgruppen zusammengesetzt, in der Regel vier oder fünf Personen. Ihre Aufgabe besteht darin, das Quartiersmanagement bei der Gewährleistung der Sicherheit, der Sauberkeit und Integrität der ‹öffentlichen› Anlagen zu unterstützen.45 Die Hausgruppen sind durch das interne Erschließungssystem und durch Grünanlagen voneinander getrennt und auf diese Weise deutlich im Raum identifizierbar. Da sie sich um den Innenhof des Quartiers gruppieren, spricht man bildhaft auch von einer Struktur der ‹vier Gerichte und eine Suppe› (vgl. Lü Junhua, Shao Lei 2001, 271). __ Die heutige chinesische Stadt ist allerdings auch eine aufgeschlossene Stadt.46 Sie bietet entriegelte Bereiche, verfügt über allgemein zugängliche, offene Räume. Nahezu alles, was Handel und Dienstleistungen betrifft, befindet sich in diesem offenen Bereich. Da vor allem die Straßen und Plätze in den Stadtzentren und Subzentren zu den aufgeschlossenen Räumen gehören, durchziehen diese die abgeschlossene Stadt wie Stamm und Äste einen dicht belaubten Baum. __ In den offenen Räumen vollzieht sich vorrangig die Interaktion der Wirtschaftssubjekte. Diese werden damit zum räumlichen Ausgangspunkt der Formierung öffentlicher Räume – und damit der Herausbildung einer chinesischen bürgerlichen Gesellschaft der Zukunft. Aus urbanistischer Sicht ist die radikale Kommerzialisierung offener Stadträume eine wirkmächtige Errungenschaft der jüngeren chinesischen Geschichte. Die chinesische Stadt, einst eher Kafkas Schloss verwandt, wurde in einem über einhundert Jahre dauernden Prozess, der bereits im späten Kaiserreich einsetzte, immer durchlässiger, offener, schließlich öffentlicher – und damit urbaner. __ Exklusiv ist das Wohnen, inklusiv der Handel. Der abgeschlossene und der aufgeschlossene Raum sind die beiden bestimmenden Raumelemente der gegenwärtigen chinesischen Stadt, sozusagen ihr binärer Code. Im Folgenden wenden wir uns diesen beiden Räumen zu, zuerst dem abgeschlossenen Stadtraum, der Blätterkrone, sodann dem offenen, aufgeschlossenen Stadtraum, dem Stamm und den in alle Richtungen sich verzweigenden Ästen.47 __ In der Praxis des Abriegelns überlagern sich mehrere Einflüsse, historische und aktuelle. Zunächst zu den historischen Gründen:

Mauerbewehrte Anwesen in einem Hutong-Quartier, Peking

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Entschiedener noch als die gegenwärtige Stadt war die kaiserliche Stadt ein Gebilde aus allgegenwärtigen Mauern, ein hierarchisch geordnetes, entlang sozialer Strati segregiertes, zelluläres Gebilde aus Familien- und Nachbarschaftseinheiten mit ausgeprägten ‹Zellmembranen›. Wir können in diesem System die räumliche Repräsentation eines auf konfuzianisch geprägter Familienmoral beruhenden ‹hypermoralischen› Systems identifizieren. Jede der weiter oben beschriebenen Stufen im hierarchischen System von Familie – Nachbarschaft – Quartier – Bezirk wurde durch Mauern von der jeweils übergeordneten Stufe getrennt. Die Quartiere (Ling) wurden, wie die Stadt selbst, nachts abgeschlossen. Je nach Rang der Stadt konnten der äußeren Stadtmauer weitere innere Stadtmauern folgen. Dabei repräsentierte jede Stadtmauer die kaiserliche Ordnung. Je länger diese und je größer ihre Zahl, desto bedeutender die Stadt und desto höher ihr Rang in der Städtehierarchie. __ In dieser Bestimmung unterscheidet sich die historische chinesische Stadt deutlich von der alten europäischen Stadt, deren Mauern in der Regel einen eigenständigen Rechtsbezirk anzeigten, oft auch völlige Unabhängigkeit von feudaler Autorität. In dieser mehr oder weniger ausgeprägten Autonomie der alten Stadt sind nicht allein die geschichtlichen Wurzeln für die Herausbildung der Nation zu sehen, sondern auch die geschichtlichen Grundlagen für die heutige Rechtsstellung der Stadt als mit Planungshoheit ausgestatteter Gebietskörperschaft. __ Vergleichbares lässt sich für das kaiserliche China nicht nachweisen. «Chinese cities were never corporate entities with their own legislative bodies [...]» (Friedmann 2005, 95) Da aufgrund der Größe und des Bevölkerungsreichtums des Landes die lokale Administration sich vor wachsende Schwierigkeiten gestellt sah, habe sich, so Friedmann, eine Regierung des «gnädigen Wegsehens» (benign neglect) herausgebildet, welche die Politik lokaler Wohlfahrt lokalen Eliten überließ – abgesehen von Aufgaben wie der Durchführung öffentlicher Bauprojekte oder des beschwerlichen Eintreibens von Steuern (Friedmann 2005, 7f). __ Was das Ausmaß der Abgeschlossenheit betrifft, wurde die kaiserliche Hauptstadt Peking wohl von keiner anderen Stadt in China übertroffen, allenfalls vom historischen Chang’an (Xi’an). Peking setzte sich aus vier hierarchisch gegliederten, von Mauern eingehegten Teilstädten zusammen: der Palaststadt (die in sich selbst wiederum hierarchisch strukturierte ‹Verbotene Stadt›), der Kaiserstadt, der Hauptstadt und der Südstadt (als realisiertem Teil einer ursprünglich geplanten äußeren Stadt). Die Verbotene Stadt war als kaiserliches Domizil für Normalsterbliche unerreichbar. Vergleichbares galt auch für die massiv ummauerte und schwer bewachte, konzentrisch angelegte Kaiserstadt, die so etwas wie ein Regierungsviertel war und von gewöhnlichen Bürgern ohne hoheit­ liche Genehmigung nicht betreten werden konnte. Die neun Tore der dritten, ebenfalls konzentrisch um die Kaiserstadt gebauten und mit 12 Meter hohen Mauern gesicherten Hauptstadt wurden nachts abgeschlossen – wie die Tore aller übrigen Mauern auch. Die vierte Stadt schließlich, ein Fragment der unfertig gebliebenen, als konzentrisch geplanten äußeren Stadt, hatte die Funktion einer Schnittstelle nach außen, zum Land. Auch sie war selbstverständlich ummauert und bewacht. __ Stadtmauern sind in Peking und anderswo zur Zeit Maos als Symbole der als feudalistisch inkriminierten Herrschaft des Kaisers weitgehend abgerissen und aus dem Stadtbild entfernt worden. Davon ausgenommen blieb die ‹Verbotene Stadt›. Geblieben sind jedoch die abgeschlossenen Wohnsiedlungen – zunächst in der Form abgeschlossener,

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Stadtmauer von Xi’an (Ming-Dynastie)

multifunktional integrierter Siedlungen, der sogenannten Danwei, sodann, auf diese folgend, die Nachbarschaften der neuen Mittel- und Oberschicht. __ Bei den Danwei handelte es sich um städtische Versionen autarker ländlicher Produktionsgenossenschaften. Als ummauerte und introvertierte Zellen kehrten sie dem offenen Stadtraum gleichsam den Rücken zu. Mit ihnen unternahm die kommunistische Politik des Mao-Regimes den Versuch, die räumliche Einheit von Leben und Arbeiten nach ruralem, dörflichem Vorbild zu verwirklichen.48 So integrierten diese Produk­tions-­­ genossenschaften Wohnen, Arbeit, Versorgung, Erziehung, Bildung, Gesundheit und Freizeit: «Das chinesische Konzept sah vor, dass die Bewohner sich innerhalb ihres dayuan, der städtebaulichen Gebietseinheit der danwei, komplett versorgen konnten, sodass sie diese eigentlich nicht verlassen mussten. [...] Das bedeutete, dass die Städte weiter additiv in ummauerten Einheiten wuchsen, die für ihre Mitglieder nicht nur Ersatzkollektiv waren, sondern ihnen auch neue territoriale Zusammengehörigkeiten anboten.» (Münch 2004, 44f) __ Seit Anfang der neunziger Jahre, das heißt im Zuge der allgemeinen wirtschaft­ lichen Öffnung Chinas, werden die Danwei nach und nach entwertet und aufgelöst. Als Institutionen des kollektiv organisierten Lebens wurden sie bereits vor der Jahrtausendwende aufgegeben. An ihre Stelle sind nun die Nachbarschaften beziehungsweise die ‹compounds› getreten. __ Der Blick auf die eingehegten Danwei erlaubt die Aussage, dass sich in der aktuellen Praxis des Siedlungsbaus die alte Tradition der abgeschlossenen Quartiere ohne nennenswerte historische Unterbrechung fortsetzt. In Chinas Städten werden gegenwärtig fast ausschließlich abgeschlossene Wohnsiedlungen geplant, gebaut und vermarktet. So ist die mit Mauer und Tor gesicherte Wohnsiedlung in China auch heute die Norm – und nicht, wie etwa in Westeuropa, belanglose Ausnahme (von Touristenregionen einmal abgesehen). Es gibt vermutlich weltweit keine Großstädte mit vergleichbarer Barrieredichte wie im Land der ‹Verbotenen Stadt›, auch nicht in Lateinamerika. __ Die Wohnquartiere sind durch Mauern, eiserne Zäune, Hecken, Gebäuderiegel und dergleichen mehr vollständig abgeriegelt, oft noch zusätzlich durch Videokameras, In­ frarotmeldesysteme und vergleichbare Technik gesichert. Die Eingänge zur Siedlung gleichen mit ihren Schlagbäumen, Rollgattern und Bremsschwellen, ihrem militärisch gekleideten Wachpersonal, ihren Wach- und Schilderhäuschen Kasernenzufahrten. Durch diese Tore ist das Erschließungssystem der Nachbarschaften vollständig von demjenigen des offenen Stadtraums abgetrennt. Den offenen Erschließungs- und Verkehrsräumen

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Tor einer Nachbarschaft mit Rollgitter, Qingdao

Repräsentatives Tor einer Nachbarschaft in Pudong, Shanghai

Mauer einer neuen Nachbarschaft in Shenyang

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der Stadt stellen sich derart die abgeriegelten Verkehrs- und Erschließungsräume der Nachbarschaft als funktionale Gemeinschaftsräume gegenüber. __ Doch was sich so martialisch abgeschottet darbietet, ist dies nicht unbedingt: «[...] the level of security control varies. According to a nationwide survey of community management in 2005, only one third of residential areas are strictly controlled. About 4.3 % allow only homeowners to get in; about 26.3 % have strict control and require noowners to register; and 37.6 % only have nominal control, and others had very loose gate control [...].» (Wu, Fulong, 2006) __ Die hier genannten Daten lassen eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit der Bewachung der Quartiere vermuten. Und tatsächlich, die ‹compounds› sind häufig sehr viel offener, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Nicht selten werden Wohnungen für gewerbliche Aktivitäten zweckentfremdet; Fotostudios, Architektur und Maklerbüros finden sich innerhalb der Nachbarschaft nicht nur in für solche und vergleichbare Geschäfte vorgesehenen Parterreateliers, sondern auch innerhalb informell angeeigneter Wohnungen. __ Manch ein Wohnungskäufer vermietet zudem gern seine noch im Rohbauzustand befindliche Wohnung an Wanderarbeiter – zur Überbrückung der Zeit entweder bis zum eigenen Einzug oder bis zur Weiterveräußerung –, ohne dadurch erkennbaren Unmut bei Nachbarn oder beim Quartiersmanagement zu verursachen. Da das Image der im Melderegister nicht registrierten, über keine dauerhafte Wohnberechtigung verfügenden ‹Bauern› nicht besonders gut ist, überprüft der reguläre Bewohner der Nachbarschaft umso genauer, ob seine Wohnung richtig abgeschlossen ist, ob die Fenster geschlossen sind und ob der Wachdienst seinen Job ordentlich wahrnimmt. __ Besucher der Nachbarschaft werden vom Wachpersonal meist unterkühlt, gelegentlich auch freundlich begrüßt, und Autos wird, vorausgesetzt es sind innerhalb der Siedlung Parkplätze verfügbar, ohne langwierige Kontrollen Einfahrt gewährt. Allerdings wird in der Regel das Kennzeichen zusammen mit der Uhrzeit vermerkt; denn viele Nachbarschaftsordnungen erlauben das freie Parken nur für begrenzte Zeit. __ Obschon als reine Wohnquartiere gewidmet, beherbergen viele Innenstadt-Wohnsiedlungen eine beträchtliche Zahl an Büros, Geschäften und Dienstleistungsunternehmen aller Art, vom Architekturbüro über das Maklerbüro bis zur multifunktionalen Hochzeitsagentur, die Frisieren, Schminken, Hochzeitsvideo und -fotografie, Moderation und Fahrservice aus einer Hand anbietet. So strömen die Kunden durch die mit bewachten Laufgittern und Schlagbäumen bewehrten Eingangsbereiche und tragen eine gehörige Portion kommerzielle Offenheit in die geschlossenen Wohnquartiere. __ Fragt man nach den Hintergründen für diese Durchlässigkeit, dann bieten sich die Danwei mit ihren funktionsintegrierten Strukturen als Ahnen der heutigen geschlossenen Nachbarschaften (zhù zhái xiăo qū) an. Während dieser Einfluss jedoch allmählich verblasst, gewinnt die Kommerzialisierung und damit die Öffnung der Stadt immer mehr an Kraft und beginnt, die unüberwindbar scheinenden Barrieren zwischen innen und außen, geschlossen und offen Stück für Stück einzureißen. __ Die Durchlässigkeit vieler Nachbarschaftsbarrieren verwandelt deren Status erheblich. Während ihre reale Bestimmung, die Gewährleistung von Sicherheit, mehr und mehr untergraben wird, nimmt die symbolische Bedeutung der Barrieren zu. So wirken manche Tore inzwischen nur noch wie Parodien ihrer historischen Vorläuferinnen, wie Zeichen, die eigentlich Sicherheit indizieren, tatsächlich jedoch nur die Existenz von

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Nachbarschaft kommunizieren. Fulong Wu kommentiert eine vergleichbare Beobachtung lapidar mit dem Satz: «Despite a gate, security is not a concern.» (Wu, Fulong 2006) Ein solcher Satz ist nur möglich vor dem Hintergrund der immer noch vergleichsweise niedrigen Quote an kriminellen Delikten wie Körperverletzung oder Diebstahl in den Mega- und Großstädten Chinas. __ Geschlossene Nachbarschaften sind auch heute noch in formaler Hinsicht nahezu ausnahmslos reine Wohnquartiere, die häufig mit einigen sozialen, kulturellen oder bildungsbezogenen Einrichtungen ausgestattet sind. Als im Prinzip monofunktionale Stadtbausteine haben sie sich scheinbar den westlichen beziehungsweise amerikanischen ‹gated communities› angenähert. Wir sagen ‹scheinbar›, denn es gibt wichtige Unterschiede zu beachten: Als historisch gewachsenes und durch Traditionen gestütztes Raumkonzept wird die geschlossene Nachbarschaft von allen Bevölkerungsschichten nicht nur akzeptiert, sondern als Lebensform geteilt. Insofern denotiert die chinesische geschlossene Nachbarschaft an und für sich keine Segregationszustände oder -tendenzen. __ Ganz anders in den Vereinigten Staaten, wo ‹gated communities› als räumliche Antwort auf wachsende Polarisierung und damit einhergehende Spannungen in einer einst räumlich weitgehend offenen Gesellschaft zu werten sind. Während sich in China die Wohnquartiere funktional spezialisieren und im Zuge dieser Entwicklung viele Nutzungen in den offenen Stadtraum oder in andere geschlossene Räume auslagern, geht der Trend in den Vereinigten Staaten, in Südamerika und in vielen anderen Teilen der Welt eher in die umgekehrte Richtung: Immer mehr Funktionen, etwa der Einzelhandel oder Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, wandern aus öffentlichen Räumen aus und in exklusive, mit Barrieren ausgestattete Räume ein (dazu auch Münch 2004, 47; ähnlich Kögel 2004b). __ Idealtypisch für die amerikanische Entwicklung mag dabei die einst von der Disney Company entwickelte und gebaute Stadt ‹Celebration› in Florida stehen. Diese, aus Disneys Zukunftswerkstatt epcot-Center (Experimental Protottype Community of Tomorrow) entsprungene, an europäischen Stadtraumstrukturen angelehnte Musterstadt verfügt über eine nahezu komplette Ausstattung mit Stadtfunktionen und zugehörigen Gebäuden – vom Rathaus über Krankenhaus und Universität bis zum Einzelhandels­ zentrum. Diese ‹gated community› nähert sich damit dem Modell einer bewachten, eingehegten, exklusiven Gebietskörperschaft an – ein radikales Gegenbild zur geschlossenen chinesischen Massensiedlung. __ Die geschlossene städtische Wohnsiedlung ist aus den dargelegten historischen Gründen in China selbstverständlich, darum unhinterfragt und insofern auch alternativlos. Gleichwohl können Einflüsse der nordamerikanischen ‹gated community› auf die chinesische geschlossene Nachbarschaft nicht völlig ausgeschlossen werden. Medium dieses Einflusses dürfte der in China allseits bewunderte us-amerikanische Lebensstil sein – und zu diesem scheint in der Perspektive der chinesischen Mittel- und Oberschicht auch die ‹gated community› zu zählen. Die Vereinigten Staaten, so heißt es immer wieder, sind als Nation erfolgreich. Um selbst erfolgreich zu sein, empfiehlt es sich, ihrem Vorbild nachzueifern. Wenn demnach erfolgreiche Amerikaner in ‹gated communities› leben, dann könne es so falsch nicht sein, selbst in einer geschlossenen Nachbarschaft zu wohnen. __ Der Aussage eines chinesischen Planers zufolge gibt es weitere Gründe für die Nachhaltigkeit der geschlossenen Nachbarschaft in China. Diese Form entspreche den

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Wünschen der staatlichen und privaten Entwickler (‹developer›) in mehrfacher Hinsicht. Zum einen passt das Format auf die Baufelder, das heißt auf die Blöcke, die sich bei der Baulanderschließung ergeben. Hinzu kommt, dass jedes Quartier aus Gründen der erfolgreichen Vermarktung die Handschrift des Entwicklers aufweisen und mit Alleinstellungsmerkmalen ausgestattet werden kann. Jedes Quartier erhalte so den Status eines Produkts mit einer Art Markenidentität, die zugleich ein Zugehörigkeitsangebot an die Quartiersbewohner sei. Auf diese Weise ergibt sich die Gleichung ein Block = ein Quartier = eine Marke = eine Identität. Um die Sonderstellung des Quartiers angemessen zu inszenieren, sei Unverwechselbarkeit gefordert. Und um diese zu gewährleisten, sei die Abriegelung gegen die Umwelt ebenso hilfreich wie das kollektive ‹branding› durch repetitive Dekorationen, Farbgebung, architektonische ‹Handschriften› oder durch einheitliche Dachverzierungen. __ In dem Term ‹Abriegelung gegen die Umwelt› schwingt jedoch noch etwas anderes, vermutlich viel Entscheidenderes mit. Es geht um das Wort ‹Umwelt›, das hier auf den offenen, außerhalb des Quartiers befindlichen Stadtraum verweist. Dieser ist der chinesischen ‹Seele› bis heute eher gleichgültig, ja sogar fremd geblieben. Im Horizont seines von Familie und Verwandtschaft zutiefst geprägten Weltverständnisses kommt der offene Raum bestenfalls als Funktionsraum vor, als ein Raum, der im Schatten der gemeinschaftsgeprägten chinesischen Lebensweise liegt. Er wird durchschritten, durchfahren, überwunden, um am Ende dorthin zu gelangen, wo alles Wichtige geschieht: zur Familie, zu den Verwandten und Freunden, am besten bei einem guten Essen. Denn Essen ist das Himmelreich.

«Essen ist der Himmel auf Erden … », Fushun

Ein wenig erinnert dieses Bedeutungsgefälle von geschlossenem zu offenem Raum an die im Westen allenthalben zu beobachtende Schere zwischen privatem und öffentlichem Raum, die keineswegs selten in einem signifikanten Abstand zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut seinen Ausdruck findet. Wer kennt nicht das Bild der städtischen Luxusimmobilie am verwahrlosten Bürgersteig oder eines Porsche, der über eine mit Schlaglöchern übersäte Straße holpert. Doch diese Diskrepanzen beruhen keineswegs auf einem soziokulturell definierten Bedeutungsgefälle, sondern in der Regel auf einer unvorteilhaften Verteilung von Ressourcen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren, d. h. auf Zuständen, die sich zumindest in gewissen Grenzen korrigieren

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lassen, etwa durch effizientere Verwaltung, mehr Steuereinnahmen etc. Selbst wenn eine Piazza ziemlich lädiert daherkommt, bleibt ihre kulturelle Wertschätzung davon im Prinzip unberührt. Der schöne Stadtplatz, die schöne Stadtstraße sind im kulturellen Gedächtnis des Westens verankert. __ Anders in China, dessen Urbanität über eine Tradition des zivilgesellschaftlichen öffentlichen Raums nicht verfügt. Hier verharrt der öffentliche Stadtraum innerhalb der Grenzen des Formalen und verbleibt insofern bloßer offener Raum. Entsprechend ist seine soziokulturelle Bewertung auf das Funktionale beschränkt. Selbst dann also, wenn vergleichsweise viel Geld in Straßeninfrastruktur und Plätze investiert würde, hätte dies keinen prinzipiellen Einfluss auf deren kulturellen Stellenwert. Die Straße bliebe, was sie in erster Linie ist, ein belangloser Funktionsraum, der seinen Status allenfalls durch private, händlerische oder politische Widmung, d. h. durch Intimisierung, Kommerzialisierung und bildmächtige Großartigkeit aufzubessern vermag. Während im Westen privater und öffentlicher Raum als Räume im eigenen Recht unstrittig sind, neigt sich in China die Waagschale eindeutig zugunsten des – geschlossenen – Gemeinschaftsraums. __ Einen besonders anschaulichen Beleg für das Primat des gemeinschaftsbezogenen Raums liefern die überall emporsprießenden Villennachbarschaften, deren serieller Luxus dem westlichen Beobachter die Sprache verschlagen kann. Wir Europäer oder ‹Westler› sind es gewohnt, die Villen unserer Oberschicht mit freistehenden Unikat­ en zu identifizieren. Wir lesen diese als Zuhause des wohlhabenden Bürgertums, als Villen, die mittels der Singularität ihrer jeweiligen Architektursprache Persönlichkeit, Individualität und Eigenständigkeit bekunden. Obschon zu Villenvierteln in topografisch und klimatisch bevorzugten Lagen konzentriert, formieren sich die einzelnen Gebäude kaum zu nachbarschaftlichen Gefügen. Räumlich dominiert die Zurschaustellung des Ich die Denotationen eines auf geteiltem Lebensstil gegründeten nachbarschaftlichen Wir. __ Ganz anders chinesische Villenquartiere: Hier sind zahlreiche, gelegentlich sogar bis zu einhundert und mehr nahezu identische Villen in ausgeborgten oder fiktiven ‹Stilen› (toskanisch, viktorianisch, nordisch, spanisch, märchenhaft und so weiter) mit teurer Anmutung in repetitiver Formation wie Soldaten auf dem Kasernenhof angeordnet. Das einzige, das sie gelegentlich nach außen hin unterscheidet, ist die Farbe des Daches oder Farbe und Stil der Vorhänge. Hinzu kommt, dass sie, darin den Gebäuden in abgeschlossenen vertikalen Nachbarschaftsblöcken gleichgestellt, von keinen individuellen, zum Haus gehörigen Hecken oder Zäunen umgeben sind, sondern, wie Zeilen- und Punktbauten im ‹Abstandsgrün›, völlig frei und offen ‹auf der Wiese› stehen. Denn die Sicherheit ist hier auf Basis des Nachbarschaftskollektivs organisiert. __ Der europäische Betrachter ist es demgegenüber gewohnt, den Luxus einer teuren europäischen Villa durch eine individuell gestaltete Umfriedung demonstrativ geschützt zu sehen. Bei Münch finden wir einen Hinweis auf die Hintergründe dieser seltsamen chinesischen Anspruchslosigkeit: Zwar habe sich, schreibt Münch, in den neuen geschlossenen Nachbarschaften die «typologische Form [...] radikal verändert, doch besteht eine gewisse Kontinuität in der architektonischen Bedeutung des Einzelbaus: Heute wie zu kaiserlichen und maoistischen Zeiten sind sie keine architektonischen Einzelentwürfe, sondern Baukörper, die innerhalb eines mrd als exakte Kopien vielfach nebeneinander gestellt werden» (Münch 2004, 45). In der Serialität heutiger Wohnbauten perpetuiert sich nicht bloß die Praxis des fordistischen, an industriellen Fertigungsprozessen

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Serielles Villenquartier in Luodian, Shanghai

Serielle Villen-Neubauten in Qingdao

Individualisierte Einfamilienhäuser im Bauhausstil, Weimar

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ausgerichteten und kollektivistischen Siedlungsbaus, sondern zugleich die uralte Tradition der semiurbanen, halb dörflichen, halb städtischen Hofhausteppiche (etwa die Hutongs von Peking). Ob Villa einer exklusiven Luxusnachbarschaft oder Gebäuderiegel in einem Massenquartier – hinsichtlich der Eigenständigkeit der Gebäudekörper gibt es keine prinzipiellen Unterschiede. Hier wie dort ist das einzelne Gebäude kein Gegenstand von Distinktionswünschen. __ Auch hier begegnet uns wieder das Spiel von Exklusion und Inklusion. Die chinesische Oberschichtfamilie demonstriert ihren Wohlstand in Gemeinschaft, in der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, das eine exklusive Nachbarschaft bewohnt. Als Zeichen unterstützen die Villenreplikate genau diesen Wunsch. In China reimt sich auch Wohlstand auf Kollektiv und Gemeinschaft. Ganz anders im Westen, wo die Villa zuallererst Individualismus denotiert. Indem sie sich gegen andere Villen durch bauliche Eigenart, Architekturstil, Gartenanlage und zudem durch eine eigene Einhegung abgrenzt, demonstriert sie ihr Distinktionspotential. Der städtisch-offene Villenvorort des Westens steht der dörflich-geschlossenen Villennachbarschaft Chinas insofern diametral gegenüber. In der chinesischen Luxusnachbarschaft erkennen wir das Habitat eines konfuzianisch geprägten Protobürgertums. __ In den Innenstädten, wo Grund und Boden besonders knapp sind und der Anspruch an Einzelhandelsflächen besonders hoch, entwickeln sich in jüngerer Zeit Wohnkonzepte, die nicht nur auf Mauer, Zaun und Tor verzichten, sondern auch auf den üblichen Nachbarschaftshof. Wie bei Hotels oder Bürohochhäusern wandert die Einhegung in Form von Sicherheits­schleu­sen in die Foyers der solitären Wohntürme. Die Wohntürme selbst bilden nun häufig einen Stadtbaustein für ein Ensemble, das neben Bürotürmen vor allem große Shoppingcenter umfasst. Dabei bieten sich die Plazas dieser Malls als Ersatz für die fehlenden Nachbarschaftshöfe an. Ein Stück Öffentlichkeit rückt auf diese Weise nah an die ansonsten introverse Lebenswelt der Innenstadtbewohner. Das folgende Bild zeigt ein nach Süden ausgerichtetes Wohngebäude, das mit zwei Bürotürmen auf ein Shoppingcenter aufgesetzt ist. Die verschiedenen Nutzungen – Büroarbeit, Einkaufen und Wohnen – rücken hier so eng aufeinander, dass von einer feinmaschigen Zonierung keine Rede mehr sein kann. Es ist eine chinesische und zugleich urbane – und damit durchaus zukunftsfähige – Interpretation städtischer Mischnutzung. Innerstädtisches Mischquartier mit Einkaufszentrum, Büro- und Wohntürmen in Qingdao

Moderne Sicherheitstechnik als Mauerersatz, Qingdao

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Introverse Nachbarschaftshöfe __ Für das Verständnis der gegenwärtigen Produktion des chinesischen Stadtraumes ist

der Begriff der ‹Introversion› unverzichtbar. Er ist ein sozialräumlicher Schlüsselbegriff par excellence. Das Adjektiv ‹introvertiert› bedeutet so viel wie ‹nach innen gerichtet› beziehungsweise ‹in sich gekehrt›. Aufgrund der starken psychologischen Konnotationen in der Verwendung des Wortes ziehen wir hier, wo es um die Betrachtung räumlicher Phänomene geht, das Adjektiv ‹introvers› vor.49 Den nach innen orientierten, in sich gekehrten Raum bezeichnen wir daher als introversen Raum. In der Architektur und im Städtebau spielen introverse Räume beziehungsweise Introversion als räumliche Praxis immer schon eine große Rolle. __ Introverse Räume, zum Beispiel Hofhäuser, denotieren Gemeinschaft beziehungsweise eine von einem Gemeinschaftsethos bestimmte, traditionale Lebensweise. Dies gilt zumindest dann, wenn das Hofhaus eine vorherrschende, das Habitat bestimmende Wohnform bildet. Dies war im historischen China der Kaiserzeit so, es blieb dabei in Gestalt der Danwei während der kommunistischen Modernisierung und es ist heute immer noch so: nunmehr in Gestalt des geschlossenen Wohnquartiers mit Nachbarschaftshof. Es kann so gesehen nicht überraschen, wenn nach einem Hinweis von Lü Junhua und Shao Lei der chinesische Bauminister vor einigen Jahren anlässlich eines Pilotprojektes in Kunming die Stärkung des Konzeptes des Innenhofes gefordert habe.50 __ Die puristische Umsetzung der Charta von Athen gehört in China der Vergangenheit an, allem Festhalten an strikter Orientierung zum Trotz. Seit der Öffnung des Landes hat eine beachtliche Weiterentwicklung des fordistisch geprägten Massenwohnungsbaus stattgefunden. Aus dem rationalistisch geprägten sozialistischen Siedlungsbau wurde die ebenso pittoreske wie vertikale Nachbarschaft der schwingenden Zeilen und tanzenden Punkte. Diese Transformation geht einher mit der teils abrupten, teils allmählichen Auflösung der vormaligen Produktionsgenossenschaften chinesischen Typs (Danwei), welche einst die fordistischen Siedlungen zu multifunktionalen Gemeinschaften integrierten. Befeuert wird sie allerdings auch durch von außen eindringende Einflüsse. Insbesondere Hongkong, Taiwan und Singapur liefern dem chinesischen Siedlungsbau (und nicht nur diesem) seit der Öffnung Leitbilder, Moden und stilistische Anregungen. __ Die Anordnung der Wohngebäude zeigt eine aufgelockerte, sich organischen oder auch figurativen (beliebt sind vor allen Dingen die Formen des Fisches, der Schildkröte oder der Schlange) Grundstrukturen fügende Variante des vorzugsweise nach Süden ausgerichteten Zeilen- und Punktbaus. Ebenso lassen sich moderat bis extrem eklektische Entwürfe finden. Wir erachten diese Formen für postfordistische Weiterentwicklungen des fordistischen Zeilen- und Punktbaus. Ergänzt wird diese Lockerung der Grundrisse durch Entwicklungen wie die stufenförmige Anordnung von Gebäudezeilen und die Kultivierung von Dachaufbauten. __ Die spektakulärste Weiterentwicklung des modernen Siedlungsbaus in China ist jedoch der Nachbarschaftshof. Kein aktuelles Siedlungsbauprojekt mag auf diesen verzichten, hat er sich doch längst als Verkaufsschlager erwiesen. Beim Nachbarschaftshof handelt es sich um einen im Wohnquartier zentral gelegenen, reich möblierten und dekorativ ausgestatteten Grünraum, von der kreisrunden Blumenrabatte mit Brunnen bis zur veritablen Parkanlage. Die Wohngebäude des Quartiers sind, zu Gruppen geordnet, in mehreren, immer westöstlich ausgerichteten Schichten um diesen Innenraum gebaut. Das zentrale Grün dringt dabei oft fingerartig in die Abstandsflächen, die sich gelegentlich

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Nachbarschaftshof in Shanghai

fischbauchartig erweitern, um einem Kulturzentrum, gelegentlich auch einer Schule oder einer anderen sozialen Einrichtung, immer jedoch Lauben, Kinderspielplätzen, Fitnessgeräten oder einfach nur Bänken Platz zu geben. __ In ambitionierten Mittel- und Oberklassequartieren entdecken wir nicht selten große Innenhöfe, die, Landschaftsgärten vergleichbar, üppig mit Wasser- und Grünflächen, segelbespannten Pavillons, berankten Lauben, protzigen Brunnen und Sitzbänken, Wasserspielen, Brücken und Stegen, gelegentlich sogar mit Restaurants ausgestattet sind. Die Gestaltung beruht in der Regel auf einer eklektischen Mischung aus Konzepten des Englischen, Französischen und Chinesischen Gartens, ergänzt durch eine Auswahl dekorativ eingesetzter Elemente aus dem stilistischen Repertoire von Moderne und Postmoderne. __ Auf den ersten Blick haben die Nachbarschaftshöfe und -gärten, hierin den neuen öffentlichen Parks vergleichbar, mit der traditionellen chinesischen Gartenkultur wenig zu tun. Es dominiert ein gefälliges Design, dessen ikonografischer Ansatz sich am besten als Mischung aus gezähmtem Barock und dekorativ geglätteter organischer Landschaftsarchitektur beschreiben lässt. Dem Barock sind die Zähne des Machtausdrucks gezogen, während die Künstlichkeit arabesk gestalteter Gartenanlagen ins Auge fällt. Von Chinesischem Garten kaum eine Spur, sieht man von einigen endemischen Gewächsen und wenigen belanglosen Zitaten ab, etwa den Schnitt von Bäumen und Sträuchern oder die gelegentliche Verwendung von zerklüftetem Gestein betreffend. __ Doch auch hier trügt wieder einmal der Schein. Es ist etwas geblieben, nämlich der in ‹westlicher› Betrachtung ungewöhnlich hohe Versiegelungsgrad der Grünanlagen, den wir bereits an den Nachbarschafts- und Gemeindeparks beobachteten. Die ausgiebige Nutzung von Steinen und Bodenplatten und die reiche Ausstattung mit dekorativen Kleinbauten aller Art (Tempelchen, Galerien, Lauben, Sommerhäuschen und so weiter) ist beim klassischen Chinesischen Garten ein Apriori der Gestaltung. Denn diese Elemente sind ein unverzichtbares Material einer harmonischen, ein ausbalanciertes Verhältnis von Künstlichkeit (Kultur) und Lebendigkeit (Natur) anstrebenden Inszenierung. __ Demgegenüber wirkt die Ästhetik der heutigen Nachbarschaftsgärten eher anspruchslos. Denn bei den aktuellen Wohnquartieren haben wir es nicht mehr mit Gebirgsminiaturen oder steinernen Gartenlandschaften, mit Sommerpavillons und geschützten Meditations- und Kontemplationsräumen unter ehrwürdigen Bäumen zu tun.

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Hier geht es vielmehr um asphaltierte und betonierte, mit Platten und Steinen aller Art belegte Wege, Plätze, hölzerne Stege und vielerlei Arten von Unterständen, umstellt von schnell wachsendem und pflegeleichtem Blattgewächs. Das Maß an Versiegelung nimmt gelegentlich einen Grad an, der den zentral gelegenen Nachbarschaftspark beziehungsweise -hof eher als einen städtischen Platz erscheinen lässt. Hierin äußert sich nicht allein eine für die chinesische Produktion des Raums eigentümliche Harmonisierung von Unterschieden, eine als typisch zu charakterisierende Verschwommenheit bei der Unterscheidung von Platz und Park, sondern auch die bereits thematisierte Unschärfe in der Bestimmung von Funktion und Form des offenen städtischen Raums. __ Formal betrachtet sind Nachbarschaftshöfe halböffentliche Räume. Sie stehen den Quartierbewohnern und ihren Gästen exklusiv zur Verfügung. Die Bewohner zahlen beim Erwerb ihrer Wohnung51 anteilig für Grünanlagen und internes Erschließungs­system – und müssen fortlaufend Gebühren für Unterhalt und Pflege der Grünräume aufbringen –, in der Regel verknüpft mit den Aufwendungen für die Sicherheitsdienste. __ Typologisch repräsentieren die Nachbarschaftshöfe die Tradition der chinesischen Introversion. Was früher einmal das Hofhaus (Sìhéyuàn) war, ist nun das Wohnquartier. Aus dem Innenhof des einst familiären Anwesens bildet sich nun der Nachbarschaftshof. Heute wird in China kaum noch ein neuer ‹compound› ohne dieses zentrale Raum­ element gebaut – schon aus Gründen der Vermarktung. Die Kunden aus der aufblühenden chinesischen Mittel- und Oberschicht haben diese pittoreske Form der Introversion ebenso verinnerlicht wie die Architekten, die diese Siedlungen entwerfen und die Lehrer, die sie das entsprechende Design lehren. Dem Innenhof wird alles gegeben, dem öffentlichen Raum, der Straße, wird eher die kalte Schulter gezeigt – von einer ständig wachsenden Zahl von Ausnahmen einmal abgesehen. __ In Gestalt von zentral angelegten Park- und Freizeitanlagen, Kinderspielplätzen, Wasserflächen und Brunnen perpetuiert sich die (nur anscheinend im Verschwinden begriffene) Praxis introverser Raumgestaltung. Zwar gibt es in der modernen Nachbarschaftsgestaltung für das nordchinesische Hofhaus (Sìhéyuàn) beziehungsweise für dessen zentral- und südchinesische Varianten keine ernstzunehmenden Pendants mehr, doch hat das Wohnquartier als Ganzes das Erbe des Innenhofs – und mit ihm die Binnen­ orientierung – angetreten. Aus dem einstigen Familienhof entwickelte sich so der quartiersbezogene Nachbarschaftshof als eigenständige städtische Raumfigur.

Nachbarschaftshof in Shanghai

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Erschließungsweg, Xing Cheng

Familienhöfe, Xing Cheng

Vermutlich würde eine empirische Erhebung in den neuen Mittel- und Oberklassequartieren die Bahrdt’sche Theorie der «unvollständigen Integration» verifizieren können. Anonymität und Vereinsamung sind in den Wohnsiedlungen des modernen China keine Fremdworte, genauso wenig wie translokale Formen der sozialen Integration mittels moderner Kommunikationstechnologien und automobiler Mobilität unbekannte Praktiken sind. Andererseits scheinen die abgeschlossenen Nachbarschaften Chinas im Vergleich zu den offenen Stadtrandsiedlungen europäischen Typs über eine sehr viel ausgeprägtere soziale Integrationskraft zu verfügen. Denn in manchen ‹compounds› bildet sich tatsächlich so etwas wie eine partizipative Kultur der Mitverantwortung und der gelebten nachbarschaftlichen Identität – und dies trotz der sehr hohen Fluktuation.52 Die bereits erwähnten Nachbarschaftskomitees dürften dabei eine wichtige Rolle spielen. __ Die baulichen Annehmlichkeiten der Nachbarschaftshöfe werden, wo es sie gibt, angenommen und stark frequentiert. Man trifft sich, unterhält sich, spielt und treibt mit­einander Sportübungen. Es gibt zahlreiche Taiji-Gruppen, und gelegentlich trifft man sich auch zum Musizieren oder zum Tanz auf geeigneten Flächen des Nachbarschaftshofs. Gründe für die beobachtbare soziale Kohärenz mögen die Qualität des räumlichen Angebots sein, die hohe soziale Homogenität der Bewohner, die durch zahlreiche Maßnahmen gestützte Gruppenidentität der Nachbarschaften und, nicht zu unterschätzen, die Tradition des Zusammenhalts in Nachbarschaft und Quartier. Es sollte insofern, außer mit der im Zentrum sozialer Identität stehenden Familie, noch mit weiteren Gemeinschaftsidentitäten gerechnet werden, mit Wir-Identitäten, die sich, Zwiebelringen gleich, um die Familienidentität legen: ein Nachbarschafts-Wir, ein Freundschafts-Wir (guanxi), ein lokales und ein über eine geteilte Kultur integriertes nationales Wir.

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Dach- und Lichtskulpturen __ Unübersehbar spielen auffällige, manchmal aufdringliche, nicht selten spektakulä-

re Dachaufbauten in den neuen ‹compounds› der Mittel- und Oberschicht eine überraschend große Rolle. Die symbolische Bedeutung der dekorativen Dachaufbauten wird durch deren nächtliche Beleuchtung zusätzlich unterstrichen. Erstaunt betrachtet insbesondere der westliche Besucher die mit eklektischem Dekor überladenen und nachts meist vielfarbig beleuchteten Dachskulpturen. Der Formenkanon reicht von einfachen Pavillons und Terrassen über gelegentlich geradezu fragil erscheinende Laubenkronen und Arkaden, naturalistisch anmutende Figuren bis zu expressionistisch anmutenden Skulpturen, Zeichen und miniaturisierten Kopien griechischer Tempel mit Säulen, Architraven und Tympana. Bei zumeist älteren Gebäuden mit Sattel- oder Walmdächern werden kurzerhand die Firste, Grate, Kehlen und Traufen nach dem Vorbild der Palastbauten der Verbotenen Stadt am Tian An Men in Peking mit Leuchtbändern nachgezeichnet. Im Falle von Flach- und Pultdächern (im fordistischen Wohnungsbau die Norm) werden bunte Lichterketten um die Dachkante gewunden oder Leuchtkörper aller Art an den Fassaden befestigt, um zumindest nachts dem diesbezüglich ‹unterversorgten› Gebäude einen anständigen Hut aufzusetzen. __ Wie kann man diese deutliche Vorliebe für unübersehbare, expressive Dach­auf­ bau­ten erklären? Das Wort ‹Hut› enthält einen ersten Hinweis. Im alten China wurde der gesellschaftliche Rang insbesondere anhand der Kopfbedeckung zum Ausdruck gebracht. Zu den Kopfbedeckungen, die als Rangabzeichen dienten, zählten nicht nur Hüte, sondern auch Dächer – was keineswegs überrascht. Das Dach ist in China immer schon eine Art Kopfbedeckung, ein Rangabzeichen für den, der unter diesem Hut residiert oder wohnt. Je höher die Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie beziehungsweise je größer die spirituelle Bedeutung der unter dem ‹Hut› steckenden Institution, desto signifikanter der Dachaufbau nach Farbe, Material, Form und Ausstattung mit symbolisch aufgeladenen Figuren aller Art. Dächer mit Bedeutungsüberhang gab es für die Mächtigen, Bedeutsamen und Erfolgreichen – aber auch für die Ahnen (Ahnentempel), für Schulen, für Götter (vor allem in ländlichen Gebieten), für Stadttore usw. __ Aus der Architekturgeschichte wissen wir, dass das Dach auch in Europa eine enorme Bedeutung hatte – bis es im Zuge des Funktionalismus als Gegenstand ästhetischer Zuwendung im wahrsten Sinne des Wortes wegrationalisiert wurde. Man denke nur an die Tempelbauten der klassischen Antike, deren Baumeister Architekten (architéktôn) genannt wurden, zusammengesetzt aus archós (Anführer, Oberhaupt) und téktôn (Zimmermann, Künstler, Handwerker, Baumeister). __ Oder man denke an die vieltürmigen Dächer romanischer Kirchen, an die Dächer gotischer Kathedralen, deren spirituelles und ästhetisches Potential sich vor allen von innen her erschließt, etwa beim Blick auf die himmelwärts strebenden Kreuzgewölbe. Gleichwohl erreichten Dächer im historischen Europa nie die Bedeutungsfülle, die ihnen in China zukam. __ Auch in China hatte die fordistische Architektur die Tradition des Dachkultes weitgehend beendet, vor allem im Wohnungsbau. Doch heute, wo sich das Land neu zu erfinden unternimmt, erinnert sich die aufstrebende Mittel- und Oberschicht des Distinktionskapitals, das expressiv gestaltete Dachaufbauten bereitstellen. In bedeutungsgeladenen Dachausbildungen möchte sie ihren Aufstieg gespiegelt sehen.

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Dachskulpturen und beleuchtete ‹Dachhüte› in Shanghai

Tempeldächer auf dem Campus der Hunan-Universität, Changsha

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Verstehen lässt sich die Praxis der üppigen Dachausbildungen wichtiger Gebäude allerdings erst dann, wenn man die kulturelle Bedeutung des traditionellen chinesischen Dachaufbaus beachtet; denn dieser dient nicht nur als Wetterschutz, sondern immer auch als Schutz vor bösen oder unliebsamen Geistern – und als soziales Rangabzeichen. In den Dächern, nicht selten mit Fußwalmgiebeln verziert oder auch mit Galeriefassaden ausgestattet, die über eine aus Satteln und Walmen gebildete ‹Dachschürze› aufragen, vereint sich auf einzigartige Weise erdverbundene Schwere – Betonung der Horizontalen durch einen langgezogenen First – mit schwebender Leichtigkeit – gewonnen durch nach oben gezogene Gratenden und gelegentlich auch durch traufenseitig kurvige Sparrenenden. Je expressiver beides, lastende Horizontale und Eckenschwünge, und je größer die Zahl der Figurinen auf den Gratenden, desto größer die soziale Bedeutung derjenigen, die unter dem Dach residieren. __ Bei Weijia Wu haben wir einen Hinweis gefunden, der die Ausführungen über den ‹Hut› in der chinesischen Baukultur zu ergänzen vermag: Die mauerbewehrte Stadt, so schreibt er, sei Symbol für die Legitimität der Herrschaft des Kaisers. Die kaiserliche Herrschaft werde als ‹großes Dach› gedeutet, das alles unter sich befasst (Wu, 202f). Eine Siedlung ohne Mauer sei kein Herrschaftssitz, habe keine Dachfunktion; sie sei darum auch keine Stadt, sondern ein Dorf (Dekret der Song-Dynastie, 960-1279 u. Z.), auch dann, wenn sie eine großstädtische Einwohnerzahl und eine entsprechende Ausdehnung aufweist.53 Unterstrichen wird die Deutung der Stadtmauer als Repräsentation des Daches, also des Kaisers, durch die in der Regel an den Ecken und über den Toren errichteten, mit ausdrucksstarken Dächern versehenen Mauerpavillons. __ Aus der erwähnten repräsentativen Funktion der Stadtmauer kann allerdings nicht geschlossen werden, dass Dörfer keine Mauern hätten. Vielmehr verfügen zahlreiche Dörfer bis in die Gegenwart über steinerne Mauern, die einst von den dörflichen Clans zum Schutz der im Dorf residierenden Familienverbände bzw. Sippen (Fangs) vor Feinden errichtet wurden. (Long 2012) __ Die mittlerweile auch in China fortgeschrittene Entzauberung der Welt54 hat den verspielten Hang zur Symbolik nicht vertreiben können. Die starke Verankerung der chinesischen Alltagskultur in Familie und Gemeinschaft scheint das kollektive Gedächtnis zu stärken. So lieben die Chinesen ihre opulenten Dachdekorationen – und nutzen sie beiläufig auch als Identitäts- und Orientierungsmarken in den schier endlosen Stadtlandschaften ihrer Megastädte. Das gute Leben wird nicht nur mit einer großen Wohnung, üppigem Schmuck und durch ein großes Auto zum Ausdruck gebracht, sondern auch durch ein Quartier, das ein distinktes Dachkonzept aufzuweisen vermag. An dieser Stelle berührt die Dach- und Beleuchtungsthematik die sich stark ausbreitende Praxis des ‹branding› der Nachbarschaften, das heißt der Verbindung von lokaler Zugehörigkeit mit Markenidentität: Dach- und Leuchtskulpturen sind mittlerweile als Teil von Strategien zur Entwicklung von kollektiven Identitäten und Bildern, von ‹community based corporate images› für städtische Nachbarschaften zu werten. __ Hinzuzufügen ist hier noch ein Hinweis auf den immer schon engen, in Entwurf, Proportion und Baumasse begründeten Zusammenhang zwischen Dach und Fassaden. So teilt sich die zunehmend wichtige Rolle des Daches bei der Herausbildung von Distinktionsstrategien der Nachbarschaftsbewohner selbstverständlich der Fassadengestaltung mit. Diese wird buchstäblich in das ‹branding› hineingezogen. An neuesten Wohnsiedlungen lässt sich beobachten, wie eine integrale Architektursprache die Rolle des

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Daches übernimmt. Hier und da tauchen ‹compounds› mit solch elaborierter Architektursprache auf, deren Dächer diese direkt aufnehmen und als Dachaufbauten zugleich zurücktreten. Das Dach wird auf diese Weise integraler Bestandteil einer distinkten und zugleich Distinktion kommunizierenden Architektursprache.

‹Compound›: Die Verpackung muss stimmen __ Dach und Fassade als Zeichen der Selbstvergewisserung von Rang, Prestige, Status

und Erfolg bilden einen Aspekt der Transformation von Nachbarschaftsidentität zu Markenidentität. ‹Transformation› besagt, dass die vormals ideologisch grundierte, sozialistische Nachbarschaftskultur bei den sozial aufwärts mobilen Bürgern allmählich verblasst und durch eine stärker ikonisch ausgestattete, auf Distinktion durch Inszenierung angelegte Gemeinschaftsidentität ausgetauscht wird. Für diese ist der Markenkult essentiell. __ Aufgrund ihrer positiven Konnotationen ist die Idee der Nachbarschaft selbst eine wichtige Ressource im Konzept der kollektiven Markenidentität – und wird daher auch gern in deren Dienst gestellt. «The notion of ‹community› is a selling point for gated suburbia in China» (Wu, Fulong 2006). Das Leben im geschlossenen Quartier ist heute allerdings weniger eine Frage vitaler Nachbarschaft, empfundener Zugehörigkeit und nachprüfbarer Sicherheit als vielmehr eine der richtigen Verpackung, des Images nach außen und, damit verbunden, der Identität nach innen. Nachbarschaft ist insofern eine Ingredienz der richtigen, standesgemäßen Verpackung, die für durch Familien- und Gemeinschaftsethik geprägte Chinesen einfach dazugehört. Dieser Aspekt des ‹branding› im modernen chinesischen Städtebau wird laut Fulong Wu in der Literatur bisher übersehen: «What is lacking in the literature is to see how the cultural politics (the politics of ‹niceness›, politics of the aesthetic, politics of ‹good life›, or in a word politics of ‹urbanism›) is unfolded in the construction of gated community [...], how the Chinese suburbia is becoming a new way of life. We see gating more as ‹branding›: labelling and decorating the quality of life ‹behind the gate›.» (Wu, Fulong 2006). __ Das ‹branding› fängt mit den Dachhüten an: Entwicklungsgesellschaften, die die Wohnsiedlungen der neuen Mittelklasse vermarkten, nutzen die Dächer gezielt als Markenzeichen mit nachhaltig wirksamem Wiedererinnerungswert. Das ‹branding› setzt sich fort in der Architektursprache der Fassaden und in den Namen für die Nachbarschaften. Denn für eine mediale Distinktionsstrategie sind Straßennamen mit Hausnummern nicht geeignet, zumal bei den oft viele Kilometer langen Ausfall- und Tangentialstraßen der Vororte. __ So hat sich aus Gründen der Vermarktung in einem ebenso gewaltigen wie konkurrenziellen Immobilienmarkt die Praxis etabliert, Nachbarschaftsblöcken klingende Namen zu geben. Die vorliegende Arbeit wurde, um ein Beispiel zu nennen, im Gebäude einer Nachbarschaft mit dem prätentiösen Namen ‹Shanghai International Maritime Garden› geschrieben. «Core to the concept is the brand – all these prestigious spaces have a name, not an ordinary street name such as ‹Beijing Road› and ‹Nanjing Road› but a label of life quality – Yosemite, Orange County, Rivera, Fontainebleau, and McAllen» (Wu, Fulong 2006). __ Keine Sorge: Deutschland kommt auch vor. Ein ‹Weimar-Villa› gibt es bereits. Es liegt am Rande der Partnerstadt Weimars: Anting Neustadt, das Teil der Stadt Anting

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Toskanischer Stil als Element nachbarschaftlicher Markenidentität, Ningbo

Name als Element nachbarschaftlicher Markenidentität, Gate zur Nachbarschaft, ‹Weimar Villa›, Anting, Shanghai

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ist, dem Detroit oder Wolfsburg Chinas. Es wäre nicht erstaunlich, in China auch eine Nachbarschaft mit dem deutschen Namen ‹Heidelberg-Village› anzutreffen. Allerdings käme der Name dann vermutlich eher von einem der Heidelberg-Villages aus den Vereinigten Staaten oder Kanada. «The new rich [...] began to seek difference and diversity; gated suburbia, tactically promoted by the real estate developer as an ‹exotic› and ‹stylish› new living space, meets such an imagination for a good life. The gated communities are branded through a melange of metaphors such as ‹classic›, ‹continental›, ‹authentic›. ‹European› and ‹North American› lives, have indeed become the de-contextualized and diverse built forms» (Wu, Fulong 2006). Durch die Markenorientierung des Siedlungsbaus werden Städtebau und Architektur zwangsläufig zu Instrumenten des richtigen, erfolgreichen Marketings. Dies zieht beides selbst in den Sog der Transformation von Nachbarschaftsidentität zu Markenidentität. Städtebau und Architektur werden zu Instrumenten der Verwirklichung jener Zeichen und Codes, die im globalen Dorf der virtuellen Räume von Fernsehen und Internet verabreicht werden, in die Köpfe gelangen – und dort als Träume vorgefunden werden, mit denen man sein gutes Leben bebildern kann. __ Fassen wir zusammen: Der gegenwärtige Städtebau in China ist in einem hohen Maße symbolisch aufgeladen. Namensgebung der Nachbarschaften, Dächer, architektonische Kopien, sogar das identitätsstiftende Potential des Nachbarschaftsbegriffs erweisen sich als Komponenten eines von den Entwicklungsagenten gezielt erzeugten Markenbewusstseins. Man wohnt in einer Nachbarschaft, der Name ist ‹New Venice›, die Dachaufbauten sind imposant und singulär, man fährt bmw, und die Wohnung hat 180 Quadratmeter. In den Nachbarschaften von Chinas neuen Mittel- und Oberschichten ist Architektur immer schon Medienarchitektur, sind die neuen Städte mithin Mediastädte. Das Thema Medienarchitekturen und Mediastädte wird uns im Folgenden noch weiter beschäftigen, zuerst im Rahmen der aufgeschlossenen Stadt, wo wir auf das Phänomen der Medienfassade, des urbanen Bildschirms, stoßen, schließlich im Kontext der in China weit fortgeschrittenen Praxis des Citytainment.

Orient trifft Okzident – Hybride Wohnquartiere __ Die Vermischung chinesischer und europäischer Raumpraktiken und Stile ist nichts

Neues. Schon in vorkolonialer Kaiserzeit wurden dem Yuan Ming-Park in Peking, dem über einen Zeitraum von 150 Jahren gebauten Sommerpalast der Qing-Dynastie, barocke Gebäude und Gärten französischer Provenienz hinzugefügt.55 Noch heute kann man an vielen Marmortrümmern des während des Opiumkrieges von europäischen Kolonialtruppen zerstörten Anwesens deutlich aus westlichen und östlichen Elementen komponierte Dekorationen erkennen. __ Während die Begegnung der Kulturen im Yuan Ming-Park sich noch eher am Akzidentiellen versuchte, vollzog sich diese bei den ‹Lilong› genannten Shanghaier Wohnquartieren auf der Ebene des Substantiellen. Denn die Lilong kombinieren – deutlich sichtbar mit der als ‹spätere Form› bezeichneten zweiten Generation56 – die westlichextraverse öffentliche Straße mit dem östlich-introversen Quartier und dessen Innen­ höfen. Die Lilong entstanden unter dem Einfluss der Kolonialmächte, vor allem Englands (seit 1840) und Frankreichs (seit 1847), aber auch der Vereinigten Staaten (seit 1846). Später kommen dann noch japanische Einflüsse hinzu.

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Ruinen im Yuan Ming Yuan-Park, Peking

Dächer eines Lilong-Quartiers

Im Lilong-Quartier

Fassade eines Jingyu-Blocks, Harbin

Im Lilong-Quartier

Fassade eines Jingyu-Blocks, Harbin

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Die Lilong sind, darin den nördlichen Hutong vergleichbar, abgeschlossene Wohnquartiere mit zwei- bis dreigeschossigen Wohngebäuden. Die Quartiere sind durch Mauern von der städtischen Umgebung getrennt, werden durch Tore an kommerziell geprägten Straßen betreten und über ein hierarchisch gegliedertes Netz von Hauptwegen und Nebengassen erschlossen. Die Wohnungen betritt man von westöstlich verlaufenden Nebengassen aus durch Shikumen57 genannte, nach Süden ausgerichtete steinerne Tore (bei den früheren Formen!). Diese führen auf einen Vorhof, der durch eine hohe Mauer von der Gasse getrennt ist. Erst bei den jüngeren Lilong werden Shikumen und Mauer durch Gartentor und Zaun ersetzt. Die älteren Lilong verfügen über einen weiteren Innenhof, der im Lauf der Zeit zum bloßen Lichtschacht verkümmert ist, anfangs jedoch einen Brunnen besaß.58 __ Uns interessiert hier nun ein Detail, das in architektonischen und städtebaulichen Betrachtungen viel zu wenig gewürdigt wird. Es geht um die deutlich artikulierten, westlichen Einflüssen geschuldeten Fassaden beziehungsweise Fassadendekorationen. Diese blicken auf Shikumen-Gassen oder hintere Gassen, die sich dadurch von reinen Erschließungskorridoren in eine Art von langgestreckten Plätzen verwandeln: in fiktionale öffentliche Räume inmitten der abgeriegelten, introversen, nichtöffentlichen Nachbarschaften. Es ist dieses Mit- und Beieinander von chinesischer Hofhaus-Reihen­architektur und westlicher Fassadendekoration59, das den einzigartigen, vielfach kommentierten Zauber dieser Siedlungen ausmacht. In jüngeren Lilong entwickelte sich mit den Vor­ gärten und einer deutlich verbesserten Gebäude-Infrastruktur eine Qualität, die auch heute höchsten Ansprüchen städtischer Wohnkultur zu genügen vermag. __ Ein vergleichbares, in der Formensprache noch viel deutlicher ausgeprägtes Beispiel baukultureller Hybridisierung finden wir im Jingyu-Block im zentralen Daowai-Bezirk der nordchinesischen Provinzhauptstadt Harbin. Hier mischen sich chinesische Wohnund Bauformen mit russischen Einflüssen zu einer in den kulturellen Anteilen sehr viel ausgewogeneren Form. Während in den Lilong die Zeugnisse der extraversen europäischen Stadtkultur auf Himmelsbrunnen und Binnengassen blicken, stehen wir in Harbin auf ‹öffentlichen› Straßen westlichen Typs vor teilweise üppig eklektisch dekorierten Fassaden. Diese zeigen eine Struktur parzellierter Blockrandbebauung. __ Geht man jedoch durch eines der auffällig großen Tore, steht man nach wenigen Schritten in einem charakteristisch nordchinesischen Innenhof, einer Art vergrößertem Sìhéyuàn mit einem Hauptgebäude, zwei Seitenflügeln und expressiven hölzernen, ins Obergeschoss führenden Stiegen. Diese Hofhausanlage bietet sieben Familien Wohnraum, wenn man das Obergeschoss des straßenseitigen Gebäudes hinzunimmt. Das Erdgeschoss des Blockrandgebäudes dient in der Regel gewerblichen Zwecken, das heißt als Werkstatt oder Geschäftsraum. __ In den Jingyu-Blocks, diesen russisch-chinesischen Multifunktionshybriden, artikuliert sich die Vereinigung von extraversem Stadtraum westlichen Typs und introversem, familienbezogenen chinesischen Hofhaus auf eigenständige Weise. Dabei orientiert sich die Größe des Hofhauses an den Repräsentationsbelangen der öffentlichen Fassade. Eine Quartiersmauer beziehungsweise -begrenzung, wie bei den klassischen chinesischen Wohnquartieren (Li), den Hutong, Lilong oder den neuen Wohnsiedlungen, gibt es hier nicht. Die Blockrandgebäude übernehmen diese Funktion. __ Die eingefügten Fotos zeigen diese Perlen baukultureller Hybridisierung in einem beklagenswerten Zustand. Dafür gibt es zahlreiche Gründe: Der Wert dieser städtebau­ lichen Hybride wird außerhalb akademischer Kreise nicht gesehen, denn hier verschüttet

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immer noch kurzfristig orientiertes kommerzielles Denken die langfristig wirksamen wirtschaftlichen Potentiale des lokalen baulichen Kulturerbes. Darüber hinaus spiegeln diese Innenstadtquartiere, zumal in ihrer gegenwärtigen Verfassung, nicht die Wohnungs- und Lebensstilpräferenzen der auch in Harbin schnell wachsenden Mittelschicht. Da Kundschaft nicht in Sicht ist, finden sich auch keine an der Erhaltung und Aufwertung der Quartiere interessierten Entwickler. __ Schließlich, und hier schließt sich der Kreis, dienen diese Innenstadtquartiere als ‹Brückenköpfe› der in die Stadt strömenden Arbeitsmigranten. Gerade der herunter­ gekommene Zustand der Quartiere und die entsprechend niedrigen Mieten machen sie für diese Menschen interessant. Hier kommen die Glücksuchenden zusammen – und wenn sie fündig geworden sind, erwerben sie eine eigene Wohnung, lassen sich registrieren bzw. einbürgern und machen so Platz für neue Wanderarbeiter. Der Müll und Schrott, der sich in den Innenhöfen stapelt, wird im sibirisch kalten Winter Harbins von den Quartiersbewohnern verheizt.

Innenhof eines Jingyu-Gebäudes

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Der aufgeschlossene Stadtraum

5 Lineare Zentralität oder Magie des Goldenen Korridors __ Wenn Städte als Zeichen aufgefasst werden, denotieren sie zuerst Zentralität – in

welchen Formen auch immer, soziokulturelle Zentralität, lineare Zentralität, ökonomische Zentralität, Polyzentralität und so weiter (Hassenpflug 2006a). Louis Wirth zufolge verweist städtische Zentralität auf einen Ort höchster symbolischer Bedeutung, bester Erreichbarkeit und zugleich größter Bodenknappheit (Wirth 1964). Das Stadtzentrum ist damit in der Regel auch der teuerste und damit in gewisser Weise der ‹goldene› Ort der Stadt. __ In Europa hat sich im Lauf der Zeit eine der Form nach punktuelle und dem Inhalt nach öffentliche Zentralität herausgebildet – zunächst in Gestalt der sich stadträumlich noch embryonal artikulierenden Agora der griechischen Polis, sodann im repräsentativ ausgearbeiteten römischen Forum, und schließlich, im Zuge der Reurbanisierung ab etwa 1000 u. Z., in dem die europäische Stadt noch heute raumbestimmenden Ensemble von Marktplatz, Kirche und Rathaus. In diesem Ensemble sah sich eine in christlichem Glauben und bürgerschaftlicher Selbstbestimmung gegründete Stadtgesellschaft räumlich angemessen repräsentiert. __ In den usa, die die feudalen und altbürgerlichen Traditionen Europas nie teilten, sondern sich vielmehr als dessen republikanischer Gegenentwurf betrachteten, wurde von Anfang an der Kommerz zum Motor der Stadtentwicklung. Die stadtbildenden Kräfte des Marktes brachten den ‹Central Business District› (cbd) hervor, einen Ort, wo sich die Konzernzentralen des ‹big business›, Banken, Einkaufszentren, Hotels, neuerlich auch Kultureinrichtungen und wohlhabende Urbaniten in schicken Wohntowers versammeln, um ihren Images das symbolische Kapital von Zentralität hinzuzufügen – und natürlich vice versa. __ Für die chinesische Stadt ist die Form der linearen beziehungsweise axialen Zentralität die charakteristische Form. Sie empfiehlt sich für die Gestaltung hierarchisch strukturierter Raumfolgen. Für deren Stellenwert im chinesischen Urbanismus gibt es zwei herausragende Gründe. Der erste ist, wie könnte es anders sein, ein historischer. Kosmologischen Regeln folgend, wie sie einst ähnlich bei römischen Stadtgründungen Anwendung fanden, waren auch klassische chinesische Städte, eingeschlossen Nekro­ polen, spirituell positioniert und orientiert. So erhielt die Stadt einen rechteckigen Grundriss in Nord-Süd-Orientierung und zwei (oder mehr) sich im Zentrum der Stadt kreuzende Zentralachsen. Sie erinnern deutlich an die von römischen Stadtgründungen her bekannten Zentralachsen Cardo und Decumanus. Wo sich die beiden Hauptachsen kreuzen, befindet sich in der Regel der Glocken- beziehungsweise Trommelturm, neben den Stadtmauern das herausragende Symbol der Allgegenwart kaiserlicher Gewalt. Der

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DIE NORDACHSE: SPORT UND KULTUR

ZHONGGUANCUN ZENTRUM FÜR TECHNOLOGIE UND WISSENSCHAFT

QINGHE BEIYUAN GRÜNGÜRTEL

XIYUAN JIUXIANLOU OLYMPIAPARK DONGBA

SHIJINGSHAN DIE TRADITIONELLE ACHSE: DAS HISTORISCHE ZENTRUM MULTIFUNKTIONALES DIENSTLEISTUNGSZENTRUM

ALTSTADT

DINGFUZHUANG

CBD GESCHÄFTSZENTRUM BAOTOU

CHANG’AN STRASSE POLITISCHES UND KULTURELLES ZENTRUM

FENGTAI

NANYUAN

DIE SÜDACHSE: HANDEL UND KULTUR

Die zentralen Achsen von Peking

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kaiserliche Palast beziehungsweise die Anwesen seiner Statthalter wurden oft nördlich der in westöstliche Richtung verlaufenden Achse(n), häufig die Nord-Süd-Achse in sich aufnehmend, angesiedelt. Die in Ost-West-Richtung verlaufende Hauptachse unterstreicht ihre Bedeutung durch die Erschließung des kaiserlichen Ahnentempels im Osten und der Tempel für die Götter des Ackers und der Feldfrüchte im Westen. __ Für die Größe, Anlage, Ausstattung eines jeden Gebäudes und jeder Straße gab es genaue Vorschriften, die die Hierarchie von Funktion und Bedeutung ausdrückten. Die Hierarchie wurde dabei immer in eine lineare Raumfolge übersetzt. Diese Linearität dokumentiert die Geltung einer einzig gültigen Perspektive: diejenige des Kaisers. Die Stadt repräsentiert auf diese Weise in ihrer Anlage die von ihm verbürgte, unverrück­bare Ordnung der Dinge (Wu, Weija 1993). Die lineare beziehungsweise axiale Zentralität hat sich im räumlichen Gedächtnis chinesischer Hauptstädte (Peking, Xi’an, Nanjing, Hangzhou) und vieler anderer kaiserlicher Stadtgründungen bis auf den heutigen Tag erhalten. Sie wurde auch Teil des kollektiven Gedächtnisses des chinesischen Volkes. __ Wir sind damit bereits bei dem zweiten Grund für die Popularität linearer Zentralität im chinesischen Städtebau. In der axialen Zentralität mit ihrer strukturierten Raum­sequenz vermochte sich eine zentralistisch verfasste und streng hierarchisch geordnete Gesellschaft (korrekterweise wäre von einer ‹Volksgemeinschaft› zu sprechen) angemessen im Raum wiederzuerkennen. Da sich diese Gesellschaftsstruktur bis auf den heutigen Tag trotz Republik und Kommunismus weniger tiefgreifend verändert hat, als man auf den ersten Blick glauben mag, reflektiert sich die nach wie vor hypermoralisch verfasste (papaistische) chinesische Gesellschaft in der hierarchischen Raumfolge der Zentralachse auf bevorzugte Weise. Hierin ist das lineare Zentrum mit dem vielfach zu beobachtenden barocken Auftritt von Rathäusern und Regierungsgebäuden aller Art und, nicht zu vergessen, den erhabenen Plätzen zu vergleichen – wobei die letztgenannten Raumfiguren eine sehr viel jüngere Geschichte haben als die uralten Achsen. __ Wie groß die Kraft der linearen Zentren auch heute noch ist, lässt sich am besten am Beispiel der alten und neuen Hauptstadt Peking illustrieren. Wie selbstverständlich wurden in dieser Stadt die Sport-, Dienstleistungs- und Wohnanlagen der am 08.08.2008 eröffneten Olympischen Spiele an und auf den nördlichen Teil der historischen NordSüd-Achse, der einstigen Drachen-Achse, gelegt. __ Doch das war nur der Auftakt zu einer kompletten Überarbeitung, Verlängerung und Revitalisierung des nördlichen Abschnitts dieser Achse. Blickt man nach Süden, trifft der Blick auf den ausgedehnten Tian An Men-Platz, der sich vor den Toren der Verbotenen Stadt wie selbstverständlich auf der Nord-Süd-Achse positioniert. Als Mao Zedong 1958 den Bau dieses gewaltigen, offenen, von Kulturbauten flankierten Platzes anordnete, ging es ihm nicht nur um einen Gegenentwurf, der dem symbolischen Gewicht der geschlossenen Anlage des kaiserlichen Palastes standhalten sollte, sondern um eine Brechung der Raumfolge und somit um eine Neuordnung der zentralräum­ lichen Hierarchie. Diese Absicht hatte die Verwendung der historischen Achse zur Voraussetzung. __ Nun gibt es jedoch noch die kaum minder bedeutungsvolle Ost-West-Achse. Sie kreuzt die Nord-Süd-Achse genau dort, wo der Tian An Men, vor Maos Erweiterung nur ein kleiner Platz vor dem Haupttor der Verbotenen Stadt, diese berührt. Diese Achse ist der zweite Brennpunkt (man sollte hier von einer ‹Brennlinie› sprechen) der städtischen Bemühungen um die Kontrolle der Zentralitätsdynamik von Peking. Als in den neun­

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ziger Jahren die Idee geboren wurde, der Hauptstadt des neuen China ein angemessenes Tor zur Welt in Gestalt eines ‹Central Business District› zu geben, war schnell klar, dass als Lage für das neue kommerzielle Zentrum nur der Bezirk Chaoyang in Frage kommt, und zwar dort, wo sich die dritte Ringstraße mit der Ost-West-Achse, das heißt mit der Chang’an-Straße kreuzt. Im Klartext heißt das aber, dass sich das Businesszentrum in die historische Achse ein- und ihr damit unterzuordnen hat. Die Einfügung in die ‹Erste Straße Chinas›, die Chang’an-Achse, war das entscheidende Kriterium. Zweitrangig waren dagegen die Orientierung zum Flughafen und zum Quartier der Botschaften im östlichen Teil der Achse. Mit dieser Zuordnung war jedoch von Anfang an klar, dass Pekings cbd niemals den Rang eines städtischen Superzentrums nach us-amerikanischer Art erhalten kann; denn Pekings Superzentrum ist ein für alle Mal an das ‹Große Kreuz›, wie der Schnittpunkt von nordsüdlich verlaufender Drachenachse und ostwestlich verlaufender Chang’an-Straße genannt wird, vergeben. __ Zieht man andererseits in Betracht, dass es in Peking bereits drei weitere cbds gibt, dann gebührt dieser neuen cbd der oberste Rang dieser Zentren. Warum? Weil es mit dem Kreuzungspunkt von Chang’an-Straße und östlicher zweiter Ringstraße das sogenannte Goldene Kreuz von Peking in sich aufnimmt. Hier allerdings, auf der Zentralitätslinie, muss der neue cbd seine Position in der Hierarchie der symbolischen Orte erkämpfen. Mit welchen Mitteln dies geschehen kann, verrät das folgende Zitat des Parteisekretärs des Bezirks Chaoyang: «Our cbd is not an 8 hours cbd. If the people working here in daytime are gone with the wind after they ring out, the cbd would be a nightmare city zone. Our target is to make our cbd a livable international business community. We will call it 24 hours business community, which is full of life and busy beside working time.» (www.bjcbd.gov.cn) __ Das Wort, auf das es hier ankommt, ist die Gemeinschaft (‹community›); denn in ihm irrlichtern die positiven Konnotationen von Familie, Introvertiertheit und Exklusion. Ein guter cbd ist eine ‹gated community›, eine Familie, ein städtisches Dorf, das in Arbeit und Freizeit zusammenhält und darüber hinaus das eine, die Arbeit, in das andere, die Freizeit, übergehen lässt: Arbeit ist freie Zeit, Freizeit ist Arbeitsleben. Der cbd als Symbolort des ‹konfuzianischen Kapitalismus›.60 __ Der Logik von Zentralität und hierarchischer Raumfolge entsprechend, muss der Ost-West-Achse im Westen ein angemessenes Gegengewicht gegeben werden. Mit dem ‹Science Park› (gern mit dem Silicon Valley der San Francisco Bay verglichen) und dem Bankenviertel an der westlichen Chang’an-Straße scheint die gewünschte Balance gegeben. Doch so einfach liegen die Dinge nicht; denn welche Implikationen hat es, wenn man einen Bankendistrikt westlich der Verbotenen Stadt hat und auf deren östlicher Seite ein mit extremen Erwartungen überhäuftes cbd-Projekt? Es heißt, dass ibm und Google in den neuen cbd umgezogen seien – doch hätten sie es bei einem Besuch bewenden lassen und seien nach kurzer Zeit in das alte Quartier zurückgekehrt. Dass eine der Banken der westlichen Chang’an beschlossen hätte, in den neuen cbd umzuziehen, wurde bisher nicht bekannt. Damit droht nicht nur dem cbd mit seinen teilweise spektakulären Gebäuden Ungemach, sondern der kreuzförmigen Zentralitätskonstruktion der Stadt Peking als Ganzer ein Problem. Denn was wäre ein cbd ohne Banken. Der starke Flügel könnte sich als der schwache entpuppen. __ Der vormalige Oberbürgermeister von Peking, Liu Qi, hat das Bewusstsein von der Bedeutung des kreuzförmigen Zentrums etwas unbeholfen, wenngleich treffend als

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‹eine Linie, zwei Flügel› zum Ausdruck gebracht (vom Drachen mit zwei Flügeln konnte er nicht sprechen, da der chinesische Drache keine Flügel hat, obwohl er fliegen kann). Ein Vogel mit einem starken Flügel, sagen wir dem Wissenschaftspark und dem Bankencluster und einem schwachen Flügel, sagen wir dem projektierten cbd (Masterplan von som), kann schlecht fliegen. Es wird sich zeigen, was der synkretistische Aufbau eines cbd am ‹Goldenen Kreuz› für die Balance des Stadtkörpers bedeutet. Wird etwas Ähnliches geschehen wie in Paris, wo man dem Amerikanismus mit La Défense eine Bühne auf unvertrautem Boden schuf – mit teilweise unerquicklichen Folgen wie teuren Beatmungs­maßnahmen und Schaffung von monostrukturierten Arbeitswelten. Oder kann die Ost-West-Achse doch ihre integrierende Kraft ausspielen? __ In China mag es nur ein Großes Kreuz geben – was der Ausnahmestellung der Hauptstadt geschuldet wäre. Überall wirksam ist jedoch die Magie der orientierten linearen Zentralität mit ihrer hierarchischen Raumfolge. Es mag daher die eine oder andere goldene Achse geben. Zu den bekanntesten des neuen China zählt der von den Planern des Centre for Architecture and Urban Planning (caup) der Tongji-Universität Shanghai ersonnene ‹Goldene Korridor› von Shenyang. Dieser ist im Durchschnitt etwa zwei Kilo­ meter breit, wird durch die Qingnian-Straße zentriert und verläuft dem Originalplan zufolge in nordsüdlicher Richtung vom Beiling-Park bis zum neuen Rathaus der Stadt auf der südlichen Uferseite des Hun He (Hun-Fluss). Die Stadt hat diesen Vorschlag mit großer Begeisterung realisiert und hat den ‹Goldenen Korridor› inzwischen sogar bis zum internationalen Flughafen verlängert.61

Der ‹Goldene Korridor› von Shenyang

Der ‹Goldene Korridor› stellt sich nicht nur der in China bislang unterschätzten Frage städtischer Zentralität. Er beantwortet sie vielmehr auf klassisch chinesische Weise: Das Zentrum der chinesischen Stadt, so die bereits bekannte Botschaft, ist vorzugsweise ein linearer Raum, der historisch durch zwei (oder mehr) sich im Stadtzentrum kreuzende Achsen gebildet wird. Kaiserlichen Ursprungs, ist er mit einer Glücksverheißung aufgeladen und organisiert, der Idee der Linearität gemäß, den Raum in hierarchischen Sequenzen von Bedeutung. Die Wahl des Beiling-Parks als des einen Endpunkts und des Rathauses als des anderen lässt darauf schließen, dass man bei der Planung des Goldenen Korridors von Beginn an eine lesbare Abfolge urbaner Bedeutungsträger vor Augen hatte.

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Dennoch erscheint eines an dem Korridor irritierend – und diese Irritation betrifft unter anderem das Verständnis von urbaner Zentralität im gegenwärtigen China. Irritierend ist, dass der historische Kaiserpalast der frühen mandschurischen Qing-Dynastie (Gu Gong) in seiner Zentralität nicht gewürdigt wird. Der Goldene Korridor integriert Gu Gong nicht, sondern positioniert sich mit zwei bis drei Kilometern Abstand westlich der historischen Hauptachse. Man kann die Irritation vielleicht auch so fassen: Es fehlt die Ost-West-Achse, die den Kaiserpalast integrieren könnte. Kann man aber einen Kaiserpalast in die West-Ost-Achse stellen? Natürlich nicht. Offenbar haben die Stadt Shenyang und ihre Berater die Bedeutung des Gu Gong unterschätzt, oder sie messen dem einstigen kaiserlichen Anwesen keine große Bedeutung bei. Das tut allerdings die Weltöffentlichkeit, die die Verbotene Stadt Shenyangs genau wie den Pekinger Folgepalast zum unesco-Weltkulturerbe erkor. __ Das Konzept des ‹Goldenen Korridors› berücksichtigt die Vorstellung einer radial­ konzentrischen Zentralität nicht; denn eine solche hat es im historischen China aufgrund der Dominanz der axialen Hierarchie nie gegeben. Eine Analyse der heutigen Stadtstruktur Shenyangs ergibt allerdings, dass sich ein punktuelles Zentrum als Mittelpunkt einer radialkonzentrischen Stadtstruktur empfehlen würde. Denn das Hauptzentrum Shenyangs ist in drei Teilzentren gliedert, die sich zu einem mega-urbanen Superzentrum zusammenfassen ließen: in den erwähnten Kaiserpalast Gu Gong, in das Gebiet um den Platz des Volkes und den Bereich um den Nordbahnhof. Versuche, ein solches Superzentrum zu entwerfen, sind jedoch unterblieben – aus Gründen, die inzwischen einleuchten dürften: Eine solche Häufung aus drei Teilzentren ließe sich nicht in eine linear-hierarchische Raumfolge übersetzten. Sie verlangt vielmehr nach räumlicher Gleichberechtigung, ein Gedanke, der offenbar instinktiv abgewehrt wird, da er nicht in die geistige Landschaft des gegenwärtigen chinesischen Urbanismus gehört. __ Der ‹Goldene Korridor› integriert den Platz des Volkes und den Nordbahnhof – nicht jedoch den Kaiserpalast, der auch heute noch im Gefühls- und Identitätshaushalt der Einwohner Shenyangs eine herausragende Position einnimmt. Das neue axiale Zentrum orientiert sich an den im Zuge der Industrialisierung entstandenen räumlichen Gegeben­ heiten der Stadt. Es ist jedoch nicht in der Lage, das neue mit dem alten China auf überzeugende Weise zu verbinden. __ Andererseits ist der ‹Goldene Korridor› ein Erfolg, da er einige für die Großstadtentwicklung im heutigen China wichtige Elemente aufgreift und zu einer kohärenten Gestalt integriert. Dazu gehört die ‹große Straße›, die sich als Derivat der einstigen kaiserlichen Achse erweist. Es gehört dazu aber auch der ‹Sprung über den Fluss›, ein in China als städtebauliche Modeerscheinung einzuordnendes Stadtentwicklungskonzept, auf das wir noch ausführlich zu sprechen kommen. __ Zum Abschluss noch ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit, mit der in der gegenwärtigen Stadtentwicklungsplanung das Ziel einer Stärkung axialer Zentralität verfolgt wird. Als der Architekt Zhang Lingling vom Harbin Institute of Technology (heute Dekan der School of Architecture der Shenyang Jianzhu University) den Auftrag erhielt, für die aufstrebende Industriestadt Jilin (nach der Haupt- und Automobilstadt Changchun die zweitgrößte Stadt der gleichnamigen Nordprovinz) ein artikuliertes Zentrum mit einer ordnenden Landmarke zu entwerfen, hat er ganz selbstverständlich an die fast verloren gegangene historische Nord-Süd-Achse angeknüpft, in der Absicht, diese wieder zu stärken. Dabei konnte er nicht nur auf eine wichtige Brücke über den Songhua Jiang

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zurückgreifen, sondern auch eine von Franzosen erbaute gotische Kirche in die chinesische Nord-Süd-Achse aufnehmen. Mit der Verwirklichung des ‹Jahrhundert-Platzes› ist es ihm gelungen, das Signal für eine räumliche Restrukturierung zu geben, für die die nunmehr ins Licht gerückte Nord-Süd-Achse als Rückgrat dient (Zhang, Lingling 2004). Die lineare Zentralität, so können wir festhalten, ist heute ein bedeutendes städtebauliches Mittel zur räumlichen Kontrolle mega-urbaner Stadtlandschaften.

Der offene Raum der Nachbarschaften __ Je mehr man sich den innerstädtischen Räumen chinesischer Städte nähert, desto

häufiger treten die Mauern und Zäune der ‹compounds› zurück, um allgemein zugänglichen, offenen Räumen Platz zu machen. Die Zahl und Größe der Läden nimmt ebenso zu wie diejenige der Restaurants, Bürogebäude, Hotels. Immer häufiger sehen wir Grünflächen, die den Blick auf öffentliche Einrichtungen freigeben, Plätze öffnen sich vor und in Einkaufszentren, und schließlich stoßen wir sogar auf Fußgängerzonen – nicht nur in Shanghai und Peking. __ Offene Räume finden wir, wie bereits bemerkt, zuallererst dort, wo wir kommerzielle Nutzungen antreffen, Einzelhandel, Shopping-Center, Supermärkte, Straßenhandel, Dienstleistungsbetriebe aller Art, vom Friseur bis zum Luxushotel, Restaurants, Maklerbüros und vieles mehr. Offene Räume finden wir aber auch im Umfeld öffentlicher Gebäude, von Museen, Galerien, Konzerthäusern, Büchereien und städtischen Verwaltungsgebäuden – allerdings weniger im Umfeld von Kindergärten, Schulen, Universitäten und Regierungsgebäuden. Waren in historischen Zeiten selbst die Märkte geschlossene Einrichtungen oder, wie in der Zeit Maos, fast vollständig stillgelegt, so manifestieren die kommerzialisierten offenen Räume der chinesischen Stadt die Öffnung Chinas zur Marktwirtschaft. __ In den Neubaugebieten Shanghais stoßen wir in Bezug auf den Zusammenhang zwischen abgeschlossenen und offenen Räumen auf eine signifikante Typologie von offener, kommerziell definierter Infrastruktur. Das einigende Merkmal ist der Bezug zur abgeschlossenen Nachbarschaft. Das unterscheidende Merkmal ist der Grad der Zentralität, wobei Größe und Funktionsvielfalt oder auch, in Opposition zur Funktionsvielfalt, der Spezialisierungsgrad mit dem Grad der Zentrierung zunehmen. Ein Nachbarschaftszentrum für vier bis zwölf Nachbarschaften ist kleiner und weniger differenziert als ein Multifunktionszentrum, dessen Einzugsbereich von vierzig bis achtzig Quartieren gebildet wird.

Kommerzialisiertes Lilong-Quartier, Shanghai

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Im Folgenden unterscheiden wir die kommerzielle Blockrandzeile, die NachbarschaftsFußgängerstraße, das Nachbarschaftszentrum, das Gemeindezentrum und das Multifunktionszentrum auf Distriktebene. Zur Zeit kann in den Stadtrandgebieten noch die alte Dorfstraße hinzugezählt werden. Ihre Tage sind jedoch gezählt. __ Der gesamten Struktur ist das System einer an amerikanischen Vorbildern orientierten Nachbarschaftsplanung anzumerken. Dies ist auch als ein Ergebnis der Öffnung Chinas zu werten; denn die zu Zeiten der Republik populäre Nachbarschaftsplanung aus der Neuen Welt wurde nach der kommunistischen Machtergreifung 1949 vorerst ad acta gelegt (Kögel 2007) und erst nach der Öffnung des Landes wieder ausgegraben. Integrierte Blockrandzeilen

__ Das kulturell verwurzelte Orientierungsgebot im Wohnungsbau bewirkt eine spür-

bare Einschränkung städtebaulicher Gestaltungsspielräume. Diese werden jedoch teilweise zurückgewonnen durch kommerzielle Funktionsbauten, die in Bezug auf die Himmelsrichtung keinerlei Vorgaben unterliegen. So kommt es in der chinesischen Stadt zu einer bemerkenswerten städtebaulichen Symbiose zwischen streng orientierten, abgeschlossenen Nachbarschaften und offenen, orientierungsfreien Geschäftszeilen. In China bilden Zeilenbebauung und Blockrandbebauung keinen Gegensatz, auch keinen ideologisch unterfütterten. Beide Grundformen ergänzen einander vielmehr auf harmonische Weise. __ Alle Wohngebäude der Nachbarschaften, ob Zeilen- oder Punktbauten, sind mehr oder weniger nach Süden orientiert. Die Wohnzeilen verlaufen daher in Ost-West-Richtung – auch dann, wenn sie ‹schwingen› und ‹tanzen›. In älteren fordistischen Sied­ lungen ergeben sich aus dieser räumlichen Grammatik in aller Regel an der nördlichen und südlichen Grenze der Nachbarschaft direkt an Straßen grenzende Blockrandzeilen62, hingegen an der westlichen und östlichen Begrenzung meist eine duale Sequenz von ‹Abstandsgrün› und Zeilenbau-Stirnseiten. __ Doch bereits bei vielen älteren Wohnsiedlungen wurden die Chancen ergriffen, die die städtebauliche Freiheit kommerzieller bzw. gewerblicher Funktionen ermöglichen. So wurden viele ‹offene Flanken› des Zeilenbaus durch Gebäuderiegel geschlossen, die kleine Läden und Werkstätten aufnehmen. Vier wichtige städtebauliche Ziele konnten auf diese Weise mit einer einzigen Maßnahme erreicht werden: Erstens ist die Blockrandzeile ein effektiver und symbolisch willkommener Mauerersatz. Zum Zweiten ließ sich die Nahversorgung der ‹compounds› räumlich sinnvoll organisieren, zum Dritten konnte durch den Verriegelungseffekt der Spangen dem Exklusions- und Sicherheitsbedürfnis der Bewohner der Nachbarschaften besser entsprochen werden, und schließlich sorgten die Gebäuderiegel für höchst willkommenen Schutz vor dem Lärm und den Abgasen der Kraftfahrzeuge. Wer einmal einem einzylindrigen ‹Pick-up› aus der Ära der Produktionsgenossenschaften begegnet ist, weiß, wie wertvoll dieser Verriegelungseffekt sein kann. __ Durch Anpassung an die durch Geschlossenheit, Orientierung und Introversion vorgegebene Grundstruktur der Wohnquartiere ergibt sich an den östlichen und westlichen Quartiersrändern ein radikales Kontrastprogramm zum Orientierungsgebot. Die kommerzielle Nutzung verschafft der chinesischen Stadt dadurch einen flexiblen Baustein und auf diese Weise dem chinesischen Städtebau gestalterische Freiheitsgrade. Zwei hoch spezialisierte Räume, die über ein eigenes Erschließungssystem verfügende

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Kommerzielle Quartiersrahmung durch Nahversorgungszeilen

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Nachbarschaft einerseits und die kommerzielle Blockrandzeile andererseits, rücken ganz eng zusammen. So konnte sich eine kleinteilige Zonierung mit klarer räumlicher Rollenverteilung herausbilden, die auf den ersten Blick als Mischnutzung durchgehen dürfte. In Wahrheit haben wir eine Form räumlicher Spezialisierung vor uns, die die Nachteile der Zonierung aufhebt, indem sie die Vorteile der Mischnutzung organisiert. __ Im Zuge des neofordistischen Wandels wurde diese Grundstruktur erheblich weiterentwickelt und verfeinert. Die spangenartige Rahmung der an Straßen grenzenden Zeilenbebauung ist in China inzwischen außerordentlich oft anzutreffen. Viele ältere Quartiere wurden mit diesen nachgerüstet. Im Siedlungsbau neueren Datums werden sie von vornherein mitgeplant. Inzwischen sind diese Spangen sogar in das architektonische Gesamtkonzept integriert und aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken.63 __ Auch die Integration von Einzelhandel und Dienstleistungen in die Zeilen der nördlichen und südlichen Quartiersgrenze ist inzwischen gang und gäbe. Mehr noch: Die nördliche und die südliche Blockrandzeile werden inzwischen nahezu durchgängig als rein kommerzielle Gebäudezeile ausgeführt. Sie übernimmt damit wie die westliche und östliche Spange eine Mauerfunktion für die dahinterliegende Nachbarschaft.64 __ Heute finden wir in China nicht wenige gut erschlossene, zentral positionierte Nachbarschaften, die vollständig von solchen Einzelhandels- und Gewerbespangen umgeben sind, sodass sie ohne Mauer und Zaun auskommen und nur noch ein, zwei oder mehr Tore benötigen. Natürlich finden wir auch Quartiere mit zwei oder drei Spangen, und Nachbarschaften mit nur einer oder gar keiner kommerziellen Spange sind keine Seltenheit. Für zweigeschossige Villenquartiere beispielsweise machen Nahversorgungszeilen der beschriebenen Art keinen Sinn. Zudem können die randständigen Einkaufzeilen schnell eine räumliche Lageverschlechterung nach sich ziehen. __ Warum ist die kommerzielle Infrastruktur der Nahversorgungszeilen für die gegenwärtige Stadtgestaltung so wertvoll? Die Antwort liegt auf der Hand: Durch die lebhaft frequentierten Gewerbezeilen wird der durch Mauern und Zäune verursachte visuelle Verriegelungseffekt äußerst wirksam konterkariert. Ein Wohnquartier, das sich hinter Einkaufszeilen verbirgt, wird nicht so stark als ‹gated› wahrgenommen. Aufgrund des Funktionspluralismus, den das Quartier durch die Geschäfte erwirbt, wirkt es zudem wesentlich urbaner als ein Quartier, das sich als sichtbar verriegelte nachbarschaftliche Monostruktur zum offenen Raum hin exponiert. Hinzu kommt, dass die Bewohner des Quartiers hinter der oder den gewerblichen Spangen ebenso wie die Bewohner angrenzender Quartiere von den angebotenen Nahversorgungsleistungen profitieren. Auch dies ist eine Variante der ‹Stadt der kurzen Wege›! __ Da sie stark von objektiven lokalen Standortbedingungen abhängig sind, können die quartiersgebundenen Einkaufszeilen allerdings oft nur in begrenztem Umfang als unmittelbare städtebauliche Strategie gegen den Verriegelungseffekt eingesetzt werden. Zu den härtesten dieser Faktoren zählt die Einwohnerzahl in den ‹compounds›. Da es sich in der Regel und nach Lage der Dinge in Zukunft ausschließlich um Wohnhochhaus­ siedlungen mit hoher Einwohnerzahl und entsprechenden Dichtewerten65 handelt, rentiert sich das kleinräumliche Heranrücken an die Wohnsiedlungen. Zu den weiteren harten Faktoren zählt auch die Erschließung, wobei Quartiersstraßen mit ihren Parkund Überquerungsmöglichkeiten für Fußgänger und Radfahrer deutlichen Vorrang gegenüber den übergeordneten Stadtstraßen genießen.

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KOMMERZIELLE ZEILEN ALS MAUERERSATZ

SÜDORIENTIERUNG DER WOHNGEBÄUDE

WOHNZEILENBAUTEN

NACHBARSCHAFTSHOF

TOR

GESCHLOSSENE NACHBARSCHAFT

Nachbarschaft mit südorientierten Zeilenbauten und nicht-orientierter kommerzieller Rahmung

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Als unmittelbar städtebaulich wirksame Konzepte gegen den Verriegelungseffekt finden zudem landschaftsarchitektonische Elemente Verwendung, zum Beispiel der Bau von gefällig gestalteten Grünzonen, die in der Regel mit Bäumen, Büschen oder Bambusstreifen ausgestattet sind. Doch auch die Nutzung von artifiziellen Kanälen oder von vorhandenen Fließgewässern (in Shanghai, das im Mündungsgebiet des Yang Zi Jiang liegt, häufig anzutreffen) lässt sich beobachten. Nicht selten allerdings muss der Alleebaumbestand übergeordneter Straßen als visuelle Trennlinie genügen. __ Die Wirkung der kommerziellen Blockrandzeilen auf die Stadtgestalt ist enorm groß. Da Zäune und Mauern immer wieder durch diese Blockrandzeilen abgelöst werden, ergibt sich schon allein durch die kleinräumliche Nachbarschafts-Infrastruktur eine Balance, ein städtebaulicher Rhythmus von geschlossenen und offenen Raumelementen. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass auch die Lebensqualität der gegenwärtigen chinesischen Stadt entscheidend von ihren kommerziellen Elementen geprägt wird. Damit wird allerdings nur jene fundamentale Erkenntnis des Urbanismus bestätigt, der zufolge der (Einzel-)Handel eine feste Säule der Stadtgestalt von säkularer, wenn nicht gar universalhistorischer Bedeutung ist. Die Nachbarschafts-Fußgängerstraße __ Bei der Nachbarschafts-Fußgängerstraße handelt es sich um eine ‹inverse›, von außen nach innen gewanderte Version der zuvor beschriebenen kommerziellen Blockrandzeile. Münch sieht in ihr darum auch ein Beispiel für die Integration des städtischen Raums in die geschlossene Nachbarschaft (Münch 2004, 45). Die blockrandständige Bebauung wird hier gleichsam nach innen, in die Nachbarschaft hineingezogen. Man kann die Nachbarschafts-Fußgängerstraße auch als eine für kommerzielle Zwecke ausformulierte Variante der fußläufigen Innenerschließung des Wohnquartiers definieren. Auf jeden Fall verbindet diese eigentümliche Fußgängerzone charakteristische Elemente der Blockrandzeile und der Wohnbebauung miteinander. __ Von der Blockrandzeile stammen beispielsweise die in einer homogenen Architektursprache verpackten Läden, Lokale und Werkstätten, dazu die orientierungsfreie Ausrichtung und die Funktion der Abriegelung des Quartiers vom offenen Stadtraum. Vom Wohnquartier hingegen stammen die gefällig gestaltete, mäandernde, von den Vorgaben des orthogonalen ‹öffentlichen› Straßennetzes befreite Form und die sich als Sackgasse artikulierende Introversion. Durch den Bezug auf die Raumelemente der Nachbarschaft verwandelt sich die Fußgängerzone in ein Element introverser Raumgestaltung. __ Die Nachbarschafts-Fußgängerzone ist immer zur übergeordneten Stadtstraße hin erschlossen. Sie ist öffentlich zugänglich, nutzbar und lockt die Kunden mit den gleichen Mitteln wie andere Einkaufzeilen und Fußgängerzonen. Ihr öffentlicher Charakter wird andererseits konterkariert durch eine gewisse Intimität, die nicht allein auf das Anschmiegen an das Quartiersdesign zurückzuführen ist. Sie wird auch durch das spezifisch nachbarschaftliche Sortiment der Läden (Drogeriemarkt, Kinderbekleidung und Spielzeug, Sportartikel, Restaurant, Mobiltelefon-Bedarf, Back- und Süßwaren und so weiter), durch die üppige Ausstattung mit Straßen- und Platzmöbeln, aber auch durch quartiersbezogene Freizeitinfrastruktur (Tischtennisräume, Musikübungsräume und anderes) unterstrichen. Die Nachbarschafs-Fußgängerzone wird dadurch zur Sphinx, die in beide Richtungen zugleich blickt: nach außen in die offene Stadt und nach innen, zur introvertierten Nachbarschaft.

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Nachbarschafts-Fußgängerstraße in Pudong, Shanghai

Ob diese Form der nachbarschaftsorientierten Einkaufsinfrastruktur funktioniert, ob sie auch für Kunden anderer Wohnquartiere attraktiv ist, kann in Ermangelung entsprechender Studien hier nicht beurteilt werden. Meine gelegentlichen Besuche dieser Orte zeigten ein eher tristes Bild, was allerdings nicht viel bedeutet, denn punktuelle Besuche gestatten auch nur punktuelle Eindrücke. __ Die Nähe zu den Wohngebäuden, der Mangel an Platz und die Entfernung von den Frequenzströmen der übergeordneten Straßen und Einkaufszentren setzen dem Bau von Attraktoren (etwa von Kaufhäusern) in den introversen Fußgängerstraßen enge Grenzen. Sollte es schwierig sein, überörtliche Kundschaft in diese Einkaufsstraßen zu locken, dann sind die Gründe sicher in diesen Restriktionen zu suchen. Andererseits sollte man davon ausgehen, dass sich aufgrund der hohen Kundenzahl, welche die ‹compounds› selbst generieren, eine bestimmte Anzahl kleiner Geschäfte erfolgreich etablieren könnte. Nachbarschafts- und Gemeindezentren

__ Als eine übergeordnete Variante dieser Form der Nachbarschafts-Fußgängerzone

entdeckt man bei neuesten Siedlungsprojekten inzwischen auch die räumliche Verknüpfung großer vertikaler Nachbarschaftsquartiere mit Gemeindezentren, das heißt mit der den Nahversorgungszeilen übergeordneten Einzelhandelsstruktur. Durch die Verbindung von Nahversorgung mit der Versorgung auf Gemeindeebene soll der Lage der betroffenen Nachbarschaft offenbar ein Schub in das Premiumsegment gegeben werden. Denn ein Gemeindezentrum (Nachbarschaftszentrum) kann es nur in der Nachbarschaft weniger ‹compounds› geben. __ Die Gemeindezentren sind so organisiert, dass sich um einen offenen und/oder geschlossenen Platz zahlreiche kleinere Geschäfte, Boutiquen, Friseursalons, Bankfilialen, Restaurants und Cafés gruppieren. Als Attraktoren fungieren in der Regel Hypermärkte, hin und wieder ergänzt durch das eine oder andere Kaufhaus oder Mega-Restaurant. Die Attraktoren locken die Kundschaft aus den umliegenden Großsiedlungen an und unterstützen auf diese Weise die bescheideneren Ambitionen des Kleingewerbes, insbesondere des kleinen Einzelhandels. __ Stadtplanerischen Vorschriften zufolge muss in den neuen suburbanen Entwicklungsgebieten chinesischer Großstädte jeweils eine Gruppe von Nachbarschaften (Gemeinde) ein oberhalb der dezentralen Einkaufszeilen angesiedeltes Einkaufs- und Dienst­­leistungszentrum besitzen. Zwei Typen lassen sich hier identifizieren, die sich

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nach Größe, Zahl der Geschäfte, Vielfalt der Angebote und Mischung der Funktionen unterscheiden: das kleinere Nachbarschaftszentrum und das größere Gemeindezentrum. Das Gemeindezentrum selbst wird überboten durch das Distriktzentrum, das aufgrund seiner Größe und Formenvielfalt in der Regel den Kern eines vorhandenen oder eines neu zu bildenden Stadtzentrums beziehungsweise Subzentrums bildet. __ Nachbarschafts- bzw. Gemeindezentren finden sich in der Regel an den Kreuzungen übergeordneter Erschließungsstraßen. Ihren Mittelpunkt bildet ein häufig amerikanisierend als ‹Mall› bezeichnetes Einkaufszentrum mit großem Supermarkt (Hypermarkt – in Shanghai oft unter Beteiligung der britischen Supermarktkette Tesco oder des französischen Einzelhändlers Carrefour), garniert mit zahlreichen kleinen Spezialgeschäften, Dienstleistungseinrichtungen und vor allem mit chinesischen Fast-Food-Restaurants. Parkmöglichkeiten gibt es wenige, gelegentlich sogar keine. Stattdessen bietet der Hypermarkt in der Regel einen eigenen Bus-Shuttle-Service an, dazu einen vergleichsweise gut entwickelten Lieferservice. Das Nachbarschaftszentrum reflektiert insofern die gegenwärtig immer noch relativ niedrige chinesische Automobilisierung. Es ist davon auszugehen, dass sich dieser Zustand rasch ändern wird und entweder ein Parkplatz­ angebot realisiert wird oder bestehende Kapazitäten ausgebaut werden. Der Trend geht zum Einkaufen mit dem Auto – ganz so wie im suburbanen Westen. __ Nachbarschaftszentren bieten häufig auch räumliche Anknüpfungspunkte für kommerzielle Blockrandzeilen angrenzender Wohngebiete. Durch die Ansammlung von Geschäften aller Art entsteht eine gewisse Mischung und Lebhaftigkeit. Diese wird noch deutlich gesteigert durch öffentliche Einrichtungen, insbesondere Kindergärten und Schulen. Gleiches gilt für die informellen Geschäfte der Bauern, die Obst und Gemüse feilbieten, oder für die kleinen, oft winzigen Garküchen, Grillöfen und Pfannkuchenbäckereien von Arbeitsmigranten. Die Agglomerationswirkungen der Nachbarschafts­ zentren sind unbestreitbar. __ Basis dieser Zentrenbildung sind stadtplanerische Entscheidungen, die sich in der Regel mit den Interessen der Investoren und Entwickler an einer guten Vermarktung von Wohnraum decken. Entsprechende Vereinbarungen werden frühzeitig getroffen. Räumlicher Ausgangspunkt sind nicht selten repräsentative Gebäude, die aufgrund ihrer aufwendigen Gartenanlagen typologisch eher an öffentliche Gebäude erinnern. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Verkaufspavillons lokaler Grundstücksentwickler, die sich aus Gründen besserer Vermarktung mit einem großzügigen Ambiente umgeben. Die Räume im Parterre wirken häufig wie Lobbys von Luxushotels. Man sieht Informationsstände,

NachbarschaftsEinkaufszentrum in Pudong, Shanghai

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Sitzgruppen für Vertragsgespräche, emsig tätige Hostessen, seriös gekleidete Maklerinnen und Makler – das Ganze umgeben von üppigen Ausstellungsflächen für Modelle der zu vermarktenden Compounds in verschiedenen Maßstäben. In den oberen Stockwerken dieser Gebäude finden sich hin und wieder sogar Restaurants für gehobene Ansprüche. Nach Abschluss der Wohnungsvermarktung verwandeln sich die Verkaufsgebäude meist vollständig und endgültig in charakteristische chinesische Megarestaurants. __ Kennzeichnend für Gemeindezentren ist das ergänzende Angebot von Produkten für den nicht-alltäglichen Bedarf. So finden sich neben den Super- bzw. Hypermärkten, Läden und Restaurants auch Kinos, Schönheitssalons, Hotels, Fitnessstudios, Spezialitätengeschäfte, Luxusrestaurants etc. Vorbild dieser Gemeindezentren sind wieder einmal amerikanische Malls, weshalb nicht zufällig viele der chinesischen Nachahmungen das Wort ‹mall› im Namen tragen. __ Für die Lage der Gemeindezentren ist die Erreichbarkeit ein entscheidendes Kriterium. In einem Land mit immer noch vergleichbar geringer Automobildichte folgt daraus, dass ein u-Bahnhof in der Nähe sein sollte, eine Kreuzung übergeordneter Straßen, ein großer Taxihalteplatz, ein Knoten für Busse aus allen Himmelsrichtungen. Es ist daher kein Zufall, dass gerade an Umsteigebahnhöfen der Untergrundbahn beziehungs­weise der Stadtbahn die größten Shoppingzentren zu finden sind. Oft suchen Gemeinde­zentren auch die Nähe von Ausstellungsflächen oder Messehallen, von öffentlichen Einrichtungen (Museen, Kunsthäuser), von großen internationalen Hotels oder von Fachbeziehungsweise Großhandelsmärkten. Nicht selten ziehen vorhandene Funktionen weitere Funktionen an, ein Effekt, der durch den hohen Verriegelungsgrad des umgebenden Stadtraumes verstärkt wird. Durch einen u-Bahnhof verwandeln sich diese Orte in Stadtteiltore, die die Einwohner anziehen. Solche Plätze sind gleichermaßen attraktiv für Taxis und für den kleinen informellen Handel. __ Ein gutes Beispiel für ein Gemeindezentrum der gehobenen Art ist der ‹Große Daumen› an der Fangdian Lu in Shanghai, inmitten der ausgedehnten Wohngebiete nördlich des Jahrhundertparks in Pudong. Hier hat man versucht, nach dem Vorbild des offenen amerikanischen Community-Centers einen veritablen Stadtplatz zu schaffen, einen offenen zivilgesellschaftlichen Raum. Das Einkaufszentrum nimmt einen ganzen Block ein. Der mittig angeordnete Platz ist für den Autoverkehr unzugänglich. Er öffnet sich zu einem lebhaft frequentierten Taxistand an der Fangdian Lu und bietet Durchgänge nach Norden zu einer mit Kopfsteinen gepflasterten Lieferanten- und Parkverkehrs-Straße, nach Osten zu einer weiteren Erschließungsstraße. Ein u-Bahnhof in unmittelbarer Nähe fehlt allerdings. Dieses Defizit wird durch die große Siedlungsdichte der angrenzenden Nachbarschaften und durch eine ungewöhnlich große Tiefgarage ausgeglichen. __ Es ist interessant zu sehen, dass sich um den Hauptplatz vor allem westliche Anbieter gruppieren, deutlich identifizierbar durch die entsprechenden Markenembleme. Allen voran am ‹Big Thumb› das sich selbst als ‹Hypermarkt› ankündigende Carrefour, dazu ein Starbucks Café, Pizza Hut, zwei kleinere Bäckereien, die französische Brot- und Backwaren anbieten. In den Seitenarmen des Einkaufszentrums konzentrieren sich viele Restaurants: japanische, koreanische und chinesische. Hinzu kommen Boutiquen, Schönheitssalons, Drogeriemärkte – und eine Bücherei mit dem Namen ‹Heidegger Books›. __ Wenn gesagt wurde, man versuche Stadtplätze nach dem Vorbild des offenen amerikanischen Community Centers einzurichten, dann weil man solchen Zentren an allen Ecken und Enden die Unbeholfenheit in der Produktion und im Konsum eines solchen

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Ortes anmerkt. So gibt es am ‹Großen Daumen› nur ein Ankergeschäft, das Carrefour, mit der Konsequenz, dass die Besucherfrequenz in den Seitenarmen der Mall teilweise drastisch absinkt, wenn nicht regelrecht abbricht. __ Der Platz selbst ist großzügig mit einigen langen Bänken ausgestattet, die zum Sitzen und Verweilen einladen. Wer lange genug sitzen bleibt, kann bei Starbucks Müßiggänger, Zeitungsleser und diskutierende Gruppen beobachten, die in der Regel Kaffee trinken und alle irgendwie westlich aussehen, wenngleich nicht wie Touristen. Die chinesischen Kaffeehaus-Besucher hantieren demgegenüber ständig an ihren Mobiltelefonen, blicken auf die Bildschirme ihrer Laptops, reden geschäftlich-konzentriert, machen Notizen und nippen hin und wieder an Fruchtsäften, Tees, Eiskreationen oder Schokoladengetränken. Für die sie umgebende Betriebsamkeit haben sie wenig Aufmerksamkeit. Müßiggang, Flaneurshaltung, öffentliche Kommunikation scheinen vorerst noch eher westliche Verhaltensweisen. Überraschen kann dies nicht; denn wie wir inzwischen wissen, existiert in China keine Tradition des öffentlichen Raums, daher auch keine Tradition des urbanen Konsums solcher Räume und des zivilgesellschaft­ lichen, öffentlichen Gesprächs. Wer im Kaffeehaus eine chinesische Zeitung liest, nimmt überwiegend gefilterte Informationen und verordnete Meinungen entgegen. Debatten darüber erübrigen sich in der Regel. Die dem chinesischen Volk bisher zugestandenen Freiheiten beschränken sich weitgehend auf das wirtschaftliche Handeln – und diese werden exzessiv genutzt. __ Abends geht es auf dem vorderen Platz des ‹Großen Daumens› zu wie auf dem Münchner Christkindlmarkt: Teile des Platzes werden abgesperrt, um Kindern Unterricht im Inline-Skating zu erteilen, selbstverständlich eine kommerzielle Aktion, bei der es vor allem um den Verkauf von Skatern geht. Daneben fahren ein paar blankpolierte Autos mit Hochzeits-Blumenschmuck vor, und ein paar Männer und Frauen, gekleidet wie Models, steigen aus. Autowerbung ist angesagt. Doch entfernt man sich von diesem Geschehen im vorderen Platzteil nur wenige Schritte nach hinten, findet man sich plötzlich allein im Finstern. Die asiatischen Restaurants leeren sich spätestens um 21 Uhr. Wenn sie ihre Lichter ausschalten, wird man plötzlich gewahr, dass es hier eine öffentliche Beleuchtung nur in rudimentärem Umfang gibt.

Gemeinde-Einkaufszentrum ‹Großer Daumen› in Pudong, Shanghai

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Ein Gemeindezentrum ganz anderer Art befindet sich südlich des Jahrhundert-Parks an der Longyang-Straße, direkt am stadtseitigen Haltepunkt des mit dem internationalen Flughafen Pudong verbundenen Maglev, jener von Thyssen-Siemens entwickelten Magnetschwebebahn, die bis heute immer noch als Versuchsbahn deklariert wird. Hier, am Endpunkt im Nirgendwo überwiegend neuer Nachbarschaftsquartiere, haben insbesondere deutsche Handelsunternehmen versucht, Akzente zu setzen; so etwa das Großhandelsunternehmen Metro oder der Fachmarkt Obi, der sein Engagement inzwischen allerdings aufgeben musste und an die britische  b & q  verkaufte. __ An dieser Stelle haben sich nicht nur zahlreiche Einzelhändler für die lokale Versorgung etabliert, sondern auch übergeordnete, auf die ganze Stadt als Einzugsbereich orientierte Unternehmen und Dienste ließen sich nieder. Dazu zählt auch das Shanghaier Messegelände, vom Flächenangebot her eines der größten weltweit. Das Gemeindezentrum an der Longyang-Straße hat das Potential zu einem übergeordneten Distriktzentrum. Doch fehlt dazu noch ein hoch integriertes, kleinteilig organisiertes Einkaufszentrum. Die endgültige Bestimmung des Ortes ist noch nicht abgeschlossen. Gegenwärtig erscheint es mit seiner dispers wirkenden, wenig urbane Qualitäten aufweisenden Struktur als Baustelle für ein Distriktzentrum. Die ‹Marketender› des Städtewachstums

__ Eine ganz besondere Form der Einkaufsmeile oder Einkaufszeile für suburbane

Nachbarschaften der Mittelschicht bieten schließlich dörfliche Siedlungsgebilde, die nach Maßstab, Größe, Materialität, Bausubstanz und räumlicher Anmutung gar nicht zu ihrer nagelneuen Umgebung passen wollen. Diese in der Regel ärmlich anmutenden ‹Dörfer›, die den sich rasant ausbreitenden Städten im wahrsten Sinne des Wortes im Wege stehen, bilden händlerische und gewerbliche Strukturen aus, die sich befristet auf den Bedarf der neuen Siedlungen spezialisieren. Auf diese Weise sichern sie ihren ‹ländlichen› Bewohnern zumindest für eine Weile ein Auskommen. Zwei Siedlungstypen lassen sich unterscheiden: __ Zum einen handelt es sich um Dörfer, die in Reichweite der wuchernden Metropolen geraten und von diesen umschlossen werden. Wie noch ausführlich am Beispiel der Dörfer von Shenzhen gezeigt wird (Kapitel  7), können diese Dörfer eine erstaunliche soziokulturelle Anpassungsfähigkeit an ihre neue Umgebung entwickeln. Da jedoch nicht überall in China die gleichen stabilisierenden Voraussetzungen gegeben sind wie in Shenzhen (zum Beispiel das Fortbestehen der kollektiven Landnutzungsrechte für den gesamten Immobilienbestand des Dorfes), handelt es sich bei den hier zu betrachtenden ‹Dörfern› meist um Siedlungen auf Abruf. __ Ihre Bewohner werden, nachdem ihr Land, ihre Gärten und Äcker zu Bauland gewidmet wurden, zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert und für den Verlust von Wohnung und agrarischer Lebensgrundlage entschädigt. Es kommt freilich auch vor, dass Bauern, die über Landnutzungsrechte verfügen, diese für viel Geld verkaufen können und auf diese Weise zu erheblichem Reichtum gelangen. Die Dörfer entleeren sich allmählich, werden Stück für Stück abgerissen – oft bis auf eine oder zwei Gebäudezeilen an der Haupterschließungsstraße. Diese kann dann für eine mehr oder minder lange Zeit die Funktion einer lokalen Einkaufsstraße übernehmen, eines Nahversorgungszentrums mit dörflicher Anmutung: kleinteilig, äußerst vielfältig, bunt gemischt, mit einem städte­baulichen Maßstab, der sich großer Beliebtheit erfreut. Nicht von ungefähr

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locken diese lebendigen Straßenzüge nicht nur Obst- und Gemüsehändler an, Fleischund Fischgeschäfte, kleine ‹Supermärkte›, Gemischtwaren- und Kramläden aller Art, dazu kleine Textilgeschäfte, sondern auch Restaurants, Blumenläden, Mobilfunkanbieter, Bankfilialen, Reparatur- und Handwerkerstuben aller Art. __ Zum Zweiten haben wir es mit informellen Siedlungen zu tun, die von Arbeitsmigranten im ‹Kielwasser› der in die Landschaft vordringenden Neubaugebiete errichtet werden. Wie einst Marketender die Truppen auf ihren Kriegszügen begleiteten, folgen diese Siedlungen den Baukränen und Mörtelwagen, Polieren und Bauarbeitern. Errichtet werden die Hütten und Baracken vorzugsweise an den großen Erschließungsstraßen. Hier stellen sie ihre Auslagen in den Blick der vorbeifahrenden Bauleute und Neusiedler. Dabei entstehen, aller ärmlichen Anmutung zum Trotz, nicht selten hoch spezialisierte Einkaufszeilen, die in der Lage sind, flexibel auf den mannigfaltigen Bedarf der gewaltigen Neubauaktivitäten zu reagieren. __ Die Existenzgrundlage dieses ‹Dorftypus› ist nicht agrarisch, sondern händlerisch und handwerklich. Präziser noch: Die Bewohner dieser informellen Siedlungen bieten Nischenprodukte und Dienstleistungen für die um sie herum sich ausbreitenden Neubaugebiete an. Feilgeboten werden Lackfarben, Nägel, Schrauben, Türschilder, Steine, Fliesen, Zement, Blumentöpfe, Besen und viele andere Utensilien, für die sich eine Nachfrage an diesem Ort erwarten lässt. Dieser Bedarf wird insbesondere durch die aufwendigen Dekorationsarbeiten generiert, die vor dem Bezug einer Neubauwohnung fällig werden. Denn Wohnungen in Neubaugebieten werden bisher in der Regel im Rohzustand verkauft, und es obliegt daher dem Erstbezieher, die erworbene Wohnung auch bewohnbar zu machen – und, seinem Geschmack entsprechend, mit Stuck, Wandvertäfelungen, Trockenbauapplikationen aller Art und Beleuchtungsausstattungen zu dekorieren. Dabei werden keine Mühen und Kosten gescheut. __ Auf die hierbei entstehende Nachfrage nach Putzmaterial, Dekor-Utensilien, Verkabelungen, Beleuchtungskörpern, Badausstattungen, Kli­ma­anlagen und so weiter sind die Bewohner der Marketendersiedlungen bestens vorbereitet. Neben den Läden, die alles Erforderliche anbieten, entstehen Handwerksläden, die Schweißarbeiten, Zuschnitte von Glas, Maßanfertigungen von Fenstergittern, Reparaturen kleiner Maschinen und Geräte und vieles mehr anbieten. Sie profitieren dabei von der Nähe zu den Kunden. Nicht selten gesellt sich auch noch der eine oder andere Lebensmittelhändler zu diesen, auf den Nischenbedarf von im Bau befindlichen Mittelklassewohnquartieren spezialisierten, gewerblichen Dörfern. __ Bemerkenswert an diesen kleinen informellen Siedlungen ist jedoch nicht nur ihre symbiotische Beziehung zu den Neubaugebieten, sondern fast mehr noch die räumliche Offenheit ihrer Wohngebäude. Vermutlich zählen sie heute zu den wenigen Wohnquartieren der boomenden Großstädte, die überhaupt noch im Sinne der Wohnfunktion räumlich offen sind. Diese ‹Offenheit› reflektiert freilich nicht nur den kommerziellen Grund ihrer Existenz, sondern vor allem den Tatbestand, dass offenes Wohnen sich im heutigen China auf Informalität und bäuerliche beziehungsweise ländliche Armut reimt. Im Blickwinkel des gründerzeitlichen Mainstreams sind die kleinen Dörfer, die wie der Karren von Brechts Mutter Courage den Landnahmen der Developer folgen, nur Teil des leeren Raums. Ihre Legitimität beziehen sie ausschließlich aus ihrer kommerziellen Funktion. Sie existieren, weil sie ein willkommenes Schmiermittel des Städtewachstums sind, mehr nicht.

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Blick durch ein Nachbarschaftstor auf eine ‹Marketenderzeile› in Pudong, Shanghai

Die Leute, die hier wohnen, kommen aus dem immer noch armen Hinterland. Sie sind Arbeitsmigranten. Sie können sich das Leben in einer abgeschlossenen Nachbarschaft nicht leisten. Und weil sie das nicht können, erhalten sie auch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung (hukou), sondern bleiben im Sprachgebrauch des städtischen Meldesystems Landbewohner. Sie müssen mit einem Leben im Residualraum der Stadt vorlieb nehmen. Dass ihnen dies gestattet wird, zeigt nur, dass sie gebraucht werden. __ Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass so manche Familie, die sich in diesen Marketendersiedlungen engagiert, ein Einkommen realisiert, das nach einigen Jahren den Erwerb einer Wohnung ermöglicht und damit, nach den Regeln des HukouMelderechts, auch den Erwerb des chinesischen Stadtbürgerrechtes. Die temporären mobilen ‹Dörfer› sind durchaus in der Lage, den konfuzianischen Traum vom Wohlstand der Familie wachzuhalten und diesen sogar in Erfüllung gehen zu lassen. Für die Dauer der chinesischen Gründerzeit werden sie eine Begleiterscheinung der Urbanisierung des Landes bleiben. __ Von den hier beschriebenen ‹Neubaugebietsdörfern› oder ‹Marketendersiedlungen› sind die von John Friedmann gewürdigten ‹ethnischen Enklaven› beziehungsweise ‹Migrantendörfer› zu unterscheiden (Friedmann 2005, 57ff). Diese ‹Dörfer› sind dauer­ haft und finden sich in allen Megastädten Chinas. Dabei handelt es sich um zumeist informelle Siedlungen von Menschen aus denselben Regionen, gelegentlich sogar um miteinander verwandte Einwohner eines Dorfes. Diese Clanmitglieder haben sich kollektiv entschlossen, ihrem Dorf den Rücken zu kehren, um in einer Großstadt des prosperierenden Ostchina ihr Glück zu versuchen. Insofern gleichen diese ‹Dörfer› auch ein wenig den überseeischen ‹Chinatowns›, die nicht nur Arbeitsmigranten allgemein, sondern eben sehr oft auch Familienverbänden bestimmter Dörfer, Städte und Regionen ein Zuhause in der Fremde bieten. «Ethnic enclaves are called ‹villages› (cun) and some are preceded by the name of the province from which migrants come. Thus Beijing has its Henancun, Anhuicun, Xinjiangcun, Zhejiangcun, and so forth, whose inhabitants think of themselves as tongxiang or compatriots (‹homies›) and stand ready to help and support each other [...]» (Friedmann 2005, 70).

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Mediapolis __ Dass die offenen Straßenräume angesichts des enormen Vorranges der nach innen

gerichteten Nutzungen nicht völlig verkommen, ja oft sogar ein ungemein lebhaftes, buntes und von vielen als attraktiv empfundenes Stadtleben zeigen, ist den Eigenarten des Einzelhandels mit seinem unablässigen Buhlen um die Aufmerksamkeit der Kunden und mit seinem damit einhergehenden Hang zum Zirzensischen zu verdanken. Um diese Wirkung des Handels auf den Stadtraum besser einordnen zu können, gehen wir zunächst einen kleinen Schritt zurück. __ In der chinesischen Stadt sind die straßenseitigen Gebäudefassaden im Prinzip bedeutungslos. Entsprechend ‹gesichtslos› wenden sie sich in der Regel dem Straßenraum zu. Einen Fassadenkult, das heißt ein Zusammenspiel von dekorativen Fassaden und dem auf diese Weise inszenierten Straßenraum, hat es hier nie gegeben. Ganz anders in Europa, wo dieses auf die Evolution einer demokratisch verfassten und sich individualisierenden Bürgergesellschaft verweisende Zusammenspiel für die urbane Ästhetik konstitutiv ist. In der altbürgerlichen Gesellschaft war es selbstverständlich und meist durch Gestaltungssatzungen oder vergleichbare Verordnungen vorgeschrieben, dass Parzelleneigentümer, die ein neues Haus an einer wichtigen Erschließungsstraße für das Stadtzentrum errichten, der Öffentlichkeit ein ‹Geschenk› in Gestalt einer passenden Schmuckfassade zu entrichten haben. War der Rat mit dem Ergebnis nicht einverstanden, konnten Fristen für Verbesserungen gesetzt oder andere Sanktionen erlassen werden. Die schöne Fassade war Bürgerpflicht – und Ausdruck des Bürgerstolzes. __ In der Nichtbeachtung des ästhetischen Potentials der Fassade und überhaupt in dem geringen Interesse, das dem Straßenbild in China entgegengebracht wird, artikuliert sich eine historisch überkommene Indifferenz gegenüber dem öffentlichen Stadtraum. Denn in geschichtlicher Perspektive fehlt es in China an etwas, das einer Bürger­ gesellschaft vergleichbar wäre, das heißt an einer kulturellen Referenz für die ästhetische Aufwertung des offenen Stadtraums mittels Fassadenkunst zur öffentlichen Stadtbühne. __ Zwar gibt es Abgrenzungen der Gebäude zur Straße hin, seit Beginn des 20. Jahrhunderts sogar deutlich artikulierte Blockrandbebauungen. Doch haben diese vor allem etwas mit raumfunktionalen Praktiken (etwa Nahversorgung) zu tun und mit den Imperativen der Bodenbewirtschaftung, nichts jedoch mit der Inszenierung von öffent­lichem Stadtraum. Wenn beispielsweise blockrandständige Einkaufszeilen eine dahinterliegende Wohnsiedlung vor dem Lärm, Staub und den unsichtbaren Emissionen der Straße

Altbürgerliche Extraversion: Fassaden in Mühlhausen, Thüringen

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Mit Werbebotschaften verhangene Fassade, Shanghai

schützen, dann ist dies im Sinne der Funktionalität der Stadtstraße (als Zusammenhang von Verkehrsraum und rahmender Bebauung) aus mehreren Gründen eine sinnvolle Struktur: aus Gründen der Nahversorgung, des Emissionsschutzes und der Einhegung der Wohnquartiere. __ Mit einer kulturell artikulierten Form der Beziehung von Straße und Blockrand, die die Stadtstraße als Bühne des öffentlichen Lebens sieht, hat dieser Zusammenhang in China jedoch nichts zu tun. Entsprechend uneinheitlich, zerrissen, fragmentarisch und transitorisch wirkt der Raum der Straßen und Plätze daher oft auf europäische Besucher. Und umgekehrt: Das Fassadenspiel alter europäischer Städte wird von sehr vielen Chinesen auch gegenwärtig noch als Exotik, und damit als mögliches Distinktionsmittel, als eine Ressource für das ‹compound-branding› beispielsweise, wahrgenommen. Mit entsprechend großer Be­geisterung wird es daher in allen erdenklichen Formen konsumiert: von der freien Nachbildung in Themenparks über die anspruchsvolle Transposition bis hin zur gnadenlosen Kopie.66 __ Wenn gleichwohl unzählige Einkaufsstraßen (in China ist nahezu jede innerstädtische Straße eine Einkaufsstraße) als ausgesprochen lebendig, pulsierend, dynamisch und gelegentlich in einem orientalischen Sinne auch als pittoresk empfunden werden, dann müssen die Gründe woanders zu suchen sein als in einem rahmenden, den öffentlichen Straßenraum theatralisierenden Spiel von Fassaden. Die Gründe liegen, wie unschwer herauszufinden ist, in dem nachgerade zügellosen Gebrauch von Bildern, Zeichen und Symbolen, mittels derer unzählige kleine, mittlere und große Geschäfte, Werkstätten und Dienstleistungseinrichtungen die Aufmerksamkeit der vorübereilenden Verkehrsteilnehmer auf sich zu ziehen versuchen. Und wenn in den Haupteinkaufsstraßen (etwa die Nanjing Lu, oder die Huaihai Lu in Shanghai) die Gebäudefronten als Werbeflächen nicht ausreichen, werden diese mit überdimensionalen Bildschirmen einfach zugehängt oder es werden, wie das Beispiel Huaihai Lu zeigt, etwa alle 50 Meter fest verankerte doppelseitige Videobildschirme an der Straßenkante aufgestellt. Auf diese Weise entstehen überbordend bunte Bühnenbilder, hier und da auch an Tumult, Chaos und Ekstase grenzende Raumanimationen. __ Vor den Tanz der Bilder und Zeichen schiebt sich in den weniger betuchten Bezirken das kaum weniger vielfältige Schauspiel städtischen Lebens – jene im westlichen Auge abenteuerlich anmutende Mischung aus Reparaturwerkstätten, Garküchen, Obstläden,

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Frisiersalons, Zeitschriftenständen und davor auf Obstkisten und wackeligen Hockern oft ältere, gelegentlich auch jüngere Frauen und Männer, die schwatzen, spielen, arbeiten. Es sind allein schon diese Szenen aus dem Alltagsleben einer immer noch zwischen Bettelarmut und funkelndem Reichtum ihren Weg suchenden Nation, die die chinesische Stadtstraße zur vitalen urbanen Bühne macht, und dies selbst dann, wenn ihr rahmender Hintergrund nichts anderes als puren Funktionalismus zur Anschauung bringt. __ Insbesondere nachts offenbart sich das zirzensische Wesen des Handels. Wenn die Lichterketten und Leuchtreklamen, die Scheinwerfer und Vitrinenbeleuchtungen angeschaltet werden, entfalten selbst die tagsüber als chaotisch, gelegentlich sogar als heruntergekommen empfundenen Gehwege und Gebäudefassaden einen magischbunten Zauber, wie ihn so offenbar nur Ostasiaten zustande bringen. Es entstehen dann Straßen- und Platzrahmungen, die wir als Licht- beziehungsweise als Medienfassaden erleben. __ So kommt die Fassade unversehens vermittels der Medien der Reklame und des Lichts doch noch zu ihrem Auftritt – dem chinesischen Hang zu bunter, glitzernder und durchaus auch bedeutungsgeladener Vielfalt sei Dank. Die moderne innerstädtische Blockrandbebauung bietet anstatt dekorativer steinerner Fassaden Bühnenbilder aus Werbebotschaften, Bildern, Piktogrammen, Schriftzeichen, Figuren, Leuchtkörpern, Videoschirmen und Tand aller Art. Diese Wände wirken wie animierte Collagen, kunterbunte Webseiten oder bunt flimmernde Fernsehbildschirme. __ Im Laboratorium der dynamischen Städte des heutigen China bildet sich ein neu­ artig­er Typus des offenen Stadtraums heraus, ein Raum, dessen Inszenierung statt durch Fassadendekorationen durch eine Art von medialer Haut erfolgt. Zwei Typen lassen sich dabei unterscheiden: eine ungeplante, spontan und zufällig entstandene, collagenartige Medienfassade und eine geplante, gezielt auf die mediale Wirkung hin produzierte oder vielmehr programmierte Variante. __ Beide Typen zeugen vom zügigen Vordringen kommerziell getriebener extraverser Praktiken. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Konsequenz, wenn man sich in China

Bildschirme in der Huai Hai Lu in Shanghai

Delirierende nächtliche Beleuchtung der Nanjing Lu in Shanghai

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Wolkenkratzerfassaden als Videobildschirme

inzwischen das öffentliche Inszenierungspotential der Wolkenkratzer zunutze macht – in Shanghai betrifft dies insbesondere die Türme Lujiazhuis, in Peking den neuen Central Business District an der Chang’an-Achse. So findet man Büroturm-Fassaden, die nachts als Videobildschirme genutzt werden, oder Hochhäuser aller Art, die sich nach Sonnenuntergang in gigantische Lichtskulpturen verwandeln und die Stadt­zentren in außerirdisch anmutende Fabelwelten verwandeln. Inzwischen geschieht dies in einer Größenordnung, die vergleichbare Lichtspektakel in New York oder Tokio in den sprichwörtlichen Schatten chinesischer Medienfassaden zu stellen droht. Besonders hervorgetreten ist in dieser Hinsicht Hongkong, das zur Zeit, als diese Zeilen geschrieben wurden, bei Eintritt der Dunkelheit die dem Meer zugewandten Außenhäute von ca. 30 Wolkenkratzern in Videoschirme umfunktioniert – eine Touristenattraktion, die ihre Wirkung nicht verfehlt und dem Image des New Yorker Times Square zusetzen würde. __ In China bildet sich die generische Mediastadt von morgen. Dieser Befund wird noch durch eine weitere Beobachtung gestützt. Gemeint ist hier die Grundfigur und -ausstattung der großstädtischen Haupt- und Ausfallstraßen. Mit ihren acht bis zwölf und mehr Fahrspuren, ihren grünen Begrenzungsstreifen, strauch- und baumbestandenen Randstreifen, die des Nachts zudem mit bunten Strahlern zum Leuchten gebracht werden, ihren zusätzlichen Fahrstreifen für Mopeds und Fahrräder, ihren Busspuren und Parkbuchten, dann ihrem flankierenden Bestand an vertikalen Gebäuden, an Wolkenkratzern aus Glas, spektakulären öffentlichen Gebäuden hinter gewaltigen Skulpturen aus poliertem Stahl oder Marmor und ihren schmiedeeisernen Lanzettstangen-Zäunen vor Siedlungen aus Wohnhochhäusern usw. wirken sie wie

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erhabene städtische Landschaften, die bildmächtig direkt aus der Zukunft auf die Gegenwart treffen. __ Natürlich reflektieren diese Boulevards zunächst die Mobilitätswünsche der globalisierten Groß- und Megastädte von heute. Damit nicht genug: Medienfassaden vergleichbar, verwandelt sich der Funktionsraum Straße durch die in seiner imposanten Anlage verräumlichten Bildbotschaften, Bildvisionen und erträumten Zukunftswelten in einen Medienraum von beachtlicher Ausdruckskraft. Der Nicht-Ort ‹Straße› wird auf diese Weise mit Bedeutung aufgeladen. Der formale Charakter des öffentlichen Straßenraums wird zwar nicht transzendiert, doch er wird durch die beschriebene Inszenierung zur Bühne eines selbstbewussten Aktes spektakulärer Zukunftserwartung. Als zivilgesellschaftlicher öffentlicher Raum völlig wertlos, kündigt er zugleich von den hochgesteckten Ambitionen einer Weltmacht. __ Die große Straße, wie wir sie hier nennen möchten, ist kein Boulevard, auch keine Kopie desselben. Sie ist eine Verwandte des Tian An Men, des erhabenen Platzes, der Bühne von Massenornamentierungen. Als Botschafterin der Mediapolis ist sie den Stadtoberen ebenso wichtig wie der große Platz. So wichtig, dass für ihre Erbauung die Zerstörung ganzer Stadtquartiere, sogar von Innenstädten, billigend in Kauf genommen wird. __ Ein Beispiel dafür liefert die Stadt Changsha in der Provinz Hunan, Ort einer der ältesten, zum großen Teil baulich erhaltenen und von dem Architekten Liu Su von der Hunan-Universität hervorragend restaurierten konfuzianischen Schulen. In dieser Stadt wurde, dem Leitbild des sich in der großen Straße spiegelnden, erhabenen ‹Große Straße› in Shenyang

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Chinas folgend, die kleinteilige Textur der multifunktionalen, von offenen Wohnquartieren durchdrungenen Innenstadt durch überdimensionale Straßenbauten fast vollständig zerstört. __ Zwar wird zu Recht darauf verwiesen, dass die Innenstadt als Folge japanischer Bombardements im Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig abgebrannt sei und in Zeiten vor der Öffnung für einen hochwertigen Wiederaufbau die Mittel fehlten. Doch können diese Fakten nicht als Entschuldigung für die gegenwärtige Form städtebaulicher Praxis herhalten, in der die Innenstadt vorrangig als Reservefläche für den maßstabslosen Bau großer Straßen beansprucht wird. Die gegenwärtigen Interventionen erinnern ein wenig an den westdeutschen Wiederaufbau der zerbombten Städte im Dienste einer funktionalistischen Modernisierung, die die historischen Zentren vieler deutscher Städte nachhaltig ruinierte. Nun liegt Changsha allerdings im Süden Chinas, im subtropischen Klimabereich. Die Folge ist, dass sich die riesigen Asphaltflächen der vielspurigen Straßen enorm aufheizen und das Mikroklima in den verbliebenen Resten der kleinteiligen, funktionsgemischten Innenstadt schwer belasten. Mit einer nachhaltigen Stadtentwicklung haben diese Straßen wenig zu tun. __ Es drängt sich der Eindruck auf, dass ‹große Straße› und ‹erhabener Platz› nicht bloß die Raumansprüche von Millionen- und Megastädten reflektieren, sondern als petrifizierte Resultate von Visionen der Grandezza zu bewerten sind. Dabei wird auch vor konkurrenziellen Intentionen nicht Halt gemacht. Ein Beispiel liefert die ‹Century Avenue› genannte Hauptachse von Lujiazhui (Pudong), die ganz bewusst so geplant wurde, dass ihre Breite diejenige der Champs-Élysées übertrifft. (Arkaraprasertkul 2009) Das ist gelungen, doch scheitert die öffentliche Anmutung des Straßenraums an einem Mangel an Halt durch eine Randbebauung, die statt raumdefinierender Fassaden, wie in Paris, nur blanke Stirnseiten von Zeilenbauten, Abstandsflächen, überbreite Grünstreifen und isoliert stehende Solitärbauten aufweist. Wenn diese Zentralstraße dennoch zu beeindrucken vermag, dann durch Weitläufigkeit des Straßenraums in Verbindung mit dem Blick auf Gruppen vertikaler Wohnblocks und verstreute, zum Zentrum des Finanzdistrikts hin immer dichter zusammenrückende Wolkenkratzer.

Postmoderner Eklektizismus im Städtebau __ Ein Modell aus der Galerie des Stadtplanungsamtes von Harbin soll am Ende dieses

Kapitels über den offenen Stadtraum beispielhaft das Zusammenspiel von Grund- und Füllstruktur in einer Planung für die Neustadt von Harbin westlich des Songhua Jiang zeigen. __ Die Erschließungsstruktur ist insgesamt rasterförmig und erinnert an den ‹grid›, der in den Vereinigten Staaten in seiner Zurückweisung jeglicher räumlichen Hierarchie Demokratie und Chancengleichheit konnotiert. In diesem Plan ist die Botschaft jedoch eine andere. Hier steht die Ikonografie der Macht im Vordergrund. So zeigt der mittlere Teil des Plans eine stark zentrierende barocke Achse mit einer hierarchisch strukturierten Folge repräsentativer Verwaltungsgebäude, an deren Ende in schloss­ artiger Pose ein Regierungsbau thront: das neue Rathaus von Harbin. __ Die Achse beginnt an einer Uferstraße, durchzieht eine aus rosettenartig angeordneten quadratischen Gärten komponierte Grünzone, dann einen runden Platz, der die mittlere Hierarchieebene besetzt – um schließlich in einen ebenfalls runden ‹erhabenen

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Barocker Grundriss des neuen Quartiers der Stadtregierung von Harbin

Modell des Gemeindezentrums von Shenzhen

Platz› einzumünden, der von einer ‹großen Straße› durchzogen wird. Über die Straße streckt sich eine geometrisch geschwungene Brücke, die in einen barock gestalteten Garten führt, den Vorplatz des Respekt einflößenden Hauptgebäudes. __ Unterstützt wird diese hierarchische Folge zudem durch eine hyperbelartig in Richtung Hauptgebäude gekrümmte Straße, die zu den Rändern hin mittels zweier Biegungen den Anschluss an das orthogonale Grundmuster findet. Im konkreten räumlichen Kontext lassen sich diese Straßenkrümmungen durchaus als Zitate gebogener, alteuropäischer Stadtstraßen deuten. Bei näherem Hinsehen erkennt man zu den Rändern hin, entlang der Gewässer und in der Uferzone des Flusses, Grünflächen, deren Gestaltung deutlich pittoreske Züge aufweist. Wir sehen unregelmäßig-organisch geschwungene Wasserflächen und Wiesen mit lockerem Strauch- und Baumbestand, die die geometrisch angelegten Blumenrabatten und Hecken des Achsenbereichs deutlich kontrastieren. __ Ebenfalls zu den Rändern des Modells hin entdecken wir zahlreiche Nachbarschaften, die alle bereits diskutierten Merkmale deutlich aufweisen. Gefasst sind sie in einer aus großer Straße und vertikalen Blöcken formulierten räumlichen Syntax. Die Quartiere sind, was man zwar nicht erkennen kann, jedoch vermuten sollte, abgeschlossen. Wir erblicken, wenn schon nicht tanzende Punkte, so doch mehr oder weniger deutlich nach Süden hin orientierte schwingende Zeilen und vor allem noch viel altbackenen fordistischen Zeilenbau. Und bei genauerem Hinsehen lassen sich hier und da innerhalb der Nachbarschaftsblöcke auch die sogenannten Nachbarschaftshöfe ausmachen. __ Eine vergleichbar eklektische Kompilation aus Achsialität, Linearität, Hierarchie, Erhabenheit, Vertikalität, durchdrungen von einer Mischung aus barocken und organischen Mustern, zeigt auch die Planung des Vorplatzes des Civic Centre mitten in Shenzhen.

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Stadtfiktionen

6 Im Folgenden werden vier Grundtypen von Stadtfiktionen unterschieden: erstens die eher anspruchsvolle Transposition der europäischen Stadt in einen fremden Kulturraum. Vorgestellt wird hier eine der Satellitenstädte des Shanghaier ‹Eine Stadt, Neun DörferPlans›, das Projekt ‹Anting Neustadt›. Zweitens die Travestie chinesischer Neustädte mittels europäischer Stadtgewänder, hier die ebenfalls dem Shanghaier Entlastungsplan zugehörigen Projekte Taiwushi Neustadt (ein Stadtteil der ‹einen Stadt› Songjiang) und Luodian Neustadt. Drittens die Parodie der chinesischen Nachbarschaft mittels der Errichtung von originalgetreuen Kopien städtischer Ensembles und prominenter Gebäude innerhalb einer chinesischen Nachbarschaft, hier das Beispiel Holland Village aus Shenyang. Viertens die Stadt im Themenpark, sozusagen die Disney-Variante des Citytainment. Als Beispiel für diese fassadenhafte Reproduktion gehen wir kurz auf den bekannten Themenpark ‹Window of the World› im südchinesischen Shenzhen ein.

Die neuen Satellitenstädte in Shanghai __ Unter dem Eindruck des permanenten Bevölkerungsdrucks in den Kernbezirken

der 18-Millionen-Einwohner-Metropole Shanghai griff deren Stadtregierung um die Jahrtausendwende auf eine klassisch zu nennende Maßnahme zur Entlastung des Stadtwachstums zurück: auf den Bau von Satellitenstädten. So wurde im Rahmen des zehnten 5-Jahres-Plans unter dem Titel ‹One City, Nine Villages›67 das neue strategische Entwicklungskonzept der Stadt beschlossen. Als ‹1966-Plan› wurde es im Rahmen des elften 5-Jahres-Plans bestätigt. Durch den Bau der Stadt Songjiang (die ‹eine Stadt›) und von neun neuen Kleinstädten (‹Dörfern›) mit einer projektierten Einwohnerzahl von etwa 5,4 Millionen Einwohnern soll die Innenstadt (etwa 8 Millionen Einwohner) bis 2020 um etwa 1,1 Millionen Einwohner (gegenüber dem Stand von 2000) schrumpfen. __ Darüber hinaus soll mit diesen Plänen die Stadtentwicklung in geordnete Bahnen gelenkt werden. Das Schlüsselwort dafür heißt ‹polyzentrisches Wachstum›: Die zehn (1 + 9) Neustädte sollen demzufolge ‹autark› beziehungsweise funktional integriert sein, was bedeutet, dass sie über lokale Arbeitsplätze, öffentliche Versorgungseinrichtungen (Kindergärten, Schulen, Krankenpflege-Einrichtungen), Geschäfte und so weiter in jeweils ausreichender Zahl verfügen müssen. Auf diese Weise sollen überbordende Pendlerströme zwischen Kernstadt und Peripherie vermieden werden. Durch die Polyzentralität sollen zudem verbliebene Ackerflächen gesichert, Zersiedelung reduziert, der Aufbau von Grünzonen gestärkt und insbesondere die Verkehrsströme konzentriert und effektiver gelenkt werden. Ein großräumig angelegter Verkehrsentwicklungsplan ist daher integraler Bestandteil des auf nachhaltige Stadtentwicklung zielenden ‹Eine

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Stadt, Neun Dörfer-Plans›.68 Die expo 2010 Shanghai, die diesen Plan adoptierte, hob darüber hinaus die Bedeutung der Satelliten- und Trabantenstädte69 für die sich dynamisch ändernden Lebens- und Raumansprüche der wachsenden Mittel- und Oberschichten Chinas hervor.70 __ Man kann diesen Plan insofern als ‹klassisch› bezeichnen, als er auf Modelle und Praktiken der Entlastungsplanung zu Zeiten der europäischen und nordamerikanischen Großstadtentwicklung rekurriert. Schon der philanthropische Werkssiedlungsbau in Großbritannien, Frankreich und Deutschland71, jedoch auch die Gartenstadtbewegung des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunders72 und die sogenannte NewTown-Bewegung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die ihren Ausgangspunkt in Großbritannien (zum Beispiel Milton Keynes) und Frankreich hatte, seien in diesem Zusammenhang genannt. __ Als städtebauliches Referenzmodell muss freilich auch der aus den usa kommende New Urbanism73 hinzugezählt werden (Ziegler 2006). Dies nicht nur, weil er im Kontext des Shanghaier ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plans› explizit auftaucht, sondern auch weil er für das Thema Citytainment in China von großer Bedeutung ist. Der historisierende New Urbanism verweist nämlich auf einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Stadtentwicklung, der sich in einem Satz folgendermaßen artikulieren lässt: Weg vom geschichtslosen Funktionalismus der klassischen Moderne, hin zu einer, Tradition und Moderne versöhnenden, ‹reflexiven Urbanistik› (Hassenpflug 2006b). Das bedeutet jedoch zugleich: Weg von der Förderung zentrifugaler Kräfte der Stadtentwicklung, hin zur Unterstützung und Formierung zentripetaler Dynamik! Der Sache nach geht es also beim New Urbanism nicht primär um Entlastungsplanung für wachsende Städte, sondern eher um eine Opposition gegen den ‹urban sprawl›, um Rückkehr zu Stadt, Dichte, öffentlichem Raum, Zentralität. Er richtet sich insofern gegen das, was nicht zuletzt im Namen frühindustrieller und vor allem fordistischer Entlastungsplanung (Stichwort: Plattenbausiedlungen, Schlafstädte etc.) geschaffen wurde. __ Das Auftauchen des New Urbanism im Kontext der Shanghaier Entlastungsplanung ist vor diesem Hintergrund nicht ganz einfach zu erklären; denn wir finden in China weder einen mit Nordamerika vergleichbaren ‹urban sprawl› noch ein diese Form der Landflucht unterstützendes Narrativ des ‹common man› und der ‹frontier› (Hardinghaus 2004). Warum spielt der New Urbanism gleichwohl eine Rolle? Für den Moment wollen wir uns mit zwei kurzen Erklärungen begnügen, nicht ohne dabei auf die Ausführungen in Kapitel 8 zu verweisen, wo weitergehende Reflexionen angeboten werden. __ Als erste Erklärung bieten sich die ungewöhnlich ambitionierten, geradezu experimentellen Vorstellungen an, die mit dem ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plan› verknüpft werden. Die eine Stadt und die neun Kleinstädte sollen nämlich nicht nur technisch fortgeschrittene Bauweisen in den Bereichen Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Materialeinsatz demonstrieren, sondern zugleich die mit vorwiegend westlichen Lebensstilen verbundenen stadtästhetischen Konzepte veranschaulichen und als Distinktionsressource anbieten. Eine der Deutungen dieses Anspruchs ist die bildhafte Darstellung des kulturell Typischen (typisch amerikanisch, deutsch, englisch, mediterran, nordisch und so weiter) im Medium des Städtebaus. __ Die zweite Erklärung führt uns zu dem Phänomen der rapiden Ausdifferenzierung einer starken, selbstverständlich heterogenen chinesischen Mittel- und Oberschicht und die mit dieser Entwicklung einhergehende Änderung der funktionalen und ästhetischen

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Anforderungen an den Siedlungsraum. Da der Blick auf die eigene, chinesische Geschichte durch die Traumatisierungen der jüngeren Vergangenheit immer noch partiell befangen ist, geht dieser im nunmehr offenen China um so befreiter nach außen, um dort insbesondere die stadtästhetischen Schemata und Moden der westlichen Mittel- und Oberschichten, vorzugsweise der us-amerikanischen, aufzugreifen. «The selling point of Chinese new (sub-)urbanism is a ‹new way of (good) life›, distinguishing itself from the outdated socialist utopianism. The developers», so Wu in seinem aufschlussreichen Essay über das ‹branding› des neuen chinesischen Nachbarschaftsblocks, «are becoming ‹community builders› like their North American counterparts and attempting to capture the imagination of upwardly-mobile middle class. Through the imagination of simulated landscapes, often copied from foreign places, the developers are shaping a new myth of Chinese suburbia. The gate, especially built into spectacular and iconic styles, serves a visual anchor in the imagination of (sub-)urbanism.» (Wu, Fulong 2006) __ China, das ist die Botschaft des ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plans›, ist noch auf der Suche nach sich selbst – und Shanghai sieht sich als auf die Welt schauender Kopf des chinesischen Drachens in der Pflicht, hier voranzuschreiten und Wege aufzuzeigen. __ Projektiert wurden zehn Themenstädte in zehn Distrikten, die nach Maßgabe von teils beauftragten, teils in Wettbewerben ermittelten Masterplänen im Stil totaler Planung (also dem exakten Gegenteil inkrementalistischen Städtebaus) als Retortenstädte realisiert werden sollen. Nach meinen Ermittlungen handelt es sich um die folgenden Projekte: Die Entlastungsstädte des ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plans› Nr.

Name

Thema

Distrikt



Songjiang City/Taiwushi

englische Stadt

Songjiang

1

Luodian

skandinavische Stadt

Baoshan

2

Anting

deutsche Stadt

Jiading

3

Zhujiajiao

chinesische Stadt

Qingpu Pudong

4

Gaoqiao

niederländische Stadt

5

Pujiang

italienische Stadt

Minhang

6

Bao

australische Stadt

Chongming County

7

Fengjing

amerikanische Stadt

Jinshan

8

Fengcheng

spanische Stadt

Fengxian

9

Zhoupu

amerikanische Stadt

Nanhui

Seit einigen Jahren wird der ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plan› umgesetzt, vor allem mit Investitionsmitteln aus öffentlichen Kassen; denn private Investoren lassen sich für derartige Modellprojekte nur in begrenztem Maße begeistern. Da während der Implementierung immer wieder Änderungen vorgenommen werden, entsprechen die Ergebnisse nicht mehr durchgängig den ursprünglichen Planungen.74 Hinzu kommt, dass die Zahl der geplanten Satellitenstädte inzwischen die Zahl zehn offensichtlich weit überschreitet. Verbliebenen historischen Dörfern und Kleinstädten in der Peripherie Shanghais wird zudem immer mehr Aufmerksamkeit zuteil. Ihr touristisches Potential wird entdeckt und man sucht es durch groß angelegte Restaurierungs- und Revitalisierungsplanungen zu sichern. Eines dieser ‹Dörfer› erscheint bereits im ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plan› (Zhujiajiao). Es ist nicht so einfach herauszufinden, welche neun Satellitenstädte nun wirklich aktuell dazugehören.75

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Allerdings sind wir ganz auf der sicheren Seite, wenn wir uns nun den drei Fallstudien zuwenden: Anting (Jiading-Distrikt), Taiwushi (‹Thames Town› als Teil der Songjiang New City im gleichnamigen Songjiang-Distrikt) und Luodian (Baoshan-Distrikt). Alle drei Projekte zählten von Anfang an zum ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plan› der Stadt Shanghai und sind zudem, bis auf Anting, weitgehend fertiggestellt.

Ein Stück ‹richtiges Deutschland›: Anting Neustadt __ Anting Neustadt ist ein Produkt städtebaulicher Mimesis und insofern einzigartig.76

Das Projekt ist der ambitionierte Versuch, die Idee der deutschen Stadt in China zu materialisieren. Anting Neustadt ist nicht die Kopie einer wirklichen deutschen Stadt, etwa von Rothenburg o. d. T., von Ulm, Celle, Görlitz oder gar der Partnerstadt Weimar; sie ist auch keine Assemblage oder Collage von Kopien deutscher Ensembles oder Gebäude. Anting soll vielmehr die deutsche Stadt ‹als solche› vorstellbar machen. Im Sprachgebrauch der Philosophie würde man das so ausdrücken: Im Medium von Städtebau und Architektur soll die deutsche Stadt auf den Begriff gebracht werden, sozusagen ein Idealtyp von ihr in Beton, Glas, Asphalt und Stein errichtet werden. Eine wahrhaft herkulische Aufgabe! __ In gewisser Weise hat das Frankfurter Architektur- und Planungsbüro as  &  p sich diese Aufgabe selbst gestellt, da es sich um eine Interpretation des Auftrags handelt, im Distrikt Jiading eine ‹deutsche Stadt› zu bauen. Die Auftraggeber selbst haben vermutlich an eine schlichte Stadtkopie gedacht, an ein Stück Weimarer Altstadt mit Frauenplan und Goethehaus, Schillerstraße und Schillerhaus, Marktplatz und Rathaus, Anna Amalia Bibliothek und Stadtschloss, also eine Assemblage oder Collage von Stadtbausteinen, gestellt auf eine offene Stadtbühne, gerahmt von abgeschlossenen Nachbarschaften (‹gated communities›). Albert Speer und Partner entschieden sich jedoch anders. In ihrem Masterplan trachteten sie zwei anspruchsvolle Ansätze miteinander zu kombinieren: __ Zum einen legten sie dem Plan die als ‹organischer Grundriss› typisierte räumliche Grundstruktur der mittelalterlichen europäischen Stadt zugrunde. Möglich erschien dies, weil die deutsche Stadt in ihrem traditionellen Grundriss diese räumliche Grammatik teilt und weil die mittelalterliche Stadtfigur die (für Bild und Identität gleicher­ maßen bedeutsamen) Stadtzentren sehr vieler deutscher Städte immer noch prägt. Hinzu kommt, dass das föderale Deutschland bis heute eine klein- und mittelstädtisch geprägte Nation ist, ein Umstand, der noch deutlicher als sonst zutage tritt, wenn man

Modell der deutschen Stadt Anting, Shanghai

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der deutschen Stadtlandschaft die chinesische mit ihren vielen Mega- und Millionenstädten gegenüberstellt. __ Zum anderen führten sie ihrem Masterplan die Ansprüche zu, die in Deutschland heute an einen guten Städtebau gerichtet werden. Dies betrifft insbesondere die nachhaltige Stadtentwicklung, das heißt unter anderem Energieeffizienz, Materialqualität, Reduktion von Emissionen aller Art, getrennte Müllsammlung, ausgewogenes Angebot an Grün- und Erholungsraum, kurze Wege, Mischnutzung und, nicht zu vergessen, ein sachliches und elaboriertes, deutlich in den funktionalistischen Traditionen der klassischen Moderne stehendes Design. __ Während der erste Ansatz vor allem die Grundstruktur der projektierten Stadt betrifft, wirkt sich der zweite Ansatz auf die Füllstruktur aus. Grund- und Füllstruktur zusammengenommen ergeben das Bild der Stadt. Im Folgenden gilt unser Hauptaugenmerk dem ersten Ansatz. Dazu versichern wir uns erst einmal der wichtigsten Elemente der Grundstruktur der europäischen Stadt. Es sind die folgenden: Das Zentrum ist soziokulturell definiert, Marktplatz mit Kirche (als Repräsentantin des sakralen Stadtraums) und Rathaus (als Repräsentant des profanen bzw. zivilen Stadtraums) definieren die räumlich ‹inklusive›, öffentliche Stadtkrone. Das punktförmige (nodale) Zentrum ist funktional vielfältig und gemischt. Die Hauptstraßen erschließen den Marktplatz, der im Zentrum des radialkonzentrischen Stadtkörpers liegt. Es dominiert eine parzellierte, kleinteilige Blockrandbebauung (Orientierung ist nachrangig). Straßen und Plätze inszenieren den öffentlichen Raum mittels dekorierter beziehungsweise ornamentierter Giebelfassaden (Extraversion). Während zum Zentrum hin die Dichte aufgrund großzügig bemessener öffentlicher Räume abnimmt, nehmen die Größe und Höhe der Baukörper zu. Die Baukörper der Zivilgebäude sind in der Höhe orientiert (First- oder auch Traufenhöhe). Die Straßen sind im Sinne eines organischen Grundrisses krumm beziehungsweise gebogen.77 Stadtmauern und Gräben repräsentieren ikonisch eine strikte, nicht nur räumliche, sondern auch kulturelle Trennung zwischen innen und außen (einst zwischen bürgerlicher Stadt und feudalem Land).

Große, gebogene Straße in Anting

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Mischnutzung in Anting

Ein erster Blick sowohl auf die ursprünglichen Modelle als auch auf die im ersten Bauabschnitt realisierte Stadt zeigt diese Charakteristika mehr oder weniger deutlich: Es gibt, entworfen von gmp, einen zentralen Platz mit einer Kirche und größeren Gebäuden für öffentliche und kommerzielle Nutzungen, man findet Blockrandbebauung aus höhenorientierten Gebäuden mit Satteldächern (wobei Flachdachgebäude im Bauhausstil deutlich dominieren), gekrümmte Straßen, Giebelfassaden und eine Umgrenzung durch eine Art von Stadtgraben. Auch die auffällige Farbigkeit – die Fassaden sind in Rot-, Gelb-, Ocker- und Blautönen gestrichen – zitiert die einstige Farbigkeit der europäischen Stadt. Anting wirkt überraschend offen, Mauern und Zäune vor Wohnquartieren sind nicht vorhanden. Man hat offenbar ernsthaft versucht, die Idee der deutschen beziehungsweise europäischen Stadt der Erde von Jiading aufzuprägen – und dieser Versuch ist, was die genannten Strukturen betrifft, in gewissem Umfang, sozusagen ‹in abstracto›, gelungen. __ Der zweite Blick auf das Dargebotene lässt jedoch erhebliche Abweichungen von den europäischen Regeln, ja sogar massive Auflösungserscheinungen zum Vorschein kommen. Die Absicht beispielsweise, durch parzellierte Blockrandbebauung das Ambiente der deutschen Stadt zu importieren, hat sicht- und spürbar gelitten; ein Eindruck, der durch die vorhandenen Blockrandstrukturen nicht etwa gemindert, sondern vielmehr verstärkt wird. Man sieht es der Siedlung an, dass hier um den eigentlich unverzichtbaren Blockrand gerungen wurde und Kompromisse gesucht wurden. Große Teile der Stadt sind bereits – und werden noch – in Zeilen- und Punktbauweise beziehungsweise als einzeln stehende, seriell angeordnete Villen ausgeführt. Die Blöcke sind in die Länge gezogen, teils im westlichen und östlichen Bereich aufgerissen oder nur noch als Fragmente zu identifizieren. __ Die Straßen sind zu breit geraten und die Gebäude zu modernistisch, um ein Altstadtgefühl aufkommen zu lassen. Zahlreiche Gebäude mit Sattel-, Walm- und Pult­ dächern wenden der Straße ihre Traufenseite zu, und auch die wenigen blanken, auf ihre bloße Abstraktion reduzierten Giebel sind kaum in der Lage, öffentlichen Stadtraum wirksam zu inszenieren. Die Schwünge der Straßen wirken zudem angesichts ihrer Breite ästhetisch kraftlos. Am Ende mutet der erste, fertiggestellte Bauabschnitt von Anting Neustadt wie eine spätfordistische Siedlung an, die in das Korsett einer mittelalterlichen

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Grundstruktur gezwungen wurde. Das Ergebnis erinnert ein wenig an Kohl und Kriers Kirchsteigfeld bei Potsdam, allerdings weniger historisierend, eher ein Hybrid von Altdeutsch und Bauhaus. __ Das Seltsamste jedoch ist das Oszillieren des gesamten Stadtraums zwischen Abgeschlossenheit und Aufgeschlossenheit. Anting Neustadt präsentiert sich als offener Stadtraum. Der deutschen städtebaulichen Tradition folgend, wurden Mauern, Hecken und Zäune zur Abriegelung von Nachbarschaften vermieden. Allenfalls der die Neustadt umgebende Wassergraben lässt sich als Barriere im Sinne der geschlossenen Stadt deuten. Geht aber so viel Offenheit in China? Immerhin machen Wohngebäude den größten Teil der Stadt aus! Natürlich geht es nicht! Also mussten die Wohnquartiere irgendwie abgeschlossen werden. Folgerichtig wurden überall, an den Hauptzufahrten und an den Abzweigungen zu den Seitenstraßen, kleine rote Wachhäuschen – natürlich mit Wachpersonal – aufgestellt. Wo aber bleibt dann der offene Stadtraum, der zu dem geschlossenen gehört wie der Schlüssel zum Schloss? __ Was ist geschehen? Warum wirkt die transponierte Struktur so unanschaulich? Weshalb stellt sich in Anting nicht einmal ein Hauch der Atmosphäre heutiger deutscher Kleinstadtzentren ein? Hat dies damit zu tun, dass Albert Speer eigentlich eine moderne deutsche Kleinstadt bauen wollte, eine Stadt, die er in Deutschland so entwerfen würde (wenn man solche Städte in Deutschland noch bauen könnte)? Oder hängt es einfach damit zusammen, dass der Grundriss, obschon einer alten Grundstruktur huldigend, mit einer modernen Füllstruktur überzogen worden ist? Ist Anting Neustadt als deutsche Kleinstadt dem Shanghaier Baurecht zum Opfer gefallen? Oder ist Anting einfach noch zu neu, verkehrstechnisch zu schlecht erschlossen, zu unbelebt, zu wenig von Bewohnern angeeignet? __ Das befremdliche Resultat der ‹Transposition› (Cai/Bo 2004, 45ff) der deutschen Stadtidee nach Shanghai wirft viele Fragen auf und erheischt viele Antworten. Ihr Schlüssel liegt allerdings nicht so sehr bei den Absichten der deutschen Planer und Architekten und, so sollte man hinzufügen, bei ihren chinesischen Gewährsleuten. Er liegt primär in der chinesischen Kultur der Aneignung, der Produktion und Konsumtion von Raum. Drei Schlüsselworte sind hier von Belang: Orientierung (1), Exklusion (2) und Introversion (3): 1. Orientierung __ Die Südorientierung war bekannt und ist bei der Transposition des deutschen Stadtideals nach China reflektiert, jedoch in ihrer Bedeutung offenbar unterschätzt worden. Erst im Zuge der Realisierungsplanung hat sich die Brisanz dieses Aspekts den Akteuren mitgeteilt, was zu teilweise drastischen Anpassungen führte. Dabei dürfte das Shanghaier Bau- und Planungsrecht eine Rolle gespielt haben. In Befolgung ohnehin tief verwurzelter alltagskultureller Praktiken gestattet dieses keine Abweichung von der Südorientierung ohne Sondererlaubnis. Die Stadt war schließlich bereit, eine Abweichung für 30 Prozent des Wohnungsbestandes zu genehmigen (Cai/Bo 2004, 74). __ Die Wohnbebauung lässt sich jedoch nur dann problemlos für die Rahmung oder Inszenierung des Straßenraums nutzen, wenn die Südorientierung gewährleistet ist. Eine Analyse des traditionellen und modernen chinesischen Städtebaus hätte die Planer darüber belehren müssen, wie gering der Spielraum für Abweichungen von dieser Regel ist – und dass daher andere Wege zur Absicherung der ‹Transposition› hätten eingeschlagen werden müssen: zum Beispiel die scharfe Trennung von Wohnfunktion und kommer-

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zieller Funktion. Erst diese Trennung produziert, indem sie die Unterbringung von gewerblichen Funktionen in nordsüdlich orientierten Blockrandzeilen ermöglicht, die dringend benötigten städtebaulichen Handlungsspielräume. Stattdessen wurde nicht nur an der Mischnutzung festgehalten, sondern ein großer Teil der Läden in ostwestlich verlaufenden Wohnzeilengebäuden untergebracht. Dieser Umstand lässt darauf schließen, dass das Potential gewerblicher Nutzungen zur Bildung von in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Blockrandzeilen nicht erkannt wurde. __ Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass im Zuge der Implementierung der Wohnbereiche zurückgerudert werden musste: Blocks wurden zusammengepresst und in die Länge gezogen, um mehr Südfassaden zu generieren. Bei anderen Blocks wurden die östlichen und/oder westlichen Bauten herausgenommen. Durch diese Eingriffe verwandelten sich die geschlossenen Blöcke in (fordistische) Zeilen und die Blockinnenhöfe in Abstandsgrün. An einigen in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straßen der Neustadt stoßen nun ganze Serien von Zeilenenden direkt an die Gehwege. Mit europäischer oder deutscher Stadt hat dies nichts mehr zu tun. __ Im Zuge einer verspäteten, reaktiven Kompromissbildung wurde auf der einen Seite verloren, nämlich die eigentlich unverzichtbare orientierungsfreie Blockrandbebauung, was an anderer Stelle gewonnen wurde, nämlich die Südorientierung. Es klingt daher ein wenig zu euphemistisch, wenn in diesem Zusammenhang von der Kreation einer neuen Haustypologie, dem gestauchten, aufgerissenen und in die Länge gezogenen ‹Anting Block› gesprochen wird (Dong/Ruff 2006). In Wahrheit handelt es sich um die Schwundformen des aussichtslosen Kampfes um die Vereinbarung von deutscher und

Zeilenbau-Stirnseiten in Anting

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chinesischer Stadt. Die Zeichnung von Victor Oldiges (auf der folgenden Seite rechts unten) veranschaulicht exemplarisch den Wandel der ursprünglichen Grundrisse im Laufe des Implementierungsprozesses (Oldiges 2007). __ Blickt man auf die ursprünglichen Modelle für den zweiten Bauabschnitt von Anting Neustadt, dessen Realisierung mit veränderten Planungen seit 2010 in Angriff genommen wird, dann kann einem wegen der Vielzahl der nach Westen orientierten Wohngebäude schon angst und bange werden. Dieser Planungsstand mag auch der Grund dafür sein, dass für den Bau erst mit großem zeitlichen Abstand zur Verwirklichung des ersten Bauabschnitts eine Freigabe erteilt wurde. Denn die bereits gebaute ‹unsichtbare Stadt› der Infrastruktur erschwert eine Re-Organisation des Gebäudebestands nach Maßgabe der Südorientierung ganz erheblich. __ Gibt es in diesem Teil der Stadt noch Spielräume für eine verbesserte Südorientierung? Da die aufwendige ‹unsichtbare Stadt› (Infrastruktur) und Teile des Straßennetzes bereits fertiggestellt wurden, dürfte die Aufgabe nicht einfach sein. Fest steht jedoch von vornherein, dass das Ergebnis der Verwirklichung des zweiten Bauabschnitts keine deutsche Stadt sein wird. Ihre Idee wird untergehen. Andererseits könnte der Erfolg dieses Bauabschnitts, der mehr als 50 Prozent der Gesamtfläche von Anting Neustadt umfasst, den mittlerweile ziemlich heruntergekommenen ersten Teil nach ‹oben› ziehen. Unterstützung erhält das Unternehmen ‹Vollendung› von Anting durch die seit der expo 2010 fertiggestellte Anbindung an die Metro von Shanghai. 2. Exklusion

__ Das kulturelle Gewicht des Dualismus von abgeschlossener und aufgeschlossener

Stadt beziehungsweise der urbanen Dialektik von Exklusion und Inklusion scheint den Planungen von vornherein äußerlich gewesen zu sein. Anting wurde als offene, funk­tionsgemischte deutsche Stadt geplant. In der Mischung von Wohnfunktion und Handels­funktion im offenen Stadtraum sollte offenbar so etwas wie das Ideal eines zugleich altbürgerlichen und (wieder) modernen deutschen städtischen Lebensgefühls zum Ausdruck gebracht werden. Geschlossene Nachbarschaften waren nicht vorgesehen. Der breite Wassergraben, der die ganze Stadt umgibt, lässt sich immerhin als Absicht interpretieren, Anting Neustadt als Ganzes abzuriegeln – und damit einer einzigen Nachbarschaft gleichzustellen. Mit Blick auf die Wohnfunktion wären Stadtgemeinde und Nachbarschaft damit ein und dasselbe. __ Wohngebiete sind in China Nachbarschaften, und diese müssen abgeschlossen sein. Dies ist ein soziokultureller Imperativ. In Anting Neustadt kann man ihm jedoch nicht genügen; denn im Versuch, funktionsgemischte und belebte öffentliche Räume zu schaffen, integriert dieses Projekt die Handelsfunktion unmittelbar in die Wohngebiete. Anting Neustadt muss wegen der integrierten kommerziellen Funktionen unbedingt offen, das heißt für die (potentielle) Kundschaft aus der Umgebung allgemein zugänglich sein. Das wiederum geht wegen der Wohnfunktion nicht. __ Mit der Orientierung an dem europäischen Ideal der funktionsintegrierten offenen Stadt, das heißt mit dem Verzicht auf die Trennung von offenem und geschlossenem Stadtraum, wurde also ein unlösbarer Konflikt heraufbeschworen. Entsprechend ambivalent wirken die getroffenen Exklusionsmaßnahmen: Für die Wohnfunktion werden Tore benötigt, also sind sie da. Sie müssen jedoch weg, da sie die kommerzielle Funktion behindern. Wie entkommt man diesem Dilemma?

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Offen oder geschlossen? Miniaturtore in Anting

Anting Neustadt vor (2000) und nach (2004) dem Bau – mit langgezogenen und geöffneten Häuserblocks

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Der Ausweg heißt (wie so oft) Miniaturisierung! Anting Neustadt wurde, den vom Master­ plan geprägten räumlichen Gegebenheiten entsprechend, in zahlreiche kleinere Nachbarschaften gegliedert. Jede der auf diese Weise nachträglich definierten Nachbarschaften erhielt daraufhin ein Tor (oder auch mehrere): eine Barriere mit Bremsschwelle und zierlichem Schlagbaum, immerhin, jedoch ohne den üblichen symbolträchtigen Auftritt eines Tors mit Torbogen, Torsäulen, Wachgebäude und so weiter – ein Tor ohne Mauer und Zaun. Eine Kuriosität! So finden wir allenthalben kleine mobile rote Wachhäuschen, die ihren provisorischen Charakter nicht verbergen können. Ein bisschen ‹gated›! Will sagen: Für das Wohnen zu wenig abgeschlossen, für den Kommerz zu sehr abgeschlossen. __ Entsprechend mehrdeutig sind die Botschaften in semiotischer Perspektive: Errichtet wurden die Torminiaturen zweifellos als indikativ wirkende Zeichen, die also Exklusion kommunizieren. Da sie wegen der Mischnutzung der Gebäude, die sie abtrennen sollen, nicht exkludierend wirken dürfen, sind sie als indikative Zeichen für Exklusion wertlos. Wenn sie daher überhaupt etwas indizieren, dann die Aufforderung, sie zu ignorieren. Da diese Indikation nicht gewollt ist bzw. sein kann, bleibt die symbolische Funktion. Die kleinen Tore symbolisieren demnach eine Abgeschlossenheit, die in Wahrheit nicht existiert. Was die ikonische Bedeutung der kleinen Tore betrifft, ist schließlich auf ihre einheitliche rote Farbe mit der typografisch ebenfalls einheitlichen Anting-Aufschrift hinzuweisen. In diesen Formen der Vereinheitlichung lässt sich der Versuch erkennen, die vielen ‹Törchen› als ikonische Träger der (Marken-)Identität von Anting Neustadt zu nutzen. In den Toren überlagern sich demnach alle drei Peirce’schen Sendeformate. __ Da die innere Verriegelung schwach ist, sollte sich diese am Stadtrand exponieren, beispielsweise an den Brücken über dem Wassergraben. Das könnte jedoch auf poten­ tielle Kunden des Einkaufszentrums im Stadtinneren abschreckend wirken, zumindest nicht gerade einladend. Wenn die Kommerzfunktion jedoch schwächelt, könnte dies Folgen für die Bereitschaft haben, nach Anting Neustadt zu ziehen. Damit würden dem Einzelhandel weitere Kunden verloren gehen. So würde ein Teufelskreis in Gang gesetzt, aus dem die Stadt insgesamt nur als Verliererin hervorgehen kann. __ Es ist möglich, dass man, ausgehend vom zweiten Bauabschnitt, den ersten Teil von Anting Neustadt einer kompletten Restrukturierung unterzieht, an deren Ende nur eine, wenngleich kleinteilige, Zonierung von Wohnen und Einzelhandel steht. Wie das gehen kann, lässt sich nur schwer vorstellen. Auf jeden Fall besteht nicht nur die Hoffnung, dass der zweite Bauabschnitt den ersten nach oben zieht, sondern auch die Gefahr, dass der realisierte erste Bauabschnitt den zweiten nach unten zieht. Indem die Vollendung von Anting Neustadt vorangetrieben wird, hat man auf jeden Fall ein hohes Risiko auf sich genommen. __ In Anting Neustadt wurde das Prinzip der inklusiven Stadt naiv in einen exkludierenden kulturellen Kontext implantiert. So strauchelt die Inklusion über die Exklusion und diese über jene. Man hat sich zu wenig Rechenschaft darüber abgelegt, dass in China die Wohnsiedlung der geschlossenen Stadt zuzuweisen ist, der Einzelhandel hingegen der offenen Stadt. Die Akzeptanz dieser Doppelstruktur wäre die Voraussetzung für eine gelingende Transposition räumlicher Strukturen und Qualitäten aus Deutschland nach China. Die Produktion des urbanen Raums in China verstehen und ernst nehmen bedeutet nämlich, dass man sich aktiv gestaltend auf die Produktion räumlicher Hybride einlässt anstatt erst naiv zu insistieren und dann im Angesicht der normativen Kraft des

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Faktischen nachzubessern. Doch um dem Schicksal des Scheiterns zu entgehen, fehlte es offenbar an einem elaborierten Verständnis für den urbanen Code Chinas. __ Wäre Anting Neustadt, wie die beiden gleich noch zu betrachtenden Neustädte Taiwushi und Luodian, klar in abgeschlossene Nachbarschaften und in aufgeschlossene Kommerzbereiche gegliedert, dann gäbe es den genannten Konflikt nicht. Dann wäre Anting Neustadt eine offene Stadt mit geschlossenen Quartieren und damit eine funktionierende Travestie der deutschen Stadt: eine chinesische Stadt mit moderner deutscher Stadtbühne. So jedoch zeigen sich Probleme, wo immer man hinschaut. Schade. 3. Introversion __ Dem deutschen Ideal der offenen Stadt entsprechend, wurden in Anting Neustadt, wie bereits gesagt, auf dem Gebiet innerhalb des symbolischen Stadtgrabens keine Nachbarschaften vorgesehen. Dadurch bot sich auch keine Gelegenheit, dem Bedürfnis nach introversen Räumen Rechnung zu tragen. In China geht es jedoch nicht ohne, also musste nachgebessert werden. Als eine Art Notprogramm ergab sich die Möglichkeit, die durch die Blockrandbebauung entstehenden Innenhöfe zu Nachbarschaftshöfen umzucodieren. __ Die europäische Form der Blockrandbebauung ist nämlich eine Sphinx. Sie blickt nach zwei Seiten: zum öffentlichen Raum, den sie zu rahmen und zu inszenieren trachtet, und nach innen, zu einem Hof, dem über eine funktionelle Nutzung als Parkplatz, Lichtschacht, Abstellplatz, Platz zum Wäschetrocknen, Kleingarten, Grünfläche und gelegentlich auch Kinderspielplatz traditionell wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Er ist eine Restfläche und daher oft verwahrlost. Hauptgrund für seine Geringschätzung ist seine Parzellierung beziehungsweise die sich darin ausdrückende Privatisierung. Diese verhindert eine ‹sozialräumliche Integration› zu einem Nachbarschaftshof. In China,­ mit seiner integrativen, Parzellierungen ausschließenden Nachbarschaftsplanung, sind solche Flächen jedoch als Familien- beziehungsweise Nachbarschaftshof prinzipiell interessant. __ Immerhin wurde die Möglichkeit gesehen und auch zu nutzen versucht, durch eine pittoreske Gestaltung von Abstandsflächen und Blockinnenhöfen dem Mangel an introversem Raum zu begegnen. Durch Eingriffe in die ursprünglich vorgesehene Blockrandbebauung zur Erzeugung von südorientierten Zeilenbauten wurden die potentiellen Hofflächen jedoch so stark verengt, das sie als Nachbarschaftshöfe nicht mehr gestaltbar waren. Wie die oben dokumentierte Skizze von Oldiges zeigt, konnten nur durch Herausnahme kompletter Blöcke und durch Öffnung angrenzender Blöcke Substitute für Nachbarschaftshöfe geschaffen werden. Räumliche Lösungen, die den chinesischen Wünschen entgegenkommen, wurden allerdings dadurch wieder beeinträchtigt, dass man die neofordistische Partitur der ‹schwingenden Zeilen und tanzenden Punkte› nicht zu spielen verstand. __ In Anting wurde durchaus versucht, durch eine Vielzahl von kleineren, mal repräsentativen, mal pittoresken Plätzen dem Wunsch nach Introversion zu entsprechen. Viele der geometrisch durchgestalteten Plätze, zum Beispiel der Weimarplatz mit der Kopie des Goethe-Schiller-Denkmals, der einzigen ‹echten› Kopie in Anting, lassen sich jedoch nicht als introverse Räume interpretieren. Allzu entschieden denotieren sie europäische Extraversion. Betrachten wir dazu den Weimarplatz ein wenig genauer: __ Die Anwesenheit des Goethe-Schiller-Denkmals verweist auf Weimar als Partnerstadt Antings. Es besitzt damit einen für die ganze Stadt (zumindest für den Raum

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Weimarplatz mit Kopie des GoetheSchiller-Denkmals

innerhalb des Wassergrabens) identitätsstiftenden Charakter. Das Denkmal ist insofern Element des ‹branding› von Anting, seines Images. Nun stelle man sich aber vor, Anting Neustadt wird, wie prognostiziert, im Zuge einer Sinisierung in Nachbarschaften aufgeteilt und verriegelt. Dann verwandelt sich der offene Weimarplatz in einen Nachbarschaftshof ohne Bedeutung für den Rest der Stadt. Goethe und Schiller sind dann vollständig in einer Nachbarschaft eingeschlossen und auf diese Weise eingemeindet – symbolisch ‹vergemeinschaftet›, wenn man so will. Sie stehen dann bestenfalls nur noch für die Markenidentität eines ‹compound› zur Verfügung. Ein groteskes, jedoch kein aus der Luft gegriffenes Szenario. __ Das Beispiel Weimarplatz zeigt überdies, dass die Möglichkeit, europäische Piazzas, ­Marktplätze, Barockplätze von vornherein zu Nachbarschaftshöfen umzucodieren, offenbar nicht gesehen wurde. Sie wurde nicht erkannt, da Nachbarschaften nicht vorgesehen waren. Dass diese Inanspruchnahme jedoch gängige Praxis ist, kann man an zahlreichen ‹compounds› in Peking, Shanghai, Shenzhen und vielen anderen fortgeschrittenen Städten entlang der Ostküste Chinas studieren. Kopierte Plätze sind dort Teil des ‹compound branding›. __ Dieser Punkt führt uns zu einer weiteren grundsätzlichen Aussage: Die Attribuierung von Markenidentität erfolgt in China vorzugsweise direkt an die Nachbarschaften, die sich auf diese Weise kollektive Distinktionsgewinne verschaffen. Anting ist jedoch weder eine Nachbarschaft noch eine offene Stadtbühne, sondern eine deutsche Stadt, die sich räumlich entlang des Dualismus von öffentlich und privat, und nicht entlang von offen und geschlossen organisiert. Wäre Anting eine offene Stadtbühne, dann ließe sich ihr deutsches, klassizistisches und bauhäuslerisches Imagekapital den um sie herum gelagerten ‹com­pounds› als Distinktionskapital zuweisen. Doch diese Nachbarschaften gibt es nicht – mit Ausnahme des (allerdings außerhalb des Stadtgrabens gelegenen) ‹Weimar Villa›. Wird Anting jedoch in ‹compounds› zerstückelt, dann fragmentiert man auch die Stadtbühne, die das Image liefern soll. __ Um diese Wirkung zu vermeiden, könnte man daran denken, Anting Neustadt als Ganzes zu einer Nachbarschaft zu integrieren. Dann allerdings würde zum Beispiel dem Marktplatz die Rolle eines Nachbarschaftshofes zugewiesen. Er wäre dann kein Marktplatz mehr, sondern allenfalls eine nicht-kommerzielle Fiktion desselben; denn

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ein Nachbarschaftshof hat keine kommerzielle Funktion. Der zentrale Marktplatz soll jedoch explizit Teil eines Einkaufszentrums sein, das auf einen über Anting Neustadt hinausreichenden Einzugsbereich orientiert. Er soll darin zugleich europäische Zentralität und Öffentlichkeit repräsentieren. In dieser Funktion kann er jedoch nicht Teil einer Nachbarschaft sein. Also integriert man ihn in eine offene Stadtbühne. Das geht aber auch nicht, weil die Wohngebiete untrennbarer Teil der deutschen Stadt sind. Man kann es also drehen und wenden wie man will: Der offene steht dem geschlossenen Raum und dieser jenem im Wege. __ Anting ist ein nach wie vor vom Scheitern bedrohtes Projekt. Die Hoffnungen, die der zweite Bauabschnitt weckt, könnten sich schnell in Enttäuschung verwandeln – und zwar dann, wenn es nicht gelingt, beide Teile der Stadt auf der Grundlage der chinesischen Stadt zu integrieren. Vorerst haben wir uns die Verlaufsform des Scheiterns des ersten Stadtteils als eine Kette von Kompromissen vorzustellen, die die Wunden eher offenlegen, als sie zu heilen: Die Nachbarschaften können nicht mehr abgeschlossen werden, also geschieht dies mit symbolischen Aktionen nach Art der Miniaturisierung. Der zentrale Stadtplatz und die von Mischnutzungsgebäuden gerahmten Straßen müssen, um den Einzelhandel zur Niederlassung zu bewegen, offen sein. Dies geht jedoch nicht, da geschlossene Nachbarschaften generiert werden müssen. __ Diese exkludierenden Strukturen lassen sich wiederum nicht erzeugen, da die Wohn­quartiere als Mischgebiete entworfen und gebaut wurden. Durch die Streckung der Blöcke und deren Öffnung wird zwar mehr Südorientierung gewonnen, doch werden zugleich nicht nur vorhandene Spielräume für die Gestaltung von Nachbarschaftshöfen eingeschränkt, sondern zugleich das Bild der deutschen Stadt vernichtet. Behält man jedoch die Blockrandbebauung, verstößt man gegen die Orientierungsregel. Werden die derzeit noch offenen Plätze durch nachträglich vorgenommene Verriegelungen in Nachbarschaftshöfe umcodiert, findet eine Vergemeinschaftung ihres öffentlichen (gesellschaftlichen) Charakters statt – eine riskante Form der Intimisierung von Orten mit identitätsstiftender Bedeutung für ganz Anting Neustadt. Zwischen deutscher Stadt-

Kirche im Stadtzentrum von Anting (Entwurf von GMP)

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idee und den Realitäten der chinesischen Stadt hin- und hergeworfen, ist jeder Versuch einer auf Harmonisierung zielenden Reparatur aussichtslos. __ Ein Gutes hat das Realexperiment Anting Neustadt auf jeden Fall mit sich gebracht. Es hat dem West-Ost-Dialog (beziehungsweise dem Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland und China) ein unbezahlbar wertvolles Erfahrungsobjekt zur Verfügung gestellt. Von diesen Erfahrungen haben nicht nur die beteiligten Architekten für ihre Arbeit in China profitiert, sondern auch der Autor dieses Buches. In der Auseinandersetzung mit diesem Experiment konnten interkulturelle Aufmerksamkeit geschärft und das Wissen um den urbanen Code Chinas vertieft werden. Dass dieses Argument nicht nur für uns und die unmittelbar beteiligten Architekten gilt, zeigt die große Welle an Sekundärliteratur, an Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln, BlogBeiträgen, Interviews und so weiter, die das Projekt über viele Jahre hinweg ausgelöst hat – und immer noch auslöst.

Europäische Travestien der chinesischen Stadt

Taiwushi Neustadt (Thames Town) __ Thames Town lässt sich mit Anting Neustadt nicht vergleichen. Anting ist ein mit Idealismus randvoll gefülltes Projekt. Es ist darin typisch deutsch. Es will authentisch sein, die Welt besser machen, Problemlösungen aufzeigen – und nebenher die überall bewunderte deutsche Ingenieurskunst demonstrieren. __ Ganz anders ‹Thames Town›, das angelsächsischen Pragmatismus aus jedem verbauten Molekül verkündet. Der Masterplan von Atkins bietet, was der Kunde bestellt hat. Der Kunde wünscht das Bild der englischen Stadt? Nichts einfacher als das! Es werden altenglische Architekturen und Ensembles fotografiert, gefilmt, gescannt, kompiliert und zu einer Stadt assembliert. Der Kunde liebt barocke Anmutung? Kann er haben! So wird der Zentralplatz als idealer Rundplatz mit axialer Öffnung zum See entworfen. Die Stadtfiktion wird sodann dem kommerziellen Stadtraum zugeordnet. Die Nachbarschaften werden säuberlich abgetrennt und mit der üblichen Sicherheitsinfrastruktur ausgestattet. Fertig ist ‹Thames Town›, die Travestie einer chinesischen Stadt. __ Taiwushi ist ein englischer Traum, ein gebautes Märchen. Die Stadt ist ein Themenpark, der sich etwa so bewohnen lässt, wie ein Theaterbesucher sich auf einem Sitz im Parkett niederlässt. Man wohnt in einer Nachbarschaft am Stadtrand und schaut auf eine Stadtbühne, auf der ein englisches Stück aufgeführt wird. Mit dem Konzept von Anting Neustadt hat Taiwushi nichts zu tun. Zwar ist auch diese Neustadt keine Kopie einer bestimmten englischen Kleinstadt, doch folgt daraus keinesfalls, dass hier der Versuch unternommen wurde, die Idee oder den Begriff der englischen Stadt umzusetzen. Um nichts in der Welt! Wir vermuten, dass ein derartiger Versuch einem gestandenen Briten niemals in den Sinn kommen würde. __ Der offene Teil von Taiwushi Neustadt ist vielmehr eine Assemblage aus drei­ dimensionalen Bildern, will heißen: aus kopierten und im Maßstab 1:1 nachgebauten Elementen aus englischen Städten. In dieser Form der Raumkompilation ähnelt die Stadt dem von Sorkin zuerst diagnostizierten medialen räumlichen Organisationsschema der Disney Worlds (Sorkin 1992). Wer durch Taiwushi Neustadt spaziert, geht in einem dreidimensionalen, gebauten Film; nahezu jede Straßenecke bietet das Erlebnis eines Filmschnitts. So durchschreitet man die enge Gasse einer südenglischen Kleinstadt, um

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Dorfplatz in Taiwushi

Szene mit Hochzeitspaar in Taiwushi

Klassizistische Gebäude in Taiwushi

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nach der ersten Biegung in eine Seitengasse auf einem typischen Londoner Square mit viktorianisch dekorierten Häusern zu stehen. Da die britischen Städte die räumlichen Ideale ihrer Schwestern jenseits des Kanals in großen Stücken teilen, fehlt im Grundriss von Taiwushi Neustadt auch nicht der zentrale Platz mit Kirche und – scheinbar – öffent­ lichen Gebäuden. Wir finden Blockränder und Fassadenspielereien im Überfluss und ohne Kompromisse, kräftig gebogene, enge Gassen, alle möglichen Formen von Dächern – eben richtige Kopien englischer – und darin europäischer – Stadtkomponenten. __ In anderen Worten: Wir finden sowohl auf der Ebene der Grund- als auch der Füllstruktur all das in Reinform, was in Anting Neustadt unter den Auspizien des modernen Deutschland und der Suche nach Kompromissen mit den chinesischen Raumansprüchen verwässert wurde. So erscheint Taiwushi Neustadt als Stadtkopie gehobener Art ohne Wenn und Aber. Keine wirkliche Stadt, jedoch ein gebauter Traum, der kraftvoll in die Fantasie der Chinesen greift. __ Es ist daher überhaupt nicht verwunderlich, dass Thames Town zu einem Eldorado der gewaltigen Shanghaier Hochzeitsindustrie geworden ist. Die pseudoöffentlichen Gebäude um den Square an der Kathedrale sind mit ihren Kosmetik-, Foto-, Video- und Bekleidungsstudios fast komplett in Beschlag genommen. An schönen Tagen kann man in Thames Town Dutzende von Hochzeitspaaren auf einmal sehen, die Bräute in wallenden weißen, beige- oder rosafarbenen Kleidern, die Bräutigame gelegentlich mit einem britischen Zylinder auf dem Kopf oder in der Hand, und manchmal ein Paar in einer Kutsche durch die mit Kopfsteinpflaster versehenen Gassen rumpelnd. Einfach märchenhaft! __ Bei der Kirche von Thames Town handelt es sich übrigens um eine getreue Nachbildung der Kathedrale von Bristol. In diesem Gebäude werden Trauungen nach christ­ lichem Zeremoniell angeboten, als wählbarer Teil des Hochzeitspakets der lokalen Agenturen für ansonsten eher agnostische Chinesen. Die Wohnquartiere mit ihrem seriellen Villenbestand sind demgegenüber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ‹echt chinesisch›. Mit den Englandkopien im Zentrum von

Kopie der Kathedrale von Bristol in Taiwushi

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Tor einer innerstädtischen Nachbarschaft in Taiwushi

Taiwushi Neustadt haben sie – außer gelegentlicher Verwendung viktorianischer Stil­ elemente – faktisch nichts zu tun. Es sind Villenquartiere, ‹compounds› der gehobenen Mittelklasse, wie man sie heute überall in den Randbezirken chinesischer Großstädte findet. __ Der abgeschlossene Teil der Stadt ist also deutlich vom aufgeschlossenen getrennt. Das gilt auch für die Wohngebäude, die in die Innenstadt integriert wurden und ihre nach außen gerichteten Fassaden dem öffentlichen Raum schenken. Hier hat man jene Technik der kleinräumlichen Verbindung von geschlossenem und offenen Raum angewandt, die in Anting ungenutzt geblieben ist: So finden sich in Taiwushi Blöcke, die nach Süden hin als Wohnquartiere gewidmet, nach Westen und Osten jedoch als gewerbliche Bereiche definiert sind. Für das Wohnen reicht diese Trennung allein noch nicht. Man hat daher den Zufahrten deutlich artikulierte, prägnante Toranlagen verschrieben, mit livrierten Wächtern im Buckingham-Palace-Look. Und die Innenhöfe wurden mit aufwendiger Freiraumgestaltung bedacht. __ Für die Wohnquartiere gilt ansonsten: Sie sind verriegelt, das heißt mit Zaun, Wärterhäuschen, Schlagbaum, Videokameras, Infrarotmelder und allem, was zu einer ordentlichen Exklusion gehört, ausgestattet. Alle Wohngebäude sind nach Süden ausgerichtet. Ein Blockrandproblem gibt es, von Ausnahmen abgesehen, nicht. Schließlich sind die Quartiere introvers, das heißt mit Nachbarschaftshöfen beziehungsweise introversen Parkanlagen ausgestattet. An Großbritannien erinnert in diesen Bereichen außer der Bekleidung des Wachpersonals nur noch die Ausstattung der offenen Erschließungsstraßen mit den bekannten roten Giles G. Scott-Telefonzellen, ebenfalls roten Postboxen und Feuermeldern. __ Da Atkins die Wohnquartiere weitgehend aus der englischen Stadtfigur herausgetrennt und als chinesische Nachbarschaften um sein ‹Disneyland› herum gruppiert hat, konnte es eine Vermengung von Introversion und Extraversion nicht geben: Introvers sind die Wohnquartiere (man ist versucht zu sagen: wie es sich für chinesische Verhältnisse gehört) und extravers ist der ganze Rest, der offene Bereich. In Taiwushi Neustadt wurde gar nicht erst versucht, altenglische Wohnhäuser als Wohnhäuser bereitzustellen. Alles, was alt und englisch scheint, ist kommerzieller Raum oder pure Kulisse. Leer stehende Gebäude oder Gebäudeteile (in der Regel die oberen Etagen) verursachen überhaupt kein Problem, denn als Kulissen eines englischen Traums funktionieren sie

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allemal – wie die Gebäude der Mainstreet in Disneyland als Bühnenbild eines amerikanischen Traums. Und vielleicht, wer weiß, ziehen in Zukunft Leute aus dem Westen in die Gebäude der Stadtbühne mit ihren Bars, Cafés und Squares ein. __ Die Unterschiede zwischen Taiwushi und Anting Neustadt könnten größer nicht sein und springen daher ins Auge. Während die Planer Antings den binären Code der chinesischen Stadt entweder nicht kannten oder aber ignorierten, um dem Ideal der allseits offenen deutschen Stadt keinen Zacken aus der Krone zu brechen, haben die Briten diesen Dualismus nicht nur gekannt, sondern akzeptiert und zur zentralen Planungsgrundlage gemacht. Während die Deutschen mit ihrem Ansatz ein für die europäische Lesart integres Stadtbild zu erzielen trachteten, nahm man bei Taiwushi das Auseinanderbrechen in zwei Teilstädte – eine Stadt introverser Mittelstandsgettos und eine Stadt auf der Disney-Bühne – billigend in Kauf. Auf diese Weise wurde eine leichte Lesbarkeit für chinesische Bürger erzielt. Um als Stadt bewohnbar zu sein, reklamiert Anting von den Chinesen hingegen eine deutsche Perzeption und einen zugehörigen Lebensstil. Eine Unmöglichkeit. __ Hier Taiwushi, dort Anting – unterschiedlicher könnten die Richtungen des Weges der Transposition von Europa nach China nicht sein. Es versteht sich von daher, dass die Startposition von Taiwushi Neustadt für eine chinesische Aneignung sehr viel besser ist als diejenige von Anting Neustadt, das gefährlich zwischen Fiktion und Authentizität, traditionell und modern, offen und geschlossen, ein- und ausschließend, West und Ost schwankt. __ Zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen für die erste Auflage geschrieben wurden, waren allerdings nicht nur das deutsche Anting, sondern auch das britische Taiwushi noch mehr oder weniger Geisterstädte, die von Hochzeitspaaren, Inlands- und Auslands­ touristen und neugierigen Shanghaiern besucht wurden. Es hieß zu jener Zeit (2008), dass in Thames Town alle Villen und Wohnungen der Nachbarschaften verkauft seien, an Spekulanten zumeist, und dass die Preise steigen würden. In Anting Neustadt, so wurde kolportiert, seien im Sommer 2007 bereits 80 Prozent der Wohnungen verkauft – bei leicht rückläufigen Immobilienpreisen. In Weimar Villa, der Villen-Nachbarschaft am Rande von Anting Neustadt hingegen sollen alle Immobilien verkauft worden sein, bei steigenden Preisen in der weiteren Vermarktung. Es gibt gute Gründe, an dieser Version zu zweifeln. Neuere Berichte in der Presse malen ein desolates Bild fortlaufenden Verfalls.

Anting Neustadt (links) und Thames Town Taiwushi (rechts) im schematischen Vergleich

Anting Neustadt: Mischnutzung bzw. Durchdringung von offenem und geschlossenem Stadtraum. Keine strenge Orientierung der Wohngebäude.

Thames Town: Trennung von offenem und geschlossenem Stadtraum. Südorien­ tierung von Wohn- gebäuden. Chinesische Stadt mit englisch dekorierter Stadtbühne.

● kommerzieller Raum ● Wohnbereiche ● Tor

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Luodian Neustadt (die nordische Stadt)

__ Wenn Anting die idealistische und Taiwushi die pragmatische Antwort auf die Frage

nach dem Wie einer Transposition der europäischen Stadt nach China gibt, dann Luodian die routinierte. Wie Taiwushi ist auch Luodian eine Travestie der chinesischen Stadt. Die Satellitenstadt ist chinesisch, ihr Zentrum ist in einen skandinavischen Mantel gehüllt. Das ist alles. __ Luodian Neustadt, für eine Einwohnerzahl von etwa 30.000 Einwohner im nördlichen Shanghaier Distrikt Baoshan vom schwedischen Büro Sweco in sechsjähriger Planungs- und Bauzeit realisiert, beruht auf denselben Grundannahmen wie Taiwushi Neustadt. Offener und geschlossener Stadtraum sind deutlich voneinander getrennt. Die Villenquartiere weisen nur noch partiell nordische Architektursprache an den Eingangstoren auf. Die dichtbepackten Nachbarschaften sind mit hohen Zäunen gesichert, mit jenen unsäglichen, in China weitverbreiteten seriell-eklektischen Villen bestückt und selbstverständlich mit Nachbarschaftshöfen an mäandernden Gewässern ausgestattet. __ Die Stadt wird von einer breiten, sechsspurigen Straße zerschnitten – auf der einen Seite die geschlossenen Nachbarschaften, auf der anderen Seite die offen aufgestellte Stadtbühne. Um eine Kopie der schwedischen beziehungsweise skandinavischen Stadt zu bewerkstelligen, ist man weder den hochfliegenden deutschen, noch den kopiertechnisch anspruchsvollen britischen Weg gegangen. Vielmehr wurden frei gestaltete, jedoch idealtypisch gemeinte nordische Häuser in Musterblöcken arrangiert. Die Produktion von Blöcken bereitete dabei überhaupt keine Probleme, da sowieso niemand in den Gebäuden des offenen Stadtbereichs wohnen wird. Jeder Block ist an irgendeiner passenden oder unpassenden Seite aufgebrochen. Durch ein symbolisches hölzernes Tor kann man den Innenhof betreten und steht dann auf einem versiegelten Platz, in den meist runde oder ovale Grünflächen eingelassen sind. __ Den nordischen Stil soll man vor allen Dingen an der emblematischen Verwendung von Mansardgiebeldächern erkennen. Diese sind hier und da durch Satteldächer, Walmdächer (genauer: Krüppelwalmdächer) und andere, meist von Mansardgiebel- und Walmdächern abgeleitete Dachformen ergänzt worden. Als weiteres Merkmal des Nordischen wird offenbar die Ausstattung mit Bronzeskulpturen nackter Männer, Frauen und Kinder angesehen. Skulpturen nackter Menschen werden schon durch die bloße Häufigkeit zum Markenzeichen von Luodian. Offenbar soll Skandinavien beziehungsweise Schweden mit Freikörperkultur assoziiert werden. Auf alle Fälle hat sich im Stadtzentrum bereits ein großer Saunabetrieb niedergelassen. Er machte zum Zeitpunkt der Besichtigung allerdings einen verwaisten Eindruck, war geschlossen, die Anzeigetafeln verblasst. __ Als weiteres Symbol des Nordischen hat man schließlich noch das hölzerne Tor an den Plätzen ausgegeben. Moment! Hölzerne Tore an schwedischen Stadtplätzen? Handelt es sich dabei um ein Wiedererkennungsmerkmal der skandinavischen Stadt? Mir scheint dies etwas weit hergeholt, um nicht zu sagen: abwegig. Bleibt als Erklärung nur die Absicht von Sweco, durch die Tore einen als willkommen unterstellten Verriegelungseffekt zu erzielen. Da es eine Fülle von Blocks gibt, gibt es entsprechend viele Innenhöfe, und da diese manchmal mehr als einen Eingang/Ausgang besitzen, zudem für viele Platzzugänge zwei hintereinandergeschaltete Tore, straßenseitig und platzseitig, vorgesehen sind, entsteht in einigen Bereichen eine gerade zu groteske Verriegelungsdichte. __ Luodian hat wie Anting und Taiwushi eine Kirche. So etwas darf in einer europäischchristlichen Stadt natürlich nicht fehlen. Während jedoch Anting beansprucht, ein echtes

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Blick auf die Stadtbühne von Luodian, Shanghai

Fußgänger-Einkaufsstraße in Luodian

Pseudo-Holztor in Luodian

Typische Skulptur in Luodian Sinisierter Innenhof in Luodian

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Gotteshaus in moderner Hülle anzubieten, in der Kathedrale von Taiwushi chinesische Hochzeiten nach christlichem Ritual angeboten werden, scheint die Kirche von Luodian noch auf ihre Bestimmung zu warten. Ersichtlich beherbergt sie bisher nur eine öffentliche Toilette als Ort profaner Notdurft. __ Natürlich ist Luodian für Chinesen leicht lesbar: Hier die Nachbarschaft, dort, durch eine breite Straße und durch einen Kanal von den Wohnbereichen deutlich abgegrenzt, die Stadtfiktion als offener Raum. Im Unterschied zu Anting, wo die Ambivalenz von offenem und geschlossenen Raum die Serviceagenturen und Sicherheitsdienste offenbar nervös macht, kann man hier, ebenso wie in Taiwushi, nach Herzenslust die toten, mit Plastikblumen und Kunststoffranken animierten Fassaden fotografieren. __ Luodian wirkt wie eine Geisterstadt. Die Gründe dafür sind schwer auszumachen. Ist es die Abtrennung durch die sehr breite Straßenschneise und den ebenfalls breiten Kanal, der die offenen von den geschlossenen Bereichen ebenfalls abtrennt? Oder ist es die etwas zu grau geratene Farbwahl, das viel verwendete, in der subtropischen Sonne und in den Monsunregen und Taifunen verblassende Holz, sind es die allzu vielen Holztore oder ist es etwa die insgesamt etwas billige Anmutung der Stadtfiktion? Auf jeden Fall wirkt Luodian, anders als Taiwushi, wie Citytainment ohne Entertainment: wie ein kraftloses Bühnenbild! __ Sollte das anspruchsvolle Konzept von Anting (wider Erwarten) doch eher aufgehen als das des aus chinesischer Sicht leicht lesbaren Luodian? Kann Anting Neustadt vielleicht doch irgendwann einmal in synergetischer Weise von der unkonventionellen Integration von offenen und geschlossenen Räumen profitieren? Würde eine solche Synergie funktionieren, dann könnten die beiden anderen vorgestellten Neustädte nicht mithalten. Allein, eine solche Wendung zum Positiven scheint unwahrscheinlich.

Holland Village in Shenyang: eine Stadtparodie __ Kommen wir zu einem weiteren Typus der in China geläufigen Stadtfiktionen, den

Stadtparodien. Ein Beispiel, das in dieser Hinsicht für sich spricht, ist der Nachbau von prominenten Gebäuden und Straßenszenen der Niederlande, gebaut und arrangiert inmitten einer 220 Hektar großen geschlossenen Nachbarschaft in der Hauptstadt der Liaoning-Provinz, Shenyang. In Holland Village werden nicht nur Straßenzüge, Plätze, Kanäle und Brücken niederländischer Städte nachempfunden, sondern auch die zugehörigen Straßenleuchten, Papierkörbe und Straßenschilder. Wir finden eine 1:1-Nachbildung des Friedenspalastes von Den Haag, ebenso den Nachbau einer Korvette mit eisernen Kanonen an Bord, deren Läufe auf die gegenüberliegende Nachbildung des Hauptbahnhofs von Amsterdam gerichtet sind. Und natürlich fehlt auch eine Windmühle nicht. Unter der Decke eines galerieartigen Laubenganges sehen wir aufwendige Reproduktionen alter niederländischer Maler allmählich erblassen und verfallen. Denn Holland Village ist eine Geisterstadt. Eigentlich muss man heute, im Jahr 2012, sagen, dass es diese Geisterstadt nicht mehr gibt. Sie wurde 2009 dem Erdboden gleichgemacht und sofort wieder bebaut – in der Absicht, jede Erinnerung an diesen immobilienwirtschaftlichen Albtraum zu tilgen. __ Wer also wie der Autor die Gelegenheit hatte, das verlassen wirkende Gelände im Jahr 2006 zu betreten, geht durch große, unbewachte Torbögen. Die Fenster der meisten Gebäude wirken staubig und blind, die Farben stumpf und hier und da sind Rostflecken

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Kopie des Friedenspalastes von Den Haag in Holland Village, Shenyang

zu sehen. Selbst vollständige Fassadenfronten wirken wie Hollywoodkulissen. In einigen Bereichen stehen halbfertige Gebäude inmitten von ausgedehnten Brachflächen. Nur wenige Menschen verirren sich tagsüber auf die im Sonnenlicht gleißenden Straßen und Plätze. Belebt ist eigentlich nur der Platz vor dem Bahnhof, eine Station, von der niemand mit dem Zug abfährt und an der niemand mit dem Zug ankommt. Denn Gleise gibt es nicht. Warum also die Menschen? __ Ein Teil der Frage beantwortet sich sofort; denn regelmäßig entsteigen Hochzeits­ paare samt Entourage zu ‹Foto-Shootings› den vorfahrenden Limousinen. Chinas Hochzeitsindustrie hat von diesem Ambiente Besitz ergriffen, ähnlich wie in Taiwushi Neustadt. Doch dies erklärt die Betriebsamkeit an diesem Ort vor dem Bahnhof nicht allein. Man muss schon in den Bahnhof eintreten, um vollständige Auskunft zu erhalten: Anstatt auf Schalterhallen, Abfahrts- und Ankunftsanzeigen, Zeitungskioske und Schnellimbisse treffen wir hier auf die verwaisten Verkaufsräume und verstaubten Modelle für die Vermarktung der Wohnungen in der Nachbarschaft von Neu Amsterdam. __ Und dennoch stoßen wir auch auf hektische Betriebsamkeit. In den Hallen und Fluren eilt Restaurant-Dienstpersonal auf Rollschuhen aus allen Richtungen in alle Richtungen. Denn dort, wo man die Bahnsteige und Gleise vermutet, breiten sich unter dem Glas einer Art von Gewächshausarchitektur endlos die Tische und Stühle eines Mega­ restaurants jener Größenordnung aus, wie man sie vielleicht nur im volkreichen China mit seiner inzwischen enorm angewachsenen Mittelschicht finden kann. __ Holland Village ist ein als Stadtcollage ausgeführter ‹compound›. Zur Bebilderung hat man sich bei der reichhaltigen Ausstattung der berühmten holländischen Grachtenmetropole Amsterdam und vieler anderer Städte wie beispielsweise Den Haag oder Rotterdam bedient. Ähnlich wie in Taiwushi und Luodian wurden Siedlungsbereiche und kommerzielle Bereiche unterschieden, doch wurden die Grenzen hier weniger genau gezogen. Die Syntax von offen und geschlossen ist daher nicht deutlich erkennbar – und hierin gibt es, allerdings entfernte, Parallelen zu Anting. So finden wir typische holländische Blockrand-Grachtenhäuser. Diese sollen nicht nur als Kulissen, sondern tatsächlich auch als Wohnhäuser dienen. Sie müssen daher, wie wir wissen, eine Südorientierung aufweisen. Durch die Vorgabe der totalen Fiktion entsteht

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nun allerdings ein Problem: Eine in Ost-West-Richtung verlaufende Straße, Voraussetzung für die Südorientierung der Blockrandzeilen, bringt es mit sich, dass die Eingangstüren auf der einen Straßenseite im Süden, auf der anderen im Norden liegen. Für die südlich der Straße platzierte rückwärtige Front der niedrigen, nur zweigeschossigen Gebäude ergibt sich dadurch die Möglichkeit, die für die chinesische Familie wichtige Veranda beziehungsweise den Balkon nach Süden zu auszurichten. Diese Seite ließe sich also vermarkten – wenn nicht straßenseitig auf den ebenfalls wichtigen Nordbalkon verzichtet werden müsste. Man muss nämlich wissen, dass sich Nordbalkone auch im Zeitalter des Kühlschranks, das in China längst angebrochen ist, als Ort der Aufbewahrung von Lebensmitteln und als willkommener Stellplatz für Waschmaschine oder anderes Gerät größter Beliebtheit erfreuen. Man mag auf sie nicht verzichten, zumindest gilt diese Feststellung für das nördliche China. __ Im nördlichen Straßenbereich ist es genau umgekehrt: Aus Gründen der fiktionalen Authentizität der Fassaden ist ein straßenseitiger Südbalkon nicht möglich. Es kann daher nur einen Nordbalkon geben. Das ist nicht wenig, jedoch nicht genug für den anspruchsvollen chinesischen Kunden. Schlechte Karten für die Vermarktung also. __ Ein weiteres Problem resultiert daraus, dass in extraversen europäischen Städten gemeinschaftsgebundene Innenhöfe kaum noch vorkommen. Ausnahmen bilden historische Komplexe wie beispielsweise Klöster mit Kreuzgängen, Burg-, Schloss- bzw. Domänenhöfe mit Hofgärten bzw. horti inclusi, Renaissancevillen mit Innenhöfen oder auch, mit Blick auf die sozialdemokratische Moderne, die Hofanlagen des Wiener Gemeindebaus aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Sozialdemokratischer Gemeindebau: George-Washington-Hof in Wien

Kopie des Hauptbahnhofs von Amsterdam in Holland Village

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Holland Village nach dem Abriss

Grachtenhäuser in Holland Village

Holland Village nach dem Abriss

Amsterdamer Stadthäuser in Holland Village Tor einer neuen Nachbarschaft auf dem Gelände des einstigen Holland Village-Compounds

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Kopierbedingt fehlen daher vergleichbare introvertierte Räume in Holland Village. Es mangelt an unverzichtbaren Abgrenzungen, Mauern und Zäunen, an Nachbarschaftsund Familienhöfen. Innen und außen, offen und geschlossen, Siedlungsgebiete und Einzel­handelsbereiche sind nicht klar genug voneinander getrennt. In vielen Blockrandbereichen musste auch die für das Wohnen unverzichtbare Südorientierung aufgegeben werden. Schließlich ist eine artikulierte hierarchische Raumfolge der großen HollandReplikate nicht ersichtlich. In disperser Streuung stehen sie städtebaulich unvermittelt in der Gegend. __ In Holland Village ist alles ambivalent: Der Haupteingang gibt sich einerseits wie das Tor zu einer geschlossenen Nachbarschaft. Andererseits präsentiert sich das Innere dieser thematischen Nachbarschaft wie eine Shanghaier Neustadt. Holland Village ist eine geschlossene Nachbarschaft und spricht zugleich die Raumsprache der offenen Stadt; denn im Innenverhältnis gliedert sich das Anwesen in mehrere offene Pseudonachbarschaften, darunter Villenquartiere, gemischte Quartiere mit stufenförmiger Bebauung, reine Hochhausquartiere und, nicht zu vergessen, in den fiktionalen Stadtkörper integrierte Wohngebäude im holländischen Grachtenstil. Zur Stadt Shenyang hin jedoch sind alle diese unterschiedlichen Wohnbereiche als Teil eines einzigen ‹mega-compounds› geschlossen. __ Widersprüche also, wo man hinschaut. Die Ungereimtheiten lassen auf einen defizitären Masterplan schließen, auf die Unfähigkeit, die Konsequenzen des europäischen Bilderimports für den chinesischen Stadt- und Siedlungsraum abzuschätzen. Offenbar mangelte es weitgehend an interkultureller Kompetenz. Entsprechend fragmentiert ist der Gesamteindruck der Holland-Kopie. Kein Wunder, dass diese Nachbarschaft unbewohnt blieb. __ Wenn dennoch am Hauptbahnhof von Amsterdam oder am künstlichen Hafen­becken vor dem Friedenspalast eine gewisse Betriebsamkeit anzutreffen ist, dann hängt das auch damit zusammen, dass Freunde des ‹romantischen› Hochzeitsfotos, des kulinarischen Genusses oder auch des Angelns Holland Village durch die unbewachten Tore einen Besuch abstatten. Wenn die Blumenrabatten zu jener Zeit gepflegt erschienen, dann ist dies auf die Gartenbau-Weltausstellung zurückzuführen, die zum Zeitpunkt unserer Inspektion ihre Tore unweit der niederländischen Stadtfiktion öffnete.78 __ Die Vermarktung der Wohnungen von Holland Village wurde, kaum hatte sie begonnen, bereits gestoppt. Es heißt, der Projektentwickler sei durch Holland Village in Konkurs gegangen. Aus der South China Morning Post vom 19. September 2009 erfahren wir über diesen Folgendes: «Yang Bin, once acknowledged as China’s second richtest man» has been «jailed for 18 years in 2003 for fraud and bribery.» (Li 2009) __ Dass mit importierten oder selbst entwickelten Ideen am Immobilienmarkt vorbei produziert wird, ist in China übrigens nichts Außergewöhnliches. In den meisten Fällen wird abgerissen und neu gebaut. Diese Praxis verweist vor allem auf die enorme Diskrepanz zwischen Grundstückswert und Gebäudewert im (immer noch) Niedriglohnland China, eine Diskrepanz, die derartige Reaktionen wirtschaftlich vertretbar macht. Hinzu kommt allerdings auch das Denken und Handeln in Komplettlösungen: Eine Nachbarschaft wird wie ein einziges Produkt betrachtet. Gibt es Probleme, die zum Entzug der Genehmigung führen oder zum Desinteresse der Kunden, dann wird oft nicht differenziert reagiert, sondern eben so, als handele es sich bei der Nachbarschaft um ein Produkt: Es wird komplett vom Markt genommen. Genau dies ist mit Holland

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Village geschehen. Die Riesennachbarschaft wurde geschleift und durch mehrere neue, kleinere ‹compounds› ersetzt. Dort, wo sich die ambitionierte Holland-Fiktion einst präsentierte, finden wir heute beispielsweise die wenig inspirierte Nachbarschaft namens Coli City, beworben mit Sprüchen wie «City of Legends» und «Taste the Thousandyear Europe Glamour», oder «Pure District of Villa». Das Verschwinden von Holland Village vom Shenyanger Erdboden ist der Untergang der Titanic der Stadtkopien.

Blick vom Eiffelturm auf Angkor Wat __ Wenden wir uns abschließend der Stadtfiktion im Themenpark zu: Weltumspan-

nendes Vorbild aller Erlebniswelten, welche Elemente der Stadt zum Gegenstand haben, sind die von Walt Disney ersonnenen Vergnügungsparks, namentlich Disneyland im Südwesten und Disney World im Südosten der Vereinigten Staaten. Die Stadtfiktionen artikulieren sich hier primär in Gestalt einer zentralen, barock anmutenden Achse mit der Bezeichnung ‹Mainstreet› und in zweiter Linie im New Orleans Square oder auch in der Stadttravestie ‹Mickey’s Toontown›. Damit sind bereits drei der insgesamt acht thematischen Räume benannt, die allesamt auf us-amerikanische Mythen Bezug nehmen, allen voran Frontierland, Adventureland, Tomorrowland, Critter Country und Fantasyland. Das letzte der Reiche artikuliert, worum es vor allen Dingen geht, um Fantasien, Träume, Imaginationen – mit einem Wort: um Emotionen. Die Besucher sollen in die rosafarbene Watte des ‹glücklichsten Ortes der Welt› gehüllt werden. __ Die Mainstreet ist der Inbegriff eines invertierten städtischen Raums, wo das Öffentliche privat und das Private öffentlich ist. In der Mainstreet vergegenständlicht sich der Traum von der guten alten Zeit, als die amerikanische Stadt noch eine überschaubare Kleinstadt mit klarer Funktionszuweisung war: dem Farmer alles zu bieten, was er für seinen harten Kampf draußen in der Wildnis benötigt. Die Mainstreet usa orientiert auf die feudal-rurale Ikone Cinderella Castle.79 Eine solche Nebeneinanderstellung ist in Traumwelten problemlos und bereitet den gegen Stadt-Land-Dichotomien resistenten Nordamerikanern keinerlei Kopfzerbrechen.80 __ Anders das ‹Fenster der Welt› in Shenzhen. Hier geht es nicht um Traumwelten; es werden keine Fantasiegebilde oder bauliche Übertreibungen angeboten, sondern gleichsam dreidimensionale Fotografien prominenter Bauwerke aus nahezu allen geschichtli-

Der Eiffelturm in Shenzhen

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Europäische Stadtfiktion im ‹Window of the World-Themenpark›, Shenzhen

chen Epochen und von allen Kontinenten (außer der Antarktis) ausgestellt – das Ganze mit einer Garnierung aus Fontäne (100 Meter hoch), Matterhorn- und Fujiama-Imitaten und, nicht zu vergessen, ‹Gottes Hand›. Zwar geht es auch hier um Emotionen, jedoch in abgewogener Form. Das Gegengewicht bilden Inhalte, die insbesondere an wissbegierige Kinder und Erwachsene vermittelt werden. Für Schulklassen ist ‹Window of the World› ein beliebtes Ziel. Hier kann man sehen, wie die Welt da draußen ausschaut. __ Das ‹Fenster der Welt› in Shenzhen zeigt auf 480.000 Quadratmetern laut Eigenwerbung etwa 130 Reproduktionen der berühmtesten Attraktionen aus aller Welt, darunter eine Kopie des Eiffelturms mit immerhin 108 Metern Höhe als weithin sichtbare Landmarke. Der Park ist in neun Sektionen unterteilt (Asien, Ozeanien, Europa, Afrika, Amerika, Erholungsbereich im Wissenschafts- und Technologiezentrum, Skulpturenpark und, wichtig, Internationaler Boulevard). Unter den 67 bedeutendsten Kopien befinden sich immerhin sieben aus Frankreich, fünf aus Großbritannien und eine aus Deutschland (der Kölner Dom im Maßstab 1:15). __ Obschon geografisch-thematisch aufgebaut und insofern an rationalen Ausstellungskonzepten von Museen orientiert, ist der Park im Großen und im Kleinen gespickt mit willkürlichen Nebeneinanderstellungen, die einen anonymen Wikipedia-Autor dazu hinreißen, von einem ‹slightly kitsch appeal of this theme park› zu sprechen. Hinter diesem ‹Kitsch› steht jedoch nichts anderes als eine dreidimensionale Spiegelung der Fähigkeit, im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung beliebige Personen und Objekte in einem Bild zusammenzuführen – und dabei Raum und Zeit souverän zu transzendieren. ‹Window of the World› reflektiert diese Fähigkeit, indem es die Leuchttürme und Bauwunder der Welt dem staunenden Betrachter als räumliche Kopien im verkleinerten Maßstab vorführt. __ Noch bevor der Haupteingang durchschritten ist, grüßt und lockt der Themenpark seine Besucher mit einer giebelwandigen Häuserreihe, die mit Fassadenspiel und Fiktion parzellierter Blockrandbebauung bella città signalisiert. __ Gleich am Eingangstor finden wir Michelangelos Florentiner David friedlich neben der Venus von Milo vor der Kulisse des Eiffelturms und gerahmt von Kopien von Säulenreihen des römischen Forums. Hier geht es zu wie beim chinesischen Essen: Nicht die Komposition des Ganzen steht im Vordergrund, sondern der Inkrementalismus der Komponenten: Alles geht zusammen, alles kann nebeneinander bestehen. Beim Essen geht es um die Sensationen des Gaumens, im Themenpark um die Sensationen des Auges.

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Die Sphinx von Gizeh und die Freiheitsstatue? Kein Problem! ‹Window of the World›, so die Werbung, gestattet es Ihnen, mexikanisch zu essen, dabei die Niagarafälle zu bewundern und nach dem Essen in Angkor Wat zu flanieren oder im Alpen-Skiparadies Snowboard zu fahren. Den Abend kann man bei Bikinimädchen ausklingen lassen, die zu westlicher Popmusik über die Bühne stolzieren. __ Themenparks sind in China außergewöhnlich beliebt. Sie reflektieren eine Neugier auf die Dinge, die man in ihrer Intensität eigentlich nur als radikale Negation einstiger Isolierung bewerten kann, eine Isolierung, die weniger total war, als sie vielfach in diesem Lande dargestellt wird, jedoch wie ein kollektives Trauma ausagiert wird. Isolationismus soll es nie mehr geben! Also wird alles, was die Welt an Schönem, Sensationellem, Verwunderlichem, Märchenhaftem, Beeindruckendem, Unverwechselbarem zu bieten hat, fotografiert, gescannt, abgemalt, nach China transponiert, 1:1 oder en miniature nachgebaut und mit staunenden Augen besichtigt. In China soll es derzeit etwa 1000 Themenparks geben (Sheng, Haitao 2007). Deren Hauptstadt ist ohne Zweifel die Boomstadt Shenzhen, wo bereits 1989 der erste Miniaturlandschaftspark unter dem Namen ‹Prachtvolles China› eröffnet wurde. Der beispiellose Erfolg dieses Parks löste den Themenpark-Boom aus, der China zum Weltmeister der fiktionalen Welten gemacht hat. __ Seit Georg Simmels Beobachtungen des Verhaltens moderner Großstadtmenschen oder Theodor Adornos, Max Horkheimers und Herbert Marcuses Kritik der Kultur­ industrie und vor allem seit Gerhard Schulzes nüchterner Studie über Ästhetisierungen im spätindustriellen Zeitalter wissen wir um die Bedeutung von Erlebniskonsum für den individualisierten Menschen (Schulze 1992).81 Ästhetisierungen scheinen jene Lücke an Erleben und Sinn zu schließen, die eine durchrationalisierte, naturferne Welt der verstädterten Räume hinterlässt. Erlebniswelten scheinen unlösbar mit Stadtleben und Stadt verbunden. Auf die besondere Situation, die die fordistische beziehungsweise funktionalistische Moderne für die urbane Mimikry mit sich brachte, ist bereits wiederholt hingewiesen worden (Hassenpflug 2000; Hassenpflug 2002). __ So hat der Funktionalismus in Architektur und Städtebau – in der Absicht, den gebauten Raum durch Zonierung und Beschleunigung effektiver zu gestalten – eine narrative Verarmung desselben verursacht, die für die fulminante Rückkehr urbaner Fiktionen entscheidend wurde. Es lässt sich unschwer nachweisen, dass die Erlebnisindustrie den entstandenen Mangel an räumlichen Ästhetisierungen als erste identifiziert und in ein kommerziell zu befriedigendes Bedürfnis übersetzt hat. Die derart erkannte marktgängige Nachfrage nach Erlebniswelten befriedigte sie vorzugsweise durch Fiktionen der alteuropäischen Stadt mit ihren durch dekorierte Fassaden geschmückten öffentlichen Räumen. In China verbindet sich dieser kompensatorische Aspekt der Ästhetisierung mit einem unbändigen Interesse an Neuem, Fremdem, Exotischem, dass sich seit der Öffnung des allzu lange in sich gekehrten Landes Bahn bricht. __ Mit dem Hinweis auf geschichtliche Randbedingungen für die Popularität von Themenparks in China relativieren wir den Geltungsanspruch einer allgemeinen Theorie der Erlebniswelten, wonach diese generell als Reaktion auf den Funktionalismus der klassischen Moderne gewertet werden sollten. Das chinesische Beispiel lehrt uns, dass kulturelle Faktoren und die besonderen Entwicklungsbedingungen eines Landes eine große Rolle bei der Beurteilung von urbanen Ästhetisierungen spielen. Die umstandslose Überstellung des Citytainment an die Postmoderne oder zweite Moderne bleibt als alleiniger Erklärungsansatz ersichtlich unterkomplex.

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Kompakte Stadt

7 Grosse Strasse – vertikaler Block __ Wer sich als Europäer einer chinesischen Großstadt von der Autobahn her nähert,

kann die Erfahrung machen, dass dort, wo zuvor der Blick aus dem Fenster über endlose, nur von Dörfern durchbrochene, intensiv bewirtschaftete Felder glitt, plötzlich eine geschlossene Häuserfront steht. Davor geschäftiges, buntes Treiben. Chinesische Großstädte sind vertikal und ungewöhnlich kompakt. Der Übergang vom agrarisch geprägten Umland in das städtische Gewebe ist, verglichen mit den meisten westlichen Städten, geradezu abrupt. Auf vergleichbarer Fläche werden sie zudem von deutlich mehr Menschen besiedelt, als dies in westlichen Städten der Fall ist. In Europa ist das kompakte Städtewachstum dem 19. Jahrhundert zuzuordnen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich, angetrieben durch die Automobilisierung, die städtische Peripherie, der Bereich des Übergangs zwischen Stadt und Land, immer weiter ausgedehnt. Ein Stadt-Land-Kontinuum ist dadurch entstanden, zugleich städtisch und ländlich – und doch weder das eine noch das andere. Thomas Sieverts hat zur Charakterisierung dieses Raumphänomens das einprägsame Wort ‹Zwischenstadt› vorgeschlagen (Sieverts 1997). __ Demgegenüber scheinen chinesische Städte zu wachsen, ohne ihre Grenzen zu verwischen. Indem sie sich ausdehnen, schieben sie ihre Ränder deutlich wahrnehmbar vor sich her. Eine Zwischenstadt scheint sich nicht auszubilden; auch von einem ‹urban sprawl› nordamerikanischen Typs mit seinem grotesken Landverbrauch kann mit Blick auf China – der Jahrtausende alten Stadt-Land-Identität zum Trotz – nicht die Rede sein. «The form and structure of the evolving Chinese suburban landscape», so Campanella, «is also markedly different from the American model. The archetypal suburb in the United States is low in density, with generous lot sizes and detached single-family homes.» Er ergänzt: «[...] numerous [...] are gated housing estates of clustered mid- to high-rise apartment buildings, which have become the basic unit of suburban sprawl in China. This is, of course, sprawl with Chinese characteristics – much denser and much more ‹urban› than anything in suburban America.» (Campanella 2008, 202) __ Die Siedlungsdichte der chinesischen Stadt nimmt in suburbanen Bereichen nicht generell ab, wie wir dies aus Europa kennen. Im Gegenteil: Die Siedlungen der neuen Mittel- und Oberschichten, die die Grenzen der Stadt nach außen, in das Ackerland hinausschieben, sind in der Regel – und in Zukunft wohl noch entschiedener als heute – hoch verdichtete Nachbarschaften. In ihrer Studie über die chinesische Großstadt in der Phase des Übergangs von der Staats- zur Marktwirtschaft sprechen Xiaopei Yan et al. daher auch von einem ‹Pfannkuchenmuster› («pattern of making a pancake») beziehungsweise von einem ‹verdichteten Wachstum» («concentrated outward expansion») der Stadtentwicklung (Xiaopei/Li/Jianping 2002).

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Vertikales Quartier in Shanghai

Bei diesen Nachbarschaften handelt es sich um die bereits bekannten, postmodern gestalteten vertikalen Wohnblocks in ‹schwingender und tanzender› Zeilen- und Punktbauweise. Wohngebäude mit 20 bis 30 und mehr Geschossen sind keineswegs selten. Wir nennen diesen für die Stadtentwicklung im neuen China charakteristischen Siedlungsbaustein den ‹vertikalen Block›, ein Grundbaustein der heutigen chinesischen Stadt. Als Hauptgrund für die Herausbildung des kompakten, verdichteten Städtewachstums muss die Knappheit des verfügbaren Landes bei zugleich sehr hohem Bevölkerungsdruck gewertet werden (Lü Junhua, Shao Lei 2001, 204). __ In seiner Vertikalität findet dieser Siedlungstyp nicht einmal in den europäischen ‹Schlafstädten› der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Entsprechung, denn hier haben horizontale Zeilenbauten meist den Vorzug vor vertikalen Punktbauten erhalten. In China scheint das Verhältnis dieser beiden modernen Baukörper-Typen ausgewogen. Allerdings erhalten in innerstädtischen Lagen mit kleinen und engen Baufeldern Punktbauten aufgrund der größeren Gestaltungsfreiheit kleiner Grundflächen den Vorzug vor Zeilenbauten. In jedem Fall haben die Gebäude, ob Zeile oder Punkt, sehr viel mehr Geschosse, und so überwiegt der Eindruck von Vertikalität. __ Während fordistische Quartiere in Europa häufig mit Gettoisierung, sozialer De­ pravation, Vandalismus, Imageproblemen und Leerstand zu kämpfen haben, erfreuen sich die vertikalen chinesischen Nachbarschaften großer Beliebtheit. Das hat nicht allein mit Bevölkerungsdruck oder mit den räumlichen Qualitäten der neofordistischen Weiterentwicklungen zu tun, sondern auch mit der Bereitschaft, wie selbstverständlich in Hochhäusern und verdichteten Wohnumwelten zu leben – wenn nur die wichtigsten Bedingungen erfüllt sind: Das Quartier muss abgeschlossen und gut gesichert, die Wohnungen müssen groß und orientiert, und das introverse Element muss durch einen gefällig gestalteten, Glück verheißenden Nachbarschaftshof repräsentiert sein. Dazu muss das (Marken-)Image kollektiven Distinktionsgewinn82 garantieren, und ein Parkplatz für das möglichst große neue Auto sollte natürlich auch verfügbar sein.

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Damit sind wir beim Thema Auto und Straße. Wir wissen aus der europäischen und nordamerikanischen Stadtgeschichte, dass die Automobilisierung zu den mächtigsten Wirkkräften der Zersiedelung gehört und damit entscheidenden Anteil an den im 20. Jahrhundert entstandenen Formen ruraler und urbaner Peripherisierung hat. Die Zwischenstadt ist ein Produkt des Automobilismus. __ Die Eisenbahn als Massentransportmittel verbindet Städte miteinander, stärkt deren Zentralität und fördert dadurch sogar deren kompakte Form. Mit ihren zentrumsnahen Kopfbahnhöfen bescherte die Eisenbahn der europäischen Stadt des 19. Jahrhunderts eine Blütezeit ihrer zentripetalen Dynamik. Der motorisierte Individualverkehr hingegen löst verdichtete Räume auf. Er transformiert Städte, die im Raum gebaut sind, in Städte, die in der Zeit errichtet sind, wie Robert Fishman treffend formulierte.83 Das Auto ist ein Vehikel des Stadtrandes. Es ist die stärkste Wirkkraft hinter der Ausdehnung der Grenze von Stadt und Land, hinter der Zersiedelung, der Entstehung des ‹urban sprawl›. __ Berechtigt jedoch dieser Befund zu der Annahme, dass chinesische Städte – auch an ihren Peripherien – nur so kompakt gebaut werden können, weil die Motorisierung noch so niedrig ist?84 Gewiss, in China beginnt das Auto gerade erst, auf die Raumproduktion Einfluss zu nehmen. Doch dort, wo dies geschieht, nämlich an der städtischen Peripherie, scheint dieser Einfluss nicht, wie eigentlich zu erwarten, zur netzartig-kleinteiligen und von Straßenbändern zerschnittenen Landschaft des europäischen und nordamerikanischen Stadtrandes zu führen. Im Gegenteil: Die Strukturen großer Dichte breiten sich aus und die Dichte nimmt sogar noch zu, erst recht nach dem Willen der Stadtplanungsbehörden und den Regelungen des neueren Planungs- und Baurechts. __ Wie können wir uns diese aus europäischer Sicht paradoxe Entwicklung erklären? In China scheint der Automobilismus den Bau der ‹großen Straße› zu befördern. Es sieht alles danach aus, als ob der gewaltige Strom an Automobilen, der sich seit einigen Jahren auf die chinesischen Städte zubewegt, durch diesen Straßentypus aufgefangen und in geordnete Bahnen gelenkt werden soll. __ Bei der ‹großen Straße› handelt es sich in erster Linie um übergeordnete Erschließungs- und Tangentialstraßen der städtischen Randzonen. Ihre Breite übertrifft diejenige von Stadtautobahnen oft erheblich. Während Autobahnen (meist Ring- beziehungsweise Radialstraßen) als vier- bis achtspurige reine Autostraßen konzipiert sind, werden sechs- bis achtspurige Haupterschließungsstraßen noch durch beidseitige Rad- und Motorradstreifen, breite Fußgängerwege (in Shanghai behindertengerecht mit Blindenleitstreifen und Bordkantenabsenkungen versehen) und gelegentlich auch mit Parkbuchten samt eigenen Parkplatzzubringern angelegt. So entstehen enorme, nur durch Grünstreifen verzierte Barrieren von einer Breite, die jede europäische Stadt marginalisieren und zum Verschwinden bringen würde. Nicht so in den chinesischen Großstädten. Denn die hoch aufragenden Gebäude der Wohnquartiere bilden dort ein maßstabsgerechtes vertikales Gegengewicht zur ‹großen Straße›. __ Wo mit hohen Dichten Mittelklasse-Wohnbau betrieben wird, muss man mit dem verstärkten Auftreten jenes Statussymbols rechnen, das auch Chinesen das allerliebste ist: mit dem Auto. So findet die Entwicklung der neuen, hoch verdichteten Siedlungsgebiete nicht ohne den vorrangigen und zeitlich vorausgehenden Bau dieser überaus breiten Ausfall- und Tangentialstraßen statt. __ Für die Ausdehnung der Stadt ergibt sich damit eine signifikante Doppelstruktur von ‹großer Straße› und ‹vertikalem Block›. Dieser Städtebau ist ausgewogen und daher

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längst zum allgemein akzeptierten Modell geworden. So wird er auch bei der Umgestaltung der Innenstädte angewendet. In diesen Kernbereichen wird das alte China – als alt gilt oft schon, was vor der Öffnung im Jahr 1978 gebaut wurde – seit über zwei Jahrzehnten großflächig abgeräumt, durch die neue Struktur von ‹großer Straße› und ‹vertikalem Block› ersetzt und um primär radiale Stadtautobahnen ergänzt. __ Der Dualismus von großer Straße und vertikalem Block ist die chinesische Form, in der die städtische Peripherie von der umgebenden Landschaft und der Kernstadt gleichermaßen Besitz ergreift. Gut möglich also, dass die chinesische Großstadt diesen Dualismus zu ihrer zukünftigen, den räumlichen Rhythmus prägenden Grundstruktur macht. Diese muss nicht zwingend eine räumliche Verarmung nach sich ziehen – wenn man einmal von dem bereits ebenso gedanken- wie bedenkenlos zerstörten kulturellen Erbe kleinteiliger, introverser Wohnquartiere mit Revitalisierungspotential absieht. Denn schon allein aus kommerziellen Gründen gibt es genügend offenen Stadtraum, in dem sich die Stadt für ihre Bewohner und Gäste fein, bunt, vielfältig und somit auch interessant machen kann. __ In Europa ist man seit geraumer Zeit dazu übergegangen, das Auto durch Entschleunigungsmaßnahmen und Beschränkungen aller Art, das heißt zum Beispiel durch Verkehrsberuhigung, Anliegerstraßen, Fußgängerzonen, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Straßenschwellen und Umweltzonen, an den innerstädtischen Raum anzupassen. In China sind vergleichbare Restriktionen bisher nur in Ansätzen erkennbar. Dies liegt nicht nur an der immer noch relativ geringen Ausstattung mit Kraftfahrzeugen pro Kopf. Es liegt auch nicht allein an dem üppigen Angebot an ‹großen Straßen›. Ein wichtiger Grund für das Ausbleiben der genannten Beschränkungen ist wohl auch die Existenz der abgeschlossenen Wohnquartiere mit ihrem vom offenen Stadtraum abgetrennten, entschleunigten Erschließungssystemen. __ In China wird nicht, wie beispielsweise in Nordamerika, eine neue autogerechte Stadt jenseits der verdichteten ‹transitional zone› und der cbd gesucht. Im Reich der Mitte scheint man auf den ersten Blick eher jenen Weg zu beschreiten, der in den kriegs­ zerstörten deutschen Städten nach dem Zweiten Weltkrieg innerstädtische Mondlandschaften hat entstehen lassen: den Weg der autogerechten Innenstadt. Tatsächlich werden die Großstädte einschließlich ihrer Zentren an das Auto angepasst, wenn es sein muss durch aufgeständerte Autobahnen, die sich wie zyklopische Spaghettifäden durch die Stadt schlängeln. Sind damit jene fordistischen Asphaltwüsten vorprogrammiert, die einst an vielen deutschen Städten nahezu irreparable, bis heute schwelende Raumwunden und andauernde Imageschäden verursachten? __ Offenbar nicht! Denn die chinesischen Innenstädte wirken vital, bunt, funktionsgemischt, frequenzstabil, in einem Wort: ausgesprochen urban. Dieser Befund ist nicht weniger bemerkenswert als die bereits beobachtete Kompaktheit des Stadtrandes. Doch dieser Hinweis enthält mehr als einen Vergleich. Die Ursachen für die überraschenden Resultate (Kompaktheit der Peripherie, Vitalität der Kernstädte) sind dieselben.

‹Große Straße› mit vertikalen Nachbarschaften in Shanghai

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Vertikaler Block an großer Straße in Shenyang

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‹Große Straße›, Qingdao

Es ist die Ausgewogenheit von ‹großer Straße› und ‹vertikalem Block›, die Balance von Breite und Höhe, die die Stadt zusammenhält. Die chinesische Form der Peripherisierung der Kernstädte bringt die alte, horizontale Siedlungsstruktur der introversen Nachbarschaften und der fordistischen Zeilenbauten zum Verschwinden und ersetzt diese durch eine vitale und ausbalancierte Struktur von aufgeschlossenem und abgeschlossenem Stadtraum. __ Dass die Kernstädte sich durch deren Peripherisierung nicht in jene ‹Mondlandschaften› verwandeln, wie wir sie in einigen fordistisch wiederaufgebauten europäischen Stadtzentren vorfinden, hat auch mit der chinatypischen Vitalität und Medialität des kommerzialisierten offenen Stadtraumes in Verbindung mit der vertikalen Dichte der geschlossenen Quartiere zu tun. Die vertikale, kompakte Stadt mit ihren lebhaften offenen Räumen vermag die ausgedünnte Stadt der ‹großen Straße› wenn schon nicht pro­blemlos, so doch eher recht als schlecht und oft sogar sehr überzeugend zu konterkarieren. Nicht selten entsteht eine städtische Landschaft urbaner Canyons, in denen das Leben zwischen Medienfassaden brodelt. So wie eine funktionale, ästhetische und ikonische Beziehung zwischen der kleinen Straße und dem Einfamilienhaus angenommen werden kann, so sollte auch eine funktionale, ästhetische und ikonische Beziehung zwischen der ‹großen Straße› und der ‹vertikalen Nachbarschaft› unterstellt werden. __ Der in Europa eher seltene Anblick von achtspurigen Ausfallstraßen, die an einer Ackerkante enden, ist an den Rändern chinesischer Städte alltäglich. Hier ist die Übergangszone zwischen Stadt und Land (zwischen verstädterter Zone und Randzone) im Vergleich mit dem Kerngebiet eher klein. Und selbst neue Erschließungen am Stadtrand wie Gewerbegebiete, Tangentialstraßen, Logistikzentren, Freizeitparks und dergleichen baulich-räumliche Aktivitäten bleiben dem Stadtrand nicht lange erhalten. Denn die Geschwindigkeit der Stadtentwicklung hat eine Wirkung wie sturm­gepeitschte Wellen. Tangentialstraßen, die heute in den städtischen Orbit gelegt werden, sind morgen schon von neuen Gewerbegebieten und Nachbarschaften überwachsen. Sie rücken in die sich ausbreitende Stadt und verwandeln sich von Trabantenstraßen in Satellitenstraßen und von diesen in innerstädtische Ringstraßen.85 Vergleichbares geschieht mit den umliegenden Dörfern, die in kürzester Zeit in den hoch verdichteten Stadtkörper integriert werden.

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Die urbanen Dörfer von Shenzhen __ Zu den urbanistisch aufregendsten Phänomenen der neueren chinesischen Stadt-

entwicklung zählen die sogenannten Villages, die ‹Dörfer› von Shenzhen, Habitate, die sich als hoch verdichtete, geschlossene und introverse Strukturen deutlich von dem sie umgebenden Stadtraum abheben (Ma 2006). Ipsen identifiziert sie unter dem Terminus ‹Verinselung› als eines von fünf Raumprinzipien beziehungsweise räumlichen Struktur­ elementen des chinesischen Hochgeschwindigkeits-Urbanismus (Ipsen 2004, 28). __ Zunächst zu Shenzhen: Zum Zeitpunkt der Öffnung Chinas im Jahre 1978 lebten etwa 30.000 Menschen in dem einstigen Fischernest. Nachdem die damalige Gemeinde Bao’an 1980 von Deng Xiao Ping höchstpersönlich zur ersten Sonderwirtschaftszone des neuen China auserkoren und in Shenzhen umbenannt wurde, brach ein weltweit beispielloser Entwicklungssturm los. Heute hat die Kernstadt (Stadt- und Stadtrandkreise) die Grenze von fünf Millionen Einwohnern überschritten, und die Gebietskörperschaft Shenzhen (inklusive Landbezirke) dürfte etwa die doppelte Einwohnerzahl haben. Das bedeutet, dass die Einwohnerzahl jährlich um etwa 200.000 bis 250.000 gestiegen ist. Das ist eine gewaltige Herausforderung an die strategische und praktische Stadtentwicklungsplanung, die jedoch, wie die Stadt beweist, mit dem urbanistischen Rüstzeug von offener und geschlossener Stadt, von ‹großer Straße› und ‹vertikalem Block›, von schwingenden Zeilen und tanzenden Punkten, von erhabenen Plätzen und introversen Nachbarschaftshöfen so gut gemeistert wurde, dass die Stadt zu einer ernstzunehmenden Imagekonkurrentin für das benachbarte Hongkong wurde und das Stadtplanungsamt für seine Leistungen nationale Auszeichnungen erhielt. __ Eine Stadt mit einer derartigen Wachstumsdynamik ergießt sich wie eine Sturmflut über das sie umgebende Land und begräbt dort alles unter sich, was sie vorfindet. Nun war die Gegend ursprünglich, von der Fischerei abgesehen, agrarisch geprägt, vor allem durch Reisanbau. Überall verstreut lebten Fischer und Ackerbauern in kleinen Dörfern, deren Familien häufig auf nur einen oder zwei Nachnamen hörten. Die Habitate dieser Familienclans wurden nun von der der Turbo-Urbanisierung Shenzhens überrollt. Sind sie in ihr ‹ertrunken›? Keineswegs. Die Bauernfamilien verloren zwar ihre Reisfelder, durften jedoch im Gegenzug die Nutzungsrechte für die Bodenflächen ihrer Wohn­ häuser behalten. Auch die ländlichen Produktionsgenossenschaften beziehungsweise

‹Village› im Zentrum von Shenzhen

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die Dorfkollektive existierten weiter, verwandelten sich jedoch kurzerhand in kommerzielle Unternehmen (‹joint stock companies›). __ Während also ringsherum die Häusergebirge der Urbanisierung die kleinen Dörfer in den Würgegriff nehmen, suchen deren ganz und gar ausgeschlafene Bewohner nach neuen Geschäftsfeldern, sozusagen nach Ersatz für die entgangenen Reis- und Fischernten. Der erste und beste Geschäftszweig, der sich auftut, ist die Vermietung von Wohnraum an die aus dem westlichen Hinterland ins goldene Shenzhen strömenden Arbeitsmigranten. Die immer noch funktionsfähigen Dorfkommunen, oder besser: die Firmen, nehmen die Sache professionell in die Hand und sorgen dafür, dass auf den im Dorfbesitz verbliebenen Grundstücken solide gebaut wird: für Migranten, Geschoss um Geschoss, Jahr für Jahr. Die Arbeitsmigration wird auf diese Weise zum Ackersubstitut, zum neuen Acker. Und keineswegs selten entstehen innerhalb der in die Höhe wachsenden ‹Dörfer› kleine Fabriken und Werkstätten, in denen die Arbeiter unter schummerigem Licht Metallteile stanzen, Platinen löten, Plastikteile prägen usw. So wird der Acker bestellt durch die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, und geerntet wird in guter, harter chinesischer Währung. __ Von diesen ‹Villages›, deren Ausgangspunkt die Dörfer der einstigen lokalen Ackerbauer und Fischer waren, lassen sich jene oben bereits erwähnten informellen oder ethnischen ‹Dörfer› unterscheiden, die im Zuge der seit Mitte der neunziger Jahre in die Metropolen des Ostens fließenden Migrantenströme entstehen. Eduard Kögel schreibt: «Diese Migrantendörfer in der Stadt bilden eigene soziale Kerne, die ohne die formelle Hilfe der Stadtverwaltung entstehen. In der Grauzone von legal und illegal, unter schlech­ten Rahmenbedingungen, auf der Basis von kleinen Familienbetrieben entwickeln sich unterschiedlichste Dienstleistungs- und Produktionsbetriebe. Kriminelle Organisation und sogenannte ‹black societies› operieren hier im Schutze der undurchsichtigen Verhältnisse.» (Kögel 2004a, 52)

Im Village, Shenzhen

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Obwohl sie die Bedeutung familiärer Strukturen und in Teilen auch die Informalität mit den illegalen Migrantendörfern teilen, erweisen die Dörfer von Shenzhen sich demgegenüber als sozial hoch wirksame städtische Integrationsmaschinen für die vernachlässigte Landbevölkerung. Sie bilden eine geduldete, teils informelle Struktur, die mittels ihrer Integrationsleistung Formalität beziehungsweise Legalität ermöglicht. So mancher der heute registrierten Bürger von Shenzhen hat durch das ‹Tor› eines ‹Village› den Raum der Stadtbürgerschaft betreten. __ In ihrer Studie zu den ‹Villages in Shenzhen› beschreibt Hang Ma das Managementsystem der von ihr untersuchten Dörfer als aus drei in unterschiedlicher Weise (teils enger, teils unabhängiger) agierenden Institutionen geformte Einheit: 1. Das Gemeindeamt (‹sub-district office›, mit den erwähnten Nachbarschaftskomitees vergleichbar). Es repräsentiert die Stadtregierung vor Ort, ist jedoch auf die Zusammenarbeit mit den übrigen Institutionen der ‹Dörfer› angewiesen. 2. Der Gemeindeausschuss (‹community committee›). Dieser leitet sich von den Leitungsgremien der einstigen Dorfkollektive ab und ist direkt mit der lokalen Gruppe der kommunistischen Partei (‹root party branch›) verbunden. 3. Die Firma (‹joint stock company›). Die Firma ist das dominierende Leitungsorgan der Dörfer. Sie integriert soziale, ökonomische und administrative Funktionen. Nicht selten sind die Leitungsfunktionen mit denselben Personen besetzt, die auch den Gemeindeausschuss kontrollieren (in kleinen ‹Dörfern› ist das grundsätzlich so). Gesellschafter sind diejenigen, die Landnutzungsrechte besitzen und Mitglied eines Familienclans sind: die originären Dorfbewohner. Die Dorfadministration beziehungsweise Dorfregierung ist somit eine Art von Familienunternehmen oder ein ökonomisiertes Dorfkollektiv (Ma 2006, 155ff). __ Während ringsherum die Stadt Shenzhen sich zur Megastadt aufschwingt, werden die einstigen Dörfer zu Einfallstoren, zu hoch effizienten Transformationsräumen für die strukturelle Integration der Arbeitsmigranten. Es werden gute Geschäfte gemacht – wenn irgend möglich: informell (Ma 2006, 166). Aus den Gewinnen der ‹Firma› wird Infrastruktur realisiert86, Plätze werden mit Tempeln und Statuen ausgestattet, Darlehen für Investitionen vergeben, neue Geschäftsbereiche erschlossen: Restaurants, Drogerien, Prostitution, oft unter dem Titel ‹Friseurhandwerk› (‹hairdressing›) versteckt, Sportwetten, Golfplätze, auch zahllose kleine Fabrikationsbetriebe – vieles ist nun möglich und wird umgesetzt.87 __ Eigentlich verhält man sich noch wie früher, als man nicht von Stadt, sondern von Wasser und Erde umgeben war. Nun jedoch ist man wohlhabend und kann weitere Geschäftsfelder erschließen: Auf diese Weise entstehen schließlich Gebilde, die zwar als ‹Dörfer› bezeichnet werden, die man jedoch als die am höchsten verdichteten Stadtquartiere der Welt betrachten muss. Die Gebäude sind oft zehn und mehr Geschosse hoch und die rasterförmig angelegten Erschließungsstraßen und -wege oft kaum mehr als einen Meter breit. Nur selten öffnet sich das labyrinthische, dunkle Straßengewirr zu lebhaften Plätzen, die mit bunten Buddha- und Konfuzius-Figuren, Tempelchen, Springbrunnen, Leuchtbändern, Neonreklamen, Plastikpflanzen und -blumen verziert sind. __ Da es (2008) etwa 240 solcher von der wuchernden Metropole umgebenen ‹Dörfer›88 gibt, prägen diese das Stadtbild von Shenzhen; aus Sicht der Planer und Stadtoberhäupter offenbar zu Ungunsten des Stadtimages und der sozialen Kohäsion. Die Dörfer sollen daher verschwinden, die meisten zumindest. Ersatzlos. Dies in die Tat umzusetzen ist jedoch nicht ganz einfach; denn die ‹Dörfer› haben Macht, Einfluss und Ressourcen – und wissen die Begehrlichkeiten der Stadt bisher erfolgreich zurückzuweisen.

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Die ‹Villages› sind in vielfacher Hinsicht bemerkenswert, nicht nur hinsichtlich ihres Beitrags zum urbanen Code der Stadt Shenzhen, dem sie das Element der urbanen Inseln hinzufügen. Bemerkenswert ist auch die Persistenz ihres sozialen, familienbasierten Systems. Die Firmen beziehungsweise ‹joint stock companies›, so Hang Ma, reflektieren in ihrer personellen Zusammensetzung durchgängig die Clanstruktur des jeweiligen ‹Dorfes›. Nichtbewohner sind nur in wenigen Ausnahmefällen in der Firma tätig (Ma 2006, 158). Im Grunde setzt sich in diesen Organisationen das Dorfleben des historischen China fort. In der Mühelosigkeit, mit der sich die Transformation des Arbeitsinhalts von Ackerbau und Fischzucht zur Vermietung von Wohnraum an Arbeitsmigranten und anderen unternehmerischen Betätigungsfeldern vollzieht, wird jene prinzipiell niedrige Schwelle zwischen der ländlichen und städtischen Kultur in China erkennbar, auf die wir im Abschnitt «Stein und Pflanze» (Kapitel 2) hingewiesen haben. __ Dieses Phänomen eines kaum vorhandenen kulturellen Gefälles zwischen Stadt und Land lässt sich auch daran erkennen, dass den ‹Villages› aufgrund ihrer Dichte und Vertikalität jede Spur dörflicher Extensität und Horizontalität fehlt. Dennoch werden diese Gebilde mit voller Überzeugung als Dörfer bezeichnet, ohne jede Spur von Ironie. Das ist möglich, da das Leben aus der Sicht der Dorfbewohner sich faktisch nie geändert hat. Gut, man hat seine Reisfelder verloren. Doch, Buddha sei Dank, man durfte wohnen bleiben und konnte so einen neuen Acker bestellen. Auch das Dorfkollektiv ist geblieben, die Familien sind immer noch dieselben. Wo sind da die existentiellen Unterschiede? Es ist, als wollten die Dorfbewohner die als gesichert geltenden Theorien über den Stadtmenschen von Simmel bis Bourdieu komplett widerlegen. __ In der Tat scheint in China allgemein, und dies nicht nur in den urbanen Dörfern von Shenzhen, die Resistenz gegen eine zugespitzte Individualisierung und eine mit diesem Prozess verbundene Vergesellschaftung sozialer Integrationsmechanismen und Infrastrukturen (Arbeit, Alterssicherung, Pflege, Kinderbetreuung) deutlich stärker ausgeprägt als in der westlichen Welt. In China wird der Vergesellschaftungs- und Modernisierungsprozess, der sich in Europa eher in Reibung mit und Kontrast gegen Familie und Gemeinschaft artikuliert, gleichsam in die Obhut der Gemeinschaft genommen. Die kulturelle Hegemonie der Gemeinschaft bleibt auf diese Weise aufrechterhalten und den gesellschaftlichen Prozessen – vom Geldverkehr über die Institutionalisierung bis zur Individualisierung – wird Rang und Grenze zugewiesen. Es bleibt der Primat der Gemeinschaft. Und dieser Primat artikuliert sich räumlich zuallererst in der Bedeutung exklusiver, introverser Nachbarschaften – und in ihren Sonderformen wie etwa den urbanen Dörfern. Diese lassen sich somit als Formen der Ruralisierung des Städtischen (nicht als Urbanisierung des Ländlich-Dörflichen) deuten. __ Die ‹Dörfer› von Shenzhen lassen uns erkennen, dass die abgeschlossenen, introversen Nachbarschaften, denen wir in den chinesischen Groß- und Megastädten begegnen, im Prinzip Dörfer sind, die das Städtische in Regie nehmen. Der chinesische Urbanismus untersteht der sozialen und kulturellen Hegemonie der Gemeinschaft. Kein Stadtraum denotiert dies nachdrücklicher als die Dörfer von Shenzhen.

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Die grosse Stadt __ Die chinesische Stadt hat eine uralte Geschichte. Städtische Siedlungen hat es schon

vor über 5.000 Jahren gegeben. Sie befanden sich in der Nähe der Ufer des Gelben Flusses (Huanghe) und des Yang Xi Jiang. Sie müssen als Tempelstädte oder Superoikoi (Weber 1923/1981 270ff, Childe 1955, 84f, Hassenpflug 1990, 194ff, 298ff) gedeutet werden, als Häuser von Gottkönigen, die an der Spitze von ‹hydraulischen Gesellschaften› (Wittfogel 1932) standen. Die chinesischen Kaiser regierten in der Tradition der einstigen ‹Pharaonen› des fernen Ostens. __ Der Permanenz der chinesischen Stadt entsprechend, hat sich auch deren städtebauliches Konzept bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nie grundlegend geändert. Chinesische Städte waren immer Palaststädte, das heißt Orte, die die Allmacht und Allgegenwart des Kaisers und seines zentralen Machtapparats repräsentierten. Nach der Reichseinigung durch den Kaiser Qin wurde ab der Han-Dynastie jenes semi-aufgeklärte zentralistische Herrschaftssystem installiert, das über 2.000 Jahre bestand und entscheidend dazu beitrug, dass sich ein feudales System europäischer Prägung in China nie durchsetzen konnte. Dieses Herrschaftssystem der Literaten verdrängte den Einfluss des Adels weitgehend und stützte sich vor allem auf die Verwaltungstätigkeit gebildeter, des Lesens und Schreibens kundiger und künstlerischer Ausdrucksformen fähiger Beamter (Literatenbeamte oder auch Mandarine). __ Die Literatenbeamten waren keine Feudalherren, ihr Status war nicht vererbbar. Sie erreichten ihre Position durch erfolgreiche Schulbesuche und durch bestandene Prüfungen, mit denen ihre jeweilige Ausbildungsstufe abgeschlossen wurde. Schmidt-Glintzer ist darum vollkommen Recht zu geben, wenn er mit Blick auf das Literaten-Beamtentum von einer semi-aufgeklärten Gesellschaft spricht und damit den immer noch üblichen Vergleich des chinesischen Kaisertums mit dem europäischen Feudalismus zurückweist (Schmidt-Glintzer 1997, 66ff). Die ‹scholar officials› und der durch sie exekutierte kaiserliche Zentralismus hatten entscheidenden Anteil an der Permanenz der chinesischen Kultur und ihres Städtesystems. __ Das ganze Land gehörte dem Kaiser ungefähr so, wie heute Grund und Boden Eigen­ tum des Staates sind. Jede Stadt mit ihren Mauern, ihrem Glockenturm, ihren Ahnenund Erntedanktempeln galt als räumliche Repräsentation des Kaisers und war als solche seinem Willen vollständig unterworfen. In den Städten und an den Stadträndern wurden Märkte unter seiner Oberaufsicht abgehalten. Das Marktrecht und alle anderen Stadtrechte wie Münzregal, Gerichtsbarkeit, Gewicht, Zoll- und Steuerrecht, die in Europa die städtische Freiheit und damit die Existenz der Städte begründeten, blieben dabei in der Hand des Kaisers (Hassenpflug 2004, 27ff).

Restaurierte konfuzianische Schule auf dem Campus der Shenyang Jianzhu-Universität

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In der konfuzianischen Schule, Shenyang

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Zu einer Zeit, da es in Westeuropa überhaupt keine nennenswerte Städte mehr gab (vom 7. bis 9. Jahrhundert), beherbergte die Tang-Kaiserstadt Xi’an (vormals Cháng’ân) auf 88 qkm etwa eine Million Einwohner und war damit die bei weitem größte Stadt der damaligen Welt. Das Leben in großen und sehr großen Städten ist außerdem nie, wie in Westeuropa nach dem Zerfall des weströmischen Imperiums, erloschen. China verfügt insofern nicht nur über eine sehr alte, sondern über eine zugleich kontinuierliche Geschichte des Großstadtlebens – und, dies gehört dazu, des Großstadt-Städtebaus. Ein Fall wie der, dass eine Millionenstadt wie Rom für Jahrhunderte ihr Stadtleben nahezu vollständig aushaucht (im Mittelalter betrug die Einwohnerzahl zeitweilig nicht mehr als 20.000  Einwohner), hat es in der chinesischen Geschichte nicht gegeben. Wurde eine Stadt niedergeworfen und zerstört, wurde sie am selben Ort oder an anderer Stelle umgehend wieder aufgerichtet. __ China ist mit dem Großstadtleben vertraut. Eine großstadtkritische oder gar großstadtfeindliche Bewegung wie im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts wäre hier kaum vorstellbar und hat sich auch niemals entwickelt. Diese Aussage gilt auch vor dem Hintergrund der Politik Maos, die seit Mitte der fünfziger Jahre in der Entwicklung des Hukou-Meldesystems und während der Politik des ‹Großen Sprungs nach vorn› (1957– 1960) stadtfeindliche Züge aufzuweisen scheint. Das Hukou-Meldesystem, das über die Öffnung Chinas hinaus bis Mitte der achtziger Jahre streng umgesetzt wurde und noch heute in den Grundzügen gilt, richtet sich gegen die Land-Stadt-Migration und zieht eine scharfe Grenze zwischen Stadtbewohnern und Landbewohnern. Es ist insofern zutiefst anti-republikanisch. Die bäuerlichen Bevölkerungsteile haben diesem Meldesystem zufolge kaum Aussicht auf den Erwerb des Status eines Stadtbürgers. Sie werden faktisch ausgeschlossen – und dies, obwohl die Verfassung von 1954 Freizügigkeit garantiert (Zhang, Minjie 2004). Wer auf dem Dorf geboren wird, bleibt ein Landmensch und hat so gut wie keine Chance, eine dauerhafte Bleibe in der Stadt zu bekommen. Er benötigt eine Genehmigung für seinen jeweiligen Stadtaufenthalt. __ Mit Stadtfeindlichkeit hat dieses System jedoch nichts zu tun. Eher schon umgekehrt mit Landfeindlichkeit, obschon es mit der Notwendigkeit der ländlichen Entwicklung begründet wird. Auf der einen Seite steht es in der Tradition eines hierarchisches Denkens, in dem Stadt und Stadtleben gegenüber dem Land und dem Landleben als höher stehend gelten. Auf der anderen Seite droht es jedoch die Ordnung dieser Hierarchie gerade dadurch zu sprengen, dass es das Dorfleben als außerhalb derselben stehend diskriminiert. So versieht die Hukou-Meldepraxis das Landleben mit einem ganz unchinesischen, jedoch bis heute nachwirkenden Makel. __ Auch die mit dem ‹Großen Sprung nach vorn› einsetzende und danach noch bis zum Tod Maos 1976 fortgesetzte Vernachlässigung der Stadtplanung, welche die Schließung der entsprechenden Behörden einschloss, bringt keine stadtfeindliche Gesinnung zum Ausdruck. Denn diese Politik war nicht primär gegen die Städte gerichtet, sondern drückte die Priorität bei der Entwicklung des agrarischen Hinterlandes nach der Beendigung der Entwicklungskooperation mit Russland Mitte der fünfziger Jahre aus (Friedmann 2005). __ Schließlich lässt sich auch der ‹Große Sprung› selbst mit westlichen Formen der Stadtfeindschaft nicht verbinden. Grundlage dieser Politik war vielmehr die urchinesische Annahme einer (zuvor im Kaisertum symbolisierten und nunmehr durch die kommunistische Partei tradierten) Wesenseinheit von Stadt und Land. Nur vor dem Hintergrund dieses Identitätsdenkens lässt sich überhaupt die Idee begreifen, aus Bauern

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Stahlkocher zu machen. Angeleitet von sinisierten Visionen einer egalitären kommunistischen Gesellschaft sollte der ‹Große Sprung› der Auffassung von der Minderwertigkeit des Landlebens entgegentreten, indem er Bauern in Proletarier und so das Landleben in Stadtleben verwandelt. __ Ansonsten dachte Mao vorzugsweise in militärischen Kategorien. Von einer Verländlichung der Stahlproduktion versprach er sich offenbar einen besseren Schutz der in den Großstädten konzentrierten Schwerindustrie, dazu logistische und distributive Vorteile (Friedmann 2005, 20f). Eine eigenwillige, von der Geschichte auf brutale Art korrigierte Interpretation der Industrialisierung des Ländlichen, ein Realexperiment, das bekanntlich Millionen von Menschen das Leben kostete. Mit Stadtfeindschaft hatte diese Kampagne freilich nichts zu tun. Der Gedanke, dass die Stadt ein verruchtes Babylon sein könnte oder gar ein Krebsgeschwür am Körper Gaias, ist der chinesischen Kultur vollständig fremd. Genauso fremd übrigens, wie der ebenfalls stadtkritische Mythos von der Stadt als einem heiligen Jerusalem.89 __ In China leben etwa 1,3 Milliarden Menschen. Gut die Hälfte davon leben heute in Städten. Von den verbleibenden 50 Prozent sind viele Millionen dabei, sich auf den Weg in Richtung Stadt zu machen, in der Hoffnung, dort ihren Traum von einem besseren Leben – zumindest ihrer Nachkommen – zu verwirklichen. Jede Stadt in China hält ein solches Versprechen bereit, und da es Tag für Tag eingelöst wird, strömen die Menschen vom Land in die Stadt. Möglich ist diese gewaltige Umschichtung vom Land in die Stadt seit der Lockerung der Hukou-Meldegesetze. So ist es seit 1984 für Dorfbewohner möglich, zumindest temporär städtisches Wohnrecht zu erwerben. Nach und nach erfolgte eine weitere Liberalisierung der Zuzugspraxis, mit welcher den Bedingungen eines Schwellenlandes Rechnung getragen wurde (Zhang, Minjie 2004). __ Demgegenüber nährt die Landwirtschaft die Menschen immer besser. Die Produktivität steigt, und das Gespenst der ländlichen Arbeitslosigkeit geht um. Hoffnungen auf eine bessere Zukunft für alle Landbewohner nährt das dörfliche Leben darum nicht. Von 1989 bis 2000 waren über 100 Millionen Frauen und Männer dem Ruf der Stadt gefolgt – und der Strom nimmt weiter zu. Anfang 2010 lag die Zahl der Wanderarbeiter im ganzen Land bei etwa 220 Millionen. In der Boomstadt Shanghai sollen zu diesem Zeitpunkt etwa 5 Millionen Menschen mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung gelebt haben, der überwiegende Teil davon Arbeitsmigranten mit ländlicher Registrierung. Auch in den Megastädten Peking, Tianjin, Shenzhen, Chongqing und Guangzhou dürfte die Zahl der Wanderarbeiter die Millionenzahl mehrfach überschreiten. __ Die Situation ist vordergründig mit derjenigen in Europa im 19. Jahrhundert vergleichbar. Eine beispiellose Umschichtung der Menschen vom Land in die Stadt hatte sich auch damals vollzogen. Die Gründe scheinen ebenfalls vergleichbar: Auch damals bewirkte die Einführung kapitalistischer und rationeller Arbeits- und Distributions­methoden in Verbindung mit dem Einsatz neuartiger synthetischer Düngemittel einen sinkenden Bedarf an Arbeitskräften in der Landwirtschaft. Die sich in den Städten konzentrierende Entwicklung der Industrie verlangte demgegenüber begierig nach Arbeitskraft. __ Doch dieser Migrationsprozess findet in China, was die Größe der Städte und die Zahl der Arbeitsmigranten betrifft, in einer anderen Liga statt. Man kann davon ausgehen, dass chinesische Städte im Vergleich mit deutschen Städten das Zehnfache an Einwohnern haben. Wenn also in Deutschland der fiskalisch relevante Status der Großstadt ab 100 Tsd. Einwohner erworben wird, dann entspräche dies in China einer Zahl

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Mega-urbane Stadtlandschaft, Shenyang

von einer Mio. Einwohnern. Bereits heute haben ca. 150 Städte mehr als eine Mio. Einwohner und ca. 10 Städte dürften mittlerweile in die Liga der Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern aufgestiegen sein. So gilt Chongqing mit über 30 Millionen Einwohnern inzwischen als größte Stadt der Welt. Bei diesen Zahlen sollte man jedoch in Rechnung stellen, dass die urbanen Gebietskörperschaften beziehungsweise Gemeinden (‹municipalities›) in China anders aufgebaut sind als beispielsweise in Deutschland. Sie setzen sich aus der Zentralstadt, der äußeren Stadt und den Landkreisen, ‹counties›, zusammen, umschließen mithin Bezirke, die in Deutschland in Gestalt von Landkreisen als eigenständige Gebietskörperschaften gelten und im Landrat ein dem städtischen Bürgermeister entsprechendes politisches Oberhaupt besitzen.90 Chinesische Städte sind jedoch nicht nur sehr groß, sie sind auch außerordentlich dicht besiedelt. Im Durchschnitt liegt die Bevölkerungsdichte von Innenstadt- und Stadtrandbezirken (ohne Landbezirke) bei 16.500 Einwohnern/qkm (Shanghai: etwa 16.950 Einwohner/qkm).91 Die vier Stadtbezirke von Shenyang, mit über 7 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Stadt Chinas, haben eine durchschnittliche Einwohnerdichte von 23.700 Einwohnern pro qkm (zum Vergleich Berlin: 3.800 Einwohner/qkm, London: etwa 5.200 EW/qkm). Der Shenhe-Distrikt rangiert dabei mit 34.070 Einwohnern/qkm an erster Stelle, der Distrikt Heping mit 30.502 an zweiter Stelle und Tiexi mit 20.600 an dritter Stelle (zum Vergleich Kreuzberg, der am dichtesten besiedelte Stadtteil Berlins: 15.000 Einwohner/qkm). Die Siedlungsdichte der Stadtrandbezirke von Shenyang beträgt demgegenüber 1420 Einwohner/qkm und der ländlichen Bezirke etwa 210 Personen auf einen Quadratkilometer. Das große Gefälle in den Einwohnerzahlen zwischen Stadtbezirken und den ‹counties› verweist auf die Intensität des Bruchs im räumlichen Erscheinungsbild der Grenze von Stadt und Land. Es unterstreicht insofern auch die These von der Kompaktheit der chinesischen Großstadt.92 Das Gefälle wird noch einmal größer, wenn man sich von den Metropolregionen weiter entfernt, zum Beispiel nach Westen, wo Städte wie Wuhan, Zhengzhou oder die alte Kaiserstadt Xi’an liegen. __ Alle dazu angesprochenen chinesischen Experten bestätigten, dass Chinesen belebte, lebhafte und vielfältige Orte gern aufsuchen und allzu ruhige, leise, zurückgezogene Räume eher als unattraktiv empfinden. Selbst extreme Unübersichtlichkeit und Chaos

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verbreiten keinerlei Unwohlsein oder gar Schrecken, solange man im Gewirr noch seinen Weg bestimmen und finden kann. Eine Mentalitätsfrage? Ganz gewiss gibt es kulturell unterschiedlich ausgeprägte Reaktions- und Verhaltensweisen im Umgang mit unübersichtlichen, kakofonischen, chaotischen Umwelten. Im Unterschied zu Nordeuropäern scheinen Chinesen – darin Italienern oder Spaniern vergleichbar – sehr viel toleranter mit solchen Herausforderungen verdichteter urbaner Milieus umzugehen. Mag sein, dass es auch dafür geschichtliche Ursachen gibt. Schließlich lässt sich das Leben in den Nachbarschaften und Quartieren in den alten chinesischen Städten mit einem Leben in labyrinthischen Räumen vergleichen. Großstadtleben und urbane Dichte scheinen ein integraler Bestandteil von räumlicher Sinität zu sein.

Sprung über den Fluss __ Von Hongkong und Singapur war bereits als Leitbildern die Rede. Die Wirkmacht dieser urbanen Leitfiguren wird auch durch das unübersehbare Engagement von Investoren und Entwicklern (Developern) aus diesen Städten untermauert. Besser noch als die ebenfalls erfolgreichen us-Amerikaner, Kanadier, Australier verstehen es die Entwickler aus Ostasien, die Wünsche ihrer chinesischen Kundschaft zu deuten und in entsprechende räumliche Arrangements und Bilder umzusetzen. Dabei dienen die Stadtbilder von Hongkong, Singapur und Taipei nur als ‹Sprungbrett› für viel höher fliegende Raumbilder. In diesen verschmilzt der historische Zeichenschatz aus Kunst und Architektur mit barock anmutenden Machträumen und den Ikonen des modernen Universalismus zu einer buchstäblich neuen Welt – einer Welt, in der die millionenfache Armut und der Schmutz des westlichen chinesischen Hinterlandes ausgeblendet sind. Doch das neue China, jene aus kaiserzeitlichem Palast, Barock, Moderne, Universalismus und Postmoderne gegossene Utopie, ist konkret und befeuert den urban­en Transforma­tionsprozess nachhaltig. __ Auch urbane Leitbilder folgen Moden. Eine solche Mode ist in China der ‹Sprung

über den Fluss›. Shanghai hat es vorgemacht. Mit dem städtebaulichen ‹Sprung› von Puxi (dem westlichen Ufer des Huangpu Jiang) nach Pudong (dem östlichen Ufer des Huangpu Jiang) wurde ein Innenstadtensemble mit singulärer Bildmacht geschaffen: Auf der einen Seite des Flusses die kolonialen Prachtbauten des Bund, auf der anderen das sich in einer Biegung des Huangpu ausbreitende neue Wolkenkratzerzentrum

Lujiazhui bei Nacht, Shanghai

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Lujiazhui: Das Image der alten Kolonialstadt Shanghai gegen das Bild des neuen, zur Weltmacht strebenden China; eine atemberaubende Kulisse, insbesondere nachts, wenn die europäischen Fassaden des Bund goldgelb strahlen und die Wolkenkratzer des neuen Banken- und Geschäftszentrums gegenüber in kühlen Blaugrün-Tönen leuchten, durchmischt mit dem vielfarbigen Funkeln von zu Bildschirmen umfunktionierten Hochhausfassaden. Dies ist das Symbol des neuen China, und viele chinesische Städte sehen sich aufgefordert, dem Beispiel Shanghais zu folgen und zum ‹Sprung über den Fluss› anzusetzen, um etwas Pudong Vergleichbares zustande zu bringen. __ Dass die geografischen Voraussetzungen für das Übersetzen über den Fluss existieren, hat historische Gründe. Kaiserliche Stadtgründungen erfolgten nach uralten, kosmo­logisch begründeten Regeln. Sie besagen, dass eine Stadt vorzugsweise südlich der Berge und nördlich des Flusses gebaut werden sollte. Die Berge stehen dabei für Schutz vor Feinden und vor Kälte, der Fluss symbolisiert Fruchtbarkeit, Nahrung, Mobilität, Handel. Die Folge dieser geografischen Stadtgründungsregel des kaiserzeitlichen China ist, dass bis heute viele chinesische Städte ‹Ein-Ufer-Städte› sind, die sich zwischen nörd­ lichen Bergen und südlichem Fluss ausbreiten. __ Allerdings gibt es zahlreiche Ausnahmen, Shanghai gehört selbst dazu. Diese Metropole ist aus einem Fischerdorf entstanden und als Kolonialsiedlung groß geworden. Hier gibt es auch keine Berge, die Orientierung fügt sich ebenfalls nicht den alten Regeln. Doch Shanghai war bis vor gar nicht langer Zeit im Großen und Ganzen eine ‹Ein-Ufer-Stadt›. __ Vergleichbares wie für Shanghai gilt auch für die nordchinesische 6-MillionenMetropole Harbin, die Hauptstadt der Nordprovinz Heilongjiang. Harbin wurde von den Russen im Zuge des Baus der südlichen Strecke der transsibirischen Eisenbahn am Songhua Jiang gegründet und breitete sich auf der südlichen Uferseite rund um den strategisch bedeutsamen Bahnhof mächtig aus. Hier fließt der Songhua Jiang von Westen nach Osten, nahe gelegene Berge fehlen weitgehend.Doch die ‹Ein-Ufer-Lage› ist vorhanden, und so konnte, dem Vorbild Shanghais folgend, Anlauf zum Sprung von Süd nach Nord genommen werden. Die Landung auf der gegen­überliegenden Seite des Songhua Jiang erfolgte in Form eines mitten in die Sümpfe gebauten, gewaltigen Rathauskomplexes: Er ist umgeben von barock anmutenden Gartenanlagen und erschlossen durch eine achtspurige ‹große Straße› (dazu der Abschnitt «Postmoderner Eklektizismus im Städtebau» im 5. Kapitel). Das Rathaus wurde zum Fanal einer städtebaulichen Entwicklung, in deren Verlauf sich die Ausdehnung der Stadt verdoppeln wird. __ Zum ‹River-Jumping› angesetzt hat inzwischen auch die 7-Millionen-EinwohnerMetropole Shenyang. Hier wird das lineare Zentrum des ‹Goldenen Korridors› mit seinen kommerziellen, kulturellen und hoheitlichen Funktionen die Brücke zwischen alter und neuer Stadt schlagen. Das neue, südliche Ufer des Hun He steht dabei – dem Vorbild Pudong folgend – für Erfolg, Glück und Zukunft. Nimmt man hinzu, dass die Preise für Landnutzungsrechte in den neu erschlossenen Gebieten vergleichsweise günstig sind, dann kann man sich den Zulauf für das neue Entwicklungsgebiet gut vorstellen. Unter den ‹Kunden› des neu erschlossenen Ufers sind nicht nur die üblichen WohnungsbauInvestoren und Gewerbepark-Entwickler, sondern, wie die Beispiele Harbin oder auch Ningbo (Zhejiang-Provinz) zeigen, vorzugsweise die Stadt- oder Distriktregierung oder, bei Hauptstädten, die jeweilige Provinzverwaltung. In Shenyang ist es nicht anders. Auch hier ist das Rathaus ‹über den Fluss gesprungen› und in einem stattlichen neuen Gebäude gelandet.

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Im Streben nach profitabler Vermarktung ihrer guten Innenstadtlage und bei gleichzeitiger Verbesserung ihres institutionellen Images entschließen sich überdies nahezu alle Universitätsverwaltungen zum Verlassen der Innenstädte und zum Aufbau neuer, vermeintlich prestigeträchtiger neuer Campus auf der grünen Wiese am Stadtrand. Wie in vielen anderen Fällen lässt sich die Bedenkenlosigkeit gegenüber den urbanistischen Konsequenzen dieser Standortwahl letztlich nur durch Berücksichtigung des Einflusses bildungsinstitutioneller chinesischer Traditionen begreifen. Vergleichbar mit angelsächsischen Universitäten, die ihre kirchlich-klösterliche Herkunft deutlicher als ihre kontinentaleuropäischen Pendants bewahrt haben, kann sich auch China auf eine beachtliche Tradition seiner Bildungseinrichtungen berufen, etwa auf konfuzianische Schulen, in denen sich kommende Literati auf ihre Prüfungen vorbereiteten. Als Stadtbausteine haben sie nie gewirkt. Masterpläne für den ‹Sprung über den Fluss›. Links: Shenyang Rechts: Harbin

Blick vom Rathaus auf die Stadt Harbin

Das neue Rathaus von Harbin

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Hyperwachstum __ Die nachholende Modernisierung Chinas, dirigiert von einem zentralistischen

Machtapparat und orchestriert von einem überkommenen ‹asiatischen› Hang zur Vielgestaltigkeit und Harmonisierung von Gegensätzen, bietet dem Land Gelegenheit, die in Europa diachronisch verlaufene Modernisierung synchronisch nachzuvollziehen und auf diese Weise Geschwindigkeit aufzunehmen. __ Als europäische Urbanisten und Adepten einer strukturalen Sicht auf die Geschichte sind wir darin eingeübt, die kulturelle Zeitbetrachtung auf die Annahme einer evolutionär oder auch revolutionär vermittelten Abfolge von Epochen oder auch Entwicklungsstufen (innerhalb einer Epoche) zu stützen. Eine geläufige Geschichtsgliederung der Moderne stützt sich auf eine Weiterentwicklung der Marx’schen Theorie der Mehrwertproduktion. Dieser zufolge lassen sich drei Stufen deutlich unterschieden, extensive Industrialisierung (auch: Frühindustrialisierung), intensive Industrialisierung (Fordismus oder auch ‹etatistische› beziehungsweise ‹sozialdemokratische› Moderne) und flexible Industrialisierung (gelegentlich auch als nachindustrielles Zeitalter oder 2. Moderne bezeichnet).93 __ In morphologischer Perspektive lässt sich jede einzelne Stufe als Totalität deuten, als System, das, einem Organismus gleich, alle seine Teile beziehungsweise Subsysteme zu einer Art von Zeitpersönlichkeit integriert. Die Abfolge dieser Zeitpersönlichkeiten kann dann, wie dies in geschichtsphilosophischen Dogmen geschehen ist, als ‹Höherentwicklung› (Hegel) gedeutet werden oder auch als Phasen eines ‹Lebenszyklus› (etwa bei O. Spengler). Sie lassen sich jedoch auch ohne ideologische Überhöhung als heuristische Modelle nutzten, die sich, wie es hier geschehen soll, für einen interkulturellen Vergleich anbieten. __ Wird dieses Sukzessionsmodell der Moderne auf die Stadt als verräumlichte Form der jeweiligen Industrialisierungsstufe bezogen, dann erhalten wir die folgende urbanistische Geschichtsgliederung: Industriestadt, Stadt der Gründerzeit oder ‹liberale Stadt›, wie es bei Benevolo heißt (Benevolo 1984), ‹soziale Stadt› (die moderne, fordistische Stadt) und schließlich die Stadt der reflexiven Moderne, die kreative Stadt beziehungsweise die ‹thematische Stadt›, wie wir sie hier unter Verweis auf die Ausführungen im sechsten Kapitel auch bezeichnen wollen. Das Verhältnis der drei Phasen hat man sich dabei so vorzustellen, dass die jeweils spätere Phase Elemente der vorausliegenden aufnimmt, vereinnahmt und in Elemente der eigenen Struktur verwandelt. __ So schließt die postfordistische ‹thematische Stadt› die fordistische ‹soziale› Stadt ein, weist ihr jedoch eine untergeordnete Rolle zu. Während sich jene gleichsam auf die Bühne stellt, muss sich diese mit einem Platz hinter und unter der Bühne begnügen. Der fordistische Rationalismus wird insofern nicht dementiert, sondern inkorporiert und mit den Formen des Traditionellen dekoriert. Vergleichbares gilt für das Verhältnis von ‹sozialer› und ‹liberaler› Stadt, das heißt von Stadt des Fordismus und Stadt der Gründerzeit: Die Antworten, die letztere auf die Land-Stadt-Umschichtung (Urbanisierung) gibt, etwa Gartenstadt und Hygiene-Infrastruktur, werden aufgenommen, jedoch einer fundamentalen Revision nach Maßgabe der ‹aufgelockerten und gegliederten Stadt›94 beziehungsweise der rational-egalitären Maschinenstadt nach den Grundsätzen der Charta von Athen unterzogen.

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Die nachfolgende Tabelle ordnet einige stadträumliche Merkmale den drei genannten Perioden zu: Industrialisierungsphasen Industrialisierungs­ phase

extensive Industrialisierung

intensive Industrialisierung

flexible Industrialisierung

Produktionsmodell

Manufaktur/Handwerk

große Serie; ‹blue collar›

kleine Serie; ‹white collar›

Staatsmodell

Nachtwächterstaat

Sozialstaat

aktivierender Staat

Gesellschaftsmodell

polarisierte Klassengesellschaft

nivellierte Mittelstands- gesellschaft

Wissensgesellschaft

Stadtmodell

Industriestadt

soziale Stadt

thematische Stadt

Füllstruktur

parzellierter Blockrand

Zeilenbau

Blockrand und Zeile

raumfunktionales Konzept

hierarchisch, gemischt

funktionsdifferenziert, zoniert

funktionspluralistisch (gemischt monofunktional, funktionsdiffus)

Zentralität

zentrierte Stadt

dezentrale Stadt

polyzentrisches StadtLand-Kontinuum

urbanes Leitbild

Die Stadt der Gründerzeit

aufgelockerte und gegliederte Stadt

narrative, kreative Stadt

Stadt-Land

dualistisch

integriert

kontinuierlich

Wachstumstyp

radialkonzentrisch

peripher; dispers

invers

Wenn man das dreigliedrige Entwicklungsmodell auf die gegenwärtige chinesische Stadtentwicklung bezieht, dann fällt auf, dass die drei historischen Stufen im Zuge der nachholenden Entwicklung eher synchron als diachron durchlaufen werden. Wir haben es mit einem triadischen Entwicklungsmodell zu tun, das auf einer Gleichzeitigkeit von extensiver, intensiver und flexibler Industrialisierung beruht. China befindet sich in Zeitgenossenschaft mit den entwickelten tertiären Gesellschaften – und erledigt zusätzlich historische ‹Hausaufgaben› der extensiven und intensiven Industrialisierung. __ Wir beobachten nicht nur die Inkorporierung der Elemente der extensiven in die intensive und der intensiven in die flexible Entwicklung, sondern darüber hinaus eine eigenständige Parallelentwicklung aller drei Phasen. Das chinesische Entwicklungsmodell erhält dadurch eine außerordentliche Komplexität, die im Begriff des Hyperwachstums nur teilweise reflektiert ist. Denn die Komplexität des chinesischen Entwicklungs­ modells wird noch dadurch verstärkt, dass es vor der Öffnung gegen Ende der siebziger Jahre eine ausgeprägte Periode fordistischer Modernisierung sino-kommunistischer Art gegeben hat. __ China durchschreitet ohne Zweifel – und zum wiederholten Male – eine Gründerzeit. Der heutige chinesische Kapitalismus trägt Züge der extensiven Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa. Die soziale Polarisierung ist enorm, der Staat tritt als sozial ausgleichende Kraft wenig in Erscheinung. Der frühindustrielle Status wird zudem nicht nur durch das nach wie vor große Gewicht des primären Sektors (Landwirtschaft) indiziert, sondern auch durch die enorme Land-Stadt-Migration und das damit eng verbundene Hyperwachstum der Städte.

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Mit derselben Plausibilität, mit der wir Elemente und Prozesse des Modells extensiver Industrialisierung identifizieren können, lassen sich auch Elemente und Prozesse fordistischer Modernisierung ausmachen. Die Anwendung wissenschaftlicher Produk­ tionsmethoden und die systematische Organisation des Wissenstransfers aus Labors in die marktorientierte Produktion ist selbstverständlich und wird durch Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Partnern (‹Joint-Ventures›) ebenso beflügelt wie durch mächtige eigene Forschungsanstrengungen – und durch eine von geringen Skrupeln beeinflusste Aneignung geistigen Eigentums, von Urheberrechten, Patenten etc. __ Die rasche Verbreitung des Automobils, insbesondere die Zunahme von Mittelklasse- und Kleinwagen, verweist zudem auf eine ebenso schnell wachsende Mittelschicht und das Entstehen einer Konsumgesellschaft. Weitere Indikatoren sind die Ausbreitung öffentlicher Personennahverkehrssysteme und – allerdings noch im Anfangsstadium – Ansätze zu einer Art von sozialem Wohnungsbau. Allgemein werden Stimmen lauter, die nach einem stärkeren Engagement des Staates bei Angelegenheiten rufen, die den sozialen Ausgleich einer allzu sehr in die ökonomische Polarisierung driftenden Gesellschaft betreffen, sozialdemokratische Forderungen mithin, wie sie für den Fordismus endemisch sind, ganz gleich, durch welches politische Subjekt sie verfolgt werden. __ Insbesondere der Blick aus der Vogelperspektive auf chinesische Städte vermag uns über die Bedeutung der fordistischen Raumproduktion aufzuklären. Man schaut in diesem Fall nämlich auf einen Ozean von orientierten Zeilen- und Punktbauten, auf  Wellen von gleichsam in Reih und Glied stehenden Monostrukturen, zusammengefasst in vormalige Danwei-Quartiere oder heutige Nachbarschaftssiedlungen. Viele dieser Bauten stammen noch aus der Zeit vor der Öffnung; doch das Gros ist bereits danach entstanden, wie man an den organischen Grundrissen der Siedlungen und den schwingenden Zeilen und tanzenden Punkten leicht erkennen kann. __ Keine andere Epoche industrieller Entwicklung ist jedoch ästhetisch und ikonisch so präsent wie der Postfordismus mit seinen Ästhetisierungen, Fiktionen, Dekorationen, Medialisierungen. Dies nicht nur auf offener Stadtbühne, sondern auch in abgeschlos-

Fundierung eines Hochhauses in Handarbeit auf Familienbasis, Changsha

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senen Nachbarschaften. China ist unangefochtener Weltmeister der Disneyfizierung, der Themenparks, der Copy-Städte, der urbanen Fiktionen und des stilistischen Eklektizismus. Das Land träumt den westlichen Traum – und es verwirklicht ihn auf der Stelle, indem es seinen chinesischen Werken ‹rosarote› westliche Träume umhängt. Die Ubiquität disneyfizierter Zeichen und Räume findet in den industriell entwickelten Ländern der westlichen Welt und Asiens, mit denen es sich in Zeitgenossenschaft befindet, keine Parallele. __ Es überrascht darum auch nicht, dass die Stadtvisionen des New Urbanism hier auf größtes Interesse treffen, wird an ihnen doch nur das Pittoreske gesehen: Wie hin­ gegen die Grundstruktur der Stadt auszusehen hat, weiß man in China am besten. China träumt den westlichen Traum, um das Trauma der Zurückgebliebenheit zu therapieren – nicht, um zu verwestlichen. Sieht die hier und da in ihrer Entwicklung immer noch ein wenig abseits stehende chinesische Stadt im westlichen Outfit etwa nicht viel besser aus? Aus chinesischer Sicht lautetet die Antwort eindeutig: Ja! Doch China holt mächtig auf. Das große Spektakel, in dem das Land mit seinem städtischen, aus den Stoffen der Fremde und dem eigenen Vermächtnis gewebten Kleid die Weltbühne betritt, hat bereits begonnen. __ Für das ‹triadische Entwicklungsmodell›, demzufolge China das europäische 19., 20. und 21. Jahrhundert synchron durchläuft, gibt es Randbedingungen und Voraussetzungen, von denen einige auf die Besonderheiten der chinesischen Geschichte verweisen. Eine dieser Randbedingungen ist die ungewöhnliche Entwicklungsoffenheit des Landes. Die Kette von dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen, die bereits während der Qing-Dynastie im 19. Jahrhundert einsetzten und in der republikanischen Revolution, in Maos Gesellschaftsexperimenten vom Bürgerkrieg über den ‹Großen Sprung nach vorn› und die Kulturrevolution ihre Fortsetzung fanden, dazu die Wirtschaftspolitik Dengs, haben das Land dermaßen durcheinandergerüttelt und von seinen Traditionen distanziert, dass es dazu tendiert, seiner eigenen Geschichte reflexiv gegenüberzutreten. Nichts scheint mehr selbstverständlich. Mehr noch: Offenbar fällt es nach diesen radikalen Umbrüchen weniger schwer, sich neuen Einflüssen zu öffnen, als dies bei manch anderem Entwicklungs- beziehungsweise Schwellenland der Fall ist. __ Unter den Randbedingungen der triadischen Hochgeschwindigkeits-Entwicklung scheinen die technischen herauszuragen. Als Europa die Phase der extensiven Industrialisierung durchlief, gab es kein Internet, kein Mobiltelefon, kein gps und kein Fax. Auch gab es weder Flugzeuge oder Containerschiffe noch andere hoch effiziente Transportund Mobilitätstechnologien. Mit Blick auf diese Errungenschaften können wir daher, analog zum Begriff des ‹Hyperwachstums›, von einer ‹Hypermodernisierung› Chinas sprechen. In dieser vollzieht sich die extensive Industrialisierung auf der Basis jener Hochtechnologien, die in Europa die flexible Industrialisierung kennzeichnen. Das kann zum Beispiel bedeuten: lange Arbeitstage mit niedrigen Löhnen an hochproduktiven computergesteuerten Fertigungslinien. __ Im sog. Westen wäre eine derartige Konstellation undenkbar. Sie konnte sich auch gar nicht entwickeln. Denn als hier jene Steuertechnologien in die Fertigung implementiert wurden, die die Flexibilisierung der Arbeit ermöglichten, war der Achtstundentag bei vergleichbar hohen, tariflich abgesicherten Löhnen längst durchgesetzt. Insofern mag der in China als selbstverständlich empfundene – und daher unhinterfragte – Mix der Arbeits- beziehungsweise Industrialisierungsregimes zum Teil die enorme Entwick-

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lungsgeschwindigkeit des Landes erklären. China hat hinreichend wirtschaftlichen Erfolg, um sich die Techniken für die Hypermodernisierung des Landes leisten zu können; und da es sich diese leisten kann, hat es wirtschaftlichen Erfolg. __ Dieser Erfolg teilt sich dem Städtebau auf eine durchaus vielschichtige Weise mit. Zum einen ganz allgemein in dem von Ipsen so genannten «HochgeschwindigkeitsUrbanismus» (Ipsen 2004), im Zuge dessen Millionenstädte zu gigantischen Megastädten mit mehr als 10 Millionen Einwohnern und Stadtagglomerationen mit über 100 Millionen Einwohnern heranwachsen. Da ist zum anderen der einerseits mit fortgeschrittenen Technologien beschleunigte, auf der anderen Seite mit teilweise unzulänglichen Materialien und Fähigkeiten vollzogene Bauprozess, der nicht nur gewaltige Städte, sondern zugleich enorme Stadtlandschaften in schlechter Bauqualität entstehen lässt. __ Es zeigt sich allerdings noch ein Weiteres – und dies nicht allein auf dem Gebiet des Städtebaus: eine sich anbahnende überholende Modernisierung. Um diese in den Blick zu bekommen, muss man den Vorhang importierter Stile und Bilder zur Seite schieben und auf das tatsächliche Geschehen blicken. Und dort sieht man die Keime einer neuen städtischen Wohnkultur, neue introverse Gartenstädte mit aufwendig gestalteten Nachbarschaftsgärten, umgeben von schwingenden Reihen und tanzenden Punkten. Man sieht die Doppelstruktur von Zeilenbau und Blockrandbebauung, in der sich der grundlegende Dualismus von abgeschlossenen Wohnsiedlungen und aufgeschlossenen kommerziellen beziehungsweise gewerblichen Räumen spiegelt. Während in den offenen Räumen neue, extraverse Stadtbühnen aufgebaut und auf diese Weise dem wachsenden Bedürfnis nach ‹öffentlichen› Räumen der Begegnung entsprochen wird, setzen die abgeschlossenen Nachbarschaften das Bedürfnis nach Stadträumen fort, die der starken Stellung des Gemeinschaftlichen Gestalt verleihen.

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Die chinesische Stadt als System von Bedeutungen

8 Aufgabe dieses abschließenden Kapitels ist es, die verschiedenen Beobachtungen in und an der chinesischen Stadt zu einem schlüssigen morphologischen Verständnis dieses Stadttyps zu integrieren. Dabei ist es erforderlich, auf unsere Ausführungen über die urbane Semiotik im ersten Kapitel zurückzugreifen. __ Jede Stadt, so unsere Behauptung, lässt sich als ein komplexes soziokulturelles System räumlicher Zeichen beschreiben. Die Stadt ist, so gesehen, eine ‹Landschaft› städtischer Signifikanten, die permanent Signale emittieren, die von ihrem Beobachter zu sinnvollen Botschaften aufbereitet werden können. Urbane Zeichen werden ja erst dadurch zu ‹echten› Bedeutungsträgern, dass ihnen Inhalte zugewiesen werden. Wie in Kapitel 1 ausgeführt, erfolgt dieser Zuweisungsprozess mittels eines abduktiven Schlussverfahrens. Der Beobachter bietet demnach zur Ermittlung der ikonischen, indikativen oder auch symbolischen Botschaften der identifizierten urbanen Zeichen ‹erklärende Hypothesen› an. __ Genau dieses haben wir in den vorausgehenden Kapiteln getan: Wir haben solche ‹schwachen›, das Risiko des Scheiterns (der Falsifikation) auf sich nehmende Sinn­ angebote unterbreitet, haben von offenem und geschlossenem Raum gesprochen, haben den Primat der Introversion, Exklusion, Südorientierung behauptet, haben von linearer Zentralität, hohem Versiegelungsgrad, von Medienfassade, erhabenem Platz, Marketender­siedlung, großer Straße und vertikalem Block gesprochen. Jede dieser Charakterisierungen stellt eine erklärende Hypothese dar, mittels derer versucht wird, ein Element der chinesischen Stadt als Zeichen zu bestimmen und zu decodieren. Es stellt sich nun die Frage, wie wir unsere Behauptungen (Hypothesen) absichern, stärken, wissenschaftlich erhärten und auf diese Weise zu gesichertem Wissen, zu ‹denotierten Gehalten›, gelangen können. __ Städti­schen Zeichen lassen sich nicht so einfach überzeugenden Botschaften zuordnen, wie in Umberto Ecos Beispiel dem Stuhl (als Signifikant) das Sitzen (als primäre Funktion). In der urbanen Semiotik bedarf es eines besonderen Wissens, um das Verfahren der Abduktion in Gang zu setzen und mit der Bergung des in den städtischen Zeichen enthaltenen Bedeutungsvorrats zu beginnen. Dieses Wissen, so wurde ebenfalls bereits im ersten Kapitel angemerkt, finden wir in der Geschichte und Kultur der chinesischen Gesellschaft. Mit Walter Benjamins Technik der ‹Superposition›, d. h. der ‹Erinnerung des Neuen›, erhalten wir schließlich so etwas wie einen epistemologischen ‹Schlüssel›, der uns Zutritt zu den in den Signifikanten und ihren Signalen verborgenen Sinngehalten gewährt. __ Eine auf die morphologische Dimension der chinesischen Stadt zielende Lektüre, die also den soziokulturellen Code der Stadt zu ‹knacken› trachtet, kann sich allerdings mit einer sporadischen Identifizierung städtischer Zeichen und zugehöriger Bedeutungen

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nicht begnügen. Denn die abduktive Identifizierung eines einzelnen Elements (etwa die Hypothese einer introversen Raumkonzeption der Wohnsiedlungen) als Ausdruck chinesischer Traditionen kann für sich noch nicht als Beleg für die Sinität städtischer Raumproduktion im heutigen China dienen. Schließlich existieren dominante introverse Raumkonzepte auch in anderen Kulturen, z.  B. in der arabischen Praxis städtischer Raumproduktion (Stichwort: Medina); und sogar in der ‹westlichen Welt› lässt sich neuerdings verstärkt der Bau von Innenhofarchitekturen beobachten, insbesondere im Zusammenhang kommerzieller Nutzungen. __ Die Zuweisung von ‹Sinität› zu städtischen Elementen bedarf daher der Unterstellung eines strukturalen bzw. syntaktischen Zusammenhangs eben dieser Elemente. Sie bedarf einer Annahme, die es gestattet, die partikularen Elemente nach Maßgabe ihrer Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit bzw. ihrer Nähe oder Ferne zu dem, was wir mit ‹Sinität› bezeichnen, zu ordnen. Denn erst wenn die urbanen Signifikate in dieser Weise als Resultat einer ‹kulturellen Konstruktion› ermittelt sind, ist der Prozess der Semiose abgeschlossen. Wir können Stadt lesen, weil der Stadtraum in der Terminologie der Semiotik, besser: mit einem Begriff aus der Semiologie de Saussures (1931), ein soziokulturelles ‹Syntagma› darbietet, ein System, das prinzipiell einer strukturalen Deutungskunst zugänglich ist. Zweck dieser Hermeneutik, für die wir auf die Technik der Superposition zurückgreifen, ist die Aufdeckung wesensmäßiger innerer Beziehungen zwischen stadträumlichen Zeichen und soziokulturellen Botschaften. Für die chinesische Stadt folgt daraus: Nur eine strukturale Hermeneutik ihrer eigentümlichen Gestalten und Formen ist in der Lage, eine morphologische Integration identifizierter Bedeutungen so zu leisten, dass ihre Sinität erkennbar wird.95 __ Das folgende Schema versucht, die Phasen und Bestandteile der strukturalen Semiose zusammenzufassen.

Denotation primäre oder objektive Funktionen bzw. Bedeutungen Zeichen (städt. Element)

Signal

Abduktion erklärende Hypothese

Beobachter Konstruktion von Sinn

Superposition strukturale oder syntagmatische Integration; historisches und kulturelles Wissen Konnotation sekundäre oder subjektive Funktionen bzw. Bedeutungen

Stadt decodieren (urbane Semiose)

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Die semiotisch informierte Stadtlektüre hat uns an zahlreiche Orte (Referenten) geführt, die als Bausteine der chinesischen Stadt erkennbar sind: zu Wohnsiedlungen, Straßen, Plätzen aller Art, Stadtzentren, sub­urbanen Stadtgebieten, zu Einkaufsstraßen und -zentren, zu historischen Quartieren und Neubaugebieten. Wo immer wir hingekommen sind, wur­den in und an den urbanen Objekten Zeichen erkannt, die als Bedeutungsträger oder Sender soziokultureller Inhalte entschlüsselt werden konnten. Um relevante Denotationen (auch: primäre Funktionen) identifizieren zu können, wurde zunächst in einer eher ungeordneten oder beliebigen Weise auf soziokulturelle Inhalte rekurriert, zum Beispiel auf den Zusammenhang von Introversion und Gemeinschaft, von linearer Zentralität und gesellschaftlicher Hierarchie, von Chinesischem Garten und Harmoniegedanken oder von ‹Sprung über den Fluss› und der zwischen Wunsch, Beschwörung und Mode schwankenden Absicht, den wirtschaftlichen Aufstieg der Metropole Shanghai auf diese Weise nachvollziehen zu können. __ Was unserer Arbeit bisher fehlt, ist die soeben erläuterte, in sich schlüssige, rationale, über partikulare Entschlüsselungen hinausgehende Einbettung der vorgenommenen Deutungen in ein System soziokulturellen Wissens. In anderen Worten: Es geht darum, die bisher abduktiv erarbeiteten Schlüsse von Signifikanten (Bedeutungs­trägern) auf Signifikate (Inhalte oder Bedeutungen) um eine syntagmatische Darstellung des inhaltlichen Zusammenhangs (der Struktur) der Signifikate zu ergänzen. Dies soll hier in einem ersten skizzenhaften Anlauf geschehen. __ Um eine rationale Begründung des strukturalen Zusammenhangs der bereits erarbeiteten soziokulturellen Signifikate anbieten zu können, folgen wir den logischen Spuren einer dualen oder auch dialektischen Begrifflichkeit, wie sie von der strukturalen Methode aufgrund von ontologischer Sinnfälligkeit zu Recht immer eingefordert wird. Demnach lässt sich die soziokulturelle Raumanalyse als ein System des Wissens konzipieren, dem ein spezifischer ‹binärer Code› zugrunde liegt. Diesem Code lässt sich ein großer Teil der verwendeten Signifikate so zuordnen, dass ihr syntagmatischer, eine räumliche Entität (Ganzheit) konstituierender Charakter hervortritt und der Stadtraum als Syntagma plausibel wird. Auf diese Weise begründet sich die Wissenschaftlichkeit der Semiose (der Schlussfolgerungen von den Signifikanten auf die Signifikate). __ Der Code, der sich für unsere Zwecke anbietet, ist der durch Ferdinand Tönnies berühmt gewordene (auch bereits bei Riehl, Marx, Weber und vielen anderen verhandelte) soziologische Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies 1979/1991). Gemeinschaft und Gesellschaft (‹community› und ‹association›) sind die beiden möglichen sozialen Verfasstheiten oder ‹Aggregatzustände›, in denen jeder Mensch sich jederzeit und an jedem Ort zugleich befindet. Beide Begriffe bilden einen Verweisungszusammenhang, der das beanspruchte soziokulturelle System zu tragen vermag. __ Gemeinschaft, der erste der sozialen Aggregatzustände, verweist auf direkte, unmittelbare menschliche Beziehungen. Diese gründen in Verwandtschaft (‹Blut›), Freundschaft (‹Gefühl›), geteilten Ansichten (‹Interesse›), Ideologien (‹Überzeugungen›), in Konventionen oder auch in direkten Formen der Herrschaft. Die älteste und wichtigste Form der Gemeinschaft sind die Familie und die sich von ihr ableitenden Formen wie Clan, Stamm, Groß- und Kleinfamilie. Auch christliche Gemeinden, ‹Bruderschaften›, Netzwerke und Bünde aller Art sind dem Begriff der Gemeinschaft zuzuordnen. In unserer Arbeit wird postuliert, dass die chinesische ‹Gesellschaft›96 entschieden stärker

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gemeinschaftszentriert ist als die westlichen beziehungsweise europäischen ‹Gesellschaften›, und dass sich dieser Gemeinschaftszentrismus der Produktion des Stadtraums auf vielfache Weise mitteilt. __ Gesellschaft, die zweite der sozialen Verfasstheiten, verweist demgegenüber auf vermittelte menschliche Beziehungen, auf sozial konstitutive Inter­aktionen von Individuen. In gesellschaftlicher Perspektive ist der Mensch nicht Verwandter, auch nicht Freund, nicht Feind, sondern ausschließlich Vertragspartner, Käufer, Verkäufer, Berufsspezialist (Fachmann, Experte). Auf gesellschaftlicher Bühne interagieren Menschen auf eine mittelbare Weise miteinander. Medien dieser Vermittlung sind Geld, Verträge, ausdifferenzierte, spezialisierte öffentliche Institutionen. Geld und Vertraglichkeit machen es möglich, dass Menschen, die sich nicht kennen, nichts voneinander halten oder einander gleichgültig sind, sich sozial erfolgreich aufeinander beziehen können. Gesellschaft stiftet insofern einen ‹kalten›, rationalen, vernunftgegründeten, arbeitsteilig institutionalisierten sozialen Zusammenhang Einzelner. Der Ursprung jeder Form dieser Vergesellschaftung ist der Warentausch, der Markt beziehungsweise die auf ihm beruhende Wirtschaftsweise. Wir bezeichnen daher das gesellschaftliche Individuum auch als Wirtschafts- oder Vertragssubjekt. Die Entfaltung des Warenverkehrs, die Evolution von Ware und Kapital, trennt die Gemeinschaft von der Gesellschaft. Der Warentausch löst das ‹Ich› aus dem ‹Wir›. __ Der Zusammenhang von Gesellschaft, Individuum und Markt enthält einen mehrfachen Verweis auf die Stadt: Zum einen ist Stadt als eine kulturelle Superstruktur vom Austausch mit dem Land, mit Agrikultur und Nährstand abhängig. In rein materieller Perspektive ist Landleben ohne Stadtleben denkbar, dieses jedoch nicht ohne jenes. Die Grundlage des Landlebens sind Ackerbau und Viehzucht, die Lebensgrundlage der Stadt hingegen ist der Warentausch und die auf diesem gegründete Wirtschaftsweise. Genau aus diesem Grunde ist es auch kein Zufall, dass in geschichtlicher Perspektive Städte immer dort entstanden sind, wo die Warenform des Produkts sich durchsetzte, wo sich Handel und Märkte entwickelten. Stadt und Markt sind voneinander nicht trennbar und alle Stadtformen, die dieser Grundbeziehung nicht genügen, können allenfalls den Status der Proto-Stadt beanspruchen (etwa die Tempelstädte hydraulischer Gesellschaften oder die bischöflichen Civitates des frühen Mittelalters). __ Im wirklichen sozialen Leben können, historisch und kulturbedingt, die Anteile von Gemeinschaft und Gesellschaft stark variieren. In sogenannten traditionalen Gesellschaften sind die Institutionen des sozialen Zusammenhangs primär auf Gemeinschaft (Familie, Clan, Stamm) gegründet. Die Rede von ‹traditionalen Gesellschaften› ist insofern widersprüchlich, als es sich bei diesen ‹Gesellschaften› soziologisch eher um Gemeinschaften handelt, die jedoch proto-gesellschaftliche und gesellschaftliche Institutionen umschließen können. In sogenannten entwickelten Gesellschaften führt demgegenüber der gesellschaftliche Charakter der sozialen Interaktion zu ausgeprägter Individualisierung bei gleichzeitiger Abwertung oder Schwächung gemeinschaftsbezogener Interaktion, etwa durch Vergesellschaftung von sozialen Sicherheitsfunktionen (Alterssicherung und -pflege, Arbeitslosengeld, Kinderbetreuung, Ausbildung usw.). __ Doch selbst in den am weitesten vergesellschafteten sozialen Zusammenhängen bleibt das Individuum an das Gemeinschaftsleben zurückgebunden; denn Gemeinschaft umgibt und durchdringt die gesellschaftlichen Institutionen. Ein Beispiel für

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diese Durchdringung in modernen Gesellschaften ist die Vertraglichkeit der Ehe oder auch die Vergemeinschaftung zur Bildung juristischer Personen, wie wir sie im Geschäftsleben auf vielfältige Weise finden. __ Wie jede soziale Interaktion, so verräumlicht sich auch die Tauschhand­lung. Sie tut dies idealtypisch in Gestalt des Marktplatzes. Dieser, histo­risch als Agora, ist der Urort des öffentlichen Raums und als solcher eine ‹totale Institution› (Habermas 1981 ii, 235), die die entwickelten gesellschaftlichen Institutionen noch weitgehend undifferenziert in sich enthält.97 Erst im Zuge der Stadtgeschichte entfaltet der Markt sein sozialsystemisches Potential. Insofern die Evolution des Marktplatzes untrennbar mit der­jenigen der Stadt verknüpft ist, erscheint uns diese zwingend als das Labo­ratorium von Individualisierung und Vergesellschaftung. __ Bereits Max Weber hat dargelegt, dass die Evolution der Gesellschaft entlang einer durch Arbeitsteilung, Institutionalisierung, Bürokratisie­rung und Verwissenschaft­ lichung geprägten Individualisierung verläuft, deren Motor, Bühne und Schauplatz die Stadt ist. Sie ist der Raum, in dem sich die Scheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft vollzieht, ein Prozess, der auch als Zivilisierung bezeichnet wird. Die Stadt gilt darum vielen auch als ‹Zivilisationsmaschine›. Weber spricht in diesem Zusammenhang von der «Entzauberung der Welt».98 __ Gesellschaft verräumlicht sich in extraversen Orten. Der offene, sich in extraversen Formen darstellende öffentliche Raum, zum Beispiel die Piazza, ist insofern ein genuin gesellschaftlicher Ort. Gemeinschaft ver­räumlicht sich demgegenüber in nach innen gerichteten, privaten, introversen Orten, zum Beispiel in Innenhöfen oder dörf­ lichen Treffpunkten. Introversion ist die Raumsprache eines aus direkter, unmittelbarer Interaktion, aus Nähe konstituierten sozialen Zusammenhangs. Je nachdem, welche Form des sozialen Nexus in einem kulturellen Zusammenhang, in einer Region oder einem Staatswesen den Vorrang einnimmt, wird der räumliche Kontext eher introverse oder eher extraverse Spuren aufweisen. So wird in gemeinschaftsdominierten Kulturen das von Introversion zeugende Hofhaus eine herausragende Rolle spielen, hingegen in gesellschaftsdominierten Kulturen der offene beziehungsweise öffentliche Raum des Platzes oder der Straße. __ Orient und Okzident unterscheiden sich gerade hinsichtlich dieser Differenzie­rung von Gemeinschaft und Gesellschaft beziehungsweise – in räum­licher Fassung – von Introversion und Extraversion nach wie vor deut­lich voneinander. Die extraverse europäische Raumkultur ist der introversen chinesischen diametral entgegengesetzt. Eine mit China vergleichbare systematische Hinwendung zum Hofhaus beziehungsweise zum Innenhof hat es in Europa zuletzt bei den Römern und bei den Mauren im muslimischen Apennin gegeben, in der – an das römische Peristyl-Haus anknüpfenden – sakralen Baukultur des Kreuzgang-Hofes und natürlich in der weltlichen Baukultur des feudalen Mittelalters, dessen Burghöfe und horti inclusi etwa mittels der Palazzi der Patrizier­familien der Renaissance sogar in die aufstrebenden altbürgerlichen Städte Einzug hielten. __ In Europa – und nur dort – hatte sich um das 1. Jahrtausend u.Z. im Zuge der Wiederaufrichtung der nach dem Zusammenbruch des weströmischen Imperiums niedergegangenen Stadtkultur ein völlig neuer, zuvor gänzlich unbekannter extraverser Stadttypus herausgebildet. Diesen verdanken wir dem Synoikismos von Händlern und Hand­ werkern, das heißt von tendenziell marktwirtschaftlich orientierten und insofern genuin

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städtischen Akteuren, die sich allerdings in gemeinschaftsorientierten Formen aller Art, in Bruderschaften, Zünften, Gilden, Han­sen und Städteallianzen für die Stadtfreiheit und gegen feudale Bevormundung organisierten99. __ Wenn die bürgerlichen Akteure es den feudalen Herrschern, dem Kaiser, den Bischöfen, Königen, Fürsten und anderen Feudalherren gleichtaten und den repräsentativen Raum für sich beanspruchten, dann konnte sich daraus allmählich ein offener Raum besonderer Art bilden: der bürgerlichen Pluralismus denotierende Marktplatz. Dieser Raum ist einzigartig, da seine Gestalt nicht länger den Herrschaftsanspruch eines großen Einzelnen reflektiert, sondern eine im Prinzip demokratische Verfassung der Bürgerschaft.100 __ Der Unterschied zwischen singulär-hierarchischer und pluralistisch-egalitärer Gestaltungsperspektive wird beim Vergleich etwa eines Barockplatzes (Place Royal) mit einem Marktplatz (Piazza) sofort sinnlich erfahrbar. Während jener Signifikant sich ikonologisch aus ‹einem Guss› präsentiert und in Achsen und geometrischen Anordnungen den Machtanspruch des sich in ihm vergegenständlichenden Herrschers inszeniert, artikuliert der Marktplatz durch seinen Rahmen aus Schmuckfassaden parzellierter Blockrandbauten und seine Offenheit für händlerische, politische, künstlerische Akteure die Idee bürgerschaftlicher Vielfalt. __ Mit dem Altbürgertum hielt die Praxis der Inszenierung des öffentlichen Raums durch die Giebelfassade Einzug. Wie Bühnenbilder rahmen Fassaden nun Platz und Straße und verwandeln diese in theatralische Räume, in Bühnen des städtischen Lebens. Diese Bühnen mit ihren pluralistisch ausgestatteten Bühnenbildern denotieren, wenn schon nicht den Vorrang, so doch den wachsenden Einfluss des Gesellschaftlichen gegen­ über dem Gemeinschaftlichen. Das Fassadenspiel mittelalterlich geprägter Städte, das sich spätestens in der Renaissance als allgemeines Kennzeichen der europäischen Stadt durchsetzt und damit gleichrangig neben den Kathedralen-, den Rathaus- und den Befestigungsbau tritt, verweist auf das Erstarken einer sich schrittweise individualisierenden Bürgergesellschaft. __ Für die Idee der europäischen Stadt ist Inklusion beziehungsweise Offen­heit bedeutsam, auch wenn es so etwas wie eine altbürgerliche (ständische beziehungsweise genossenschaftliche) Segregation und Exklusion durch­aus gegeben hat. Abgeschlossene Wohnquartiere konnten sich allerdings nicht dauerhaft halten. Sie wurden im Zuge der politischen Emanzipation des städtischen Bürgertums ebenso beseitigt wie die alther­ gebrachten Lehens- und Flurordnungen im Zuge republikanischer Reformen. Der offene Raum dominiert schließlich den geschlossenen Raum – und diese Dominanz ist die Grundlage der Emanzipation des offenen zum öffentlichen Raum. __ Im kaiserlichen China konnte sich demgegenüber eine scharfe Tren­nung von Gemeinschaft und Gesellschaft und somit von Land und Stadt oder auch von Öffentlich und Privat nie durchsetzen. Entsprechend lässt sich eine Kultur des öffentlichen Stadtraumes, die der europäischen auch nur in Ansätzen vergleichbar wäre, historisch nicht nachweisen. Die Straße hat im alten China in der Regel eine reine Erschließungsfunk­tion. Oder sie ist als Straße höheren Ranges ein Symbolraum, welcher in Orientierung, Breite, Raumfolge und Bestand (Glockenturm, Tempel der Vorfahren, Gebäude der Stadtregierung) die hierarchisch gegliederten Bedeutungszuweisungen des kaiserlichen Hofes reflektiert. __ Gewiss, es existierten auch Marktplätze, zunächst abgeschlossene, seit der späten Tang-Dynastie (siebtes bis zehntes Jahrhundert u. Z.) allmählich auch aufgeschlossene,

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denen sich im Laufe der Zeit mehr und mehr Marktstraßen zugesellten. Bereits in der Song-Zeit (960–1279 n.  Chr.) waren alle dem Marktverkehr gewidmeten städtischen Plätze und Straßen offen. Gleichwohl blieben Marktrecht, Marktordnung und die Beaufsichtigung ihrer Befolgung jederzeit in den Händen der kaiserlichen Verwaltung. Synoikistische Handlungen zum Zweck der Bildung unabhängiger Stadtregie­rungen, auch von unabhängigen Gilden und Zünften, konnte es in China darum nicht geben.101 Eine Emanzipation der Repräsentanten des Marktverkehrs, von Händlern und Handwerkern, blieb aus. Eine bürgerliche Rechtsgleichheit (Isonomie) des Wirtschaftssubjekts, wie in Europa, hat sich darum auch nicht ausbilden können. Da der Handel ein von kaiserlichen Beamten streng beaufsichtigter Staatshandel blieb, verharrten Händler und Handwerker in einem protobürgerlichen Zustand. __ Hier ist der Grund dafür zu sehen, dass sich in chinesischen Städten niemals eine öffentliche Kultur entwickeln konnte. Der Kaiser blieb der Herr aller Räume, ihr Repräsentant, wodurch jeder Flecken der Stadt zu einem Teil, einer Erweiterung des kaiserlichen Palastes wurde – und damit zu einem Bedeutungsträger kaiserlicher Macht. Man kann dies auch so ausdrücken: Zwar entwickelten sich mit der Ausdehnung von Handel und Gewerbe so etwas wie bürgerschaftliche beziehungsweise gesellschaftliche Elemente, doch blieben diese immer vollständig beherrscht von einer Gemeinschaft, die im Kaiser ihren Anfang und ihr Ende, ihren Sinn und Zweck hatte. __ Der scheinbar zügellose Kapitalismus im heutigen China steht der einstigen Palast­ ökonomie nicht so fern. Er ist immer noch eine politisch massiv gedeckelte Veranstaltung, eine ‹freie Wirtschaft› unter Vorbehalt des politischen Zentralismus. Allerdings mischt sich in das Echo des einstigen Palast­handels nun auch ein neuer Ton. Es ist derjenige der (Zivil-)Gesellschaft, die sich entlang der (kapitalistischen) Marktwirtschaft entwickelt, die die abgeschlossene Welt der Gemeinschaften, der Familien und Nachbarschaften immer stärker durchdringt. __ Die offene Ökonomie des neuen China ist doppelt kodiert: Indem sie einen über Geld, Verträge und Institutionen vermittelten sozialen Zusammen­hang von Individuen stiftet, setzt sie Kräfte der Vergesellschaftung frei. In der Konsequenz könnte nicht nur die Demokratiebewegung gestärkt werden, sondern zugleich ein sozial ausgleichender Regulationsstaat an Kontu­ren gewinnen. Andererseits ist davon auszugehen, dass in China der gesell­schaftskonstitutive Marktverkehr viel stärker als in der westlichen Welt der Regie der Gemeinschaft unterworfen bleiben wird, von der Familie über die nach wie vor existierenden Sippen (Fangs) und Clans bis hin zur Hypergemeinschaft der chinesischen Gesellschaft. Die traditional geprägten Institutionen sorgen für eine ‹kollektivistische› beziehungsweise ‹familiäre› Prägung des kapitalistischen Ökonomie-Modells. Der Begriff des ‹konfuzianischen Kapitalismus› reflektiert genau diesen, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft oszillierenden, Charakter des chinesischen Entwicklungsmodells (Souchou Yao 2002). __ Es gibt weitere Beispiele einer chinesisch geprägten Verbindung von Tradition und Moderne, von Gemeinschaft und Gesellschaft. Folgt man etwa den Ausführungen von Jiang Long in seiner Studie über die wieder aufkeimende Bedeutung der ruralen Clans, scheint sich auf dörflicher Ebene vielerorts eine neuartige Allianz von – restituierten – Clanstrukturen und modernen (gesellschaftlichen) Planungsbehörden bei der Entwicklung des ländlichen Raums zu bilden. (Long 2012) Mit dieser Kooperation, so Long, werde auf die desaströsen Erfahrungen mit der Zerschlagung der Clanorganisationen während

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der Mao-Epoche, speziell während der Kulturrevolution, und auf die Unfähigkeit autoritär operierender Planungsbehörden reagiert. __ Die sich ausbreitende arbeitsteilig-differenzierte ‹berufsbürgerliche› Gesellschaft bietet den gemeinschaftszentrierten Ansprüchen der chine­sischen Stadtgesellschaft immer weniger Verwirklichungsmöglichkeiten. Ausgeglichen wird die sich daraus ergebende Spannung zwischen gemeinschaftsbezogenen Ansprüchen und gesellschaftlicher Realität durch viel­fältige Formen der Vergemeinschaftung gesellschaftlicher (geschäft­ licher, vertraglicher, institutioneller) Interaktion. Beispielsweise ist bis auf den heutigen Tag ein formaler Vertrag umso belastbarer, je fester die Bande des Netzwerkes geknüpft werden, das die Vertragspartner integriert. __ Geknüpft werden diese Bande vorzugsweise im Restaurant beim Essen und Trinken. Hier wird alles diskutiert und entschieden. Erst durch diese Form familiär geprägter Beglaubigung kann ein Vertrag tatsächlich das sein, was zu sein er ansonsten eher nur vorgibt: eine durch unabhängige Gerichte verbürgte gesellschaftliche Institution. So dient das gemeinsame Essen und Trinken der Bildung und Stabilisierung von quasigemeinschaftlichen Netzwerken, die die fortdauernde Schwäche gesellschaftlicher Interaktion ausgleichen müssen. In China muss man die richtige guanxi haben oder entwickeln, um geschäftlich erfolgreich sein und sozial weiter aufsteigen zu können. Wer über dieses ‹Bindemittel› nicht verfügt, ist ein ‹armer Teufel›; und seine guanxi verliert, wer die Gebote der Familien- und Gemeinschaftsmoral nicht beachtet, zum Beispiel die Bedeutung persön­licher Bindungen unterschätzt oder die soziale Hierarchie durch Kritik einer höher stehenden Person in Frage stellt. (Souchou Yao 2002, 101ff) __ Es ist der enorme Bedarf an Konfirmation gesellschaftlicher Interaktion durch gemeinschaftliche, die das Verköstigungsgewerbe zu einem stadt­raumrelevanten Faktor gemacht hat. In Europa mag es Einkaufszentren, Fußgängerstraßen oder Plätze geben, wo einige oder sogar viele kleine und größere Restaurants zu finden sind. In China jedoch entdecken wir eine Spezies von ‹Shopping-Center›, die fast ausschließlich aus Restau­ rants bestehen – und vielleicht noch den einen oder anderen Laden mit Pro­dukten rund um die Rituale des Essens aufweisen. In diesem Land finden wir komplette Straßenzüge, ja Quartiere und sogar ganze Dörfer, die fast nur aus Restaurants bestehen, und keines-

Kleiner buddhistischer Hausaltar, Shenzhen

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Kleiner Schwellenaltar, Macao

wegs selten treffen wir auf regelrechte Esstempel: mehrstöckige, reichverzierte Gebäude mit barocken Autoauffahrten und einer veritablen Heerschar von Dienstpersonal. Die Intimisierung der halboffenen Restaurants durch zahlreiche Separees verstärkt den gemeinschaftszentrierten Charakter dieser ‹Institutionen› nochmals. __ Der Fortbestand des Oikistischen zeigt sich überdies in der Lebendigkeit der Tradition des (buddhistischen oder auch konfuzianischen) Hausaltars. Dieser erinnert uns heute daran, dass es auch im aufgeklärten Europa einmal Zeiten gegeben hat, als das Haus der Familie noch zugleich ein (kleiner) Tempel war. Gleichfalls als Bestätigung des Oikos-Gedankens lassen sich die hin und wieder anzutreffenden Schwellenaltäre deuten, die an die Magie dieser sphinxhaften Orte gemahnen, die beides zugleich sind, Innen und Außen. __ China ist unterwegs zu einer der europäischen vergleichbaren Kultur des öffent­ lichen Raums. Der offene Stadtraum wird in dem Maße in öffentlichen Raum transformiert, in dem sich marktwirtschaftliche Elemente ausbrei­ten. Doch zugleich bleibt diese Öffnung unter dem Vorbehalt jener Institutionen, die im Besitz der kulturellen Hegemonie im Lande sind – und dies sind die konfuzianisch geprägten Institutionen der Familie und Gemeinschaft. Dieser Hegemonie ist geschuldet, dass sich offener Raum nur sehr langsam zum öffentlichen Raum weiterentwickeln kann. Doch andererseits ist absehbar, dass im Zuge einer stetig anwachsenden Mittelschicht die zivilgesellschaftlichen Elemente gestärkt und die entsprechenden räumlichen Ansprüche angemeldet werden. Die Zukunft eines chinesisch geprägten öffentlichen Stadtraums ist in der gegenwärtigen Entwicklung vorprogrammiert. __ Die gegenwärtige ‹Lücke› zwischen offenem und öffentlichem Stadtraum wird durch europäische Stadtkopien nach Art von ‹Thames Town› oder ‹Luodian› keineswegs geschlossen. Zwar transportieren diese Orte die Fiktion öffentlicher Stadträume nach China, doch werden deren Plätze und Straßen sofort in offene Räume des Kommerzes umcodiert. Sie verwandeln sich dadurch in bloße Bühnenbilder und somit in Quellen der von den neuen chinesischen Mittel- und Oberschichten begehrten Distinktionskapitalien und Markenidentitäten. __ Die geschlossenen Wohnsiedlungen, denen immer noch etwas Dörfliches anhaftet, verlieren erst durch die Existenz des kommerzialisierten offenen Raums ihre ruralen Konnotationen; denn eine Nachbarschaft ohne Markt ist ein Dorf und keine Stadt. Insofern die chinesische Stadt die abgeschlossenen Nachbarschaften mit den aufgeschlossenen Räumen des Kommerzes verbindet, lässt sie sich auch als eine Landschaft urbanisierter Dörfer beschreiben. Wir stoßen damit auf ein bereits von Walter Benjamin notiertes

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Phänomen. Nicht einmal die moderne europäische Großstadt habe es vermocht, den Stadtbewohner vollständig vom ruralen Pol seines Daseins abzukoppeln. Im Passagen­ werk schreibt er, dass der typische Einwohner von Paris sich überhaupt nicht als solcher betrachtet. Als Bewohner eines Quartiers oder Arrondissements sei er sozusagen Bewohner eines Dorfes in der Stadt: «Mit einem Achselzucken lehnt der echte Pariser, und wenn er auch jahraus jahrein niemals auf Reisen ginge, es ab, Paris zu bewohnen. Er wohnt im treizième, oder im deuxième oder im dixhuitième, nicht in Paris, sondern in seinem Arrondissement – im dritten, siebenten oder im zwan­zigsten – und das ist Provinz. Vielleicht ist hier das Geheimnis der sanften Hegemonie der Stadt über Frankreich: dass sie im Herzen ihrer quartiers [...] mehr Provinzen besitzt als ganz Frankreich. [...] Paris hat mehr als zwanzig Arrondissements und steckt voller Städte und Dörfer.» (Benjamin v2, 999) Die Arrondissements von Paris waren schon damals, im 19. Jahr­hundert, räumlich offene Verwaltungseinheiten, ganz im Unterschied zu den Nachbarschaften der chinesischen Stadt, die damals wie heute gegen ihre Umgebung abgeriegelt sind und mit Unterstützung durch Nachbarschaftskomitees verwaltet werden – weshalb diese mit noch größerem Recht als städtische Dörfer bezeichnet werden können. __ Lassen sich die geschlossenen Nachbarschaften der Stadtbezirke (districts) umstandslos als städtische Dörfer, als semi-urbane Gebilde identifizieren, so gilt für die ländlichen Gebiete, die Landkreise (counties) Vergleichbares. Der Blick auf die Dörfer lässt semi-rurale Siedlungen erkennen, dörf­l iche Städte mit dicht zusammengerückten Wohngebäuden, die in kurzen, nur von Äckern, Feldern, Gewächshäusern und Fischteichen erzwungenen Abständen das Land übersäen. Die Einwohnerdichte vieler ländlicher, als counties ausgewiesener Regionen überschreitet diejenige suburbaner Gebiete im Westen beträchtlich (vgl. Friedmann 2005, 40ff). Insofern ist in China das Ländliche städtisch und das Städtische ländlich. Die Botschaft dieser Form von Stadt-Land-Indifferenz ist der gemeinschaftliche Charakter der Gesellschaft beziehungsweise der gesellschaftliche Charakter der Gemeinschaft. Beides durchdringt sich mit einer Intensität, die für westliche, aufgeklärte Zivilisationen weder vorstellbar noch annehmbar ist.

‹Bauernhäuser› an der ländlichen Peripherie von Shanghai

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Nicht nur in China, sondern überall dort, wo Stadtleben anzutreffen ist, strukturieren die Verhältnisse von Abgeschlossenheit und Aufgeschlos­senheit den städtischen Raum. Allerdings geschieht dies kulturbedingt auf unterschiedliche Weise. Während in Europa der abgeschlossene Raum eher die Form einer auf Individuen verweisenden Privatheit annimmt, tritt der geschlossene Raum in China zusätzlich in Gestalt der Nachbarschaft als Lebensstil-Gemeinschaft auf, als kollektiver Raum. Und während in Europa der offene Stadtraum (oft mehr schlecht als recht, gelegentlich jedoch grandios) sich zum öffentlichen Raum zu qualifizieren vermag, gelingt dies in China bisher nur in ersten Ansätzen. Hier wird der offene Raum vorwiegend durch kommerzielle Interessen aus seiner Eigenschafts­losigkeit herausgehoben, jedoch auch durch die Repräsentationswünsche politischer Akteure, die an der Spitze einer durch und durch hierarchisch formatierten Gesellschaft stehen. __ Der Dualismus von ab- und aufgeschlossenem Stadtraum ist inhaltlich eng verbunden mit einigen weiteren Begriffspaaren, die im Verlaufe der semio­tisch informierten Stadtlektüre eine Rolle gespielt haben. Zu nennen ist in erster Linie der Dualismus von Introversion und Extraversion, wobei Introversion auf abgeschlossenen Raum und Ex­ traversion auf öffent­lichen Stadtraum verweist. Als Beispiele für introverse Raumfiguren wur­den Hofhaus und Nachbarschaftshof vorgestellt und diskutiert. Beide konnotieren primär eine rurale, gemeinschaftszentrierte Wohntypologie. Dabei zeigt das Beispiel des Nachbarschaftshofes: Um im urba­nen, das heißt in einem ihm wesensfremden Kontext, weiter existieren zu können, muss der rurale Raum sich abschließen, abschotten, verkapseln. Jede Nachbarschaft ist insofern ein urbanisiertes Dorf, eine nach Maßgabe städtischen Lebens restrukturierte dorfähnliche Gemeinschaft. Jedes städtische Hofhaus, jede introverse Nachbarschaft, jeder exklusive städtische Palast, ob klein oder groß, ist so gesehen ein urbaner Heterotop.102 __ Extraversion, etwa der von Giebelfassaden gerahmte städtische Markt­platz, denotiert demgegenüber öffentlichen und darin zivilgesellschaft­lichen Stadtraum. In der Extraversion stimmen Begriff und Wirklichkeit der Stadt überein. Der von extraversen Fassaden gerahmte Platz oder die entsprechend inszenierten Straßen lassen sich aus diesem Grunde als ‹Iso­tope› des städtischen Raums bestimmen. So wie der rurale (gemeinschaftsbezogene) Raum als abgeschlossener und introverser Raum mit sich selbst identisch (isotopisch) ist, ist der städtische (gesellschaftsbezogene) als ein offener und extraverser Raum. Vermittelt durch seine Kommerzialisierung, entwickelt der offene – und in dieser Offenheit noch unbestimmte – städtische Raum eine Tendenz zum öffentlichen Raum, zum Raum der Stadtgesellschaft beziehungsweise zum ‹zivilen Raum›. Damit sind wir bei einem weiteren Begriffspaar, das ebenfalls in einer engen Verbindung zum abgeschlossenen und aufgeschlossenen Stadtraum zu sehen ist: Gemeint sind die ebenfalls in Zuge unserer Studie aufgetretenen Begriffe räumliche ‹Exklusion› und ‹Inklusion›. So ist der abgeschlossene Stadtraum nicht nur in der Regel introvers, sondern zugleich exkludierend. Das Abschließen ist ein wichtiges Element der Exklusion. __ Sehr oft hat das Abschließen dabei weniger mit physischer Abwehr zu tun als vielmehr mit einem schichtenspezifischen Distinktionsverhalten. Beim Abschließen geht es vorrangig um Symbolik, um zeichenhafte, ikonische Abgrenzung. So kann eine chinesische Nachbarschaft in der Regel von Außenstehenden (meist unter Aufsicht von Wachpersonal) betreten werden, doch wird Besuchern zugleich deutlich gemacht, dass man nicht dazu gehört, dass der Raum, den man betreten hat, ein fremdes Territorium

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ist, dass man hier, wenn überhaupt, nur auf Zeit geduldet ist. Wer also für längere Zeit einen Gast in seiner Wohnung beherbergen möchte, ist gut beraten, diesen dem Nachbarschaftskomitee vorzustellen. __ Als introverse und exklusive Räume sind Nachbarschaften rurale Ele­mente im Körper der Stadt. Da das städtisch-gesellschaftliche Leben das ländlich-gemeinschafts­ gebundene überall zurückdrängt, muss die Anpassungsfähigkeit der abgeschlossenen, introversen und exklusiven Nachbarschaften in den chinesischen Groß- und Megastädten als erstaunlich eingestuft werden: als bemerkenswerte Resistenz des ‹Ländlichen› und ‹Gemeinschaftlichen› gegenüber den zersetzenden Kräften des ‹Städtischen› und ‹Gesellschaftlichen›. __ Vor einer allein entwicklungslogischen Deutung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft in China sollten wir uns hüten. Sie reicht keineswegs aus, um die gegenwärtige städtische Raumpraxis in China zu verstehen. Was hier als Hegemonie des Gemeinschaftlichen bezeichnet wurde, ist keineswegs allein Ausdruck einer gewissen Zurückgeblieben­heit, wie sie für ein Schwellenland als charakteristisch angesehen werden könnte. Sie ist vielmehr auch Ausdruck tief verwurzelter und insofern nachhaltiger kultureller Praktiken, die dafür sorgen, dass der chinesische Städtebau auf Dauer der Gemeinschaft, der Nachbarschaft mit ihrem abgeschlossenen, introversen und exklusiven Raum einen hohen Stellenwert einräumen wird. Mögen die chinesischen Städte daher die weltweit größten und verdichtetsten sein, wahre Asphaltdschungel, so bleiben sie doch zu einem Gutteil dörflich beziehungsweise ländlich strukturiert, eine chinesische Variation von Stadt-Land. __ Eine mit der europäischen Geschichte vergleichbare Stadt-Land-Dichotomie hat es im Reich der Mitte nie gegeben. Undenkbar daher der Gegensatz von Landleben und Feudalismus einerseits und Stadtleben und bürgerlicher Gesellschaft andererseits. Unvorstellbar auch, dass Stadt und Land jeweils eigenständige kulturelle (soziale, politische, ökonomische) Sphären repräsentieren. Stadt und Land waren in China immer «miteinander verwoben», wie Friedmann sagt, ein «Stadt-Land-Kontinuum» besonderer Art (Friedmann 2005, 8). Städte waren in ihrer Bestimmung als kaiserliche An­wesen niemals frei im Sinne der Verfügung über eigenes Recht, eigene Verwaltung, eigene Regierung. Als Grund dafür hatten wir bereits das Ausbleiben eines bürgerlichen Synoikismos mit dem Ziel einer Schwächung der königlichen beziehungsweise kaiser­ lichen Zentralgewalt angesprochen. Statt eines solchen hat sich nach der Reichs­­eini­ g­ung, etwa ab der Han-Dynastie (ca. 200 u. Z.) ein semi-aufgeklärtes zentralistisches Herrschaftssystem mit den zwei Säulen des Kaisertums und des Literaten-Beamtentums herausgebildet. Aufgrund der fehlenden soziokulturellen Differenzierung von Land­ leben (Feudalismus) und Stadtleben (bürgerliche Gesellschaft) wurde das außerhalb der Stadtmauern sich ausdehnende Land, sofern es innerhalb Chinas lag, auch als ‹Vorstadt› bezeichnet (Wu, Weijia 1993, 90ff). ‹Vorstadt› darf nicht mit dem europäischen ‹Weichbild› verwechselt werden. ‹Weichbild› war das von den freien Städten kontrollierte Rechtsgebiet außerhalb der Stadtmauern, das sich wie ein Puffer zwischen Stadtraum und feudalem Lehen (hier: dem sog. ‹Salland› und der ‹Zinshufe›) erstreckte. Die chinesische ‹Vorstadt› war demgegenüber das Land zwischen Stadtmauer und Reichsmauer oder zwischen Stadtmauer und Gebirge und Fluss. Die städtische Raumkultur Chinas kennt kein Weichbild.

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Die Stadt ‹überflutet› das Land, Shenyang

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Das Verhältnis von Stadt und Land war nie eines substantieller kultureller Differenzen, sondern allenfalls ein Verhältnis hierarchischer Positionierung innerhalb einer alles übergreifenden politischen und soziokulturellen Totalität. Aus der Tatsache, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur etwa sechs Prozent der chinesischen Bevölkerung in Agglomerationen mit mehr als fünfzigtausend Einwohnern lebten, oder dass zu Beginn der Öffnung Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts immer noch weniger als 20 Prozent in Städten lebten, lässt sich darum nicht ableiten, dass China zu diesen Zeitpunkten ein reiner Agrarstaat gewesen sei. So belief sich die Zahl der Stadtbewohner um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf bemerkenswerte zwanzig Millionen. Dies entsprach etwa 5 Prozent der Einwohnerzahl Chinas. Und ebenso wenig lässt sich daraus ableiten, dass die Stadtbewohner einen ausgeprägt städtischen, vom Landleben signifikant unterschiedlichen Lebensstil pflegten. Das Städtische blieb im Wesentlichen rural, während das Ländliche seit über zweitausend Jahren durch die politische und kulturelle Hegemonie der kaiserlichen Zentralmacht zwangsurbanisiert wurde: zum Vorhof des Kaiserpalastes. __ Die chinesische Schreibweise des Wortes ‹Stadt› bewahrt die Erinnerung an die erwähnte Integration von zentralistischer Macht und Markt unter dem Dach des inte­ grierenden Kaisertums. So setzt sich das Wort ‹Stadt› aus den beiden Elementen ‹Mauer› und ‹Markt› zusammen. Dabei verweist die Mauer – anders als in Europa, wo sie sich zu einem Symbol der städtischen Freiheit und des altbürgerlichen Stolzes entwickelte – auf die Herrschaft, ja Anwesenheit des Kaisers als einer allenfalls proto-bürgerlichen Institution. Das Element ‹Markt› steht demgegenüber für das, was einen Tempelpalast beziehungsweise Superoikos (die Wohnstätte des ‹großen Einzelnen›) erst zu einer Stadt macht: die Anwesenheit von Handel und Gewerbe.103 __ Der Preis, den China für seine zentralistische, die Differenz von Gemein­schaft und Gesellschaft, von Land und Stadt, von Ruralem und Urba­nem abspannenden Integrationskultur zahlte, war das Ausbleiben einer stadtbürgerlichen Emanzipation – und einer dadurch möglichen radika­len Aufklärung (Verwissenschaftlichung und Individualisierung), Demo­kratisierung (Gewaltenteilung) und Kapitalisierung (Weiterentwicklung des Handels- zum Produktionskapitalismus). Dem Raum teilt sich die­ses Faktum in der Weise mit, dass die chinesische Stadt (der Referent) sich aus urbanisierten dörflichen Strukturen (Signifikanten) zusammensetzt, die den Primat der Gemeinschaft (Signifikat) denotieren.

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Chinesisches Wort für ‹Stadt›

Zusammenfassung

Jede Stadt ist einmalig. Das gilt auch für chinesische Städte. Auch sie sind Stadtindividuen, soziokulturelle Plastiken von jeweils singulärer, unverwechselbarer Beschaffenheit. In diesem Sinne kann jede Stadt als Gesamtkunstwerk ihr Portrait beanspruchen. Mit Recht und mit gutem Grund, wie man in jedem guten Stadt- beziehungsweise Fremdenführer nachlesen kann. Bei unserer Stadtlektüre geht es jedoch nicht primär um Peking, Shanghai, Xi’an, Shenzhen, Harbin und andere Städte. Uns interessiert vielmehr das Chinesische an der chinesischen Stadt, das Allgemeine; uns beschäftigen jene Merkmale, die alle chinesischen Städte mehr oder weniger teilen. Die vorliegende Schrift richtet sich insofern vor allem an Architekten, Städtebauer, Stadtplaner und an Urbanisten beziehungsweise Stadtforscher, das heißt an alle, die, aus welchen beruflichen Gründen auch immer, Interesse an der Grund- und Füllstruktur der chinesischen Stadt als einem räumlichen Kulturphänomen haben. __ Für diese Zielgruppen ist es wichtig, über das Einzigartige der jeweiligen urbanistischen Erscheinung hinaus zum Kern der chinesischen Stadt vorzudringen, zu ihrer Syntax, ihrem Code. Wir haben es daher als unsere Aufgabe angesehen, darzustellen, was einzelne chinesische Städte eint – und nicht, was sie voneinander unterscheidet. Erst die Entschlüsselung dieses Gemeinsamen – dessen, was wir als Sinität der chinesischen Stadt bezeichnen – öffnet den Blick auf ihre innere Struktur und lässt uns verstehen. Von hier ist es dann auch möglich, die Vielfalt der empirischen Eindrücke zu gewichten und sinnvoll zu ordnen. __ Wie ungemein wichtig es ist, genau zu wissen, was die chinesische Stadt denotiert, hat uns der Fall der ‹deutschen Stadt› Anting deutlich vor Augen geführt. In dem naiven Glauben befangen, man könne eine europäische Stadt substantiell in den chinesischen Kulturraum transponieren, hat man letztlich einen Fremdkörper implantiert, den man nun mit allen möglichen Korrekturen anzupassen sucht, wobei jede Korrektur sich als fragwürdiger, an der Identität der deutschen Stadt zerrender Kompromiss erweist – ohne im Gegenzug die Lesbarkeit des Gebildes für den chinesischen Bürger und ‹Kunden› entscheidend zu verbessern. __ Im Kern erweist sich die Grundstruktur der chinesischen Stadt von heute als Dualis­ mus von abgeschlossener und aufgeschlossener Stadt. Die gesamte Orchestrierung der Stadt muss sich diesen beiden Raumtypen fügen. Das gilt selbstverständlich auch für die funktionale Gliederung. Dem Ideal der Zonierung am nächsten kommen die vielen neuen Industrie- und Gewerbeparks. Der Siedlungsbau hingegen erscheint auf den ersten Blick stark monostrukturiert, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als äußerst kleinteilig zoniert – und zwar entlang der Differenz von geschlossenem Raum (Wohnen) und offenem Raum (Nahversorgung, Dienste aller Art, Parks und so weiter).

zusammenfassung

179

Die Engmaschigkeit der Zonierung von Wohnraum und Versorgung lässt den Eindruck entstehen, es handele sich um eine funktional gemischte Struktur. Dieser Eindruck ist jedoch falsch, und er kann daher fatale Folgen für Architekten und Städtebauer haben. __ Zur Kernstadt hin werden die offenen Räume großflächiger, nehmen Gebäude und Anlagen mit politisch-administrativen, kulturellen und kommerziellen Funktionen in sich auf. Der Grad der Vertikalität erhöht sich, und was in den Randbereichen durch Mauern, Zäune und Tore sichtbar als abgeschlossen wahrnehmbar ist, versteckt sich hier hinter immer zahlreicheren Blockrandzeilen oder verschwindet in die Foyers der Hochhäuser und Wolkenkratzer. Die in die Gebäudesolitäre gewanderte, nunmehr interne Verriegelung mittels Foyer-Wachdiensten und Schließanlagen befördert den irreführenden Eindruck, dass die Exklusion in den Innenstädten abnimmt. __ Die Offenheit der Innenstädte lässt sich nicht umstandslos mit deren ‹Öffentlichkeit› gleichsetzen. Öffentliche Räume gehören zwar zum offenen Stadtbereich, sind jedoch eher schwach ausgeprägt, wie etwa die Sparsamkeit beziehungsweise Abwesenheit öffentlicher Möblierung der offenen Plätze von Einkaufs- beziehungsweise Gemeindezentren zeigen. Es dominiert eindeutig der kommerziell verwertete offene Raum. __ Den offenen Stadtraum beherrschen, von außen nach innen gehend, die ‹große Straße›, die kommerzielle Blockrandzeile und das kommerzielle Zentrum auf unterschiedlichen Integrationsebenen – vom Nachbarschaftszentrum über das Gemeinde- und Dis­ triktzentrum bis zur innerstädtischen Mega-Mall und zur Fußgängerzone. Und dann kommt noch der ‹erhabene Platz› hinzu. Den abgeschlossenen Raum hingegen hält die Nachbarschaft, das urbane Dorf, als ein introverser, vertikaler, orientierter und mit Markenidentität ausgestatteter Stadtbaustein (gated, introverted, vertical, oriented, branded compound) fest im Griff – in einer das Stadtbild prägenden Weise. __ Natürlich sind viele weitere Funktionen, vor allem gewerblicher Art (Industrieparks), abgeschlossen, jedoch treten diese nicht so sehr hervor, weil sie sich entweder an der Peripherie der Städte befinden oder aber in ihren Kerngebieten, wo sich die abgeschlossene Stadt verstärkt in das einzelne Gebäude oder hinter Blockrandzeilen zurückzieht. __ In China herrscht Gründerzeit. Eine gewaltige Umschichtung von Menschen vom Land in die Stadt vollzieht sich. Es heißt, dass gegenwärtig über 200 Millionen Arbeitsmigranten in die Großstädte drängen. Zur Entlastung der aus ihren Nähten platzenden Kernstädte werden überall im Lande Satelliten- und Trabantenstädte aus dem Boden gestampft. Dabei werden vielfach neue, postmoderne Wege beschritten, die sich deutlich von den westlichen Entlastungsplanungen des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheiden. Besonders hervorzuheben sind die Themenstädte, mittels derer versucht wird, die Stadtbaukultur, die Lebensart oder einfach nur das verräumlichte Bild fremder Kulturen nach China zu holen. __ Es stellt sich die Frage, wie diese Transposition geschieht – und warum sie geschieht. Zur Beantwortung des ersten Teils der Frage untersuchten wir drei Themenstädte des ‹Eine Stadt, Neun Dörfer-Plans› von Shanghai: die ‹deutsche Stadt› Anting, die ‹englische Stadt› Taiwushi (als Teil der Stadt Songjiang) und die ‹schwedische Stadt› Luodian. Die deutsche Stadt, so wurde deutlich, zeugt von Idealismus und interkultureller Schwäche – und hat dementsprechend mit enormen Schwierigkeiten bei der Vermarktung zu kämpfen. Der urbane Code Chinas wurde nicht verstanden oder ignoriert. Demgegenüber zeugen die Beispiele Taiwushi und Luodian von Pragmatismus und interkultureller Routine. Es wird geliefert, was der chinesische Auftraggeber wünscht: eine Stadt

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zusammenfassung

aus geschlossenen Nachbarschaften mit einer kommerzialisierten offenen Stadtbühne gescannter oder imitierter europäischer Architekturen und Texturen. __ Warum diese Stadtfiktionen? Weil die Anwesenheit des Anderen und Fremden als Befreiung erlebt wird – und keinesfalls als Bedrohung. Und weil die Symbolik des Exotischen als Distinktionsgewinn verbucht wird – in einer Lebenswelt, für die Markenidentität (‹branding›) längst Normalität ist. Die neuen chinesischen Mittel- und Oberschichten befinden sich inzwischen in bewusster postmoderner Zeitgenossenschaft mit ihren westlichen Mitbürgern. Sie schätzen die Ästhetisierungen der Postmoderne allerdings nicht nur als Antwort auf das, was die fordistische Moderne (welche auch die maoistische ist) vermissen lässt, sondern auch als Zeichen, als ikonische Repräsentation des neuen China. __ Im Ergebnis unserer Stadtlektüre erhalten wir unter anderem die folgenden Besonderheiten als Bausteine des Codes der chinesischen Stadt: einen die Grundstruktur der chinesischen Stadt nachdrücklich bestimmenden Dualismus von aufgeschlossenem (offenem) und abgeschlossenem (geschlossenem) Raum; eine Bevorzugung des privaten beziehungsweise gemeinschaftsbezogenen Raums gegenüber dem öffentlichen oder auch gesellschaftlichen Raum; das Festhalten an der Tradition der klimatisch bedingten, jedoch mit Status aufgeladenen Südorientierung im Wohnungsbau; die kreative Weiterentwicklung der modernen Zeilenbauweise zu ‹schwingenden Zeilen und tanzenden Punkten›, zu gestuften Anordnungen (Kaskaden, Tribünen) und pittoresken Wohnlandschaften; die Nutzung kommerzieller und gewerblicher Funktionen für orientierungsfreie Blockrandbebauungen, die zugleich als Einhegung und als willkommener Schutz gegen die Emissionen der belebten Stadtstraßen dienen; die ebenso kleinteilige wie vorteilhafte Zonierung von kommerziellen Blockrandzeilen und geschlossenen Nachbarschaften; die selbstverständliche Praxis, Siedlungsbereiche als exklusive, abgeschlossene Räume und insofern als ‹urbane Dörfer› zu gestalten; ein ebenso deutliches wie kreatives Festhalten an den introversen Raumtraditionen Chinas in den diversen Formen des Nachbarschaftshofes; ein vergleichsweise hoher Versiegelungsgrad von Nachbarschaftshöfen und öffentlichen Parks, in denen sich die Tradition des Chinesischen Gartens fortsetzt, Künstliches und Natürliches zu harmonisieren; die Aufwertung des rein funktional bestimmten, ansonsten eher bedeutungsarmen offenen Stadtraumes durch dessen soziale Programmierung in Form von Kommerzialisierung, Intimisierung und bildmächtiger Aufladung; die Ergänzung des erhabenen und des kommerziellen Stadtplatzes um den Typus des tendenziell gesellschaftlich konnotierten, öffentlichen Gemeindeplatzes; die Ausbildung der kompakten, bildmächtigen und zugleich autogerechten Grundstruktur von ‹großer Straße› und ‹vertikalem Block›; die Verwendung von Dachsymbolen, Lichtskulpturen, glückverheißenden Namen, Fassadendekorationen und in zunehmendem Maße auch der Architektursprache zur Schaffung von kollektiven Markenidentitäten für die Nachbarschaften (‹branded neighbourhoods›); eine aus europäischer Sicht verblüffende, jedoch in gemeinschaftszentrierten Traditionen verwurzelte Unfähigkeit beziehungsweise Unwilligkeit, das ästhetische Potential von Fassaden zu erkennen und zu nutzen; die kommerziell getriebene Verwandlung offener städtischer Räume, von Gebäudefronten, Fassaden, Brücken, Straßen und Gehsteigen in ebenso reichhaltig wie redundant sendende urbane Medien-Landschaften (Medien-Fassaden);

zusammenfassung

181

eine aus Sicht des aufgeklärten europäischen Individualismus kaum vorstellbare und auf jeden Fall inakzeptable Verbindung von Luxus und Serialität in zahllosen Nachbarschaften der Oberklasse; den exzessiven Gebrauch von Stadt- und Architekturfiktionen zur Inszenierung offener Stadtbühnen, die sich als soziales Distinktionsmittel und als ikonische Repräsentation des offenen China deuten lassen; eine bildvergessene, von Identitätsdebatten unbehelligte Ausrichtung der Stadtentwicklung an städtebaulichen Utopien und Moden; erste Ansätze einer Rekonstruktion linearer städtischer Zentralität mit hierarchisch gegliederter Raumfolge vor dem Hintergrund einer zur Zeit noch schwach ausgeprägten, zwischen linearer und punktueller Zentralität schwankenden Konzeptionalisierung von Zentralität.

Wir gehen davon aus, dass es sich bei diesen Elementen, Merkmalen, Eigenschaften und Botschaften um die wichtigsten Inhalte des urbanen Codes der chinesischen Stadt von heute handelt, hinreichend repräsentativ zumindest, um die Sinität der gegenwärtigen Raumproduktion des Landes zu verdeutlichen. China, so finden wir bestätigt, verwestlicht keineswegs. Es konsumiert westliche Ideen, Konzepte, Bilder ebenso wie die Ideen, Konzepte, Bilder aus der eigenen Geschichte, um aus diesem Stoff einen neuen chinesischen Raum zu bilden, den zukünftigen Körper des chinesischen Drachens. Quod erat demonstrandum!

182

zusammenfassung

Anhang Anmerkungen, Bibliografie, Bildnachweise

Anmerkungen

haben sollen (Lingang ist sogar mit einer Million Einwohnern geplant) – merkwürdig klingt, reflektiert

1

Dazu beispielsweise die zum Schmunzeln an-

sich die historisch begründete Abwesenheit einer

regende Sammlung von Oliver Radtke unter http://

begrifflich distinkten Unterscheidung von Stadt und

www.olliradtke.de/articles/zgfengle/chinglish.htm

Land (dazu mehr unter Kapitel 2 im Abschnitt ‹Stein

2

‹Aufgeschlossen› in der dreifachen Bedeutung

und Pflanze› und in Kapitel 8).

des Wortes: geöffnet – bereit für Neues – aufgeholt.

10 Da der Begriff in der urbanen Semiotik bisher

3

Von dieser Position lässt sich die in architek-

keine Rolle spielt, sei er kurz erläutert: Von einer

turtheoretischen Diskursen durchaus verbreitete

urbanen Travestie sprechen wir, wenn der unver-

Auffassung unterscheiden, der zufolge im Zuge

änderte Inhalt (die chinesische Stadt) in einer ihr

der Globalisierung der internationale Stil, der ex

fremden Form (englische Stadt) inszeniert wird.

negativo an die Nation gebunden ist, durch eine

11

allgemeine, transnationale Vermischung regionaler

wenn der Inhalt (die chinesische Stadt) durch die ihm

Architekturdialekte auf der Weltbühne abgelöst wird.

fremde Form (niederländische Architektur) verän-

4

Der Neologismus ‹Sinität› wurde von Roland

Barthes eingeführt und bezeichnet bei ihm einen aus

Von einer urbanen Parodie sprechen wir dann,

dert und dadurch seiner Identität beraubt wird. 12 Die Annahme, dass jede Gesellschaft sich auf

‹Rikschas, Glöckchengeklingel, Opiumrauchen› etc.

singuläre Weise verräumlicht, liegt bereits dem 1974

komponierten Begriff, welcher noch zu seiner Zeit

erschienenen Buch La production de l’espace von Henri

das Bild des ‹französischen Kleinbürgers› von China

Lefèbvre zugrunde. Seither gilt die Decodierung des

reflektierte. (Barthes 1964)

gebauten städtischen Raums als fester Bestandteil

5

der Urbanistik. Von einer auf die Stadt angewandten

Im gegenwärtigen Diskurs um die Entwick-

lungsrichtung der chinesischen Stadt haben nicht

Semiotik versprach sich Lefèbvre nichts weniger als

viele Beteiligte diesen Zusammenhang von kultu-

eine Wiederbelebung dessen, was der Logos einst

rellem Gedächtnis und aktuellem Urbanismus so

für die griechische Polis war (dazu auch Lefèbvre

klar gesehen wie die in Peking lebende Architektin

1968). Für ihn ist die Tätigkeit des Architekten und

und Planerin Barbara Münch. (Münch 2004)

Städtebauers in erster Linie soziale Praxis. Es geht

6

ihm darum, einen räumlichen Text zu produzieren,

Der Begriff ‹Stadtsprache› findet im Deutschen

bisher ausschließlich Verwendung in der sogenann-

der den Ansprüchen einer sozialistischen Ethik zu

ten Dialektologie, wo er im Zusammenhang mit der

genügen vermag. Dazu bedarf es des Wissens um

linguistischen Erforschung städtischer Dialekte auf-

die Decodierung und Recodierung des städtischen

taucht. Mit diesem Gebrauch hat unsere Verwendung

Raums. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich dem-

des Begriffs ersichtlich nichts zu tun.

gegenüber auf das Decodieren, das heißt, auf das Er-

7

kennen und Verstehen der urbanen ‹Zeichengalerie›

Im internationalen Sprachgebrauch hat sich

für diese chinesische städtische Siedlungsform die

Chinas.

Bezeichnung compound durchgesetzt, ein Nomen, das sich auch mit ‹Verpackung› oder ‹Lager› übersetzen lässt. Meines Erachtens kommt die deutsche Bezeichnung ‹Nachbarschaft› der aktuellen Verwendung des Begriffs am nächsten. 8

Li bedeutet etwa ‹Nachbarschaft› und Long ist

die chinesische Bezeichnung für ‹Gasse› (siehe dazu Kapitel 4, Abschnitt ‹Orient trifft Okzident – Hybride Wohnquartiere›). 9

In dieser Bezeichnung, welche in europäischen

Ohren – angesichts der Tatsache, dass die neun ‹Dörfer› durchwegs mehr als fünfzigtausend Einwohner

anmerkungen

1 –  12

185

13 Marc Gottdiener zufolge ist städtischer Raum

16 Bei Lefèbvre liest sich dieses Deutungsproblem

kein einfacher Container sozialer Prozesse, sondern

so: «Nowadays the most subtle of semiologists are

Ergebnis von – häufig kontroversen – zeichen- be-

saying that a code is a voice and a way: from the ‹text›

ziehungsweise bedeutungsstiftenden Praktiken,

– the message – arise several possibilities, choices,

signifying practices (Gottdiener 1986, 214). Ganz im

various utterances, a plurality, a fabric rather than a

Sinne von Lefèbvre geht es ihm darum, diese zu

line. [...] Each coding would be a proposed outline,

decodieren in der Absicht einer emanzipatorischen

taken up again, abandoned, always at the outline

Recodierung. Seine soziale Semiotik entwickelt er aus

stage, engendering a meaning among many others.»

einer scharfen Kritik am semiotischen Reduktionis-

(Lefèbvre 1996/2005, 192) Das angesprochene Prob-

mus des sozialökologischen liberalen Gesellschafts-

lem der Bedeutung gilt genauso für die Decodierung,

modells. Wir meinen, dass sein sozial-semiotischer

das heißt in umgekehrte Richtung, als Problem der

Blick auf die Zeichenschemata sozialer Konflikte

Deutung. Dass selbst bei ausgezeichneten sinologi-

stratifizierter Gesellschaften – zum Beispiel von Di-

schen Kenntnissen Lese- und Deutungsprobleme

stinktionsstrategien und Ideologisierungen – um

bleiben, dies zuzugeben ist ein Gebot intellektueller

eine kulturelle Semiotik des städtischen Raums er-

Redlichkeit. Trotzdem gehen wir hier keinesfalls so

gänzt werden sollte. Deren Aufgabe wäre es, die tief

weit zu sagen, dass «ein weißes Blatt, der ärmste der

im soziokulturellen Gedächtnis von Gesellschaften

Texte», der am besten lesbare ist. (Lefèbvre 1996/2005,

verankerten Praktiken aus den signifikanten Formen

193)

ihrer Verräumlichung heraus zu erkennen. Denn

17 Wohin es führen kann, wenn man Ideologien

städtischer Raum wird zunächst als Ensemble so-

als Deutungsschemata (Signifikate) von außen an die

ziokultureller Zeichen produziert – vor jeder Bedeu-

Stadt heranträgt, habe ich anhand eines kritischen

tungszuweisung im Zuge sozialer Selbstbehauptung

Kommentars zu Umberto Ecos semiotischer Würdi-

und Auseinandersetzung.

gung des Entwurfs der brasilianischen Hauptstadt



Brasília von Costa und Niemeyer aufgezeigt. (Has-

Die von Kevin A. Lynch (Lynch 1960) erarbeite-

ten urbanen Raumkategorien (Wege, Kanten, Quar-

senpflug 2006b und Hassenpflug 2004b)

tiere, Knotenpunkte und Landmarken) beziehen

18 Hans P. Bahrdt kann dafür kritisiert werden,

sich auf die Aneignung und Organisation von Raum-

dass er den Städtebau als Möglichkeit der Kompen-

informationen zum Zweck der Orientierung. In

sation, das heißt der sozialen Integration betrach-

ihrer abstrakt-universellen Zielrichtung sind sie für

tet. Er unterschätzt insofern die Möglichkeiten

eine auf kulturelle Zeichen zielende Hermeneutik

der Informationstechnologie und der automobilen

des städtischen Raums nicht einschlägig.

Kommunikation beziehungsweise Integration. Die-

14 Was den Städtebau betrifft, hat Eco hier vor

se Kritik desavouiert jedoch nicht die Theorie der

allen Dingen den Entwurf Lucio Costas für die neue

unvollständigen Integration, die sich ausschließlich

brasilianische Hauptstadt Brasília vor Augen, der die

auf die Integrationsleistungen des urbanen Raumes

Umrisse eines Vogels (Kondors) zeigt. Costa demons-

beziehen lässt.

triert auf diese Weise, dass in Brasilien Moderne und Figürlichkeit keinen Gegensatz bilden. 15 Kultur ist diesem umfassenden Verständnis zufolge Ausdruck von Strategien der Anpassung sozialer Gruppen an ein Habitat (Cohen 1971; Vivelo 1988). Die Südorientierung der Wohnung beispielsweise ist in diesem Sinne eine Anpassung – und wo die Südlage sich als knappe Ressource erweist, kann sie zum Objekt von Privilegien werden, entlang derer sich soziale Hierarchien bilden.

186

anmerkungen

13 – 18

19 Man kann einwenden, dass der Terminus ‹Stadt›

24 Die Tauschhandlung, so heißt es bei Hegel,

angesichts der weit fortgeschrittenen Ausdifferenzie-

transzendiert die Unmittelbarkeit des Fressens und

rung der Stadtformen viel zu abstrakt sei. Im Prinzip

Gefressen-Werdens zur Sittlichkeit der ‹Produktion

ändert sich jedoch durch die Ausdifferenzierung

für Andere› (vgl. Hegel 1970, 353). Er bezeichnete

überhaupt nichts; denn die Begriffe ‹Industriestadt›,

daher die auf dieser Interaktionsform beruhende

‹Weltstadt›, ‹Megastadt, ‹Randstadt›, ‹chinesische

Wirtschaftsweise als «System der Sittlichkeit». So

Stadt› und so weiter beanspruchen nicht, Stadt zu

gesehen kann Chinas Öffnung zur Marktwirtschaft

denotieren, sondern Industriestadt, Weltstadt, Me-

als positiv bewertet werden.

gastadt und so weiter. Es ist im übrigen interessant,

25 Vergemeinschaftung bedeutet hier, dass Erträ-

dass die Semiotik in der Unterscheidung von Deno-

ge den Mitgliedern von Familien oder Netzwerken

tation und Konnotation auf ihre Weise den seit Plato

zugute kommen, und nicht, wie im Falle ihrer Verge-

die Philosophie bewegenden Diskurs über Reales

sellschaftung, den Gesellschaftern beziehungsweise

und Nominales fortschreibt.

Anteilseignern und, zumindest partiell, dem Staat.

20 Der Begriff ‹Stadt› konnotiert eine unendliche

Die ausgeprägte Unwilligkeit, Steuern zu deklarieren

Vielfalt von Bedeutungen, sowohl in diachronischer

beziehungsweise Einkommensdaten für die öffent-

als auch in synchronischer Perspektive. Das Spektrum

liche Statistik zur Verfügung zu stellen, reflektiert

der Assoziationsgehalte reicht hier vom heiligen

ebenfalls den ‹konfuzianischen› Charakter der chi-

Jerusalem bis zum verdorbenen Babylon, von einem

nesischen Marktwirtschaft (vgl. Souchou Yao 2002).

‹Krebsgeschwür› am Körper des Planeten Erde bis

26 Wir verwenden den Begriff ‹Gemeindeplatz›

zur Zivilisationsmaschine, vom Angst erzeugenden

als Ergänzung bzw. auch als Synonym für ‹Nach-

Moloch bis zum Hoffnungsinhalt für eine bessere

barschaftsplatz›, da dieser mit dem sehr wichtigen

Welt. Das Repertoire mehr oder weniger gut begrün-

Begriff des ‹Nachbarschaftshofes› (dazu Kapitel 4)

deter subjektiver Deutungen ist von beträchtlichem

leicht verwechselt werden könnte. Die Bezeichnung

Umfang.

‹Gemeindeplatz› verweist darauf, dass es sich um

21 Diese Verwendung des Begriffs ‹Nicht-Ort› ent-

einen öffentlichen Raum handelt, der vorzugsweise

spricht nicht der Bedeutung, die ihm Marc Augé

von Bewohnern angrenzender bzw. benachbarter

gegeben hat. Während ‹Nicht-Ort› bei Augé (Augé

Wohnsiedlungen frequentiert wird. Der Gemein-

1994) primär einen Raum ohne lokale Eigenart be-

depark ließe sich insofern auch als ‹Quartierspark›

ziehungsweise Identität meint, einen Raum, der

bezeichnen.

gerade durch seinen ubiquitären Funktionalismus bedeutsam ist, sprechen wir hier von einem Raum, dessen Identität darauf beruht, als bedeutungsarmer Raum angesehen zu werden, als Raum, den man benötigt, doch nicht würdigt. 22 Xu merkt an, dass es im historischen China auch öffentlichen Raum gegeben habe: introverse öffentliche Räume in geschlossenen Orten, in Tempelanlagen und konfuzianischen beziehungsweise taoistischen Schulen (dazu auch Zhang, Guanzeng 2004). 23 In China kann man übrigens lernen, dass das Massenornament nicht nur, wie Kracauer vermutete, als Figuration eines vergesellschafteten Körpers zu deuten ist, sondern auch als Symbol vergemeinschafteter Menschen. Es verweist insofern auf ein Wir ohne Ich.

anmerkungen

19  – 2 6

187

27 Den Lehren des Konfuzius und des Taoismus

31 Ein programmatischer Satz, der dem us-Ame-

entsprechend, identifiziert sich China nach wie vor

rikaner Louis Sullivan (1856–1924) zuzuschreiben ist.

(beziehungsweise inzwischen wieder) mit einer Kul-

32 Die Sprachen-Expertin Chiang-Schreiber (Chi­

tur, in der natürliche und kulturelle Gegensätze zu

ang-Schreiber 2007) bemerkt zur Didaktik des Chine­

harmonischen, friedfertigen Dualismen versöhnt

sisch-Unterrichts:

sind (Yin-Yang-Prinzip). In dieser Deutung der Pola-



ritäten unterscheidet sich die chinesische Philoso-

aus ‹musikalischen› Sprache, die nicht nur über das

phie deutlich von antagonistischen (kontinental-)

Hören, sondern auch über kinästhetische, visuell und

europäischen Interpretationen, in denen sich Dia-

emotional affektive Lernstrategien leichter erlernt wer­-

lektik nie gänzlich von manichäischen Einflüssen

den kann.

befreien konnte. Während in China Dialektik auf



eine harmonisch komponierte Weltordnung zielt, ist

(ohne Konjugation, ohne Deklination, ohne Arti-

Dialektik im europäischen Denken der Name jenes

kel) verlangt in erster Linie nicht einen analytischen

«Die 4 ‹Töne› machen Chinesisch zu einer über-

Das scheinbar einfache Grammatiksystem

ontischen Schauplatzes, wo die Dinge aus Gegen-

oder logischen Geist, sondern ein feines Gespür für

sätzen erwachsen, ein zugleich zerstörerischer und

Intention, Gefühlslage der Sprechpartner und Ein-

produktiver Urgrund des Werdens. Die Ursachen

schätzung der Sprechsituationen.

für diese Deutungspraxis mögen in den teilweise



intransigenten Doktrinen des Christentums verortet

in dem sich abstrahierte Bildvorstellungen erhalten

werden und in dem darauf fußenden mittelalter-

haben. Die Beschäftigung mit diesen Zeichen fördert

lichen und frühneuzeitlichen Antagonismus von

kognitive Fähigkeiten wie Sinnverknüpfung und

Die chinesische Schrift ist ein Zeichensystem,

kirchlich-feudalem Landleben einerseits und einem

assoziatives Denken und damit das visuelle Denk-

tendenziell laizistisch-bürgerlichen Stadtleben an-

vermögen [ ... ]»

dererseits. Wohl nicht zufällig haben die großen

33 Möglich, dass diese westliche Antinomie der

deutschen Philosophen Schelling, Hegel und Marx

tiefere Grund dafür ist, dass im ethnisch-kulturellen

ihre dialektischen Systeme im Stil von natur- und

Schmelztiegel Nordamerika der Rap entstehen konn-

geschichtsteleologischen Titanenkämpfen choreo-

te – gleichsam als Ergebnis der «Aufhebung und

grafiert.

Verwirklichung» (Hegel) dieses Gegensatzes.

28 Eine vergleichbare Botschaft wie der Chinesi-

34 Zum Vergleich: Berlin liegt etwa auf 52°,  Shang-

sche Garten denotiert übrigens auch die klassische

hai auf etwa 31° nördlicher Breite.

chinesische Musik auf eigentümliche Weise. Auch

35 Der Begriff ‹Fordismus› wurde durch Antonio

hier offenbart sich im Künstlichen der Musik zu-

Gramsci bekannt. Von ihm stammt auch der von

gleich eine als völlig natürlich konzipierte Welt der

uns weiter unten verwendete Begriff der kulturellen

Töne, Lieder und Geräusche.

Hegemonie. Durch ihr analytisches Potential und die

29 Zur Beziehung Goethes zur klassischen chine-

dadurch ausgelöste vielfache Verwendung haben sich

sischen Kultur siehe Zhang, Yushu 2007.

diese Begriffe jedoch längst ihrer ursprünglichen

30 Ich kenne keinen Philosophen, der dieses dop-

Kontexte entledigt. Sie sind soziologisches Allge-

pelte Übergreifen von Kultur und Natur so umfas-

meingut geworden.

send bedacht hat wie Wolfdietrich Schmied-Kowar-

36 Eigentlich müsste von ‹industrialisiertem Mas-

zik, in erster Linie in seiner Schelling-Rezeption.

senwohnungsbau› die Rede sein. Die sehr niedrigen

Im Chinesischen Garten fände er einen architekto-

Löhne für Bauarbeiter und Baufachkräfte reduzieren

nischen Verbündeten mit großer Aussagekraft (vgl.

jedoch den Rationalisierungsdruck in dieser Branche

Schmied-Kowarzik 1996).

ganz beträchtlich. 37 Wenn gegenwärtig immer noch neue niedriggeschossige, ausgedünnte Villenquartiere entstehen, dann erklärt sich dies aus bereits zuvor erteilten Genehmigungen.

188

anmerkungen

27 – 3 7

38 Die von der Architektin Hu Jia (Hu 2006) be-

43 Münch verweist auf eine planerisch und ad-

haupteten 60 Prozent sind allerdings stark anzuzwei-

ministrativ angewandte Typologie, der zufolge in

feln, zumal weder die gesellschaftliche Vergleichs-

der Stadtentwicklung die Siedlungsräume in drei

gruppe noch Vergleichsobjekte genannt werden.

Ebenen gegliedert sind: Demnach werden Siedlungs-

39 Ein Haus mit der Nummer 8 hat eine wesent-

gebiete mit 30.000 bis 50.000 Einwohnern (   jū zhù qū)

lich höhere Wertschätzung als etwa ein Haus mit

von ‹micro-residential-districts›, kurz mrds (xiăo qū),

der Nummer 4, das gelegentlich sogar schlecht zu

mit 7.000 bis 15.000 Einwohnern und ‹neighbour-

vermarkten ist. Auch die Regeln des Feng Shui spielen

hood clusters› (   jūtúan) mit 1.000 bis 3.000 Einwoh-

eine nicht unerhebliche Rolle. Die chinesische All-

nern unterschieden (vgl. Münch 2004, 48). Da sich

tagskultur ist durchsetzt von magischen Symbolen.

die Unterscheidung nach mrds und ‹neighbourhood

40 Diese Aussage trifft auf den architektonischen

clusters› nicht beziehungsweise nur schwer mit mei-

Maßstab offenbar nicht zu, denn gerade wird be-

nen eigenen Beobachtungen in Übereinstimmung

kannt, dass einem Architekten aus Chongqing vorge-

bringen lässt, verzichte ich auf die Verwendung des

worfen wird, ein von Zaha Hadid für soho in Peking

Fachterminus mrd. Denn die abgeschlossenen Wohn-

entworfenes Büro- und Einkaufszentrum kopiert zu

quartiere, welche die empirische Grundlage meiner

haben (South China Morning Post vom 04.01.13)

Ausführungen sind, liegen mit ihrer Einwohnerzahl

41 Hegel hätte wohl von einer «Aufhebung und

teils deutlich unter den mrds und teils deutlich über

Verwirklichung» des Fordismus gesprochen – und

den ‹neighbourhood clusters›. (Münch 2004, 45ff)

auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, dass er den

44 Als räumliches Strukturelement findet die

rastlos innovativen Geist der Menschheit, den er

‹abgeschlossene Nachbarschaft› in dem in archplus

‹Weltgeist› nannte, in der städtebaulichen Evolution

veröffentlichten Bericht zum Forschungsprojekt

am Werke gesehen habe. Das kann man nicht nur so

‹High Speed Urbanismus› keine Erwähnung. Diese

sehen, dass sollte man so sehen.

Nichtbeachtung überrascht um so mehr, als es sich

42 Dass sich in der Form der Verriegelung in der

bei den abgeschlossenen Nachbarschaften bezie-

jüngeren Geschichte eine Änderung vollzogen hat,

hungsweise ‹compounds› um ein in chinesischen

welche man als semiotisch bedeutsam werten kann,

Großstädten (auch im untersuchten Perlfluss-Delta)

darauf haben Halik und Küchler hingewiesen: «Sym-

omnipräsentes Phänomen handelt (Ipsen 2004).

bolhaft für die Zersetzung der alten Zellenstruktur

45 «The public services included cleaning public

der chinesischen Gesellschaft [...] steht der Ersatz

spaces inside and outside of buildings; disposing

der Mauern durch sog. ‹europäische Zäune›. Es be-

of rubbish; planting trees, flowers and grass; hand-

deutet einen Bruch mit der Vergangenheit, wenn seit

ling residents’ complaints; and maintaining public

1996 die Grenzmauern der Fabriken, Wohnquartiere,

order.» (Lü Junhua, Shao Lei 2001, 270) Das Wort

Schulen, Kliniken und Verwaltungseinheiten ab-

‹public› wird hier freilich missverständlich verwen-

gebaut und durch transparente, i.d.R. gusseiserne

det: tatsächlich müsste es ‹community oriented› hei-

Zäune ersetzt werden.» (Halik, Küchler 2004, 50)

ßen, denn die genannten Dienstleistungen kommen ausschließlich den Bewohnern der geschlossenen Nachbarschaft zugute.

anmerkungen

3 8  –  4 5

189

46 Dem Wort ‹aufschließen› beziehungsweise

49 Gleiches gilt für die Substantive ‹Extravertiert-

‹aufgeschlossen› wird hier der Vorzug gegeben, da

heit› (auch ‹Extrovertiertheit›) gegenüber ‹Extraver-

die Märkte bis zum Beginn der Song-Dynastie im

sion› und dem Adjektiv ‹extravers›.

10. Jahrhundert abgeschlossene und streng über-

50 «[...] the Chunyuan neighbourhood [...] – a pilot

wachte Räume in unmittelbarer Nachbarschaft zu

project of the Ministry of Construction – put forth the

den Herrschaftsgebäuden des Kaisers oder seiner

idea of [...] strengthening the concept of the courtyard,

Hofbeamten waren. Gefolgt wurde diese Phase von

thus improving the area’s living environment and

einer partiellen Öffnung der Märkte. Diese bewirkte,

public facilities.» (Lü Junhua, Shao Lei 2001, 271)

dass etliche Stadtstraßen sich in Marktstraßen ver-

51 Der Mietwohnungsbau, auch der soziale

wandelten, wie man sie vielfach heute noch antrifft.

Wohnungsbau, spielt in China bisher eine völlig

Gleichwohl blieben die Märkte faktisch bis zum

untergeordnete, ja marginale Rolle. Erstrebt wird

Ende der Kaiserzeit (und dann wieder während der

allein Wohneigentum, wenn irgend möglich ohne

Herrschaft Maos) unter der Aufsicht der kaiserlichen

Hypotheken-Belastungen – wofür man geduldiges

(später kommunistischen) Zentralregierung – ganz

Ansparen (häufig für die Nachkommenschaft) auf-

im Sinne des von Karl Polanyi beschriebenen und

zubringen bereit ist. Der Anteil an privatem Wohn-

untersuchten proto-marktwirtschaftlichen ‹Palast-

eigentum liegt in chinesischen Großstädten inzwi-

handels› (Polanyi 1979, 387ff). Die kaiserliche Form

schen deutlich über 80 Prozent; zum Vergleich: in

der Supervision erklärt, weshalb sich in China kein

Deutschland bei knapp über 50 Prozent.

freier Kapitalverkehr und keine selbständige bür-

52 Die hohe Fluktuation in chinesischen Nachbar-

gerliche (städtische) Klasse herausbilden konnten

schaften ist unter anderem auf die Praxis zurückzu-

– mit allen kulturellen Folgen (wie dem Ausbleiben

führen, Spekulationsgewinne in einem boomenden

des Individualisierungsschubs von Renaissance und

Wohnungsmarkt mitzunehmen. Um die Wohnungs-

Aufklärung ...).

spekulation einzugrenzen, wurde in Shanghai eine

47 Dieser Dualismus scheint einer Analyse ihrer

5-Jahres-Sperrfrist für Wohneigentum erlassen. Die-

Grundstruktur besser gerecht zu werden als die Un-

se bewirkt nun, dass zahlreiche chinesische Familien

terscheidung von privatem und öffentlichen Raum.

nach genau ‹5 Jahren und einem Tag› umziehen.

Während sich diese Differenzierung aufgrund der

53 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Differenz

Hegemonie des Privaten räumlich eher unbestimmt

zwischen Stadt und Land in China eine Sache von

artikuliert, ist die Differenzierung von offen und

Nähe und Ferne, Zentralität und Marginalität ist. Das

geschlossen vergleichsweise anschaulich. Es ist in

Landleben bildet keinen Gegensatz zum Stadtleben.

diesem Zusammenhang von Interesse, dass das chine-

Vielmehr kreist es im fernen Orbit um das kaiserliche

sische Wort für ‹Stadt› die Bedeutungen von ‹Mauer›

Zentralgestirn (vgl. auch Wu, Weijia 1993, 202f).

und ‹Markt› (seit der Song-Dynastie, 960-1279 u. Z.)

54 Max Webers Ausdruck für Vergesellschaftung

miteinander verbindet (vgl. Wu, Weijia 1993, 90ff).

als Summe von Vertraglichung, Individualisierung,

48 Indem Friedmann eine Parallele zwischen Dan-

Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung.

wei und abgeschlossenen Quartieren der Kaiserstadt

55 Manche Plätze, Pavillons, Brunnen und Garten-

Chang’an (heute Xi’an) zur Zeit der Tang-Dynastie

anlagen entstanden während der ersten Hälfte des

zieht, gibt er sich bei der Dechiffrierung gegenwär-

18.  Jahrhunderts nach Plänen der am kaiserlichen

tiger urbaner Phänomene als Anhänger eines struk-

Hofe tätigen Missionare und Künstler M. Benoist

turalistischen Ansatzes zu erkennen. (Friedmann

aus Frankreich und G. Castiglione aus Italien.

2005, xviii)

56 Drei Generationen beziehungsweise Grundformen lassen sich unterschieden (vgl. www.lilong.de): frühe Lilong (ab 1860), spätere Lilong (ab 1900) und neuartige Lilong (ab 1920). Neben diesen Grundformen haben sich noch zwei Spezialtypen im 20. Jahrhundert gebildet: Gartenhaus-Lilong (ab 1900) und Apartment-Lilong (ab 1920).

190

anmerkungen

46 – 5 6

57 Die Lilong werden häufig auch als Shikumen be-

62 Im Kontext der Lektüre der chinesischen Stadt

zeichnet. Darin spiegelt sich eine alte südchinesische

bevorzuge ich den in sich widersprüchlich er-

Wurzel dieses Siedlungstyps.

schein­enden Begriff ‹Blockrand-Zeile›, da er die

58 Der sich im Brunnenwasser spiegelnde Himmel

sich tatsächlich vollziehende Zusammenfügung des

brachte den Innenhöfen die Bezeichnung «Himmels-

Zeilenbaus und des Blockrandbaus reflektiert. Der

brunnen» ein.

parzellierte Charakter dieser Blockrand-Zeilen hat

59 Auch die der chinesischen näher stehende japa-

natürlich nichts mit den Eigentumsverhältnissen

nische Wohnsiedlungskultur hat in einigen Fällen

zu tun, sondern artikuliert den nachbarschaftlich-

die Shanghaier Lilong beeinflusst (zum Beispiel im

dezentralen beziehungsweise kleinteiligen Charak-

Lilong an der Sichuan Lu, in der Nähe des Luxun-

ter von Einzelhandel und Dienstleistungen auf dieser

Parks).

Ebene.

60 Der konfuzianische Kapitalismus teilt mit dem

63 Die spangenartige Rahmung von Wohnzeilen

patronistischen Kapitalismus (zum Beispiel italie-

durch Einzelhandelsgeschäfte und Dienstleistungs-

nischer Prägung) den Stellenwert der Familie oder

gebäude ist auch vom fordistischen Städtebau in

des Clans, mit dem kalvinistischen Kapitalismus

Europa her bekannt. Beispiele finden wir vor allem

beziehungsweise mit der ‹protestantischen Ethik›

in den neuen Bundesländern, etwa in der Dresdener

südwestdeutscher oder niederländischer Prägung

Seestraße.

die Arbeitsauffassung. Während diese sich institu-

64 Eine Abkopplung von Geschäftszeile und Stra-

tionsethisch weiterentwickelten, ist der konfuzia-

ße wie beim bekannten Karl-Marx-Haus in Chem-

nische Kapitalismus nach wie vor fest in die Familie

nitz, wo offenbar auf die europäische Tradition der

eingebunden (vgl. Souchou Yao 2002).

Piazza beziehungsweise des Marktplatzes Bezug

61 Shenyangs Goldener Korridor zählt zu den

genommen wird, ist mir bisher nur in einem Fall

bekanntesten seiner Art im gegenwärtigen China.

in China bekannt geworden. Dieser wird im Fort-

It «enjoys the reputation of ‹a place of fortune›».

gang dieses Kapitels unter der Typenbezeichnung

Die Stadt nutzt ihn, um ihr Image aufzupolieren

‹Nachbarschafts-Fußgängerstraße› beschrieben.

und für sich zu werben: «Where to go at this year’s

65 Die Geschossflächenzahl (gfz) bezeichnet die

Lantern Festival? [...] Golden Corridor may become

Quadratmeter Geschossfläche je Quadratmeter

a charming place to visit since Shenyang city govern-

Grund­­stücksfläche: Gebäudefläche = Grundstücks-

ment has launched a lighting project for the golden

größe x Geschossflächenzahl. In neueren chinesi-

corridor on December 15. The project taken part in

schen Quartieren dürfte die gfz im Schnitt weit

by many Chinese and overseas lighting designers will

höher als 5,0 liegen.

be completed around February 2. Citizens could go

66 Dazu ausführlich Kapitel 6: ‹Stadtfiktionen›.

along the corridor at lantern festival which falls on

67 In dieser Bezeichnung, die in europäischen

February 12, being inspired by the wonders created

Ohren – angesichts der Tatsache, dass die neuen

by the experts. Golden Corridor starts at Beiling

‹Dörfer› durchweg mehr als 50.000 Einwohner ha-

park in the north and terminates at Taoxian airport

ben sollen – befremdlich klingt, reflektiert sich die

in the south with a total length of 17 kilometers and

historisch begründete Abwesenheit einer begrifflich

an average width of 1 – 2 kilometers.» (www.sybuy.

distinkten Unterscheidung von Stadt und Land (dazu

net/bbs/dispbbs.asp?­boardid=29&id=­7669­&­­page=4)

mehr in Kapitel 8). Man kann diese Unschärfe mit

Auf die Bedeutung der Lichtskulptur für das Image

der Abwesenheit der Pronomina ‹er› und ‹sie› in der

der chinesischen Stadt bei Nacht kommen wir im

chinesischen Sprache vergleichen.

Abschnitt über die Mediastadt zurück.

68 In einem Bericht über Anting Neustadt übersetzt Lilian Pfaff mit ‹Eine Hauptstadt, Neun Städte Plan.› (Pfaff 2006)

anmerkungen

5 7 – 6 8

191

69 Satellitenstädte liegen der Typologie von

76 Unter ‹Mimesis› verstehen wir hier die Nachah-

Olaf Boustedt zufolge innerhalb, Trabantenstädte

mung einer ideellen räumlichen Wirklichkeit, zum

außerhalb der sogenannten städtischen Randzo-

Beispiel die strukturhomologe Reproduktion einer

ne (Bou­stedt 1970, 3207ff). Der ‹Eine Stadt, Neun

urbanen Grundform.

Dörfer-Plan› weist beide Typen auf, Satelliten- und

77 Seit Humpert und Schenk wissen wir, dass die-

Trabantenstädte.

ses Strukturmerkmal nicht nur der Anpassung an

70 «All of these towns have a common point: em-

topografische Bedingungen geschuldet ist, sondern

phasizing sustainable development, ecological pro-

zugleich (beziehungsweise vor allem) ästhetischen

tection and industrial support.» (Dai 2007)

Idealvorstellungen (Humpert/Schenk 2001).

71 Im Ruhrgebiet ist der frühindustrielle Werk-

78 Als diese Zeilen in 2007 geschrieben wurden,

siedlungsbau bis auf den heutigen Tag landschafts-

gab es zwar Gerüchte um die Zukunft von Holland

prägend. Neben den Werkswohnungen Krupps in

Village, doch schien ein Abriss angesichts der Größen-

Deutschland sind international die Siedlungen von

ordnung des Projekts kaum vorstellbar. Inzwischen

Pullmann (Pullman Town bei Chicago, 1880), Cad-

(2010) wissen wir es besser. Der South China Morning

bury (Bourneville bei Birmingham, 1880) und Lever

Post vom 19. September 2009 entnehmen wir, dass

(Port Sunlight bei Liverpool, 1887) bedeutsam (Kiess

Holland Village 5 Monate zuvor, also im Mai 2009,

1991).

geschleift wurde. «Yang’s development, which in-

72 Siedlungen im Londoner Orbit wie Welwyn oder

cludes a full-size replica of the Peace Palace in The

Letchworth, die Siedlung Hellerau in Dresden oder

Hague, windmills, castles, a Venice water park, a zoo

die Essener Margarethenhöhe sind bekanntlich aus

and vacation villas, was bulldozed.» An dieser Stelle

dieser Bewegung hervorgegangen.

geht ein herzlicher Dank an Maja Linnemann von der

73 Zum ‹New Urbanism› allgemein siehe Boden-

Redaktion des Deutsch-Chinesischen Kulturnetzes

schatz 2000.

für die Zusendung einer Kopie der Morning Post, vor

74 Unter www.designbuild-network.com heißt es

allem für die damit verbundene Aufmerksamkeit.

zum Beispiel noch: «Organised by the Urban Plan-

79 Bei Cinderella Castle handelt es sich um ein frei-

ning Institute, One City, Nine Towns involves the

es Replikat des von dem bayerischen König Ludwig

creation of a series of satellite communities around

II. beauftragten Schlosses Neuschwanstein. Neu-

Shanghai, each inspired by a country that played a

schwanstein wiederum ist nach Anregungen aus

pivotal role in the colonial and commercial history of

dem Stundenbuch des französischen Herzogs von

the city. The nine countries are the uk, the usa, Russia,

Berry entstanden, ein Büchlein, das zum Ergötzen

Spain, Sweden, France, the Netherlands, Germany

des hohen Adeligen mit zwölf Burgminiaturen der

and Italy.»

Brüder Limburg illustriert ist, für jeden Monat eine

75 1990 wies die Statistik Shanghais 13 ‹towns› aus,

Berry-Burg – eine schöner und gewaltiger in Szene

1998 waren es bereits 117. Zwischen dem enormen

gesetzt als die andere.

Anstieg der Zahl der ‹Ortschaften› und der Umwid-

80 Räumlich repräsentiert wird die Abwesenheit

mung der Landbezirke in Stadtbezirke besteht ein

eines Stadt/Land-Gegensatzes durch die Abwesenheit

unmittelbarer Zusammenhang: Nicht nur die Zu-

von Landschaft (als Gegensatz zu ‹Stadtschaft›). Ideell

nahme der Stadtbezirke, sondern insbesondere die

repräsentiert wird dieser Sachverhalt beispielsweise

starke Expansion der Zahl der Ortschaften indiziert

durch die Vision der Broadacre City von Frank Lloyd

den enormen Urbanisierungsprozess (Wu/Li 2002).

Wright. In den Vereinigten Staaten stehen Wildnis und Stadt/Land einander gegenüber; in Europa ist der Dreiklang aus Landschaft, ‹Stadtschaft› und Wildnis ausdifferenziert, wobei Wildnis eher eine mythische Realität besitzt. Meines Erachtens wird in der Landschaftstheorie, die von Nordamerika ausging, dieser grundlegende Unterschied zu wenig gewürdigt.

192

anmerkungen

69 – 80

81 Mirjam Bürgi zufolge hat Georg Simmel in sei-

88 Ma Hang gibt 241 ‹Dörfer› für Shenzhen an, 139

nem Begriff des ‹Erlebens› die Erlebnisorientierung

für Guangzhou und 417 für das zentralchinesische

des modernen Großstadtmenschen bereits vorweg-

Xi’an (Ma 2006, 25). Der durchschnittliche Flächen-

genommen. (Bürgi 2003)

anteil der Dörfer in den Innenstadtdistrikten von

82 Geprägt wurde dieser wichtige soziologische

Shenzhen liegt bei deutlich über 20  Prozent (Ma

Begriff von Pierre Bourdieu in seinem Buch Die fei-

2006, 166).

nen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.

89 Zu einer meines Erachtens etwas einseitigen

(Bourdieu 1982)

Bewertung des Jerusalem-Leitbildes in der europä-

83 Das Phänomen, auf das diese Wortschöpfung

ischen Stadtgeschichte vgl. Badde 1999. Die stadt-

abstellt, ist folgendes: Die Größe einer in der Zeit

kritische Dimension beruht im Falle des ‹Leitbilds

gebauten Stadt mag ein Vielfaches der im Raum

Jerusalem› in der Identifikation der ‹Civitas› (der

gebauten Stadt betragen, doch wird jene in nur ei-

Bischofsstadt beziehungsweise Tempel- oder Burg-

nem Bruchteil dieser durchquert – mit dem Auto

stadt) mit der bürgerlichen Stadt.

natürlich! (Fishman 1996/1997)

90 Zur allgemeinen Stadtentwicklung in China

84 In den usa kommen etwa 950 Autos auf 1000 ­

vgl. auch Yusuf, Shahid und Wu, Weiping 1997.

Einwohner, in Deutschland 550, in China z. Z. etwa

91 Zum Verständnis der Berechnung der Sied-

50. Allerdings wächst der Kraftfahrzeugbestand

lungsdichte ist die Differenzierung in Innenstadt-,

dramatisch. Heute ist China bereits der grösste

Stadtrand- und Landbezirke sehr wichtig. Das chi-

Auto­mobilmarkt der Welt. In Shanghai mussten

nesische Distriktmodell unterscheidet sich darin von

2010 bereits ca. 7000 Euro für die Ersteigerung eines

der deutschen Raumordnung, in welcher Landkreise

Autokennzeichens ausgegeben werden.

von den Städten unabhängige Gebietskörperschaften

85 Es lässt sich beobachten, dass die große Auf-

sind.

merksamkeit, die den konzentrischen Entlastungs-

92 Dem Vorbild Shanghais folgend, plant auch

straßen der Megastädte geschenkt wird, zu einer

Shenyang den Bau von Entlastungsstädten. Da sie

gewissen Vernachlässigung der Radialstraßen führt.

innerhalb der suburbanen Peripherie (verstädterte

86 Jede ‹Firma› hat in ihrem Leitungsgremium

Zone und Randzone) gebaut werden sollen, handelt

einen für die Dorf-Feuerwehr zuständigen Manager,

es sich um Satellitenstädte. Analog zum Plan Shang-

der einem ‹fireproofing office› vorsteht. Diese Einheit

hais erhielt der Plan von Shen­yang die Bezeichnung

reflektiert die besondere Herausforderung, die es

‹One City, Four Towns-Plan› (Shenyang Urban and

bedeutet, einen Stadtkörper vor Bränden zu schüt-

Rural Construction Committee 2006).

zen, dessen Straßen für die üblichen Löschfahrzeuge

93 Beeinflusst wurde diese Periodisierung von

unpassierbar sind.

Schriften des französischen Wirtschaftswissenschaft-

87 In Xi’an ließen sich 2003 urbane Dörfer besich-

lers und Politikers Alain Lipietz, insbesondere von

tigen, die sich auf Internet-Teehäuser spezialisiert

seinen Ausführungen zur sogenannten ‹Regulati-

haben. Die Kundschaft besteht zur Hauptsache aus

onstheorie› (Lipietz 1998 und 1991).

Studierenden nahegelegener Universitäten, die ange-

94 Diese Formulierung zitiert ein bekannt gewor-

sichts chronisch überlasteter Zugänge zum Internet

denes Buch von Göderitz, Rainer und Hoffmann

nach effizienten und offenen Alternativen Ausschau

über das vorherrschende städtebauliche Leitbild in

halten.

Deutschland unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (Göderitz et al. 1957). 95 Es ist kein Zufall, dass die strukturale Sichtweise von Anfang an mit der semiologischen Methodik untrennbar verbunden, ja sogar aus ihr hervorgegangen ist (de Saussure 1967).

anmerkungen

8 1 –  95

193

96 In der deutschen Sprache wird der Terminus

100 In der mittelalterlichen Stadt verfügte in der Re-

‹Gesellschaft› umgangssprachlich so allgemein ver-

gel zunächst nur ein zahlungskräftiger patrizischer

wendet, dass er auch ‹Gemeinschaft› mit umfasst.

Teil des Stadtbürgertums über das Wahlprivileg.

Stammesgemeinschaften werden dadurch ebenso als

101 Den von Weber im Kontext seiner sinologi-

Gesellschaft bezeichnet wie feudale oder moderne

schen Studien verwendeten Begriff des ‹zwangs-

Staatswesen. Dies erleichtert nicht gerade die sozio-

weisen Synoikismos› (Weber 1922) betrachten wir

logische Verwendung des Begriffs ‹Gesellschaft›.

allerdings als ‹contradictio in adiecto›; denn das

97 Unter einer ‹totalen Institution› verstehen wir

Subjekt des Synoikismos kann nicht außerhalb des

ein soziales beziehungsweise sozialräumliches Sys-

synoikistischen Resultats (der Bürgerstadt) stehen.

tem, das aus zahlreichen Subsystemen zusammenge-

Ein verordnetes Zusammensiedeln, etwa in Gestalt

setzt ist, die sich jedoch noch nicht beziehungsweise

einer sogenannten Gemeindereform, sollte unse-

erst geringfügig arbeitsteilig und somit auch räum-

res Erachtens nicht mit Synoikismos identifiziert

lich ausdifferenziert haben. Wenn der historische

werden. In der Genealogie der mittelalterlichen

Marktplatz zugleich Ort des Handels, des Gerichts,

europäischen Stadt markiert der händlerische und

der Versammlung, der Information, der Unterrich-

handwerkliche Synoikismos den Übergang von einer

tung oder des Kultes ist, dann handelt es sich um

Markgenossenschaft zu einer Marktgenossenschaft

eine ‹totale Institution›.

(dazu auch Maurer 1869/1962).

98 Die ganze Riege der großen deutschen Soziolo-

102 Unter einer ‹Heterotopie› verstehen wir in lo-

gen des 19. und 20. Jahrhunderts, von Marx über Tön-

ckerer Anlehnung an Foucault und Lefèbvre Orte, die

nies, Weber bis Simmel, hat diesen Zusammenhang

ihren genuinen Kontext verloren beziehungsweise

erkannt – allerdings auf verschiedene Weise gedeutet.

noch nicht gefunden haben; Orte, die in eine Wirk-

Marx wollte die bürgerliche Gesellschaft revolutionär

lichkeit gestellt sind, die nicht mehr oder noch nicht

aufheben, der konservative Tönnies wollte die Ge-

die ihre ist. Sie verweisen auf Vergangenes – oder auch

meinschaft, auch in ihrer altbürgerlich-städtischen

Zukünftiges – im Gegenwärtigen. Der Gegenbegriff

Form, bewahren und stärken, Weber, der als Liberaler

zu Heterotopie ist Isotopie. Als isotopisch bezeichnen

die bürgerliche Gesellschaft bejahte, wollte diese in-

wir einen Ort, der in einem ihm zugehörigen Kontext

stitutions- beziehungsweise verantwortungsethisch

aufgehoben ist. Ein isotopischer Ort ist mit seinem

rahmen, und Simmel entdeckte, dass das vergesell-

Kontext identisch.

schaftete, urbanisierte Individuum eigene Wege der

103 Dies kann auch für Europa Geltung beanspru-

‹Vergemeinschaftung› zu gehen vermag.

chen: Eine Civitas (Bischofsresidenz) oder Burg

99 In Europa ist es zu zwei folgenreichen synoi­

(Domäne eines Lehnsherren) wird erst durch die

kistischen Revolutionen gekommen: Aus dem acker-

Anwesenheit von ‹Bürgern› zur Stadt. Man kann dies

bürgerlichen Synoikismos ist die Polis attischen

dahingehend historisch verallgemeinern, dass erst

Typs hervorgegangen, die bestimmenden Einfluss

die Präsenz von marktwirtschaftlichen Institutionen

auf die gesamte Entwicklung der griechischen und

aus einem Ort (Dorf) eine reale Stadt macht. Stadt

römischen Antike gewann. Aus dem stadtbürger-

denotiert Marktwirtschaft. Eine autarke Wirtschafts-

lichen Synoikismos ist die hochmittelalterliche

weise steht ihr prinzipiell nicht zu Gebote. Es macht

Stadtkultur hervorgegangen, deren erste urbane

daher Sinn, wenn die Widmung von Stadtrecht durch

Kulturrevolution wir gemeinhin als ‹Renaissance›

hohe Lehnsherren mit der Einräumung von Stadt-

bezeichnen, der erste große Befreiungsversuch des

rechten, darunter mit hohem Rang das Marktrecht,

individualistischen, laizistischen, wissenschaftli-

verbunden wurde. Durch den Marktverkehr wurde

chen, aufgeklärten Denkens. Im Zusammenspiel

dieser formale Akt real.

von zentralistisch organisierter Politik und liberal strukturiertem Markt versucht China derzeit einen Entwicklungspfad ohne Rückgriff auf das stadtbürgerliche Erbe Europas einzuschlagen.

194

anmerkungen

96 – 103

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bildnachweise

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impressum Dieses Buch wurde in der ersten Auflage als Band 142 der Reihe Bauwelt Fundamente im Jahr 2008 veröffentlicht. Projektkoordination: Odine Oßwald (Birkhäuser Verlag) Herstellung: Werner Handschin (Birkhäuser Verlag) Layout, Covergestaltung und Satz: Andreas Hidber, accent graphe, Basel Papier: PlanoPlus 120 g/m2, Mirricad Gold 270 g/m2 Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. tcf ∞ Druck : fgb. freiburger graphische betriebe Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen (ISBN 978-3-0346-0572-4). © 2013 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von De Gruyter ISBN 978-3-0346-1303-3 9 8 7 6 5 4 3 2 1 www.birkhauser.com