»Der Todestango«: Ursprung und Entstehung einer Legende
 9783839462041

Table of contents :
Cover
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Quellenlage
Erster Teil
Die Vorgeschichte
Herbst 1939: die Sowjetisierung Galiziens
Sommer 1941: das »Unternehmen Barbarossa«
Das eigentliche Janowska‐Lager
Entstehung
Der Todestango nimmt Gestalt an
Die ASK: Propaganda als Aufklärung
Prawda und der Schwurgerichtssaal 600
Der Todestango in der Nachkriegspresse
Verfestigung
Die Zentrale Jüdische Historische Kommission
Filip Friedman
Leon Wells
Michał M. Borwicz
Die Ikonografie des Todestangos
Variation
Der Todestango im Janowska‐Lager
Richard Rokita – ein Geiger als Massenmörder
Tango, Märsche, Volkslieder und La Paloma
Zweiter Teil
Verbreitung
Wie Plegaria zum Todestango wurde
Anna Muzyczka: die Advokatin des Todestangos
Warum Kulisiewicz einem vertrauten Erzählmuster folgt
Die Stimme des Todestangos oder: Wer spricht?
Todestango und Todesfuge
Eduardo Bianco: Der König des Tangos
Wie ein Tangolyriker Rufschädigung betrieb
Das große Debüt: Eduardo Bianco in der Berliner Scala
Barbecue mit einem Vegetarier
Nachspiel: eine Dokumentation des RBB
Fazit und Schluss
Anhang
Zeitstrahl: Von der »Exekutionsmelodie« zur »Unsterblichkeit der Seelen«
Abkürzungen
Ungedruckte Quellen
Online‐Quellen
Literatur

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Dirk E. Dietz »Der Todestango«

Histoire  | Band 203

Dirk E. Dietz ist Journalist, Tangotänzer und Historiker. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Tango-Musik und -Literatur.

Dirk E. Dietz

»Der Todestango« Ursprung und Entstehung einer Legende

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Courtesy of the Ghetto Fighters’ House«, Israel/The Photo Archive Korrektorat: Korrekturbüro Maria Ullmann, Frankfurt a.M. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6204-7 PDF-ISBN 978-3-8394-6204-1 https://doi.org/10.14361/9783839462041 Buchreihen-ISSN: 2702-9409 Buchreihen-eISSN: 2702-9417 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort ...................................................................................7 Einleitung ................................................................................ 9 Quellenlage.......................................................................... 15

Erster Teil Die Vorgeschichte ...................................................................... 25 Herbst 1939: die Sowjetisierung Galiziens ........................................... 25 Sommer 1941: das »Unternehmen Barbarossa« ...................................... 28 Das eigentliche Janowska-Lager .................................................... 35 Entstehung.............................................................................. 45 Der Todestango nimmt Gestalt an ................................................... 45 Die ASK: Propaganda als Aufklärung ................................................ 58 Prawda und der Schwurgerichtssaal 600 ............................................ 63 Der Todestango in der Nachkriegspresse ........................................... 74 Verfestigung ............................................................................ 79 Die Zentrale Jüdische Historische Kommission ...................................... 79 Filip Friedman ....................................................................... 81 Leon Wells ......................................................................... 83 Michał M. Borwicz .................................................................. 92 Die Ikonografie des Todestangos ................................................... 95 Variation ............................................................................... 115 Der Todestango im Janowska-Lager ................................................ 115 Richard Rokita – ein Geiger als Massenmörder ...................................... 128 Tango, Märsche, Volkslieder und La Paloma..........................................144

Zweiter Teil Verbreitung .............................................................................159 Wie Plegaria zum Todestango wurde ................................................159 Eduardo Bianco: Der König des Tangos ............................................ 182 Nachspiel: eine Dokumentation des RBB ...............................................215 Fazit und Schluss ....................................................................... 217

Anhang Zeitstrahl: Von der »Exekutionsmelodie« zur »Unsterblichkeit der Seelen« .......... 223 Abkürzungen ........................................................................... 229 Ungedruckte Quellen ....................................................................231 Online-Quellen ......................................................................... 233 Literatur ............................................................................... 235

Vorwort

Im Januar dieses Jahres erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Artikel über die norwegische Geigerin Vilde Frang. Anlass war ihr Konzert in der Tonhalle Zürich, bei dem das 1935 komponierte Violinkonzert von Alban Berg auf dem Programm stand. Über den zweiten Satz sagt die Geigerin, er sei »zuerst eine Art Tango mit dem Tod«. Eine erstaunliche Interpretation. Wie kommt die 1986 geborene Geigerin gerade auf diese Metapher? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet, obwohl der Autor seinem Beitrag die Überschrift gab: »Vilde Frang: Auf einen Tango mit dem Tod.« Das Porträt in der NZZ unterstreicht in meinen Augen die Aktualität der Todestango-Legende – hundert Jahre nach der Entstehung eines Musikstücks mit dem Titel Todestango. Vielleicht ist es nur ein Zufall, doch vor genau 100 Jahren, im Jahr 1922, schuf der russische Komponist populärer Musik, Samuel Pokrass (auch Pokrassa), einen Tango, den er Todes-Tango (Tango Smierci) nannte. Es ist die früheste mir bekannte Quelle für einen Todestango im polnischen und russischen Sprachraum und zugleich ein erstes Indiz, warum die Legende in Osteuropa ihren Ausgangspunkt nahm. Der Gegenstand dieser Studie drängt sich nicht auf. Genaugenommen bin nicht ich auf das Thema, sondern das Thema auf mich gekommen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Tango (als Tanz), der Musik, den verschiedenen Orchestern, ihrer Entwicklung sowie ihren unterschiedlichen Stilen. Im Laufe der Zeit stellt man fest, dass in einschlägigen Tangokreisen bestimmte Tabus gelten, zu denen etwa das unausgesprochene Verbot bestimmter Titel gehört, die auf Tanzveranstaltungen nicht gespielt werden, zum Beispiel Plegaria von Eduardo Bianco (1892–1959). Wer dagegen verstößt, sei es wissentlich oder aus Unkenntnis, den belehren unweigerlich Eingeweihte, was es mit diesem Tango angeblich auf sich hat: Todestango, KZ, Lemberg, Janowska-Lager usw. Zwischen den ersten Recherchen und dem Abschluss dieses Buches liegen fast drei Jahre, die von der Corona-Pandemie geprägt waren. Archive und Bibliotheken waren zeitweilig geschlossen oder nur eingeschränkt zugänglich. Schwerer wog, dass ich Forschungsreisen absagen musste, auch nach Lemberg/Lwiw, einem der Hauptschauplätze der Katastrophe der Juden Galiziens. Sie ist durch den Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine in noch weitere Ferne gerückt.

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»Der Todestango«

Umso dankbarer bin ich allen, die mich in dieser Zeit unterstützt und ermutigt haben, mir wertvolle Hinweise und Ratschläge gaben oder mich vor Irrwegen bewahrten. Zu danken habe ich der Historikerin und Archivarin Andrea Hohmeyer, die das Manuskript in einer sehr frühen Phase las. Ferner Klaus West, der mich vor übereilten Schlussfolgerungen warnte und zu weiteren Studien ermutigte. Besonderen Dank schulde ich Bret Werb, Music Curator des US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., für seine unermüdliche Hilfsbereitschaft. Er hat mir viele Dokumente unkompliziert auf elektronischem Wege zugänglich gemacht, die ich mir eigentlich vor Ort ansehen wollte. Das gilt auch für Peter Gohle vom Bundesarchiv Außenstelle Ludwigsburg, der mir Kopien der mehrere hundert Seiten umfassenden Vernehmungsprotokolle der Lemberger ASK zusandte. Die Literaturwissenschaftlerin und Celan-Expertin Barbara Wiedemann gab mir entscheidende Hinweise über Todestango und Todesfuge. Danken möchte ich auch Juliane Brauer, die eine exzellente Kennerin musikalischer Praktiken in Konzentrationslagern ist und eine umfangreiche Studie über Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen verfasst hat. Ihr verdanke ich zwei wichtige Aufsätze von Aleksander Kulisiewicz. Viele Freunde haben das Manuskript gegengelesen und eine Fülle an Anregungen gegeben. Erwähnen möchte ich hier vor allem Frauke Warrikoff und Christiane Toboll, die die Mühe der Korrektur auf sich nahmen. Auf privater Ebene stehe ich in der Schuld meiner Frau Angela, die meine Arbeit mit großer Anteilnahme verfolgte, mir bei Recherchen zur Seite ging, Fortschritte einer ersten Kritik unterzog und mir immer wieder Mut machte, wo ich glaubte nicht weiterzukommen. Nicht alle, die die Arbeit an diesem Buch auf die eine oder andere Weise förderten, werden mit den Schlussfolgerungen einverstanden sein, zu denen ich komme. Das ist kaum zu vermeiden, erst recht nicht angesichts einer Studie, die mit langgehegten und seit Jahrzehnten tradierten Vorstellungen bricht und sich damit dem konsensuell als gesichert geltenden Wissen in Sachen Todestango verweigert. Autoren mögen die Wirkung von Büchern begreiflicherweise überschätzen. Dennoch würde ich mich freuen, wenn diese Studie dazu beiträgt, dass der Tango Plegaria bei Tanzveranstaltungen wieder aufgelegt wird – als das was er ist: Ein schöner Tango.

Einleitung

Der Todestango, der im Zentrum dieser Studie steht, gehört zu den bekanntesten und zugleich rätselhaftesten Kompositionen, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS gespielt worden sein sollen. Obwohl bis heute umstritten ist, ob es sich um eine spezielle Melodie handelt, zu keiner Zeit Noten des Todestangos gefunden wurden und somit kein zweifelsfreier Nachweis geführt werden konnte, ob es ihn je gegeben und wie er geklungen hat, gilt der Todestango Vielen als gesicherte und erwiesene Tatsache. Der Legende nach entstand der Todestango im Zwangsarbeits- und Durchgangslager Janowska in Lemberg, der damaligen Hauptstadt Galiziens, das nach dem Überfall des Hitler-Regimes auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 unter deutsche Besatzung geriet. Der stellvertretende Lager-Kommandant, SS-Untersturmführer Richard Rokita, der Musiker war und eine Lagerkapelle gründete, soll den weithin bekannten Musikern und Häftlingen Striks und Mund den Befehl zur Komposition eines Todestangos gegeben haben, der fortan bei Selektionen und Exekutionen der Inhaftierten gespielt worden sei. Das Lager existierte nur von Juni/Juli 1942 bis November 1943. In dieser Zeit wurden Abertausende von Juden in dem Erschießungsgelände unweit des Lagers, dem Sand/Piaski, ermordet oder von dem nahe gelegenen Bahnhof Kleparów in die Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und Treblinka deportiert. Als die SS das Janowska-Lager am 19. November 1943 auflöste, wurden die Musiker zusammen mit den verbliebenen Häftlingen erschossen. Die wenigen Inhaftierten, die mit dem Leben davonkamen, hatten sich zuvor durch Flucht gerettet. Überlebt hat auch der Todestango, genauer seine Legende. Wie sie entstand und wie verbürgt sie ist, blieb bis heute ungeklärt. Wer sich ein Bild vom Todestango und dem Orchester im Janowska-Lager zu machen versucht, sei es in der Erinnerungsliteratur oder in Studien über das Lager, stößt auf eine Vielzahl einander widersprechender Darstellungen. Zu nennen sind hier zuallererst die Erinnerungen von Leon W. Wells, die 1963 unter dem Titel The Janowska Road in New York und im selben Jahr unter Ein Sohn Hiobs auf Deutsch erschienen (Wells 1963), ferner Michał M. Borwicz Die Universität der Mörder (Borwicz 2014) und Tadeusz Zadereckis Buch Lwów under the swastika (Zaderecki 2018). Die häufige Erwähnung

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»Der Todestango«

des Todestangos in diesen und vielen anderen Büchern schien die Annahme seiner Existenz zu rechtfertigen. Doch schon auf einfachste Fragen, welches Orchester überhaupt gemeint ist, blieben sie eine eindeutige Antwort schuldig – das Orchester im Lemberger Ghetto oder das im Janowska-Lager. Offensichtlich gab es zwei. Nebulös bleibt auch, wer das eine oder andere Orchester gründete. Es werden viele Namen genannt. Das Gleiche trifft auf den Schöpfer zu, der mal der Geiger Zygmunt Schatz, der Dirigent Leonid (auch Leon) Striks, der Direktor Yakub Mund oder der Komponist Sigmund Schlechter gewesen sein soll. Ebenso verwirrend sind die Schilderungen über das Ende des Orchesters. Zur Aufklärung haben wissenschaftliche Veröffentlichungen wenig beigetragen. Im Gegenteil. Dass sich die Legende1 vom Todestango festigen und eine überragende Stellung in der »konzentrationären Musik« (Guido Fackler) einnehmen konnte, ist in erheblichem Maße ihr Werk. Bereits in einer der ersten Dokumentationen zur Musik im Dritten Reich von Joseph Wulf aus dem Jahr 1963 kommt der Todestango vor – bemerkenswerterweise als die einzige »Komposition« aus einem Konzentrationslager (Wulf 1963).2 In der Enzyklopädie des Holocaust, die 35 Jahre später erschien, heißt es, dass »einige der in den Lagern komponierten musikalischen Werke und Bearbeitungen […] erhalten geblieben« seien. Dazu zählt sie auch den im Janowska-Lager verfassten Todestango (Jäckel; Longerich; Schoeps 1998, S. 979).3 Der Einfluss der Enzyklopädie zeigt sich unter anderem daran, dass

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Ich spreche hier bewusst von einer Legende und nicht von einem Mythos, auch wenn beide Begriffe nicht weit auseinanderliegen. Der Begriff Legende nahm laut Duden seit dem 16. Jahrhundert die Bedeutung »unbeglaubigter Bericht« an, was eine gewisse Skepsis zum Ausdruck bringt. Auch die Legende vom Todestango ist nicht beglaubigt. Worin ihre Wahrheit liegt, hoffe ich zeigen zu können. Deshalb verbot es sich auch, von einem Mythos zu sprechen. Mythos im heutigen Sprachgebrauch ist »gleichbedeutend mit Unwahrheit. Mythen sind ›bloße Mythen‹« (Segal 2007, S. 13). Sie gelten als Irrlehre, für die es keine wissenschaftliche Begründung gibt. Als Beispiel sei hier Karl Poppers Buch Das Elend des Historizismus angeführt, in dem er die »Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit« als den »reinste[n] Aberglaube[n]« und den Glauben an die bevorstehende Weltrevolution als »kommunistische Mythologie« brandmarkte (Popper 1971, S. 7). Wer so weit nicht gehen will, kommt um das Eingeständnis nicht herum, dass es »eine umfassende und verbindliche Definition der Begriffe ›Mythos‹ und ›Mythologie‹ nicht gibt« (Dehli 2019, S. 223). In der Bildlegende heißt es: »Das Orchester, gebildet aus verhafteten Musikern, [spielt] den ›Todestango‹, zu dessen Rhythmus die Folterungen und Hinrichtungen vollzogen wurden« (Joseph Wulf, Abbildung 12 im Bildteil in der Mitte des Buches zwischen den Seiten 224 und 225). Die deutsche Ausgabe folgt hier der amerikanischen Encyclopedia of the Holocaust: »Some of the musical works and adaptations composed in the camps have survived. One of these is the Death Tango, written in the JANOWSKA camp and played there during the selections and mass murders« (Herv. i. O., Gutman 1990, S. 1024).

Einleitung

sich Guido Fackler in seiner grundlegenden Studie über Musik in Konzentrationslagern auf sie bezieht, wenn er schreibt: Für die Kapelle des Lagers Janowska entstand »der ›Todestango‹, der bei Selektionen und Massentötungen gespielt werden musste« (Fackler 2000, S. 343). Auch andere Historiker wie Thomas Sandkühler gaben der Legende vom Todestango Nahrung.4 Einer der frühesten Hinweise auf den Todestango findet sich in der Studie über die Vernichtung der Lemberger Juden, die der Historiker Filip Friedman kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert hatte. Er schreibt, auf Anordnung des »Musikliebhabers Rokita« hätten die Musiker den »Tango des Todes« komponieren müssen. Fortan sei »jede Gruppe von Gefangenen mit einer Aufführung dieser makabren Komposition in den Tod geschickt« worden (Friedman 2014, S. 61). Eine Quelle gibt er nicht an. Andere Historiker wie Jakob Honigsman und Eliyahu Yones übernahmen oder variierten seine Darstellung – und erhärteten so den Glauben an die Wirklichkeit eines Todestangos im Janowska-Lager. Jede weitere Veröffentlichung, die sich auf die vorgenannten Bücher bezog und den Todestango zitierte, jede weitere Erwähnung eines Todestangos im JanowskaLager steigerte die Wahrscheinlichkeit, dass Vermutungen sich in Wahrheiten und Tatsachen verwandelten.5 Wie wirksam dieser Doppelpass aus Mutmaßungen und Wiederholungen bis in die Gegenwart ist, lässt sich an dem Lemberg-Buch von Lutz C. Kleveman zeigen, für den die Faktizität des Todestangos unbestritten ist: »Für die musikalische Begleitung von Exekutionen komponierte der ehemalige Direktor der Lemberg Oper, Jakob Mund, eigens einen ›Todestango‹, der den Opfern Trost spenden und sie der Unsterblichkeit ihrer Seelen versichern sollte« (Kleveman 2017, S. 283).6 Es überrascht nicht, dass er diese Aussage nicht belegt. Zweifel wurden nur vereinzelt laut. Die polnische Literaturwissenschaftlerin Ola Hnatiuk wies in ihrem Lemberg-Buch Courage and Fear auf gewisse Unstimmigkeiten hin, ohne ihnen in aller Ausführlichkeit nachzugehen. Für sie steht fest, dass der

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In seiner grundlegenden, viel zitierten Studie »Endlösung« in Galizien heißt es: »Da er vor dem Krieg in verschiedenen Jazzkapellen gespielt hatte, stellte Rokita ein Lagerorchester zusammen. Einer der Musiker musste einen ›Todestango‹ komponieren, der beim Ein- und Ausmarsch der Brigaden und den zahlreichen Hinrichtungen auf dem Appellplatz gespielt wurde« (Sandkühler 1996, S. 188). Siehe auch seinen zwei Jahre später publizierten Aufsatz über das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska (Sandkühler 1998, S. 622). Schon das Bild, das wir uns von den Germanen machen, scheint maßgeblich von dieser Mechanik geprägt zu sein: »Spätestens seit dem 17. Jahrhundert werden wir mit einer Fülle von Mutmaßungen gefüttert, die, wiederholt und immer wieder abgeschrieben, sich unversehens zu angeblichen Tatsachen verfestigen«, klagte der Historiker Otto Holzapfel in seinem Buch über Die Germanen – Mythos und Wirklichkeit (Holzapfel 2001, S. 11). Kleveman vermischt hier offenbar Fakt und Fiktion: Seine Rede von der »Unsterblichkeit ihrer Seelen« scheint von Jurij Wynnytschuks Roman Im Schatten der Mohnblüte inspiriert, wo es um eine Melodie (den Todestango) geht, die ein »Weiterleben nach dem Tode« verspricht.

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»Der Todestango«

»Todestango selbst keine spezielle Komposition ist« (Übers. d. Vf., Hnatiuk 2019, S. 287).7 Ferner hat der holländische Kriminologe Willem de Haan jüngst in dem Aufsatzband Crime and Music dem Todestango gleichsam den Prozess gemacht und ihn zu einem Mythos erklärt (de Haan 2021, S. 201).8 Zusammenfassend kann man sagen, dass der Todestango und das Todeslager Janowska in Lemberg so sehr zu einem Emblem verschmolzen sind, dass der Kölner Journalist Kai Althoetmar seinem Buch über den Beginn des Holocaust in Galizien den Titel Lemberger Todestango gab (Althoetmar 2017).9 Gleichwohl bleibt es ein Rätsel, warum sich die Geschichtsschreibung zu keiner Zeit der Frage zugewandt hat, was es mit dieser Legende auf sich hat. Die spärlichen Verweise in der wissenschaftlichen Literatur konnten so wenig wie die Berichte Überlebender erhellen, wie dieser Todestango geklungen hatte. Basierte er auf einer bekannten Melodie und wenn ja, auf welcher? Und wer hatte sie geschaffen? Eine Antwort gab der polnische Sänger und Laienmusiker Aleksander Kulisiewicz (1926–1982). Drei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1979, spielte er während einer Konzertreise in die USA bei Folkways Records die Schallplatte Songs from the Depths of Hell ein, die auch das Lied »Das Todestango« (so im Original) enthielt. Die Melodie, gab Kulisiewicz in einem Beiheft zur CD an, basiere auf dem Tangoschlager Plegaria (dt. Gebet),10 den der nach Paris emigrierte argentinische Tangomusiker und Orchesterleiter Eduardo Bianco (1892–1959) im Jahr 1927 komponiert hatte. Nach Darstellung Kulisiewicz’ habe der »Fiddler Schatz« diesen »HitTango« auf Anordnung des SS-Offiziers Rokita im Zwangsarbeits- und Konzentrationslager Janowska in Lemberg gespielt. 36 Jahre nach den Ereignissen im Janow-

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Wörtlich: »›Death Tango‹ itself »does not refer to a single composition.« So sehr die kritische Auseinandersetzung zu begrüßen ist, so ist die prinzipielle Schwäche seines Ansatzes nicht zu übersehen: Als Kriminologe interessiert sich de Haan vor allem für Widersprüche. Er stellt Aussage gegen Aussage und schlussfolgert aus den Unstimmigkeiten und Diskrepanzen, dass man sie als »Kennzeichen einer falschen oder fiktionalen Erinnerung« betrachten müsse (de Haan 2021, S. 201). Leider interessiert er sich nur am Rande für die Entstehung der unterschiedlichen Fassungen über den Todestango. So lässt er fast die gesamte Erinnerungsliteratur Überlebender des Janowska-Lagers und die »wertvolle Quelle« (Sandkühler 1999, S. 45) der Verfahrensakten im Lemberg- und Tarnopol-Tatkomplex unberücksichtigt. Er verliert damit aus den Augen, dass Justiz und Geschichtswissenschaft nicht nur andere Erkenntnisinteressen haben, sondern diese auch auf unterschiedliche Weise verfolgen (siehe hierzu vor allem Platt 2011). Der im Selbstverlag Neobooks produzierte Band hat keine Seitenangaben und beruht zu großen Teilen auf Auszügen aus den Berichten von Leon Wells und Simon Wiesenthal. Vor zwei Jahren hat Althoetmar sein Buch in einer textidentischen Ausgabe unter dem Titel Zwei Söhne Hiobs neu aufgelegt (Althoetmar 2019). Hörproben unter: www.youtube.com. Stichwörter: Bianco und Plegaria. Die bekannteste eingespielte Fassung stammt von Osvaldo Fresedo mit dem Sänger Ricardo Ruiz aus dem Jahr 1940.

Einleitung

ska-Lager gab der polnische Sänger damit dem Todestango eine konkrete Gestalt, die einen Text mit einer bekannten Melodie und einer plausiblen Ursprungserzählung verband. Allerdings ist auch hier festzustellen: Für die historischen Belege und Quellen, auf denen Kulisiewicz’ Herkunftsgeschichte fußt, schien sich niemand ernsthaft zu interessieren. Vielleicht, weil der Sänger selbst von 1939 bis zum Kriegsende im Konzentrationslager Sachsenhausen (bei Berlin) inhaftiert war – und damit außerhalb jeder Kritik stand. Des ungeachtet schmiedete er damit eine Verbindung, die bis heute unauflöslich hält: Eduardo Biancos Tango Plegaria ist der Todestango. Einmal in die Welt gesetzt, hatte dieser Konnex weitreichende Folgen. Er diente nun anderen als »Quelle« und »Beleg« für neue Beweisketten und mitunter recht luftige Schlussfolgerungen. Der Literaturwissenschaftler John Felstiner berief sich für seine Biografie über Paul Celan, die 1995 in den USA und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien, ausdrücklich auf das Zeugnis Kulisiewicz’. Mit seiner Hilfe versuchte er, eine Erklärung zu finden, warum Celan sein Gedicht Todesfuge ursprünglich Todestango genannt hatte. Er beschritt damit die unbefestigten Wege, die Kulisiewicz gewiesen hatte, und befeuerte weitere Spekulationen über den Todestango11 – besonders in einschlägigen Internet-Foren von Anhängern des argentinischen Tangos. Kaum kommt die Rede auf den Tango Plegaria, taucht in den Kommentaren unweigerlich der Hinweis auf: »Tango of death. Was played in Nazi concentration camps during the executions.«12 Besser Informierte wollen wissen, dass sein Schöpfer, Eduardo Bianco, es sich nicht nehmen ließ, diesen Tango Adolf Hitler und dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels vorzutragen. Wieder andere wie Paul Bottomer verfügen über detailliertere Kenntnisse, wie das Lagerorchester sein Ende fand: »Die 40 Mitglieder des Orchesters wurden gezwungen, den Todestango zu spielen, während die Nazis ihnen befahlen, nacheinander in die Mitte des Kreises zu treten, sich auszuziehen, um sie dann vor den anderen Musikern zu erschießen. Der Dirigent Mund war zuerst dran« (Übers. d. Vf.).13

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Zum Beispiel in einer Besprechung der Tanzperformance »Lo Real/Die Wahrheit« des Flamenco-Tänzers und Choreografen Israel Galváns Nuevo, die in der österreichischen Zeitschrift Kultur vom 17. Mai 2015 erschien: »Aber auch der ›Tango Plegaria‹ von Eduardo Bianco wird ins Stück integriert – auch ›Todestango‹ genannt, weil die Häftlinge in vielen KZs gezwungen wurden, ihn als makabre Begleitmusik zu Folterungen und Hinrichtungen zu spielen. Darauf nimmt auch Paul Celans erschütternde ›Todesfuge‹ Bezug, die in ›Lo Real‹ eine zentrale Position einnimmt« http://bit.ly/kulturzeitschrift_israel-galvans (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). So ein Kommentar von »edzik«: https://www.youtube.com/watch?v=VUDtqMbo4ko (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Wörtlich: »The musicians of this orchestra [40 people] were forced to play The Death Tango, during which the Nazis called out orchestra players one by one to the middle of the circle, made them take off their clothes and shot them in front of the other musicians. The conduc-

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»Der Todestango«

Worauf solche Aussagen über den Todestango, das Lagerorchester und sein Ende fußen, bleibt nicht nur bei Bottomer im Nebel. Exemplarisch hat der Kölner Journalist Torsten Eßer die Summe aller aktuell kursierenden Mutmaßungen zum Todestango kondensiert. Allein der SS-Offizier Richard Rokita fehlt, der in nahezu allen Varianten als Gründer des Lagerorchesters auftaucht und der die Komposition des Todestangos befohlen haben soll. Eßers Text ist unter dem Titel Jesuiten, Todestango, Tote Hosen. Musikalische Begegnungen zwischen Argentinien und Deutschland in dem Sammelband über Die Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien erschienen: »Biancos größter Erfolg, der Tango ›Plegaria‹ (1929), den er 1939 vor Hitler und Goebbels spielte, erreichte traurige Bekanntheit durch den Umstand, dass er von Gefangenen in Konzentrationslagern auf dem Weg zur Hinrichtung bzw. in die Gaskammern gesungen werden musste, weswegen er auch ›Todestango‹ genannt wird. Berichtet wird auch, dass von den Nazis ein neuer Text zur Melodie erfunden wurde: ›Hörst Du, wie die Geige schluchzend spielt?/Blutig klingen ihre Töne/ Hörst Du, wie Dein Herz sein Ende fühlt?/Der Todestango spielt […].‹ Paul Celans berühmtes Gedicht ›Todesfuge‹, das in seiner ersten Fassung noch ›Todestango‹ hieß, beruht auf diesem Umstand; er hatte einen Artikel über Juden, die im Konzentrationslager Musik spielen mussten, gelesen« (Eßer 2010, S. 257). Die meisten bisherigen Veröffentlichungen zum Todestango bemühen sich um den Nachweis, dass es ihn als eigenständige Komposition gab oder sie unterstellen, dass die spezielle Melodie als bewiesene und somit unbestrittene Tatsache gelten kann. Das mag erklären, warum bislang nahezu alle Autoren es nicht für nötig hielten, für die Legende vom Todestango Quellennachweise anzuführen. Diese Spurensuche geht daher einen anderen Weg. Sie will die Legende vom Todestango auf ein solides Fundament stellen und auf der Grundlage von Quellen zeigen, dass der Todestango mit allergrößter Wahrscheinlichkeit keine spezielle Melodie oder Komposition und schon gar kein Tango war. Außerdem wird die Studie zeigen, dass es sich beim Todestango nicht um eine authentische oder originäre Erinnerung ehemaliger Häftlinge des Janowska-Lagers handelt. Eine Re-Lektüre der wichtigsten Erinnerungsberichte ehemaliger Häftlinge zeigt, dass schon in ihren Zeugnissen die Todestango-Legende zu einem wiederkehrenden Erzählmuster erstarrt und formelhafte Gestalt annimmt. Das führt zu der paradoxen Aussage, dass eine der angeblich bedeutendsten Kompositionen konzentrationärer Musik keine erkennbaren subjektiven Spuren in den Erfahrungsberichten Überlebender hinterlassen hat, sie zwischen der von ihnen beschriebenen musikalischen Praxis des Orchesters und dem Todestango keine Verbindung herstellen können. Diese tor Mund was killed first« https://www.youtube.com/watch?v=SGfcYb9R-mA (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

Einleitung

Aussage korrespondiert mit einem weiteren überraschenden Befund: Die Legende vom Todestango entstand nicht im eigentlichen Janowska-Lager. Erst nach seiner Auflösung im November 1943 und der Besetzung Lembergs Ende Juli 1944 durch die Rote Armee gewann die Todestango-Legende in den folgenden Jahren zunehmend Raum in den Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge. Auf welchen verschlungenen Wegen sie Gestalt gewann, wie sie sich verbreitete, schließlich Eingang in die Erinnerungsliteratur fand und am Ende zu einem unauslöschlichen Teil der kollektiven Erinnerung wurde, zeichnet dieses Buch nach.

Quellenlage Dass Historiker auf der Grundlage von Quellen Aussagen treffen, gehört zum Handwerk und Alltag wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Hier ließe sich einwenden, wie ein solches Unternehmen angesichts einer ausgesprochen unbefriedigenden Quellenlage gelingen soll. So wie für das Janowska-Lager insgesamt »deutsche Akten nahezu vollständig [fehlen]« und »durchgängige Belegungsstatistiken« (Sandkühler 1996, S. 190) nicht verfügbar sind, so gibt es auch keine gesicherten Belege und Dokumente über das Orchester, seine Musiker im Janowska-Lager oder welche Kompositionen sie beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitsbrigaden spielten. Bis heute haben sich keine Noten gefunden, obwohl es sie gegeben haben muss, wenn es ein eigenes Musikstück war. Umso unbegreiflicher ist, wie Lutz C. Kleveman von einer »elegische[n] Melodie« sprechen kann (Kleveman 2017, S. 283). Keiner der Musiker des Orchesters überlebte, keiner hat wie Fania Fénelon in ihren Erinnerungen Das Mädchenorchester in Auschwitz (Fénelon 1997) oder Szymon Laks (Laks 2000) Einblicke in die Arbeit und musikalische Praxis des Lagerorchesters gegeben. Auch Striks14 und Mund, die immer wieder als Komponisten des Todestangos oder Dirigenten des Todesorchesters genannt werden, scheinen außer in der Legende vom Todestango keine Spuren hinterlassen zu haben – auch nicht im Hamburger »Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit«.15 »Shtriks, Leon« ist das einzige OrchesterMitglied, an das die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem in ihrer zentralen Datenbank der Namen der Holocaust-Opfer erinnert. Shtriks sei »verheiratet« und »Dirigent« gewesen, habe vor dem Zweiten Weltkrieg in Lemberg/Polen gelebt und sei »in der Shoah ermordet« worden.16 Fotos, die angeblich das Lagerorchester 14

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Den Namen »Stricks« gibt es als Folge der Transliteration in vielen Varianten: Shtriks, Stricks, Strix, Stryks, Striks. In Zitaten folge ich der jeweiligen Schreibweise, ansonsten spreche ich einheitlich von Striks und Mund. https://www.lexm.uni-hamburg.de (zuletzt abgerufen 15. Februar 2022). https://bit.ly/3gz8mgW (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Sehr viel mehr erfährt man leider auch nicht aus dem Buch von Jakob Honigsman Juden in der Westukraine. Er führt Leopold

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»Der Todestango«

darstellen und gern als Beweis für die Existenz des Lagerorchesters und Todestangos herangezogen werden, sind im Hinblick auf ihre Herkunft ungesichert. Das gilt besonders für jene Fotografie, die ein im Kreis stehendes Orchester zeigt und die in dieser Studie als Ikone des Todestangos bezeichnet wird. Alles, was wir über ein Orchester und den angeblichen Todestango wissen, wissen wir aus den Erinnerungen Überlebender. Das heißt: Alle Angaben zum Todestango und seinem Orchester basieren nicht auf schriftlichen Zeugnissen wie Akten oder EgoDokumenten von Mitgliedern der Lagerkapelle. Zum größten Teil handelt es sich entweder um die oft lange nach den Ereignissen verfassten Berichte ehemaliger Häftlinge, die wie Leon Wells oder Michał M. Borwicz nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Erinnerungen publizierten, oder um die Protokolle von Vernehmungen Überlebender, die nach der Befreiung Lembergs im Juli 1944 durch die Rote Armee von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion (ASK) gehört wurden. Diese Vernehmungsprotokolle sind außer der Erinnerungsliteratur selbst ein zentrales Dokument für die Entstehung der Legende vom Todestango, obwohl sie bislang in keiner Publikation Berücksichtigung fanden.17 Dass wir im deutschsprachigen Raum über sie verfügen, ist vor allem dem Verfahren im sogenannten Lemberg-Tatkomplex zu verdanken. In den 1960er Jahren mussten sich 16 Mitglieder der ehemaligen Lager-SS des Janowska-Lagers vor dem Stuttgarter Landgericht wegen ihrer Teilnahme am Völkermord an den Juden verantworten. Nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965, dem »größte[n] Strafprozess in der deutschen Nachkriegsgeschichte« (Jasch; Kaiser 2018, S. 142), war das 18 Monate dauernde Verfahren das zweitlängste in Deutschland im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG). Von Oktober 1966 bis April 1968 wurden an 142 Verhandlungstagen insgesamt 214 Zeugen gehört, waren 15 Verteidiger engagiert (Beorn 2018, S. S. 448).18 Die Anklageschrift vom 10. März 1965 umfasst fast 300 Seiten und nennt 152 Zeugen mit Namen. Für dieses Verfahren hatte

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Stryx, geboren 1898, auf, der Komponist und Pianist war und wie sein Namensvetter Macej Stryx, geboren 1888, Komponist und Professor am Konservatorium in Lemberg, 1942 im KZ Janowska umkam (Honigsman 2001, S. 370). Über Jakob Mund heißt es bei ihm: »Geboren 1902; Violinist, Prof. am Konservatorium, Lwow; 1942 im KZ Janowska umgekommen« (ebd., S. 369). Wie bedeutend diese und andere Dokumente sind, betont Andrej Umansky: Ohne das Material, das die Zentrale Stelle in Ludwigsburg (heute Teil des Bundesarchivs Ludwigsburg) und die ASK zusammentrugen, wäre »die moderne Holocaust-Forschung […] nicht in der Lage, die Vernichtung der Juden, Roma und Sinti in Osteuropa ähnlich umfassend« zu rekonstruieren (Umansky 2012, S. 361). Umso mehr erstaunt, dass dieses Verfahren in der ansonsten sehr lesenswerten Abhandlung von Hans-Christian Jasch und Wolf Kaiser Der Holocaust vor deutschen Gerichten mit keinem Wort gewürdigt wird (Jasch; Kaiser 2018).

Einleitung

die Staatsanwaltschaft Stuttgart im Zuge eines Rechtshilfeersuchens auch Berichte von Zeugen und Überlebenden des Janowska-Lagers angefordert, welche die ASK kurz nach der Befreiung Lembergs im Juli 1944 vernommen hatte. So wertvoll diese Protokolle als Quelle sind, so problematisch sind sie in anderer Hinsicht. Vielfach beantworten die Zeugen nur die Fragen, für die sich die Vernehmungsbeamten der ASK interessierten. Und das waren vor allem die Namen und Taten der »deutsch-faschistischen Gewaltverbrecher«. Was sie vielleicht gern noch gesagt hätten, aber nicht sagen konnten oder durften, wissen wir nicht. Die Vernehmungsprotokolle geben auch keine Auskünfte, wann, wo und in welcher Atmosphäre die Vernehmungen stattfanden und in welchem Verhältnis die Befragten zu den sowjetischen Vernehmungsbeamten standen. Denn die Rote Armee hatte Lemberg nicht nur befreit, sondern kehrte als Besatzer zurück: Vor dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion hatte Russland nach einem kurzen Krieg mit Polen Galizien in Besitz genommen. Außerdem handelt es sich bei den Dokumenten um mehrfache Übersetzungen und Rückübersetzungen, mithin um Interpretationen.19 Die meisten Vernommenen sprachen Polnisch, Hebräisch oder Jiddisch, aber kein Russisch wie die ASK-Beamten. Für das Stuttgarter Verfahren mussten ihre Aussagen wiederum aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt werden. Trotz der genannten Einschränkungen mindert es nicht ihren Wert für die Rekonstruktion der Legende vom Todestango. Da wir es vor allem mit Erinnerungen zu tun haben, kommen wir nicht umhin, auf ihre Bedeutung für die Geschichtsschreibung einzugehen. Für viele Historiker wie Peter Novick sind die Erinnerungen Überlebender »keine besonders gute historische Quelle« und schon gar keine »zuverlässige« (Novick 2001, S. 345).20 Die menschliche Erinnerung sei zwar »ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument«, bemerkte der Auschwitz-Überlebende Primo Levi in seinem berührenden Buch Die Untergegangenen und die Geretteten (Levi 2019, S. 19). Nicht nur wurden persönliche Erinnerungen mit wachsendem Abstand zu den Ereignissen unschärfer, in sie mischten sich »spätere Wertungen, Erfahrungen, Gewichtungen und gesellschaftliche Deutungen« (Fackler 2000, S. 41). Sie wurden durch spätere Mitteilungen oder die »Lektüre von Büchern oder [.] Erzählungen« (ebd., S. 16) anderer beeinflusst. Angaben zu Fakten in Buchausgaben wurden in späteren »durch neue Enthüllungen, Dokumente und Zeugnisse erweitert« (Übers. d. Vf.), wie Simon Laks anlässlich der englischen Übersetzung seines 1948 im Französischen erschie-

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Siehe Klaus Arnold, für den »jede Übersetzung – und dies gilt ohne Ausnahme – bereits Interpretation« ist (Arnold 2007, S. 58). Ihren Wert sieht Novick allein darin, dass sie eine »lebendige Erinnerung an die Erfahrung des Holocaust« sind (ebd.)

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nen Buches Music of another World schreibt (Laks 2000, S. 6).21 Oft überarbeiteten professionelle Autoren die Aufzeichnungen Überlebender, um die Aufgabe »einer lesbaren Lektüre« zu erfüllen22 oder Journalisten wie Stefan Szende waren Verfasser eines »Augenzeugenbericht[s]«, den der Überlebende Adolf Folkmann geliefert und den Szende mit weiteren Angaben ergänzt hatte (Szende 1945, S. 5, 6).23 Unbestritten treffen diese Einwände zu. Doch was hier vielfach als quellenkundlicher Mangel thematisiert wird, kann man auch als die Weise beschreiben, wie Gedächtnis und Erinnerung entstehen. Fasst man wie Harald Welzer den Prozess der Gedächtnisbildung innerhalb von Erinnerungsgemeinschaften als eine Art »Montagetechnik des Gehirns« auf (Welzer 2002, S. 218), die »einer permanenten Ergänzung und Überschreibung unterliegt« (Welzer 2002, S. 219), kann es nicht darum gehen, der Erinnerungsliteratur Fehler und mangelnde Präzision nachzuweisen, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen oder unter den verschiedenen Versionen der Todestango-Legende »die wahrste oder die der Realität am meisten entsprechende zu finden« (Young 1992, S. 88). Vielmehr folgt diese Studie der Auffassung des amerikanischen Literaturwissenschaftlers James Edward Young, für den Schilderungen ehemaliger Häftlinge »keine Abweichung von der Wahrheit [sind], sondern Bestandteil der Wahrheit, die in jeder einzelnen Version liegt« (Young 1992, S. 61). Dafür spricht auch, dass etliche Autoren ihre Schilderungen der Ereignisse offenbar selbst so verstanden. So betont Joachim Schoenfeld, dass in seiner Darstellung die Zeugnisse von »Freunden und Verwandten« (Schoenfeld 1985, S. Vorwort S. XIII) eingegangen sind, und der polnische Überlebende Tadeusz Zaderecki beruft sich auf Berichte Dritter, die über eine »gesegnete Erinnerung« verfügten (Zaderecki 2018, S. 22). Sie begriffen ihr Zeugnis offensichtlich als das, was Habbo Knoch »dynamische Palimpseste« nannte, »in denen sich Deutungen der Geschichte diachron und synchron überlagern« (Knoch 2001, S. 23). Wer sich dagegen in kriminalistischer Manier allein auf Widersprüche zwischen früheren und späteren Zeugnissen und Aussagen kapriziert, sei es von Überlebenden oder Kommissionen wie der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion, läuft in die Sackgasse, die schon deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Verzweiflung brachte.24 Er verkennt damit, dass Überlebende 21

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Wörtlich heißt es: »Hence the book is not an ordinary English version of the French original. The facts are more or less the same, but they have been enriched with still other disclosures, documents, and testimonies that have been sent to me over the years.« So die Schriftstellerin Rachel Auerbach in der Vorbemerkung zu Leon Weliczkers Todesbrigade (Weliczker 1958, S. 20). Die Angaben Folkmanns, die in »vielstündigen, durch mehrere Wochen Tag für Tag durchgeführten Verhören« entstanden, hat Szende »mit vielen sachlichen, politischen, historischen und sozialen Angaben ergänzt« (Szende 1945, S. 6). Als ein Ergebnis der Voruntersuchungen gegen Fritz Gebauer, den Leiter der DAW, verfasste der Staatsanwalt Wagner am 12. März 1965 die Worte: »Beim Vergleich der Aussagen unter-

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und Zeugen der »Endlösung« in Galizien (Sandkühler 1996) ihre Schilderungen als Teil eines kollektiven Erinnerungsprozesses über das Schicksal der Lemberger Juden verstanden, der laufend fortgeschrieben, vervollständigt und modifiziert wurde. Während Häftlingsgesellschaften vielfach unter hierarchischen und stratifikatorischen Gesichtspunkten thematisiert werden,25 die bestimmte, als Schicht- oder nach »sozialem Stand« analysierbare Rangordnungen ausbildeten,26 rücken wir die Frage in den Vordergrund, wie sich Erinnerungen speziell im Lemberger Janowska-Lager bildeten, stabilisierten und geteilt wurden. Die Häftlingsgesellschaft des Janowska-Lagers war eine höchst fragile Gemeinschaft, die durch Willkürakte der SS, häufige Änderungen der Barackenbelegung und Arbeitsbrigaden, Selektionen und Exekutionen ihre Zusammensetzung ständig wechselte. Überdies muss sie als erzwungenermaßen orale Gesellschaft verstanden werden. Anders als etwa in Buchenwald, wo es eine Bücherei gab und »sich die Gefangenen vielfach Bücher von zu Hause schicken lassen« durften (Kogon 2015, S. 154),27 verfügten die Insassen im Janowska-Lager (offiziell) weder über Bücher noch Zeitungen oder Papier für schriftliche Aufzeichnungen, die einen unmittelbaren »Eindruck des Konzentrationslagers aus der Binnensicht der KZ-Insassen« (Orth 1999, S. 11) erlaubt hätten. Alle heute bekannten Erinnerungsberichte sind mithin erst im Nachhinein entstanden, oft in großem zeitlichem Abstand zu den Ereignissen, die sie schildern. Das gilt auch für Bilddokumente wie die Zeichnungen des Architekten und Häftlings Zeev Porath, die wie das Zeugnisschrifttum »Ereignisse und Erfahrungen […] aus der Retroperspektive« (Orth 1999, S. 18) darstellen.28

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einander waren auch nicht zwei übereinstimmende Aussagen zu finden« (BAL 162/5766, Bl. 917). Das zeigt sich in Begriffen wie »Lagerprominenz« und »Lageraristokratie«, die im Übrigen auf Friedrich Engels 1845 verfasste Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England zurückgehen. Dort hatte er über Maschinenschlosser, Zimmerleute und Schreiner geschrieben, »sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse«, die es fertiggebracht habe, »sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen« (Engels 1972, S. 325). Zweifellos entschied die Zugehörigkeit zu bestimmten Häftlingsgruppen – Juden, Sinti/Roma, Deutsche, Russen oder Polen – die Art der beruflichen Qualifikation und nicht zuletzt die Stellung der Inhaftierten in der sozialen Hierarchie des Lagers über ihre »Chancen des befristeten Überlebens« (Sofsky 2008, S. 137). Kritisch zu Begriffen wie »Häftlingsklasse« siehe Kurt Pätzold (Pätzold 2005). Siehe vor allem Michael Becker und Dennis Bock über »Muselmänner« und Häftlingsgesellschaften (Becker; Bock 2015, S. 148). Im Laufe der Jahre sei »der Bestand der Bücher bis auf 13.811 eingereihte und rund 2000 ungebundene Werke« angestiegen (Kogon 2015, S. 154). Porath war am 16. Juli 1942 verhaftet und ins Janowska-Lager gebracht worden und im Juli 1943 geflohen. Das Archiv des Ghetto Fighters’ House verfügt über etliche Zeichnungen von Porath, der auch im Lemberg-Prozess in Stuttgart aussagte. Laut einem Bericht der Stuttgarter Zeitung vom 14. Dezember 1966 über den 19. Verhandlungstag mit der Überschrift »Janowskalager – wie es ein Opfer sieht«, heißt es: Als Porath nach seiner Flucht in Sicherheit

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Das enthebt uns nicht der Aufgabe, weitere Quellen hinzuzuziehen, Erinnerungsberichte mit den Fakten zu vergleichen und Widersprüche, Unvereinbarkeiten mit anderen Darstellungen sowie Ungereimtheiten deutlich zu machen, mithin »im Interesse der Rekonstruktion historischer Realität Erlebtes von Erinnertem möglichst scharf zu trennen« (Matthäus 2005, S. 368). Nur werden wir diese Erinnerungen nicht als »fehler- oder mangelhaft« lesen, die sie »unglaubwürdig« machen, sondern als Spuren, die auf weitere Spuren verweisen und in der Summe eine Fährte ergeben, die mit anderen Quellen verknüpft, begründete Erklärungen erlaubt. Die Legende vom Todestango setzt sich aus zwei Strängen zusammen. Der erste und frühere Strang erzählt, wie der Todestango auf Befehl des SS-Untersturmführers Richard Rokita oder von SS-Offizieren im Janowska-Lager entstanden sein soll, der zweite, der ab den 1980er Jahren Gestalt annimmt, berichtet, wie Biancos Tangoschlager Plegaria zu einer Art Lagerhymne in Konzentrationslagern und so zum musikalischen Gerüst des Todestangos geworden sei. In diesem Zusammenhang kommt diese Studie nicht umhin, sich mit dem »Charakter« Eduardo Biancos und seiner vermeintlichen Schwäche für die seinerzeit amtierenden Könige, Diktatoren und Gewaltherrscher zu beschäftigen. Denn dieser Charakterzug ist ein wesentlicher Baustein, der die Formel »Plegaria ist der Todestango«, wenn schon nicht belegen, so doch plausibel machen soll. Anders ist kaum der prominente Platz zu erklären, den diese Hilfskonstruktion in der Todestango-Legende einnimmt. Dass auch hier eine dürftige Quellenlage die Aufgabe nicht erleichtert, ist bereits ein deutlicher Hinweis darauf, wie tönern die Füße sind, auf denen diese Gleichung gründet. Denn wenn schon über die Zeugnisliteratur gesagt wird, dass die Erinnerungen von ehemaligen Häftlingen hinsichtlich »harter Fakten wie Zahlen-, Zeit- oder Ortsangaben […] häufig auffällig ungenau« seien (Fackler 2000, S. 41), so gilt das umso mehr für die Tangoliteratur und »Tangografie«, die zwischen 1955 und 1973 entstand (Anzaldi 2012). Um Missverständnissen vorzubeugen: Obwohl der Todestango im Zentrum steht, ist diese Studie keine Abhandlung über Musik in Konzentrationslagern, sondern eine Untersuchung über eine Legende, die als Todestango bis heute Verbreitung gefunden hat und als unumstößliche Tatsache gilt. Ich betrachte ihn ausdrücklich nicht als ein Musikstück, sondern als Legende über ein angebliches Stück Musik, dessen Existenz – wie bei Legenden üblich – nie nachgewiesen werden konnte. Gleichwohl komme ich aus zwei Gründen nicht umhin, auf Musik in Konzentrationslagern einzugehen: Erstens, um die Abwegigkeit einer Annahme zu verdeutlichen, dass ein zwischen 1925 und 1927 in Paris komponierter Tango 17 Jahre später im Tausende Kilometer entfernten Lemberg zum Todestango wurde, gewesen sei, »machte der Architekt aus der Erinnerung zahlreiche Skizzen des Lagers«. Siehe: https://bit.ly/Zeev_Porath (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

Einleitung

und zweitens, um zu veranschaulichen, wie zählebig die Legende auch gegen die augenfälligsten Einwände verteidigt wurde, Leerstellen nicht mit Beweisen, sondern mit selbstbewussten Spekulationen und Behauptungen gefüllt wurden. Das gleiche trifft auf die Fotografie bzw. die »visual history« der Legende zu, die ausführlich zur Sprache kommt bzw. kommen muss. Denn ohne ihre wichtigste Ikone ist die Todestango-Legende kaum denkbar. In dieser Studie geht es daher vor allem um die Frage, auf welchen Quellen die Legende vom Todestango im Lemberger Janowska-Lager beruht. Sie versucht nachzuzeichnen, wie sie in die Welt kam und bis heute lebendig geblieben ist. Es ist also der Versuch, aus den vielen entlegenen Hinweisen zur wahren Geschichte vorzudringen oder, wie es der große Holocaust-Forscher Raul Hilberg formuliert hat, »die Vergangenheit möglichst in ihrem ursprünglichen Zustand zu rekonstruieren« (Hilberg 2002, S. 82).

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Erster Teil

Die Vorgeschichte

Herbst 1939: die Sowjetisierung Galiziens Die Verhandlungen hätten nicht einvernehmlicher sein können, die Atmosphäre kaum freundschaftlicher, als Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und der sowjetische Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow in den späten Abendstunden des 23. August 1939 zusammentrafen und einen Nichtangriffsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) unterzeichneten. Beim anschließenden einfachen Abendessen im Arbeitszimmer Molotows, so beschreibt es Ribbentrop in seinen Erinnerungen, hielt Stalin eine kurze Ansprache und brachte seine Verehrung für Adolf Hitler zum Ausdruck (Ribbentrop 1953, S. 182).1 Sichtlich aufgeräumt präsentierten sich die beiden Diplomaten und der sowjetische Diktator Stalin dem Fotografen, der kein Geringerer als Heinrich Hoffmann war, Hitlers Leibfotograf. Was die beiden Diktatoren bzw. ihre Vertreter per Unterschrift besiegelten, bedeutete für den östlichen Teil Polens, die baltischen Republiken sowie die Nordbukowina und Bessarabien – ein Gebiet von annähernd 200.000 km² – und 13 Millionen überwiegend auf dem Lande lebende Menschen den Wechsel von einem Tag auf den anderen ins Sowjetreich. Zugleich leitete er das faktische Ende der Zweiten Republik ein, wie Polen zwischen den beiden Weltkriegen genannt wurde (Gross 1988, S. 21). Der Pakt gab Adolf Hitler freie Hand in seinem Feldzug gegen Polen – und Stalin einen Zeitgewinn für sein »praktisch verteidigungsunfähiges Land«

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Über die Stalinisierung der sowjetischen Außenpolitik im Vorfeld des Pakts, das »spektakuläre Geschenk« Stalins an Hitler, indem er den erfahrenen und prowestlich orientierten Außenminister Maksim M. Litvinov (1876–1951) am 3. Mai 1939 entließ (Luks 1997, S. 14) und Molotow als seinen Nachfolger bestimmte, siehe Susanne Schattenberg Diplomatie der Diktatoren (Schattenberg 2009). Schattenberg beschreibt die erstaunlichen Gemeinsamkeiten zwischen Molotow und von Ribbentrop und den Kulturwechsel im Außenamt. Außerdem Claudia Webers Buch Der Pakt (Weber 2020) über die Geschichte einer mörderischen Allianz.

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»Der Todestango«

(Kellmann 2019, S. 352).2 Neun Tage nach der Vertragsunterzeichnung griff das Deutsche Reich am 1. September 1939 seinen östlichen Nachbarn ohne Kriegserklärung an. Knapp drei Wochen später folgte der sowjetische Angriff auf Polen. Am 17. September überschritt eine Übermacht von 500.000 Rotarmisten »eine unbewachte Grenze […], um gegen einen fast besiegten Feind zu kämpfen« (Snyder 2016, S. 140), dessen Streitkräfte bereits an der Westfront im Krieg gegen Deutschland aufgerieben worden waren. Der Zwei-Wochen-Feldzug verlief ohne große Schwierigkeiten und unter geringen Verlusten: »737 tote und 1862 verwundete Rotarmisten« (Gross 1988, S. 27). Fortan war das ehemalige Polen in nordsüdlicher Richtung durch die »Molotow-Ribbentrop-Linie« (Snyder 2016, S. 135ff) in etwa zwei gleich große Hälften geteilt: Im Westen herrschten die Deutschen, östlich davon begann das Sowjetreich. Die »mörderische Allianz« (Weber 2020, S. 12) zwischen Stalin und Hitler und die anschließende Annexion stürzten einen bitterarmen Landstrich in eine entsetzliche Zeit der Unruhe, Gesetzlosigkeit und Willkür. Im »Hinterhof eines Staates im Hinterhof Europas« (Gross 1988, S. 20) machte der Anteil der ländlichen Bevölkerung 81 Prozent aus, musste der größte Teil der Gebäude ohne fließendes Wasser und Strom auskommen. Wenngleich die Rote Armee zunächst freundlich empfangen wurde, auch weil sich »die mächtige Sowjetunion« als Klassenbruder und »Befreier«3 darzustellen versuchte – so »reibungslos und friedlich«, wie Leon Wells den Einmarsch der Roten Armee in seine Geburtsstadt Stojanow und die folgende Umstellung beschreibt (Wells 1979, S. 28), verlief er nicht überall. Stojanow, eine Kleinstadt 100 Kilometer östlich vom Lemberg, zählte laut Wells 2000 Einwohner, davon die Hälfte Juden. »Bis auf zwei Steinbauten« waren fast alle Häuser aus Holz, die Straßen waren nicht gepflastert, »nur im Zentrum waren einige Holzbohlen ausgelegt« (ebd., S. 13), und bis 1945 gab es »in der ganzen Stadt nicht einmal ein Radio« (ebd.). Am Sabbat habe sich die Hälfte der Juden kein Fleisch leisten können. In der Familie Wells kam Fleisch auf den Tisch. Sie gehörte zu den reichsten in Stojanow (ebd., S. 13), was es dem Vater, einem Holzhändler, erlaubt hatte, im Jahr 1933 ein zweistöckiges Mietshaus mit sieben Wohnungen in Lemberg zu erwerben. Lemberg »war eine imposante, stolze Stadt« (Segev 2012, S. 54). Im Stadtzentrum 2

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Die Säuberungen führten faktisch zur Selbstenthauptung der Roten Armee. Laut Kellmann hatte die »Rote Armee […] im Frieden mehr Offiziere verloren als im Krieg« (Kellmann 2019, S. 352). Rafal Wnuk schreibt, sowjetische Flugzeuge hätten ab dem 17. September Flugblätter über Ostpolen abgeworfen, »die sich in sehr schlechtem Polnisch an die Bevölkerung dieser Gegenden richteten: Die mächtige Sowjetunion reicht [Euch] die Hände brüderlicher Hilfe. Stellt Euch der Roten Arbeiter- und Bauernarmee nicht entgegen. […]. Wir kommen nicht als Eroberer zu Euch, sondern als Eure Klassenbrüder, als Eure Befreier von der Unterdrückung der Großgrundbesitzer und Kapitalisten. Die große und unbesiegte Rote Armee bringt auf ihren Fahnen den Arbeitenden Brüderlichkeit und glückliches Leben« (Wnuk 2009, S. 162).

Die Vorgeschichte

sei »der Einfluss Wiens unverkennbar« gewesen und die etwa 300.000 Einwohner, davon rund ein Drittel Juden, leisteten sich ein eigenes Opernhaus. Als Leon Wells 14 Jahre alt war, kehrte seine Familie am 20. September 1939 nach Lemberg zurück, zu einer Zeit, als »die russische Armee schon die Verwaltung übernommen hatte« (Wells 1979, S. 29). Auch Lemberg bekam die »rasche Stalinisierung der Region« umgehend zu spüren (Sandkühler 1996, S. 53), genauer: die beschleunigte und mit massivem Terror durchgesetzte Wiederholung der »Geschichte der UdSSR« (ebd., S. 53). Über »das gesamte Ostpolen (rollte) eine Welle von Vergeltung und Selbstjustiz«, getragen von Ukrainern und Weißrussen, die nun, auch ermuntert durch die Rote Armee, alte Rechnungen mit ihren polnischen Nachbarn beglichen (Hryciuk 2009, S. 181). Bauernkomitees wurden gegründet, Großgrundbesitzer enteignet, gut situierte Bauern und Siedler mit ihren Familien vom eigenen Grund und Boden vertrieben und ein Großteil des frei gewordenen Landes an »Landarme« und »mittlere Bauern« vergeben (Wnuk 2009, S. 164). Die Enteignung oder Sozialisierung großer Betriebe und Mietshäuser machte auch vor dem Immobilienbesitz der Familie Wells nicht halt. »Als man deshalb zu uns kam, überschrieb mein Vater, ohne viel zu fragen, das Haus der Regierung« (Wells 1979, S. 31). Die Schulen wurden »entpolonisiert«, die Fächer Religion, Polnisch, Latein und Geografie gestrichen (Gross 1988, S. 107), religiöse Symbole aus den Klassenzimmern entfernt, die »hebräische Sprache ausgemerzt« (ebd., S. 109), während Russisch und Weißrussisch zur Unterrichtssprache wurden. Schon kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee hatten die Sowjets den Rubel neben dem Złoty »zum gesetzlichen Zahlungsmittel erklärt« (Gross 1988, S. 38) und die Uhren auf Moskauer Zeit umgestellt, was hieß, dass sie zwei Stunden vorgestellt werden mussten. Doch die ostpolnische Bevölkerung, die »zu rund 43 % polnisch, 33 % ukrainisch und je 8 % jüdisch und weißrussisch« war (Snyder 2016, S. 143), sollte sich nicht nur dem neuen Regime fügen, sondern auch ihre »ritualisierte Unterstützung« (ebd., S. 143) der neuen Ordnung unter Beweis stellen. Nur einen Monat nach dem Einmarsch der Roten Armee organisierten die Besatzer am 22. Oktober 1939 eine Wahl zu zwei Volksvertretungen, an der alle Bewohner und Bewohnerinnen der Westukraine und Weißrusslands teilnehmen mussten. Auf dem Plan stand die »plebiszitäre Abstützung der Annexion« (Sandkühler 1996, S. 55) – der Beitritt der ostpolnischen Gebiete zur Sowjetunion. Massive Wahlfälschungen lieferten das gewünschte Ergebnis. Kurz darauf traten derart »gewählte« Volksvertreter in Lemberg (für die Westukraine) und Białystok (für das westliche Weißrussland) auf und nahmen »eine Erklärung an, in der sie den Obersten Sowjet der UdSSR darum ›baten‹, diese Gebiete den ›Schwesterrepubliken‹« anzugliedern (Wnuk 2009, S. 165). »Am 15. November war die Annexion formal abgeschlossen« (Snyder 2016, S. 144) und ehedem 13 Millionen Polen zu jenen »friedlichen Sowjetbürgern« und »sowjetischen Zivilisten« geworden, die vier Jahre später in der Sowjet-Propaganda gegen

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die »deutsch-faschistischen Verbrecher« eine wichtige Rolle spielen sollten.4 Zuvor allerdings hatten die kommunistischen Machthaber etwa »1,25 Millionen polnische Bürger« gegen ihren Willen aus ihrer Heimat in sowjetische Arbeitslager und Gefängnisse verschleppt oder im Innern des Sowjetreichs zwangsangesiedelt (Gross 1988, S. 127). Laut dem Historiker Klaus Kellmann ließ Stalin in dem kurzen Zeitraum zwischen September 1939 und Sommer 1941 mehr Menschen in Ostpolen ermorden als die Nazis zur gleichen Zeit in den von ihnen besetzten Gebieten (Kellmann 2019, S. 322). Nur wenige Monate später sollte sich das dramatisch ändern.

Sommer 1941: das »Unternehmen Barbarossa« Geschützdonner reißt Leon Wells aus dem Schlaf. Es ist 5 Uhr morgens, Moskauer Zeit, mithin 3 Uhr nachts, Sonntag, 22. Juni 1941. Er hört das Dröhnen von Flugzeugmotoren, Flakbatterien. Dennoch macht er sich mit seinem Vater um 6 Uhr auf den Weg zur Arbeit. Das Durchkommen ist mühsam. Die Straßen sind blockiert von Panzern, Lastkraftwagen und unzähligen Soldaten, die umherhasten. Wells versucht herauszufinden, »was wirklich vor sich geht« (Wells 1979, S. 36), doch niemand »weiß etwas Genaues«. Erst gegen 10 Uhr hört er im Radiosender Moskau, dass die Deutschen in »Russland eingefallen sind« (ebd.). Wells teilt uns nicht mit, wen er im Radio vernahm. Gut möglich ist, dass ihn die Rundfunkansprache von Stalins Außenminister Wjatscheslaw Molotow ins Bild setzte:5 »Heute um 4.00 Uhr morgens, haben deutsche Truppen, ohne dass irgendwelche Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden wären und ohne Kriegserklärung, unser Land angegriffen, unsere Grenze an zahlreichen Stellen überschritten und mit Flugzeugen unsere Städte Schytomyr, Kiew, Sewastopol, Kaunas und einige andere bombardiert und dabei mehr als 200 Menschen getötet« (Sebag Montefiore 2019, S. 138). In den frühen Morgenstunden zwischen 3 und 3.30 Uhr hatte eine »riesige Streitmacht zwischen Ostsee und Schwarzem Meer die Grenze zur Sowjetunion« auf breiter Front überschritten (Ueberschär 2011, S. 89). Fast 3,6 Millionen deutsche 4

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Timothy Snyder betont, dass in den zuerst von den Sowjets, später von den Deutschen besetzten Gebieten mehr Menschen ermordet wurden, die im Jahr 1939 polnische und nicht sowjetische Staatsbürger waren (Snyder 2016, S. 418). Sie als friedliche sowjetische Staatsbürger und Zivilisten oder sowjetische Juden zu bezeichnen, würde eine Version des Krieges bestärken, die die »Invasion und Besetzung der westlichen Nachbarstaaten in den Hintergrund« drängt (ebd., S. 418). Laut Klaus Kellmann ging die landesweit verbreitete Radioansprache Molotows um 12 Uhr über den Rundfunk (Kellmann 2019, S. 354).

Die Vorgeschichte

und verbündete Soldaten, rund 3600 Panzer und mehr als 2700 Flugzeuge, aufgeteilt in drei Heeresgruppen mit zusammen 153 Divisionen, rückten nun gegen den Hauptfeind im Osten vor. Den Befehl zum »Unternehmen Barbarossa«, dem Decknamen für den Überfall auf die Sowjetunion, hatte Adolf Hitler zwei Tage zuvor mit dem vereinbarten Stichwort »Dortmund« gegeben (ebd., S. 89). Der Angriff traf die Sowjetunion unvorbereitet. Die Rote Armee »wurde von der Vehemenz des Vormarsches der Deutschen regelrecht überrumpelt« (Gross 1988, S. 157). Die Strategie Hitlers, Russland in einem Blitzkrieg »in 8 bis 10 Wochen militärisch niederwerfen zu können und anschließend politisch zum Zusammenbruch zu bringen« (Guderian 1998, S. 137), schien aufzugehen.6 An Warnungen vor einem deutschen Angriff hatte es nicht gefehlt (Pohl 2011a, S. 122). Dennoch scheinen weder die sowjetische Führung noch die Einwohner darauf vorbereitet gewesen zu sein. Überstürzt verließen die Sowjets Lemberg. Lili Chuwis Thau, ein damals 14-jähriges Mädchen in ihrem 2. Gymnasialjahr, beobachtete fassungslos vom Fenster aus, wie die Russen »in nervöser Eile die Dienstfahrzeuge mit ihrem privaten Hab und Gut beluden. Staatliche Einrichtungen, Büros und Hauptquartiere wurden fluchtartig evakuiert. Die gleichen Funktionäre, die uns gestern noch arrogant herumkommandierten und Angst und Verwirrung unter den Einwohnern verbreiteten, packten heute in Panik zusammen, um wegzurennen […] Russische Frauen schleppten ihr Reisegepäck, das aus sämtlichen Nähten platzte, bündelweise Bettwäsche und anderes sichtbar machte. Sie luden alles wahllos auf die Lkws. Kleine, ängstliche Kinder mit mehreren Schichten von Kleidern dick angezogen, wurden oben auf das aufgehäufte Reisegepäck gesetzt, während die Erwachsenen um sie herum mit hektischen Vorbereitungen beschäftigt waren, um die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen« (Thau 2016, S. 90f). Bis zum Ende der ersten Juli-Woche hatte die deutsche Wehrmacht das gesamte Gebiet besetzt und der Sowjetstaat in gerade drei Wochen »riesige Gebiete, zahllose Untertanen, Millionen Soldaten und Unmengen an Geheimdokumenten aufgeben müssen« (Gross 1988, S. 157). Zu dieser Zeit lebten etwa 540.000 Juden in Ostgalizien, so der Historiker Dieter Pohl, »mehr als im Deutschland des Jahres 1933« (Pohl 1997, S. 9).7 Vom Distrikt Warschau abgesehen, war es die größte regio-

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Peter Longerich schreibt, Hitler habe für die Dauer des »Unternehmens Barbarossa« etwa vier Monate eingeplant, sein Propagandaminister Joseph Goebbels veranschlagte weniger Zeit, der Bolschewismus werde wie ein »Kartenhaus zusammenbrechen« (Longerich 2012, S. 470). Als Adolf Hitler 1933 Reichskanzler wurde, machte der Anteil der Juden in der Bevölkerung »weniger als 1 Prozent« aus (Snyder 2016, S. 10). Ebenso Saul Friedländer, der schreibt, der Anteil habe gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts »nie mehr als etwa ein Prozent« betragen (Friedländer 1998, S. 91).

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nale jüdische Konzentration in Europa. Allein 160.000 Juden zählte Lemberg, die Hauptstadt Galiziens. Weil viele Juden in den vergangenen Monaten vor den Deutschen aus dem besetzten »Generalgouvernement« nach Galizien geflohen waren, hatte ihre Zahl beträchtlich zugenommen.8 Und diese »letzte geschlossen gesiedelte Judenheit Europas« befand sich nach dem Angriff auf die Sowjetunion auf der ganzen Frontlinie »in unmittelbarer Lebensgefahr«, erkannte hellsichtig die in New York erscheinende jüdische Wochenzeitung Aufbau9 in ihrer Ausgabe vom 27. Juni 1942 (VEJ 7/6).10 Die Sorge der amerikanischen Juden um ihre Glaubensbrüder und -schwestern war nur zu begründet. Der Krieg gegen die Sowjetunion war kein gewöhnlicher Waffengang verfeindeter Staaten, sondern von vornherein »ein räuberischer Vernichtungs- und Eroberungskrieg« (Ueberschär 2011, S. 90), der sich gegen Juden und Bolschewisten gleichermaßen richtete. Im nationalsozialistischen Zerrbild vom »jüdischen Bolschewismus« hatten sich diese beiden Erzfeinde des NS-Regimes zu einer unheilvollen Allianz verbündet, die die Sowjetunion beherrschte und nichts weniger als die Weltherrschaft anstrebte.11 Eines der wichtigsten und mörderischsten Werkzeuge in diesem »rassistischen Vernichtungskrieg« (Longerich 1990, S. 103) waren die vier Einsatzgruppen A bis D und ihre Untereinheiten (Einsatzkommandos), die Heinrich Himmlers »rechte Hand Reinhard Heydrich« (Snyder 2016, S. 142), Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Stellvertreter Himmlers, geschaffen hatte. Die Angehörigen der Einsatzgruppen rekrutierten sich aus dem Sicherheitsdienst (SD), der Sicherheitspo8

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Siehe auch Die Yad-Vashem-Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust: Nach Kriegsbeginn seien »Zehntausende jüdische Flüchtlinge aus anderen Teilen Polens in die Stadt [geströmt], sodass in Lemberg die Zahl der Juden auf 230.000 bis 240.000 Menschen« anstieg. Davon hätten sich viele nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion der fliehenden Roten Armee angeschlossen. Als die deutschen Truppen eintrafen, lebten »noch rund 160.000 Juden in der Stadt« (Miron 2014, S. 440). Die 1934 gegründete Wochenzeitung Aufbau war zunächst das kostenfreie Vereinsblatt des deutsch-jüdischen Emigranten-Klubs in New York. Das Blatt entwickelte sich schnell zur wichtigsten Informationsquelle für jüdische und deutschsprachige Flüchtlinge in den USA. Die Auflage stieg von 8000 Exemplaren im Jahr 1938 auf 30.500 (1943) und 40.000 ein Jahr später. Zu den Herausgebern zählten zeitweise auch Albert Einstein und Stefan Zweig. Siehe die Studie von Susanne Bauer-Hack über Die jüdische Wochenzeitung Aufbau und die Wiedergutmachung (Bauer-Hack 1994). Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 ist eine 16 Bände umfassende Quellenedition. Der Verfasser folgt dem Wunsch des Autorenteams, sie als VEJ und mit der Angabe der Dokumentennummer zu zitieren (Heim; Herbert; Kreikamp u.a. 2011, S. 9). Entsprechend findet sich der Artikel im Aufbau in VEJ 7/6, zu lesen als: Band 7, Dokument 6. Bernd Wegner sieht in der Tatsache, dass Hitler die »ursprünglich vorgesehene Angriffsstärke auf 180 Divisionen verdoppeln« ließ (zuvor hatte die Heeresführung mit 80 bis 100 Divisionen geplant), einen deutlichen Hinweis, dass es »um die Vernichtung der Sowjetunion ging« (Wegner 2005, S. 35).

Die Vorgeschichte

lizei (SiPo), der Kriminalpolizei (Kripo) und Ordnungspolizei (Orpo).12 Wie Wehrmacht und Einsatzgruppen zusammenarbeiten sollten, regelte ein Befehl vom 28. April 1941 (abgedruckt als Dokument 5 in: Heer; Streit 2020, S. 198). Danach sollten die rund 3000 Mann hinter der vorrückenden Wehrmacht, im sogenannten »rückwärtigen Heeresgebiet«, bestimmte Objekte sichern (»Material, Archive, Karteien von reichs- und staatsfeindlichen Organisationen«) und gegen besonders wichtige »Einzelpersonen (führende Emigranten, Saboteure, Terroristen usw.)« tätig werden. Dafür wurde den Einsatzgruppen das Recht eingeräumt, »in eigener Verantwortung Exekutivmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung zu treffen« (Heer; Streit 2020, S. 199). Damit war der Weg für ein Mordkommando ungeheuren Ausmaßes geebnet. Die Historiker Martin Broszat und Norbert Frei geben als wichtigste Aufgabe der Einsatzgruppen »die systematische Tötung von Juden, kommunistischen Funktionären, Zigeunern und anderen unerwünschten Elementen« an (Broszat; Frei 1992, S. 265). Allein in den Jahren 1941/42 fielen den Einsatzgruppen mehr als eine Million Menschen zum Opfer (ebd.). Rund eine Woche nach dem Überfall auf die Sowjetunion marschierte die Wehrmacht in Lemberg ein. Der damals 36-jährige Stanislaw Różycki, Assistent an der Polytechnischen Hochschule in Lemberg,13 notierte am 1. Juli 1941 in seinem Tagebuch: »Um 6 Uhr heute früh kommen die ersten deutschen Motorradfahrer an. Eine Stunde später hängt am Rathaus schon das Hakenkreuz.« Am Nachmittag sind bereits alle Symbole der früheren Besatzer beseitigt. »Anstelle von Hammer und Sichel finden sich überall das Hakenkreuz, der ukrainische Dreizack und die […] blau-gelben Fahnen« (VEJ 7/16). Różycki ist beunruhigt, er fürchtet sich vor »einem sofortigen, spontanen Pogrom seitens der Ukrainer« (ebd.), der nicht lange ausbleibt. Kurz nachdem die 17. Armee der Wehrmacht, befehligt von Generalleutnant Carl-Heinrich von Stülpnagel, die Hauptstadt Galiziens besetzt hatte, begannen die Ukrainer mit Hetzjagden auf die Juden, die die Deutschen zwar nicht initiiert hatten, aber auch nicht unterbanden. »Bei Pogromen im Juli und August 1941 […] verloren mehrere Tausend Juden das Leben«, heißt es in der Yad-Vashem-Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust (Miron 2014, S. 440). Als »Selbstreinigungsbestrebungen antikommunistischer oder antijüdischer Kreise« hatte sie Reinhard Heydrich in einem Fernschreiben vom 26. Juni 1941 an die Chefs der Einsatzgruppen ausdrücklich gutgeheißen. Ihnen sollten sich die deutschen Einheiten nicht in den Weg stellen, sondern im Gegenteil sie intensivieren und »wenn erforderlich in die richtigen Bahnen« lenken (Longerich 1990, S. 118).

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Die Einsatzgruppen wurden von einer akademischen Elite befehligt: »Von den 25 Einsatzgruppen- und Einsatzkommandoleitern trugen 15 einen Doktortitel« (Browning 2006, S. 36). Über Różycki, geboren 1905, heißt es in VEJ 4/7, S. 121: »1933 Assistent an der Polytechnischen Hochschule in Lemberg, später in Warschau, floh im September nach Lemberg, kehrte im Herbst 1941 nach Warschau zurück. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.«

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Wie gezielt die Einsatzgruppen gegen Juden vorgingen, verdeutlicht der Bericht des 32-jährigen Felix Landau, Kunstmöbeltischler und überzeugter Nationalsozialist. Landau, damals im Rang eines SS-Hauptscharführers, hatte sich »aus verschiedenen Gründen freiwillig zu einem EK« gemeldet, notierte er unter dem Datum »Lemberg, den 3. Juli 1941« (Klee; Dreßen; Rieß 1988, S. 88). Am 2. Juli um 16 Uhr traf sein Einsatzkommando in Lemberg ein: »Warschau ist harmlos dagegen, das ist der erste Eindruck. Kurz nach der Ankunft wurden von uns die ersten Juden erschossen,« notierte er mit bedrückender Gleichgültigkeit. Am Tag darauf »standen 500 Juden […] zum Erschießen angetreten« (ebd., S. 89). Zwei Tage danach »wurden nun noch ungefähr 300 Juden und Polen umgelegt« (ebd., S. 90). Gezielt gingen die deutschen Besatzer vor allem gegen die »Intelligenz« vor: In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli wurden 110 polnische und jüdische Wissenschaftler der Hochschulen in Lemberg – der Universität, des Polytechnikums, der Medizinhochschule und der Außenhandelsakademie – mit ihren Familien verhaftet und kurz darauf erschossen (Honigsman 2001, S. 140). In den folgenden Monaten erlitten die Lemberger Juden das gleiche Schicksal wie in anderen Teilen der nun von den Deutschen besetzten ehemaligen polnischen Gebiete: Sie wurden stigmatisiert, ausgegrenzt, verfolgt, in Ghettos konzentriert, beraubt und am Ende ausgelöscht. Nur eine Woche nach dem Einmarsch ordnete der Stadtkommandant der Wehrmacht am 8. Juli 1941 an, dass alle Lemberger Juden eine weiße Armbinde mit blauem Davidstern tragen müssen. Zwei Wochen später, am 1. August, erklärten die Deutschen Galizien zu einem selbstständigen Distrikt im Generalgouvernement (GG), das nun aus fünf Distrikten bestand. Galizien hatte bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich gehört. Nachdem dieser Landesteil im Frieden von Versailles Polen zugeschlagen und im Herbst 1939 von der Sowjetunion annektiert worden war, wechselte er nun in die Hände eines weiteren Besatzers – der Deutschen. Mit einer Fläche von etwa 47.100 km² war der Distrikt so groß wie das heutige Bundesland Niedersachsen und zugleich der bevölkerungsreichste Teil des Generalgouvernements. Von den 4,8 Millionen Einwohnern waren 64 % Ukrainer, 22 % Polen und 14 % Juden (Sandkühler 1996, S. 67). In einer »großsprecherischen Proklamation« hieß es, Galizien sei in den »Schutz des Großdeutschen Reiches« genommen worden14 (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 96). Was dieser »Schutz« wert war, erfuhren die Juden eine Woche später. Den Arbeitszwang, der im Generalgouvernement bereits kurz nach der Besetzung

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In der »Ereignismeldung UdSSR Nr. 40« vom 1. August 1941 heißt es: »Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau meldet: Aufgrund Führererlasses scheidet am 1.8.41 um 12 Uhr Galizien aus dem Operationsgebiet aus und tritt als Bestandteil des Generalgouvernements unter zivile Verwaltung. Hierfür ist in Lemberg ein größerer Staatsakt vorgesehen, der der Weltöffentlichkeit die Einverleibung Galiziens in deutsches Hoheitsgebiet vor Augen führen soll« (Mallmann; Angrick; Matthäus u.a. 2011, S. 213).

Die Vorgeschichte

Polens am 26. Oktober 1939 eingeführt worden war, dehnte die Verordnung vom 7. August 1941 nun auf die Lemberger Juden aus (ebd., S. 98). Zugleich wurden alle Juden im Generalgouvernement aus der Sozialversicherung, der Kriegsrentenversorgung und »allen anderen sozialen Einrichtungen« gedrängt. Ab dem 25. Oktober 1941 drohte ihnen die Todesstrafe, wenn sie »den ihnen zugewiesenen Wohnbezirk unbefugt verlassen«. Sechs Tage später, am Freitag, dem 31. Oktober, wurde auf dem Gelände der Deutschen Ausrüstungswerke (DAW) ein Zwangsarbeitslager (ZAL) eingerichtet und die rund 500 Beschäftigten gezwungen, fortan auf dem Gelände der DAW zu bleiben. Wie er die Errichtung des ersten »jüdischen Zwangsarbeitslager« in Lemberg erlebte, beschrieb Leon Wells so: »Als eines Abends die Männer nicht von ihrem Arbeitsplatz unter der Aufsicht des ›SS- und Polizeiinspekteurs‹ heimkamen, dachten sich die Mütter und Frauen schon, dass etwas Schreckliches passiert sein musste und eilten zur JanowskaStraße, um herauszufinden, was geschehen war. Und dann sahen sie das große, neue Schild über dem Tor: ›ZWANGSARBEITSLAGER FÜR JUDEN‹« (Wells 1979, S. 58). An diesem Freitag seien 550 Juden »festgehalten und gezwungen (worden), von nun an in den Baracken zu hausen, die sie selbst für angebliche Kriegsgefangene gebaut hatten« (ebd.). Nur eine Woche später verwandelte sich die stolze Hauptstadt Galiziens – für die Lemberger Juden – zu einem riesigen Gefängnis. Am 6. November 1941 beschlossen die deutschen Besatzer die Errichtung eines Ghettos. In der Folge mussten alle Lemberger Juden vom 12. bis 15. November »in sechs Schüben in das im Norden gelegene Stadtviertel Zamarstynow ziehen, alle darin wohnenden Nichtjuden dieses Gebiet verlassen« (Pohl 1997, S. 159). Das Ghetto entstand unweit der Bahnstation Kleparów, wo schon bald die Deportationen in Zügen der Ostbahn, wie die Reichsbahn im Generalgouvernement hieß, ins Vernichtungslager Bełżec abgehen sollten. Der Umzugsbefehl wurde am 8. November in der Stadt plakatiert. »Er betraf etwa 80.000 Lemberger Juden«, was hieß, dass »etwa jeder dritte Einwohner Lembergs seine Wohnung für immer verlassen« sollte (Pohl 1997, S. 159). Zur gleichen Zeit machten sich die deutschen Besatzer daran, die Weichen für den Holocaust zu stellen und die Vorbereitungen zum Bau des ersten Vernichtungslagers in Bełżec zu treffen. Das entscheidende Gespräch fand am 13. Oktober 1941 zwischen Reichsführer-SS Heinrich Himmler, Odilo Globocnik, SS- und Polizeiführer (SSPF) im Distrikt Lublin, und SS-Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger, Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF), statt. Umstritten ist, ob Himmler im Anschluss daran Globocnik den Befehl erteilte, mit »dem Bau des Vernichtungslagers Bełżec zu beginnen«, was der israelische Historiker Saul Friedländer für wahrscheinlich hält (Friedländer 2006, S. 311), während Jürgen Matthäus meint, Globocnik habe Himmler seinerseits den Entwurf für »die Errichtung eines

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Lagers mit Gaskammern in Bełżec« unterbreitet, der Himmlers Zustimmung fand (Matthäus 2006, S. 517). Als sicher kann angenommen werden, dass Himmler bei diesem Treffen »Globocnik wahrscheinlich den Auftrag [gab], das Vernichtungslager in Bełżec zu errichten« (Himmler 1999, S. 233).15 Unstreitig ist, dass Globocnik »bei der ›Endlösung‹ im Generalgouvernement zur treibenden Kraft« wurde (Longerich 2010, S. 362). Himmler schätzte an seinem »Duzfreund« (Sandkühler 1996, S. 36), den er mit »Globus« anzureden pflegte,16 nicht nur sein ausgeprägtes Interesse für »Rasse- und Siedlungsfragen«, sondern seinen »gewalttätigen Aktivismus« (Himmler 1999, S. 65), der ihn schon während seiner Wiener Zeit in Schwierigkeiten gebracht hatte. Globocnik galt als »brutale und zwielichtige« Figur (Browning 2013, S. 28), den man als Gauleiter in Wien »wegen Bestechlichkeit als Parteivorsitzenden abgesetzt« hatte (Browning 2013, S. 28). Der »radikale Antisemit« (Angrick 2014, S. 158) machte sich umgehend an die Arbeit und begann Mitte Oktober 1941 mit der »Zusammenstellung seines Stabes für die ›Aktion Reinhardt‹« (Sachslehner 2014, S. 192), der insgesamt 453 Offiziere und Unteroffiziere umfassen wird. Um den 1. November 1941, also fast zeitgleich mit der Einrichtung des Lemberger Ghettos, begannen die Bauarbeiten in Bełżec. Es war »das erste Lager, in dem die Nationalsozialisten stationäre Gaskammern installierten« (Kuwalek 2008, S. 332). Für Bełżec als Standort sprach aus Sicht der SS, dass es bereits eine Bahnrampe gab, »direkt an der viel befahrenen Zugstrecke und der Verbindungsstraße von Lemberg nach Lublin und weiter nach Warschau« (Lehnstaedt 2017, S. 52). Nur zwei Monate nach der Konferenz am 20. Januar 1942 am Wannsee in Berlin, wo die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde, fanden in Bełżec die ersten Vergasungen statt. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte März 1942, waren noch etwa 75 bis 80 Prozent aller polnischen Juden am Leben, hatten »erst 20 bis 25 Prozent

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Gleichlautend bei Hans Buchheim: »So beauftragte Himmler mit der Vernichtung der Juden des Generalgouvernements persönlich den SSPF Lublin, Odilo Globocnik« (Buchheim 1979, S. 125). Seine Anatomie des SS-Staates ging aus einem Gutachten zur Rolle der SS im Nationalsozialismus für den »Auschwitz-Prozess 1963–1965« vor dem Schwurgericht in Frankfurt a.M. hervor, wo die Historiker Hans Buchheim, Helmut Krausnick und Martin Broszat vom Institut für Zeitgeschichte im Februar 1964 als Sachverständige geladen waren. Siehe auch: https:// www.auschwitz-prozess.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). In einem Brief vom 30. November 1943 mit der Anrede »Lieber Globus« spricht Himmler ihm seine Anerkennung für die Durchführung und den »Abschluss der Aktion Reinhardt« aus (IMT 1949b, S. 70). Unter der »Aktion Reinhard/t« firmierte NS-intern die Ermordung der Juden in den drei Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka. Die NS-Behörden beschränkten laut Nikolaus Wachsmann »den Tarnnamen ›Aktion Reinhard‹ (oder ›Einsatz Reinhard‹)« nicht nur auf diese drei Lager, sondern hätten ihn auch für »die Judenvernichtung und Raub ihres Besitzes in den SS-Konzentrationslagern Auschwitz und Majdanek« verwendet (Wachsmann 2017, S. 344). Um den Unterschied der drei Todeslager deutlich zu machen, spricht er daher von den »Globocnik-Todeslagern« (ebd.).

Die Vorgeschichte

ihr Leben verloren« (Browning 2013, S. 11). Nur elf Monate später, »Mitte Februar 1943, hatten sich die Prozentzahlen genau umgekehrt« (ebd.). Und dazu hatte Bełżec maßgeblich beigetragen. In den neun Monaten seines Bestehens, von März bis Dezember 1942, wurden 435.000 Juden ermordet – nur drei überlebten (Pohl 2011b, S. 95).17 Die ersten Opfer waren Lemberger Juden. In nur zwei Wochen, »von Mitte März bis Anfang April 1942, wurden allein in Lemberg insgesamt etwa 15.000 Menschen zusammengetrieben und vom Bahnhof Lemberg-Kleparów mit Güterwagen nach Bełżec transportiert, wo sie vergast wurden« (Rüter; de Mildt 2003, S. 664). Betroffen waren vor allem Alte, Kranke, Hilfsbedürftige, Arbeitslose und Waisenkinder. Einen Monat nach Bełżec stand ab Mai in Sobibór, östlich von Lublin, das zweite Vernichtungslager der sogenannten »Aktion Reinhard/t« zur Verfügung, die vermutlich zum Andenken an Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) sowie Leiter der Wannsee-Konferenz so genannt wurde. Heydrich war am 28. Mai 1942 bei einem Attentat von Partisanen in Prag getötet worden. In Sobibór verloren bis zum Oktober 1943 zwischen 160.000 und 200.000 Juden ihr Leben, nur 40 überlebten (Pohl 2011b, S. 95). Und am 18. Juli 1942 galten auch die Arbeiten in Treblinka als abgeschlossen, dem größten Vernichtungslager der »Aktion Reinhard/t«. Damit erreichte die größte Mordaktion in der Geschichte der »Endlösung« ihren Höhepunkt. Im Wissen um die gewaltigen Vernichtungskapazitäten, die die Deutschen innerhalb kürzester Zeit im besetzten Polen aufgebaut hatten, konnte Heinrich Himmler am 19. Juli 1942 anordnen, »dass die Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis 31. Dezember 1942 durchgeführt und beendet ist« (Longerich 1990, S. 201). Mit diesem Befehl an den HSSPF Friedrich-Wilhelm Krüger »geriet der Massenmord an den polnischen Juden in eine neue Phase« (ebd., S. 186), waren die »Weichen für die ›Endlösung‹ im gesamten GG gestellt«, schreibt Thomas Sandkühler (Sandkühler 1996, S. 175). Genau in diese Zeit fällt die Errichtung des Janowska-Lagers in Lemberg, dem Schauplatz des Todestango.

Das eigentliche Janowska-Lager Der jüdische Arzt Dr. Samuel Drix ist seit Tagen alarmiert. Mit jeder Stunde wächst die Nervosität im Lemberger Ghetto, spürt man den »nahenden Sturm

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Die Zahl der Todesopfer, die das Schwarzbuch angibt, dürfte zu hoch sein: »Von Februar 1942 bis zum 30. Juni wurden dort 600.000 Juden umgebracht« (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 175). Saul Friedländer geht wie Dieter Pohl davon aus, dass bis Ende 1942 »allein in Bełżec etwa 434.000 Juden ermordet« wurden.

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in der Luft«, nimmt die »fieberhafte Spannung« zu. Am Montag, dem 10. August 1942, ruft Drix in Panik die Hausbewohner zusammen: eine Aktion, eine Aktion! Blitzschnell verbreitet sich diese Nachricht und noch schneller greifen Einheiten der SS und der Sicherheitspolizei zu. Zusammen mit mehr als 200 anderen Juden aus dem Ghetto wird Drix in überfüllten Loren, die an Straßenbahnen angehängt wurden, ins Janowska-Lager verschleppt. Was ihn dort erwartet, ist für ihn und seine Leidensgenossen kein Geheimnis. Wer in diese Mördergrube gelangt, schreibt er in seinem Tagebuch, »kehrte nie mehr zurück« (StaL EL 317 III Bü 1721, S. 1). Das Janowska-Lager war »schlimmer als ein Todesurteil« (ebd.). Drix ist 30 Jahre alt. Während der Aktion vom 10. bis zum 23. August 1942, die Samuel Drix in das »Sklavenarbeitslager in der Janowska-Straße« (Friedländer 2006, S. 463) bringt, wurden etwa 40.000 Juden des Ghettos festgenommen und die meisten von ihnen in Bełżec vergast oder im »Sand« ermordet. Der sogenannte »Sand« oder »Piaski« war ein unweit des Lagers vor Blicken geschütztes Gelände, wo Zehntausende galizische Juden erschossen wurden. »Der August 1942 erwies sich für die Juden der Westukraine und Wolhyniens als einer der blutigsten Monate des Jahres« (Honigsman 2001, S. 233). In diesem Monat erlangte das Janowska-Lager »seine eigentliche Bedeutung und Größe mit einer Belegungszahl mit zuletzt ca. 8000 Häftlingen« (Rüter; de Mildt 2003, S. 666). Es wurde »zum zentralen Arbeits- und Vernichtungslager im Distrikt Galizien« (Pohl 1997, S. 203) und zu einem der »tödlichsten Lager des Holocaust« (Beorn 2018, S. S. 447). Thomas Sandkühler äußert in seiner großen Studie zur »Endlösung« in Galizien die Vermutung, dass Lemberg-Janowska »sehr wahrscheinlich erheblich mehr Juden zum Opfer [fielen] als Lublin-Majdanek, obwohl im Distrikt Galizien keine Vergasungen durchgeführt wurden« (Sandkühler 1998, S. 619).18 In Majdanek kamen mindestens 35.000, »möglicherweise auch 80.000 Juden um« (Sandkühler 1996, S. 190). Die Aussichten auf ein Überleben in Janowska waren »minimal«, schreibt der Historiker Eliyahu Yones (1915–2011): »Jedem, der diesem Albtraum ausgesetzt war, war es bestimmt, früher oder später zu sterben« (Yones 2018, S. 284). Wie schmal nun die Grenze zwischen Leben und Tod ist, erfährt Samuel Drix noch bevor er das eigentliche Janowska-Lager betritt. Eine Selektion findet statt. Frauen, Greise und Kinder müssen sich links einreihen, sie werden nach Bełżec deportiert, einem der »größten Vernichtungslager auf dem Territorium Polens« (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 175). Die Gaskammern sind seit März 1942 ununterbro18

Auch Friedländer beschreibt das Lager als »eine Mischung aus Durchgangszone, Sklavenarbeitslager und Tötungszentrum« (Friedländer 2006, S. 740). Und Mario Wenzel schreibt, Lemberg-Janowska diente »als zentrale Mordstätte für die Juden des Distrikts« (Wenzel 2009, S. 131f), die hinter dem Lagergelände im »Sand« erschossen wurden.

Die Vorgeschichte

chen in Betrieb. Auch seine beiden Schwestern kommen in Bełżec um, eine andere Schwester und seine Brüder kommen drei Tage nach ihm ins Janowska-Lager. Die erste Nacht im Lager verbringt der Arzt im Freien. Es ist eine regnerische Nacht. Kaum dämmert es, müssen die Gefangenen zum Appell antreten, werden sie je nach Fachkenntnissen in Arbeitsbrigaden eingeteilt. Drix und sieben weitere Ärzte, die mit ihm ins Lager gekommen sind, werden den »Menschen ohne Fach« beziehungsweise jenen zugeschlagen, die ein »unbrauchbares Fach besaßen – also auch wir Ärzte« (StaL EL 317 III Bü 1721, S. 15). Drix’ Gruppe wird zum Bau neuer Baracken im Lager eingeteilt. Er erhält die Häftlingsnummer 1455 (ebd., S. 64). Das Janowska-Zwangsarbeitslager existierte erst seit etwa zwei Monaten. Maßgeblich vorangetrieben hatte es der SSPF in Galizien, Friedrich Katzmann, der selbst in SS-Kreisen »als besonders fanatischer Judenhasser« verschrien war (Aussage SS-Obersturmführer Rudolf Röder, Rüter; de Mildt 2003, S. 736), was seiner Karriere in der SS eher förderlich war. Es trug ihn schon in jungen Jahren in hohe Ränge. An seinem 35. Geburtstag am 6. Mai 1941, hatte er bereits den militärischen Rang eines Generalmajors der Polizei und Generalleutnants der SS inne. So wie sein SS-Kollege Globocnik in Lublin war auch Katzmann19 »im Grunde nur für den Judenmord zu gebrauchen« (Sandkühler 1996, S. 416). Anfang Mai/Juni 1942 hatte er den nach Lemberg versetzten SS-Untersturmführer Gustav Willhaus »mit dem Aufbau eines zweiten Lagers in der Janowskastraße 134« beauftragt (Pohl 1997, S. 202), das als das »eigentliche Janowska-Lager« gilt (Jäckel; Longerich; Schoeps 1998, S. 658). Bis dahin befanden sich an der Janowskastraße 132 in Lemberg nur die Deutschen Ausrüstungswerke (DAW), die der SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer, geboren 1906 in Breslau, seit dem 1. Dezember 1941 leitete.20 Sein Stellvertreter, SS-Untersturmführer Willhaus, geboren am 2. September 1910 in Forbach/ Lothringen, war wohl schon im März 1942 nach Lemberg gekommen, wo er zunächst in der DAW für die Unterbringung der Juden und die Aufsicht über die Wachmannschaft zuständig war, bevor ihn Katzmann unter seine Fittiche nahm und ihn zum Kommandanten des neuen Zwangsarbeitslagers machte. Die DAW gehörte »als eines der größten und ältesten Unternehmen zum Kern des SS-Konzerns, der eine Vielzahl verschiedener Gesellschaften umfasste« (Schulte 1998, S. 559). Der im Frühjahr 1939 gegründete Konzern »erfuhr ab Sommer 1940 eine beispiellose Expansion« (Kaienburg 2003, S. 857ff). Fünf Jahre später »verfügte 19

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»Der ehemalige SS-General Friedrich Katzmann starb 1957 unter falschem Namen in Darmstadt. Seine Identität als Kriegsverbrecher hatte er schon länger einer Krankenschwester offenbart, die sich aber nicht verpflichtet fühlte, Katzmann anzuzeigen« (Sandkühler 1996, S. 422). Fritz Gebauer wurde am 17. Mai 1961 verhaftet und vom Landgericht Saarbrücken am 29. Juni 1971 wegen Mordes in drei Fällen zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

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die Gesellschaft über 15 Werke im Reichsgebiet und im Generalgouvernement«, die zusammen zeitweise mehr als 18.000 KZ-Gefangene beschäftigten. Auf ihrem Gelände betrieb die DAW eine Reihe von Werkstätten – Tischlereien, Schlossereien, Drechslereien, Klempnereien sowie Elektro-, Schneider-, Schuster- und Sattlerwerkstätten –, in denen etwa 500 Juden »in erster Linie für den Heereskraftfahrzeugpark Kiew« sowie »für die verschiedensten deutschen Dienststellen in Lemberg und zum Teil außerhalb Galiziens« arbeiteten, wie Gebauer bei seiner Vernehmung am 17. Mai 1961 aussagte (BAL 162/5764, Bl. 425). Mit der Errichtung des großen Janowska-Lagers mussten die DAW-Häftlinge dorthin umziehen. Gebauer, der nur mehr Betriebsleiter der DAW-Werke war, musste fortan seine Arbeiter bei Willhaus beziehen, mit dem er völlig zerstritten war: »In Kolonnen wurden sie morgens aus dem Lager von Willhaus in die DAW verbracht und abends dort wieder abgeholt«, sagte Gebauer bei einer vierstündigen Vernehmung am 17. Mai 1961 (BAL 162/5764, Bl. 427). Willhaus’ Stellvertreter wurde der 16 Jahre ältere SS-Untersturmführer Richard Rokita. Rokita hatte zuvor im Ausbildungslager Trawniki, einer kleinen Ortschaft etwa 35 Kilometer südöstlich von Lublin, ehemalige russische Kriegsgefangene für den Dienst in der Wehrmacht militärisch ausgebildet. Er blieb kaum ein halbes Jahr in Lemberg, bevor er nach Tarnopol versetzt wurde. Rokita war damit der einzige SS-Angehörige außer Willhaus »im Offiziersrang« (StAL EL 48/2 I 385, Bl. 2693).21 Drix’ Alltag bestimmte nun ein strenges, unentrinnbares militärisches Regiment aus frühem Wecken, Zähl- und Stehappellen, der täglichen Bildung von Arbeitsbrigaden, die in Fünferreihen, den Blick auf die angetretene Lager-SS ausgerichtet, in geordneten Kolonnen und unter Begleitung von Marschmusik aus dem Lager zur Arbeit marschierten. Die Lagerkapelle »komplettierte ein pervertiertes militaristisches System« schreibt Sonja Staar über die »Häftlingskapelle im Konzentrationslager Buchenwald« (Staar 1995, S. 15). Die Lebensbedingungen in Willhaus’ Reich sind entsetzlich. Es gibt »lediglich die alte Baracke« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 33), die nicht einmal »die Hälfte der Gefangenen aufnehmen« kann (ebd.).22 Wer es nicht schafft, sich abends nach dem 21

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Beide Lager werden oft miteinander verwechselt oder nicht streng genug auseinandergehalten, so auch von Zeitzeugen wie Leon Wells, der schreibt, er sei am 2. März 1942 ins »Janowska-Lager« gebracht worden. Tatsächlich dürfte es das zur DAW gehörende ZAL gewesen sein. Dafür spricht, dass er wenig später berichtet, er und seine Mithäftlinge hätten in Erfahrung gebracht, in der Nachbarschaft zur DAW sei ein neues Lager für 10.000 Häftlinge geplant: »We learned that a new concentration camp was under construction, not far from our own, and that we would be sent there. It would accommodate ten thousand men« (Wells 2014, S. 87). Auch Richard Rokita, der ab Juli 1942 stellvertretender Kommandant des Lagers war, sagte bei seinen Vernehmungen am 21. September 1960 und 9. August 1961 vor der Kriminalpolizei Waldshut, das Lager habe bei seiner Ankunft in Lemberg »nur aus einem einzelnen großen

Die Vorgeschichte

Appell einen Platz auf den »dreigeschossigen Pritschen« zu erobern, muss die Nacht auf dem Fußboden verbringen. Erst mit dem Bau der neuen Baracken verbessern sich die »Wohnbedingungen«. Die Lebensmittelrationen sind völlig unzureichend, das Essen miserabel. Morgens wird »lediglich schwarzer, ungesüßter Ersatzkaffee ausgeteilt«, mittags »bekam man eine ungesalzene Wassersuppe«, in der mitunter am Boden »einige Körnchen Graupen oder ein Krautblatt« lagen (ebd., S. 35). Abends gibt es »je einen Kanten Brot von ungefähr 120 g Gewicht und wiederum ungesüßten, schwarzen Ersatzkaffee«. Hungerödeme sind die unvermeidliche Folge. »Wer nicht heimlich Lebensmittel-Hilfe von außerhalb des Lagers erhielt, musste spätestens innerhalb von vier Wochen umkommen« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 35f.). Drix’ Mutter tut alles, um ihn bei Kräften zu halten und bringt ihm »Essen an die Kaserne der H. K. P.23 an der Pierackiego-Straße« (ebd., S. 54). Freunde, Bekannte, Familienangehörige, der Lemberger Judenrat und Hilfsinstitutionen im Ghetto versuchten, die Häftlinge mit Lebensmitteln zu unterstützen oder ihnen während Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers etwas zuzustecken. Doch ab »Mitte Oktober 1942 wurde auch dies untersagt« (Pohl 1997, S. 334). Der Hunger war dramatisch. »Nie erreichten genügend Lebensmittel die ›Jüdischen Wohnbezirke‹, und so gibt es in den Selbstzeugnissen kaum ein dominanteres Thema als den immerwährenden Hunger« (Löw 2015, S. 243f). Die deutschen Besatzer betrieben gezielt eine Politik des Hungers. Während sie für Deutsche 2310 kcal und für Polen 654 kcal pro Tag vorsahen, waren es für Juden »gerade einmal 184 kcal« (Heim; Herbert; Hollmann u.a. 2014, S. 17). Hans Frank, Hitlers früherer persönlicher Rechtsbeistand und als Generalgouverneur in Polen ihm »direkt unterstellt« (Klee 2015, S. 160), ist es gleichgültig, ob die Juden »etwas zu futtern haben oder nicht«, wie er bereits im April 1940 während einer Arbeitssitzung zu Ernährungsfragen in seinem Diensttagebuch notierte (Geiss; Jacobmeyer 1980, S. 60). Zwei Jahre später, am 24. August 1942, entscheidet seine Regierung, die Versorgung der etwa »1,5 Millionen Juden« einzustellen (VEJ 9/123). Seine Begründung: Bevor das deutsche Volk hungert, »sind die besetzten Gebiete und ihre Bevölkerung dem Hunger auszuliefern« (VEJ 9/123). Davon ausgenommen sind allein die »300.000 Juden, die noch im deutschen Interesse als Handwerker oder sonst wie arbeiten« (ebd.). Dennoch liefert das Generalgouvernement »auf Kosten der fremdvölkischen Bevölkerung« (Herv. i. O.) über das übliche Maß hinaus »noch 500.000 Tonnen Brotgetreide ins Vaterland«, um die »geradezu katastrophale Entwicklung

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Gebäude bestanden, in dem Küche sowie Waschraum und Unterkunft der Häftlinge untergebracht waren« (BAL B162 5766, Bl. 783). HKP steht für Heereskraftfahrzeugpark, wo Samuel Drix und seine Arbeitsbrigade eingesetzt waren.

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»Der Todestango«

der Ernährungslage im Deutschen Reich« zu mildern (ebd.). Wie Hans Frank betrachtete auch Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsernährungsministerium, »Juden als Belastung für die Lebensmittelversorgung« (Cesarani 2016, S. 473). Die Ernährungspolitik der Besatzer, so hat der Historiker Christian Gerlach gezeigt, war ein Mittel, den Mord an den Juden Galiziens zu beschleunigen (Gerlach 1998, S. 167ff). Die Arbeit an sechs Tagen bis zu zehn Stunden ist erschöpfend, auch wenn die »Veteranen« die Neulinge einweisen, wie sie mit ihren Kräften haushalten können. In der Lagerhierarchie stehen die Juden ganz unten. Um sie »von den Arischen zu unterscheiden, wurden die Juden mit gelben Dreiecken aus Lumpen gekennzeichnet, die Polen durch rote, die Ukrainer durch hellblaue und die Volksdeutschen […] durch weiße« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 18). Die hygienischen Verhältnisse sind unbeschreiblich. Anfangs haben die Häftlinge als Waschgelegenheit nur einen »Trog von drei Metern Länge«. Erst »gegen Ende des Jahres 1942 wird ein neuer Waschraum neben der alten Baracke erbaut« (ebd., S. 32). Wegen der Enge in den Baracken breiten sich Krankheiten wie Fleckfieber und Typhus unter den Häftlingen aus. Das Lagerspital verfügt über zwölf Betten und ist eigentlich »nur eine Krankenstube«, schreibt Drix (ebd., S. 29). Gefürchtet sind die morgendlichen Appelle vor dem Ausmarsch der Arbeitsbrigaden. Fast täglich werden Häftlinge »aussortiert« und anschließend exekutiert. Ein bei der SS beliebtes Mittel der Selektion sind Probe- oder »Todesläufe«, wie Drix sie nennt. Auch ein Orchester kommt in seiner Schilderung vor. Beängstigend ist, dass es an diesem Tag nicht wie gewöhnlich am inneren Ausgangstor steht. Ein beunruhigendes Zeichen. »Voller Spannung warteten wir auf den weiteren Verlauf der Dinge. Kurz darauf erschien Willhaus mit seinem ganzen Gefolge … Es begann das Sortieren, der Todeslauf.« Jede Sekunde wächst die Gruppe der Aussortierten. »Die SS-Männer und die Askaris24 stellten den Laufenden ein Bein«, trieben sie mit der Peitsche voran. Dann kommt Drix’ Brigade an die Reihe. Sie drängt zum Tor und tritt zum Lauf an. »Unsere Brigade war klein, sie zählte 19 Mann, vier Mann wurden vor dem Lauf aus unseren Reihen herausgeholt, der Lauf selbst gelang. Wir blieben also fünfzehn. Nach Durchlaufen der Kontrolle am äußeren Tor beeilten wir uns, um schnell in die Stadt, zur Arbeit zu gelangen. Wir waren gerettet, aber für wie lange Zeit?« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 10, Teil »Mai 1943«).

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Als »Askari« oder Trawniki wurden die in Diensten der Deutschen tätigen ukrainischen Hilfskräfte in den Konzentrationslagern bezeichnet (Pohl 1997, S. 381). Der Begriff Askari hat eine lange Geschichte, sie reicht zurück bis zu der von Hermann von Wissmann Ende der 1880er Jahre aus sudanesischen Söldnern gebildeten kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika. Ausführlich zur Geschichte der Schwarzen deutschen Kolonialsoldaten siehe (Michels 2009, S. 18ff) und (Michels 2013) sowie Thomas Morlang Askari und Fitafita (Morlang 2008).

Die Vorgeschichte

Die wenigsten hielten so lange durch wie Drix. Willkür und Gewalt der KZ-Aufseher, Hunger, Erschöpfung, Krankheiten, nahezu tägliche Selektionen und Exekutionen der nicht länger arbeitsfähigen Häftlinge dezimierten die Reihen der Arbeitsbrigaden in unvorstellbarer Geschwindigkeit. Von den 102 Menschen aus Drix’ Brigade überlebten im Laufe der Monate August und September 1942 nur sieben Häftlinge. »Der Rest war erschossen oder vor Hunger umgekommen« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 36). Das Überleben hing vielfach von der Art und dem Ort des Arbeitseinsatzes ab. Juden, die in Rüstungs- oder Wehrmachtsbetrieben beschäftigt waren, mussten ab November 1942 ein »R« (»Rüstungsjuden«) und »W« (»Wehrmachtsjuden«) auf der »linken Brustseite in Taschenhöhe annähen« (VEJ 9/172). Wer wie der spätere »Nazi-Jäger« Simon Wiesenthal in den Ostbahn-Ausbesserungswerken beschäftigt war, konnte hoffen, Deportationen zu entgehen. Wiesenthal nannte die Ostbahn in seinem Buch Doch die Mörder leben eine »Insel der Vernunft in einem Meer des Wahnsinns« (Wiesenthal 1967, S. 41), die fünfzig deutschen Beamten unter Heinrich Günthert hätten sich »gegenüber Polen und Juden gleichermaßen korrekt« verhalten (ebd., S. 42). Am 16. September 1942 intervenierte die Ostbahn zugunsten ihrer jüdischen Zwangsarbeiter (VEJ 9/139). Damals waren »insgesamt 23.951 jüdische Arbeiter für die Ostbahn tätig, von denen etwa ein Drittel vornehmlich in den Ostbahn-Ausbesserungswerken und zwei Drittel für Firmen arbeiten, die die Leistungsfähigkeit des Streckennetzes erhalten oder erhöhen sollten. Würde man sie plötzlich abziehen, könne weder das Streckennetz ausgebaut noch die Reparatur und Wartung der Lokomotiven gewährleistet werden. Monatlich 30 Züge drohten auszufallen mit entsprechenden Nachteilen für die Front«, malte das Schreiben aus. Die Ostbahn bat daher darum, die »Aussiedlung der Juden so lange aufzuschieben, bis vollwertiger Ersatz […] vorhanden ist« (VEJ 9/139). Solche Interventionen waren nicht ohne Risiko. Wer wie die Ostbahn auf jüdische Arbeitskräfte nicht verzichten wollte oder konnte, setzte sich bei Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), dem Verdacht aus, sich nicht ernsthaft genug um andere Arbeitskräfte zu bemühen. »Vor allem vonseiten der Wirtschaft [würden] in zahlreichen Fällen Juden als unentbehrliche Arbeitskräfte reklamiert,« beklagte er sich Anfang Oktober 1942 (VEJ 7/199). Das würde »den Plan einer totalen Aussiedlung der Juden aus den von uns besetzten Gebieten zunichte machen« (ebd.). Auch seinen Dienstherrn, Reichsführer-SS Heinrich Himmler, konnte die Ostbahn nicht umstimmen. Am 9. Oktober 1942 ordnete er an, dass im Generalgouvernement anstelle von Juden polnische Arbeiter einzusetzen seien. »Die Juden, die sich in wirklichen Rüstungsbetrieben, also Waffenwerkstätten, Autowerkstätten usw. befinden, sind Zug um Zug herauszulösen« (VEJ 9/159). Drix hat Glück, zumindest vorübergehend. Er kommt in der Brigade des Heereskraftfahrzeugpark (HKP) unter, deren Beschäftigte in wichtigen Betrieben und

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»Der Todestango«

Werkstätten der Wehrmacht tätig sind. Drix ist sich sicher, dass »sie unsere Brigade nicht auflösen, weil sie eine von den wichtigsten war« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 15, Teil »August 1942«). Mitglieder dieser Brigade gehören zu den privilegierten Häftlingsgruppen und damit zur »Aristokratie des Lagers« (Sandkühler 1996, S. 189). Die HKP-Brigade hatte »eine besondere, und zwar die beste Baracke, eigene Ordner, nummerierte Plätze auf den Pritschen, Strohsäcke. Es war ihnen gestattet, eigene Wolldecken oder Steppdecken zu besitzen. Sie hatten auch das Recht, zu erkranken und in das Lagerspital eingewiesen zu werden, welches damals speziell aus Baracken an der Janowska-Straße geschaffen wurde« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 25, Teil »August 1942«). Ökonomische Erwägungen setzten sich in der SS-Führung selten gegen ihren Vernichtungsfuror durch, während die Juden in den Ghettos und Lagern glaubten, Vernunfterwägungen könnten die Oberhand über ideologische Imperative behalten. Weil »die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten ›nur‹ die nicht arbeitenden Juden« betraf, schien »Arbeit der einzige zumindest temporäre Schutz vor dem Abtransport in die Vernichtung« (Löw 2014, S. 301). Niemand, so glaubten die Juden, werde seine Arbeiter vernichten. Dafür sprach auch die Tatsache, dass die Handwerker in Galizien fast ausnahmslos Juden waren, sie also den Großteil der für die deutsche Kriegswirtschaft wichtigen Facharbeiter stellten. Vor diesen Hintergrund sind die Hoffnungen und Anstrengungen des Lemberger Judenrats zu verstehen, »durch die ›Produktivierung‹ der jüdischen Einwohner so viele Gemeindemitglieder wie möglich vor der Ermordung zu schützen« (Sandkühler 2020, S. 178) Doch diese Hoffnung ging nicht auf, vielmehr führte diese fatale Logik dazu, dass die Judenräte an der Ermordung der eigenen Gemeinde mitwirkten. Denn die Judenvernichtung ging »mit unvermindertem Tempo und ohne Rücksicht auf kriegswirtschaftliche Erfordernisse weiter« (Sandkühler 1996, S. 184): Dem HSSPF Friedrich-Wilhelm Krüger und SSPF Friedrich Katzmann war »die Ausrottung der Juden […] vordringlicher als alles andere« (Rüter; de Mildt 1998, S. 17). Als am 27. Juli 1942 etwa 10.000 Juden in Przemyśl (Distrikt Krakau) ins Vernichtungslager Bełżec deportiert werden sollten, sei es »fast zu einer Schießerei zwischen SS und Wehrmacht [gekommen], als diese ihre Arbeiter zu schützen versuchte« (Sandkühler 2020, S. 185). Allein zwischen April und November 1942 seien »254.989 Juden aus- bzw. umgesiedelt«, d.h. vergast oder erschossen worden, vermeldete Galiziens SSPF Friedrich Katzmann am 30. Juni 1943 (IMT 1949a, S. 398). Ebenso rücksichtslos zeigte sich Katzmann bei einem seiner wichtigsten Projekte, dem Ausbau der Durchgangsstraße IV (DG IV) oder Rollbahn Süd. Diese »Hauptnachschublinie der Heeresgruppe Süd« (Angrick 2008, S. 192) erstreckte sich über etwa 2175 Kilometer von Lemberg nach Taganrog am Schwarzen Meer. Mitte Oktober 1941 hatte Katzmann mit dem Ausbau von Zwangsarbeitslagern entlang der Rollbahn Süd begonnen, die zu einem der »größten Zwangsarbeitskomplexe Europas«

Die Vorgeschichte

werden sollten (Pohl 2002, S. 215). Nach wenigen Wochen seien bereits sieben Lager fertig gewesen, die mit »4000 Juden belegt wurden« (IMT 1949a, S. 393). Zuvor hatte die SS zunächst sowjetische Kriegsgefangene eingespannt, von denen es ihrer Meinung nach unbegrenzt viele gab (Angrick 2008, S. 202). Da sie sich aber als wenig produktiv erwiesen und nicht dazu beitrugen, die Ziele der Deutschen auch nur halbwegs zu erreichen, besann sich die SS auf noch lebende Juden in der Ukraine, die sie bis dahin nur vereinzelt beim Bau der DG IV eingesetzt hatte. Juden wurden nun zu Tausenden »willkürlich bei Razzien aufgegriffen« (Rüter; de Mildt 2003, S. 664) und in die Zwangsarbeitslager verfrachtet, wo sie »unter elenden Bedingungen beim Straßenbau schwere Arbeit verrichten mussten« (ebd.). Die Lager entlang der DG IV waren äußerst primitiv und mit der einfachsten Ausstattung versehen. Schon bald konnte Katzmann dem Höheren SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement Friedrich-Wilhelm Krüger25 melden, dass »in kürzester Frist 15 derartige Lager« entstanden seien, in denen »im Laufe der Zeit rd. 20.000 jüdische Arbeitskräfte« eingesetzt wurden (IMT 1949a, S. 393). Am Ende, so verkündete Katzmann in seinem berüchtigten und prahlerischen Bericht vom 30. Juni 1943, »können heute rd. 160 km Straße als fertiggestellt gemeldet werden« (ebd.) – was angesichts der Gesamtlänge von mehr als 2000 Kilometern »in Wirklichkeit eine lächerliche Leistung« war (Cesarani 2016, S. 750). Ein Grund für das dürftige Ergebnis lag zweifellos in der Tatsache, dass Katzmann und seine SS-Schergen die DG IV auch zu dem Projekt machten, »das im Spätsommer 1941 faktisch die systematische Vernichtung von Juden durch Sklavenarbeit einleitete« (Friedländer 1998, S. 242). Kurz nach der Liquidierung des Lemberger Ghettos flieht Samuel Drix aus dem Lager. Es ist der 24. Juni 1943. An seiner Seite sind Pfeffer, ein »Mann von über 40 Jahren mit einem klugen und guten Gesicht, physischer Kraft, er war früher Landwirt und Kaufmann in der Gegend von Zloców«, und Icek, ein 20-jähriger »Jüngling, gut und kräftig gebaut, mit hellen Haaren und blauen Augen, mit einem Wort, von arischem Aussehen«. Drix liegt genau dazwischen, er ist jetzt 31 Jahre alt. Das Trio will sich nach Bialy Kamień durchschlagen, wo Pfeffer viele Bekannte hat, Bauern vor allem, die »gutmütige Menschen sind«. Am Morgen des 24. Juni »kleide ich mich im Abort an, damit niemand bemerkt, dass ich drei Hemden, zwei Unterhosen und zwei Paar Socken anziehe.« Wie gewöhnlich gehen die drei mit den anderen zur Arbeit. »Um 17.30 Uhr machen wir uns nach einem kurzen Gebet auf den Weg.« Damit endet sein Tagebuch. Wie Samuel Drix, Pfeffer und Icek den »dornenreichen« Weg in die Freiheit fanden und die Zeit bis zum Eintreffen der Roten Armee überlebten, schildert er nicht. Als 25

Krüger gilt als »nach Kriegsende verschollen« (Rückerl 1979, S. 48). Er soll am 10. Mai 1945 verstorben sein. Laut Ernst Klee beging er an diesem Tag Suizid (Klee 2015, S. 343).

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die Rote Armee Lemberg am 27. Juli 1944 von den deutschen Besatzern befreite, hatten von den »ursprünglich mindestens 500.000 Juden in Galizien [.] nur einige Hundert überlebt« (Rüter; de Mildt 2003, S. 669).26 Wie viele davon allein im Janowska-Lager oder auf dem Erschießungsgelände »Sand« umkamen, lässt sich nicht eindeutig sagen. Filip Friedman schätzte auf der Basis sowjetischer Zahlen, dass die Deutschen »mehr als 200.000 Menschen, überwiegend Juden«, im Janowska-Lager ermordeten (Friedman 2014, S. 54).27 Thomas Sandkühler schreibt, dass es zwischen 35.000 bis 80.000 waren, »sehr wahrscheinlich erheblich mehr«.

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Über die Zahl der Überlebenden gibt es unterschiedliche Angaben. Friedländer schreibt, von den einst 160.000 Juden in Lemberg hätten nur 3400 die deutsche Besatzung überlebt (Friedländer 2006, S. 464). Friedman folgt damit dem zusammenfassenden Protokoll der Außerordentlichen Staatlichen Kommission vom 1. bis 6. November 1944. Sie hielt es aufgrund der Untersuchung der Leichenfundorte und der Aussagen ehemaliger Mitglieder der Todesbrigade – Manusewitsch, Korn, Chamaides und Wells – für erwiesen, dass im »Sand« und Janowska-Lager »mehr als 200.000 Menschen erschossen und auf andere Weise umgebracht und vernichtet worden« sind (BAL 162/29309, Bl. 31).

Entstehung

Der Todestango nimmt Gestalt an »Fast drei Jahre – 1100 Tage und Nächte – dauerte die schwarze Nacht der deutschen Besatzung in der Westukraine« (Honigsman 2001, S. 296). Nachdem die Sowjets Galizien zunächst besetzt hatten und die Rote Armee vor der deutschen Wehrmacht überstürzt den Rückzug antreten musste, kehrte sie nun als Befreier nach Lemberg zurück. Die »Morgenröte der Befreiung« (ebd.) erlebte die Ukrainerin Kazimiera Poraj, deren jüdischer Mann im Janowska-Lager war, als »glücklichste[n] Tag meines Lebens«, notierte sie am 24. Juli 1944 in ihrem Tagebuch (VEJ 9/291). »Heute vor dem Abend marschierten Truppen der Roten Armee in die Stadt ein. Frau Frage und ihre Töchter überhäufen mich mit Küssen.« Glücklich war der Tag für sie vor allem deshalb, weil sie Gewissheit hatte, dass »mein geliebter Mann am Leben ist« und sie »drei Frauen das Leben gerettet hat« – Frau Frage und ihren Töchtern. Anders als vor drei Jahren, als sich die sowjetischen Truppen als Befreier feiern ließen, fiel der Empfang andernorts in Galizien recht verhalten aus. »Totenstille« habe geherrscht, als die Verbände am frühen Morgen in die Stadt rollten, schreibt Zoriana Rybchynska über den Klang der befreiten Stadt (Rybchynska 2018, S. 133). Niemand habe die Soldaten wie noch im Herbst 1939 begrüßt, niemand sich »Illusionen über das Regime gemacht« (ebd.), die Fenster blieben geschlossen. Dafür wurden jetzt die Stimmen laut, die Zeugnis über die Verbrechen der Deutschen ablegen wollten und sollten. Im August und September 1944, nur wenige Wochen nach der Ankunft der Roten Armee, erschienen »in den Städten der Gebiete Lwów, Stanislau, Drohobycz, Tarnopol und in Wolhynien Aufrufe, wonach sich Juden und Vertreter anderer Nationalitäten, die während der deutschen Besatzung verfolgt worden waren, zur Registrierung in den ›Komitees der Außerordentlichen Kommission zur Untersuchung der Verbrechen der deutschen Besatzer‹ melden sollten«, schreibt Honigsman.

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In Lemberg hätten sich im Laufe des Monats August etwa 800 Personen, in Drohobycz und Stanislau jeweils 150, in Tarnopol 126, in Zolkiew 74 und in Boryslaw 100 Juden gemeldet (Honigsman 2001, S. 297). Einer von ihnen war Moische Samoilovic Korn, geb. 1892 in Lemberg. Er trug am 13. September 1944 dem Stellvertreter des Staatsanwalts beim Bezirksgericht, dem »Genossen G. L. Kornil«, seine Leidensgeschichte vor. Kornil sowie die »Genossin E. A. Kalinina«, Untersuchungsrichterin der Staatsanwaltschaft des Bahnbezirks in der Ukrainischen SSR, und Kopejko, Stellvertreter des Bezirksstaatsanwalts von Lemberg, gehörten neben anderen zu den Beamten der Staatsanwaltschaften, in deren Hände die Kommission die eigentliche Untersuchungs- und Vernehmungsarbeit gelegt hatte. Der Zeuge Korn, der nun vor Kornil stand, war der Sohn eines Arbeiters, von Beruf Fuhrmann, ein einfacher Mann mit geringer Bildung. Das Vernehmungsprotokoll vermerkt »Analphabet« (BAL B 162/29309, Bl. 262).1 Korn gibt an, er sei mit seiner Frau und seinen Kindern im August 1941 ins Janowska-Lager gekommen, tatsächlich jedoch dürfte es August 1942 gewesen sein. Denn das Janowska-Lager entstand erst im Juni/Juli 1942. Mit ihm seien »fünfbis sechstausend Menschen ins Lager geschafft« worden (ebd., Bl. 263), was einen deutlichen Hinweis auf die mörderische Aktion im August 1942 gibt, die das Janowska-Lager zum »zentralen Arbeits- und Vernichtungslager im Distrikt Galizien« machen sollte (Pohl 1997, S. 202f). Im Lager trifft er überraschend auf einen alten Weggefährten, einen »gewissen Rokita«, der in »meiner Person einen Ulanen von 1914« erkannte. Der damals 22-jährige Jude Korn und der 20 Jahre alte Richard Rokita hatten demnach im Ersten Weltkrieg Seite an Seite für das Kaiserreich gekämpft. Dieser Begegnung verdankten er, seine Frau und seine beiden Kinder Femo und Benno das Überleben. Ihn machte Rokita zum Kommandanten des Pferdestalls, in dem sich damals gut 20 Pferde befunden haben sollen, und gab ihm seinen Bruder Severn Samoilovic zum Gehilfen. Ab dem »Sommer 1943« gehörte er der Todesbrigade oder dem Sonderkommando 1005 an, das die Leichen erschossener Häftlinge ausgrub und verbrannte, um so die Spuren der Massenverbrechen zu beseitigen. Er erläuterte, dass das Lager damals aus »zwei ungleichen Hälften [bestand], und zwar einem Männerlager und einem Frauenlager« (BAL B 162/29309, Bl. 263), schilderte die täglichen Selektionen der »besonders schwachen Menschen« beim Morgenappell und wie mit Todesläufen »systematisch […] die Vernichtung von Menschen« betrieben wurde (ebd., Bl. 266). Er nennt die Namen von SS-Männern wie SS-Scharführer Schönbach, der sich durch »besonders brutales Verhalten hervorgetan« hat (ebd., Bl. 264) und beantwortet auch eine Frage gewissenhaft, die Kornil ihm unvermittelt stellt: »Sagen Sie Korn, was wissen Sie über die Existenz des Lagerorchesters?« Seine Antwort: 1

Jan Gross schreibt, dass im Jahr 1931 »schätzungsweise ein Viertel der polnischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben« konnte (Gross 1988, S. 21).

Entstehung

»Das Lagerorchester existierte seit dem Sommer 1942 und setzte sich aus Professoren der Lemberger Musikhochschule zusammen. Insgesamt 40 Personen haben der Orchestertruppe angehört, von ihnen kannte ich den Dirigenten Striks und die Professoren Roman, Schatz, Jakub und Willig. Das Orchester spielte zweimal täglich vor dem Abmarsch der Lagerbewohner zur Arbeit und bei ihrer Rückkehr. Darüber hinaus wurde die Truppe gezwungen, während der Massenerschießungen zu spielen. Wann die Angehörigen des Orchesters erschossen worden sind, vermag ich nicht zu sagen, denn zu diesem Zeitpunkt befand ich mich nicht mehr im Lager. Ich habe aber gehört, dass ihre Exekution bei der Liquidierung des Lagers erfolgt sein soll« (ebd., Bl. 267). Die Musikkapelle scheint Kornil nicht so sehr interessiert zu haben, um ihn zu Nachfragen zu bewegen: Woher kannte der »Analphabet« Korn den »Dirigenten Striks und die Professoren Roman, Schatz, Jakub und Willig« beim Namen? Wer hatte das Orchester gegründet und wo war es untergebracht? Überhaupt zeigten sich die Vernehmungsbeamten wenig aufgeschlossen für präzisere Details des Lagerlebens, etwa, wie viele Baracken es gab und wie viele Häftlinge jeweils in den Baracken untergebracht waren oder gar, wie es den Gefangenen in dieser Hölle möglich war, zu überleben. Stattdessen fuhr er nüchtern fort und fragte Korn, was er über das Schicksal der 36 Professoren wisse.2 Gut eine Woche später, am 21. September 1944, machte Moische Korns vier Jahre jüngerer Bruder Severn Samoilovic ebenfalls vor dem Genossen G. L. Kornil seine Aussage. Severn Samoilovic war »vor und nach der Revolution Fuhrmann«, Arbeiter, »des Lesens und Schreibens wenig kundig« (BAL B 162/29309, Bl. 275). Er kam am 10. August 1942 ins Lager, arbeitete mit seinem Bruder im Pferdestall und konnte mit ihm im Oktober 1943 fliehen. Auch ihm stellte Kornil die Frage, was er »von der Existenz einer Orchestertruppe im Lager« wisse. Sehr viel mehr als sein Bruder kann er dazu nicht beitragen: »Ein aus Musikprofessoren bestehendes Orchester hat es im Lager tatsächlich gegeben. Es wurde von Prof. Striks geleitet. Als ich im Oktober 1943 aus dem Lager floh, hat die Orchestertruppe noch existiert« (Bl. 278). Am selben Tag wie Severn Samoilovic Korn trat ein weiterer Überlebender vor Kornil, um auszusagen. Karol Ignatovic Schal (Szal), geb. 1898. Schal3 war etwa zur gleichen Zeit wie die Brüder Korn am 10. August 1942 ins Janowska-Lager gekommen, also während der mörderischen Augustaktion, bei der die Deutschen Tausende Juden im Lemberger Ghetto und im Janowska-Lager ermordeten. Auch seine 2

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In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1941 wurden etwa 70 polnische und jüdische Wissenschaftler mit ihren Familien verhaftet und kurz darauf erschossen. Siehe: (Honigsman 2001, S. 140) und (Schenk 2007). Neben den biografischen Angaben zur Person Schal ist handschriftlich der Name »Szal« vermerkt.

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Frau Betty und die beiden Töchter wurden an diesem Tag ins Vernichtungslager Bełżec deportiert. Als er das erste Mal ins Lager kam, »gab es dort nur eine einzige Baracke, in der etwa fünftausend Menschen lebten« (BAL B 162/29309, Bl. 338). Auch Schal berichtete über das Lagerorchester und wie es entstanden sein soll: »Während meines Aufenthaltes im Lager war Untersturmführer Gustav Willhaus Kommandant. Sein Vertreter war Untersturmführer Rokita. Dieser Rokita hatte bis 1939 als Trommler in der Orchestertruppe von Professor Striks gespielt, von Nationalität war er Pole. Später holte er Professor Striks und die gesamte Orchestertruppe ins Lager. Vor seiner Verhaftung und Einweisung ins Lager hatte Striks dem jüdischen Polizeiorchester angehört, aus welchem ihn Rokita [einfach] herausnahm. Diesen Sachverhalt weiß ich von Striks selber, wir haben uns nämlich im Lager oft gesehen« (ebd., Bl. 339). Obwohl dem stellvertretenden Staatsanwalt Kornil nun drei verschiedene Berichte ehemaliger Häftlinge über das Lagerorchester vorlagen, versuchte er nicht, etwaige Widersprüche aufzuhellen. Er fragte nicht nach, wo im Lager sich die Wege von Schal und dem Orchesterleiter Striks gekreuzt hatten. Auch andere nahe liegende Fragen überging er. Jedenfalls ist davon nichts im Vernehmungsprotokoll vermerkt: Wie kam er darauf, Rokita als Polen zu bezeichnen? Und was hatte der »Volksdeutsche« Rokita, der seit dem 1. Mai 1932 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) war und seit dem 5. September 1932 der SS angehörte, in einem »jüdischen« Polizeiorchester bzw. der »Orchestertruppe von Professor Striks« verloren, wie Schal behauptete? Konnten die Musiker üben und proben, während die anderen Häftlinge an sechs Tagen zwischen zehn und zwölf Stunden Zwangsarbeit verrichten mussten? Spielten sie nur beim Aus- und Einmarsch der Arbeitsbrigaden oder auch bei anderer Gelegenheit? Wer hatte das Orchester gegründet und wo war es untergebracht? Schal hätte womöglich auch darauf Antwort geben können – wenn man ihn gefragt hätte. Über die Gründung und den Gründer des Orchesters machte am 21. September und 22. September 1944 noch ein anderer Zeuge eine Aussage, allerdings vor der Staatsanwältin Sevcova. Es handelte sich um »Leib Abramovic Velycker«, dessen Stand mit »Angestellter« angegeben wird. Als Leon Wells und Autor des Buches Die Todesbrigade sollte er schon kurz danach Bekanntheit erlangen.4 Wells kam nach eigenen Angaben am 3. März 1942 ins Lager, aus dem er am 10. Juni 1942 fliehen konnte. Der Staatsanwältin Sevcova berichtete er, dass Rokita »am 20. April 1942 […] als Vertreter von Willhaus ins Janovs’kij-Lager« kam. »Rokita stammte aus Kattowitz und war Musiker« (BAL B 162/29309, Bl. 352). Ein Orchester oder einen To4

Leon Weliczker wanderte Anfang der 1950er Jahre in die USA aus und nannte sich seitdem Leon W. Wells. Im Weiteren wird er hier als Leon W. Wells oder Wells aufgeführt, mit Ausnahme seines Buchs Die Todesbrigade, das 1958 unter dem Namen Leon Weliczker erschien.

Entstehung

destango erwähnte er nicht. Doch ein Jahr nach seiner geglückten Flucht, so fuhr er in seiner Zeugenaussage fort, kommt er am 3. Juni 1943 erneut ins Janowska-Lager. Dieses Datum hat sich ihm unauslöschlich eingeprägt, denn »an diesem Tag wurden dort meine zwei Brüder erschossen« (ebd.), seine vier Schwestern waren im September 1942 bei einem Kesseltreiben in seiner Heimatstadt Stojanov in die Fänge der Gestapo geraten und in Bełżec ermordet worden (ebd., Bl. 353). Doch zwischen seiner ersten und jetzigen Haft hat sich im Janowska-Lager vieles verändert. An der Spitze des Lagers stand nun SS-Hauptsturmführer Friedrich Warzok, der Gustav Willhaus abgelöst hatte und zu dieser Zeit 40 Jahre alt war. Und es gab ein Lagerorchester. »Warcuk«, so erläuterte Wells der Staatsanwältin Sevcova, »sollte die Liquidation des Lagers durchführen. Mir ist bekannt, dass er nicht nur das Janovs’kij-Lager leitete, sondern Führer von zwei weiteren Lagern war, die beide liquidiert werden sollten […]. Außerdem hatte er ein Lagerorchester organisiert. Die Musik sollte das Stöhnen und Schreien der geplagten Kreatur übertönen« (ebd., S. 359). Auch hier fragte die Staatsanwältin nicht nach, woher er die Sicherheit nimmt, dass Warzok das Orchester gegründet habe. Wells’ Zeugnis ist bemerkenswert. Dass es einen neuen Lagerleiter und zugleich ein Orchester gab, das bei seinem ersten Aufenthalt im Lager nicht existiert hatte, konnte er sich offenbar nicht anders erklären, als dass Friedrich Warzok der Gründer sein musste. Man kann davon ausgehen, dass er nicht der Einzige war, der zwischen Fakten und Mutmaßungen, zwischen selbst Erlebtem und Gehörtem, zwischen Tatsachen und Schlussfolgerungen nicht immer einen scharfen Trennstrich zog. Über das Lagerorchester berichteten noch viele weitere Zeugen. So zum Beispiel Rachel A. Weniger, geb. 1923 in Rawa-Russkaja, die am 14. September 1944 vor der Untersuchungsrichterin der Staatsanwaltschaft des Bahnbezirks in der Ukrainischen SSR, »Genossin E. A. Kalinina«, aussagte. Wann sie im Lager war, wird nicht recht erkennbar, doch zu ihrer Zeit seien »unter den annähernd 10.000 Gefangenen« die verschiedensten Nationalitäten vertreten gewesen. Sie habe »die Wäsche der Gefangenen waschen müssen« (BAL B 162/29309, Bl. 370). Weniger berichtet, dass die Gefangenen schwer misshandelt wurden. »Täglich brachte man einen Teil von ihnen um und ergänzte sofort den Bestand mit Neuzugängen« (ebd.). Namentlich nannte sie die »Gewaltverbrecher« – Engels, Katzmann, Rokita, Gebauer und Weber –, die »meine ganze Familie umgebracht« haben (ebd., Bl. 371). Und sie streifte am Rande auch das Lagerorchester: »Bei jeder Massenerschießung, die die Deutschen vornahmen, spielte eine Musikkapelle. Diese Kapelle bestand aus denjenigen Gefangenen, die ein Instrument spielen konnten« (ebd.).

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»Der Todestango«

Auch Richarda Kirschner, geb. 1913, die ebenfalls vor der Untersuchungsrichterin Kalinina aussagte, kommt auf das Lagerorchester zu sprechen, obwohl sie nicht selbst im Janowska-Lager war. Aber ihr war einiges zu Ohren gekommen und sie teilt auch mit, wer es ihr zugetragen hatte: »Über alle Gewalttaten und Erniedrigungen kann Helfand genaue Aussagen machen, da er im Janowski-Lager [sic!] gewesen ist und [auch] um die von SS-Mann Rokita begangenen Verbrechen weiß«, versicherte sie (BAL B 162/29309, Bl. 259). Über die Musikkapelle sagte sie: »Während sämtlicher Exekutionen spielte ein aus Juden bestehendes Orchester, und es kam vor, dass ein Musiker spielen musste, während vor seinen Augen seine Mutter oder seine Schwester erschossen wurde. Später sollen alle Angehörigen der Orchestertruppe erschossen worden sein« (ebd., S. 260). Wie die Brüder Korn kam Joseph Mendel Gerner, geb. 1903 und von Beruf Buchhalter, während der großen Augustaktion 1942 ins Janowska-Lager. Zu diesem Zeitpunkt seien »ungefähr 12.000 jüdische Zivilisten gefangen gehalten« worden (ebd., Bl. 212). Im Juli 1943 konnte er fliehen, wurde aber kurz darauf wieder aufgegriffen, zurück ins Lager verfrachtet und dem Sonderkommando 1005 zugeteilt. Seinen Bericht nahm am 23. September 1944 der Stellvertreter des Bezirksstaatsanwalts von Lemberg, Kopejko, entgegen: »Im Lager gab es eine Orchestertruppe, der überwiegend Professoren angehörten; ich erinnere mich an die Namen Wolfstal, Striks mit Sohn, Hermann und Fischer. Im Ganzen waren es wohl etwa 30 Personen. Die Truppe spielte immer, wenn wir zur Arbeit gingen. Außerdem war am Lagerausgang, neben dem Tor, eine Tanzfläche, und einmal, als wir zur Arbeit gingen, suchte der Lagerleiter Willhaus zwei alte Juden aus, ließ ihnen eine besondere Bekleidung geben, dem einen Schirm und dem anderen einen Hut, und zwang sie dann, zur Musik zu tanzen. Das hat sich in der Folgezeit noch etwa achtzehnmal wiederholt, bis er schließlich die beiden Greise erschoss« (ebd., Bl. 214). Vor Kopejko stand vier Tage später, am 25. September 1944, Michael Joseph Wind, geb. 1905 und von Beruf Elektrotechniker, der einen Bericht über die Orchestertruppe gab, der Kopejko hätte bekannt vorkommen müssen: »Wir waren insgesamt 40 Personen, die zur Arbeit in das Sägewerk mussten. Wenn die Polizei des Morgens die Menschen zur Arbeit trieb, spielte auf dem Hof eine Orchestertruppe. Dieser Truppe gehörten überwiegend Professoren, im Ganzen ungefähr 30 Personen, unter ihnen Wolfstal, Hermann und Striks mit Sohn an. Die Namen der übrigen sind mir entfallen.« Genau diese drei Namen hatte bereits der Buchhalter Joseph Mendel Gerner vor Kopejko genannt. Was seine Aussage aber von der Michael Joseph Winds unterschied: Bei Gerner spielte das Orchester im Janowska-Lager, bei Wind im Lemberger Rest-

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Ghetto, in dem sich nach seinen Worten »damals etwa 25.000 Juden« befanden und das SS-Hauptscharführer Josef Grzimek und sein Stellvertreter SS-Sturmmann Ernst Heinisch leiteten. Beide hatten im Februar oder März 1943 das Kommando über das »Judenlager« übernommen, zu dem das Ghetto vom 5. bis 7. Januar 1943 in einem »weiteren Vernichtungsschlag« umgewandelt worden war (Sandkühler 1996, S. 225). Und auch hier dringt Kopejko nicht auf eine Klärung, wo das Orchester tatsächlich spielte oder ob der Zeuge womöglich das »Judenlager« und Janowska-Lager verwechselte, was wohl wegen der räumlichen Nähe bei einigen Zeugen vorkam.5 Alle diese Aussagen und weitere hier nicht angeführte spielten 21 Jahre später im Lemberg-Verfahren vor dem Landgericht Stuttgart eine Rolle. Angeklagt waren 16 ehemalige SS-Leute und als einzige Frau Elisabeth Hansberg, die Ehefrau des Lagerkommandanten Gustav Willhaus, die drei Jahre nach dem Tod ihres Ehemannes erneut geheiratet hatte. Ihnen warf die Anklage vor, an der »Endlösung der Judenfrage« in Galizien zwischen dem 1. August 1941 und Ende Juli 1944 in Lemberg mitgewirkt zu haben und »Menschen teils grausam und heimtückisch oder aus sonst niedrigen Beweggründen wie nationalsozialistischer Rassenhass,« getötet zu haben (StAL EL 317 III Bü 1538, S. 7). Im Zuge dieses Verfahrens hatte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft im Wege eines Rechtsmittelersuchens von den russischen Behörden die Vernehmungsprotokolle der Außerordentlichen Staatlichen Kommission angefordert und ein Konvolut von mehr als 400 Seiten erhalten, die zunächst ins Deutsche übersetzt werden mussten. Die meisten Berichte und Zeugenaussagen stammten aus dem Jahre 1944, einige aus den Jahren 1965–1968. Vernommen wurden nicht nur Überlebende des Holocaust, sondern auch Täter wie der Oberwachtmeister Alfred Brödler, geb. 1909, und sein Kamerad Martin Kazmierzak, geb. 1909 in Berlin, die dem 7. Polizeibataillon angehört hatten und später als Teil des Sonderkommandos 1005 an Erschießungen jüdischer Häftlinge beteiligt waren. Sie wurden allerdings erst zwischen Oktober 1947 und Januar 1948 vernommen, zu einem Zeitpunkt, als die Kommission ihre Arbeit bereits beendet hatte.

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Zum Beispiel bei Rachel A. Weniger, geb. 1923, die bei ihrer Aussage am 14. September 1944 angab: »Im September 1942 richteten die Deutschen das Lemberger Ghetto ein, in dem die Juden der Stadt leben mussten. Im Jahr 1943 bestand im Ghetto bereits das Arbeitslager. Ich habe selbst in dem Lager gearbeitet« (BAL B 162/29309, Bl. 370). In der Erinnerung vieler Überlebenden hat sich offenbar der 7. September 1942 als der Tag eingeschrieben, an dem das Ghetto eingerichtet wurde. Tatsächlich entstand es schon im November/Dezember 1941, aber im September 1942 wurden die noch am Leben gebliebenen etwa 65.000 Juden »in das verkleinerte und anschließend abgeriegelte Ghetto gepfercht« (Sandkühler 1996, S. 222). Auch die Zusammenfassung der ASK folgte diesem Datum: Danach bestand das Ghetto vom 7. September 1942 bis zum 6. Juni 1943. In dieser Zeit seien »alle seine Bewohner, und zwar insgesamt mehr als 136.000 Menschen, darunter Kinder und Greise, von den deutsch-faschistischen Gewaltverbrechern vernichtet worden« (BAL B 162/29309, Bl. 32).

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»Der Todestango«

Bemerkenswert ist, dass keiner der 1944 vernommenen Zeugen einen Todestango anspricht und nur der ehemalige Häftling Schal Rokita als denjenigen identifizierte, der das Orchester ins Lager holte. Nur drei Zeugen (Leon Wells, Wolf Schächter und Schal) sprechen von ihm als Musiker. Da Schächter am 3. Juni 1943 ins Janowska-Lager kam, als Rokita bereits seit mehr als sechs Monaten ein Zwangsarbeitslager in Tarnopol leitete, dürfte seine Kenntnis vor allem auf Gehörtem beruhen. Was aber noch wichtiger ist: Niemand hat Rokita, der in späteren Darstellungen immer wieder als Geiger bezeichnet wird, je Violine oder ein anderes Musikinstrument spielen sehen oder auch nur davon gehört, dass er Geiger gewesen sei. Wenn er mit einem Musikinstrument in Verbindung gebracht wird, so ist es die Trommel in der Schilderung von Schal. Wirklich virtuos soll er nach den Zeugnissen etlicher Häftlinge dagegen mit dem automatischen Karabiner umgegangen sein. Tag für Tag habe der Stellvertreter des Lagerkommandanten, SS-Untersturmführer Rokita, »vor dem Frühstück eigenhändig 50 bis 60 Menschen erschossen, erst dann konnte er frühstücken«, wie der Häftling Asch vor der Kommission aussagte (BAL B 162/29309, Bl. 27). Rokita selbst hielt keineswegs hinterm Berg, was seine Fähigkeiten im Umgang mit Waffen betraf: »Ich war ein sehr guter Pistolenschütze und habe eine Ausbildung schon bei der Wehrmacht erhalten«, sagte er bei seiner Vernehmung am 13. November 1961 vor dem Amtsgericht Waldshut (StAL EL 48/2 I 385, Bl. 2695). Was die Untersuchungsrichter und Staatsanwälte E. A. Kalinina, G. L. Kornil, Kopejko und andere an Zeugenaussagen zusammengetragen hatten, fasste die Lemberger Sonderkommission etwa fünf Wochen später in einem rund 30 Seiten langen Protokoll unter dem Datum »Lemberg den 1.-6. November 1944« zusammen. Obwohl die Hinweise zum Lagerorchester spärlich und widersprüchlich waren, ferner kein im Spätsommer und Herbst 1944 vernommener Zeuge von einem Todestango sprach, war sich die Sonderkommission ihrer Sache sicher: »Die Deutschen stellten ein Lagerorchester auf, dem die besten und talentiertesten Musiker der Stadt angehörten. Das Orchester leiteten der Musikprofessor Striks und der bekannte Dirigent Mund. Den Komponisten des Orchesters befahlen die Deutschen, eine besondere ›Exekutionsmelodie‹ zu schreiben. Sie wurde auch geschrieben und auf Befehl der Hitlersadisten wurde sie ›Tango des Todes‹ genannt. Die deutsch-faschistischen Barbaren haben diese Orchestertruppe zum Spielen gezwungen und zu den Klängen der Musik haben sie die Exekution und die Verbrennung unschuldiger Menschen vorgenommen. Kurze Zeit vor der Liquidierung des Lagers haben die Deutschen auch das ganze Orchester vernichtet. Das hat sich folgendermaßen abgespielt: Während der ›Todestango‹ erklang, wurden die Mitglieder des Orchesters einzeln herausgeholt und vor den Augen der übrigen erschossen. Das gesamte Orchester ist auf diese Weise umgekommen« (BAL B 162/29309, Bl. 29).

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Wie die Kommission zu diesem Ergebnis kam, erschließt sich nicht aus den Vernehmungsprotokollen, die nach Stuttgart geschickt worden waren. Denkbar wäre, dass der Kommission weitere, nicht in dem bereits genannten Konvolut enthaltene Aussagen vorlagen. Zum Beispiel der Bericht von Anna Korolewna Poizer, die am 12. September 1944 vor Michejew, dem »Ermittler der Städtischen Staatsanwaltschaft der Stadt Lwow«, aussagte und die in dem November-Protokoll an drei Stellen zitiert wird, allerdings nicht mit ihren Angaben über das Lagerorchester. Anna Poizer, geboren 1925 und »aus einer Mittelbauernfamilie« stammend, wurde »am 12. November 1942 […] zur Arbeitsbörse gerufen und zur Arbeit im Arbeitslager eingewiesen.« Das Ende des Lagerorchesters schilderte sie in ähnlicher Weise wie die Kommission, nur kommt bei ihr kein Todestango vor: »Letztendlich wurden alle Musiker des Orchesters, das größtenteils aus Musikprofessoren bestand, im November 1943 erschossen. Während der Erschießung mussten sie Lieder singen und auf ihren Instrumenten spielen und jeder Musiker musste einzeln aus dem Kreis heraustreten, sich ausziehen und umdrehen, um erschossen zu werden und so ging es bis zum letzten Musiker.« Als die Reihe an den letzten Musiker kam, habe er das »polnische Lied« auf »Deutsch angestimmt, ›morgen kann es schlechter sein‹ und mit den Worten geschlossen: ›Es wird euch morgen schlechter gehen, als es uns heute geht‹ und das waren seine letzten Worte, bevor er vom Kommando Nr. 1005 ermordet wurde« (USHMM RG-22.002M).6 Es bleibt ein Rätsel, wie die ASK von einer »Exekutionsmelodie« sprechen konnte, obwohl sich dafür keinerlei Hinweise in den Vernehmungsprotokollen finden lassen. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich um eine Erfindung. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass die ASK buchstäblich nichts in der Hand hatte, was ihre Version gestützt hätte. Das bestätigte 41 Jahre später niemand Geringeres als Sergej Trovimowitsch Kusmin in seinem Buch Keine Verjährung, das im Jahr 1985 in Moskau erschien. Kusmin war 37 Jahre alt, als er Mitglied der Lemberger ASK-Kommission wurde und das abschließende Protokoll vom November 1944 wie alle anderen Kommissionsmitglieder eigenhändig unterschrieb. In seinem Buch erweist sich der nunmehr 78-Jährige nicht nur als ungebrochener Stalinist, 6

Anna Poizer wird in dem Protokoll zweimal als »lange in dem Lager internierte« Zeugin vorgestellt und an drei Stellen zitiert, unter anderem mit dem folgenden Satz: »An manchen Tagen sind bis zu drei- oder viertausend Menschen vernichtet worden. Ihre Stelle im Lager nahmen neue Todeskandidaten ein. Innerhalb von zwei Tagen sind am 15. und 16. Juli 1943 im Janowska-Lager 8000 Menschen erschossen worden – unter ihnen haben sich Greise, Kinder, Wissenschaftler und Musikprofessoren befunden« (BAL B 162/29309, Bl. 31). Eine Kopie des handschriftlichen Exemplars in russischer Sprache befindet sich im USHMM in Washington (USHMM RG-22.002M). Mein Dank gilt Bret Werb, Music Curator beim USHMM, der mir das Dokument übermittelte. Die Dolmetscherin und Übersetzerin Elena Segadlo in Frankfurt a.M. übertrug es ins Deutsche.

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der unermüdlich die auch in dieser Studie genannten Verbrechen der »Hitleristen« auflistet. Er kann auch nicht von der Praxis der stalinistischen Bürokratie lassen, Beweise zu erfinden, wenn sie sich partout nicht finden lassen. Über den Todestango schreibt er: »Wir haben versucht, Noten oder zumindest Leute zu finden, die diese tragische Melodie aus dem Gedächtnis wiederherstellen können. Immerhin führte das Lagerorchester es fast zwei Jahre in Folge täglich auf und in dieser Zeit wurden mehr als zweihunderttausend Menschen von den Nazis zu den Klängen des Tangos getötet. Aber als wir die ehemaligen Gefangenen baten, das Thema des Trauerlieds auch nur annähernd zu reproduzieren, hatten sie nicht die mentale Kraft, sich zu zwingen, sich diesen schrecklichen Erinnerungen hinzugeben.«7 Diese Erklärung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Sie ist ein Eingeständnis, dass nie Beweise für diese angebliche Komposition gefunden wurden und zugleich eine geschickte Erläuterung, die einen offensichtlichen Widerspruch auflöste und den Todestango gegen jede Art von Zweifeln an seiner Wirklichkeit immunisierte: Kusmin gelingt es, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass es den Todestango als spezielles Musikstück gegeben hat und zugleich plausibel zu machen, warum die ASK trotz unermüdlicher Sammeltätigkeit nie Beweise für seine Existenz vorlegen konnte. Das habe der traumatische Schrecken an die Jahre der deutschen Herrschaft in Lemberg und im Janowska-Lager verhindert, der unter den Überlebenden jede Erinnerung an die Melodie des Todestangos getilgt und damit alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt habe, ihre Erinnerung für die Wissensbedürfnisse der Nachwelt zu erschließen. So geschickt dieser Schachzug auf den ersten Blick erscheint, so wenig überzeugend ist er auf den zweiten. Denn Kusmin geht es in seiner Apologie der ASK, der er selbst angehörte, auch darum, ihre Erfolge in ein möglichst helles Licht zu rücken. Tatsächlich kann sie mit beeindruckenden Zahlen aufwarten: Trotz der von ihm konstatierten fehlenden »mentalen Kraft« derer, die überlebten, gelang es der ASK »4 Millionen materielle Schäden, 54.000 Taten und mehr als 250.000 Protokolle von Interviews mit Zeugen der blutigen Gräueltaten 7

Kusmins Buch gibt es in einer Online-Version: https://e-libra.net/read/340329-sroku-davnos ti-ne-podlezhit.html (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Der russische Text wurde mit Cortana, dem Übersetzungsassistenten von Microsoft, ins Deutsche übertragen und, wo nötig, von mir korrigiert. Kusmin übergeht einige Widersprüche wie den, dass die Häftlinge sich zwar nicht an die Melodie erinnern, sie aber angeblich recht genau beschreiben konnten: Die Überlebenden des Lagers hätten gesagt, »es sei ein Trauerwerk, voller Tragik, buchstäblich der Schrei einer verzweifelten menschlichen Seele« gewesen. Der Komponist habe »die schmerzhafte Hoffnungslosigkeit« der Häftlinge in einer Melodie ausgedrückt, »die von den Gefangenen ›Tango des Todes‹ genannt wurde«. Im ASK-Protokoll vom November 1944 hatte es noch geheißen, die »Exekutionsmelodie« sei »auf Befehl der Hitlersadisten […] ›Tango des Todes‹ genannt« worden.

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der Faschisten« zu sammeln und sie zur »Grundlage für die Anklageschriften der Staatsanwaltschaft der UdSSR im Prozess gegen die wichtigsten deutschen Kriegsverbrecher in Nürnberg« zu machen. Warum die Erinnerung der vielen Zeugen nur beim Todestango ausgesetzt haben soll, vermag er nicht zu erklären. Doch Kusmin genügte es nicht, die Legende vom Todestango unsterblich zu machen und letzte Zweifel an der Realität dieser »Exekutionsmelodie« zu zerstreuen: Er erhebt Anna Korolewna Poizer gleichsam zur Kronzeugin einer solchen Komposition. Bei einem Prozess im Sommer 1965, also 21 Jahre nach ihrer Vernehmung vor der ASK im Lemberg, soll die »Zeugin Anna Poizer« erneut ausgesagt haben, heißt es bei ihm. Er beschreibt die 1925 geboren Anna, die zu dieser Zeit 40 Jahre alt ist, als »eine früh ergraute Frau«, in deren verstörtem Gesicht sich unauslöschlich die »Spuren schwerer seelischer Qualen und Leiden« eingeschrieben hätten. Mit »leiser erstickter Stimme« habe sie geschildert, was sich ihrem Gedächtnis unwiderruflich eingebrannt habe: »An diesem schrecklichen grauen, regnerischen Tag stellten sich 40 Personen des Orchesters in einem Kreis auf, umgeben von einem engen Ring bewaffneter Lagerwächter. Der Befehl ›Musik‹ war zu hören und der Dirigent des Orchesters Mund winkte wie üblich mit der Hand. Über das Lager rauschten seelenzerreißende Klänge, bis ein Schuss fiel, der den Dirigenten der Lemberger Oper, Mund, niederstreckte. Aber die Klänge des ›Tangos‹ ertönten weiterhin über den Baracken und erinnerten die Gefangenen an ihr bevorstehendes Ende.« So sei es weitergegangen, »die Musiker spielten lauter und erkannten, dass sie ein Requiem für sich selbst aufführten«. Die Geiger waren bereits tot, nun kamen die »Flötisten, Hornisten, Oboisten« an die Reihe, bis nur noch der »berühmte Komponist und Musiker Striks« übrig war und »den Tango des Todes allein weiterspielte«. Daraufhin habe sich der Kommandant mit den Worten an ihn gewandt »Herr Professor, Sie sind an der Reihe«, dankte ihm für Musik, die »eine echte Freude« gewesen sei. Doch Striks, der »stolze alte Mann« habe mit der eleganten Geste eines Virtuosen den Bogen gehoben, seine Wange an das Instrument gelegt, voller Kraft gespielt und dazu das polnische Lied gesungen: »Morgen wird schlimmer für dich sein als für uns heute.« Die Worte erstarben auf seinen Lippen, als ihn die Kugel traf.8 Zunächst fällt auf, dass Anna Poizers Aussage im Jahr 1965 ihrer früheren vom September 1944 vor der ASK insofern widerspricht, als sie damals weder einen Tan-

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Dieser Darstellung folgt auch der Historiker Jakob Honigsman in seiner Broschüre »Das Janower Lager«. Als Quelle gibt er Kusmin an: »An einem trüben Tag, – erzählt S. Kusmin –, stellte man 40 Menschen aus dem Orchester in einen Kreis […].« (Honigsman 1996, S. 26). Dass Striks den Bogen heben, die Geige an seine Wange legen, voller Kraft spielen und dabei auch noch singen konnte, scheint für Kusmin nicht unmöglich gewesen zu sein.

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go noch einen Todestango erwähnte und nicht Striks, sondern »der letzte Musiker [das] polnische Lied auf Deutsch anstimmte«. Es wäre nun ein leichtes, diese Widersprüche dergestalt aufzulösen, dass man Kusmin unterstellt, er habe sich Poizers Aussage passend zurechtgebogen. Unterstellt man ihm hingegen größte Sorgfalt und Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe, erhebt sich die Frage: Was beweist sie? Dass es tatsächlich einen Todestango im Janowska-Lager gab oder dass sie neue Erkenntnisse gewonnen und das Gefühl hatte, ihre frühere Aussage vervollständigen zu müssen? Vielleicht hatte sie das »dynamische Palimpsest« (Habbo Knoch) ihrer Erinnerung mit neueren Informationen überschrieben. An Gelegenheiten hätte es ihr nicht gemangelt, sie konnte aus vielen Quellen schöpfen, ja es scheint, dass sich nicht nur Anna Poizer in den 1960er Jahren plötzlich eines Todestangos erinnerte, sondern andere auch, zum Beispiel die polnische Journalistin Stanisława Gogołowska. In ihrem Buch Schule der Grausamkeit, das 1964 in Lublin erschien, schrieb sie, dass Schatz »einen hübschen Todestango« komponiert hatte, den das Orchester spielte, »wenn die Menschen zur Erschießungsstätte [..] gingen« (StAL EL 317 III Bü 1720, S. 56). Ob ihr Landsmann Leopold Schimonowitsch Zimmerman, geboren am 26. März 1920 in Lemberg, ihr Buch kannte oder auf andere Weise Kenntnis vom Todestango erlangt hatte, ist nicht bekannt. Doch anhand zweier Aussagen, die er kurz hintereinander im Februar 1965 und im Dezember 1966 machte, kann man zeigen, dass auch in seiner Erinnerung plötzlich der Todestango präsent ist. Zimmerman war von Juni 1943 bis zu seiner »Flucht im Oktober 1943« im Lager, wo er als Tischler beschäftigt war, zu einer Zeit also, da Richard Rokita seit mehr als einem halben Jahr Lemberg verlassen hatte und der Lagerkommandant Willhaus kurz vor der Ablösung stand oder Friedrich Warzok ihn bereits abgelöst hatte. Am 1. Februar 1965 berichtete er bei seiner Aussage vor Hauptmann Winzenty Kolatschik (Kolaczyk), Angestellter im Warschauer Innenministerium, vom »Tal des Todes«, wo »mindestens 100.000 Menschen umgekommen« sind (BAL 162/29309, Bl. 413), von der »Todesbrigade« und der »Todesschlucht« (ebd., Bl. 421), aber nicht von einem Todestango. Knapp zwei Jahre später korrigierte er dieses Versäumnis. Am 21. Dezember 1966 sagte Zimmerman erneut aus, nunmehr vor dem Militärgericht des Karpatischen Militärbezirks, das in der »öffentlicher Sitzung in der Stadt Lemberg […] die Anklage gegen sechs ehemalige Angehörige der sowjetischen Armee« verhandelte.9 Wie bei seiner früheren Aussage berichtete er vom Tal des Todes, der Todesbrigade, betonte, dass das »Wort ›Tod‹ im Wortschatz der Henker des Janowska-Lagers eine wichtige Rolle« gespielt habe (BAL 162/29309, Bl. 78). Doch jetzt weiß er auch von einem Lagerorchester zu berichten, das »die Deutschen aus

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Allerdings will er jetzt schon im August 1942 »während der sogenannten Augustaktion« ins Lager gekommen sein (BAL 162/29309, Bl. 74), während er als Fluchtdatum unverändert »Oktober 1943« angab.

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den besten Musikern der Stadt Lemberg gebildet« hatten und dem »vierzig Musiker« angehörten. »Wenn die Gefangenen zur Arbeit gebracht wurden und während der Erschießungen spielte das Orchester den Todestango« (BAL 162/29309, Bl. 79). Zimmerman wurde während der Vernehmung das bekannte Foto des im Kreis stehenden Orchesters vorgelegt, auf dem er »Mund, den Leiter des Orchesters, sowie die Musiker Schtriz [Striks, d. Vf.] und die beiden Brüder Schworzew« erkannt haben will. »Die Übrigen kenne ich nicht« (ebd., Bl. 80). Außerdem merkte er an, dass neben dem Orchester »der Deutsche Warzog und Wachmänner« stünden (ebd., Bl. 80). Wir wissen nicht, wie gut die Qualität der ihm vorgelegten Fotografie war, aber die von ihm als »Mund« und »Warzog« (richtig Warzok, d. Vf.) bezeichneten Personen sind ausgerechnet diejenigen, die für jeden Betrachter am schwersten zu identifizieren sind: Sie sind wie der größte Teil der Musiker nur von hinten zu sehen. Der angebliche Warzok trägt überdies eine Schirmmütze, sodass er auch nicht an der Form seines Kopfes erkennbar ist. Es scheint, dass Zimmerman Mund und Warzok nicht erkannt, sondern ihre Namen bereits aus anderen Quellen gekannt hat. Dafür spricht auch der formelhafte Satz, dass das Orchester aus den »besten Musikern« der Stadt bestand. Er gehört zu den vielfach zitierten Topoi in der Lemberger Erinnerungsliteratur. Auch Jahrzehnte nach dem Ende der Außerordentlichen Staatlichen Kommission hörten ehemalige ASK-Mitglieder wie Sergej Trofimowitsch Kusmin nicht auf, einmal in die Welt gesetzte Legenden fortzuspinnen. Sein Buch erschien am Vorabend der Perestroika und dem Fall des Eisernen Vorhangs in einer Auflage von 300.000 Exemplaren. Für eine Publikation, die mehr als 40 Jahre zurückliegende Ereignisse und Geschichten zum Gegenstand hat, ist das eine beeindruckende Auflage. Sie ist eigentlich nur durch die erhoffte propagandistische Wirkung erklärbar, die als Ziel der Publikation im Vorwort umrissen wird: Sie solle der heutigen Generation verdeutlichen, »wie groß die Leistung der Sowjetarmee und des gesamten Sowjetvolkes« war, das Hitler und den Faschismus besiegt hatte. Kusmin blieb damit jener stalinistischen Tradition verhaftet, die ihm schon Richtschnur in den Jahren seiner Arbeit in der ASK war: Über die »Wahrheit« der vor Ort gewonnenen Erkenntnisse bzw. wie sie zum Zweck der Publikation und Propaganda aufbereitet wurden, entschieden nicht jene, die womöglich aufrichtig und engagiert bei der Sache waren. Was die lokalen Kommissionen wie die Lemberger an Dokumenten, Beweisen und Zeugenaussagen zusammentrugen und wie diese am Ende zu Tatsachenberichten über die Gräuel der »deutsch-faschistischen Verbrecher« kondensiert wurden, war nicht Sache der jeweiligen lokalen Gremien, sondern die des sowjetischen Geheimdienstes NKWD.10 Um das zu verstehen, muss man wissen, in welchem Rahmen die Lemberger Kommission tätig wurde.

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Narodnyj Kommissariat Wnutrennich Del (sowjetische Geheimpolizei 1936–1946).

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»Der Todestango«

Die ASK: Propaganda als Aufklärung Kurz vor dem Beginn der sowjetischen Großoffensive im Norden und Süden Stalingrads schuf das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR ein neues Gremium und stattete es mit weitreichenden Vollmachten aus: die Außerordentliche Staatliche Kommission.11 Es war der 2. November 1942, aber es vergingen noch einige Monate, bis sie im Sommer 1943 ihre »aktive Tätigkeit« aufnahm, schreibt der Jurist und Historiker Andrej Umansky (Umansky 2012, S. 358). In der Folge entstand ein dichtes Netz an lokalen und regionalen Beistandskommissionen, die vor Ort Kriegsverbrechen des Hitler-Regimes auf dem Gebiet der Sowjetunion untersuchen, Namen von Kriegsverbrechern ermitteln, Berichte über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen veröffentlichen und alle dafür erforderlichen Aktivitäten koordinieren sollten. Sobald ein Gebiet von den deutschen Besatzern befreit war, wurde wie in Lemberg umgehend eine entsprechende Kommission geschaffen, die offenbar sehr effizient ihre Arbeit erledigte: In bemerkenswert kurzer Zeit, nämlich rund sechs Wochen nach dem Beginn ihrer Arbeit im September, legte die Lemberger Kommission ihren Bericht vor – einen Monat vor Ablauf der vorgeschriebenen Zeit von drei Monaten. So wie in Lemberg entstanden mehr als 100 Sonder- bzw. Hilfskommissionen vor Ort. Rund 32.000 Vertreter öffentlicher Einrichtungen beteiligten sich an der Ermittlungsarbeit, trugen Fakten zusammen, und mehr als 7 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger sammelten und bereiteten Dokumente für die ASK auf. Insgesamt kamen so mehr als 54.000 Aussagen sowie mehr als 250.000 Protokolle von Zeugenbefragungen und etwa 4 Millionen Dokumente über Schäden zusammen (alle Zahlen: Sorokina 2005, S. 5).12 Geführt wurde die ASK von einem zehnköpfigen Gremium, dessen Mitglieder sorgfältig ausgesucht waren und die über »eine hohe Reputation« (Karner 2012, S. 387) verfügten. Sechs waren Mitglieder der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften: Der Historiker Evgenii Viktorovich Tarle, geboren 1875, der nur ein Jahr jüngere Neurochirurg und »Stalins Leibarzt« Nikolaj Nilovich Burdenko (Weber 2015, S. 249), geboren 1876, der Schriftsteller Aleksei Nikolaevich Tolstoi (1882–1945), der Ingenieur Boris Evgenevich Vedeneev (1884–1946), der Rechtswissenschaftler Ilja Pavlovich Trainin (1886–1949) und der Agrarbiologe und Genetiker Trofim Denisovich Lysenko, geboren 1898, der als Begründer der »neuen Biologie« 11

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Mit vollem Namen hieß die ASK: »Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der UdSSR zugefügt wurden« (Karner 2012, S. 386). Der Aufsatz People and Procedures von Marina Sorokina erschien ursprünglich in der Zeitschrift Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, Vol. 6, 2005, S. 797-831. Die hier zitierte Version, die auf der Website www. academia.edu erschien, folgt einer anderen Seitennummerierung.

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am 28. Februar 1938 zum Präsidenten der Akademie für landwirtschaftliche Wissenschaften ernannt worden war13 und später »in den Obskurantismus« abgleiten sollte (Schlögel 2018, S. 708). Vorsitzender wurde der Erste Sekretär des Zentralrats der Gewerkschaften der Sowjetunion, Nikolai Mikhailovich Shvernik (1888–1970), der seit 1939 Kandidat des Politbüros war und »dem Bild eines typischen stalinistischen Apparatschiks [entsprach], der politische Vorgaben ebenso beflissen wie unerbittlich umsetzte« (Weber 2015, S. 258). Hinter ihm stand der ehemalige Politagitator und Sekretär des Zentralkomitees Andrej A. Zdanov, den Stalin laut Claudia Weber als »Chefideologen protegierte« (ebd., S. 258). Es kann keine Rede davon sein, dass die ASK-Spitze allem Anschein zum Trotz unabhängig war. Wie nahe das Zehnergremium den Machtzirkeln Stalins stand, hat die Historikerin Marina Sorokina anhand ihrer Lebensläufe untersucht. Bei allen Unterschieden des Alters, der Herkunft und Bildung meint sie eine Gemeinsamkeit feststellen zu können: Alle hätten Karriere nach der Oktoberrevolution 1917 gemacht und die besonderen Möglichkeiten zu nutzen gewusst, die »die Sowjetmacht für bestimmte Menschen geschaffen hatte« (Sorokina 2005, S. 21). Neun der zehn Mitglieder wurden wie Stalin (1878–1953) selbst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geboren, waren also im Revolutionsjahr 1917 zwischen 19 und 42 Jahre alt. Nur eine, die 1910 geborene Pilotin Valentina S. Grizodubova, hatte das Licht der Welt im 20. Jahrhundert erblickt. Und offenbar hatten die meisten gute Kontakte in den Kreml. Fast alle hätten vor ihrer Berufung in die AKS persönlichen Kontakt zu Stalin gehabt (Sorokina 2005, S. 22). Was Claudia Weber über Nikolaj N. Burdenko sagt, er sei ein »stalinistischer Funktionär« gewesen, der ins »Machtzentrum gelangt war, weil er die Moskauer Spielregeln beherrschte« (Weber 2015, S. 249), lässt sich auch von den anderen Kommissionsmitgliedern sagen. So wenig wie die ASK-Führung waren die lokalen und regionalen Hilfs- und Beistandskommissionen unabhängige Gremien, die sich ausschließlich der Wahrheitsfindung verpflichtet fühlten. Glaubt man Stefan Karner, war die »direkte Einflussnahme der kommunistischen Partei und des Sicherheitsapparates« unübersehbar (Karner 2012, S. 388). Den Vorsitz nahm immer der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ein. Nach diesem Muster funktionierte auch die Lemberger Kommission, an deren Spitze Iwan Semoilowitsch Gruschezkij als Vorsitzender und Nikolai Wladimirowitsch Kosyrjow als sein Stellvertreter standen. Kosyrjow war zugleich »Vorsitzender des Exekutivkomitees des Lemberger Gebietssowjets der Deputierten der Werktätigen« (BAL B 162/29309, Bl. 18)

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Das Hauptargument Lyssenkos und seiner Anhänger für ihre »wahnsinnige Genetik« (Levi 2019, S. 107) und »gegenüber der klassischen Genetik […] war deren Unvereinbarkeit mit dem dialektischen Materialismus« (kursiv i. O.), schreibt Dominique Lecourt in seiner Studie über Proletarische Wissenschaft? und den Fall Lyssenko (Lecourt 1976, S. 110).

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und wie Gruschezkij Deputierter des Obersten Sowjets der UdSSR. Und als Vertreter der Staatlichen Kommission war Sergej Trovimowitsch Kusmin nach Lemberg entsandt worden. Was sie außer ihrer Parteizugehörigkeit für die Führung der Lemberger Kommission qualifizierte, beantwortet das abschließende Protokoll vom November 1944 ebenso wenig wie die Frage, nach welchen Kriterien die Staatsanwältinnen und -anwälte ausgewählt worden waren, die in Lemberg die Vernehmungen von Zeugen vornahmen. Der Verdacht ist mithin nicht leicht von der Hand zu weisen, dass die ASK und das dichte Netz an Kommissionen vor Ort weitgehend vom sowjetischen Geheimdienst und seinen lokalen Vertretungen kontrolliert wurden. Sorokina geht noch einen Schritt weiter, wenn sie sagt, dass die ASK systematisch mit Einwilligung Stalins, Dokumente fälschte und manipulierte und unter dem Anschein der Aufklärung in Wirklichkeit Propaganda betrieb. Auch Umansky schreibt, dass Materialien durch Kürzungen und Ergänzungen manipuliert wurden, »wie es für die Propaganda- und Publikationszwecke notwendig war« (Umansky 2012, S. 358). Er hebt aber den »heterogenen Charakter« (ebd., S. 369) der Kommission hervor: Die »Vielzahl von regionalen und lokalen Kommissionen [war] nicht durchweg durch Parteipersonal besetzt worden« (ebd., S. 368). Auch der Gründer des Holocaust-Projekts Yahad-In Unum, der französische Priester Patrick Desbois, berichtet, wie sehr die Forscher die »Qualität der von der Sowjetunion am Ende des Krieges gesammelten Informationen« zu schätzen gelernt hätten. Bei ihren Untersuchungen im April 2004 in der Kleinstadt Busk, unweit von Lemberg, hätten sie, »ohne es zu ahnen, […] an denselben Türen wie der sowjetische Staatsanwalt sechs Jahrzehnte zuvor« geklopft und festgestellt, dass die Aussagen aus den Jahren 2004 bis 2006 mit den damaligen Erzählungen übereinstimmten (Desbois; Husson 2008, S. 184), mit Ausnahme der Straßennamen, die sich geändert hatten. Der Wert der ASK-Dokumente als historische Quelle soll hier nicht pauschal bestritten werden, zumal diese Studie sie selbst nutzt. Die entscheidende Frage ist, inwieweit die von Tausenden Helfern zusammengetragenen Ergebnisse unverfälscht in die Reports und Berichte eingingen. Marina Sorokina hält das für sehr unwahrscheinlich. Sie führt die am weitesten verbreitete Manipulationstechnik an, nämlich die »Technik der Ersetzung« (technology of substitution): Wo die Originaldokumente von der Vernichtung der Juden sprechen, wurden daraus in den ASKBerichten quasi automatisch sowjetische Zivilisten, Kinder oder sowjetische Bürger (Sorokina 2005, S. 33).14 Hintergrund dieser »Umdeutung der nationalsozialis-

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Wörtlich: »All the original documents talked about the total destruction by the Nazis of the Jewish population of the krai [gemeint ist vermutlich die Ukraine, d. Vf.], but in the ChGK ›report‹ this was automatically changed to ›Soviet people‹, ›Soviet children‹, or ›Soviet citizens‹.« Leonid Luks erklärt das Verschweigen des »Charakter[s] der nationalsozialistischen Judenpolitik« damit, dass der »Antisemitismus in der Sowjetunion ausgerechnet nach Ausbruch

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tischen Besatzungspolitik« war die »antisemitisch-nationalistische Metamorphose des Stalinregimes«, die für den Historiker Jürgen Zarusky vor allem »nach den großen Siegen des Jahres 1943« einsetzte (Einleitung zu: Grossmann 2008, S. 193). Als die eigentliche Blaupause für zahlreiche Fälschungen, Manipulationen wie Retuschen an Fotos oder Dokumenten gilt das sogenannte »Katyn-Modell« – der Versuch der Sowjets, Einheiten der Wehrmacht und SS für die Ermordung von etwa 15.000 polnischen Berufs- und Reserveoffizieren im Jahr 1940 verantwortlich zu machen und so den Verdacht von den wahren Tätern, dem NKWD, abzulenken. In einem Wald von Katyn, etwa 25 Kilometer westlich von Smolensk, waren im Frühjahr 1943 etwa ein Drittel der Leichen der polnischen Berufs- und Reserveoffiziere gefunden worden, die der sowjetische Geheimdienst NKWD im Jahr 1940 erschossen hatte.15 Sie galten lange Zeit als auf mysteriöse Weise verschwunden, nachdem sie 1939 in sowjetischen Lagern für Kriegsgefangene interniert worden waren. In der »konstruierten Lüge von Katyn« sieht Stefan Karner das Muster »für zahlreiche andere Falsifikationen und Manipulationen« (Karner 2012, S. 391). Bei derartigen Eingriffen seien Dokumente durch Retuschen an Fotos oder Schriftstücken entweder direkt verändert oder »durch Weglassen, Verschweigen, falsche Zuordnungen oder falsche Weitergabe von Meldungen (etwa falsche Todesdaten Hingerichteter) oder eine bewusst unterlassene Quellenkritik bei der Wiedergabe vorgeblicher Sachverhalte« manipuliert worden (ebd.). Natürlich lassen sich die »Lüge von Katyn« und die Erfindung des Todestangos nicht einfach miteinander vergleichen. Nicht nur betrieb die Sowjetunion einen ungleich größeren Aufwand, um sich von dem Verdacht der Ermordung der polnischen Offiziere zu befreien und den Kriegsgegner Deutschland als Schuldigen darzustellen. Auch wären die propagandistischen Folgen dieses Verbrechens für das angebliche »Mutterland des Sozialismus« katastrophal gewesen, was allein die Tatsache belegt, dass die UdSSR fast ein halbes Jahrhundert diese Lüge aufrechterhielt. Dagegen erscheint die Legende vom Todestango nachgerade vernachlässigbar. Gleichwohl reiht sie sich in eine Praxis der systematischen und methodischen Manipulation von Dokumenten ein. Man könnte noch weiter zurückgehen, nämlich zu den konstruierten Anklagen der Moskauer Schauprozesse in den Jahren 1936 bis 1938. Dafür spräche, dass einige ihrer wichtigsten Akteure auch bei der Fabrikation der Todestango-Legende mitgewirkt haben dürften. Die Rede ist von Männern wie Andrei Vyshinskii (1883–1954), den Karl Schlögel in seinem Buch Das Sowjetische Jahrhundert als einen der »Profiteure des Großen Terrors«

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des deutsch-sowjetischen Krieges eine derart virulente Form« annahm (Luks 1997, S. 20). Die Wandlung des Kommunismus als Kraft gegen den Antisemitismus zu einem der »wichtigsten Wortführer des Kampfes gegen […] die Juden« sei »eine der seltsamsten Metamorphosen dieses Jahrhunderts« (ebd., S. 9). »Die Leichen der übrigen 10.000 Offiziere wurden nie entdeckt« (Gross 1988, S. 13).

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bezeichnet (Schlögel 2018, S. 224). Vyshinskii war von März 1935 bis Mai 1939 Generalstaatsanwalt der Sowjetunion und damit »staatlicher Ankläger bei den Moskauer Schauprozessen von 1936–1938« (Luks 1997, S. 19). Er war nach den Worten des Stalin-Biografen Simon Sebag Montefiore »der eigentliche Star dieses Spuks« (Sebag Montefiore 2005, S. 218), der fest an der Seite Stalins stand.16 Zu den Profiteuren gehörte auch Staatsanwalt und Generalleutnant Roman Rudenko, der im Haus an der Moskwa Nachbar Vyshinskiis war (Schlögel 2018, S. 708) und später als Hauptankläger der Sowjetunion im Nürnberger Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Erscheinung trat. Vyshinskii wiederum standen unter anderem Iona Nikitchenko, Aleksander Volchkov und Lev Sheinin zur Seite, die ebenfalls beim Nürnberger Militärtribunal eine wichtige Rolle in der Delegation der Sowjets spielten: Nikitchenko vertrat als Richter die Sowjetunion mit Volchkov als stellvertretendem Mitglied. Und Sheinin zählte neben Rudenko, Prokowsky und Smirnov zu den russischen Anklägern. Ihre Auftritte in Nürnberg wiederum orchestrierte im Hintergrund Vyshinskii, Chef einer geheimen Kommission, die als »Vyshinskii-Kommission« bekannt wurde (Hirsch 2008, S. 710ff). Kontinuität zeigt sich auch in der Person Kusmins, der seit 1931 Mitglied der KPdSU war und ebenfalls zu den Beratern der sowjetischen Ankläger beim Nürnberger Militärtribunal gehörte. Ein Foto in seinem Buch zeigt ihn zwischen dem stellvertretenden Chefankläger der UdSSR, Oberst Y. V. Pokrovsky, und seinem Assistenten M. Y. Raginsky. Vor der Abreise nach Nürnberg war er noch mit Nikolai Mikhailovich Shvernik, dem Leiter der ASK, im Kreml zusammengekommen, »dem heiligen Ort für alle Sowjetvölker«, wie er schreibt. Zusammenfassend kommt Sorokina zu dem Urteil, dass Vyshinskii der inoffizielle Chefredakteur und Zensor aller ASK-Reports war, denen er den »nötigen propagandistischen Dreh« gab (»the necessary propanda spin« Sorokina 2005, S. 33).17 Mitte des Jahres 1951 stellte die ASK ihre Arbeit ein, ohne dass ein formaler Regierungsbeschluss für ihre Auflösung vorgelegen hätte (Karner 2012, S. 389). Alle

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Die drei Prozesse fanden vom 19. bis 24. August 1936 (gegen das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum), vom 23. bis 30. Januar 1937 (gegen das sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum) und vom 2. bis 13. März 1938 (gegen den antisowjetischen Block der Rechten und Trotzkisten) vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR statt (Hedeler 2003). Ein Grund für die Sowjetunion, in ihren propagandistischen Anstrengungen nicht nachzulassen, dürfte der Artikel 21 des Londoner Statuts vom 8. August 1945 für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg gewesen sein. Er stellte das von der ASK gesammelte Material offiziellen Regierungsdokumenten und Berichten der Vereinten Nationen gleich. Siehe: www.uni-marburg.de/de/icwc/dokumentation/dokumente (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Claudia Weber schreibt, dass die Aufnahme des Artikels 21 besonders der Sowjetunion wichtig gewesen sei, weil »er die Unantastbarkeit von Beweismaterial der Außerordentlichen Staatlichen Kommission« garantierte (Weber 2015, S. 326).

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Dokumente und Unterlagen wurden dem »Staatlichen Zentralarchiv der Oktoberrevolution der UdSSR« übergeben (ebd., S. 389). Ob Andrei Vyshinskii tatsächlich Urheber bzw. Erfinder jener »Exekutionsmelodie« war, die in der Folge als Todestango bekannt wurde, ist nicht mehr nachweisbar. Aber die Praxis der ASK, Ergebnisse der Kommissionen vor Ort systematisch den jeweiligen propagandistischen Erfordernissen anzupassen, könnte den offensichtlichen Widerspruch zwischen den Aussagen der Zeugen, von denen keiner einen Todestango erwähnte, und dem abschließenden Befund der Lemberger Kommission erklären, die eine »besondere Exekutionsmelodie« ausgemacht haben will. Doch gleichgültig, ob propagandistische Erfindung oder tatsächlicher Befund – wichtig an dieser Stelle ist, dass die Zusammenfassung der Kommission vom November 1944 das älteste bekannte Schriftstück ist, das die Existenz eines Todestangos im Janowska-Lager behauptet. In diesem Sinne könnte man auch von einem Ursprungsdokument sprechen. Doch während hier noch die Orchestergründer und Auftraggeber des Todestangos anonym bleiben (»die Deutschen«), schält sich im weiteren Verlauf der Legendenentwicklung ein Gesicht und eine Person heraus – SS-Untersturmführer Richard Rokita, der stellvertretende Kommandant des Janowska-Lagers. Anders als Millionen Dokumente, die für Jahrzehnte in den Archiven des NKWD verschwanden, wurde der Lemberger Kommissionsbericht nur wenige Wochen später in bester propagandistischer Manier öffentlichkeitswirksam inszeniert. Einen Tag vor Weihnachten 1944 führten das wichtigste Verkündungsorgan der kommunistischen Partei, die Prawda, und die Regierungszeitung Izvestija einem Millionenpublikum die Verbrechen der Deutschen in Lemberg einschließlich der Legende vom Todestango vor Augen. Vierzehn Monate danach erreichte sie die Weltöffentlichkeit. Damit waren die wichtigsten Weichen für ihre weitere Verbreitung gestellt.

Prawda und der Schwurgerichtssaal 600 Es war ein Dienstag, der 19. Dezember 1944, als die älteste Stadt Deutschlands ihr jüngstes Gericht erlebte. Gegen 15.30 Uhr erfüllte das Dröhnen von 32 britischen viermotorigen Lancaster-Bombern den Himmel über Trier. 136 Tonnen Sprengbomben fielen auf die einstige Residenz Kaiser Konstantins. Zwei Tage danach folgte die zweite, größere Welle. 94 Lancaster- und 47 amerikanische Jagdbomber luden zusammen 427 Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab. Wieder zwei Tage später, am Samstag, dem 23. Dezember, folgte »Triers schwarzer Tag« (Friedrich 2003, S. 288), als ein britisches Geschwader die Bombenschächte ihrer 153 viermotorigen Maschinen öffnete und rund 700 Tonnen Spreng- und Brandbomben Triers Altstadt in Trümmern legte (Welter 1996, S. 115ff). Von den 5000 nach der Evakuierung Anfang Dezember Zurückgebliebenen starben 420 Menschen.

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Die Bombardierung Triers markierte für das Jahr 1944 den vorläufigen Schlusspunkt der großflächigen Bombardements deutscher Städte, die auch den letzten Deutschen aller Illusionen über einen siegreichen Kriegsausgang beraubten. Der Luftherrschaft der Alliierten über Deutschland hatte die deutsche Flugabwehr keine ernsthafte Gegenwehr entgegenzusetzen. So wie Trier waren im Spätsommer und Herbst 1944 bereits viele deutsche Städte im Bombenhagel der britischen (RAF) und amerikanischen Luftwaffe (USAAF) teilweise oder ganz dem Erdboden gleichgemacht worden (Müller 2004). Nicht nur im Bombenkrieg war die Überlegenheit der Briten und Amerikaner unübersehbar. Auch zu Lande befand sich die Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug. Im Westen scheiterte am 16. Dezember 1944 die Ardennenoffensive (»Wacht am Rhein«). Der erhoffte massive Gegen- und Befreiungsschlag gegen die 1. US-Armee blieb aus. Im Osten hatten die drei Heeresgruppen der Wehrmacht alle Geländegewinne seit dem Überfall auf die Sowjetunion eingebüßt. Eine sowjetische Großoffensive rieb am 22. Juni 1944, am dritten Jahrestag des Beginns des »Unternehmens Barbarossa«, die Heeresgruppe Mitte auf, »28 Divisionen mit 350.000 Mann gehen verloren« (Studt 2002, S. 231). Ehemalige Verbündete hatten sich mit den Feinden des »Dritten Reichs« zusammengetan. Rumänien erklärte dem Deutschen Reich im August 1944 den Krieg, und Ungarn hatte mit der Sowjetunion einen geheimen Präliminarwaffenstillstand geschlossen (ebd., S. 241), während der englische Premierminister Winston Churchill und Josef Stalin bei einer Konferenz vom 9. bis 20. Oktober in Moskau bereits die jeweiligen Einflusssphären in Südosteuropa festgelegt hatten. Obwohl der Krieg für das nationalsozialistische Deutschland Ende 1944 bereits so gut wie verloren war, ging er weiter. Am selben Tag, als Trier zerstört wurde, bereitete die sowjetische Führung einen Schlag gegen das Nazi-Regime vor, den man vor diesem Hintergrund als propagandistische Großoffensive bezeichnen muss. In einer Art konzertierter Aktion erschienen in der Prawda und der Regierungszeitung Izvestija am 23. Dezember 1944 große Artikel über »Die Verbrechen der Deutschen, begangen auf dem Territorium des Lemberger Bezirks«, wie es gleichlautend in der Überschrift in der Prawda und Izvestija hieß.18 Die Prawda war damals das wichtigste Verkündungsorgan der sowjetischen Kommunistischen Partei.19 Beide Berichte fußten auf den Untersuchungsergebnissen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission bzw. der von ihr eingesetzten Sonderkommission in Lemberg

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Vier Tage später, am 27. Dezember 1944, erschien der Artikel in Englisch in den Moscow News. Die 1930 gegründete Zeitung richtete sich vor allem an englischsprachige Fachkräfte in der Sowjetunion, Touristen und Englisch-Studenten. Siehe: www.nationallizenzen.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022) Beide Zeitungen sind zugänglich über die DFG/Nationallizenzen: www.nationallizenzen.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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sowie der »gerichtsmedizinischen Sachverständigenkommission« und ihrer eingehenden Ermittlungen im »Tal des Todes« im Janowska-Lager. Sie füllten jeweils fast anderthalb der gerade vier Seiten umfassenden Ausgaben beider Zeitungen.

Ausgabe der Prawda vom 23. und der Moscow News vom 27. Dezember 1944 mit dem Bericht der Lemberger ASK.

Prawda/Public Domain

Wie die Verbrechen der Deutschen einzuordnen waren, stellte der Bericht in der Ausgabe 307 der Prawda gleich am Anfang klar. Nicht einzelne deutsche Offiziere und Soldaten seien für die »Ermordung sowjetischer Staatsbürger« verantwortlich« gewesen, vielmehr sei die Massenvernichtung »vorsätzlich durch deutsche Militärverbände, die Polizei und SS organisiert und nach zuvor von der deutschen Regierung ausgearbeiteten Plänen« ausgeführt worden (StAL EL 317 III Bü 1674, S. 1).20 Insgesamt seien von »den deutschen Eindringlingen ungefähr 700.000 sowjetische Staatsbürger […] vernichtet worden« (ebd., S. 3). Ausführlich listet der Bericht die Namen »hervorragender Wissenschaftler und Künstler« auf, die von 20

Für die Verhandlungen im Lemberg-Tatkomplex hatte die Stuttgarter Justiz eine Übersetzung des Berichts in der Prawda vom 23. Dezember 1944 ins Deutsche anfertigen lassen, aus der hier zitiert wird und auf die sich alle Seitenangaben beziehen.

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den Deutschen umgebracht wurden, führt Zeugen an, die die Taten der Deutschen beobachteten, beschreibt die »Massenvernichtung friedlicher Zivilisten und sowjetischer Kriegsgefangener«, die sich vor allem im Zwangsarbeitslager an der Janowska-Straße vollzog. In diesem Lager habe der Lagerkommandant »Hauptsturmführer der SS Gebauer« ein »System der bestialischsten Menschenvernichtung« etabliert, das seine Nachfolger, »SS-Obersturmführer Gustav Willhaus und SS-Hauptsturmführer Franz Warzog« vervollkommneten (ebd., S. 7, richtig Friedrich Warzok, d. Vf.). Laut Zeugenaussagen könne es als erwiesen angesehen werden, dass »die deutschen Banditen die ausgefallensten Methoden zur Menschenvernichtung ›erfunden‹ hätten«. Willhaus soll »des Sportes wegen« und zum Pläsier seiner Frau und neunjährigen Tochter21 »systematisch mit einer Maschinenpistole vom Balkon der Lagerkanzlei auf die Gefangenen« geschossen haben (ebd., S. 8). »Obersturmführer Rokita«22 soll Häftlingen eigenhändig den Bauch aufgeschlitzt haben, während Gebauer Inhaftierte im Winter in wassergefüllte Fässer steigen und sie erfrieren ließ. Auch auf die Lagerkapelle geht der Bericht ein, wenngleich in deutlich geraffter und gemilderter Form. Aus der »Exekutionsmelodie«, wie es im Bericht der Lemberger Sonderkommission vom November 1944 hieß, ist nun eine »besondere Melodie« geworden. Verschwunden sind auch »die besten und talentiertesten Musiker der Stadt«. Jetzt besteht das Orchester nur noch »aus Gefangenen«. Und auch das Ende der Kapelle, wonach die Musiker einzeln hervortreten mussten, um vor den Augen der anderen Orchestermitglieder getötet zu werden, liest sich nun anders: »Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen nahmen die Deutschen bei Musikbegleitung vor. Zu diesem Zweck schufen sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Die Leitung des Orchesters mussten Prof. Striks und der bekannte Dirigent Mund übernehmen. Komponisten wurden von den Deutschen angewiesen, eine besondere Melodie zu schreiben, die ›Der Todestango‹ genannt wurde. Kurz vor der Liquidierung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters.« Insgesamt hätten die »Faschisten mehr als 200.000 sowjetische Staatsangehörige« im »Tal des Todes« ermordet, einer Schlucht, die etwa einen halben Kilometer

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Tatsächlich war die Tochter Heike Willhaus, geboren am 19. Mai 1939, damals drei oder vier Jahre alt. Siehe Anklageschrift im Lemberg-Tatkomplex, LG Stuttgart 12 JS 1464/61 vom 10. März 1965, S. 275. Zu seiner Zeit als stellvertretender Kommandant des Janowska-Lagers war Rokita »SS-Untersturmführer«, zum SS-Obersturmführer wurde er erst am 1. April 1944 befördert (Sandkühler 1996, S. 435).

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vom Janowska-Lager entfernt war. Am Fuß der Seite 2 der Prawda sind drei Abbildungen. Eine zeigt laut der Bildlegende das »Gefangenenorchester«, das »den ›Todestango‹ während der Erschießung von sowjetischen Staatsangehörigen durch die deutschen Okkupanten« spielt (ebd., S. 11). In Klammern wird erläutert, dass es sich um »eine deutsche Aufnahme« handelt. Ferner richtet sie das Augenmerk der Betrachter auf den Lagerkommandanten Hauptsturmführer Warzok, »der mit einem kleinen Kreuz« gekennzeichnet ist (ebd., S. 11).23 Das zweite Foto zeigt »Leichen sowjetischer Staatsangehöriger nach einer Massenerschießung in der Nähe der Stadt Solotschew, photographiert von den Deutschen vor der Vergrabung.« Über die Herkunft dieses Fotos heißt es: »Die Aufnahme ist in den Archiven der Gestapo von Solotschew gefunden worden.« Die dritte Fotografie zeigt laut Bildlegende »eine deutsche Aufnahme« des »Krakauer Platz[es] in Lemberg«, wo »die deutschen Mörder sowjetische Staatsbürger« aufgehängt hatten (ebd., S. 11). Während die beiden erstgenannten Bilder auch in der Izvestija zu sehen sind, zeigt die Regierungszeitung als dritte Aufnahme eine »deutsche Maschine zum Vermahlen der Knochen der verbrannten Leichen«. Diese Knochenmühle, so heißt es im Text, hätten die »Deutschen nicht mehr rechtzeitig vernichten« können. Sie sei auf dem Gelände des Janowska-Lagers »als wesentliches Beweisstück für die entsetzlichen Schandtaten der deutschen Henker« zurückgeblieben (StAL EL 317 III Bü 1674, S. 18). So unbestreitbar die Verbrechen der deutschen Besatzer und der Massenmord an den galizischen Juden ist, so ist nicht zu übersehen, dass die Berichte in der Izvestija und Prawda vor allem propagandistischen Zwecken dienten. Bereits auf der ersten Seite der Regierungszeitung wurde der Artikel mit den Worten angekündigt »Rache und Tod den Henkern von Lemberg«. Wenngleich Deutschland militärisch bereits auf verlorenem Posten stand und sich die Wehrmacht zwischen Juli und September an allen Fronten auf dem Rückzug befand, war der Krieg noch nicht gewonnen. Offenbar sollte dieser Aufruf die Bevölkerung wachrütteln, »im Kampf gegen das Deutsche Reich so kurz vor dem Ziel nicht nachzulassen«, nimmt Barbara Wiedemann an (Wiedemann 2011, S. 442). Dazu gehörte, dass die Sowjetunion nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern letztlich auch im »Propagandakrieg« Erfolge verbuchen konnte, wie Andrej Angrick in seiner umfangreichen Untersuchung über die Aktion 1005 schreibt (Angrick 2018, S. 457). So erfuhren die Leser beider Artikel nicht, dass die ermordeten »sowjetischen Staatsbürger« und »sowjetischen Zivilisten«, wie die Ermordeten fast durchgehend genannt werden, mehrheitlich Menschen jüdischen Glaubens waren, gegen die sich der deutsche Vernichtungsfeldzug vornehmlich richtete. Ungenannt blieb auch, dass die friedlichen Sowjetbürger erst durch die kriegerische Annexion der Westukraine bzw. 23

Demnach wäre die Aufnahme erst nach Juli 1943 entstanden, als Friedrich Warzok den bisherigen Lagerkommandanten Gustav Willhaus abgelöst hatte (Sandkühler 1996, S. 437).

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Galiziens am 22. September 1939 zu Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion geworden waren – und zwar im Gefolge des eine Woche vor dem Überfall auf Polen geschlossenen Nichtangriffspakts (Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939) und des »deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags« vom 28. September und seinen Zusatzprotokollen (Fleischhauer 1991). Bis dahin hatte das Gebiet zu Polen gehört.24 Auch die »zahlreichen Pogrome auf den Straßen und Plätzen der Stadt Lemberg« (StAL EL 317 III Bü 1674, S. 4) und Massenexekutionen im Janowska-Lager richteten sich nicht per se gegen die dortige Bevölkerung, sondern gegen die jüdischen Bewohner Lembergs. Wie angezeigt ein gehöriges Maß an Skepsis gegenüber der »sowjetischen Pressemaschine« war (Angrick 2018, S. 399), zeigt einmal mehr das »Katyn-Modell«. So geht die gerichtsmedizinische Sachverständigenkommission unter der Leitung »des Hauptsachverständigen der Roten Armee, Professor M. I. Awdejew«, ausführlich auf die Aktion 1005 ein. Diese Sonderkommandos, zu denen auch die von Leon Wells später geschilderte Todesbrigade gehörte, sollten die Leichen der Ermordeten ausgraben, sie verbrennen, ihre Knochen zu Mehl vermahlen und die Gräber so einebnen, dass keine erkennbaren Spuren der Verbrechen zurückblieben. Gleichwohl fanden sich Beweise, nämlich solche, die die Kommission unter der Leitung von Professor M. I. Awdejew zu der Erkenntnis führten, dass die NS-Mörder im Bezirk Lemberg sich »der gleichen Methoden zur Tilgung der Spuren ihrer Verbrechen bedient [haben] wie bereits früher im Walde von Katyn, wo sie die polnischen Offiziere ermordeten« (ebd., S. 19). Daran gebe es keinen Zweifel, wie die »völlige Identität der Tarnung der im Lisjenizkij-Wald vorgefundenen Gräber25 mit der Tarnung der im Walde von Katyn vorgefundenen Gräber« zeigten (ebd., S. 20).26 Welchen propagandistischen Effekt sich die Sowjetführung von der besonderen Melodie versprach, kann hier nur vermutet werden. Auffallend ist, dass die in 24

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Laut einer Volkszählung 1941 in Galizien, die der Distriktgouverneur Dr. Karl Lasch im September 1941 anordnete, waren von 4.789.000 gezählten Einwohnern »3.017.00 Ukrainer (63 %), 1.076.000 Polen (22 %) und 670.000 Juden (14 %)« sowie ein knappes Prozent andere Volksgruppen. Hinzu kamen noch 220.000 bis 250.000 Juden, die in Wolhynien lebten, sodass in der Westukraine (ohne Transkarpatien und Bukowina) im Herbst 1941 zwischen 820.000 und 870.000 Juden lebten (alle Zahlen: Honigsman 2001, S. 162). Es handelte sich um das Waldstück Lesiniec, in das Leon Wells Todesbrigade verlegt wurde, nachdem im Herbst 1943 »das Areal hinter dem Janowska-Lager ›bereinigt‹« worden war (Angrick 2018, S. 782). Hier wurde auch die »Knochenmühle« ab September 1943 eingesetzt, um den Arbeitsanfall angesichts der »ungeheuren Zahl von einzuäschernden Leichen« bewältigen zu können (ebd., S. 783). Auch vor dem Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg versuchten die Sowjets diese Lüge aufrechtzuerhalten. »Erst 1991, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, konnten Historiker aufdecken, was geschehen war. Die sowjetischen Dokumente ließen keinen Zweifel, dass der Massenmord politisch geplant und von Stalin persönlich befürwortet worden war« (Snyder 2018, S. 11).

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der Prawda und Izvestija publizierte Version deutlich milder ausfällt und die Drastik des Lemberger Kommissionsprotokolls meidet, das von einer »Exekutionsmelodie« gesprochen hatte. Doch ganz verzichten wollten die sowjetischen Zeitungsmacher nicht auf dieses Motiv. Den Sowjets dürfte nicht entgangen sein, dass sich die Deutschen als das »erste Musikvolk der Welt« bezeichneten, wie es Joseph Goebbels in einem Aufsatz über den Rundfunk im Kriege im Juni 1941 ausgedrückt hatte (Goebbels 1941, S. 504). Andere wie Gerhart von Westerman schwadronierten über die »allgemein anerkannte Vorherrschaft« und unbestrittene »Weltgeltung der deutschen Musik«, die als klassische Musik »fast ausschließlich eine Domäne deutschen Geistes war« (von Westerman 1941/1942, S. 1). Ihre überragende Stellung als »deutscheste der Künste« (Pamela Potter) hatte die Musik nicht erst unter dem Nazi-Regime, sondern bereits in der Weimarer Republik erlangt. Für das besiegte Deutschland, schreibt die amerikanische Germanistin Pamela Potter, sei sie das probate Mittel gewesen, »seinen Platz an der Sonne wiederzugewinnen« (Potter 2000, S. 26). Potter zitiert damals einflussreiche Musikwissenschaftler wie Hans Joachim Moser, der im Jahr 1928 die Musik als »größte Quelle deutschen Nationalstolzes und seine mächtigste kulturelle Waffe gegen die anderen Nationen« proklamiert habe (Potter 2000, S. 54). Musik, so hofften die Politiker der Weimarer Republik, sollte dazu beitragen, die »Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu heilen« (ebd., S. 67), wozu sich auch das gemeinsame Singen in weltlichen und geistlichen Chören anbot. Von der wachsenden Popularität der Chöre, die im Jahr 1931 etwa »gegen zwei Millionen« Mitglieder zählten (Potter 2000, S. 28), sowie der Hausmusik profitierte auch die Musikverlagsbranche, deren Zentrum Deutschland geblieben war, trotz des verlorenen Ersten Weltkriegs, Inflation und Weltwirtschaftskrise. Es gab »weit mehr als 200 Musikverlage sowie etwa noch einmal so viele Selbstverlage oder nebenberufliche Musikverlage«, schreibt Sophie Fetthauer in ihrer Studie über Musikverlage im »Dritten Reich« und im Exil (Fetthauer 2004, S. 443). Daran änderte sich wenig, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, unter denen sich die Musik weiterhin der »besonderen Aufmerksamkeit des Regimes« erfreute, schreibt Pascal Huynh aus Anlass eines Symposiums über »Musik im Dritten Reich« (Huynh 2006, 10). Nach Meinung der Nationalsozialisten demonstrierte Musik »am deutlichsten und überzeugendsten die kulturelle Überlegenheit des deutschen Volkes« (Schwarz 2006, S. 120f) – auch in Konzentrationslagern. Musik, so hebt Philip Friedman hervor, sei der einzige Bereich gewesen, wo die deutschen Besatzer Juden nicht nur kulturelle Aktivitäten erlaubten, sondern sie geradezu erzwangen (Friedman 1980, S. 289).27 Und dieses angeblich so musikalische Kulturvolk hatte Massenvernichtungsstätten geschaffen, in denen Millionen Menschen 27

Wörtlich: »Only in one realm, music, did the Germans permit – or to be exact, compel – the Jews to conduct a public cultural activity.«

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vor allem deshalb ermordet wurden, weil sie jüdischen Glaubens waren. Mehr noch schreckte das »erste Musikvolk der Welt« nicht davor zurück, Gräueltaten und Massenexekutionen in Begleitung der »deutschesten der Künste« vorzunehmen. Eine Frage ist damit nicht beantwortet: Was brachte die Sowjets auf die Idee, ihre Abscheu in dem Titel Todestango auszudrücken? Die Antwort fällt einfacher als vermutet aus. Es gab Vorläufer. Die »graue Eminenz« der ASK, Andrei Vyshinskii und seine Helfer, mussten dafür nichts erfinden. Ein Blick in ältere Ausgaben der Prawda dürfte ihnen genügt haben. Denn hier hatte sich das Todestango-Motiv bereits in einer sehr frühen Phase der russischen Revolution und in einer gänzlich anderen ideologischen Auseinandersetzung bewährt. In der Ausgabe 36 vom 15. Februar 1922, prominent rechts auf der ersten Seite platziert, erschien ein Beitrag von Nikolaj Leonidovič Meščerjakov (1865–1942) mit dem Titel Todestango (»танго смерти«). Meščerjakov war Mitarbeiter der im Jahre 1921 gegründeten Zeitschrift Schrifttum und Revolution, die in einer Auflage von 8000 Exemplaren erschien (Monosson 1925, S. 718). Die digitale Kopie seines Beitrags in der Prawda ist leider selbst für Muttersprachler kaum zu entziffern. Doch so viel ist dem Text zu entnehmen: Es geht um russische Emigranten, um die »Weißen«, also aus der Sicht der Bolschewiken um Konterrevolutionäre, die während des russischen Bürgerkriegs ins Ausland geflohen waren und dort an ihrem früheren Lebensstil unbeirrt festhielten. Sie, die früher in Russland reich waren und zumeist dem Adel angehörten, führen ihr gewohnt dekadentes Leben fort, sie feiern, trinken und genießen es in Saus und Braus, während die »einfachen Menschen und die Rote Armee« in der Heimat hungern und darben. Der Kommentar prangert mithin diese Emigranten für ihren moralisch verwerflichen, dekadenten und verabscheuungswürdigen Luxus an. Der Todestango, so ist daraus entnehmbar, steht für Dekadenz, für »ein Fest in der Zeit der Pest«, wie es an einer (lesbaren) Stelle des Textes heißt. Dieses Motiv brauchte nur wiederbelebt zu werden, um Verbrechen und Verfall eines angeblich so hochstehenden Kulturvolks wie der Deutschen anzuprangern, das »Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen bei Musikbegleitung« ausführte. Es gab damit Zeugnis des »grenzenlosen Zynismus der Nazis« ab, wie es das ASK-Mitglied Kusmin in seiner Abhandlung Keine Verjährung rund 40 Jahre später ausdrückte. Wen Meščerjakov zur Wahl dieses Titels angeregt hatte, ist unklar, möglicherweise war es der russische Komponist Samuel Pokrass (1897–1939). Pokrass war einer von vier in Kiew geborenen Brüdern (Dmitri, Daniil und Arkardy), die vor allem mit Kompositionen populärer Musik berühmt wurden. Während Samuel in den späten 1920er Jahren in die USA emigrierte, zog es sein zwei Jahre jüngerer Bruder Dmitri vor, 1940 der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) beizutreten und in der Sowjetunion Karriere zu machen. 1922, als Meščerjakov seinem Beitrag in der Prawda veröffentlichte, hatte Samuel Pokrass einen Tango für »Gesang und Klavierbegleitung« geschrieben, den er seinem Freund M. I. Vavich widmete

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und den er »Tango des Todes« nannte.28 Die Noten mit dem zweisprachigen Text (in Polnisch und Russisch) verlegte das von Leon Idzikowski (1827–1865) gegründete gleichnamige Buch- und Musikverlagshaus. Pokrass’ Todes-Tango scheint sich auch in Kreisen russischer Emigranten einer gewissen Beliebtheit erfreut zu haben. Jedenfalls warb die in New York erscheinende Emigrantenzeitung Noyoje Russkoye Slovo (Neues russisches Wort) ab 1929 in regelmäßigen Anzeigen für neue Noten »für Gesang mit Klavierbegleitung«. Das Publikum wurde aufgefordert, Bestellungen schnell aufzugeben, da »die neue Musik nur in sehr begrenzten Mengen erhältlich ist«.

Notenblatt des 1922 von Samuel Pokrass komponierten Todes-Tango. Ein Jahr später komponierte er einen Todes-Czardasz. Beide Stücke verlegte der Warschauer Musikverlag Leon Idzikowski.

Biblioteka Narodowa/Public Domain

Ob die Pokrass-Stücke mit den Katalog-Nummern 58 (»Old fashioned«), 53 (»San Francisco«), 76 (»Husarenlied«), 80 (»Zwei Rosen«) und vor allem die Nummer 91 (»Todes-Tango«) zu den gefragten Stücken gehörte, ist nicht bekannt. Die Zeitung rührte die Werbetrommel nicht nur für seinen »Todes-Tango«, sondern unter 28

Siehe den Eintrag in der Polnischen Nationalbibliothek: https://bit.ly/Pokrass-Todestango (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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der Nr. 94 auch für seinen »Todes-Czardasz« (Czardasz Smierci). Zwischen 1929 und 1935 warb Noyoje Russkoye Slovo wenigstens acht Mal für den »Todes-Tango«.29 Es kann mithin als gesichert gelten, dass das Thema und Motiv Todestango, was immer sein Urheber damit verband, im russischen Sprachraum keine Neuschöpfung, sondern eine weithin bekannte Vokabel war, die mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu beitrug, die späteren Urheber der »Exekutionsmelodie« zu inspirieren. Es blieb nicht bei der ersten öffentlichen Inszenierung der Legende vom Todestango in den beiden größten russischen Tageszeitungen und in den Moscow News. Gut 14 Monate später fand sie im Saal 600 des Nürnberger Justizpalasts in der Bärenschanzstraße 72 ein ungleich größeres Publikum. Seit dem 20. November 1945 saß das Internationale Militärtribunal zu Gericht über 24 Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes. Es war der Nachmittag des 59. Verhandlungstags, Donnerstag, der 14. Februar 1946, als der russische Hilfsankläger, Oberjustizrat Lev N. Smirnov, damals 35 Jahre alt,30 dem Gerichtshof die sowjetische Anklage über die Verbrechen der Deutschen in der Region Lemberg vortrug. Smirnov war in Nürnberg einer von acht Anklägern der Sowjetunion. Sein Vortrag war Teil der großen Anklage, die der Hauptankläger der Sowjetunion, Generalleutnant Roman A. Rudenko, am Freitag, dem 8. Februar 1946, eröffnet hatte. Als eines der vielen Beispiele für die Grausamkeit der SS im Konzentrationslager Janowska in Lemberg nannte er:

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Und zwar in den Ausgaben Nr. 5900 (23. März 1929), Nr. 5901 (24. März 1929), Nr. 5902 (25. März 1929), Nr. 7349 (11. März 1933), Nr. 7350 (12. März 1933), Nr. 7455 (25. Juni 1933), Nr. 8273 (24. September 1935) und Nr. 8286 (7. Oktober 1935). Online: www.nationallizenzen.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Die »Staatsanwälte« aus der Sowjetunion, so fiel dem Reporter der Süddeutschen Zeitung, Wilhelm Emanuel Süskind (1901–1970), in einem Bericht vom 26. Februar 1946 auf, seien »noch junge Leute, gemessen an der ersten Garnitur der westlichen Mächte«. »Ihr Nestor, Oberst Pokrowski, ist grade 43 Jahre alt«, der russische Hauptankläger, Generalleutnant Roman A. Rudenko war vier Jahre jünger und Smirnovs Alter gibt Süskind mit 35 Jahren an. Der Reporter der Nürnberger Nachrichten (»Sprachgewirr in Uniform«, in: Radlmaier 2001, S. 92) hatte bereits am 24. November 1945 angemerkt, dass die Russen »auch in den höheren Rangstufen durch große Jugendlichkeit und Frische« auffallen. Die »Jugend« der sowjetischen Vertreter war eine Folge des Großen Terrors in der UdSSR, den »zwischen einem Drittel und der Hälfte der ranghohen Funktionäre [nicht] überlebte« (Hedeler 2003, S. XXXVII). »Die neuen, seit 1930 eingesetzten Funktionsträger waren zwischen 1902 und 1911 geboren. Für sie war Stalin ein Halbgott, der einzige Schüler und Testamentsvollstrecker Lenins« (ebd.). Dagegen waren die sechs Richter der USA, Großbritannien und Frankreich alle zwischen 1882 und 1886 geboren, also 60 Jahre alt und älter, die beiden russischen Richter, Iona Nikitchenko im Jahr 1895, und Alexander Volchkov 1902. Siehe: Annette Weinke, Nürnberger Prozesse, publiziert am 19.08.2013; in: Historisches Lexikon Bayerns: https://www.historisches-lexikon-bayerns. de/Lexikon/Nürnberger_Prozesse (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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»Die Deutschen führten ihre Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen bei Musikbegleitung aus. Zu diesem Zweck errichteten sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Sie zwangen Professor Striks und den bekannten Dirigenten Mund, dieses Orchester zu leiten. Sie forderten Komponisten auf, eine besondere Melodie zu komponieren, die sie den ›Todestango‹ nannten. Kurz vor der Auflösung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters« (IMT 1947b, S. 451). Smirnov wiederholt hier die Version über den Todestango – von kleinen, den verschiedenen Übersetzungen geschuldeten Unterschieden abgesehen –, die vierzehn Monate vorher in der Prawda und Izvestija erschienen war. Damit nicht genug. Sein Auftritt in Nürnberg gab der Legende ihre gültige und seitdem vielfach wiederholte und zitierte Gestalt. Smirnovs Vortrag erweckte den Eindruck, in geraffter Form die wichtigsten Fakten zusammenzufassen, wie es zum Lagerorchester und zur Komposition der besonderen Melodie des Todestangos gekommen war und welche Künstler daran beteiligt waren. Es ist dieser Augenblick, wo die Legende zum historischen Faktum wird. Nach Smirnovs Anklage wurde die Legende zu einer unleugbaren, von allen Zweifeln befreiten und von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission beglaubigten Tatsache, die nun ohne Weiteres in den Kanon des Allgemeinwissens eingehen und zur Gewissheit werden konnte. Smirnovs Worte über die Grausamkeit der Deutschen, die es sich nicht nehmen ließen, ihre Opfer in Musikbegleitung zu quälen, über das »besondere Orchester« und die Komposition einer »besonderen Melodie« gehören zu den am häufigsten angeführten und variierten Schilderungen, wie er entstand und welche Rolle er im Prozess der Vernichtung der Lemberger Juden gespielt haben soll.31 Die Behauptung ist also nicht übertrieben, dass sie im Laufe der Zeit zum Grundmuster aller weiterer Berichte und Varianten über den Todestango geriet. Zugleich legte sie die drei Hauptelemente des weiteren Diskurses fest: Erstens ist der Todestango befohlene Musik, zweitens handelt es sich um ein Stück/eine Komposition bzw. »besondere Melodie« und drittens kann Musik in Konzentrationslagern nichts anderes als Tortur und Mittel zur Steigerung der Gräueltaten sein.

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Als Beleg sei die Einleitung von Steve W. Chadde zur Neuausgabe von Leon Wells’ The Janowska Road im Jahr 2014 angeführt. Chadde ist der Herausgeber der Reihe, in der Wells’ Buch erschien. Er übernimmt Smirnovs Darstellung fast wörtlich, gibt aber keinen Hinweis auf die Quelle: »The Nazis often conducted their tortures, beatings and shootings to the accompaniment of music. For this purpose the SS organized a prisoner’s orchestra, led by Professor Striks and the well-known conductor Mund. Composers were ordered to write a special tune, which was called ›The Death Tango‹. Shortly before the camp was liquidated the Nazis shot all members of the orchestra« (Chadde, Einleitung, Wells 2014, S. 8).

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Der Todestango in der Nachkriegspresse Man hätte vielleicht erwarten können, dass Smirnovs Ausführungen zum Todestango und Todesorchester ein gewisses Echo in der deutschsprachigen Presse gefunden hätten. Tatsächlich jedoch war der Widerhall gering. Natürlich berichteten die gerade erst entstehenden Zeitungen und Radiosender im Nachkriegsdeutschland ausführlich über das Nürnberger Tribunal.32 Keine andere Zeitung, urteilt die Historikerin Heike Krösche, habe »so umfangreich über den Nürnberger Prozess berichtet wie die Nürnberger Nachrichten« (Krösche 2006, S. 305).33 Sie zählte insgesamt 895 Beiträge, die das Tribunal zum Gegenstand hatten. Für die nahezu tägliche »Berichterstattung aus dem Nürnberger Gerichtssaal«, wie die Rubrik hieß, reservierte die Regionalzeitung ihre Seite 3. Doch von Lemberg, dem Janowska-Lager oder einem besonderen Orchester fand sich in der Ausgabe vom Samstag, 16. Februar 1946, kein Wort. Dagegen berichteten die Nürnberger Nachrichten (NN) ausführlich über »Die Wahrheit über die Massenmorde von Katyn«. Die Frankfurter Rundschau (FR)34 dokumentierte im Wortlaut die »große Anklagerede« des Hauptanklägers der Sowjetunion, Generalleutnant Roman A. Rudenko, vom Freitag, dem 8. Februar 1946 – eine Woche, nachdem er sie gehalten hatte. Und die Süddeutsche Zeitung (SZ) schrieb in der Ausgabe 17 vom 25. Februar 1946 in einem größeren Bericht über die »erschütternden Enthüllungen der sowjetischen Beweisführung« unter anderem, dass »Oberst Smirnov dann zu einer Bildvorführung« überging und eine Knochenmühle zeigte, »in der die Knochen einer Million Menschen gemahlen wurden«.35 Ferner streift sie »die Häftlingskapelle, die bei der

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Bis Ende Februar 1946 waren im Nachkriegsdeutschland 29 Zeitungen lizenziert, darunter die bereits genannten sowie der Wiesbadener Kurier, die Frankfurter Neue Presse und der Tagesspiegel in Berlin. Die Nürnberger Nachrichten wurde ab dem 11. Oktober 1945 zunächst zweimal wöchentlich aufgelegt. Der Beitrag von Heike Krösche ist online verfügbar: https://bit.ly/Kroesche_NN (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Die FR, lizenziert am 31. Juli 1945, wurde am 1. August 1945 mit einer Auflage von 100.000 Stück gedruckt. Sie erschien zunächst mittwochs und samstags, ab dem 19. Oktober 1945 jedoch wie die Süddeutsche Zeitung jeweils dienstags und freitags. Wegen des Papiermangels kamen anfangs alle »Tageszeitungen« nur zwei- oder dreimal pro Woche heraus. Auch Leon Wells beschreibt diese Maschine ausführlich in The Janowska Road (Wells 2014, S. 185f.). Die Aufnahme der »Knochenmühle«, die Smirnov vermutlich zeigte, war kurz nach der Befreiung des Lagers von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion oder der Roten Armee gemacht worden Siehe: https://collections.ushmm.org/search/cat alog/pa5052 (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Laut www.memorialmuseums.org wurde das Lager am 19. Juli 1944 vor der Ankunft der herannahenden Roten Armee aufgelöst.

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Hinrichtung der Opfer aufspielen musste«. Doch so seltsam es klingt, weder die SZ noch die FR erwähnten das Janowska-Lager und den Todestango.36 Der Beitrag in der SZ, datiert mit »Nürnberg, 21. Febr. (DANA)«, basierte auf einem Bericht der Deutschen Allgemeinen Nachrichtenagentur (DANA), die in Bad Nauheim ihren Hauptsitz im Hotel Tielemann in der Auguste-Viktoria-Straße 1 und im unweit gelegenen Hotel Terrassenhof aufgeschlagen hatte.37 An der DANA kam seinerzeit keine deutsche Zeitung vorbei. Sie nahm »eine Schlüsselstellung für die Presse in der amerikanischen Zone« ein (Schmitz 1987, S. 2), sie war der »Drehund Angelpunkt der von den Amerikanern gelenkten Berichterstattung« (Diller; Mühl-Benninghaus 1998, S. 10). Alle damals »lizenzierten Zeitungen waren ohne Ausnahme verpflichtet, die Dienste der DANA in Anspruch zu nehmen« (Kristionat 1991, S. 277).38 Praktisch hatte die Agentur in der amerikanischen Besatzungszone »das Monopol der Presseberichterstattung inne« (Krösche 2006, S. 304). Ab dem 1. Januar 1947 hieß sie DENA (Deutsche Nachrichtenagentur), aus der am 18. August 1948 die Deutsche Presseagentur (dpa) hervorging. Für das schwache Presseecho gibt es verschiedene Erklärungen. Womöglich hatte der Bericht des DANA-Reporters aus dem Schwurgerichtssaal bereits den eigens für die Prozessberichterstattung eingerichteten Sonderplatz bei der DANA, dem »Trial Desk«, nicht passiert, wo alle Prozessberichte bearbeitet wurden (Schmitz 1987, S. 398, Anmerk. 687). Oder die Zeitungen hatten ihn nicht gebracht, weil die DANA ihren Abnehmern anfangs »sogar das Umschreiben der Meldungen untersagt« hatte (Schmitz 1987, S. 258). Und schließlich könnte es auch mit den Einschränkungen zusammenhängen, denen deutsche Printjournalisten in Nürnberg unterlagen. Für die internationale Presse waren im Schwurgerichtssaal 600 insgesamt 240 Plätze reserviert. Doch allein die vier Siegermächte beanspruchten die meisten »Sitzgelegenheiten (80 Prozent): 68 Plätze für die USA, 50 für Großbritannien, 40 für Frankreich und 35 für die Sowjetunion. Deutsche Vertreter blie-

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Der Korrespondent des Daily Telegraph berichtete am 15. Februar 1946, dass die musikalische Begleitung zur Folter »populär unter Nazis« gewesen sei. Dafür sei im Janowska-Lager ein Orchester geschaffen worden, das ein bekannter Musiker leiten musste. Die Komposition des Todestangos überging er in seinem Bericht, so wie die Kollegen von The Times und dem Manchester Guardian in ihren Berichten vom gleichen Tag, wie mir das dpa-Archiv auf Anfrage mitteilte. Die Information über den Sitz der DANA verdanke ich dem Stadtarchiv Bad Nauheim. Für die Kurstadt im Norden von Frankfurt a.M. sprach, dass Bad Nauheim von Bomben fast völlig verschont geblieben war und dort ein »Hellschreiber« (Fernschreiber) und andere technische Geräte vorhanden waren. Dafür hatte unter anderem Radio Frankfurt gesorgt, das schon während des Krieges Teile seines Betriebs nach Bad Nauheim ausgelagert und dafür auch das »Hotel Tielemann« angemietet hatte (Schmitz 1987, S. 27). Die DANA wuchs schnell, im Dezember 1946 beschäftigte sie bereits 480 deutsche Angestellte, »darunter 60 Redakteure und etwa 200 Techniker« (Kristionat 1991, S. 277).

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ben in dieser Auflistung unberücksichtigt« (Krösche 2006, S. 303). Und wenn sie einen der raren Plätze ergatterten, mussten sie sich »jeweils nach drei Tagen abwechseln« (Diller; Mühl-Benninghaus 1998, S. 10). Knapp bemessen waren auch die Plätze für Radioreporter. Für deutsche Radiojournalisten gab es nur einen Platz, weil die »Amerikaner dem Printbereich den Vorzug gegenüber dem Rundfunk gaben«, schreibt Hans-Ulrich Wagner in einem Beitrag über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Medienereignis.39 Von einer kontinuierlichen Berichterstattung über das Tribunal waren die deutschen Medien weit entfernt. Der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) hatte sich bis dahin zwar oft und ausführlich mit dem Nazi-Regime befasst und Sendungen wie »Rückblick ins Dritte Reich«, den Bergen-Belsen-Prozess oder über »Die letzten Tage in der Reichskanzlei« im Programm (am 4. Mai 1946 von Karl-Eduard von Schnitzler, dem späteren Moderator des Schwarzen Kanals im DDR-Fernsehen), aber kaum die Nürnberger Prozesse thematisiert. Das änderte sich erst ab dem 11. Mai 1946, fortan berichtete der NWDR täglich aus dem Schwurgerichtssaal in der Bärenschanzstraße. Auch auf Originalaufnahmen aus dem Gerichtssaal mussten die Hörer des NWDR in den ersten fünf Monaten des Prozesses verzichten. Der Grund: »Nach englischem Recht durfte aus Gerichtsverfahren nur zitiert, nicht aber mitgeschnitten werden« (Schneider 1999, S. 164). Am 27. März 1946 seien »erstmalig Berichte mit O-Tönen vom Nürnberger Prozess über die Leitung Radio Frankfurt – Funkhaus Köln – Funkhaus Hamburg im NWDR gesendet« worden, schreibt Schneider (ebd., S. 164). Und es dauerte weitere anderthalb Monate, bis der NWDR vom 11. Mai 1946 an regelmäßig Nachrichten über das Tribunal sendete, und zwar in der Reihe »Bericht aus Nürnberg«. Sie wurde »dreimal täglich im Anschluss an die Nachrichten ausgestrahlt« und nahm »2/3 der Nachrichtensendezeit in Anspruch« (Schneider 1999, S. 74f). Wie es scheint, war der Todestango allein der jüdischen Wochenzeitung Aufbau/ Reconstruction (Bauer-Hack 1994)40 eine Meldung wert. Am Freitag, dem 22. Februar

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http://bit.ly/medienereignis-hauptkriegsverbrecherprozess (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Auch Eberhard Schütz, der ab dem 8. Februar 1946 regelmäßig für den deutschsprachigen Dienst der BBC von dem Tribunal berichtete (Diller; Mühl-Benninghaus 1998, S. 13), sagte in seinen Berichten vom 14. und 16. Februar 1946 weder etwas zu Lemberg noch zum Janowska-Lager. Diese Ausgabe gibt es in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a.M. (www.dnb.de) als digitales Exemplar. https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1026562546#page/7/mode/1 up (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Wörtlich heißt es: »Die Folterung und Ermordung von Tausenden von russischen Juden und politischen Häftlingen zu den düsteren Klängen eines ›Todestango‹, der von jüdischen Musikern komponiert wurde, dirigiert und auch gespielt wurde, kam dieser Tage durch die russischen Staatsanwälte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zur Sprache« (Aufbau vom 22. Februar 1946, S. 7). Chefredakteur war seinerzeit Manfred George. Zum »Advisory Board« gehörten unter anderem Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Albert Einstein, Nahum Goldmann und Leo Baeck.

Entstehung

1946, erschien auf Seite 7 neben einer Anzeige für »Spring Suits« aus »beautifully tailored virgin wool« eine kleine Meldung mit der Überschrift: Der Todestango. Auf 24 Zeilen berichtete ein namentlich nicht genannter Autor von Tausenden russischen Juden, die zu »den düsteren Klängen eines ›Todestangos‹ ermordet wurden«. Bedeutende jüdische Komponisten und Dirigenten seien gezwungen worden, »einen besonderen Tango zu komponieren, der von ihnen gespielt werden musste, während die Massenhinrichtungen und Beerdigungen im Gange waren«. Auf diese Weise seien in den »polnischen Lagern Janowski und Bełżec zwischen September 1941 und Juni 1943 einige 130.000 Juden umgebracht« worden. Der Autor verspürte offenbar den Wunsch, die Drastik der Schilderung von Oberjustizrat Lev N. Smirnov zu steigern. Von »düsteren Klängen« war bei ihm nicht die Rede. Auch davon nicht, dass der Todestango in Bełżec gespielt worden sei. In den Gaskammern dieses Vernichtungslagers ermordeten die Deutschen Hunderttausende Juden, darunter sehr viele aus Lemberg. Welche Quelle der Aufbau heranzieht, ist nicht ersichtlich. Vieles spricht dafür, dass der Bericht auf dem Material der DANA beruhte. Der Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher dauerte noch weitere 159 Verhandlungstage an. Er endete am 1. Oktober 1946 mit der Verkündung der Urteile. Die insgesamt 218 Verhandlungstage, die Aussagen der Angeklagten und der Zeugen, ferner Beweise wie Fotos und Dokumente sind in 42 Bänden protokolliert und festgehalten, die unmittelbar nach dem Prozess erschienen und heute von der Universität Marburg im Internet zugänglich gemacht werden.41 Vom Todestango war im weiteren Verlauf der juristischen Aufarbeitung dieser ungeheuren Nazi-Verbrechen keine Rede mehr. Damit hätte es sein Bewenden haben können. Doch das Gegenteil war der Fall. Aus dem kleinen Bericht von gerade 24 Zeitungszeilen in der jüdischen Wochenzeitung Aufbau ist im Laufe der Zeit eine ausufernde Erzählung geworden, die heute in verschiedenen Versionen ihren Niederschlag in Büchern gefunden hat, vor allem aber im Internet verbreitet wird.

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https://www.uni-marburg.de/de/icwc/dokumentation/dokumente/protokolle-nuernberg (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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Verfestigung

Die Zentrale Jüdische Historische Kommission Oberst Smirnov war nicht der Erste, der von einem Todestango und Todesorchester im Lemberger Janowska-Lager sprach. Aber er war der Einzige, der Gelegenheit hatte, es vor der Weltöffentlichkeit zu tun, und er war sich dieser Tatsache nur zu bewusst.1 Er blieb nicht lange allein. Während Smirnov im Frühjahr 1946 in Nürnberg seinen Auftritt hatte, bereiteten zwei jüdische Organisationen verschiedene Publikationen vor, in denen wenigstens am Rande der Todestango Erwähnung finden sollte. Im Frühjahr 1946 präsentierte das Jewish Black Book Committee bei einer Großveranstaltung im Madison Square Garden in New York (Redlich 1982, S. 69) die englische Version des Schwarzbuchs über die Nazi-Verbrechen gegen das jüdische Volk. Es basierte auf Material, das vor allem das Jüdische Antifaschistische Komitee (JAFK) in nur wenigen Jahren zusammengetragen hatte.97 Wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Editionsprinzipien reiften bereits im August 1944 Pläne für zwei Versionen des Schwarzbuchs. Eine war die New Yorker Ausgabe, die 1946 herauskam. Die zweite, die Moskauer, war zur gleichen Zeit bereits gesetzt und für den Druck vorbereitet (Redlich 1982, S. 69), verschwand dann aber in den Archiven der Sowjetunion. Sie erschien nie zu Lebzeiten der Herausgeber Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, sondern erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.2 1

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Smirnov schloss seine Anklage am 27. Februar 1946 mit den Worten: »I know that at this very moment millions of citizens of my country and with them millions of honest persons throughout the world await a just and speedy verdict« (IMT 1947a, S. 344). Die verworrene und hindernisreiche Editionsgeschichte des Schwarzbuchs hat Ilya Altman in einem Beitrag für die Sammlung The Unknown Black Book unter dem Titel The History and Fate of ›The Black Book‹ and ›The Unknown Black Book‹ nachgezeichnet (Altman 2008, S. 19-39). Das Unbekannte Schwarzbuch erschien 1993 in Moskau und enthält Dokumente, die die Herausgeber des Black Book verworfen hatten. Siehe auch Shimon Redlichs Studie über das Jüdische Antifaschistische Komitee. Redlich schreibt, die Geschichte des Schwarzbuchprojekts werfe ein Licht auf die Komplexität und Schwierigkeiten, was das Sammeln und Veröffentlichen von Dokumenten in der Sowjetunion während und nach dem Krieg anging, die den Holocaust betrafen (Redlich 1982, S. 66).

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Für die Legende vom Todestango ist bedeutend, dass unter der Überschrift Lvov. Murder of the Intellectuals ein etwa sechs Seiten langer Bericht enthalten war (The Jewish Black Book Committee 1946, S. 306-312), der Kennern der Prawda- und Izvestija-Ausgabe vom 23. Dezember 1944 bekannt vorgekommen sein muss. Es war exakt der gleiche Text, dem Smirnov seine Darstellung über den »Bauchaufschlitzer« Rokita, die Gründung des Lagerorchesters und die Entstehung des Todestangos entnommen hatte. Wie dieser Bericht in das Schwarzbuch gelangte, klären die Herausgeber nicht auf. In den Anmerkungen heißt es knapp: »Report of December 1944 of the Soviet Extraordinary State Committee« (ebd., S. 536, Anmerk. 55). Eine Erklärung wäre, dass sich hier der Einfluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zeigte, unter dessen Aufsicht das JAFK zeitweilig arbeitete. Ursprünglich sei das Komitee als Propagandainstrument gegründet worden (Altman 2008, S. 20). Doch nicht nur in New York, auch in Polen zog die Legende Kreise. Wenige Monate bevor Smirnov seine Anklage im Nürnberger Gerichtssaal 600 verlas, hatte die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Łódź die Veröffentlichung von drei Texten vorbereitet. Es handelt sich um Die Todesbrigade von Leon Weliczker (Wells), Die Vernichtung der Lemberger Juden von Filip Friedman und Die Universität der Mörder von Michał Maksymilian Borwicz. Zwei der Publikationen gehören zu den frühesten Zeugnissen und Erinnerungen, in denen Überlebende des Holocaust von einem Todestango berichten. Sowohl Wells als auch Borwicz waren Häftlinge im Janowska-Lager, während der Historiker Filip Friedman Krieg und Judenverfolgung in Lemberg »im Versteck überlebte« (Beer; Benz; Distel 2014, S. 10). Seine frühe Untersuchung über die Vernichtung der Lemberger Juden hatte die Kommission als Schrift Nr. 8 publiziert (Beer 2014, S. 24).3 Sie entstand 1945 in Łódź, wohin die Kommission 1945 verlegt worden war. Diese Publikation ist vor Kurzem zusammen mit anderen in dem Sammelband Nach dem Untergang wieder zugänglich gemacht worden (Beer; Benz; Distel 2014). Auf diese Bücher und ihre Autoren werden wir im Weiteren ausführlich eingehen. Ihre Schilderungen waren nicht nur die frühesten Zeugnisse der Verbrechen der Deutschen an den Juden in Galizien. Aus der Sicht der alliierten Strafverfolger waren ihre Texte auch von justizieller Relevanz: Beweismittel im Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher und in den Verfahren der 1960er Jahre zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Tarnopol und Lemberg, dem sogenannten Tarnopol- und Lemberg-Tatkomplex, in dem vor allem Leon Wells als Zeuge hervortrat. Friedman war überdies Direktor der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission und in dieser Eigenschaft Herausgeber der Bücher von Leon 3

Friedman hat seine Studie in zwei erweiterten Fassungen 1947 und erneut 1956 veröffentlicht. Die Bearbeitung von 1956 erschien in seinem Buch Roads to Extinction (Friedmann 1980, S. 244321).

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Wells und Michał M. Borwicz, der wiederum Stellvertreter Friedmans war. Borwicz leitete von 1945 bis 1947 die Krakauer Abteilung der Kommission. Alle drei hatten mithin Gelegenheit, sich über ihre Erinnerungen und Erkenntnisse auszutauschen und ihr Gedächtnis mit neu gewonnenen Fakten zu vervollständigen oder gegebenenfalls zu korrigieren.4 So reiste Wells einige Male nach Łódź, um die Publikation seiner Erinnerungen vorzubereiten. In dieser Zeit wurden er und Friedman »enge Freunde« und blieben es bis zu seinem Tod im Jahr 1960 (Wells 2014, S. 287).

Filip Friedman Filip Friedman wurde 1901 in Lemberg geboren, wuchs in einem traditionellen jüdischen Elternhaus auf, das Wert auf eine moderne Schulbildung legte. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte er in Wien Geschichte, wo er 1929 mit einer Arbeit über »Die galizischen Juden im Kampf um die Gleichberechtigung 1848–1868« promoviert wurde. Danach kehrte er nach Polen zurück und nahm eine Tätigkeit als Lehrer in Łódź auf, der heute drittgrößten Stadt Polens. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten in Łódź etwa eine halbe Million Polen und 200.000 Juden (Aly 1998, S. 41). Seine Tätigkeit als Lehrer regte ihn zum Studium der Geschichte der Juden in Łódź und der wirtschaftlichen Entwicklung der jüdischen Bevölkerung an. Im Jahr 1935 veröffentlichte er eine Arbeit »Die Geschichte der Juden von Łódź von den ersten Tagen bis 1863«. Drei Jahre später gründete er einen »Wissenschaftlichen Zirkel der Freunde der YIVO-Association«, die im Jahr 1925 in Berlin und Vilnius (damals Polen, heute Litauen) von führenden Intellektuellen und Wissenschaftlern ins Leben gerufen worden war.5 Was Friedman zum Umzug nach Lemberg bewog, ist nicht bekannt. Jedenfalls lebte er dort bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, wo er auch während der sowjetischen Besatzung seiner Tätigkeit als Historiker nachgehen konnte. Als einer der wenigen Angehörigen der jüdischen

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Dazu zwei Beispiele: Borwicz schreibt über die Einrichtung des ersten Zwangsarbeitslagers: Am 1. Oktober 1941 habe Gebauer die Arbeiter zu einem Appell zusammengerufen und verkündet: »Ab heute bleibt ihr hier!« (Borwicz 2014, S. 99). Bei Friedman heißt es: »Am 1. Oktober versammelte der Chef der D. A. W., der aus Berlin stammende SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer, alle jüdischen Arbeiter zu einem Appell, bei dem er verkündete: ›Ab heute bleibt ihr da!‹« (Friedman 2014, S. 55). Ein weiteres Beispiel: Friedman datiert die Ankunft Richard Rokitas in Lemberg exakt auf den 2. März 1942. Vermutlich verwechselt er dieses Datum mit dem Haftbeginn Leon Wells’ im Janowska-Lager. Wells gibt dieses Datum an und schreibt, er kannte Rokita seit März 1942, als er erstmals ins Janowska-Konzentrationslager kam (Wells 2014, S. 55f). Im Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, zu dem Wells als Zeuge geladen war, sagte er: »Am 2. März 1942 wurde ich in das Konzentrationslager Janowska, am Stadtrand von Lwów, überwiesen« (zitiert nach Hausner 1979, S. 226). Mehr siehe: https://www.yivo.org (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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Intelligenz überlebte Friedman die deutsche Besatzungszeit. Seit November 1944 war er der erste Direktor und Kopf der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, die nur einen Monat nach der Befreiung Lublins durch die Rote Armee gegründet worden war. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jüdische Katastrophe zu dokumentieren und authentische Zeugnisse zu sammeln. Obwohl sie nur bis zum Jahr 1947 bestand, gab sie »in dieser Zeit 39 Titel in Form von Broschüren, Heften und Büchern« heraus (Beer 2014, S. 23). Zugleich war Friedman Mitglied der polnischen Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen, die Beweisdokumente für das Nürnberger Militärtribunal recherchierte. Das heißt, was die Zentrale Jüdische Historische Kommission an Gräueltaten der Deutschen zutage förderte, ist auch in den Bericht der »Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion zu den Verbrechen in der Region Lemberg« (ASK) eingegangen, aus der Oberst Smirnov bei der Verlesung der Anklage am Nachmittag des 59. Verhandlungstages, dem 14. Februar 1946, zitiert hatte. Umgekehrt griff Friedman für seinen Text auf Ergebnisse der ASK zurück. Denn die von ihr gesammelten Schriftstücke und Materialien sowie ihr veröffentlichter Bericht seien »ein äußerst wertvolles Dokument für die Erforschung der Geschichte dieser düsteren Zeit« (Friedman 2014, S. 31). Dabei dürfte es sich um die Publikation in der Prawda vom 23. Dezember 1944 gehandelt haben, auf die er selbst hinweist, allerdings nur in der englischen Übersetzung seiner Studie. Für seine Angaben der Opferzahl bezieht er sich im Kapitel III auf »Schätzungen und Berechnungen der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission« und ihren Bericht, auf den er in Klammern verweist: »Complete text of communication to Commission was published in newspaper. Pravda of 307, Moscow, 23 of December, 1944.«6 Als promovierter Historiker war sich Friedman der Tatsache bewusst, dass seine Darstellung wegen fehlender und nicht verfügbarer Dokumente unvermeidlich lückenhaft sein würde. Aber, so wandte er ein, man könne nicht warten, bis »möglicherweise erst in vielen Jahren die Zahl der Quellen für eine vollständige wissenschaftlich exakte Beschreibung der Tragödie in Lemberg ausreicht« (ebd., S. 32). Das Manko einer beschränkten Quellenlage müsse man angesichts der Zeitumstände in Kauf nehmen. Auch sei eine Veröffentlichung deshalb ein Gebot der Stunde, weil »die Täter vor dem Tribunal der freien Nationen der Welt stehen, um ihre verdiente Strafe zu erhalten« (ebd., S. 32). Friedman baute mithin darauf, dass seine Geschichte über die Vernichtung der Lemberger Juden nicht ohne Wirkung auf das in Nürnberg tagende Militärtribunal bleiben würde. Sie sollte auch Geschichte machen und nicht nur Fakten zusammentragen. Als sein Text im Dezember 1945

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Die englische Fassung von Friedmans Extermination of the Lvov Jews hat die Encyclopaedia of the Jewish Diaspora, Poland Series: Lwow Volume (Lviv, Ukraine) auf ihrer Website veröffentlicht: www.jewishgen.org/yizkor/lviv/lvi593.html (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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erschien, tagte das Tribunal seit einem Monat in der zweitgrößten Stadt Bayerns. Über die Lagerkapelle und ihre Musik schreibt er: »Das Lager hatte ein Orchester, das sich aus Häftlingen zusammensetzte. Leon Striks war der Dirigent, und unter den Mitgliedern des Orchesters waren berühmte Musiker wie der Komponist Jakob Mund und Josef Herman. Auf Anordnung des ›Musikliebhabers‹ Rokita komponierten die Musiker den ›Tango des Todes‹. Ab diesem Moment wurde jede Gruppe von Gefangenen mit einer Aufführung dieser makabren Komposition in den Tod geschickt« (Friedman 2014, S. 61). SS-Obersturmführer Rokita, von dem Friedman hier berichtet, war ab Juli 1942 Stellvertreter des Lagerkommandanten Gustav Willhaus. Auffallend und für die Legende vom Todestango wichtig ist die Tatsache, dass Rokita hier noch nicht als Gründer des Lagerorchesters in Erscheinung tritt, sondern nur als derjenige, der die Komposition des Todestangos anordnete. In einer späteren, 1956 publizierten Ausgabe seiner Studie ergänzte Friedman die bislang eher spärlichen Angaben über das Orchester und seine Entstehung: Orchestergründer ist nun Richard Rokita, den er außerdem mit seinem vollständigen Namen nennt und von dem er weiß, dass er Geiger war.7 Überdies verfügt der damals 48 Jahre alte »Musikliebhaber« Rokita nun über eine außergewöhnliche Fähigkeit – zum Schaden der Orchestermitglieder: Dank seines außerordentlichen Gehörs (»gifted ear«) vermochte er nicht nur jeden falschen Ton zu hören, sondern auch den Musiker im Orchester zu identifizieren, den er daraufhin umgehend erschoss (Friedman 1980, S. 311f).8 Auf welchen Quellen diese Angaben fußen, teilt Friedman nicht mit, er führt keine Belege an. Das hinderte andere nicht, sie unbesehen zu übernehmen, so wenig glaubhaft das klingt. Eliyahu Yones folgt in seinem Buch Die Juden von Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939–1944 Friedman fast wortwörtlich (Yones 2018, S. 294).

Leon Wells Anders als Friedman, der selbst nicht in dem »unersättlichen Moloch« war, als den er das Janowska-Lager beschreibt (ebd., S. 40), waren Leon Wells und Michał M. 7 8

Wörtlich: »An orchestra was organized in the camp at the initiative of SS-Untersturmführer Rokita.« Wörtlich: »Rokita, a connoisseur of music, would listen to the music with his gifted ear, and if he detected a false note, would storm the orchestra and shoot the performer who dared to impair the harmony.« Was Friedman hier beschreibt, entspricht einem absoluten Gehör, was im Englischen allerdings ein »absolute pitch« oder »perfect pitch« wäre. Vermutlich handelt es sich um einen Übersetzungsfehler. Richard Rokita verfügte aber sicher nicht über die seltene Gabe eines absoluten Gehörs.

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Borwicz ehemalige Häftlinge. Beide haben nur wenige Jahre nach ihrer Haft und geglückten Flucht ihre Erinnerungen veröffentlicht. Die Herausgabe von Wells’ Buch Die Todesbrigade übernahm die Zentrale Jüdische Historische Kommission ebenso wie Die Universität der Mörder von Michał M. Borwicz, die als Publikation Nr. 10 erschien. Wells’ Buch wird in der »Vorbemerkung des Redaktionskollegiums« zu Borwicz’ Universität bereits angekündigt: Die Kommission »plant in Kürze die Herausgabe der Tagebücher eines ehemaligen Häftlings der Lemberger Piaski« (Borwicz 2014, S. 69).9 Die Todesbrigade erschien 1946 als 13. Publikation der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission.10 Wells gibt an, er sei am 2. März 1942, kurz vor seinem 17. Geburtstag,11 das erste Mal im Janowska-Lager inhaftiert worden.12 Nur wenige Monate später, am 10. Juni 1942, konnte er fliehen. Ein Jahr danach, am 3. Juni 1943, kam er erneut ins Janowska-Lager, wo er zusammen mit 122 anderen Häftlingen (Wells 2014, S. 158) in der Todesbrigade arbeitete.13 Im November 1943, kurz vor der Auflösung des Lagers, gelang ihm und einigen anderen Angehörigen der Todesbrigade die Flucht. Wells äußert sich in seinem Buch Die Todesbrigade spät und eher spärlich über den Todestango, nämlich nur zweimal. Seine zweite Haft im Janowska-Lager ist kurz, sie dauert vom 3. bis 15. Juni 1943, dann wird er zur Todesbrigade abkommandiert. An seinem letzten Tag im Lager, es ist der 15. Juni 1943,14 erlebt er zum 9

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Piaski (Sand) hieß ein an das Janowska-Lager angrenzendes Gelände, wo die Massenerschießungen stattfanden und die Leichen vergraben wurden, die später von der »Todesbrigade«, zu der auch Wells gehörte, exhumiert und verbrannt wurden. Eine vollständige Liste der 39 Publikationen in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung gibt Frank Beer (Beer 2014, S. 23-26). Der französische Pater Patrick Desbois hat für sein Buch Der vergessene Holocaust auch Leon Wells getroffen, der damals sicher älter als 70 Jahre war. Wells soll dabei erzählt haben, dass er im Alter von 14 Jahren zur Todesbrigade kam und die Deutschen ihn deswegen »Baby« nannten (Desbois 2010, S. 141). Offenbar trügt ihn hier seine Erinnerung. Über sein Geburtsjahr gibt es unterschiedliche Angaben. Im Protokoll einer Vernehmung durch das Konsulat der Republik Polen in München vom 11. April 1949 wird der 10. März 1923 genannt (StAL El 317 III Bü 2034). Das Protokoll der Vernehmung vom 18. Oktober 1963 beim LG Stuttgart führt den 10. März 1925 an, den Wells ebenfalls als sein Geburtsdatum angibt (Weliczker 1958, S. 22). Im Juni 1943 war Wells also wenigstens 18, vielleicht auch schon 20 Jahre alt. Bei seiner Vernehmung vor der Außerordentlichen Staatlichen Kommission am 21. und 22. September 1944 sagte er, er sei »zum ersten Mal im Januar 1942« ins Janowska-Lager gekommen (BAL B 162/29309, Bl. 235). Seine Aussage gibt es im Bundesarchiv doppelt. Die erste Seite, die mit dem Satz beginnt »Ich sage aus« fehlt in der Aussage mit den Blatt-Nummern 351–362. In den Protokollen des Internationalen Militärtribunals wird die Zahl der Häftlinge im »Sonderkommando 1005« mit 126 angegeben (IMT 1947b, S. 592). Eine andere Zeitangabe findet sich in den Moscow News vom 27. Dezember 1944, wo der Zeuge »L. A. Velichker« mit dem Satz zitiert wird: »Ich arbeitete in der Todes-Brigade […] vom 6. Juni 1943 bis 20. November 1943.«

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letzten Mal am Tor die Lagerkapelle und weiß, »dass die Musik heute wie jeden Tag so manchem von uns [Herv. d. Vf.] beim Passieren des Tores den ›Todestango‹ spielen würde« (Weliczker 1958, S. 29). In der später publizierten Ausgabe The Janowska Road heißt es fast gleichlautend: »We know that for many, if not all of us, the music will someday play the ›Death Tango‹, as we call it on such occasions« (Wells 2014, S. 133). Liest man beide Textstellen genau, dann lässt sich eindeutig sagen: Den Todestango im Sinne einer speziellen Melodie hört er nicht. Denn wäre es ein bestimmtes Musikstück, würden ihn alle und nicht nur »mancher von uns« hören und bei »solchen Gelegenheiten« so nennen. Wells beschreibt die Musik nicht näher, er führt nicht aus, was sie ihm bedeutet. Er drückt vor allem seine Angst aus, dass auch ihm der »Tango des Todes« gespielt, er bei einer Selektion aussortiert werden könnte. Zu einem Todestango wird die Musik des Orchesters in dem Augenblick, wo Häftlingen die letzte Stunde schlägt, sie vor dem Lagertor oder beim Passieren zur Seite treten müssen, um im Sand/Piaski ermordet zu werden. Da die Lagermusiker so wenig wie die Häftlinge wissen, wann es jemanden und wie viele es treffen wird, können sie auch nicht ihre angeblich berühmteste Komposition anstimmen. Für diese Deutung sprechen auch seine rückblickenden Reflexionen, als er am Tag darauf bereits in der Todesbrigade ist und ein neuer Tag anbricht. Er steht am vergitterten Fenster der Baracke und scheint erleichtert, dass er sich nun nicht mehr »zur Latrine drängen« oder zum Appell hasten muss. »Überflüssig« ist nun auch die Furcht »vor dem ›Todestor‹, bei dessen Anblick ich immer dachte: Wenn du das doch nicht mehr zu passieren brauchtest!« (Wells 1979, S. 152). »Nun war ich es endlich los« (Weliczker 1958, S. 50). Wells ist vorerst der Gefahr entronnen, morgens oder abends Opfer einer Selektion und anschließenden Exekution zu werden. Die Todesbrigade befindet sich außerhalb des Lagers. Von fern hört er Musikklänge, »Musik, die gestern vergessen hatte, uns den ›Todestango‹ zu spielen, als wenn es bekannt gewesen wäre, dass man uns diesmal noch nicht hatte erschießen wollen« (ebd.).15 Noch deutlicher sagt er es an anderer Stelle: »Hinter dem Tor beginnt die Musik zu spielen […]. Wir wissen, dass die Kapelle manchen von uns den ›Todes-Tango‹ spielt« (StAL E 317 III Bü 1722, S. 4). Wells spricht allgemein von Musik, aber nicht davon, dass er in diesem Augenblick den Todestango vernimmt. Auch wird die Musik, die alle hören, nur für »manche« zum Todestango. Mit anderen Worten: Zur Todes- oder Exekutionsmelodie wird Musik offenbar in dem Augenblick, da die Häftlinge die Gewissheit des eigenen Todes unmittelbar vor Augen

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In der englischen Ausgabe von 1963 heißt es an gleicher Stelle: »I don’t have to be afraid of the ›Death Gate‹ anymore. Today is the day I die. Of that I am certain« (Wells 2014, S. 147). Wells spricht hier weder von Musik, einem Orchester oder Todestango wie in den deutschen Ausgaben von 1958 Die Todesbrigade und 1979 Ein Sohn Hiobs.

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haben und es für sie kein Entkommen mehr gibt – auch keinen Aufschub hinter dem »Todestor«.16 Wichtiger ist die Frage: Was veranlasste Wells, in diesem Zusammenhang von einem Todestango zu sprechen? Wells ist 18 Jahre alt, als sich die von ihm geschilderten Ereignisse abspielen und er zur Todesbrigade kommt. Er ist nach damaligem Verständnis und Gesetz ein Jugendlicher, der bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Lemberg in einer wohlbehüteten Mittelschichtsfamilie aufgewachsen war. Sie gehörte zu »einer Sekte, die sich Chassidim, also die ›Frommen‹ nannten« (Wells 1979, S. 16). Seine Eltern wurden während ihrer Schulzeit in Deutsch unterrichtet und zählten Schiller, Goethe und Heine zu den »am häufigsten zitierten Dichter[n]« (Wells 1979, S. 19). In seiner musikalischen Bildung gibt es keinen Anhaltspunkt für Tangomusik. Sie bestand vor allem aus Liedern und Gesang, die dem »chassidischen Credo« gemäß »ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens« waren (ebd., S. 20). Aus den größeren Städten kamen auch weltliche Lieder in seine Geburtsstadt Stojanow, die Straßensänger verbreiteten und die für ein »paar Groschen auch die gedruckten Texte verkauften« (ebd., S. 20). Erst in Lemberg erweiterte sich der Kreis seiner musikalischen Eindrücke, weil sich die Familie offenbar ein Radio leistete. Es meldete am 1. September 1939 »den deutschen Angriff auf Polen« (ebd., S. 26) und brachte »die nächsten drei Tage […] nur Trauermusik und immer wieder Nachrichten von dem heroischen Kampf der polnischen Soldaten auf der Westerplatte bei Danzig« (ebd., S. 27). Tangomusik scheint für ihn keinerlei Bedeutung gehabt zu haben. Als er Anfang Juni 1943 ins JanowskaLager kommt und Mitte Juni zur Todesbrigade abkommandiert wird, ist der Musiker und angebliche Orchestergründer SS-Untersturmführer Richard Rokita seit rund einem halben Jahr nicht mehr im Lager. Auch die Häftlingsgesellschaft ist gegenüber seiner ersten Haft im Janowska-Lager bzw. Zwangsarbeitslager der DAW eine völlig andere.17 Aus seiner ersten Haftzeit, die ein Jahr zurückliegt, trifft er 16

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In der deutschen Übersetzung seines Tagebuchs heißt es: »Ich fürchte mich nun nicht mehr vor dem ›Tor des Todes‹, auf welches ich immer so geschimpft habe und mir gedacht habe, dass ich Gott danken würde, wenn ich es endlich los sein würde. Heute bin ich es los […] Man hört Musikklänge. Die Kapelle, die vergessen hat, uns den ›Todes-Tango‹ zu spielen, die gestern mit Sicherheit gewusst hat, dass wir gestern noch nicht erschossen werden würden« (StAL E 317 III Bü 1722, S. 21). Wells will Rokita zu einer Zeit im Janowska-Lager getroffen haben, als das Lager faktisch noch nicht existierte. Er selbst gibt an, am 2. März 1942 ins Janowska-Lager gekommen zu sein, tatsächlich jedoch dürfte es sich um das Zwangsarbeitslager (ZAL) gehandelt haben, das im Oktober 1941 auf dem Gelände der Deutschen Ausrüstungswerke (DAW) entstanden war. Die Historiker Dieter Pohl und Thomas Sandkühler datieren die Entstehung des JanowskaLagers auf Juni/Juli 1942. Außerdem überschneidet sich die Ankunft Rokitas in Lemberg, im Juni oder Juli 1942, mit der ersten Flucht Wells’ im Juni 1942 aus dem ZAL. Und als Wells fast ein Jahr später am 1. Juni 1943 nunmehr in das »eigentliche Janowska-Lager« kommt, ist Rokita seit mehr als einem halben Jahr in Tarnopol. Es ist daher schwer nachvollziehbar,

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niemanden, der ihn ins kollektive Gedächtnis18 des Lagers hätte einweisen können. Außerdem wurde anhand der Vernehmungsprotokolle der ASK gezeigt, dass man zu dieser Zeit nicht davon sprechen konnte, dass der Todestango Teil der kollektiven Erinnerung ehemaliger Häftlinge des Janowska-Lagers gewesen sei. Im Gegenteil: Nicht einer der Überlebenden hatte vor der ASK von einem Todestango gesprochen, auch Leon Wells nicht. Und schließlich ist jetzt Friedrich Warzok Lagerkommandant, den er bei seiner Aussage vor der ASK als Gründer des Orchesters ausgemacht hatte.19 Wie kam er also dazu, von einem »Tango des Todes« zu sprechen? Die Antwort muss man bei Philip Friedman und in der Entstehung seiner Tagebücher suchen. Friedman hatte von Wells’ Manuskript »Ende Juli 1944, einige Tage nachdem die Rote Armee Lwów befreit hatte«, über einen »ihm bekannten Rechtsanwalt« gehört (Weliczker 1958, S. 158). Kurz darauf traf er mit dem nunmehr 19-jährigen Leon W. Wells zusammen, den er als »hochgewachsenen Jüngling, in Lumpen gekleidet, halb barfuß, mit der erdfahlen Gesichtsfarbe eines Bunkerinsassen« beschreibt. Dieser abgerissene ehemalige Häftling präsentierte ihm seine Aufzeichnungen über das Janowska-Lager: »Zehn dichte, mit ungeübter Hand eng beschriebene Hefte« (Friedman 1958, S. 14).20 Die Kommission beauftragte ihn, an Wells’

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wann er Rokita im Janowska-Lager erlebt und in Nachtschichten sein Vierzimmerhaus »in der Nähe des Lagers« renoviert haben will (Wells 1979, S. 96). Seit den 1990er Jahren haben vor allem Aleida und Jan Assmann die Ideen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zum Kollektivgedächtnis aufgegriffen und zu einer Theorie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses erweitert. Seitdem hat sich in der sozialwissenschaftlichen Gedächtnistheorie die Auffassung durchgesetzt, Gedächtnis nicht als Speicher zu begreifen, sondern als dynamischen Prozess der Rekonstruktion, in dem Mitglieder relativ stabiler Organisationen (Familie, Verein, Schule, Unternehmen usw.) in wiederholten Kommunikationen fortlaufend Erinnertes aufgreifen, fortschreiben und modifizieren. Was Aleida Assmann als das »soziale Gedächtnis« mit der »soziale[n] Gruppe« als Träger bestimmt (Assmann 2018, S. 33), entspricht bei Jan Assmann dem »kommunikativen Gedächtnis«, mithin jenen »Spielarten des kollektiven Gedächtnisses […], die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen« (Assmann 1988, S. 10). Das kommunikative Gedächtnis oder flüssige Gedächtnis baue sich »autopoietisch auf« (ebd., S. 18) und bleibe im »Rhythmus von drei Generationen« bestehen (ebd., S. 18). Jan Assmann spricht auch von einem »Dreigenerationen-Zeitrahmen des kommunikativen Gedächtnisses« (ebd., S. 19). Es liegt auf der Hand, dass ein so weit gespannter intergenerationeller Zeitrahmen nicht problemlos auf die Häftlingsgesellschaft des Janowska-Lagers übertragbar ist. Ich spreche hier durchgehend vom kollektiven Gedächtnis oder der kollektiven Erinnerung, weil der Erinnerungsprozess ehemaliger Häftlinge als abgeschlossen gelten kann und die Zeugnisliteratur als abgeschlossener Textkorpus vorliegt. In seinen Büchern heißt es, Mitte Juni 1943 sei Willhaus »noch immer Chef des JanowskaLagers« gewesen (Wells 2014, S. 134). Das USHMM hat Wells’ Notizhefte vollständig digitalisiert und im Internet zugänglich gemacht: http://bit.ly/USHMM_Wells-Notizhefte (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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Buch »alle notwendigen redaktionellen Korrekturen vorzunehmen, um so die Aufzeichnungen zur Publikation vorzubereiten« (ebd.). Die Redaktion dieser Aufzeichnungen übergab Friedman der polnischen Schriftstellerin Rachel Auerbach, die ihrerseits »zu den aktiven Mitgliedern der Jüdischen Historischen Kommission in Polen« gehörte (Auerbach 2014, S. 394). Auerbach hat seinen Text gekürzt, »zahlreiche Änderungen« vorgenommen, »manches fortgelassen« und »Wiederholungen« sowie »unwesentliche Längen« beseitigt, wie sie in der Vorbemerkung schreibt (Weliczker 1958, S. 20). Auch Wells hat nachträglich Hand angelegt. Zum einen entstand schon das Tagebuch nur »zum Teil aus Notizen, die während seines Aufenthaltes in der Brigade geschrieben worden waren, und zum Teil aus einer Rekonstruktion aus dem Gedächtnis«, wie Auerbach schreibt (ebd., S. 20). Erst während seiner Zeit in der Todesbrigade war Wells in der Lage, »ein Tagebuch zu führen« (Wells 2014, S. 131). Der erste Eintrag ist der »15. Juni 1943«. Es ist der letzte Tag im Janowska-Lager, danach wechselte er in die Todesbrigade. Nach seiner Flucht aus dem Janowska-Lager am 19. November 1943 fand er bei einer ihm »völlig fremden Familie am Rande von Lemberg Unterschlupf« (Wells 1989, S. 11). Es handelte sich um den polnischen Bauern Kazimierz Kalwinski, der insgesamt 24 Juden in seinem Keller versteckt hielt und so vor dem sicheren Tod bewahrte. Diesen Luftschutzraum teilte Leon Wells acht lange Monate »bis zum 27. Juli 1944, das heißt bis zur Ankunft der Roten in Lwów« (Weliczker 1958, S. 25), unter anderem mit Moische Samoilovic Korn, mit dem er aus der Todesbrigade geflohen war und der wie er im September 1944 vor der Außerordentlichen Staatlichen Kommission aussagen sollte. Zu den Geretteten gehörte auch der Rechtsanwalt Edmund Kessler, der von September bis Dezember 1942 im Janowska-Lager war und die Zeit im Versteck nutzte, sich einige Notizen zu machen (Kessler 2010, S. 22). Auch Wells redigierte seine Aufzeichnungen, wie er in einer späteren Publikation mitteilte. Während dieser Zeit im Keller »bemühte ich mich, meine Erinnerungen zu gliedern, schrieb sie teilweise um und verbarg sie, so gut ich konnte, um zu gewährleisten, dass sie im Fall meines Todes erhalten blieben« (Wells 1989, S. 11f). Bei seiner Vernehmung am 11. April 1949 im polnischen Konsulat in München sagte er über Die Todesbrigade: »Dieses Buch habe ich im Jahr 1944 geschrieben. Die handschriftliche Fertigung gab ich im Jahr 1945 aus meinen Händen« (StAL EL 317 III Bü 2034).21 Einige Tage nach seiner Ankunft im Luftschutzraum des polnischen Bauern Kazimierz Kalwinski habe er seine Notizen hervorgeholt und sich darangemacht, seine »Tagebücher aus der Kriegszeit zu schreiben« (Weliczker 1958, S. 164). Im Versteck verfügten die ehemaligen Häftlinge über »Zeitungen«, lauschten den Berichten ihres Gastgebers über das, »was draußen vor sich ging« (Wells 1979, S. 235), führten flüsternd Diskussionen. Zu den Mitgefangenen gehörten Herr Holz, ein früherer Café-Besitzer sowie sein Sohn, 21

Es handelt sich um Digitalisate ohne die sonst üblichen Blattnummern.

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ferner das Ehepaar Held, das wohlhabend genug war, die Kosten für das Versteck und die Verpflegung der Geflohenen aufzubringen. Wells beschreibt Marotten und Eigenheiten Einzelner in seiner Schicksalsgemeinschaft und wie »langsam und eintönig« die Tage verstrichen (ebd., S. 242), ferner die immer gegenwärtige Angst, entdeckt zu werden, bis sie das Versteck endlich verlassen konnten. Genau genommen nahmen seine Aufzeichnungen in dieser Zeit und den folgenden Monaten erst ihre Form an – und gewannen offenbar beträchtlich an Umfang. Denn bei seiner Flucht am 19. November 1943 hatte Wells »als einziges Gepäck am Gürtel ein zusammengeschnürtes Bündel Papier: mein Tagebuch aus dem Lager und der Todesbrigade, das der Welt sagen sollte, was geschah« (Wells 1979, S. 252). Die Redaktion seiner Aufzeichnungen im Keller von Kalwinski würde erklären, wie aus dem »Bündel Papier« schließlich zehn »eng beschriebene Hefte« wurden, die er Friedman vorlegte. Darüber hinaus hat Wells laut Auerbach das Manuskript »aufgrund zahlreicher Gespräche vervollständigt« (Weliczker 1958, S. 14). Wie umfangreich diese Ergänzungen waren, führte sie nicht aus. Aber Wells versäumte es nicht, sich für ihre Hilfe ausdrücklich zu bedanken (Wells 2014, S. 286).22 Über seine Zeit in der Todesbrigade macht er verschiedene, zum Teil widersprüchliche Äußerungen. Ein Grund dafür dürfte sich der Tatsache verdanken, dass es Leon Wells mehr als andere Überlebende drängte, vor Gericht Zeugnis über die Verbrechen der Deutschen abzulegen. In einem handschriftlichen Brief vom 20. November 1960 an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg bekundete er seine Bereitschaft, überall hinzukommen, um als Zeuge auszusagen (»I am willing to go any place as a witness.«).23 Ein Jahr später, im Mai 1961, sagte er im Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem aus. Über seine Mitwirkung im Verfahren des sogenannten Lemberg-Tatkomplexes vier Jahre darauf hieß es in der Anklageschrift »der Zeuge Wells ist hier besonders breit als Zeuge in Erscheinung getreten« (StAL EL 317 III Bü 1538, S. 225). Seine Aussagen bei verschiedenen Vernehmungen sowie verschiedene literarische Äußerungen in Buchveröffentlichungen trugen jedoch nicht zu mehr Klarheit bei. Oft wichen sie voneinander ab oder waren so widersprüchlich, dass Zweifel »an dem Wahrheitswert 22 23

Wörtlich: »I shall never be able to thank her sufficiently for the help she gave me.« Wells trat nicht nur bei vielen Gerichtsverhandlungen auf, auch zu etlichen Büchern der heute bekannten Erinnerungsliteratur leistete er wertvolle Beiträge, zum Beispiel zu dem Buch Lwów under the Swastika von Tadeusz Zaderecki, der Wells neben anderen namentlich als »contributor« aufführte (Zaderecki 2018, S. 22). Wells’ publizistischer Einfluss auf die Berichte Überlebender war offenbar so groß, dass sich der leitende Oberstaatsanwalt Wagner in seiner Zusammenfassung der vorläufigen Beweisaufnahme im Verfahren gegen Fritz Gebauer im März 1965 zu folgender Bemerkung veranlasst sah: »Der Zeuge hat verschiedene Bücher über die Zustände im ZAL und den DAW verfasst und bei der Abfassung anderer Bücher maßgeblich mitgewirkt. Die hier gegen Gebauer erhobenen Beschuldigungen sind in diesen Büchern wiederzufinden« (BAL B 162/5766, Bl. 835).

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der Aussagen des Zeugen« aufkamen, wie der im Lemberg-Tatkomplex ermittelnde Staatsanwalt Rolf Sichting in einem Aktenvermerk vom 14. Juli 1967 schrieb. Um diese Zweifel auszuräumen, entschloss sich Sichting zu einem bemerkenswerten Schritt: Es sollte »nunmehr auf die Originalquelle seiner Aufzeichnungen aus der Tatzeit« zurückgegriffen werden, besonders auf die Tagebuchaufzeichnung während seiner Zeit im Sonderkommando 1005 (StAL EL 317 III Bü 1722). Wells’ »handschriftliche Aufzeichnungen in Bleistiftschrift« und in polnischer Sprache wurden nun erneut ins Deutsche übertragen – ohne die redaktionellen Änderungen und Bearbeitungen, die Rachel Auerbach vorgenommen hatte. Das »Original«, so hoffte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, sollte die unverfälschte Urfassung liefern – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Sie ging an der Wirklichkeit der Entstehung von Gedächtnis und Erinnerung vorbei. Denn wie weiter oben bereits beschrieben, muss schon das vermeintliche »Original« seines Tagebuchs als Produkt der kollektiven Erinnerung aufgefasst werden. Wells schöpfte aus allen ihm verfügbaren Quellen, deren wichtigste in seiner Zeit im Sonderkommando 1005 die Berichte seiner Mitbrigadisten waren. Wells war zwar einer unter 126 Todesbrigadisten, doch was sie Tag für Tag tun mussten, kannte er vor allem aus ihren Erzählungen. Der Zeuge Leon Wells »war hauptsächlich in der Küche beschäftigt und hat nur in Ausnahmefällen beim Enterden und Verbrennen der Leichen gearbeitet«, heißt es in der Anklageschrift zum Lemberg-Tatkomplex (StAL EL 317 III Bü 1538, S. 225). Viele »Abweichungen in seinen Aussagen« führte die Anklage auf die Tatsache zurück, dass es für Leon Wells deshalb besonders schwierig gewesen sei, »das selbst Gesehene von dem bloß Gehörten zu trennen« (ebd.). Wells hat das in seinen Büchern keineswegs verschwiegen, wenngleich nicht so deutlich herausgestellt. Über seine Aufgabe schreibt er: »Da ich den Bunker und die Zelte der Todesbrigade zu verwalten hatte, konnte ich auch über Papier und Bleistifte für unseren ›Buchhalter‹ verfügen und verwendete ›ein wenig‹ davon für mich« (Wells 1979, S. 231).24 Schon während der Entstehung oder Vollendung seiner Notizen hatte er genug Gelegenheit, sich mit vielen anderen Leidensgenossen auszutauschen, sein Gedächtnis zu überprüfen und manche Lücke zu füllen. Die Todesbrigade erschien nach seinen Angaben als »einer der ersten im Frühjahr 1946« veröffentlichen Beiträge der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Zu dieser Zeit war die Todestango-Legende durch die Berichte in der Prawda und Izvestija bereits in die Welt gesetzt und hatte Filip Friedman erreicht.

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Gleichlautend heißt es in der Ausgabe Die Todesbrigade: »Als Ordner in der Baracke« bewahrte er Papier und Bleistifte auf, »die für den ›Zähler‹ bestimmt waren, der täglich die Zahl der verbrannten Leichen zu notieren hatte« (Weliczker 1958, S. 165). Das mag auch erklären, warum er vor der ASK detailliert die Arbeitsteilung unter den neun Gruppen der Todesbrigade beschreibt – von den Leichengräbern bis zur Aschebrigade und Streukolonne –, sich aber keiner Gruppe zuordnet (siehe: BAL B 162/29309, Bl. 355 f).

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Greift man Habbo Knochs Bild von den Erinnerungskulturen als »dynamische Palimpseste« noch einmal auf, dann kann man sagen: Auch Wells scheute sich nicht, das Pergament seiner Erinnerung zu überschreiben, zu revidieren, zu ergänzen und um neue Deutungen zu erweitern.25 Das dürfte eine Erklärung für die Vielfalt seiner Äußerungen zum Lagerorchester sein. Bei seiner Vernehmung vor der Außerordentlichen Staatlichen Kommission in Lemberg »am 21. September 1944« hatte er, wie wir sahen, mit keinem Wort eine besondere Melodie namens Todestango berührt. Stattdessen vermutete er, dass Friedrich Warzok, der Nachfolger des bisherigen Lagerkommandanten Gustav Willhaus, die Lagerkapelle gegründet hatte. 17 Jahre später, am 2. Mai 1961, ging Wells als Zeuge im Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem erneut auf das Lagerorchester ein. Anfang Juni 1943, als er zum zweiten Mal verhaftet wird, »marschierten [wir] zum Janowskalager, begleitet von Militärmusik«, womit er die Frage Gideon Hausners, des Generalstaatsanwalts des Staates Israel, provozierte: »Wer befahl die Organisation dieses Orchesters?« Wells Antwort: »… auch im Judenlager und nachher auch in der Todesbrigade gab es verschiedene Befehlshaber und als Erstes wurde immer ein Orchester eingerichtet, also da glaube ich nicht, dass es sich nur um Wilhaus’ [sic!] eigene Idee handelte, sondern, dass es ein Befehl von oben war. Ein allgemeiner Befehl.« Erstaunlicherweise ist nun nicht mehr von Friedrich Warzok als Orchestergründer die Rede, sondern von Gustav Willhaus. Rund sechs Wochen später, am 16. Juni 1961, sagte Wells ein weiteres Mal aus. Diesmal bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Waldshut. Über Rokita gibt er an, »im Lager hat man davon gesprochen, dass er Musiker war« (StAL EL 317 III Bü 1520, Bl. 171). Zwei Jahre danach ist er sich in seinem Buch The Janowska Road sicher, dass Richard Rokita »Musiker von Beruf« war (»musician by profession«). Wichtig ist dieser Hinweis, weil Rokita in vielen Erinnerungsberichten als Orchestergründer genannt wird, während Wells in den verschiedenen Buchausgaben seiner Erinnerungen an keiner Stelle darauf eingeht, wann und wie das Orchester im Janowska-Lager entstand und wer es ins Leben gerufen hatte.

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Es würde zu weit führen, sämtliche Textvariationen aufzuführen, eine soll genügen: »Hinter dem Tor begann die Musik zu spielen. Die Kapelle bestand aus sechzig Mann. Jeder von uns wollte sich nun so schnell wie möglich auf der anderen Seite des Todestors befinden« (Weliczker 1958, S. 29). 21 Jahre später heißt es (Herv. d. Vf.): »Vor dem Tor beginnt die Musik zu spielen. Es ist ein Orchester von sechzig Mann, sämtlich Lagerinsassen, darunter Künstler von internationalem Ruf. Sie spielen uns immer auf, wenn wir zur Arbeit ausrücken, wenn wir abends heimkommen oder wenn eine Gruppe zum Erschießen hinausgebracht wird« (Wells 1979, S. 29/The Janowska Road, S. 133).

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Michał M. Borwicz Der polnisch-jüdische Dichter, Schriftsteller und Literaturkritiker Michał Maksymilian Borwicz (1911–1987) lebte seit 1930 in Lemberg. Dort wurde er 1942 verhaftet und in das Janowska-Lager gebracht (Borwicz 2014, S. 66). Über seine Haftzeit schrieb er das Buch Die Universität der Mörder, das zuerst 1946 in Krakau als Band Nr. 10 der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission erschien. 68 Jahre später hat der Krakauer Verlag Wysoki Zamek Publishing House den Originaltext von 1946 in einer englischsprachigen Neuausgabe herausgebracht, ergänzt um Texte anderer Autoren. Diese Ausgabe gibt ein genaues Datum, wann Borwicz tatsächlich ins Janowska-Lager kam. Der wieder abgedruckten Einleitung von Maria HochbergMariańska26 aus dem Jahr 1946 fügten die Herausgeber an: Borwicz habe gegenüber dem jüdischen Anwalt Raphael Lemkin am 12. September 1945 bezeugt, dass er in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1943 bei dem Versuch gefasst wurde, Waffen ins Lemberger Ghetto zu schmuggeln. Kurz darauf sei er ins Janowska-Lager gekommen (Hochberg-Mariańska 2014, S. 10 Anmerk. 2). Borwicz’ Text bestätigt indirekt dieses Datum: Als er inhaftiert wurde, hatte SS-Untersturmführer Richard Rokita Lemberg bereits verlassen. Borwicz erlebte ihn, als er Zwischenstation an seiner alten Wirkungsstätte macht: »Hier vergnügt er sich als Gast auf der Durchreise«, schreibt er (Borwicz 2014, S. 88). Woher Borwicz wusste, dass Rokita »Willhaus’ Stellvertreter [war], jetzt »Kommandant des Lagers in Tarnopol« ist (ebd., S. 88), er ein ehemaliger »Geiger einer Jazzkapelle in den Cafés von Kattowitz« war, »das Lagerorchester aus bekannten Musikern« organisierte und bei jeder »Aussiedlung« angeordnet habe, »dass sie den Todestango spielten« (ebd., S. 88), bleibt unklar. Andere Häftlinge kommen als Quelle nicht infrage, auch wenn er sich ausdrücklich auf sie bezieht: »Die Häftlinge erinnern sich, wie er während der Appelle und beim Austritt aus dem Bad jedes Mal Dutzende Menschen tötete« (ebd., S. 88). Für den Todestango gilt das nicht. Viele der Überlebenden des Janowska-Lagers, die vor der ASK aussagten, erinnerten sich sehr wohl an ein Lagerorchester – aber keiner an einen Todestango oder Rokita als Gründer der Kapelle und Auftraggeber der Komposition. Borwicz geht in seiner Schilderung der Lagerwirklichkeit häufiger als jeder andere auf die Kapelle und die von ihr gespielte Musik ein. Bemerkenswert ist sein Bericht vor allem deshalb, weil er keine Beziehung zwischen der von ihm ausführlich beschriebenen musikalischen Praxis des Orchesters und den bekannten Elementen der Legende (Todestango und Rokita als Orchestergründer) herstellt. So schildert er das Entsetzen und die lähmende Atmosphäre unter den Häftlingen, als sie aus der Ferne Schüsse hörten und gewahr wurden, was in diesem 26

Maria Hochberg-Mariańska (1913–1996) war Gründungsmitglied der Jüdischen Historischen Kommission. Ihr gemeinsam mit Noe Grüss verfasstes Buch: Kinder klagen an (Hochberg-Mariańska; Grüss 1996) brachte die Kommission 1947 als Band Nr. 37 heraus.

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Moment passierte. Eine Exekution. Als sie beendet ist, »schweigt alles. Hinter dem nächsten Stacheldraht gibt es keine lebendige Seele mehr – mit Ausnahme der wie Automaten spielenden Musiker« (Borwicz 2014, S. 115). Beim Ausmarsch der Arbeitskolonnen erklangen »ohne Pause fröhliche Märsche« (S. 113) oder »heitere Märsche« (S. 121), sogar im Regen. Von »fröhlichen« bzw. »heiteren« Märschen ist in seinem rund 65 Seiten langen Bericht insgesamt fünfmal die Rede. Selbst in dem von ihm ausführlich beschriebenen Augenblick einer Exekution hat der Todestango in seiner Darstellung keine authentische Wirklichkeit. Während er die seelenlose Spielweise des Orchesters zu charakterisieren vermag (»wie Automaten«) und selbst im Grunde nebensächliche Details erwähnt wie den Posaunisten, der »sein Instrument aus[schüttelt], damit das Regenwasser abfließen kann« (Borwicz 2014, S. 121), gelingt es ihm nicht, dem Todestango eine konkrete, lebendige Gestalt zu geben und ihn im Exekutionsgeschehen zu situieren. Zwischen dem Todestango, den SS-Untersturmführer Rokita angeblich bei jeder Aussiedlung/Exekution anordnete, und der von Borwicz geschilderten Ermordung von Mithäftlingen und der musikalischen Praxis des Orchesters (fröhliche Märsche) gibt es keine erkennbare Beziehung. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als die Soziologin Maja Suderland den Wert der Erinnerungsliteratur für die soziologische und historische Forschung gerade darin erblickt, dass sie einen »Einblick in die persönliche Bewertung« (Suderland 2009, S. 68) von Tatsachen geben und dazu beitragen könne, »Erfahrungen und Gefühle, Werte und Haltungen von Individuen gesellschaftlich [zu] verorten« (ebd., S. 69). Solche »persönlichen Bewertungen« oder die Beschreibung von Gefühlen und Empfindungen, wenn der Todestango gespielt wurde, sucht man in Borwicz’ Universität der Mörder ebenso vergeblich wie in den Zeugnissen anderer Überlebender des Janowska-Lagers. Borwicz wiederholt nur die bereits eingeführten und bekannten Elemente der Legende. Man gewinnt den Eindruck, er führe in seinem Bericht den Todestango, den er im Übrigen bloß einmal erwähnt, nur an, weil er als Teil der Lagergeschichte nicht übergangen werden darf. Es spricht viel dafür, dass Borwicz in seiner knappen Erwähnung des Todestangos einen geläufigen Topos wiederholt, den er aus anderen Quellen kannte. Diese Annahme wird durch die Tatsache gestützt, dass er für seine Erinnerung aus weiteren Quellen schöpfte. Wie frei er die Erinnerungsberichte anderer Häftlinge in seine Darstellung integrierte, lässt sich an dem Buch Dokumenty zbrodni i meczeństwa (Dokumente des Verbrechens und des Martyriums) zeigen. Diesen Band hatte Borwicz zusammen mit Nella Rost und Józef Wulf als Publikation Nr. 5 der Jüdischen Kommission herausgegeben – ein Jahr vor dem Erscheinen seiner Universität. Er enthält unter anderem Auszüge aus Zeugnissen der drei ehemaligen Häftlinge des Janowska-Lagers Dr. Josef Göbel, Abraham Beer und Dr. Szymon Haupt (Borwicz; Rost; Wulf 1945, S. 21-33). Auch diese Berichte ließ die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ins Deutsche übertragen. Göbel war vom 20. Juni 1942 bis zu seiner Flucht

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am 30. August 1942 in der »Hölle des Lagers Janowska, in welchem ich mich 10 Wochen lang […] befand« (StAL El 317 III Bü 1698). Richard Rokita kommt in seinem Bericht nur im Zusammenhang mit dem Besuch der Badeanstalt in der Szpitalna Straße in Lemberg vor, zu dem die Inhaftierten in regelmäßigen Abständen zum Baden und zur Desinfektion geführt wurden: »Die Wachmannschaft sorgte für Ordnung und teilte für jede Verunreinigung Schläge aus. Nicht alle kehrten ins Lager zurück. Am Eingang ins Badehaus erschoss Rokita dreizehn und ein SS-Mann erschoss einen. Das Krachen der Schüsse im Zentrum der Stadt und der Anblick der 5000 vor dem Badehaus stundenlang wartenden Unglücklichen zog Scharen Neugieriger und deutsche Soldaten an, die es einfach nicht begreifen konnten, wofür wir so gequält wurden« (StAL El 317 III Bü 1698, S. 8). Bei Dr. Szymon Haupt, der zurzeit »der Liquidierung des Lemberger Ghettos« als Arzt ins Lager Janowska kam, also vermutlich im Mai 1943, findet sich ebenfalls eine Schilderung eines solchen Badbesuches mit Rokita in der Hauptrolle. Sein kurzer Bericht trägt den Titel Rokita: »Jede zweite Woche wurde gebadet. Bei jedem Baden gab es zwanzig Tote und darüber. Es schoss Rokita. Nach der Exekution wendete er sich an die jüdischen Milizianten und sagte: ›Ihr seht, ich bin so gut zu euch und ihr macht mich so nervös‹, und zündete eine Zigarette an« (StAL El 317 III Bü 1698, S. 18). Fast gleichlautend heißt es bei Borwicz: Wenn Rokita »wegen irgendeiner Unruhe in den Reihen einige Menschen niederschoss, rauchte er danach eine Zigarette und sagte schmeichlerisch lächelnd: »Ich bin so gut zu euch und ihr nervt mich. Schaut, wozu ihr mich bringt« (Borwicz 2014, S. 88). Allein der Bericht von Abraham Beer geht auf ein Orchester ein. Wer es gründete und welche Musik es machte, sagte er nicht, ihm war etwas anderes wichtiger: »Von Weihnachten bis Neujahr stand am Tor ein schön geschmückter, elektrisch beleuchteter Weihnachtsbaum und unweit davon spielte während des Ausmarsches zur Arbeit das Orchester, und da hinter dem Drahtzaun lagen Menschen, zum Teil erfroren, für den Tod bestimmt und Leichen« (StAL El 317 III Bü 1698, S. 13). Es wird deutlich, dass Borwicz für seine Erinnerung auf Berichte anderer Überlebender zurückgriff.27 Was die Todestango-Legende betrifft, dürfte er die Arbeiten 27

Diese Szene im Bad, die ich »Bad-Legende« nenne, taucht in vielen Erinnerungsberichten auf, auch bei Philip Friedman: »One camp survivor recalls that Rokita would kill tens of prisoners

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des Historikers Philip Friedman genutzt haben, der die früheste und ausführlichste Darstellung über die Entstehung des Lagerorchesters und Todestangos mit Richard Rokita in der Hauptrolle lieferte. Anders als Borwicz und Wells war Friedman selbst nie in dem Lager. Seine Schilderung beruhte wiederum auf Zeugnissen anderer, zum Beispiel dem Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (ASK), der am 23. Dezember 1944 in der Prawda und Izvestija erschien. Dass Wells während der Arbeit an seinem Buch Die Todesbrigade und den vielen Gesprächen mit Friedman die Idee vom Todestango aufgriff, scheint naheliegend. Im Nebel bleibt, auf welcher Quellengrundlage Friedman SS-Untersturmführer Rokita zum Orchestergründer erklärte. Denn in dem Bericht der ASK finden sich dafür, wie wir gesehen haben, keine Belege. Rokita später selbst bekundet, er habe das Orchester gegründet, doch diese Aussage aus dem Jahre 1961 war Friedman sicher nicht bekannt, als sein Text 1945 erschien. Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass die Legende vom Todestango auf einer Überlieferung beruht, die nicht durch Quellen abgesichert ist. Man muss im Gegenteil konstatieren, dass sie schon zu diesem frühen Zeitpunkt auf fragwürdigen Grundlagen beruht, die mehr auf Hörensagen als auf gesicherte Belege zurückgreift. Die Verbreitung der Legende hat das nicht aufhalten können, ja sie möglicherweise sogar gefördert. Dazu hat auch und vor allem eine Fotografie beigetragen.

Die Ikonografie des Todestangos In dem Wort, dass ein Foto mehr als tausend Worte sagt, spricht sich eine Eigenheit der Fotografie aus, die man in aller Kürze mit einer Art schlagender Evidenz beschreiben könnte. Fotos rufen das Auge und damit ein zentrales Sinnesorgan an, dem wir gern eine hohe Verlässlichkeit attestieren. Das verführt manchen dazu, überhaupt nur dem Glauben zu schenken, was er mit eigenen Augen gesehen hat. In der Frühzeit der Fotografie erschien sie den Zeitgenossen als ein »technisches Medium von nie gekannter Objektivität und Wahrheitsnähe«, schreibt der Historiker Jürgen Osterhammel (Osterhammel 2016, S. 78). Ähnlich drückt es Felix Axster aus, wenn er das der Kamera zugeschriebene Vermögen der objektiven Wiedergabe der Wirklichkeit als »fotografische Evidenz« bezeichnet (Axster 2014, S. 19). Die Faszination des seinerzeit neuen Bildmediums führt der Literaturwissenschaftler James Edward Young darauf zurück, dass Fotografien die »Autorität

during roll call or during a visit to the bathhouse« (Friedman 1980, S. 303). Ferner bei David Kahane: »Rokita, a Volksdeutsche from Upper Silesia, used to be a café player in Katovice […]. This bloodthirsty beast never missed a single visit to the baths. He was the director of the devilish spectacle called ›the Szpitalna Street baths‹« (Kahane 1990, S. 94).

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einer empirischen Verbindung zu den Ereignissen« besitzen und so das »Gefühl seiner eigenen unmittelbaren Faktizität« hervorrufen (Young 1992, S. 101). Die Folge ist, dass Fotografien den Betrachter von »der Autorität der Fakten« in einer Weise überzeugen, »wie es die Literatur nicht vermag« (ebd.). Anders als Texte verfügen Fotografien mithin über ein Vermögen, das der Sprache abhandengekommen ist, befand der Soziologe Niklas Luhmann, nämlich: »Realität zu garantieren« (Luhmann 1995, S. 56). Dies umso mehr, als Texten und Worten jederzeit widersprochen werden kann, während es »einen Widerspruch des Bildes gegen das Bild« im gleichen Sinne nicht gibt (ebd., S. 57). Da der Gegenstand einer Fotografie gewöhnlich an einen Ort gebunden ist, der Fotograf also dem abgebildeten Geschehen nahe gewesen sein muss, entsteht so etwas wie ein Authentizitätsversprechen: »Die Nähe zum Geschehen wurde zum zentralen Kriterium von Authentizität«, schreibt Gerhard Paul über die Fotografien von Kriegsberichterstattern wie Robert Capa (Paul 2020, S. 280).28 Es verwundert daher nicht, dass Fotografien zur Beglaubigung der Legende vom Todestango eine wichtige Rolle spielen. Man kann noch weiter gehen und die These wagen, dass sich die Legende ohne die visuellen Suggestionen von Fotos, die gleichsam ihre Faktizität beglaubigen, nie so weit hätte verbreiten können. Genauer gesagt handelt es sich lediglich um ein Foto. Es zeigt ein im Kreis stehendes Orchester von etwa 28 bis 30 Musikern. Mit Sicherheit sind es mehr, da der Kreis am linken Bildrand angeschnitten und daher nur etwa drei Viertel des Orchesters sichtbar ist. Es ist nicht nur das wichtigste und bekannteste fotografische Beweisdokument – es ist die Ikone des Todestangos,29 die praktisch in keinem Buch fehlen darf, in dem es um den Todestango geht. Besonders gern nutzen es Verlage als Titelfoto.30 28

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Das gilt nicht nur für die Fotografie. Der Historiker Yechiel Szientuch machte in seinem Buch Yiddish and Hebrew Literature under the Nazi Rule in Eastern Europe (Jerusalem 1978) die zeitliche Nähe zum Geschehen zum entscheidenden Kriterium dafür, was er als Holocaust-Literatur gelten lässt. Vom »authentischen Kanon« schließt er alles aus, »was auch nur eine Woche nach der Befreiung aus dem Gedächtnis geschrieben wurde, und selbstredend alles, was nach dem Krieg noch einmal überarbeitet worden ist« (zitiert nach Young 1992, S. 61f). Habbo Knoch zieht es vor, von Symbolbildern zu sprechen, weil sich damit »die Deutungsspielräume der fotografischen Ensembles besser fassen« ließen (Knoch 2001, S. 32), das »Konzept des Symbolbilds variabler« sei (ebd., S. 34). Der Begriff Ikone dagegen lege eine »Kanonisierung« nahe. Um diese »Kanonisierung« zu betonen, halte ich am Begriff der Ikone fest. Das »Todesorchester« ziert zum Beispiel den Titel der ukrainischen Ausgabe des Romans Tango Smerti von Jurij Wynnytschuk. Der Haymon-Verlag in Innsbruck hatte die deutschsprachige Ausgabe des Romans allerdings unter dem Titel Im Schatten der Mohnblüte veröffentlicht (Wynnytschuk 2014). Auch der Krakauer Verlag Wysoki Zamek Publishing House nutzte die Fotografie des Lagerorchesters für die Titelillustration der englischsprachigen Neuausgabe von Michal M. Borwicz’ University of Criminals. Und schließlich gelangte das Foto im Jahr 2019

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Das Orchester des Konzentrationslagers Janowska in Lemberg: Welche Kapelle die Fotografie tatsächlich zeigt, ist nach wie vor ungeklärt.

Courtesy of the Ghetto Fighters’ House, Israel/The Photo Archive

Diese Fotografie belegt, wenn schon nicht den Todestango, so das Bestehen eines Orchesters. Es wäre nun überraschend, wenn die Ikone frei von Paradoxien wäre: Das wichtigste und, wie wir sehen werden, unentwegt zur Illustration »zitierte« Bildmotiv ist zugleich das historisch am wenigsten gesicherte. Dieses Versäumnis kommt nicht von ungefähr. Auch hier gilt, was der Nestor der deutschsprachigen Visual History, Gerhard Paul, über den Umgang mit »medialen Konstruktionen und Bildpraxen der NS-Zeit« formulierte: Sie werden »entweder unkontextualisiert zur Illustration eines vorgefertigten Narrativs oder als Spiegel historischer Wirklichkeiten verwendet« (Paul 2020, S. 10). Die Kapelle, um die es geht, ist aus der Vogelperspektive aufgenommen, was einen ersten Hinweis auf eine mögliche Urheberschaft gibt. Es dürfte mit einiger

auf den Titel der englischen Übersetzung des Buches von Ola Hnatiuk Courage and Fear über Lembergs Intelligenz vor und während des Zweiten Weltkriegs. Auch diese Studie nutzt die »Ikone«. Mir ging es um den Gegensatz zwischen dem Foto, das Faktizität behauptet, und dem Buchtitel, der sie bestreitet.

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Sicherheit von SS-Leuten oder Personen aufgenommen worden sein, die berechtigt waren, einen Wachturm oder erhöhten Punkt zu besteigen und SS-Offiziere abzulichten. »Juden treten auf Fotografien aus dem Holocaust am häufigsten in Erscheinung«, schreibt der Holocaust-Forscher Raul Hilberg, »haben selbst jedoch nur einen kleinen Teil dieser Aufnahmen gemacht« (Hilberg 2002, S. 17). Der Grund: »Anfang der vierziger Jahre wurden ihre Fotoapparate beschlagnahmt.« Sieht man genauer hin, muss das Orchester am Fuße oder in unmittelbarer Nähe eines höheren Gebäudes oder eines Turms stehen. Das ergibt sich aus dem steilen Aufnahmewinkel. Im Vordergrund sind sechs, vielleicht sieben Geiger zu sehen, danach folgen etwa zehn Bläser (vier Klarinetten, vier Saxofone, Trompete)31 und eine große Basstrommel im oberen linken Bildrand. Innerhalb des Kreises stehen drei Musiker mit Akkordeons, die offenbar ohne Noten auskommen, und der Dirigent in einem hellen Kittel oder Mantel. Vor den meisten Musikern stehen Notenständer, insgesamt sind elf ganz oder teilweise zu sehen. Alle Orchestermusiker tragen Uniformen oder eine uniformähnliche Bekleidung und keine Lagerkleidung. Im rechten Bildraum außerhalb des Musikerkreises sieht man eine Gruppe von sechs Uniformierten, die anders als die Orchestermitglieder, alle militärische Kopfbedeckungen tragen. Vier in schwarzen Uniformen tragen ein sogenanntes Schiffchen. Ob sie der SS oder Wehrmacht angehören, ist nicht erkennbar. Die beiden am linken Rand der Gruppe stehenden Uniformierten tragen Schirmmützen. Einer der Uniformierten am rechten Rand fällt durch eine weiße oder sichtlich hellere Uniform auf. An der Musik scheinen sie nicht interessiert, fünf sind offensichtlich in eine Diskussion vertieft, nur einer blickt in Richtung Orchester. Ferner tragen die Offiziere weder Waffen noch Peitschen, die in den Berichten Überlebender ihre »unzertrennlichen Begleiter« sind, wie der Häftling Samuel Drix über den SS-Mann Heinen schreibt. Hinter ihnen, am rechten Rand des Fotos, sieht man einen Dackel. Die Qualität dieser Fotografie ist je nach Gedenkstätte sehr unterschiedlich, was bedeutet, dass mal mehr, mal weniger Details erkennbar sind. Die detailreichste Fotografie bietet das Museum Ghetto Fighters’ House (Westgaliläa, Israel).32 Sie zeigt deutlich die Pflasterung, mithin den Boden, auf dem das Orchester steht, was Auskunft über den Ort und damit die Entstehung eines Bildmotivs geben kann.33 31

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Eine Posaune, die Michal Borwicz gesehen haben will, ist auf dem Foto nicht erkennbar, weil der obere Bildrand die Instrumente wegschneidet: »Der Posaunist wendet sich von Zeit zu Zeit heimlich ab und schüttelt sein Instrument aus, damit das Regenwasser abfließen kann« (Borwicz 2014, S. 121). Auch ein Cello, das nach Angaben des USHMM der »Cellist Leon Eber« gespielt haben soll, ist nicht zu sehen. Siehe: https://collections.ushmm.org/search/catalog /pa10008 (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). gfh.org.il (Archives & Library, zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Über die Bedeutung solcher Bildelemente siehe bei Gerhard Paul das Kapitel 3 Mit Knüppel und Kamera. Menschenjagd und sexualisierte Gewalt in Lemberg 1941 (Paul 2020, S. 291ff.).

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Drei verschiedene Beläge sind zu erkennen: Ein Teil der Musiker (im Vordergrund) steht auf einer grob gepflasterten, etwa drei bis dreieinhalb Meter breiten Straße, die links und rechts jeweils mit sauber verlegten, gleich großen, also behauenen Grenzsteinen eingefasst ist. Eine weitere Reihe solcher Steine zieht sich in der Bildmitte quer zur Fahrtrichtung durch die Straße, die in Höhe der vier Saxofonisten nach links schwenkt und hinter ihnen aus dem Bildraum führt. Sorgsamer ist der Belag aus kleineren und gleich großen Steinen verlegt, der im Winkel zwischen rechtem und unterem Bildrand erkennbar ist und auf dem einer der Uniformierten steht. Die drei Akkordeonspieler am linken Bildrand und der Dirigent vor ihnen stehen ebenfalls auf einer gepflasterten Fläche, die aber wieder eine andere Struktur als das Pflaster der Straße hat. Über die Bodenbeschaffenheit im Lager gibt es verschiedene Darstellungen. Der Rabbiner und ehemalige Janowska-Häftling David Kahane berichtet, seine Arbeitsbrigade habe Mitte Dezember 1942 die Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs, »eines stillen Zeugnisses des pulsierenden jüdischen Lebens in Lemberg«, niederreißen müssen, um mit den Brocken – »kantigen, scharfen, unbehauenen Pflastersteinen« – das Lager zu pflastern (Kahane 1990, S. 89). Diese »Katzenköpfe«, wie er sie nennt, seien vor allem für den Weg vom Lager zur Villa des Lagerkommandanten Willhaus verlegt worden. Bei Selektionen seien die Häftlinge gezwungen worden, über sie zu laufen, was nur den Gesündesten »ohne zu fallen« gelungen sei (ebd.). Fast gleichlautend heißt es im Schwarzbuch: »Nachdem das Gelände für das Lager vorbereitet worden war, wurde es mit Grabsteinen vom jüdischen Friedhof gepflastert. Selbst den Toten gönnten die Faschisten keine Ruhe« (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 178). Und das Protokoll der ASK berichtet unter dem Datum 14. September 1944 über die »Besichtigung des Arbeitslagers in der Janowska-Straße«, dass vom zweiflügeligen Tor des Lagers aus »eine Straße ins Innere des Lagers (führt), die mit marmornen Grabsteinen vom Judenfriedhof gepflastert ist« (BAL 162/29309, Bl. 3). Das deckt sich nicht mit den behauenen Grenzsteinen und ordentlich verlegten Kleinpflastersteinen, die auf der Fotografie des Ghetto Fighters’ House zu sehen sind. Auffallend ist noch ein anderes Detail: Niemand der Abgebildeten scheint die Gegenwart des Fotografen zu bemerken. Der Dirigent steht mit dem Rücken zur Kamera, auch die deutschen Offiziere am rechten Bildrand nehmen ihn offensichtlich nicht zur Kenntnis, niemand schaut in Richtung Objektiv. Für die Deutung von Fotografien in Konzentrationslagern ist auch und mitunter besonders wichtig, was auf ihnen nicht zu sehen ist oder nicht zu sehen sein sollte. Das Foto zeigt keine Häftlinge oder Exekutionen, man sieht keine von der Lager-SS gegen Häftlinge ausgeübte Gewalt, es gibt nicht einmal Hinweise auf ein Lager. Doch dieses Fehlen sichtbarer Gewalt ist gefährlich und verführerisch zugleich. Aus dem Blick gerät, dass diese »Leerstelle« ein wesentlicher Bestandteil der fotografischen Inszenierung von SS-Verbrechen ist. Gewalt sollte nicht zu

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sehen sein. Zugleich erklärt diese »unsichtbare« Gewalt, warum diese Fotografie zur Ikone und zum meistzitierten Motiv des Janowska-Lagers werden konnte. Es verklärt eine tödliche Wirklichkeit. Sergej Trovimowitsch Kusmin, den wir bereits im Kapitel über die Arbeit der ASK als Nachlassverwalter der Todestango-Legende kennengelernt hatten, zieht dafür auch dieses Foto heran. Er will im Sommer 1944 den Fotografen persönlich kennengelernt haben, der diese ikonografische Aufnahme gemacht haben soll. Es handelt sich um einen ehemaligen Häftling mit Namen »Levinter«, der im Janowska-Lager »als Fotograf arbeitete«. Zusammen mit »dem forensischen Experten Nikolai Ivanovich Gerasimov« hätten sie ihn in der kleinen Bezirksstadt Zolochiv (Solotschiw) im Bezirk Lwiw um zwei Uhr morgens aus dem Bett geklopft. Unter den Fotografien, die sie zu sehen bekamen, befand sich auch die Ikone des Todestangos, die für Kusmin ein »einzigartige[s] fotografische[s] Dokument« und ein klarer Beweis ist: »Die Geschichten der überlebenden Gefangenen des Janowska-Lagers über die Hinrichtungen zur Musik [waren] nicht das Ergebnis einer kranken Fantasie.« Die Abbildung zeige »einen geschlossenen Kreis von Musikern, in der Mitte – der Dirigent, und an der Seite gibt es Offiziere und Soldaten der SS«. Kusmin gibt auch zu erkennen, warum diese Fotografie so wichtig ist: »Die Geschichte vom ›Todestango‹ ist eine der schrecklichen Seiten der Gräueltaten der Nazis.« Und die Ablichtung zeuge »vom grenzenlosen Zynismus der Nazis«. Dass es Kusmin vor allem um propagandistische Wirkung geht, wird niemanden überraschen. Eher erstaunt, wie achtlos er über Widersprüche hinweggeht, die ihm als ehemaliges ASK-Mitglied besser als vielen anderen bekannt gewesen sein müssen. Nicht nur hatte die von ihm als Zeugin angerufene Anna Poizer34 ihrerseits der ASK ein Foto des Lagerorchesters übergeben, das der im Lager-Büro beschäftigte Häftling »Streisberg« mit einem offenbar geheimen Fotoapparat gemacht haben soll. Als »man bei ihm die Aufnahmen des Lagers entdeckte«, sei er gehängt worden. Anna Poizer erklärt aber nicht, wie Streisberg die Aufnahme machen, den Film entwickeln, Abzüge herstellen und sie selbst »das Foto des Orchesters aufbewahren konnte« (USHMM RG-22.002M). Außerdem soll die Ikone des Todestango, so hieß es in der Bildlegende in der Prawda vom 23. Dezember

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M. Tokarev, Generalmajor der Justiz, hatte ebenfalls über einen Prozess im Jahr 1965 gegen »eine Gruppe von Vaterlandsverrätern« berichtet, die »sich aktiv an der Massenvernichtung von Häftlingen faschistischer Konzentrationslager« beteiligt hatten. Tokarev gibt im Wesentlichen die Zeugenaussage von Anna Poizer so wie Kusmin wieder. Sein Text Im Teufelskreis erschien in dem Sammelband Unvermeidliche Vergeltung. Die Publikation sollte »Kommandeuren und politischen Arbeitern, Propagandisten und Agitatoren bei ihrer Arbeit helfen« und sie zu »hoher politischer Wachsamkeit erziehen«. Entsprechend hoch war die Auflage: 100.000 Expl. Siehe: http://militera.lib.ru/h/sb_neotvratimoe_vozmezdie/10.html (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

Verfestigung

1944, »eine deutsche Aufnahme« sein. Von einem Lagerfotografen war bislang nirgendwo die Rede. Doch bei diesen Widersprüchen sollte man nicht lange verweilen, denn der entscheidende Einwand gegen Kusmin ist: Selbst wenn das Foto im Janowska-Lager entstanden ist, sei es von einem offiziellen Lagerfotografen oder heimlich (was man als unwahrscheinlich ausschließen muss), dann lässt das Foto nicht den Schluss zu, den Kusmin unbedingt ziehen will: Dass es die Existenz des Todestangos beweist. Wenn überhaupt, belegt es nur die Wirklichkeit eines Orchesters. Wo diese Ikone tatsächlich entstanden ist und ob die Fotografie nicht ein anderes, nämlich das Lemberger Ghetto-Orchester zeigt, bleibt weiter unklar. Die damals acht Jahre alte Nava Ruda schreibt in ihren sehr viel später entstandenen Erinnerungen: Ihre Familie wohnte »genau gegenüber dem Tor, wo das Musikorchester stand und Tag für Tag musizierte. Von Orchesterklängen begleitet zogen Arbeitsgruppen an den Deutschen vorbei« (Ruda 2000, S. 28). Keiner der Ausmarschierenden habe gewusst, »ob er auch zurückkehren würde, denn man zog immer wieder Leute aus der Gruppe heraus und erschoss sie« (ebd.). Und Stefan Szende schreibt: »Die jüdische Kapelle musste jeden Morgen, wenn wir in die Stadt zur Arbeit zogen, am Viadukt stehen und uns aufspielen« (Szende 1945, S. 276). Der Hinweis auf die Überführung böte eine einleuchtende Erklärung für den Aufnahmewinkel. Eigentlich sollte diese Fotografie des im Kreise stehenden Orchesters im Gerichtssaal 600 in Nürnberg als Beweisstück gezeigt werden. In der Nachmittagssitzung des 14. Februar 1946, von der bereits die Rede war, hatte der Hilfsankläger der Sowjetunion, Oberst Smirnov, angekündigt, er werde später »dem Gericht Fotografien dieses Todesorchesters vorlegen« (IMT 1947b, S. 451). Vier Tage später, in der Nachmittagssitzung des 61. Verhandlungstages, dem 18. Februar, präsentierte er insgesamt 19 Beweisstücke über Verbrechen, die Deutsche während der Besetzung in der Sowjetunion verübt hatten. Das zehnte betrifft den »Death Tango« und das von »Professor Striks dirigierte« Orchester sowie seinen »Bandmaster Mund« (ebd., S. 549). Wir wissen nicht, welches Foto Smirnov dem Tribunal auf dem eigens im Gerichtssaal aufgestellten Bildschirm tatsächlich vorführte – die Fotografie des im Kreis stehenden Orchester war es gewiss nicht: Seine Beschreibung des Fotos entspricht nicht dem Bildinhalt. Smirnov übergeht zum einen die beiden auffallendsten und ungewöhnlichsten Merkmale: Die Anordnung des Orchesters im Kreis, sodass der Dirigent etwa die Hälfte der Musiker immer im Rücken hat. Ferner, dass die gefangenen Musiker Uniformen oder uniformähnliche Kleidung tragen, keine Häftlingskleidung.35

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Uniformen für Mitglieder einer Lagerkapelle waren keineswegs üblich. Sie sind nur in einem Fall belegt: So schreibt der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der 1943 ins KZ Buchenwald deportiert wurde: »Die Kommandos machten sich mit Blechmusik an die Arbeit. Das Musikkorps des Lagers steht schon beim großen Tor. Seine Mitglieder tragen auffällige Uni-

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Stattdessen richtete er die Aufmerksamkeit des Gerichts auf »zwei Punkte«: auf Obergruppenführer Gebauer, rechts in der weißen Uniform, und seinen Hund Rex hinter ihm. Von diesem Hund, so betonte er, wisse man aus vielen Vernehmungen, dass er darauf trainiert worden sei, Menschen anzufallen und sie »in Stücke zu zerreißen«.36 Es sei offensichtlich, dass Gebauer das Orchester zum »execution ground« führe. Dem besagten Foto kann man das beim besten Willen nicht entnehmen. Man sieht einen Uniformierten in weißer oder heller Uniform und auch einen Hund, nämlich einen Dackel, dem man schwerlich zutraut, Menschen »zu zerreißen«. Dieser Dackel soll nach Angaben des USHMM Gustav Willhaus gehört haben, was wiederum der Bildlegende eines anderen Fotos des USHMM zum Komplex »KZ Janowska« widerstreitet: Es zeigt angeblich Gustav Willhaus vor dem Lagertor zu Pferde – in Begleitung eines Schäferhunds.37 Da der Träger der weißen/hellen Uniform mit dem Rücken zum Bildbetrachter steht, ist nicht auszumachen, um wen es sich tatsächlich handelt. In der Prawda- und Izvestija-Ausgabe vom 23. Dezember 1944 hieß es, es sei Friedrich Warzok, für das USHMM ist es Fritz Gebauer. Außerdem irrt sich Smirnov, was die Funktion Gebauers betrifft. Da das Orchester nach Juli 1942 im eigentlichen Janowska-Lager entstanden sein soll, kann Gebauer nicht Lagerleiter gewesen sein. Diese Position hatte spätestens ab Juli 1942 sein früherer Mitarbeiter Gustav Willhaus übernommen, während Gebauer weiterhin die benachbarten DAW leitete.

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formen: rote Reithosen mit grünen Litzen, grüne Jacken mit gelben Tressen, schwarze Stiefel« (Semprún 2004, S. 94). Es waren »Uniformen der ehemaligen königlich-jugoslawischen Garde, die nach der Besetzung durch deutsche Truppen requiriert worden waren«. Siehe: http:/ /fotoarchiv.buchenwald.de/detail/1002 (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Eugen Kogon, der ebenfalls im KZ Buchenwald inhaftiert war, schreibt, die Mitglieder der Musikkapelle hätten »von da an wie Zirkusdirektoren« ausgesehen (Kogon 2015, S. 153). Wörtlich sagte Smirnov: »Gebauer, in white uniform, and behind him his dog, Rex, known to us through many interrogations as having been trained to harass living persons and to tear them to pieces.« Möglicherweise gehörte auch Friedman zu den Befragten. In seiner Studie Die Vernichtung der Lemberger Juden berichtet er von einem Schäferhund mit Namen Aza, »der speziell geschult war, Menschen zu zerreißen« (Friedman 2014, S. 55). Bei Friedman gehört dieser Hund dem SS-Mann Soernitz, der Aufseher im kleinen, im Herbst 1941 eingerichteten und zur DAW gehörenden Zwangsarbeitslager (ZAL) war. DAW und ZAL leitete Gustav Gebauer. Siehe auch Wassilij Grossman und das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, wo ebenfalls von einem Hund berichtet wird, der abgerichtet war, Häftlinge anzufallen (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 28). Dasselbe Foto gibt es auch im Archiv des Ghetto Fighters’ House Museum (GFHM), Westgaliläa/Israel. Siehe: www.gfh.org.il/eng/Archive (Suchwort: Janowska, zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Dort soll der Reiter »Franz Warzog« sein (richtig Friedrich Warzok, d. Vf.), wofür auch ein Vergleich mit anderen Fotos spricht. Es zeigt, dass sich auch die großen Museen und Archive nicht einig über die Herkunft von Fotos und die auf ihnen abgebildeten Personen sind.

Verfestigung

Auch diese Fotografie soll das Orchester im Janowska-Lager zeigen. Von der Ikone unterscheidet es sich in einigen Details: Es gibt nur drei Saxofonisten (statt vier auf der »Ikone«) und zwei Akkordeons (statt drei). Außerdem fehlt die Basstrommel, es gibt keine Notenständer, das Orchester befindet sich auf einem unbefestigten Platz, und die meisten Musiker wissen um die Gegenwart des Fotografen. Die von Smirnov erwähnte Fotografie zeigt einen anderen Ausschnitt, auf dem Willhaus, Warzok, der Schäferhund und ein Teil der Kapelle zu sehen sind.

Courtesy of the Ghetto Fighters’ House, Israel/The Photo Archive

Es gibt noch zwei weitere Fotografien, die das Orchester des Janowska-Lagers zeigen sollen. Motiv und Aufnahmewinkel sind identisch, verschieden ist nur der Ausschnitt. Aber auch hier widersprechen Smirnovs Ausführungen dem Augenschein. Eines dieser Fotos ist als »Document 2430-PS, Photograph 32« ebenfalls im Band 30 der Niederschriften des Nürnberger Tribunals (IMT 1947c, S. 397) zu finden. Die Bildunterzeile auf Deutsch lautet: »Die Henker des Lagers Janovsk [sic!], Warzok und Willhaus, beim Verlassen des Gebäudes, um der Exekution von Häftlingen beizuwohnen.« Willhaus (vermutlich rechts) hat einen langen Ledermantel an, der etwas fülligere SS-Offizier links trägt eine unauffällige Uniform. Hinter den beiden ist ein Schäferhund, rechts von ihnen sieht man ein Orchester, das erkennbar spielt. Auch hier tragen die Musiker Uniformen. Was dieses Foto aber entscheidend von dem ikonografischen Foto unterscheidet: Die Gegenwart

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des Fotografen, der sich ebenfalls auf dem Platz und damit auf gleicher Höhe wie die Musiker befindet, ist den Abgebildeten bekannt. Der Dirigent (der einzige ohne Musikinstrument) und viele der etwa 28 Orchestermitglieder blicken in seine Richtung.38 Sie wissen, dass sie in diesem Augenblick fotografiert werden. Doch auch auf dieser Fotografie ist kein Posaunist zu erkennen, von dem Borwicz spricht, dafür aber – am rechten Bildrand – zwei Trompeter und am linken Bildrand ein Musiker mit Querflöte, die auf der Ikone des Todestangos nicht zu finden sind. Außerdem gibt es nur zwei Akkordeons (statt drei), keine große Basstrommel und drei statt vier Saxofonisten. Und schließlich kommt das gesamte Orchester jetzt offenbar ohne Noten aus, es gibt keine Notenständer. Immerhin ist dieses Bild besser dokumentiert, wenngleich Zweifel bleiben. Dazu hat vor allem ein angeblich als »Lagerfotograf«39 eingesetzter Häftling beigetragen, der in einem weiteren Dokument die folgende Erklärung abgegeben haben soll: »Untersturmführer Gustav Willhaus (rechts) bei seiner morgendlichen Runde durch das Janowska-Konzentrationslager. Das Orchester besteht aus Lagerhäftlingen, die später ermordet wurden, man sieht sie hier einen Marsch spielen.«40 Dieser Text ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als seinem Verfasser bereits bekannt war, dass die Musiker »später ermordet wurden«, was tatsächlich bei der Auflösung des Lagers am 19. November 1943 geschah. Bei seiner Flucht habe er eine Reihe von Filmen retten können, die später entwickelt wurden. Ob dieses Dokument auf das Zeugnis des Lagerfotografen zurückgeht, wissen wir nicht. Auf jeden Fall widerstreitet seine Erklärung der Bildlegende im Dokumentenband des International Military Tribunal. Während man nach seinen Worten den Lagerkommandanten »Willhaus bei seiner morgendlichen Runde« sieht, machen er und Warzok sich laut der Bildlegende im Dokumentenband auf den Weg, »um der Exekution 38

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Dieses Foto ist leider nicht so detailreich. Bei aller daher gebotenen Vorsicht: Der Lagerplatz, auf dem das Orchester steht, macht nicht den Eindruck eines befestigten Platzes. Siehe: gfh.org.il (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Tatsächlich scheint es im Janowska-Lager einen Lagerfotografen mit Namen Byk gegeben zu haben. Im sogenannten Lemberg-Verfahren musste sich der Angeklagte Carl Wöbke, geboren am 23. März 1910 in Leipzig, gegen den Vorwurf verteidigen, er habe »im technischen Büro des Janowska-Lagers den Lagerfotografen Byk aus Zorn darüber erschlagen […], dass er Byk zuvor versehentlich für einen Deutschen gehalten und mit dem Hitler-Gruß gegrüßt hatte« (Rüter; de Mildt 2003, S. 778). Das LG Stuttgart befand aber, dass dieser Vorfall »in Wirklichkeit nicht stattgefunden« hatte. Über das weitere Schicksal Byks ist nichts bekannt. Der vollständige Text mit der Überschrift »Music in Lvov Again« lautet im Original: »Untersturmführer Gustav Willhaus (right) making his morning rounds of the Yanovsky concentration camp. The orchestra consisting of prisoners who were later put to death, is here seen playing a march. This picture was taken by one of the prisoners who carried out the duties of camp photographer. On escaping he carried away with him a number of films which have only now been developed.« Dieses Foto und die Erklärung des Lagerfotografen befinden sich im Bestand der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Item ID: 10574505.

Verfestigung

von Häftlingen beizuwohnen« (IMT 1947d, S. 397). Außerdem spricht er von einem »Marsch«, worauf später zurückzukommen sein wird. Erstaunlich ist, dass trotz der ungesicherten Quellenlage nie Zweifel an den »Bildlegenden« der Sowjets laut wurden, auch dann nicht, als Oberst Smirnov über den wohl naheliegendsten Einwand hinwegging. Niemand kann wissen, welches Stück Musik das Lagerorchester tatsächlich im Moment der Aufnahme spielte. Dennoch hält sich hartnäckig die Bildlegende: »Das Orchester der im Lager gefangenen Musiker spielt den ›Todestango‹. Im Takt dazu werden Folterungen und Hinrichtungen vollzogen« (IMT 1947d, S. 395). Wenn die Kapelle tatsächlich diese besondere Melodie spielte, dann haben wir den Beweis vor Augen und übersehen ihn gleichwohl. Denn die Fotografie zeigt nicht nur die Musiker, sondern elf Notenständer, auf denen sich die Partitur des Todestangos befunden haben muss. Andernfalls hätte die Kapelle ihn in jenem Augenblick nicht spielen können. Es hätte mithin wenigstens elf Kopien geben müssen (vermutlich mehr, da nicht das ganze Orchester zu sehen ist). Dennoch ist bis heute nicht ein einziges Notenblatt aufgetaucht, das die Wirklichkeit dieser legendären Komposition belegt.41 Man könnte diese Blindheit gegenüber wesentlichen Bilddetails und der Lagerwirklichkeit übergehen, wenn sich darin nicht ein Desinteresse an den praktischen Nöten in der Arbeit eines Orchesters manifestieren würde. Gleichgültig, ob der Todestango je angeordnet und am Ende auch geschaffen wurde – mit der Komposition wäre es nicht getan gewesen. Das Stück musste für eine größere Kapelle orchestriert, für die einzelnen Instrumente (Saxofone, Geigen, Akkordeons, Klarinetten, Trompeten) transkribiert, arrangiert und die Noten für die Musiker kopiert werden, um das Orchester überhaupt in die Lage zu versetzen, es zu spielen. Das war keine Sache von Stunden, sondern eher eine von Tagen, wie Szymon Laks in seinem Bericht über das von ihm in Auschwitz geleitete Orchester deutlich machte (Laks 2000, S. 44), erst recht, wenn es aus 60 Mann bestanden haben soll, wie Wells schrieb. Hinzu kommt, dass die Besetzung wechselte, weil Musiker starben oder neue Musiker inhaftiert wurden, die wieder andere Instrumente beherrschten. Laks schreibt, dass ihm die Lagerleitung von Auschwitz-Birkenau für das Kopieren der Noten zeitweilig mehrere Personen zugestand (ebd., S. 53). Dafür wäre aber etwas nötig gewesen, was es in der oralen Welt des Janowska-Lagers für die Häftlinge offiziell nicht gab: Papier und Stifte.

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Auch von anderen Stücken, seien es Märsche oder Opern, sind keine Noten gefunden worden. Wichtiger ist, dass die sowjetische Seite dafür nie eine Erklärung angeboten hat. Offenbar hat auch nie jemand danach verlangt. Dass die Deutschen vor ihrer Flucht vor der Roten Armee viele Dokumente vernichteten, die als Beweise ihrer Verbrechen hätten dienen können, spricht nicht dagegen. Notenblätter, die ihnen kaum hätten gefährlich werden können, dürften nicht zu jener Kategorie Dokumente gehört haben, die es vordringlich zu beseitigen galt.

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Ebenso wenig Beachtung hat der Lageralltag der Musiker und ihres Dirigenten gefunden. Angeblich verfügte das Orchester im Janowska-Lager über eine eigene Baracke. Nach einem »detaillierten« Lagerplan befand sie sich hinter den Männerbaracken (Rich 2017, S. 172).42 Wie die Musiker dort ihre Tage verbrachten, ob sie regelmäßig probten, neue Stücke einübten, ob sie mehr Nahrungsmittel erhielten, wie das Verhältnis zu den übrigen Häftlingen war und welche Bedeutung die Musik für die Häftlinge hatte, darüber erfährt man nur wenig. Josef Weinberg schreibt in seinen 1946 entstandenen Erinnerungen »Dort, wo der Tod eine Linderung war«, die Musiker hätten »trotz ihrer Erschöpfung nach der schweren Arbeit auf Anlass Rokitas musizieren« müssen (StAL El 317 III Bü 1724, 1).43 Wie sie dazu imstande waren, erläutert er leider nicht.44 Bei Simon Wiesenthal taucht die Musiker-Baracke nur beiläufig auf: »Zwei SS-Männer gingen auf die Baracke zu, in der die Musikkapelle untergebracht war« (Wiesenthal 1970, S. 70). Über Rokita schreibt er, dass sein ganzer Ehrgeiz darauf ging, eine eigene Kapelle zu haben. »Er verschaffte den Musikern eine eigene Unterkunft und verhätschelte sie geradezu« (Wiesenthal 1970, S. 16f). Abends hätten sie angeblich Werke von Bach, Grieg oder Wagner für die SS gespielt, um morgens wieder am Lagertor zu stehen, wo sie den Häftlingen beim Ausmarsch den Takt vorgaben: »Peinlichst achtete die SS darauf, dass wir schön im Takt der Musik marschierten« (ebd.). Doch nicht nur morgens und abends oder zur Unterhaltung der SS spielte das Orchester, sondern offenbar auch mittags. Davon berichtet Stefan Schoenfeld. Wenn er mit seiner HKP-Brigade (Heereskraftwagenpark) um 11.30 Uhr Pause machte und für das Mittagsessen ins Lager zurückkehrte, spielte das Orchester dieselbe Musik (»the same music played«) wie am Morgen (Schoenfeld 1985, S. 136).

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Die Wirkung solcher Lagerpläne ist der von Fotografien vergleichbar: Sie suggerieren eine wirklichkeitsgetreue Abbildung, die sie nicht haben. Wie die Erinnerungstexte ehemaliger Häftlinge entstanden alle Lagerpläne erst im Nachhinein: Sie sind aus der Erinnerung rekonstruierte Pläne. Entsprechend vielfältig sind die Lagerpläne, über die das Staatsarchiv Ludwigsburg verfügt. Eugen Kogon berichtet davon, dass der Schutzhaftlagerkommandant im KZ Buchenwald, Hermann Florstedt (geb. 18.02.1895), 1940 anordnete, »dass eine ordentliche Bläserkapelle gebildet werden solle« und von den neu angekommenen Instrumenten gleich zwölf für »den Musikzug der SS« beschlagnahmte: »Von da an wurden die Häftlinge der Lagerkapelle von schwerer Arbeit befreit, sodass sie Übungsstunden einführen konnten« (Kogon 2015, S. 153). Szymon Laks berichtet, dass die Größe des von ihm geleiteten Orchesters fast täglich wechselte (Laks 2000, S. 47). Als Gründe führt er an, dass die Musiker auch zur Arbeit ausrücken mussten und von der Arbeit einfach erschöpft waren, sie erkrankten, in den Gaskammern endeten oder die Hoffnung verloren und Selbstmord an den mit Strom geladenen Stacheldrahtzäunen begingen (ebd., S. 48). Das nötigte ihn zu einem Orchestrierungsverfahren, das dem Orchester die Aufführung von Musikstücken unabhängig von der jeweiligen Größe erlaubte (ebd.).

Verfestigung

Als Fazit können wir festhalten: Es kann nicht als gesichert gelten, dass das wichtigste Foto in der Ikonografie des Todestangos tatsächlich das Orchester im Konzentrations- und Zwangsarbeitslager Janowska zeigt. Wie bei vielen anderen Fotografien gilt auch hier Raul Hilbergs Diktum, dass Forscher in den wenigsten Fällen imstande waren, »den Ort, die Zeit oder sonstige Besonderheiten auf den Aufnahmen herauszufinden« (Hilberg 2002, S. 18). Dieter Reifahrth und Viktoria Schmidt-Linsenhoff bemängelten seinerzeit »den unkritische[n] und oberflächliche[n] Umgang von Publizisten und Historikern« mit Fotografien und ihren Aussagen. Wie schon Hilberg kritisieren sie, dass Orte, Menschen und Ereignisse nicht benannt und »auf jegliche Informationen über die Herkunft, die Fundumstände und die Parteilichkeit des Fotos« verzichtet wird (Reifahrth; Schmidt-Linsenhoff 1997, S. 477).45 Ihr Dringen auf mehr Sorgfalt kommt nicht von ungefähr. Ihr Aufsatz erschien in dem Band Vernichtungskrieg, der als wissenschaftlicher Begleitband zu der viel beachteten, im März 1995 in Hamburg eröffneten Ausstellung Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 veröffentlicht wurde. Sie löste nicht nur eine breite Debatte über die Rolle der Wehrmacht im Ostfeldzug gegen Polen und die Sowjetunion aus, sondern rief auch heftige Gegenreaktionen hervor, weil sich das bis dahin gültige Bild von der sauberen Wehrmacht nicht länger aufrechterhalten ließ. Stattdessen zeigte die Ausstellung die Wehrmacht »als Instrument und Motor der nationalsozialistischen Rassen- und Eroberungspolitik« (Heer 2020, S. 32). Kritik entzündete sich auch am »Umgang mit Fotos« und den »mitunter nachlässigen Bildunterschriften«, wie eine später eingesetzte internationale Historikerkommission befand, die die Vorwürfe überprüfen sollte. Ihr gehörte auch der Historiker Hans-Ulrich Thamer an. Anlässlich des 25. Jubiläums der Ausstellung am 5. März 2020 erinnerte der Westdeutsche Rundfunk (WDR 3) in seiner Sendung ZeitZeichen an dieses Ereignis. Von den damals 1433 gezeigten Fotos, so habe die Kommission befunden, »gehörten 20 nicht in eine Ausstellung über die Wehrmacht«, einige Fotos seien falsch beschriftet worden, allerdings nicht in böser Absicht, »sondern wegen der leichtfertigen Übernahme aus den Archiven, vor allem bei Fotos aus Weißrussland«. Insgesamt jedoch bestätigte die Kommission den Ausstellungsmachern, seriöse und gewissenhafte Quellenarbeit geleistet zu haben (ausführlich: Heer 2020, S. 37). Die 20 inkriminierten Fotos verdeutlichten aber ein bis heute nicht gelöstes Problem. Einen Großteil der Ausstellungsfotos hatten »Soldaten der Roten Armee bei toten oder gefangenen Deutschen« gefunden und der Außerordentlichen Staatlichen Kommission der Sowjetunion übergeben. In den Begleitschreiben der Soldaten an die Kommission hätten sich meist »nur das Datum, der Frontabschnitt

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Siehe auch: Bernd Hüppauf, Der entleerte Blick hinter der Kamera (Hüppauf 1997).

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und der Name des Rotarmisten« befunden. Und dieser Mangel an »quellenkundlicher Sorgfalt« eröffnete einen weiten Interpretationsspielraum, den Hans-Ulrich Thamer, Historiker und Mitglied der Kommission, in der WDR-Sendung so zusammenfasste: »Dass Bilder genauso lügen können wie Texte, ist eine Erkenntnis, die sich erst im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung allmählich durchgesetzt hat.«46 Genaugenommen lügen nicht die Bilder, sondern vor allem die wortreichen Bildlegenden, die den Blick des Betrachters lenken sollen, indem sie eine Deutung vorgeben. Sie scheinen für ein Foto mitunter wichtiger zu sein als die Abbildung selbst. Die Verfasser der Bildunterschriften wussten offenbar, dass Fotos nicht selbsterklärend, sondern »ebenso konstruiert und vermittelt wie jede andere Art der Darstellung« sind (Young 1992, S. 100). Es bedarf Worte, die sie erläutern und in den richtigen Kontext rücken. »Die Aussage eines Fotos liegt noch niemals allein in diesem selbst«, schreibt die Fotohistorikerin Cornelia Brink47 in ihrem Buch über die Ikonen der Vernichtung (Brink 1998, S. 10). »Politische, juridische, aufklärerische, pädagogische Diskurse« würden den »fotografischen Diskurs überlagern« (ebd.). Folglich haben »alliierte Besatzungsmächte, Juristen, Publizisten, Pädagogen und Ausstellungsmacher […] die Fotografien unterschiedlich verwendet und unterschiedliche Fragen an sie gerichtet« (ebd.). Auch wenn, wie eingangs gesagt, gern betont wird, dass Fotografien mehr als tausend Worte sagen, so bleiben sie doch auf Wörter angewiesen, die erläutern, was das Auge sieht (oder sehen soll). Das gilt auch für Fotos aus Lagern und von den Rändern der Massengräber. Sie gewinnen ihre »Bedeutung und Wirkung aus dem Kontext […], in dem sie stehen oder in den sie gestellt werden«, schreibt Bernd Hüppauf, seinerzeit Professor an der New York University (Hüppauf 1997, S. 512). Erst recht gilt das für das Foto vom Orchester im Janowska-Lager, das bis in die Gegenwart in einer Art Zirkelschluss unentwegt als »Beweis« für das herangezogen wird, was die Bildlegenden behaupten. Die fehlende quellenkritische Sorgfalt hat allerdings dazu beigetragen, ihre Vielfalt bis auf den heutigen Tag beträchtlich zu vermehren. Variationsreicher könnten die Erläuterungen kaum sein. Sie weichen so stark

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WDR-ZeitZeichen am 5. März 2020: »Die Verbrechen der Wehrmacht«, http://bit.ly/WDR-Z eitzeichen_Verbrechen-der-Wehrmacht (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Die Ausstellung Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945 war eine der umstrittensten und meistbesuchten. Nach der Eröffnung am 5. März 1995 in Hamburg war sie in 34 deutschen und österreichischen Städten zu sehen. Insgesamt wurden 900.000 Besucher gezählt (Heer 2020, S. 31). Cornelia Brink gehörte 1999 der Historikerkommission an, die zur Untersuchung der Vorwürfe gegen falsch verwendete Fotos in der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 eingesetzt worden war (Heer 2020, S. 36). Trotz der Aufmerksamkeit, die visuelle Medien in letzter Zeit in der historischen Forschung gefunden hätten, sei »ihre methodisch reflektierte Interpretation eher die Ausnahme als die Regel«, klagte Heike Talkenberger (Talkenberger 2007, S. 99).

Verfestigung

voneinander ab, dass es schwerfällt, zu glauben, es sei von ein und demselben Bild die Rede. Zum besseren Vergleich habe ich die »Bildlegenden« in einer Synopse zusammengefasst.

Was das Foto des Orchesters im Janowska-Lager angeblich zeigt »Das Häftlingsorchester spielt den ›Todestango‹ während der Erschießung der sowjetischen Bürger durch die deutschen Besatzer (deutsche Aufnahme).«

1944

Prawda Nr. 307 vom 23. Dezember 1944/Izvestija Nr. 302 vom 23. Dezember 1944

»Das Orchester der im Lager gefangenen Musiker spielt den ›Todestango‹. Im Takt dazu werden Folterungen und Hinrichtungen vollzogen.«

1946

International Military Tribunal, Bd. 30 (IMT 1947d, S. 395)

»Inmates orchestra of Janowska Camp. The orchestra played when the inmates departed for work and on their return. The orchestra was used to mock and humiliate the inmates. Shortly before the camp was liquidated, the Nazis shot all members of the orchestra.«

1963

Leon W. Wells, The Janowska Road (Wells 2014, S. 238)

»Unten spielt das Orchester, gebildet aus verhafteten Musikern, den ›Todestango‹, zu dessen Rhythmus Folterungen und Hinrichtungen vollzogen wurden. Willhaus’ Frau erschoss mitunter eigenhändig Häftlinge. Übrigens war ein anderer SS-Untersturmführer dieses Lagers, Rokita, früher selbst Geiger in einer Jazzband gewesen. Die beiden Fotos wurden von Deutschen aufgenommen.«

1963

Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich (Wulf 1963, S. 224ff)

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»Das Orchester der im Lager gefangenen Musiker spielt den ›Todestango‹. Im Takt dazu werden Folterungen und Hinrichtungen vollzogen.«

1976

»Das tragische Orchester spielt den Todestango, während zur gleichen Zeit Häftlinge des Janowska-Lagers ermordet wurden.«

NGBK/Renzo Vespignani, »Faschismus« (Vespignani 1976, S. 123)

Joachim Schoenfeld, Holocaust memoirs (Schoenfeld 1985, S. 145-146).

»Bilder aus dem Zwangsarbeiterlager in der Janowska-Straße von Lemberg. Die Häftlinge sind hilflos dem Sadismus ihrer Bewacher ausgeliefert. Kein Anlass ist zu nichtig, einen Gefangenen zu töten. Ein Orchester muss zum Vergnügen der Lagerfunktionäre aufspielen, auch bei Erschießungen.«

1989

Ernst Klee und Willi Dreßen (Klee; Dreßen 1989, S. 145)

»The ghetto orchestra set up by Obersturmführer Heinrich (sometimes identified as the Janowska camp orchestra).«

1990

Robert Marshall, In the sewers of Lemberg Lvov, (Marshall 1990, Bildteil zwischen S. 46/47)

»Das Orchester im Lager Janowska, Lvóv, spielt den ›Todestango‹, um 1942.«

1995

John Felstiner, Paul Celan (Felstiner 2014, S. 57)

»The orchestra played when the inmates departed for work and on their return. The orchestra was established by the Germans, who amused themselves by mocking and humiliating the inmates.«

März 1995

Yad Vashem www.yadvashem.org

»Das Lagerorchester Janowska. Während die Häftlinge zur Arbeit abmarschierten und wenn sie zurückkehrten, musste es zu ihrer Verhöhnung und Demütigung aufspielen.«

April 1998

Enzyklopädie des Holocaust (Jäckel; Longerich; Schoeps 1998, S. 658)

»Diese SS-Fotografie zeigt ein Lagerorchester, wahrscheinlich im Janowska Konzentrationslager.«

2007

Guido Fackler, Music in Concentration Camps 1933–1945(Fackler 2007, S. 11)

Verfestigung

»The Jewish members of the Lwów Philharmonics playing the ›Tango of Death‹ in Lwów’s Janówska death camp.«

2014

Magyarul: http://riowang.blogspot.com/2014/05/poema .html

»Members of the orchestra at the Janowska concentration camp perform while standing in a circle around the conductor in the Appellplatz [roll call area]. […] The SS forced the orchestra to perform during selections and actions and even ›commissioned‹ a special composition to be played on these occasions. Entitled ›Todestango‹ [Tango of Death], the piece was composed by Yakub Mund [.], former director of the Lvov opera. The music was based on an earlier work by Eduardo Bianco. The members of the orchestra met their end in 1943 when they were shot to death by their overseers while playing their instruments.«

2021

USHMM www.ushmm.org

»An orchestra formed from camp inmates are forced to play at the execution of a group of Russian prisoners at the KZ Janowska concentration camp at Lwów, 1941–1942. In the bottom right hand corner of the photograph is Hauptsturmführer Warzok, the camp commander.«

unbek.

Imperial War Museum (IWM) www.iwm.org.uk

»The orchestra of inmates in the Janowska camp playing during the execution of Soviet POWs. In the photo: Hauptsturmführer (Captain) Franz Warzok, the camp’s commandant (in the group on the right; second from the right, wearing a light-colored jacket).«

unbek.

Ghetto Fighters’ House Archive (GFH)48 https://www.gfh.org.il/eng/Archive

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Das GFH folgt der Bildunterzeile des IWM. Nach Auskunft von Zvi Oren, Direktor des GFH-Fotoarchivs, steht auf der Rückseite der Fotografie: Das »Copyright« gehöre dem Imperial War Museum in London. Die Geschichte dieser Fotografie und wie sie in die verschiedenen Gedenkstätten und Museen gelangte und dort in die jeweiligen Bestände aufgenommen wurde,

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»Der Todestango«

Zieht man ein Resümee, dann verblüfft vor allem das Missverhältnis zwischen der eindeutigen Codierung dieser Fotografie und der offensichtlichen Ungewissheit darüber, was sie zeigt. Bis heute ist ungeklärt, ob es sich um das Orchester des Janowska-Lagers und nicht vielmehr um das Ghetto-Orchester handelt, das morgens und abends »im Schatten der Eisenbahnbrücke« spielte, wie der Journalist und Schriftsteller Robert Marshall behauptet (Marshall 1990, S. 5).49 Auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Bildunterschriften das Foto im Janowska-Lager verortet, beweist allenfalls, dass die meisten der Deutung der Sowjets folgten. Damit schließen sie sich kritiklos der Interpretation des Bildinhalts durch die russische Seite an. Wenn sich überhaupt etwas mit Sicherheit sagen lässt, dann ist es das: Die Bildlegenden zu den Fotografien des Lagerorchesters geben nicht Auskunft über den Bildinhalt der Fotografien, sondern darüber, was die sowjetischen Ankläger in ihnen sehen wollten oder sehen mussten, so könnte man ihnen zugutehalten, angesichts des eklatanten Mangels an genauen Informationen. Denn ein Großteil der Bildunterzeilen füllt vor allem etwas, was mit ihnen nicht zu füllen ist: Wissenslücken, die die ASK trotz ihrer beeindruckenden Sammeltätigkeit nicht zu schließen vermochte. Nie gelang es ihr, »haltbare, juristisch verwertbare Beweise zu sichern«, schreibt der Historiker Stefan Karner (Karner 2012, S. 385). So fehlen »überhaupt Angaben zu Tatzeit, Identifizierung der Täter und ihrer Opfer, zu Zweck und Entstehung der Fotos« (ebd.). Dieser Vorbehalt trifft auch die hier diskutierten Fotografien. Während Oberst Smirnov bei anderen Fotos als Quelle die Akten der »Yanov Gestapo« (IMT 1947b, S. 549), »Archive der Lemberger Gestapo« oder einen »toten Gestapo-Soldaten« angibt (ebd.), macht er bei den Orchesterfotos keine Angaben über den Fundort oder ihre Herkunft. Im Band 30 der Nürnberger Verhandlungsprotokolle heißt es nur knapp: Alle Fotos kämen aus den Unterlagen der »Außerordentlichen Staatlichen Kommission«, es handele sich um »captured German originals«. Zertifiziert bzw. beglaubigt haben soll sie der Vertreter dieser Kommission, Alexander Smirnov (IMT 1947d, S. 359), der nicht mit dem sowjetischen Vertreter der Anklage Oberst Smirnov zu verwechseln ist. Die Süddeutsche Zeitung wiederum schrieb seinerzeit, die »Photographien von Greueltaten« stammten »größtenteils aus dem Privatbesitz deutscher Soldaten« (SZ, Ausgabe 17 vom 25. Februar 1946), was einmal mehr beweisen würde, dass die Urheber der meisten Fotografien die Täter selbst waren. Was sie zeigen, ist ein offensichtlich musizieren-

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wäre eine eigene, allerdings sehr mühselige und möglicherweise sehr frustrierende Untersuchung wert. Robert Marshalls Bericht basiert auf den Erinnerungen von Ignacy Chiger und seinem Freund Jacob Berestycki, die die Zeit der deutschen Besatzung in den Abwasserkanälen Lembergs überlebten. 1988 traf Marshall Chigers Tochter Kristine Keren, die ihm von dem Manuskript ihres Vaters erzählte und ihn fragte, ob er auf dieser Grundlage ein Buch verfassen wolle. Marshall veröffentlichte es 1990 in London unter dem Titel In the sewers of Lvov.

Verfestigung

des Orchester, aber keine Verbrechen, wie andere Fotos, die Smirnov dem Tribunal vorführte. Und gerade das könnte der Grund für die drastischen Bildunterzeilen sein: Die Gräueltaten, die man auf diesen Fotos nicht sehen kann, mussten ihnen »eingeschrieben«, das Orchester in den Kontext der Nazi-Verbrechen gestellt werden, damit sie die, so muss man wohl sagen, erwünschte Bedeutung und Wirkung erzielten (Hüppauf 1997, S. 512). Denn so hatte das Lemberger ASK-Mitglied Sergej Trovimowitsch Kusmin 1985 geschrieben: »Die Geschichte des ›Todestangos‹ ist eine der schrecklichen Seiten der Gräueltaten der Nazis.« Vor diesem Hintergrund ist man gut beraten, Karners Warnung zu beachten: »Die Verwendung dieses Materials für die wissenschaftliche Forschung, besonders für Einzelfälle, bleibt damit problematisch« (Karner 2012, S. 385). Dafür spricht auch, dass das USHMM offenbar unsicher ist, was die Datierung betrifft. Es gibt als Entstehungszeitraum die Jahre »1941-1943« an. Das bedeutet, dass das Foto auch zu einer Zeit gemacht worden sein könnte, als das Orchester im Janowska-Lager noch nicht (vor Juli 1942) oder schon nicht mehr bestand (nach dem 19. November 1943), es mithin eine andere Kapelle zeigt.

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Variation

Der Todestango im Janowska-Lager Das Bestehen einer Lagerkapelle im Janowska-Lager kann als weitgehend erwiesen gelten. Welche Art Musik sie spielte, blieb bis heute ungeklärt. Dazu dürfte die Fixierung auf den Todestango ein gerütteltes Maß beigetragen haben – sie ließ Fragen gar nicht erst aufkommen, was das Orchester beim Aus- und Einmarsch der Arbeitsbrigaden tatsächlich spielte. Zum Kanon der Legende gehört, dass der Todestango die unaufhörliche Begleitmusik zu Selektionen und Exekutionen war. Dabei gibt es genügend Zeugnisse, die uns ein anderes Bild der beim Aus- und Einmarsch gespielten Musik vermitteln. Dass diesen Hinweisen nie nachgegangen bzw. sie systematisch übergangen wurden, gehört zur Entstehung der Legende unauflöslich dazu. Es hätte womöglich das (Klang)Bild vom ewig tönenden Todestango gestört.1 Folgen wir also für einen kurzen Moment den Eindrücken, die der damals etwa 16 Jahre alte Stefan Schoenfeld über das Orchester und seine Musik sowie der Rabbi David Kahane überlieferten. Beide wurden etwa zur gleichen Zeit verhaftet und Mitte November 1942 ins Lager gebracht. Es ist Samstag, der 14. November 1942, als Stefan Schoenfeld wie gewöhnlich sehr früh aufsteht, sich ankleidet und sich umgehend der Gruppe der Arbeiter des Heereskraftfahrzeugparks anschließt. Es ist noch dunkel. Begleitet von der jüdischen Polizei verlassen sie das Lemberger Restghetto, gehen die JanowskaStraße hoch, biegen in die Peratskaya-Straße ein, wo sich der Heereskraftwagenpark 547 befindet und wo der junge Mann seit zehn Monaten »Sklavenarbeit« verrichtet. Zu dieser Zeit weiß Stefan nicht, dass seine Gruppe nicht wie sonst ins

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Der Historiker Filip Friedman schreibt in einer späteren, erweiterten Fassung seiner Studie über die Vernichtung der Lemberger Juden: Der Todestango sei bei vielen Gelegenheiten gespielt worden, »vor allem, wenn die Arbeitsbrigaden das Lager verließen oder wenn Häftlinge selektiert und zur Exekution in den ›Sand‹ abgeführt wurden« (Friedman 1980, S. 312). Friedman stellte sich nicht die Frage, welchen Sinn es machte, den Todestango fortwährend beim Ausmarsch der Brigaden zu spielen, wo es sonst heißt, dass er ausschließlich bei Selektionen und Exekutionen erklang (siehe Kapitel: Tango, Märsche, Volkslieder und La Paloma).

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Ghetto zurückkehren wird. Denn als die Glocke um 11.45 Uhr zur Mittagspause läutet, passiert etwas Unerwartetes. Soldaten, bewaffnet mit »halbautomatischen Maschinengewehren«, umringen die Arbeiter. Sie müssen zum Hauptplatz marschieren, wo man ihnen mitteilt, dass sie ins Janowska-Lager kommen (Schoenfeld 1985, S. 127). So habe er es seinem Vater Joachim geschildert, der diesen Bericht in seinem Buch Holocaust Memoirs veröffentlichte.2 Stefan Schoenfeld erreicht um 1 Uhr das Janowska-Lager, was er an der Uhr des Wachhäuschens erkennt. Schon von Weitem hatte er das Schild gesehen: »Zwangsarbeitslager der SS« (Schoenfeld 1985, S. 127, dt. i. O.). Er schildert ausführlich, wie er die übliche Registrierungsprozedur durchläuft, nach Wertsachen wie Ringen, Uhren, Geld durchsucht wird, es in Gruppen zu 50 zum Lagerfriseur geht, wo ihnen der Kopf geschoren und die Lagerkleidung ausgehändigt wird und er schließlich die »prisoner number 114 of the German concentration camp in Lwów« erhält (ebd., S. 128).3 Er berichtet weiter, wie er nach einer unruhigen und kurzen Nacht morgens um 4 Uhr geweckt wird, es nach einem kargen Frühstück, das aus 100 Gramm Schwarzbrot besteht, zum Morgenappell geht und die Arbeitsbrigaden danach zum Lagertor ausmarschieren. Nicht weit vom Verwaltungsgebäude, so heißt es in seinem Bericht, spielte ein Orchester wieder und wieder denselben Marsch – den Todestango, der auch bei Erhängungen und Erschießungen gespielt wurde. Das Orchester sei von dem SS-Mann Rokita, selbst ein Musiker, aus den besten jüdischen Musikern und Komponisten gebildet worden, die allesamt wohlbekannt vor dem Krieg waren (Schoenfeld 1985, S. 134).4 Namen der angeblich weithin bekannten Künstler nennt er nicht. Drei Tage später, am 17. November 1942, wird der Rabbiner David Kahane in Lemberg von der Gestapo verhaftet und ebenfalls ins Janowska-Lager gebracht. Von nun an habe er keinen Namen mehr, sondern sei die Nummer 2250 (Kahane 1990, S. 97). Auch er erlebt am anderen Morgen den Appell und wie die Arbeitsbrigaden 2

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Zwischen der Niederschrift »fresh from my memory« unmittelbar nach der Befreiung durch die Rote Armee und der Publikation verstrichen 40 Jahre. Erst auf Drängen seiner Frau und seiner Nichten habe er sich zur Veröffentlichung entschlossen (Vorwort, Schoenfeld 1985, S. 11). Als Stefan Schoenfeld inhaftiert wurde, sollen 3500 Juden sowie 1500 Polen und Ukrainer im Lager gewesen sein, zusammen 5000 Häftlinge (Schoenfeld 1985, S. 129). Wieso er die Nummer 114 und David Kahane, ein weiterer Häftling, drei Tage später die Nummer 2250 erhalten, ist nur nachvollziehbar, wenn Nummern früherer Häftlinge erneut vergeben wurden. Wörtlich: »Not far from the office building, an orchestra was playing the same march over and over. ›The Death Tango‹, which was also played at hangings and shootings […]. The orchestra had been formed by SS man Rokita – himself a musician – from among the best Jewish musicians and composers, all renowned before the war.«

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zur Musik des Orchesters das Lager verlassen. Doch sein Bericht fällt anders als Stefans aus: Kahane erlebt den ersten Appell am Morgen des 18. November 1942. Die neuen Häftlinge verbringen den Tag im Lager, reinigen die Baracken. In der Dämmerung wiederholt sich der Appell. Und während sich seine Brigade am Lagertor aufstellt, spielt ein Orchester, das, wie er schreibt, aus weithin bekannten Lemberger Musikern besteht. Er nennt die Namen: »Yokov Mond, Leo Stricks, Leo Shaff, Yosef Orman, Edward Steinberg.« Doch ihre Musik ist für ihn ein Albtraum (»an absolute nightmare«), demütigend und bedrückend. »Der Klang des Radetzky-Marsches, brutal und zynisch, erinnert die Juden daran: Nie wieder werden sie Musik in einem Konzertsaal erleben; vielleicht ist es das letzte Mal, dass sie überhaupt Musik hörten« (ebd., S. 101).5 Beide berichten von einem Orchester am Lagertor, das Märsche beim Ausmarsch der Arbeitsbrigaden spielt, von denen Kahane einen als Radetzky-Marsch identifiziert.6 Das eigentliche Rätsel findet sich in Stefan Schoenfelds Bericht: Wie ist es möglich, dass er einen Marsch hört, aber von einem Todestango spricht und erstaunlicherweise nicht über den offensichtlichen Widerspruch stolpert, einen Marsch selbstverständlich Todestango zu nennen? Die Antwort darauf ist einfach und kompliziert zugleich. Sie führt uns zurück in die Überlieferungsgeschichte seines Berichts. Die Schilderung, aus der wir hier zitiert haben, stammt aus dem Buch Holocaust Memoirs, das sein Vater Joachim Schoenfeld im Jahr 1985 veröffentlichte. Über das Kapitel 14, das mit »Das Janowska-Konzentrationslager« überschrieben ist, teilt der Vater mit, es beruhe auf dem, was ihm sein Sohn Stefan »später berichtete« (Schoenfeld 1985, S. 125). Nach seinen Worten hatte Stefan seine Erinnerungen an das Lager im Herbst 1943 niedergeschrieben, etwa ein Dreivierteljahr nach seiner geglückten Flucht am 26. Dezember 1942. Kurz danach schloss er sich der Roten Armee an und fiel im Krieg gegen das Deutsche Reich. Joachim Schoenfeld kam kurz darauf, am 5. Januar 1943 (zur gleichen Zeit wie Michał M. Borwicz) ins Janowska-Lager, wo er nach zwei Monaten fliehen konnte. Warum er nicht seinen 5

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Wörtlich: »Nearby an orchestra consisting of the well-known Lvov musicians plays: Yakov Mond, Leo Stricks, Leo Shaff, Yosef Orman, Edward Steinberg. On my first departure for work their playing was an absolute nightmare. It was humiliating and depressing. The sounds of the Radetzky march, brutally and cynically reminded the Jews: You will never enjoy real music in a concert hall: perhaps you are hearing Jewish musicians playing for the last time in your life.« Auch Filip Friedman erwähnt in der Neuauflage seiner Studie The Destruction of the Jews of Lwów aus dem Jahr 1956 das von SS-Hauptscharführer Josef Grzimek organisierte jüdische Orchester. Grzimek war ab Februar 1943 für wenige Monate Kommandant des »Judenlagers« (Julag), wo man Tanzmusik, Märsche wie den bekannten Radetzky-Marsch sowie Werke von Mozart und Beethoven gespielt habe (Friedman 1980, S. 287).

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»Der Todestango«

eigenen Erfahrungen vertraute, sondern auf den Bericht seines Sohnes, kann hier nur angenommen werden: Er wollte ihm, dem zu früh Verstorbenen, ein Denkmal setzen. Es gibt noch eine weitere Fassung von Stefans Bericht und wie es scheint, handelt es sich dabei um die originale Version. Acht Jahre, nachdem Joachim Schoenfeld seine Holocaust Memoirs veröffentlicht hatte, erschien die russische Ausgabe des Unbekannten Schwarzbuchs, dem im Jahr 2008 eine von Joshua Rubenstein und Ilya Altman herausgegebene englischsprachige Ausgabe folgte.7 Und hier findet sich unter dem Titel Die Erinnerungen von Stepan Yakimovich Schenfeld Stefans eigener Bericht. Er unterscheidet sich in einigen wichtigen Details von der Version seines Vaters: »Schließlich erging der Befehl zum Abmarsch. Die Reihen setzten sich in Bewegung, einige Brigaden waren bereits ausmarschiert, als wir drankamen. Wir konnten die Musik vor uns hören. Die Lagerbosse hatten ein Blasorchester [»brass ensemble«] aus musikalisch talentierten Häftlingen gebildet, einschließlich bekannter Musiker. Der Aufseher gab das Kommando ›Brigade vorwärts, marsch, Mützen ab!‹« (Rubenstein; Altman 2008, S. 96). Sie marschierten los, wurden gezählt, »53 Mann«, meldete Scharführer Kolonko.8 »Neben dem Verwaltungsgebäude stand die Blaskapelle und blies mit aller Macht ein und denselben Marsch« (»blowing with all their might, they played the very same march«, ebd., S. 97). Die Szene wiederholte sich am folgenden Tag, als seine Arbeitsbrigade »dasselbe Orchester passierte und es denselben Marsch spielte« (ebd., S. 98, Übers. d. Vf.). In Stefans bzw. Stepans Bericht kommt kein Rokita als Urheber des Lagerorchesters vor, er spricht allgemein von den Lagerbossen, von denen er Gustav Willhaus namentlich nennt. Auch spielt bei ihm kein Orchester, sondern eine »Blaskapelle« (brass ensemble) in einem fort die gleichen Märsche, morgens wie abends.9 Anders als sein Vater berichtet er nicht, diese Kapelle sei »aus den besten jüdischen Musikern und Komponisten gebildet« worden. Auch von einem Todestango ist bei ihm

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1993 wurde in Moskau die Sammlung The Unknown Black Book mit Dokumenten veröffentlicht, die die Herausgeber des Black Book verworfen hatten. Es enthält 93 Dokumente, einschließlich 4 Augenzeugenberichte, die von 27 Autoren geschrieben wurden. 21 Dokumente sind Berichte von Überlebenden. Gemeint ist Adolf Kolonko, der ab Juli 1942 Arbeitseinsatzleiter im Janowska-Lager war. Das LG Stuttgart verurteilte ihn 1968 zu sieben Jahren Zuchthaus (Sandkühler 1996, S. 434f.). Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es durchaus nicht abwegig war, Märsche als Tangos zu bezeichnen. Der Klezmer-Musiker Leopold Kozłowski-Kleinman, genannt Poldek, berichtete, er habe zu dem Text eines Freundes eine Melodie geschrieben, den Marsch »Hey, bildet Reihen im Wald!«, der später – »Poldek wusste nicht warum – als Tango der Waldabteilung der 1. Kompanie des 40. Regiments bekannt wurde« (Cygan 2012, S. 181f.).

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keine Rede, der angeblich »auch bei Erhängungen und Erschießungen« gespielt wurde. Die Vermutung ist naheliegend, der Vater habe hier stark in den Bericht seines Sohnes eingegriffen, ja ihn verfälscht. Meines Erachtens geht das an der Sache vorbei. Der Wahrheit kommt man näher, wenn wir annehmen, er habe die Ergänzungen in der festen Annahme vorgenommen, sein Sohn habe diese wichtigen Details vergessen oder übersehen, und es sei seine Aufgabe, dieses Versäumnis nachzuholen. Und so löst sich der Widerspruch auf, dass Stefan Märsche hört und im selben Atemzug von einem Todestango spricht. Es ist das Werk seines Vaters, der zur Milderung dieses Widerspruchs die Blaskapelle gestrichen und durch ein Orchester ersetzt hat. Die unterschiedlichen Versionen des Vaters und des Sohnes geben einen guten Einblick in die Entstehung und Tradierung der Legende vom Todestango. Als der Vater Joachim Schoenfeld sich mehr als 40 Jahre nach den Ereignissen auf Drängen seiner Frau daranmachte, seine Erinnerungen zu publizieren, dürfte er sie zuvor mit Sicherheit überarbeitet und ergänzt haben. Zu dieser Zeit war die TodestangoLegende durch eine Vielzahl an Veröffentlichungen bereits zu einer unbestrittenen Tatsache geworden und auch Joachim Schoenfeld bekannt. In seinem Buch finden sich eine Reihe von Fotografien, darunter auch die Ikone des Todestangos mit der folgenden Bildlegende: »Das tragische Orchester spielt den Todestango, während zur gleichen Zeit Häftlinge des Janowska-Lagers ermordet wurden« (Schoenfeld 1985, S. 145-146).10 Er konnte also davon ausgehen, dass er den Bericht seines Sohns um wichtige »Fakten« ergänzte. Im Übrigen entsprach das seiner Arbeitsweise. Schon zur Zeit der Niederschrift vertraute er nicht nur auf sein eigenes Gedächtnis, sondern auf »verlässliche Berichte von Freunden und Verwandten, die den Zweiten Weltkrieg« überlebt hatten (Vorwort, Schoenfeld 1985, S. 13). Zur Begründung führt er an, dass ihre Geschichten, so persönlich sie sein mögen, zugleich »Ereignisse (repräsentieren), die viele andere in ähnlichen Situationen machen mussten« (ebd.).11 Mit anderen Worten: Joachim Schoenfeld ging davon aus, dass er mit seinen Erinnerungen zur kollektiven Erinnerung der Juden Galiziens beitrug. Und diese gemeinsam geteilte Erinnerung galt es, so vollständig wie möglich zu erhalten. Ein wichtiges Element dieses kollektiven Gedächtnisses war in den 1980er Jahren unzweifelhaft der Todestango, das Todesorchester und sein angeblicher Grün-

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Sein Buch enthält eine Reihe bekannter Fotos, darunter die drei aus der Ausgabe der Izvestija vom 23. Dezember 1944: Orchester, Knochenmühle, Massengrab. Sie finden sich zwischen den Seiten 145 und 146. Wörtlich heißt es bei Schoenfeld: »The ›Tragic Orchestra‹ performing the ›Tango of Death‹ while at the same time prisoners of the Janowski Camp are being killed.« Wörtlich: »Their stories, although reflection their personal experiences, do at the same time represent events which happened to multitudes of others in similar situations.«

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der Rokita. Dies umso mehr, als seit 1979 auch eine angebliche »Tonaufnahme« des Todestangos vorlag. Wie sehr Richard Rokita Niederschlag in der kollektiven Erinnerung von Überlebenden des Janowska-Lagers gefunden hatte, lässt sich auch an David Kahane zeigen. Als der Rabbiner und Stefan Schoenfeld im November 1942 im Lager sind, ist Richard Rokita bereits Vergangenheit. Doch von seinen »Taten« oder besser »Untaten« wissen auch jene zu berichten, die ihm nie persönlich begegnet sind. Kahane schildert Rokita als ein »blutrünstiges Biest«, als einen Massenmörder, der kein Gemetzel im öffentlichen Bad in der Szpitalna Straße ausgelassen haben soll, wo die SS einen Tumult damit beendet habe, dass sie in die Masse der nackten Häftlinge schoss (Kahane 1990, S. 51). Er verrät auch die Quelle. Zum Glück »war Rokita nicht länger in Lemberg, er hatte sich ein eigenes Reich in Tarnopol geschaffen« (ebd., S. 94). Rokita ist nicht mehr im Janowska-Lager und folglich auch nicht mehr Stellvertreter von Willhaus. Diese Position soll jetzt ein Mann namens »Epler« innehaben, der aber, sollte es sich dabei um SS-Scharführer Ernst Epple, geb. 1908, handeln, nie im Janowska-Lager Dienst tat. Zwar wäre er, der bis »Ende 1942 als Leiter des Zwangsarbeitslagers Kurowice eingesetzt« war, als Stellvertreter durchaus infrage gekommen. Doch Epple zog es offenkundig vor, »als Ausbilder zu einem SS-Ersatzbataillon nach Arolsen« zu gehen, das später nach München verlegt wurde (Rüter; de Mildt 2003, S. 722). Ihr Wissen über Rokita bezogen David Kahane und andere aus den Legenden, die entweder im Lager noch gegenwärtig waren, als Rokita bereits in Tarnopol war, oder nach der Lagerauflösung unter den Überlebenden kursierten und ihren Weg in die Erinnerungsliteratur fanden. Zu dieser Überlieferung trugen nicht nur Tatsachen bei, die die Häftlinge am eigenen Leib durchleiden mussten, sondern eine Vielzahl an Gerüchten. Unabhängige Nachrichten, Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk gab es weder für die Häftlinge noch ihre Leidensgenossen im Ghetto und in den Lagern: »Wir lesen keine Zeitung und hören kein Radio«, schreibt der Historiker Eliyahu Yones, der als 26-Jähriger in das Zwangsarbeitslager Kurowice verschleppt worden war (Yones 1999, S. 48). Dieses mediale Vakuum füllten oft Gerüchte, die viele Häftlinge und die im Ghetto eingesperrten Juden aufgriffen und weiterverbreiteten. Viele Überlebende berichteten, wie sehr sie auf diese »Nachrichten« angewiesen waren, die jedoch die schreckliche Pein der Ungewissheit nicht lindern konnten, sondern eher verstärkten. »Schreckliche Gerüchte« über das Geschehen im Janowska-Lager kursierten selbst unter der christlichen Bevölkerung, heißt es bei Samuel Drix, der von August 1942 bis Juni 1943 im Janowska-Lager inhaftiert war (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 1). »Hartnäckige Gerüchte« kreisten in Lemberg, dass die »Aktion morgen«, am 10. August 1942, beginnen solle; es liefen Gerüchte über eine bevorstehende Liquidierung um (ebd., S. 15) oder dass Gustav Willhaus, der Lagerkommandant, »mit dem heutigen Massaker nicht zufrieden ist« (ebd., S. 37). »Beunruhigende Nachrichten

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verbreiteten sich vor dem Appell« (ebd., S. 14); »verschiedene, zum Teil widersprechende Gerüchte kreuzten sich.« Und als das Ghetto im Juni 1943, kurz bevor Drix aus dem Janowska-Lager fliehen konnte, liquidiert wurde, griffen die Häftlinge »psychisch gebrochen, übernervös […] gierig nach den Nachrichten über das untergehende Ghetto. Sie kamen spärlich. Sie kamen unmittelbar aus dem JanowskaLager oder von den Ariern. Man erzählte von Szenen, welche das Blut in den Adern erstarren liessen«, schreibt Drix (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 46). Außerhalb der Lager ging es den Menschen nicht anders. »Ständig waren die Nebelschwaden der Unsicherheit um uns. So wurden nicht selten die aberwitzigsten Gerüchte für uns gleich zu Fakten, um die sich dann natürlich auch unsere Interpretationen und Spekulationen für die Zukunft rankten«, zitiert Jan Gross Anna Gimzewska, die im September 1939 in der Woiwodschaft Nowogrudok lebte (Gross 1988, S. 32). Gerüchten schenkte man Glauben, weil die Anspannung unter den Häftlingen des Janowska-Lagers so groß war, dass schon das plötzliche Auftauchen einer neuen Nachricht ausreichte, um »eine Panik« hervorzurufen, schreibt Drix (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 14/16).12 Gerüchte, Befürchtungen, Nachrichten, Lagerlegenden – diese unauflösliche und verwirrende Mischung aus Gehörtem oder aus dem, was die Häftlinge im Kampf ums persönliche Überleben in ihrer geschärften Wahrnehmung aus »Anzeichen« schlussfolgerten und in der Folge zu »Informationen« und Nachrichten verdichteten, drang auch zu dem Schriftsteller Michał M. Borwicz. Er geht in seinem Buch Die Universität der Mörder ebenfalls kurz auf jene Badepisode ein, die in der Erinnerungsliteratur vielfach auftaucht13 – und verhehlt nicht die Quelle: »Die Häftlinge erinnern sich, wie er [Rokita, d. Vf.] während der Appelle und beim Austritt aus dem Bad jedes Mal Dutzende Menschen tötete« (Borwicz 2014, S. 88).14 Ihre Erinnerung scheint auch zwei Monate nach Rokitas Weggang aus Lemberg noch lebendig. Denn Borwicz, der Anfang Januar 1943 ins Janowska-Lager kam, erlebte ihn als Gast auf der Durchreise. Wie Borwicz schöpfte auch Joachim Schoenfeld nicht nur aus eigenen Erinnerungen. Wenn er das Zwangsarbeits- und Kon-

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Wie aus Gerüchten »Tatsachen« wurden, hat der ehemalige Häftling im KZ Esterwegen, Valentin Schwarz, anhand der Parole »große Weihnachtsentlassung« beschrieben. Jeder, der sie weitergab, »machte schnell noch etwas hinzu … Sprachen die ersten Kolporteure noch in dunklen Andeutungen skeptisch oder sarkastisch – die nächsten redeten schon von ›Tatsachen‹, und als der Rundlauf vollendet, der Kreis geschlossen war, da stand es schon fest: Die Weihnachtsentlassung lag fix und fertig auf der Verwaltung« (Schwan 1961, S. 578). Auch bei Samuel Drix: »Während des Badens der Gefangenen verfiel er [Richard Rokita, d. Vf.] in Rausch. Die Opfer fielen – eines nach dem anderen« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 40). Was hier Rokita angelastet wird, warf der Zeuge Alexander Schwarz später im Lemberg-Prozess dem Angeklagten Peter Blum vor. Diese Anschuldigung verwarf das LG Stuttgart, weil »mehrere andere Zeugen einen auffallend ähnlichen Vorfall dem stellvertretenden Lagerleiter Rokita anlasten« (Rüter; de Mildt 2003, S. 775).

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zentrationslager Janowska als eine Art Hochschule der Grausamkeit – »a kind of higher-learning institution for Nazis, who after graduation from this school were dispatched to other camps« – und »Modell-Lager« (Vorwort, Schoenfeld 1985, S. 12) bezeichnet, fühlt man sich an Borwicz’ Die Universität der Mörder erinnert.15 Die Erzählungen von Joachim Schoenfeld, Leon Wells und Michał M. Borwicz fügen sich ein in eine lange Reihe von Schilderungen über das angebliche Bestehen eines Todestangos im Konzentrationslager Janowska in Lemberg. Und obwohl sie das Orchester tatsächlich erlebt haben, sie also Augen- und Ohrenzeugen waren, unterscheiden sich ihre Darstellungen beträchtlich voneinander. Noch mehr wachsen sich diese Unterschiede in all den Erzählungen über die Geburt des Todestangos aus, die in der Folgezeit in verschiedenen Büchern und Aufsätzen auftauchten und die eines gemeinsam haben: Sie stammen ausnahmslos von Autoren, die dem SS-Mann Rokita nie im Konzentrationslager begegnet sind und für diese »Melodie« bereits eine »Tatsache« war, als sie erstmals von ihm hörten. Welche verworrene Gestalt diese Überlieferung annehmen kann, zeigte sich in dem Buch Schule der Grausamkeit, das die damals 59-jährige polnische Journalistin Stanisława Gogołowska 1964 in Lublin veröffentlichte.16 In ihrer Darstellung sind der Geiger Leonid Striks und der »Geigenspieler« Richard Rokita ehemalige Musikerkollegen, die »vor dem Krieg in irgendeinem Nachtlokal« in Kattowitz gemeinsam aufgetreten waren (StAL 317 III Bü 1720, S. 56).17 Rokita habe Striks die Einrichtung eines Orchesters im Lager vorgeschlagen, so könne er seinen Sohn, den »sehr begabten Pianisten« Maximilian sehen, der sich ebenfalls im Lager befand. Striks habe umgehend »ein vortreffliches Orchester« errichtet (ebd.), dem unter anderem »als Erster Violinist der berühmte Virtuose und Komponist vieler Schlager, Schatz«, 15

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Die Vorstellung, dass das Janowska-Lager eine Ausbildungsstätte für Sadisten war, die sich in der »Kunst der SS-Arbeit« (»the ›art‹ of SS work«) fortbilden und das erworbene Wissen in anderen Lagern einsetzen sollten, scheint sehr früh aufgekommen zu sein. Siehe den Bericht von Lilly Herz in der amerikanischen Ausgabe des Black Book (The Jewish Black Book Committee 1946, S. 315). Stanisława Gogołowska, geboren am 18. Mai 1905, war auch Zeugin in einem Prozess gegen »eine Gruppe von Kriegsverbrechern« vor dem Militärgericht des Nord-Kaukasischen Militärbezirks. Es ging um »Vaterlandsverräter«, also sowjetische Staatsbürger, die als sogenannte Trawniki in Konzentrationslagern dienten, darunter auch im »Janowkij-Lager in der Nähe von Lwów«. Am 31. Januar 1965 wurde sie von Stephan Masur, Oberstleutnant des Bezirkskommandos der Bürgermiliz in Lublin, befragt. Über Rokita machte sie die Aussage: »Woher Rokita stammte, vermag ich nicht zu sagen, es war jedoch bekannt [Herv. d. Vf.], dass er sich bereits vor Kriegsausbruch in Polen aufgehalten hat, er spielte nämlich als Geiger in kleinen Restaurants in Kattowitz und Zakopane« (BAL B 162/29309, Bl. 227). In der Teilübersetzung aus dem Polnischen ins Deutsche für das Lemberg-Verfahren in Stuttgart gibt es zwei Seitennummerierungen: im Text, die offenbar den Seitenangaben im Buch entsprechen, und im Kopf der übersetzten Seiten. Auf diese Seitenzahlen beziehe ich mich in den Zitaten.

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angehörte. Schatz sei es auch gewesen, der »einen hübschen Todestango« komponierte, den das Orchester spielte »wenn die Menschen zur Hinrichtungsstätte, zur Erschießung gingen« (ebd.).18 Darüber hinaus habe das Orchester zweimal pro Woche »auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude Konzerte für die SS-Mannschaften und ihre Familien« gegeben und oft bei Partys »in den Luxuswohnungen für auserwählte Gäste von Willhaus und Rokita« gespielt (ebd.). Stanisława Gogołowskas verwebt in ihrer Erzählung viele Elemente der Legende. Wie andere schöpfte auch sie aus den lange zuvor publizierten Erinnerungen Überlebender oder aus Publikationen wie die von Filip Friedman, deren Autoren auf vielen Wegen von der Todestango-Legende gehört hatten. Sie beziehen sich also auf indirekte Zeugnisse, die ungenannt oder anonym bleiben. Sie tradieren, was entweder Teil der Lagerlegende war oder später in den veröffentlichten Erinnerungsberichten zur Lagerlegende wurde – und dazu gehörte auch der »berüchtigte Todestango« (»the notorious ›Tango of Death‹«), wie Zaderecki in seinem Buch Lwów under the swastika schreibt (Zaderecki 2018, S. 281). Berüchtigt, weil auch der polnische Katholik nie im Janowska-Lager war, mithin Zaderecki zu jenen gehörte, die vom Todestango nur aus den Berichten anderer wusste. Wie Joachim Schoenfeld und viele andere vertraute er Berichten Betroffener oder »firsthand witnesses«. Namentlich nennt er David Kahane, der ihm einige wertvolle Details über die Lagerverbrecher lieferte, sowie Leon Wells und andere, die dank einer »gesegneten Erinnerung« zu seiner Publikation beigetragen hätten (Zaderecki 2018, S. 23). Doch die Informationen, die sie weitertrugen, bezeugen so wenig wie die Berichte in der Prawda und Izvestija die historische Wahrheit eines Todestangos im Janowska-Lager. Sie geben vielmehr Zeugnis davon, dass die Legende vom Todestango schon früh zu einem elementaren und bis heute unvergessenen Teil in der entsetzlichen Geschichte des Untergangs der Lemberger Juden geworden war. Zur Beglaubigung der Legende vom Todestango trugen auch berühmte Zeitgenossen wie Simon Wiesenthal bei, der als »Nazi-Jäger« und unermüdlicher Autor von Büchern und Aufsätzen im Rampenlicht der Öffentlichkeit stand. In seiner Autobiografie Doch die Mörder leben19 beschreibt er, wie der Todestango im Janowska18

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Einige Seiten später heißt es bei ihr über eine Selektion während eines Lagerappells: »Während der ganzen Selektion spielte das Orchester fröhliche Melodien« (StAL 317 III Bü 1720, S. 83). Über die Entstehung von Wiesenthals Biografie schreibt der israelische Historiker Tom Segev: Wiesenthal »konnte gut erzählen, jedoch nicht gut schreiben« (Segev 2012, S. 270). Deshalb habe sein Literaturagent Charles Ronsac »nach einem Biografen« gesucht und ihn in »Josef Wechsberg, einem Bekannten Wiesenthals«, gefunden. Wechsberg war gebürtiger Tscheche und schrieb für das renommierte amerikanische Wochenmagazin The New Yorker (ebd., S. 271). Mit Wechsbergs Hilfe wurde die Biografie zu einem Weltbestseller, allein in den USA wurden rund eine Viertelmillion Exemplare verkauft. Insgesamt, so schätzt Segev, dürfte die verkaufte Gesamtauflage rund eine halbe Million Exemplare betragen haben (ebd.,

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»Der Todestango«

Lager angeblich entstand. Danach habe Richard Rokita, kaum in Lemberg angekommen, ein Lagerorchester gegründet. »Unter den Häftlingen waren vorzügliche Tonkünstler. Sigmund Schlechter, ein bekannter Komponist aus Lemberg, musste auf Rokitas Befehl einen ›Todes-Tango‹ schreiben. Dieses Stück intonierte das Orchester während Hinrichtungen stattfanden« (Wiesenthal 1967, S. 323). Sechs Jahre zuvor, am 6. Juni 1961, hatte er bei seiner Aussage vor dem Kriminalkommissariat Waldshut im Prozess gegen Richard Rokita gesagt: Rokita war es, »der einen Bekannten von mir, der Schlagerkomponist war, Schlächter, beauftragt hat, den ›Todestango‹ zu komponieren« (StAL EL 48/2 I Bü 385 Bl. 2534). Wie es scheint, wusste Wiesenthal vom Todestango aus dem Munde seines Bekannten und Schlagerkomponisten Schlächter.20 Nicht eindeutig ist, um welchen Schlächter es sich handelt. Der Holocaust-Überlebende Eliyahu Yones erwähnt in seinem Buch Die Juden in Lemberg einen Schriftsteller Emanuel Schlechter, der am 31. Dezember 1941 ein geheimes Literaturfest im Janowska-Lager organisiert haben soll (Yones 2018, S. 277). Bei Adam Redzik ist Emanuel Schlechter (1904–1943) ein bekannter Schriftsteller, Drehbuchautor sowie Texter einer Reihe von Vorkriegsschlagern, die noch heute weithin bekannt seien. Er führt unter anderem »I Have a Date with Her at Nine«, »Anyone Can Love«, »Sex-Appeal«, »Does Miss Agnieszka Live Here?« sowie »Only in Lviv« auf (Redzik 2014, S. 215). Wann Wiesenthal Schlechter getroffen haben will, ist unklar. »Wiesenthal kam im Sommer 1942 in das Janowska-Lager und ging allem Anschein nach auch als Häftling weiter seiner vorherigen Arbeit bei der Ostbahn nach«, schreibt sein Biograf, der israelische Historiker Tom Segev (Segev 2012, S. 67). Seine Frau Cyla sei im Juni 1942 in das Zwangsarbeitslager Janowska geschickt worden, sei aber nach kurzer Zeit zusammen mit ihrem Mann zur Arbeit bei der Ostbahn versetzt worden, wo sie, wie alle jüdischen Zwangsarbeiter

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S. 272). Dem Erfolg förderlich war sicher, dass wenige Monate zuvor Franz Stangl, der ehemalige Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka in Brasilien festgenommen worden war. Bei Wiesenthal heißt es mal Schlächter, mal Schlechter, der mit Vornamen Emanuel und nicht Sigmund hieß, wie Wiesenthal schreibt. Bei dieser Anhörung nannte Wiesenthal auch die Quelle, auf die sich seine Erinnerung stützte. Viele Tatsachen kenne er »durch eine Rückerinnerung«, zu der ihm das Studium »des Manuskriptes von Professor Tadeusz Zaderecki unter dem Titel ›Lemberg unter dem Hakenkreuz‹« verholfen habe (StAL BEL 48/2 I, Bü 397, Bl. 1461). Seines Erachtens habe es »einen großen Wert an Authentizität«, weil es »zum Großteil während der Geschehen selber niedergeschrieben wurde«. Bei seiner Lektüre habe er sich »an viele Vorgänge erinnert, die mir durch den großen Zeitabstand nicht mehr erinnerlich waren« (ebd.). Zadereckis Buch sei »ein Zeitdokument, das in minutiöser Beschreibung alle Vorgänge im Ghetto und im Lager Janowska festhielt« (ebd.). Wiesenthal gibt hier ungewollt ein schönes Beispiel, wie sich Erinnerungen und Gedächtnis bilden, erneuern und verfestigen. Seine Aussage verdeutlicht aber auch, dass die wenigen Juden Galiziens, die überlebt hatten, die Arbeit an der Erinnerung von vornherein als kollektiven Prozess verstanden, zu dem jeder das ihm Mögliche beizutragen habe.

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»in einem geschlossenen Lager untergebracht« wurden (ebd.).21 Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1943, so heißt es bei Segev weiter, »begannen die Behörden, auch jene Juden, die in zivilen Betrieben in der Stadt arbeiteten, in das Lager Janowska zu überstellen, unter ihnen auch die Arbeiter der Ostbahn. Wiesenthal befand sich unter ihnen« (ebd., S. 71). Demnach kam Wiesenthal erst ins Janowska-Lager, als Rokita Lemberg seit mehr als einem halben Jahr verlassen hatte.22 Des ungeachtet vermag auch Wiesenthal auf eine Frage keine Auskunft zu geben: Obwohl der Todestango das meistgespielte Stück der Lagerkapelle gewesen sein soll und viele Überlebende des Lagers ihn erwähnen, konnte niemand sagen, wie er geklungen hatte. Nicht einer hat überhaupt den Versuch unternommen, seinen Lesern eine Vorstellung von diesem Todestango zu geben – ob es eine schöne, eine rührende, traurige, ergreifende oder eben »demütigende« Melodie war, so wie Kahane seine Empfindungen beim Klang des Radetzky-Marsches beschreibt. So oft, wie die Häftlinge durchs Lagertor ein- und ausmarschierten und so oft dabei das »Todesorchester« (Lev N. Smirnov) aufspielte, hätte sich wenigstens dem einen oder anderen die Melodie unauslöschlich einprägen müssen – falls es überhaupt eine spezifische »Komposition« war. Obwohl Richard Rokita angeblich »bei jeder ›Aussiedlung‹ anordnete, dass sie den Todestango spielten« (Borwicz 2014, S. 88), vermag uns der Schriftsteller keinen Eindruck des prominentesten Musikstücks der Lagerkapelle zu geben. Natürlich ist es nicht einfach, Musik in Worte zu fassen und zu beschreiben, welche Gefühle und Empfindungen sie hervorruft, unmöglich ist es indes nicht. Andere Überlebende wie der Arzt Samuel Drix scheuten sich nicht, in Worte zu fassen, was ihm Musik in bestimmten Augenblicken bedeutete. An diesem Tag erlebt er eine Selektion und meint, nun sei auch sein Ende gekommen. Während die Brigaden ungeduldig darauf warten, dass sie ausmarschieren können, erkennt er, »bald wird die Reihe an uns sein«. Die »vor uns stehenden Gruppen« schmelzen zusammen. Schon geben seine Beine nach. »Ich sehe umher: Zum Teufel, es ist heute so schön, wie zum Possen, damit man keine Lust hat, zu sterben und diese Welt zu verlassen.« Er hört das Orchester, einen Tango. Die »Geigen schluchzten«, doch ihre Töne klingen nicht »blutig«, wie später bei Aleksander Kulisiewicz, sondern ergreifend. Die Lagerkapelle spielt den bekannten Tango »Gestern war das Glück so nah, gestern lachte uns die Welt, heute 21

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Über den damaligen Oberwerksdirektor Günter sagt Wiesenthal, er »habe das Werk wie eine einsame Insel in einem Meer von Niedertracht geleitet und darauf geachtet, dass die deutschen Arbeitsleiter und Inspektoren sich nicht an den Juden vergingen« (Segev 2012, S. 69). Wiesenthals Biograf Tom Segev sah sich nicht in der Lage, »aus Wiesenthals verschiedenen Berichten eine klare Chronologie zu ziehen, hinsichtlich der Zeit, die er im Ghetto Lwów, im Lager Janowska und dem Ausbesserungswerk der Ostbahn verbrachte« (Segev 2012, S. 486). Das gelte auch für seine Flucht aus dem Lager und die Folgezeit im Versteck.

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»Der Todestango«

ist alles vergangen, das Glück hat der Wind geraubt.« Die Melodie, so schreibt er weiter, rührte an das Herz. »So traurig und so herzergreifend kann man wohl nur angesichts des Todes spielen« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 31, 2. Teil »Mai 1943«). Die Musik ist nicht nur ergreifend, sie tröstete, weckte und stärkte in diesem Augenblick Drix’ Wunsch zu leben. Und obwohl hier beide Motive – Tod und Tango – aufscheinen und in diesem Moment wohl nichts näher gelegen hätte, spricht Drix in seinem Tagebuch nirgendwo vom einem Todestango. Eine gewisse Variationsbreite in der Überlieferung könnte ein starkes Indiz dafür sein, dass es einen Todestango tatsächlich gab. Bekanntlich durchlaufen oral tradierte und weitergetragene Erzählungen unvermeidlich einen Prozess der Wandlung (Stille-Post-Effekt). Sie werden variiert, um neue Umstände erweitert, ausgemalt, mit eigenen Erlebnissen und Eindrücken ergänzt, ausgeschmückt und angereichert. Eine gewisse Vielzahl an Versionen der Todestango-Legende würde also niemanden überraschen. Tatsächlich jedoch hält sich die Variationsbreite in engen Grenzen. Sie betreffen in der Hauptsache den Schöpfer der Komposition. Als Urheber, sofern er überhaupt namentlich genannt wird, werden wahlweise Mund, Striks, Schlechter oder Schatz genannt.23 Ansonsten hält sich die Mehrzahl der Versionen eng an das einmal geprägte Muster: Die Deutschen/Richard Rokita gründen oder organisieren ein Orchester, Musiker komponieren auf Anordnung oder Befehl der Deutschen/Rokitas einen Tango des Todes, der bei Selektionen, Exekutionen und Aussiedlungen gespielt wird. Und dieses Orchester besteht wahlweise aus den besten, talentiertesten oder weithin bekannten Musikern der Stadt Lemberg. Praktisch alle Schilderungen handeln die Überlieferung fast schematisch und schablonenhaft ab. Kein Augenzeuge erklärt, was den Ruhm der Musiker begründete und was sie »weithin« bekannt gemacht haben soll. An keiner Stelle wird in den Berichten Überlebender erkennbar, dass sie selbst Zeuge waren, als bei einer Selektion der Todestango erklang oder Rokita befahl, ihn zu spielen. Es gibt keine subjektiven, genaueren Details, die über das obige magere Handlungsgerüst hinausgehen und aus eigenem Erleben ergänzen. In den Schilderungen wird der Todestango weder zeitlich (wann ein Häftling ihm begegnete oder ihn hörte) noch im berichteten Geschehen räumlich situiert (wie und wo er ihn in einer konkreten Situation erlebte). Er bleibt schemenhaft, körperlos, blass. Und er bleibt es, diese These vertritt dieses Buch, weil es ihn nicht als spezielle Melodie gegeben hat. Er hat infolgedessen auch nie das Ohr eines Häftlings erreicht, weshalb sich auch keine lebendigen Spuren in ihren Erinnerungen finden lassen, die ihnen eine Beschreibung des Stücks erlaubt hätte. Es überrascht daher

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Es ist nicht ohne Logik, dass Jurij Wynnytschuk in seinem Roman Im Schatten der Mohnblüte ein Kompositions-Kollektiv, bestehend aus Leopold Milker, der dem Lagerorchester angehörte, sowie Striks und Mund an die angeordnete Aufgabe setzt (Wynnytschuk 2014, S. 375).

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nicht, dass alle Zeugenberichte eine übereinstimmende Leerstelle aufweisen: Sie können den Todestango nicht mit einer bestimmten Melodie oder einem bekannten Musikstück aus Vorkriegstagen verknüpfen. Die zweite Übereinstimmung ist die Figur des SS-Mannes Richard Rokita, der selbst Musiker war und mehrfach als Geiger beschrieben wird, obwohl er faktisch nie an diesem Instrument gesehen wurde.24 Er ist in fast allen Berichten einer der Hauptakteure. Schon früh legt sich die Erinnerungsliteratur auf ihn als Orchestergründer fest. Maßgebend dafür 24

Der Schriftsteller und Journalist Marian Rogowski, geboren am 22. Oktober 1916, lebte seit 1955 in Frankfurt a.M. und veröffentlichte im Jahr 1973 sein Buch Gewonnen gegen Hitler, in dem er unter anderem sagt, er habe »selber das Janowska-Lager, das Ghetto und die Deportationen erlebt« (Rogowski 1973, S. 173). Was Marian Rogowski in »einer Mischung aus Kolportage und Erlebnisbericht« (FAZ vom 14. Mai 1974, S. 22) berichtet, läuft der Aussage, die der polnische Journalist Marian Rogowski (früher Marian Nacht) zwischen dem 21. und 30. September 1961 vor der Staatsanwaltschaft Landshut zu den Verbrechen im Janowska-Lager machte, vielfach zuwider. Vor allem die dort gemachten Zeitangaben entsprechen nicht denen im Buch. Nach seiner Zeugenaussage kam er im August 1942 ins Janowska-Lager, aus dem er im November des gleichen Jahres fliehen konnte. In seinem Buch meldete er sich aber schon Ende September 1942 bei einer Lemberger Hoch-Tief-Straßenbau-Firma in der Chorsczyzna-Straße, für die er kurz darauf nach Kiew und Winniza fährt (Rogowski 1973, S. 29). Damals sei er 25 Jahre alt gewesen, »durchtrainiert und mutig«, machte systematisch »JiuJitsu-Übungen«, »sprang damals 1,60 hoch« und seine Zeit im 100-Meter-Lauf taxierte er auf »12 Sekunden« (ebd., S. 30). Am 22. November 1942 setzte er als seinen Alias den »Vorarbeiter Wiktor Jaczyszyn« in die Welt, der, ausgestattet mit einer deutschen Uniform und einem gefälschten »Reisedokument, den sogenannten Marschbefehl«, mehr als 50 Juden aus dem Lemberger Ghetto gerettet haben will (siehe auch die Besprechung seines Buches im Spiegel Nr. 49/1973, S. 187f., der sein Werk als »eine Mischung aus Schwejk- und Köpenickiade« beschrieb). Anfang Dezember war er wieder in Lemberg. Das könnte erklären, warum Rogowski nur vom Hörensagen weiß, dass Rokita »später […] innerhalb des Lagers ein jüdisches Orchester organisiert haben soll« (StAL EL 48/2, Bü 385, Bl. 1539). »Später« heißt: Nachdem er im November 1942 selbst aus dem Lager geflohen sein will, woraus folgt, dass Rokita das Orchester gründete, als er entweder schon aus Lemberg verschwunden oder im Begriff stand, Janowska Richtung Tarnopol zu verlassen. Im Hinblick auf das Lagerorchester ist das eine bemerkenswerte Aussage. Dass Rokita von Beruf Geiger war, erfährt er »durch einen bekannten Juden namens Bauer, der Angehöriger der Lagerpolizei und ebenfalls ein Geiger war«. Überhaupt geht er nur am Rande auf das Janowska-Lager ein, dafür umso ausführlicher auf den DAW-Leiter Fritz Gebauer, den er als ausgemachten Sadisten beschreibt (Rogowski 1979, S. 175). Nach seiner Flucht verbrachte Rogowski »die restliche Zeit des Krieges […] in Rumänien« (ebd.). Auch der Autor von Gewonnen gegen Hitler kehrt am Ende des Krieges aus Bukarest, Rumänien, nach Polen zurück (Rogowski 1973, S. 261). Gebauer traf er als Zeugen im Frühjahr 1962 vor dem Landgericht Saarbrücken wieder, den er sich als »völlig ergrauten, von Rheuma geplagten Greis« vorstellte, denn als er 1942 im KZ Janowska war, war Gebauer »mindestens 20 Jahre älter als ich« (ebd., S. 113). Tatsächlich war Gebauer, geboren 1906 (Sandkühler 1996, S. 434), gerade zehn Jahre älter als der damals 26-jährige Rogowski. Als hochgewachsener Mittdreißiger, überdies von anderen Zeugen als auffallend gutaussehend beschrieben, dürfte Gebauer seinerzeit eher jünger als älter gewirkt haben.

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»Der Todestango«

dürfte Friedmans Arbeit über Die Vernichtung der Lemberger Juden gewesen sein, die 1945 erschien. Friedman charakterisiert Rokita hier als »Musikliebhaber«, nicht als Musiker, zu dem er später wird. Wer also war der Mensch, dessen Name unauflöslich mit dem Todestango verbunden ist und ihm einen erstaunlichen, wenngleich zweifelhaften Nachruhm verdankt?

Richard Rokita – ein Geiger als Massenmörder Über das Leben des Mannes, der in der Erinnerungsliteratur zu einer legendären Gestalt wurde, ist wenig bekannt. Seine Biografie erschöpft sich in einem spärlichen Gerüst äußerlicher Daten zur Geburt, Schulkarriere, Ausbildung und zum späteren Eintritt in die NSDAP. Was ihn antrieb, ob er sich aus Überzeugung den Nationalsozialisten anschloss, also ihren fanatischen Antisemitismus teilte, wie er als Kind eines Arbeiters zur Musik und später zur SS kam, welches Instrument er spielte und welche Bedeutung die Musik für ihn hatte, darüber hat sich Richard Rokita weder in Briefen noch in anderen persönlichen Aufzeichnungen, etwa Tagebüchern, geäußert. Wie bei anderen Mitgliedern der KonzentrationslagerSS sind aussagekräftige subjektive Quellen oder Ego-Dokumente entweder »nur spärlich überliefert« oder gar nicht erhalten. Nur selten konnten Historiker wie bei Adolf Haas, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, auf eine SS-Personalakte zurückgreifen, die »ungewöhnlich umfangreich« war (Saß 2018, S. 20) und trotz weniger subjektiver Quellen mit weiteren Dokumenten eine Rekonstruktion seiner Handlungsmaximen erlaubte. Wie bei anderen Direkttätern ist es bei Rokita kaum »möglich, das Selbstbild […] zu konturieren« (Orth 2001, S. 13) oder im Detail zu rekonstruieren, wie er und seine SS-Kameraden im ZAL Janowska »treue und willige Helfer der Endlösung« werden konnten, wie es in der Anklage zum Tarnopol-Komplex heißt (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 226). Sofern er sich zu seiner Vergangenheit äußerte, geschah das bei den Vernehmungen, denen sich Rokita nach seiner Verhaftung im September 1960 vielfach stellen musste. Zweifellos trug diese »prozessuale Durchleuchtung von Einzelfällen« wesentlich dazu bei, »die Gesichter des Terrors zu erkennen« (Jäger 1982, S. 14). Doch nicht auf alles fiel ausreichend Licht. Im Dunkeln blieb etwa, ob Rokita zu jenen »Weltanschauungskriegern« zählte, die den »Massenmord aus Überzeugung durchführten« (Pohl 2001, S. 118) und die den SS- und Polizeiführer des Distrikts Galizien, Friedrich Katzmann, zu einem der »ranghöchsten Vollstrecker der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik« machten, wie ihn das LG Stuttgart im Tarnopol-Komplex gegen Raebel, Müller und andere beschrieb (Rüter; de Mildt 1998, S. 151). Richard Rokita entstammte einfachen Verhältnissen. Er wurde am 8. Oktober 1894 in Aschersleben in der Provinz Magdeburg als ältestes von acht Kindern

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des Arbeiters Thomas Rokita und seiner Ehefrau Johanna geboren. Wie viele seiner späteren SS-Kameraden kam er aus dem Arbeitermilieu und besuchte gemäß seiner Herkunft acht Jahre lang die Volksschule, aus der er 1908 entlassen wurde. Anschließend erlernte er »2 Jahre in Güsten den Musikerberuf« (StAL EL 317 III Bü 2015), um im Alter von 16 Jahren nach Berlin zu gehen, wo er als »Volontär bei Musikdirektor Müller in Zehlendorf« begann. Müller dürfte eines »der unzähligen sogenannten Musikgeschäfte« geführt haben, die im Ausgang des 19. Jahrhunderts zuhauf entstanden und von Kapellenleitern oder Musikdirektoren geleitet wurden. Diese Musikdirektoren führten ihre »Kapellen nach innen als Handwerksbetrieb, während sie nach außen als Unternehmer am freien Musikmarkt auftraten«, schreibt der Historiker Martin Rempe über die damalige Ausbildungspraxis von Musikern im Kaiserreich (Rempe 2020, S. 66). Seinerzeit sei ein »regelrechter Markt« für Lehrlingskapellen entstanden, die veräußert und erworben werden konnten (ebd., S. 67). Über die Herkunft der Lehrlinge ist wenig bekannt. Josef Eckhardt schreibt, dass sie gewöhnlich aus mittellosen Familien stammten: »Die Eltern waren Arbeiter, Bergleute, Handwerker, kleine Beamte u.ä.« (Eckhardt 1978, S. 26). Einer von damals 10.000 Lehrlingen in privaten Musikgeschäften und öffentlich subventionierten »Stadtpfeifereien« war Richard Rokita. Welches Instrument oder welche Instrumente er in den etwa vier Jahren seiner Ausbildung erlernte,25 gibt weder die Anklageschrift noch seine biografische, in der Ich-Form geschriebene Selbstauskunft an. In das Bild eines Geigers, von dem in der Legende vom Todestango häufig die Rede ist, wollen sich die weiteren Angaben zu seiner Person und seinem Lebensweg nicht recht fügen. Nur sechs Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs und kurz vor seinem 20. Geburtstag meldete er sich am 18. September 1914 als Kriegsfreiwilliger und blieb »bis 20.12.1918 mit dem Inf. Regiment 406, zuletzt im Range eines Gefreiten, an der West- und Ostfront eingesetzt«, allerdings nicht in der kämpfenden Truppe, sondern »abwechselnd als Militärmusiker und Hilfskrankenpfleger« (StAL EL 317 III Bü 2015), wofür bevorzugt Musiker herangezogen wurden.26 Auch sei wegen des Graben- und Stellungskriegs der »Bedarf an musikalischer Truppenbetreuung« hoch gewesen (Rempe 2020, S. 152). Einer Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz »EK II. Klasse« 25

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Martin Rempe gibt die durchschnittliche Lehrzeit »mit etwa vier Jahren« an, was hieß, dass »allein in diesen Stätten 2500 Musiker pro Jahr herangezogen wurden« (Rempe 2020, S. 67). Josef Eckhardt schreibt in seiner Sozialgeschichte der Zivil- und Militärmusiker im Wilhelminischen Reich, die Lehrzeit habe je nach Vorkenntnissen zwischen 2 und 5 Jahren betragen (Eckhardt 1978, S. 27). Nach Angaben von Martin Rempe hatten bis Mitte September 1914 »40 Orchester insgesamt etwa 450 Musiker gemeldet, die an die Front abgeordnet worden waren« (Rempe 2020, S. 145). Berühmte Musiker, die sich freiwillig meldeten oder eingezogen wurden, waren Hanns Eisler, die Komponisten Paul Hindemith und Arnold Schönberg, der Geiger Fritz Kreisler und der Dirigent Fritz Busch (ebd., S. 146).

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stand das nicht im Wege. Nach dem Krieg sei er wieder als Musiker tätig gewesen, volontierte erneut bei Musikdirektor Müller und bildete sich in Abendkursen »in Musik aus«. Auch hier erfahren wir aus der Anklageschrift nicht, an welchem Instrument er seine Fertigkeiten vervollkommnete.27 Kurz nach dem Ersten Weltkrieg habe ihn und seine Kapelle ein polnischer Gastwirt engagiert, sodass sich die Musiker im Jahr 1919 nach Gnesen (östlich von Posen in Polen) begaben. Bis 192828 habe er »in vielen Städten« gastiert. Im selben Jahr sei er nach Berlin zurückgekehrt. Wegen des aufkommenden Tonfilms wird er arbeitslos, weil »Kinomusiker nicht mehr gefragt waren« (ebd.). Er schlägt sich danach als »Zeitschriftenfahrer« durch. Zum Glück war seine »erste Frau Klara […], mit der er auch zwei 1919 und 1920 geborene Töchter hatte«, bei der Magistratsverwaltung in Zehlendorf angestellt, was die Familie über die Zeit der Arbeitslosigkeit brachte. Wie andere Deutsche wandte sich Rokita Anfang der 1930er Jahre der »nationalsozialistischen Bewegung zu«. Am 4. September 1931 trat er zunächst in die Sturmabteilung (SA) ein, um knapp acht Monate später, am 1. Mai 1932, Mitglied der NSDAP zu werden (Mitgliedsnummer 1.106.724). Rokita schloss sich mithin in der »eigentlichen Aufschwungphase der Partei« (Lüdtke 1991, S. 577), also zwischen 1930 und 1933, der NSDAP an, gehörte somit nicht zu jenen, die erst nach der Machtübernahme und den letzten »freien« Wahlen im Deutschen Reich (März 1933) sich der Partei anschlossen. Ab Frühjahr 1933 sei die Partei von Mitgliedsanträgen geradezu überschwemmt worden. Entsprechend verächtlich blickten die alten Kämpfer innerhalb der Partei auf diese »Opportunisten« herab, die sie »Märzgefallene« nannten (Kershaw 2018, S. 77).29

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Auch Leon Wells gibt hierüber keinen Aufschluss. Er will nach eigenen Angaben tieferen Einblick in das Privatleben von Rokita gehabt haben. Rokita hatte offenbar an ihm einen Narren gefressen und ihn mit anderen Häftlingen für die Renovierung seines »Vierzimmerhauses« unweit des Lagers requiriert. »Diese zusätzliche Arbeit bot einen interessanten Einblick in Rokitas Privatleben«, schreibt er (Wells 1979, S. 97). Doch darauf folgt keine Beschreibung des »privaten«, sondern der unvermittelte Wechsel zum öffentlichen Rokita: Es sei »offensichtlich« gewesen, dass es Rokita besonderes Vergnügen »bereitete, auf Menschen zu schießen« (ebd.). Aus Wells’ Bericht erfahren wir nur, dass der verheiratete Rokita, Vater zweier Kinder, Abend für Abend betrunken und ein Frauenheld gewesen sei, der erst tief in der Nacht zurückkehrte. Andere Daten nennt die Anklageschrift: »Von Dezember 1921 bis März 1927 war er in Polen als Kaffeehausmusiker engagiert« (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 54). Ein gutes Jahr später, am 27. Juli 1934, legte die Partei den Begriff des »alten Kämpfers« exakt fest: »Mitgliedschaft bei NSDAP, SA, SS oder Stahlhelm vor dem 30. Januar 1933, also ›Parteigenossen‹ mit Mitgliedsnummern unter 300.000, oder einjährige Amtswaltertätigkeit vor dem 1. Oktober 1933« (Studt 2002, S. 41) Der Grund für diese Regelung war, dass »viele ›alte Kämpfer‹ [.] ihren Einsatz für die ›Bewegung‹ nach der ›Machtergreifung‹« nicht genügend gewürdigt sahen (ebd.).

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Welche Rolle die Musik in Rokitas Leben spielte und was sie ihm bedeutete, teilt er nicht mit. Das lässt sich eher erahnen als nachweisen. Wollte man ein Wort zu seinen Gunsten einlegen, könnte man mutmaßen, dass er sich von der Musik ein Ausbrechen aus den engen Schranken seiner Klassenherkunft versprach, er ein anderes Leben als das eines Berliner Fabrikarbeiters suchte. Dafür war er offenbar bereit, weit zu gehen. Nach seiner Darstellung ist es die Musik, durch die er »den ersten Schritt in die SS« macht. Bei einer NSDAP-Parteiversammlung, wo eine SS-Kapelle spielte, kommt er mit dem »Musikmeister in ein Fachgespräch«, das mit dem Angebot endet, der Kapelle beizutreten (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 53). Dieser Schritt erweist sich schnell als Karrieresprungbrett. Ziemlich genau ein Jahr nach seinem Eintritt in die SA wurde Rokita am 5. September 1932 »in die SS übernommen« (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 54). Dass dieser vergleichsweise frühe Wechsel »zum elitären Teil der Bewegung« (Angrick 2014, S. 157) einen Hinweis auf Rokitas Identifikation mit den weltanschaulichen Zielen der NSDAP gibt, kann als wahrscheinlich angenommen, aber nicht belegt werden. Tatsache ist, dass er der SA lange vor dem sogenannten Röhm-Putsch (1934) den Rücken kehrte und die Gruppierung wählte, die in ihrer weltanschaulichen Ausrichtung und körperlichen Tüchtigkeit »stärkere persönliche Anforderungen an ihre Mitglieder stellte« (ebd., S. 157).30 Auch in der SS blieb Rokita zunächst seiner Profession als Musiker verhaftet. Wenige Monate nach dem Eintritt in die SS wird er »als guter Musiker« Truppführer des »Musikzuges der 42. SS-Standarte Berlin-Zehlendorf«. Dort trifft er auf jenen Mann, der für seine weitere Karriere im Ghetto- und Lagersystem der NS in Galizien von entscheidender Bedeutung werden sollte: Friedrich Katzmann, den späteren SS- und Polizeiführer im Distrikt Galizien, der laut Anklageschrift in Berlin-Zehlendorf eben diese 42. SS-Standarte führte. Katzmann, am 6. Mai 1906 in Langendreer bei Bochum geboren, war zwölf Jahre jünger als Rokita, kam wie er als »sechstes Kind eines Bergmanns« aus dem Arbeitermilieu, hatte sich aber schon im Alter von gerade 21 Jahren, am 1. Dezember 1927 den Braunhemden der SA anschlossen und sich ganz der NSDAP verschrieben: Am 1. September 1928 trat er in die Partei (Nr. 98.528) ein und am 6. September 1930 der SS bei (Nr. 3065).31 Nach der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 soll Rokita »als Vollstreckungsangestellter im Finanzamt Niederbarnim in Berlin« tätig gewesen sein. Seinen Aufstieg in der SS scheint er gleichwohl vorangetrieben zu haben. Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde er zum Landsturm nach Luckenwalde einberufen und nahm am Polenfeldzug teil. Er ist jetzt 45 Jahre alt. Womöglich

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Für die Aufnahme in die SS war eine Mindestgröße von 1,70 Metern Voraussetzung, außerdem mussten sich Beitrittskandidaten ab 1933 auf ihre Erbgesundheit und arische Abstammung hin überprüfen lassen (Longerich 2010, S. 312). Ausführliche biografische Angaben zu Friedrich Katzmann (Sandkühler 1996, S. 426).

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wegen seines fortgeschrittenen Alters wurde er schon im »Spätherbst 1939« aus der Wehrmacht entlassen und wechselte dank »persönlicher Beziehungen eines SS-Kameraden« (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 55), »zur Hilfspolizei nach Ostrowo« (ca. 140 Kilometer westlich von Łódź). Kurz darauf verlegte er den »Wohnsitz der Familie« dorthin, um in Łódź ortsansässige »Volksdeutsche« auszubilden. Sie sollten unter Führung der SS für die Verfolgung von Juden eingesetzt werden. Von der Musik kann er auch in Łódź nicht lassen: Gleichzeitig mit seiner Aufgabe als Ausbilder »gründete ich eine Musikkapelle« (ebd.). Litzmannstadt, wie die Deutschen Łódź nannten, war bereits am 8. September 1939 von der Wehrmacht besetzt und annektiert worden. Offenbar hielt man Rokita in puncto NS-Ideologie für weltanschaulich gefestigt genug, um ihm die Aufgabe anzuvertrauen, Volksdeutschen den fanatischen Rassenwahn des Nazi-Regimes erfolgreich einzupflanzen. Der Schluss scheint daher zulässig, dass er die expansionistischen Ziele und die Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes mit Überzeugung vertrat. Ein weiterer Beleg ist, dass er am 9. November 1940 zum SS-Untersturmführer32 befördert wurde. Anders als Katzmann scheint er keine hauptberufliche Laufbahn in der SS angestrebt zu haben. Anfang des Jahres, so heißt es in der Anklageschrift, schied er aus der Hilfspolizei aus, um mit seiner Frau das Textilgeschäft des Polen Ceslaw Kempa zu betreiben, das Klara Rokita bis dahin in Treuhänderschaft in dessen Namen geführt hatte (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 55). Lange währte die bürgerliche Karriere als Textilkaufmann nicht, die SS legte Wert auf seine Dienste und beorderte ihn im ersten Halbjahr 1942 ins SS-Sonderlager Trawniki, etwa 35 Kilometer südöstlich von Lublin, über das der geradezu wahnhafte Antisemit, SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik herrschte. In diesem Lager am Rande der kleinen Ortschaft Trawniki, das zwischen Juni und September 1941 auf dem Gelände einer ehemaligen Zuckerfabrik entstanden war, sollte Rokita dazu beitragen, »fremdvölkische Hilfstruppen«, vor allem russische Kriegsgefangene, zu Helfern und Agenten der deutschen Besatzer in den eroberten Ostgebieten zu machen. Diese Trawniki, die meist als Ukrainer bezeichnet werden, waren dafür berüchtigt, dass sie in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard/t« und bei Ghettoräumungen äußert brutal gegen die Juden vorgingen.33 Rokitas Ankunft Mitte des Jahres 1942 in Lemberg als stellvertretender Kommandant des Janowska-Lagers wirft ein bezeichnendes Licht auf ihn. Denn der SSPF Friedrich Katzmann erwies ihm die Ehre, »mich persönlich mit seinem Dienstfahrzeug in das Lager Janowskastraße« zu bringen, wie er bei einer Vernehmung

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Zu den SS-Dienstgraden und ihren Äquivalenten bei der Wehrmacht (siehe Wachsmann 2017, S. 729) und (Orth 2001, S. 334). Über die sogenannten Trawniki oder Ukrainer in den Diensten der SS siehe ausführlich: Angelika Benz, Trawniki (Benz 2009, S. 602-611).

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am 13. November 1961 betonte (StAL EL 48/2 I Bü 397, Bl. 2692).34 Katzmann brachte Richard Rokita damit sicher nicht zur Gründung eines Lagerorchesters in Stellung, sondern für ein Vorhaben, dessen Ergebnis sein Bericht vom 30. Juni 1943 in die Worte fasste: »Der Distrikt Galizien ist […] judenfrei« (IMT 1949a, S. 401). Welchen Anteil Richard Rokita daran hatte, beschäftigte 20 Jahre später die deutschen Gerichte, wo er und einige seiner Mordgesellen sich für ihre Verbrechen in Galizien verantworten mussten.35 Der Schritt zum stellvertretenden Kommandanten bedeutete für Rokita einen gesellschaftlichen Aufstieg, der sich auch in entsprechenden Statussymbolen manifestierte. Den Weg in die Stadt legt er nun nicht mehr zu Fuß, sondern im Dienstwagen zurück: »Ich hatte meinen eigenen Wagen mit Kraftfahrer« (StAL EL 48/2 I Bü 397, Bl. 2439). Und ein eigenes Haus, vor das der »jüdische Kraftfahrer« auf seinen Befehl hin den Pkw vorfuhr, um ihn in das 1500 Meter entfernte Arbeitslager zu chauffieren (StAL EL 317 III Bü 1517, Bl. 67). Trotz komfortabler Lebensumstände hielt es ihn nicht lange in Lemberg. Vermutlich schon im November oder Dezember 1942 wurde er nach Tarnopol versetzt, rund 135 Kilometer östlich von Lemberg, wo er die Leitung eines anderen Zwangsarbeits- oder »Judenlagers« (Julag) übernehmen sollte. Nach dem Krieg tauchte er zunächst unter dem Namen Johann Domagalla in Schleswig-Holstein unter, wo ihn in der Kleinstadt Heide der Direktor des Theaterunternehmens »Die Nordseebühne« als Musiker einstellte. Mit dem Tourneetheater bereiste er etwa ein halbes Jahr lang »schleswig-holsteinische Ortschaften« für Gastspiele (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 59). Später zog es ihn nach Hamburg-Bergedorf, wo er »als Musiker, Hafenarbeiter und Monteur und Arbeiter in einer Glasfabrik« Geld verdiente. 1947 ließ er sich nach 28 Ehejahren im Alter von 53 Jahren von Klara scheiden, um sich elf Jahre später mit Christel zu verheiraten. Im März 1956 soll er wieder seinen richtigen Namen angenommen haben.36 34

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»Der ehemalige SS-General Friedrich Katzmann, geboren 1906, starb 1957 unter falschem Namen in Darmstadt. Seine Identität als Kriegsverbrecher hatte er schon länger einer Krankenschwester offenbart, die sich aber nicht verpflichtet fühlte, Katzmann anzuzeigen« (Sandkühler 1996, S. 422). Gemeinsam mit Richard Rokita waren elf weitere SS-Männer im sogenannten Tarnopol-Komplex angeklagt. Ihnen warf die Anklage vor, zwischen Sommer 1941 und Herbst 1943 in Tarnopol sowie den umliegenden Orten und Zwangsarbeitslagern … »in mindestens 516 Fällen Menschen aus niedrigen Beweggründen heimtückisch und grausam getötet oder zu solchen Verbrechen durch die Tat wissentlich Beihilfe geleistet« zu haben (ebd., S. 5f.). 19 Mordtaten zählte die Anklage auf, die Rokita allein oder mit anderen begangen haben soll – obgleich diese Taten in Tarnopol nur »ein sehr kleiner Ausschnitt aus seiner gesamten verbrecherischen Mitwirkung bei der ›Endlösung der Judenfrage‹ in Galizien« waren (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 201). Wegen Verhandlungsunfähigkeit wurden beide Verfahren gegen Rokita, Tarnopol- und Lemberg-Komplex, im Jahr 1966 eingestellt. Rokita starb zehn Jahre später. Der heute in Klagenfurt lehrende Historiker Dieter Pohl schreibt, Rokita habe von sich aus der Polizei die »falsche Namensführung« angezeigt (Pohl 1997, S. 419).

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Seiner Tätigkeit als Pförtner in einer Hamburger Maschinenfabrik konnte er gerade ein Dreivierteljahr nachgehen. Am 21. September 1960 wurde er verhaftet, »das Geigenspiel hatte er inzwischen eingestellt«, behauptet Simon Wiesenthal, der maßgeblich zur Festnahme beigetragen hatte (Wiesenthal 1967, S. 324). Die Musik muss ihm viel bedeutet haben, das zeigen diese wenigen Angaben. So viel, dass er als SS-Ausbilder im annektierten Łódź sogleich ein Orchester gründete. Ansonsten entsprechen seine Herkunft, sein Bildungsgrad und Werdegang dem vieler SS-Kameraden, die er später in Lemberg und Tarnopol zu seinen Untergebenen zählen sollte. Die meisten hatten einen »Volks- oder Mittelschulabschluss« (Orth 2002, S. 95) und erlernten einen kaufmännischen oder handwerklichen Beruf (Orth 2001, S. 88). SS-Scharführer Roman Schönbach,37 der von Herbst 1942 bis Sommer 1943 im Janowska-Lager Dienst tat (Rüter; de Mildt 2003, S. 740), war Maurer, SS-Hauptsturmführer Rudolf Röder, Inspekteur der Zwangsarbeitslager, war Elektrotechniker,38 SS-Rottenführer Hans/Johannes Sobotta, dessen Einsatz im ZAL Janowskastraße nur von Mai 1943 bis Ende Juli 1943 währte, war Friseur,39 und SS-Sturmmann Ernst Heinisch, der vermutlich im Herbst 1942 im ZAL Janowska seinen Dienst antrat und von Februar oder März 1943 das Kommando im Lemberger »Julag« übernahm (Sandkühler 1996, S. 434), war wie sein Vater Müller,40 während als Beruf des SS-Oberscharführers Carl Wöbke,41 seit 1942 Referatsleiter IV-4 (Lagergestapo) im ZAL Janowska (ebd., S. 438), und bei Anton Löhnert42 Kaufmann angegeben wird. Rokita kam so wenig wie die Genannten aus einer sozialen Randgruppe, sondern »aus der Mitte der Weimarer Gesellschaft« (Orth 2002, S. 95). Er gehörte aber den sozialen Schichten an, »die von der ökonomischen, politischen und sozialen Krise am schärfsten betroffen waren und sich vom sozialen Abstieg bedroht sahen« (ebd.). Wie Rokita verloren viele spätere Mitglieder der KonzentrationslagerSS in den 1930er Jahren kurzfristig oder dauerhaft ihren Arbeitsplatz. Viele schlossen sich in dieser Zeit der nationalsozialistischen Bewegung an wie beispielsweise Fritz Gebauer. Der spätere Chef der DAW in Lemberg war 1931 arbeitslos und suchte das Arbeitsamt in dieser Zeit »wöchentlich zweimal« auf. Bei einem dieser Besuche sprach ihn eine Werbekolonne der NSDAP an und gewann ihn für die Partei, in die er am 1. Januar 1931 eintrat (Nr. 388.421). Knapp zwei Monate später schloss er

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Mitglied der SS seit 1937. Mitglied der NSDAP und SS seit 1932. Mitglied der SA seit 1933, seit 1934 der SS. Mitglied der SS und NSDAP seit 16. Oktober 1938. Mitglied der SA seit 1. August 1932, NSDAP-Nr. 1.236.105. Mitglied der Allgemeinen SS seit Oktober 1938, bei Kriegsausbruch im Sept. 1939 Eintritt in die NSDAP.

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sich der SS an, wohin er, so bedeutete man ihm in der Partei, »als Mann von großer Statur« gehöre, wie es im Urteil des LG Saarbrücken über ihn heißt (Rüter; de Mildt 2005, S. 390). Als »ausgesprochen leistungsorientierte Persönlichkeit« (ebd., S. 391) sei er dort schnell aufgestiegen. Gebauer und Willhaus sowie die meistens SS-Leute, die im Janowska-Lager ihrem Befehl unterstanden, gehörten jener Altersgruppe an, die in den späteren Konzentrationslagern des Nazi-Regimes Karriere machen sollte. Als sogenannte »Kriegsjugendgeneration« kennzeichnete sie, dass sie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren wurden und den Ersten Weltkrieg »zwar als einheitsstiftende Erfahrung erlebt hatten, aber unter dem Komplex litten, zu jung gewesen zu sein, um aktiv daran teilzunehmen« (Longerich 2010, S. 760). Ulrich Herbert schreibt in seiner Studie Wer waren die Nationalsozialisten?, dass die NSDAP-Mitglieder weit überwiegend männlich waren und »sich in deutlich überrepräsentativem Maße aus der ›Kriegsjugendgeneration‹ der zwischen 1900 und 1915 Geborenen« rekrutierten (Herbert 2021, S. 7). Im Jahr 1935 waren sie zwischen 20 und 35 Jahre alt.43 Von den elf SS-Männern, die sich mit Richard Rokita im sogenannten Tarnopol-Komplex verantworten mussten, waren neun zwischen 1904 und 1909 geboren und zwei in den Jahren 1911 und 1912. Rokitas Vorgesetzter im Janowska-Lager, Gustav Willhaus, war 16 Jahre jünger als er. Und unter 15 Angeklagten, die sich 1968 vor dem Landgericht Stuttgart im Lemberg-Komplex am Ende zu verantworten hatten, war nur einer im 19. Jahrhundert geboren, nämlich der Adjutant Friedrich Katzmanns, SS-Obersturmführer Ernst Inquart (1899). Inquart war außerdem sehr spät in die Partei (am 1. November 1938, Nr. 6.518.922) und die SS eingetreten (Nr. 305.705). Alle anderen Angeklagten waren zwischen 1901 (Ernst Heinisch) und 1921 (Peter Blum), die meisten jedoch nach 1906 geboren worden.44 Insofern war die Kriegsjugendgeneration für viele »der biografisch porträtierten Täter […] eine historisch prägende Kohorte« (Roseman 2015, S. 194). Aus ihren Reihen kam die Mehrzahl der Täter (Mallmann; Paul 2014, S. 6).45

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Jürgen W. Falter hatte bereits in den 1990er Jahren nachgewiesen, dass mehr als die Hälfte »der NSDAP-Neumitglieder vor 1933 […] jünger als 30 Jahre [waren]. Das Durchschnittsalter (Median) betrug 28,8 Jahre. Die zwei jüngsten Altersgruppen (18–24 Jahre und 25–39 Jahre) waren in der Partei klar überrepräsentiert« (Falter 1994, S. 28). Auf diese Altersgruppen übte die SA ihre stärkste Anziehung aus, schreibt Daniel Siemens in seiner Studie über die Sturmabteilung, auf Männer also, »die so jung waren, dass sie nicht im Krieg gedient hatten« (Siemens 2019, S. 129). Diese sogenannte Kriegsjugendgeneration bestand »überwiegend aus Männern der Jahrgänge 1900 bis 1910«. Zuletzt mögen im Janowska-Lager »schätzungsweise 60–80 SS-Leute eingesetzt gewesen sein«, heißt es im Urteil des LG Stuttgart vom 29.04.1968 (Rüter; de Mildt 2003, S. 728). Die wenigsten wurden für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Gerhard Paul bestreitet, dass das Modell der Kriegsjugendgeneration »der Vielfältigkeit der Taten und der Täter […] gerecht« wird, die aus allen Schichten, Bildungs- und Herkunftsmi-

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Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es wichtige Unterschiede. Anders als die meisten seiner SS-Kameraden in Tarnopol und Lemberg hatte Rokita als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient, wenngleich als Musiker und Hilfskrankenpfleger hinter den Linien. Er gehörte mithin nicht zur Kriegsjugendgeneration. Außerdem war er deutlich älter, als er sich im Alter von nun schon 37 Jahren der NSDAP anschloss. Und als Musiker fiel er aus dem Rahmen der in der KZ-SS vorherrschenden Handwerks- und Kaufmannsberufe. Unklar ist, ob er sich bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg rechtsradikalen Kreisen angeschlossen hatte, in denen viele Historiker die frühen Schulen der Gewalt sahen, die gleichsam auf die späteren Gewalt- und Mordtaten in den Konzentrationslagern vorbereiteten.46 Viele der sogenannten Angehörigen der Kriegsjugendgeneration hatten sich bereits als Jugendliche rechtsradikal-völkischen Kreisen anschlossen und waren »deutlich vor der sogenannten Machtergreifung der nationalsozialistischen Bewegung« beigetreten: »Im Durchschnitt waren sie bereits im September 1931 Mitglied der NSDAP« (Orth 2002, S. 95). Jeder Zweite sei »mit Mitte 20 Mitglied der NSDAP und der SS« geworden (Orth 2001, S. 89). Auf Rokita trifft das nicht zu. Gleichwohl stellt sich die Frage: Was trieb SS-Leute und -Kommandanten wie Richard Rokita, Fritz Gebauer, Gustav Willhaus und später Friedrich Warzok an? Warum errichteten sie ein derart brutales Regime, das dem »Janowska-Lager den Ruf eines der gefürchtetsten Lager Galiziens überhaupt« eintrug (Rüter; de Mildt 2003, S. 728)? Wie wurden aus Familienvätern wie Rokita (zwei Töchter, geboren 1919 und 1920) und Willhaus (Vater einer Tochter, geboren 1939) Massenmörder, die nichts dabei fanden, dass Häftlinge »willkürlich und aus nichtigen Anlässen […] geschlagen, erschossen, erhängt und unter grässlichen Martern zu Tode gebracht« wurden (ebd.)? Die Antworten von Häftlingen, die überlebten und später Zeugnis über ihr Leiden gaben, fallen einhellig aus: In Lemberg waren ausgesprochene Sadisten am Werk, gelehrige Schüler der Universität der Mörder (Borwicz 2014, S. 88),47

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lieus kamen. Es lasse sich allenfalls eine einzige Gemeinsamkeit finden: »Der Verlust der Verwurzelung in einem verbindlichen humanitären Wertesystem« (Paul 2002, S. 62). Frank Bajohr wendet gegen diese »Brutalisierungsthese« ein: Nicht die Gewalterfahrung selbst, sondern die »Deutung dieser Erfahrungen durch die politische Kultur« habe eine entscheidende Funktion gehabt. Auch unterschied sich die Gewalt in der Weimarer Republik dadurch, dass es dort um »die symbolische Beherrschung der Straße« und nicht um die physische Vernichtung des Gegners gegangen sei (Bajohr 2015, S. 174). Die Vorstellung, das Janowska-Lager sei eine Art Hochschule der Brutalisierung gewesen, ist in der Erinnerungsliteratur weit verbreitet. Im Schwarzbuch heißt es: Nachdem die SS-Banditen die »›Janowsker Universität‹ in einem Schnellkurs durchlaufen hatten, schwärmten die gestrigen Lehrlinge des Lagerführers Gebauer in alle Teile der Westukraine aus, um an den verschiedensten Orten eine selbstständige ›Tätigkeit‹ aufzunehmen« (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 178). Tatsächlich jedoch waren die meisten höheren Offiziere »Veteranen der LagerSS«, von denen viele »die Schule der Gewalt in den SS-Lagern der Vorkriegszeit durchlaufen« hatten (Wachsmann 2017, S. 426). Auch der israelische Historiker Tom Segev schreibt:

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die voller Lust ihre Mordtaten ausführten und sich dabei keinerlei Schranken auferlegten. Leon Wells schreibt, dass Rokita »besondere Freude daran hatte, Leute zu erschießen« (Wells 2014, S. 90), was sich im Lager »herumgesprochen hatte« (ebd.). Für andere war er einer der »größten Henker«, der mit der Maschinenpistole in die Menge der Häftlinge schoss, weil er sich angeblich »in seinem Mittagsschlaf gestört« fühlte (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 181). Rokita wird als Bestie beschrieben, »die sich als menschliches Wesen ausgab«, wie Zaderecki schreibt (Zaderecki 2018, S. 281).48 Angeblich gab es kaum einen Appell, wo Rokita nicht »15, 20 oder mitunter sogar 50 Männer« in den Tod beförderte (ebd.). Er habe sich »in jeder Phase als Sadist« gezeigt, sagte 20 Jahre später der Architekt Zeev Porath, der das Janowska-Lager überlebte und als Zeuge im Lemberg-Komplex aussagte (StAL EL 48/2 I Bü 385, Bl. 1363). Innerhalb kürzester Zeit habe er 35 jüdische Männer per Genickschuss ermordet und auch sonst schnell zur Waffe gegriffen (ebd.). Als Sadist beschreibt ihn auch Filip Friedman, als einen »›Ästheten‹, der es liebte, ›feine‹ und ›subtile‹ physische und psychische Foltern zuzufügen« (Friedman 2014, S. 55). Obersturmführer Rokita habe »persönlich Häftlingen den Bauch aufgeschlitzt«, wie der sowjetische Ankläger Oberst Smirnov in seiner Anklage am 14. Februar 1946 ausführte (IMT 1947b, S. 450). Und wenn es darum ging, neue Qualen und Gräueltaten zu ersinnen, habe niemand sich Foltermethoden ausdenken können, »wie Richard Rokita sie ausgetüftelt und in der Praxis angewandt hat«, schreibt Marian Rogowski in seinen Erinnerungen Gewonnen gegen Hitler (Rogowski 1973, S. 175). Rokita sei ein »blutrünstiges Biest« (Kahane 1990, S. 94) gewesen – ein »freundlicher Mörder«, der seine Opfer nie prügelte oder anschrie, sondern »mit Höflichkeit« tötete (Wiesenthal 1967, S. 323), ein »Sadist und Unmensch […], der jeden Tag wahllos Häftlinge aus reiner Mordlust« tötete (Wiesenthal 1970, S. 16f). Andererseits habe er mit seinen Opfern kurzen Prozess gemacht und sie nicht wie andere zuvor gequält, wie Wells ihm in seiner Schilderung zugutehielt (Wells 2014, S. 90), was wiederum im Widerspruch zu dem fast einhellig gezeichneten Bild des Sadisten und subtilen Folterers steht. Sadisten, blutrünstige Bestien, Knochenbrecher: Diese Charakterisierungen sind in Erinnerungsberichten weit verbreitet. Nicht nur Richard Rokita wird so beschrieben. Auch seine SS-Kameraden Fritz Gebauer, Leiter der DAW, Gustav Willhaus, Kommandant des Janowska-Lagers, oder SS-Scharführer Hermann Müller, der von November 1941 bis Ende Mai 1943 die Außendienststelle des Sicherheitsdienstes in Tarnopol leitete, werden in Zeugenaussagen durchgängig als »blutdürstiges Tier« oder »Teufel in Menschengestalt« bezeichnet (Rüter; de

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»Wenigstens zehn spätere Lagerkommandanten erhielten in Dachau ihre erste Ausbildung in Sachen Lagerführung« (Segev 1992, S. 35). Dachau war das erste, kurz nach der Machtübernahme errichtete Konzentrationslager im »Dritten Reich«. Wörtlich: »He was a beast who aspired to pass himself off as a human being.«

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Mildt 1998, S. 53). Lange Zeit folgte die wissenschaftliche Literatur diesem Bild. In der amerikanischen Ausgabe der »Encyclopedia of the Holocaust« heißt es, dass die Verfolgung und Tötung der Juden unter der Regie »außergewöhnlich grausamer Lagerkommandanten« stattfand, unter denen namentlich Gebauer, Willhaus und »Wilhelm Rokita« (sic!) aufgeführt werden (Gutman 1990, S. 734).49 Der Historiker Thomas Sandkühler meint, Rokita sei »von ähnlichem Naturell« wie der Lagerkommandant Willhaus gewesen, der »ein ausgesprochener Sadist« war (Sandkühler 1996, S. 187).50 Und Dieter Pohl schreibt, dass »Rokita die meisten Exzessmorde im Lager angelastet« werden (Pohl 1997, S. 334). Fraglos gab es Sadisten und Psychopathen in den Reihen der Konzentrationslager-SS, aber so hatte Primo Levi schon früh erkannt, »es waren nur wenige« (Levi 2019, S. 127).51 Gewalt, Gräueltaten und Massenmorde wurden von »ganz gewöhnlichen Menschen aus normalen Familien mit normalen Problemen […] ausgeführt« (Welzer 2016, S. 42). Zu ihnen dürfte auch Richard Rokita gehört haben, der wie fast alle seiner mitangeklagten SS-Kameraden bis zum Lemberg- und TarnopolVerfahren nicht vorbestraft war. Von der Annahme, dass es sich »bei den Tätern um exzeptionelle pathologische Typen gehandelt habe« (Paul 2002, S. 41), haben sich die Historiker spätestens seit Mitte der 1990er Jahre verabschiedet. Dazu hatte vor allem die Debatte um Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker (Goldhagen 2012) und Christopher Brownings Studie über das Reserve-Polizeibataillon 101 Ganz normale Männer (Browning 2013) beigetragen. Fortan rückten verstärkt die »›kleinen‹ Schwungräder des Genozids« (Mallmann; Paul 2014, S. 4) in den Blick, die nun als »eigenständige Akteure des Vernichtungsprozesses« (ebd.) sichtbar wurden. Als »wertvolle Quelle« 49

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Wörtlich: »In the middle of May 1943 over six thousand Jews were murdered. The harassment and killing of Jews were directed by the exceptionally cruel German camp commanders and staff, among them Obersturmführer Fritz Gebauer, Untersturmführer Gustav Willhaus, Hauptscharführer Josef Grzimek, and Obersturmführer Wilhelm Rokita.« Die deutsche Ausgabe der Enzyklopädie folgt dieser Darstellung nicht: »Bis Mitte Mai 1943 waren mehr als 6000 Juden ermordet worden. Anfang Juni 1943 wurden in den Sandhügeln die letzten Juden aus dem Ghetto Lemberg erschossen, am 19. November 1943 die etwa 2500 Häftlinge des DAWWerks und die verbliebenen Häftlinge im Lager. Das DAW-Gelände wurde von Obersturmführer Fritz Gebauer geleitet, das eigentliche Janowska-Lager von Untersturmführer Gustav Willhaus, dann von Friedrich Warzok; stellvertretende Lagerleiter waren Richard Rokita und Richard Fichtner. 1943 wurden 60 bis 80 SS-Männer in Janowska eingesetzt« (Jäckel; Longerich; Schoeps 1998, S. 658). Zu Thomas Sandkühler siehe seine jüngste Veröffentlichung über Das Fußvolk der Endlösung (Sandkühler 2020). Zu ihnen gehörte Dr. Oskar Dirlewanger, der sich »wegen extremer Grausamkeiten« sogar vor einem SS-Gericht verantworten musste (Klee 2015, S. 113). Knut Stang beschreibt Dirlewanger als sadistischen, amoralischen »Alkoholiker, in dem das ohnehin verbrecherische NS-Regime seinen vielleicht extremsten Henker fand« (Stang 2014, S. 66).

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(Sandkühler 1999, S. 45) erwiesen sich unter anderem die umfangreichen Verfahrensakten und Urteile, die die Staatsanwälte und Richter in den vielen NS-Prozessen der 1960er Jahre zusammengetragen hatten. Wenngleich bei der Suche nach der individuellen Schuld die bei arbeitsteilig durchgeführten Massenmorden »viel breiter gestreute Eigeninitiative und Verantwortung« (Jasch; Kaiser 2018, S. 141) aus dem Blick geriet, so zeigte sich auch vor Gericht, was Roseman zusammenfassend über neuere Täterbiografien schrieb: Beinahe jede »präsentiert ihren Protagonisten als eine Person, die kreativ und tatkräftig zur Endlösung beitrug« (Roseman 2015, S. 190). Richard Rokita und der Lagerkommandant Gustav Willhaus bilden hier keine Ausnahme. Sie waren maßgeblich für das grausame Regime im Janowska-Lager verantwortlich. Zu ihrer Entschuldigung konnten sie sich nicht darauf berufen, dass Fritz Katzmann, der SS- und Polizeiführer im Distrikt Galizien und damit ihr Vorgesetzter, bei einer Dienstbesprechung im Oktober 1941 allen Lagerleitern deutlich gemacht hatte, dass die Juden »ihr Feind seien und hart angefasst werden müssten«. Auf das Leben von ein paar Tausend Juden komme es nicht an, »sie würden ohnehin alle ausgerottet« (Rüter; de Mildt 2003, S. 726). Aber weder hatte er den Lagerleitern »verbindliche Verhaltensvorschriften« erteilt noch sich um die Lagerangelegenheiten gekümmert: »Die Lagerleiter konnten demnach frei schalten und walten, solange die geforderten Straßenbauarbeiten verrichtet und das Arbeitsentgelt pünktlich abgeliefert wurde«, befand 1968 das Landgericht Stuttgart im Lemberg-Prozess (ebd., S. 727). Mit anderen Worten: Es waren »fanatische Judenhasser« (ebd., S. 728) der unteren Ränge vor Ort, Leute wie Gustav Willhaus, die den Genozid an den Juden zu ihrer Sache machten und ihn unerbittlich betrieben. In den Urteilen im Lemberg- und Tarnopol-Komplex wird deutlich, dass die Lagerleiter ihre Machtstellung weidlich auszunutzen wussten, weil sie ihnen erlaubte, »souverän als Herren über Tod und Leben der ihnen ausgelieferten Menschen aufzutreten« (ebd., S. 727). Niemand habe sie zur Rechenschaft gezogen, »wenn sie ihre Macht missbrauchten und dem ihnen anerzogenen Rassenhass zügellosen Lauf ließen« (ebd.). Der SS-Hauptsturmführer Rudolf Röder, geboren am 30. Oktober 1902, räumte im Lemberg-Prozess gegen ihn und andere SS-Leute offen ein, »dass die Juden ›als Freiwild‹ behandelt worden seien und dass ›mit denen hat jeder machen können, was er hat wollen‹« (ebd., S. 735). Täter wie Röder, Willhaus, Rokita und andere Mitglieder der SS im Janowska-Lager wie Peter Blum, Ernst Heinisch oder Roman Schönbach sahen sich nicht zuletzt »durch die Autorität ihres ›Führers‹ legitimiert […], ein bisher beispielloses Verbrechen zu verüben« (Longerich 2001, S. 18). In dieser Tatsache sieht Frank Bajohr den Hauptgrund dafür, dass viele Täter ihren Handlungsspielraum »fundamental« ausweiteten: »Wer Häftlinge brutal behandelte, ja tötete, musste mit keinerlei Sanktionen rechnen. Im Gegenteil: Die Ausübung massiver Gewalt gehört zu einem Initiationsritus, den die Angehörigen der Konzentrationslager-SS absolvieren mussten, da ihr sozialer Zu-

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sammenhalt vor allem auf gemeinsam ausgeübter Gewalt beruhte« (Bajohr 2015, S. 176f). Auf der anderen Seite überrascht es nicht, dass der am 1. April 1944 zum SS-Obersturmführer beförderte Richard Rokita an dieser willkürlichen Gewalt und an den nahezu täglichen Exekutionen keinen oder einen nur sehr geringen Anteil gehabt haben will. Er gleicht darin vielen seiner SS-Kameraden, die ihre Schuld möglichst kleinzuhalten versuchten. Seiner absehbaren Verurteilung zu lebenslanger Haft entkamen er und der Leiter des Lemberger Sonderkommandos 1005, Walter Schallock, allerdings nicht deshalb, sondern wegen Verhandlungsunfähigkeit. In der fast 300 Seiten langen Anklageschrift im Lemberg-Tatkomplex vom 10. März 1965 ist Rokitas Name unter den 17 Angeklagten nicht mehr aufgeführt. Doch solange er noch vernommen werden konnte, betonte er immer wieder, wie sehr Willhaus ihn unter Druck gesetzt habe, an Erschießungen teilzunehmen. Obwohl stellvertretender Lagerkommandant, will er in Lemberg »vollkommen unter der Knute des Lagerführers Willhaus« gestanden haben. Willhaus habe ihn unentwegt gedrängt, dennoch habe er »nie an einer solchen Erschießung teilgenommen« und sich dafür sogar Vorwürfen Willhaus’ ausgesetzt gesehen, wie er vor dem Amtsgericht Lörrach am 20. Oktober 1960 aussagte: »Er hielt mir vor, ich sei zu weich und solle mal etwas schärfer werden« (StAL EL 48/2 I Bü 385, Bl. 2440). Von einem Musikanten, so soll Willhaus seine Verachtung ausgedrückt haben, könne man ja nichts anderes verlangen, nie habe er Rokita »für voll genommen, stets nannte er mich einen Musikanten« (StAL EL 317 III Bü 2015, Bl. 61f.). Gleichwohl musste er bei weiteren Vernehmungen zwischen dem 9. und 11. August 1961 einräumen, dass auch er Häftlinge erschossen hatte. »Nach meiner Meinung und ich kann dies mit gutem Gewissen sagen, musste jeder SS-Angehörige im Lager Lemberg an Erschießungen teilnehmen. Willhaus hätte es nicht geduldet, dass sich gewisse Leute vor Judenerschießungen gedrückt hätten« (StAL EL 48/2 I 385, Bl. 2613). Rokita folgte hier dem aus vielen Prozessen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG) bekannten Muster, dass er sich nur allergrößtem Druck gebeugt habe. Unstreitig ist, dass auf »vermeintliche Feiglinge in den eigenen Reihen oft ein beträchtlicher Gruppendruck ausgeübt« wurde (Sandkühler 1999, S. 58). Das sollte bei einer arbeitsteiligen Täterschaft nicht nur den Einzelnen entlasten, indem er eine »desensibilisierende Wirkung« entfaltete (Browning 2013, S. 213). Die gemeinsam verübten Verbrechen sollten die Gruppe als eingeschworene Gemeinschaft konstituieren und zusammenschweißen, wie Orth in ihrer Analyse der Konzentrationslager-SS gezeigt hat (Orth 2001, S. 299). Auch Richard Rokita dürfte unter erheblichem Druck gestanden haben. Außer dem vorherrschenden Korpsgeist unter den Angehörigen der Lager-SS spricht dafür die Tatsache, dass er mit Abstand der älteste SS-Offizier im Lager war. Selbst sein direkter Vorgesetzter, Lagerkommandant Gustav Willhaus (Jg. 1910), war 16 Jahre jünger als er. Die Jüngsten, die SS-Sturmmänner Peter Blum und Martin

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Büttner, waren zwei Jahre jünger als seine älteste Tochter, sie hätten mithin ohne Weiteres seine Söhne sein können. Gut möglich, dass er deshalb glaubte, sich als »harter Hund« gerieren zu müssen, um Eindruck auf die »Kriegsjugendgeneration« in den Reihen der Lager-SS zu machen und nicht als zu »weich« dazustehen, ein Ruf, der ihm offenbar zu schaffen machte. Die Anklage im Tarnopol-Komplex charakterisierte Richard Rokita als jemanden, der »allgemein als ziemlich weich veranlagt bezeichnet« wurde und der nicht über eine so starke Persönlichkeit verfügte, »etwas entschieden abzulehnen oder sich einem Befehl zu widersetzen«. Bei ihm hieß es würden sich »Weichheit und Brutalität« paaren (StAL EL 333 II Bü 1771, S. 57).52 Nach dem Krieg kam Richard Rokita schnell mit sich ins Reine. Wie andere trat er den geordneten und »erfolgreiche[n] Rückzug aus der Schuldzone« an (Paul 2002, S. 16f). Er könne den weiteren Ermittlungen »mit Ruhe entgegensehen«, wie er bei seiner Vernehmung im Jahr 1960 sagte (StAL EL 317 III Bü 2015, Bl. 77/79). Den Weg zurück ins bürgerliche Leben sah er vor allem durch die Verhöre, Vernehmungen und seine Untersuchungshaft gefährdet. Im Jahr 1960 appellierte er daher an die Behörden, den Prozess seiner glücklich verlaufenden Resozialisierung nicht zu unterbrechen. Er, ein kränklicher alter Mann von fast 66 Jahren, habe »eine gute Arbeitsstelle gefunden, an der ich sehr hänge«. Seit zwei Jahren sei er wieder verheiratet und habe sich mit seiner Frau »unter großen Opfern […] ein einigermaßen Auskommen und eine Einzimmerwohnung geschaffen« (ebd.). Er bitte daher darum, »mich bald wieder auf freien Fuß zu lassen«. Sonst werde er seinen Arbeitsplatz verlieren. Diese biografische Skizze wirft nur ein Schlaglicht auf die Person Richard Rokitas und das Umfeld, in dem er und seine SS-Kameraden agierten. Sie macht plausibel, dass er als Gründer des Orchesters im Zwangsarbeitslager Janowska tatsächlich infrage kommt und die Legende wenigstens in diesem Punkt auf der richtigen Spur war. Dass er diese Rolle in der Erinnerungsliteratur früh einnahm, geht vermutlich auf die Orchestergründung in Łódź (Litzmannstadt) zurück, wo er als

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Ein angeblicher Befehlsnotstand, also der Einwand, »man habe nur um den Preis einer Gefährdung des eigenen Lebens die Teilnahme an Judenmordaktionen ablehnen können« (Sandkühler 1999, S. 58), ist für Ernst Klee und Willi Dreßen eine reine Legende. Sie zitieren in ihrem Buch Schöne Zeiten. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer einen Polizeioberwachtmeister des Polizeibataillons 322 mit den Worten: »Es wurde also nicht mit irgendwelchen Strafmaßnahmen gedroht, schon gar nicht mit Erschießungen« (Klee; Dreßen; Rieß 1988, S. 79). Der Strafrechtsprofessor Herbert Jäger kam bereits in den 1960er Jahren zu dem Ergebnis, dass bisher »kein Fall nachgewiesen werden konnte, in dem ein Befehlsempfänger wegen der Ablehnung oder Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls Schaden an Leib oder Leben genommen hat« (Jäger 1982, S. 158). Allenfalls waren die »Befehlsempfänger vielfach einem starken psychologischen, jedoch nicht exkulpierenden Druck ausgesetzt« (ebd.).

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Ausbilder von Herbst 1940 bis Anfang 1942 tätig war. In Łódź hatte seit März 1945 auch die Zentrale Jüdische Historische Kommission ihren Sitz – mit Filip Friedman als »Kopf der jüdischen Historikerkommission« (Benz 2014, S. 9). Zu ihrer Hauptaufgabe zählte seit ihrem ersten Zusammenkommen am 29. August 1944, »Dokumente, Erinnerungen, Sachzeugnisse der Shoah zu sammeln und öffentlich zu machen« (ebd.). Friedman war es auch, der den Musiker und Łódźer Orchestergründer Rokita in seiner Schrift über »Die Vernichtung der Lemberger Juden« zum Auftraggeber des Todestangos machte. Zum Orchestergründer wurde er kurz darauf bei Michał M. Borwicz (Borwicz 2014, S. 88) und danach in Filip Friedmans stark erweiterter Version seiner Studie über die Destruction of the Jews of Lwow, die zuerst im Jahr 1956 auf Hebräisch in Jerusalem erschien (Friedman 1980, S. 318).53 Beide trugen maßgeblich und früh dazu bei, die Todestango-Legende zu verbreiten. Rokita selbst hat sich nur ein einziges Mal zum Lagerorchester und seiner Rolle als Gründer geäußert. Bei seiner Vernehmung am 9. August 1961 als Untersuchungsgefangener vor der Sonderkommission des Kriminalkommissariats Waldshut sagte er: »Es ist richtig, dass es im Lager Lemberg ein Orchester gab. Dieses Orchester wurde von mir aufgebaut und gegründet. Musiker waren jüdische Häftlinge. Es waren sehr gute Musiker. An Namen von Musikern kann ich mich nicht mehr erinnern. Soeben fällt mir ein, dass einer dieser Musiker Astor oder Pastor geheißen hat. Als ich nach Tarnopol versetzt wurde, war dieses Orchester noch vorhanden. Was später aus den Musikern wurde, ist mir nicht bekannt. Solange ich in Lemberg war, ist weder ein Musiker verstorben noch wurde er getötet« (StAL EL 48/2 Bü 397, Bl. 2613). Über den angeblichen Todestango, den er in Auftrag gegeben haben soll, verliert Rokita bei dieser Gelegenheit kein Wort. Ob er hier die Wahrheit gesagt hat oder die Orchester-Gründung für sich reklamierte, um sich vor Gericht in ein günstigeres Licht zu rücken, muss offenbleiben. Es fällt auf, dass er erst auf Nachfrage (»auf Frage«) des vernehmenden Kommissars zum Thema Orchester reagierte und dass es keine weiteren Aussagen von ihm über ein Orchester im Janowska-Lager gibt.54 53

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Friedman verweist für seine Studie auf die folgenden Quellen: Die »Reports« der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission der UdSSR, auf die Prawda und Izvestia vom 23. Dezember 1944 sowie auf 25 geschriebene Statements, Zeugnisse von Augenzeugen und Erinnerungen jüdischer Überlebender, die die Zentrale Historische Jüdische Kommission und ihre Zweige in »Łódź, Warsaw, Cracow, and Przemysl« gesammelt hatten (Friedman 1980, S. 318). In derselben Vernehmung schildert er auch sehr ausführlich die »Probeläufe« zwischen dem inneren Tor und Haupttor zum Zwecke der Selektion der noch arbeitsfähigen von den entkräfteten Häftlingen. Über ein Orchester spricht er nicht, obwohl hier der Ort ist, wo es die Kolonnen beim Aus- und Einmarsch musikalisch begleitete (StAL EL 48/2 I 385, Bl. 2609).

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Frappierend ist seine Gedächtnisschwäche, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass er nur kurze Zeit zweiter Kommandant des Janowska-Lager war und die Häftlinge aus der Sicht der SS keine Menschen mit Namen, sondern nur Nummern oder »Figuren« waren, wie Wells schreibt. Obwohl er das Orchester aufgebaut haben will und laut Wiesenthal den Geiger Striks abends öfter zum Vorspielen kommen ließ, kann er sich nicht an den Namen eines einzigen Musikers erinnern. Dabei soll die Musik magische Wirkung auf ihn ausgeübt haben: Sie habe den »wahnsinnigen Musikliebhaber« (»a maniacal music lover«) derart zu erweichen vermocht, dass er ohne zu zögern Todesurteile gegen Häftlinge aufhob (Zaderecki 2018, S. 281). Mit der Musik, so soll er resigniert eingestanden haben, hätten die Orchestermitglieder die verlässlichste Waffe gegen ihn in der Hand. Sobald Leon Striks seine Geige ergriff und zu spielen begann, soll Rokita gesagt haben: »Nun bist du es, der über mich herrscht und nicht andersherum« (ebd., S. 281). Dass sich die »Bestie« Rokita unter dem Einfluss der Musik zu Tränen rühren ließ, sie seine gütige Seite zum Vorschein brachte, steht in auffallendem Kontrast zu den vorherrschenden Darstellungen seiner Person in den Erinnerungsberichten. Obwohl ihn Charakterisierung wie »Bestie« und »größter Henker« nicht gerade zum Orchestergründer oder Förderer der Kultur in einer aller Kultur und Zivilisation spottenden Umgebung prädestinierten, nimmt keine Darstellung in der Erinnerungsliteratur daran Anstoß, wie ausgerechnet ein solcher »Unmensch« die Initiative zur Gründung eines Lagerorchesters ergriff. Im Gegenteil, in allen Schilderungen fügt sich das Bild des grausamen Gewalttäters und Henkers widerspruchsfrei in das des Orchestergründers. Den Überlebenden des Janowska-Lagers gelingt es ohne Weiteres, so konträre Seiten wie Massenmörder, Geiger und Orchestergründer in ein und derselben Person zu vereinen.55 Zu diesem Bild dürfte die Darstellung Smirnovs über den Todestango maßgeblich beigetragen haben. Der russische Hilfsankläger in Nürnberg hatte, wie dar55

So ungewöhnlich wie es auf den ersten Blick klingt, war das nicht. Ein feiner Sinn für Kunst und Musik stand dem täglichen Geschäft des Massenmords durchaus nicht im Wege, wie der Historiker Wolfram Wette in seiner Studie über den »feinsinnigen« Musiker Karl Jäger, dem »Mörder der litauischen Juden«, herauszuarbeiten versuchte (Wette 2012, S. 197ff). Jäger (1888–1959) war Kommandeur des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe A, das in weniger als einem halben Jahr 137.346 Litauer Juden ermordete. Am 1. Dezember 1941 meldete er im sogenannten »Jäger-Bericht«, dass sein Kommando das Ziel erreicht habe »das Judenproblem für Litauen zu lösen […]. In Litauen gibt es keine Juden mehr« (Faksimile im Anhang, Wette 2012). Der Blutordensträger Felix Landau schrieb kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Lemberg Anfang Juli 1941 bei einer »wahnsinnig sinnlichen Musik« den ersten Brief aus Lemberg an seine Geliebte Trude, was ihn nicht hinderte, im nächsten Moment ungerührt an der Erschießung von 500 Lemberger Juden teilzunehmen (Landau 1988, S. 89). Und Arthur Rödl, den wegen seiner Grausamkeit berüchtigten »Schutzhaftlagerführer« unter dem Kommandanten des KZ-Buchenwald, Karl Koch, habe ein Häftling mit den Worten beschrieben: »Er liebt fanatisch Musik und Gesang« (zitiert nach Fackler 2000, S. 346).

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gelegt, früh die Fixpunkte markiert, in welchem Kontext das Todesorchester und sein angeblich berühmtestes Stück zu rücken sei: Musik in Konzentrationslagern ist Tortur, musikalischer Sadismus, intonierte Grausamkeit zur Steigerung der ohnehin unter unvorstellbaren Qualen leidenden Häftlinge. Und zweitens handelt es sich um eine Melodie oder Komposition, die ausschließlich bei Exekutionen erklang und die Grausamkeit der Deutschen einmal mehr unterstrich und plausibel machte. Die Charakterisierung des Orchestergründers Rokita als eines grausamen, sadistischen Mörders fügt sich mithin reibungslos in den Kontext der »Exekutionsmelodie«, wie es im Protokoll der Lemberger ASK über den angeblichen Tango des Todes heißt (BAL B 162/29309, S. 12). Selbst das Stuttgarter Landgericht konnte sich von dieser Deutung in seinem Urteil zum Lemberg-Tatkomplex vom 29. April 1968 nicht frei machen: »Der Zynismus wurde so weit getrieben, dass die Häftlinge schließlich sogar eine Lagerkapelle bilden mussten, die bei dieser und ähnlichen Gelegenheiten Tanzweisen zu spielen hatte« (Rüter; de Mildt 2003, S. 728).

Tango, Märsche, Volkslieder und La Paloma Alle Schilderungen über den Todestango stellen die »besondere Melodie«, wie es Oberst Smirnov ausgedrückt hatte, in den Vordergrund. Sie suggerieren, es handele sich um ein bestimmtes, identifizierbares und immer gleiches Musikstück, das wie ein ewig wiederholter Refrain zu variierenden Formen der Gewaltexzesse erklang, ob Selektionen, Aussiedlungen oder Exekutionen. Dabei bleibt der Ort ausgeblendet, wo sich die »zerstörerische Kraft der Musik« entfaltete (Brauer 2009, S. 381) – für die Musiker des Orchesters selbst sowie für die Häftlinge. Es ist kein Zufall, dass Leon Wells vom Todestango im Zusammenhang mit einem Ort im Lager spricht, der die Grenze zwischen Leben und Tod markierte: das Lager- oder »Todestor«, wie er es beschreibt. Hier wurden während der oft endlosen Appelle am Morgen und Abend die Erschöpften und Arbeitsunfähigen von jenen geschieden, die die SS noch für nützlich hielt, wenigstens zeitweilig. Wells schreibt: »Wir warteten ungeduldig auf den Augenblick, das Lager für den ganzen Tag zu verlassen. Hinter dem Tor begann die Musik zu spielen. Die Kapelle bestand aus sechzig Mann. Jeder von uns wollte sich nun so schnell wie möglich auf der anderen Seite des ›Todestors‹ befinden. Wir wussten, dass die Musik heute wie jeden Tag so manchem von uns beim Passieren des Tores den ›Todestango‹ spielen würde. Endlich öffnete sich das Tor, und drei SS-Männer kamen herein« (Weliczker 1958, S. 29). Wie sehr das Lagertor die Grenze zwischen Leben und Tod markierte, zeigt sich auch in dem Bericht von Samuel Drix:

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»In der Zwischenzeit wurde die Brigade ›Ostbahn‹ hinausgelassen. Jetzt waren wir, die ›Betonwerke‹, an der Reihe. Aber die Zeit verstreicht und sie öffnen nicht das Tor. Wir sind nervös. Wir wären so gern bereits hinter dem Tore! Das Orchester spielt dauernd Märsche. Es verstreicht eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde. Und das Tor wird nicht geöffnet« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 23, 2. Teil, Mai 1943). Ähnlich schildert Borwicz die Anspannung und Unruhe der Häftlinge vor dem Lager- oder Todestor: »Einen Augenblick später marschiert der Rest der Hundertschaften mit nervöser Eile am Wachhäuschen vorbei, damit sie nicht noch einmal festgehalten werden, um endlich hinter das Tor zu gelangen. Der Regen hört für eine Weile auf, es ist jedoch weiter bewölkt. Das Orchester spielt ohne Pause fröhliche Märsche« (Borwicz 2014, S. 113). Die Häftlinge »sind nervös«, sie erwarten »ungeduldig« den Augenblick, wo sie das Tor hinter sich haben, das sie mit »nervöser Eile« passieren. Erleichterung macht sich erst hinterm Tor breit, wo sie der Gefahr entronnen sind, bei einer Selektion aussortiert und erschossen zu werden. Selektionen und Exekutionen am Lagertor erlebten Wells, Drix und mit ihnen viele andere Häftlinge als so alltäglich wie den Aus- und Einmarsch der Arbeitskolonnen am Morgen und Abend. Immer erhob sich die Frage, ob er im »Sand« enden, dem Ort der Exekutionen, oder mit seiner Kolonne zur Arbeit marschieren würde. Selektionen und Erschießungen waren also kein besonderes, speziell angesetztes Ereignis, zu dem das Orchester zum Spielen einer eigens dafür kreierten Melodie herbeizitiert wurde. Wenn die Kolonnen wie jeden Morgen um 6 Uhr ausrückten, wurden »dabei sehr oft Juden getötet«, sagte Richard Rokita bei seiner Vernehmung am 13. November 1961 (StAL EL 48/2 I Bü 397, Bl. 2438). Dass Juden erschossen wurden oder verstarben, gehörte für Rokita »zum Tagesablauf«, wie er bei einer früheren Vernehmung am 27. Februar 1961 aussagte (StAL EL 48/2 I Bü 397, Bl. 2456). Er schätzte, dass während »der Zeit, in der ich im Lager Janowskastraße Dienst tat, ca. 150 Häftlinge erschossen« wurden (StAL EL 48/2 I Bü 397, Bl. 2694). Vermutlich waren es weitaus mehr. Wer nicht mehr marschieren konnte, wurde »aussortiert«. Das geschah oft bei sogenannten Wettrennen, die (noch) arbeitsfähige von bereits Erschöpften trennen sollten. Bei diesen »Probeläufen« und »Vitaminrennen« rannten die Häftlinge buchstäblich um ihr Leben. Wer strauchelte, stolperte und nicht wieder auf die Beine kam, endete im »Sand«. Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat herausgearbeitet, dass das Lagertor nicht bloß »ein Durchgang, ein Gelenk zwischen innen und außen« war (Sofsky 2008, S. 79). Das Tor ist für ihn der Ort, der »die absolute Macht« repräsentierte, es »war das Wahrzeichen des Lagers«, »eine Stätte der Schikane und Quälerei« (ebd., S. 77)

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und der Selektionen, wo »arbeitsunfähige« Häftlinge ausgesondert und getötet wurden. Diese quälende Erfahrung zeigt sich bei Wells, wenn er vom Lagertor als dem »Todestor« spricht, wo die Musik der Lagerkapelle zum Todestango für jene wurde, die in den »Sand« zur Exekution geführt wurden. Wells kommt in seinem Buch The Janowska Road nur zweimal auf den Todestango zu sprechen, und zwar in dem Kapitel »Die Todesbrigade«. Und beide Male zeigt sich in seinen Worten die Angst der Häftlinge, ihre letzte Stunde könne geschlagen haben: »Der Morgen graut. Einer nach dem anderen stehen wir auf. Langsam gehen wir in der Baracke auf und ab, aber auch das hört bald wieder auf, als Musik herüberklingt. Sicher spielen sie den ›Todestango‹ heute für uns. Der dritte Tag! Nach den Erfahrungen der Brigaden vor uns muss das unser letzter sein« (Wells 1979, S. 158). Wells spielt hier auf die Pläne der SS an, die Mitglieder der Todesbrigade als Mitwisser der Aktion 1005 nach wenigen Tagen zu ermorden und durch neue Häftlinge zu ersetzen.56 Von dem, was ihm und seinen Todesbrigadisten am heutigen Tag blüht, kann das Orchester nichts wissen. »Die Existenz unserer Todesbrigade wurde streng geheim gehalten«, sagte er am 22. September 1944, dem zweiten Tag seiner Vernehmung vor der ASK aus (BAL B 162/29309, Bl. 356). Niemand habe sich »unserem Arbeitsplatz bis auf zwei km Entfernung nähern« dürfen (ebd.). Wie hätte das Orchester es fertigbringen sollen, den Todestango für Wells und seine Mitbrigadisten anzustimmen, obwohl es weder von der Todesbrigade noch von ihrem bevorstehenden Ende wissen konnte? Das angeführte Zitat von Wells erlaubt mithin keinen Schluss auf die Wirklichkeit eines bestimmten Musikstücks, wie es in der Literatur zum Todestango vielfach geschehen ist.57 Vielmehr wird für Wells Musik, gleich welcher Art, in dem Augenblick zum Todestango, wo Häftlinge um ihr nahes Ende wissen. Während die noch einmal Davongekommenen bei Marschmusik das Todestor durcheilen, erklingt dieselbe Musik in den Ohren der Todgeweihten als Todestango. Wells drückt es so aus, wie er die Musik im Angesicht des ihm bevorstehenden Todes erlebte und wahrnahm. Dass es anders kam und die Todesbrigadisten nicht wie geplant im Turnus von zwei Wochen ermordet und durch neue Häftlinge ersetzt wurden, verdankt Wells sein Überleben. Vie56

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Eigentlich sollten die zur Exhumierung der Leichen eingesetzten Häftlinge aus Gründen der Geheimhaltung alle zwei Wochen ausgetauscht, d.h. ermordet und gegen ein anderes Kommando ersetzt werden. An »Menschenmaterial« war zwar kein Mangel, aber das hätte bedeutet, dass jedes neue Kommando wieder eingearbeitet werden musste, was den Zeitplan wohl durcheinandergebracht hätte. Diese Bedenken trug Walter Schallock seinem Vorgesetzten Paul Blobel vor und bat von dieser Regelung Abstand zu nehmen und ein ständiges Kommando einzurichten. »Bis dahin war die Todesbrigade […] bereits zwei Mal ersetzt worden. Leon Weliczker Wells gehörte zur dritten Abstellung« (Angrick 2018, S. 779). Willem de Haan schreibt, Wells habe sich daran erinnert, dass das Orchester während Exekutionen den »Todestango« gespielt habe (de Haan 2021, S. 187).

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len erging es anders. Nach einem erschöpfenden Arbeitstag nahte für sie die letzte Stunde oft während quälend langer Appelle, an die sich Wells noch aus seiner Zeit im Janowska-Lager erinnert. Sie allein waren schon zermürbend genug für die Häftlinge. Viele rangen buchstäblich um Haltung, um nicht beim leisesten Anzeichen von Schwäche als arbeitsunfähig ausgesiebt zu werden. Sie dürften die Musik vielfach kaum wahrgenommen haben. Für andere verband sich das Orchester, der Ort seines Auftritts und seine Musik am Lager- bzw. Todestor unauflöslich mit den nahezu täglichen Exekutionen der entkräfteten Häftlinge. Im Kontext dieser Selektionen und einer grausamen Lagerwirklichkeit wurde für Wells alle Musik ohne Unterschied zu dem, was er Todestango nennt.58 Wie quälend die angeordnete Musik der Lagerkapellen für die Häftlinge war, beschreibt Severina Shmaglevskaya, die vom 7. Oktober 1942 bis Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau war. Als das Lager vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert wurde, konnte sie am zweiten Tag fliehen, wie sie als Zeugin am 26. Februar 1946 vor dem Militärtribunal in Nürnberg aussagte (IMT 1947a, S. 317ff). Über ihre Zeit in Auschwitz berichtete sie, dass »sich die Melodien der deutschen Märsche unauslöschlich in die Herzen der Gefangenen einbrannten und ihnen ewig als ›Todesmarsch‹ in Erinnerung blieben« (zit. N. Kuna 1993, S. 45). Es ist offensichtlich, dass Shmaglevskaya und Wells das Gleiche meinen, auch wenn sie vom »Todesmarsch« und er vom Todestango spricht. Erst später, als die Konzentrations- und Vernichtungslager vor der Roten Armee überstürzt evakuiert und Hunderttausende Häftlinge auf sinnlose und für Viele tödliche Märsche geschickt wurden, nahm der Begriff Todesmarsch eine andere, nicht weniger grausame Bedeutung an (Blatman 1998).59 58

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Wells bestätigt diese Ausführungen auf indirekte Weise. Am Dienstag, dem 26. Oktober 1943, notiert er, es gebe nun keinen Zweifel mehr, dass das »gesamte Lager liquidiert wird« (Wells 2014, S. 202). Allein die Musiker werden verschont, die nun zum Sonderkommando 1005 kommen. Walter Schallock, Chef des Sonderkommandos, habe immer gesagt, »wir müssten ein Orchester haben und nun hatten wir eins« (Wells 2014, S. 207). Abend für Abend, drei lange Wochen, spielen die Musiker und singen die Häftlinge bis zur lange vorbereiteten Flucht am 19. November 1943. Von einem Todestango berichtet Wells in dieser Zeit nicht. Obwohl die Todesbrigade unentwegt ermordete Juden ausgrub und verbrannte und ihre 126 Mitglieder somit das eigene Schicksal tagtäglich vor Augen hatten, scheint die quälende Allgegenwart des eigenen Todes wenigstens für Momente suspendiert gewesen zu sein. Und mit diesem Aufschub scheint auch die Musik ihre zerstörerische Macht verloren zu haben, die sich im Wort Todestango manifestierte. Der Kommandeur der Todesbrigade ist »mehr denn je um unser Wohlergehen besorgt« (ebd., S. 187). Essen gibt es reichlich, weil die Ration für 150 Häftlinge berechnet ist, obwohl die Todesbrigade im August 1943 nur 94 Mitglieder zählte. Die Flucht am 19. November 1943 tritt Wells mit deutlichem Übergewicht an. Er wiegt 103 kg bei einer Körpergröße von 1,79 Meter (Wells 1979, S. 234). Blatman schätzt, dass von den 700.000 Häftlingen, die im Januar 1945 in den Lagern gefangen gehalten wurden, während der Evakuierung der KZs zwischen 200.000 und 350.000

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In Wells’ und Shmaglevskayas Erinnerungen zeigt sich mithin subjektiv, was Teil der objektiven Inszenierung der Lager-SS war. Sie führte, so schreibt Gabriele Knapp, »zwangsläufig dazu, dass die Musik am Lagertor zu einem Bestandteil des Vernichtungsapparates« und unmittelbar »mit Gewaltexzessen und der Tötung von Menschen« gekoppelt wurde (Knapp 1996, S. 113). Die Legende vom Todestango dagegen erweckt den Eindruck, als sei der »Todes«-Tango für die Zeitzeugen und Überlebenden des Janowska-Lagers ein überragendes musikalisches Phänomen gewesen. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Tatsächlich ist der Todestango eingebettet in das, was man eine Semantik oder Topografie des Todes nennen könnte. Die Lagerwirklichkeit und Allgegenwart des Todes kommt in den Zeugnissen Überlebender nicht nur im Wort Todestango, sondern in vielen weiteren Begriffen zum Ausdruck, die das Konzentrationslager vor allem als System unterschiedlicher »Machträume« (Becker; Bock 2015, S. 174) markieren. Wo das »vorherrschende Gefühl die Todesangst« war (Knapp 1996, S. 37), Häftlinge an der Grenze zwischen Leben und Tod schwebten, sie willkürlich getötet oder in den Tod getrieben wurden, liegt es nahe, bestimmten Orten und Ereignissen das Wort »Tod« voranzustellen. Sie vergegenwärtigen die Erinnerung an bestimmte schreckliche Ereignisse, wie sie zugleich die Angst auf künftige vorwegnehmen oder sie zu bannen suchen. Sie konkretisieren im Janowska-Lager den jeweiligen besonderen »Ort des Terrors« (Benz; Distel 2006), der unvermeidlich ins Verderben führte und den man um jeden Preis meiden musste. Wells nennt unter anderem die »Todesbrückenaktion« (Wells 1963, S. 60),60 das »Todestor«, wo Selektionen stattfanden und Häftlinge zur Erschießung geführt wurden (Weliczker 1958, S. 29). Es ist, wie wir sahen, auch in den Schilderungen anderer Häftlinge von zentraler Bedeutung. Wells führt das »Todesgefängnis« auf, über das er sagt: »Wer in dieses Gefängnis kam, musste in den Tod gehen« (ebd., S. 42), ferner den »Todesplatz« (ebd., S. 95)61 und schließlich die »Todesbrigade«, die Tausende Leichen exhumieren und verbrennen musste. Diesem »›Todeskommando‹, wie man es im Lager nannte«, gehörte auch der seinerzeit 18-jährige Alexander Schwarz an, der das Janowska-Lager überlebte und im

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umkamen (Blatman 1998, S. 1067) sowie (Blatman 2005, S. 300). Siehe auch den Beitrag von Andrzej Strzelecki über den Todesmarsch der Häftlinge aus dem KL Auschwitz (Strzelecki 1998, S. 1093-1112). Der Satz: »Man nannte das die ›Todesbrückenaktion‹« auf Seite 60 in der deutschen Ausgabe von 1963 fehlt an der entsprechenden Stelle in der englischen Ausgabe (Wells 2014, S. 51). Auf die »action at the ›Bridge of Death‹« kommt Wells später zu sprechen, als die Todesbrigade die Opfer dieser Aktion ausgraben muss (Wells 2014, S. 191). In der englischen Ausgabe ist gleich dreimal hervorgehoben und in Deutsch vom Todesplatz die Rede (Wells 2014, S. 88, 90, 95). Siehe auch Das Schwarzbuch Genozid an den sowjetischen Juden, wo es heißt, vom Todesplatz im Janowska-Lager »wurden die Leute in die Sandgruben zum Erschießen geführt« (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 178).

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Jahr 1966 im sogenannten Lemberg-Prozess als Zeuge vor dem Landgericht Stuttgart auftrat.62 Schwarz spricht vom »Todestal« (Schwarz 2019, S. 92),63 Friedman vom »Tal des Todes«, dem Sand (Piaski), wo die Exekutionen stattfanden (Friedman 2014, S. 54, 80) und von dem »sogenannten Todeslauf«, den die Deutschen bei Selektionen im Lager inszenierten (ebd., S. 61). Der sowjetische Hilfsankläger L. N. Smirnov verwebt Todestango und Lagerorchester zum »Todesorchester« (IMT 1947b, S. 451), und Simon Wiesenthal erwähnt in dem Bericht über seine Rettung in allerletzter Minute »Geburtstag im Konzentrationslager« den »Todeskorridor«, der zum Sand führte, wo die Massenexekutionen stattfanden (BAL 162/5764, Bl. 309). In dieses Schema fügen sich auch die Wörter »Todestango« und »Todesmarsch« oder der »Totenblock« und die »Todesrampe«, wie die Häftlinge in Auschwitz den Bahnsteig nannten, wo die deportierten Juden eintrafen (Szmaglewska 1955, S. 8 und 16) sowie die »Todesfabriken Bełżec und Sobibór« (Auerbach 2014, S. 434). Ob im Janowska-Lager tatsächlich ein Tango gespielt wurde oder unter dem Rubrum Todestango alle Musik firmierte, die bei Exekutionen oder am Todestor gespielt wurde, ist eine am Ende lässliche Frage. Entscheidender ist: Im Todestango kommt zum Vorschein, wie die Häftlinge die Musik erlebten – als Teil des SS-Willkür- und Terrorregimes in dem Lager. Es geht also nicht um ein eindeutig identifizierbares Musikstück, sondern darum, wie Häftlinge die Musik und die Stätte wahrnahmen, wo die Musik an ihr Ohr gezwungenermaßen drang. Das ist m.E. der Kern und die »Wahrheit« des Todestangos. Richtet man den Blick von der subjektiven auf die objektive Seite des musikalischen Geschehens im Janowska-Lager, dürfte das Orchester am Lagertor mit großer Wahrscheinlichkeit Märsche gespielt haben. Nicht nur ist der Einsatz von Märschen am Lagertor »aus fast allen deutschen Konzentrationslagern überliefert«

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Schwarz’ Bericht Tote erzählen nicht erschien zuerst in Schofar. Ausgabe des Vereins für jüdische Kultur, Scholem Alejchem in Lemberg, November 2003, Nr. 11 (146), S. 5f., wieder abgedruckt in: (Zabarko; Müller; Müller 2019, S. 89f.). Zu den Urteilen gegen Mitglieder des SS-Wachpersonals im Janowska-Lager siehe die Sammlung deutscher Strafurteile zu nationalsozialistischen Tötungsverbrechen 1945–1999 (Rüter; de Mildt 2003, S. 651ff.). Das LG Stuttgart meinte, dass in »seinen Aussagen einige auffallende Ungereimtheiten und Widersprüche zutage« getreten seien (Rüter; de Mildt 2003, S. 775). Eine vor Gericht allerdings nicht verhandelte Aussage dürfte die sein, dass Alexander Schwarz im Todestal »mit Simon Wiesenthal zusammenarbeitete, der bestrebt war, die Naziverbrechen aufzuklären« (Schwarz 2019, S. 92). Das Sonderkommando 1005 wurde erst im Juni 1943 eingerichtet. Wiesenthal war zu dieser Zeit bei den Ostbahnwerken beschäftigt, wo er seiner Tätigkeit weiter nachging, nachdem die Ostbahn-Arbeiter in der zweiten Hälfte des Jahres 1943 im JanowskaLager inhaftiert worden waren. Im September 1943 ergriff er auf Anraten von Adolf Kohlrautz, dem Oberinspektor bei der Ostbahn und Wiesenthals Beschützer, die Flucht – zwei Monate vor der Auflösung des Lagers und der Erschießung Tausender Häftlinge. Siehe: (Segev 2012, S. 71).

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(Knapp 1996, S. 112f). Märsche erfüllten in den Lagern viele Funktionen. Dazu gehörte, dass sie den erschöpften Arbeitskolonnen bei »der Bewegungskoordination« halfen und sie so vor Schlägen und Tritten der SS bewahrten: »Wer noch im Gleichschritt marschieren konnte, hatte eine Chance, den Übergriffen der SS zu entgehen« (ebd., S. 114). Märsche erleichterten der SS die Arbeit des Abzählens der Kolonnen und förderten zugleich die Gewaltbereitschaft der Aufseher. Auch Milan Kuna rückt die Marschmusik in den Vordergrund. Lagerkapellen mussten daher keine »Kurorchester« sein, die »hohe Kunst« zu bieten hatten. Es reichte, wenn sie »jene schmetternden deutschen Melodien beherrschen, zu denen die Häftlinge gut marschieren sollten. Die große Trommel, nach der Tausende Häftlinge ihren Gleichschritt ausrichten konnten, war daher das bestimmende Instrument« (Kuna 1993, S. 43). Berücksichtigt man ferner, dass mehr Quellen Märsche im Janowska-Lager erwähnen als Tangos, könnte man sich ohne Weiteres zu der Aussage versteigen: Der Todestango war sehr wahrscheinlich ein Marsch oder, um es mit den Worten Seweryna Szmaglewska zu sagen, ein »Todesmarsch«. Leon Wells will, als er das zweite Mal ins Lager kommt, in Begleitung von »Militärmusik« ins Janowska-Lager gekommen sein, wie er während seiner Vernehmung 1961 im Eichmann-Prozess sagte (StAL EL 317 III Bü 1727). Michał M. Borwicz spricht ausschließlich von Märschen, »heiteren« und »fröhlichen«. Auch bei Samuel Drix spielte das Orchester »fröhliche Märsche« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 22) »weiterhin« und »dauernd Märsche« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 23), während die zum Ausmarsch bereiten Häftlinge ungeduldig warteten, dass sich das Lagertor öffnete (ebd.). Stefan Schoenfeld hörte einen Marsch, so wie David Kahane, der ihn als Radetzky-Marsch identifizierte. Sie, Borwicz und der Lagerfotograf (siehe Kapitel 3.5: Ikonografie des Todestangos), sind die Augen- und Ohrenzeugen, die die Musik detaillierter beschreiben. Einen weiteren Hinweis gibt Rachel Auerbach, die Wells’ Text über die »Todesbrigade« für die Zentrale Jüdische Historische Kommission bearbeitet hatte. Wo Wells schreibt »hinter dem Tor begann die Musik zu spielen« (Weliczker 1958, S. 29), macht sie beim Wort »Musik« die Anmerkung: »Ebenso wie in allen anderen größeren Lagern befand sich im Janowskilager (sic!) ein Orchester, das aus jüdischen Musikern zusammengesetzt war. Endlos Märsche und Tanzmelodien spielend, bildete es einen unheimlichen Hintergrund für das Lager« (ebd., S. 29). Auerbach dürfte das aus den zahlreichen Gesprächen mit Wells während der Arbeit an seinem Text wissen. Weitaus häufiger ist in der Erinnerungsliteratur von Märschen, Volksliedern, Weisen und »fröhlichen Liedern und Melodien« (mostly gay tunes and melodies, Kessler 2010, S. 59) die Rede. Märsche waren bei SS-Leuten sehr beliebt – auch zur Demütigung der jüdischen Häftlinge, wie Primo Levi schreibt. Levi überlebte das Lager Auschwitz-Monowitz, wohin er 1944 deportiert worden war. Wenn die Häftlinge zur Arbeit aus- und einrückten, wiederholte die Kapelle die gleichen Stücke, »etwa ein Dutzend und alle Tage morgens und abends dieselben: Märsche

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und Volkslieder, die jedem Deutschen lieb und teuer sind« (Levi 2016, S. 48). Der Jazzmusiker Coco Schumann, der ebenfalls Auschwitz überlebte, nennt »Reeperbahnlieder und Paul-Lincke-Melodien«, die er bereits an seinem ersten Abend in Auschwitz spielen musste (Schumann 2018, S. 83). Und Szymon Laks zählt in seinem Buch Music of another World die folgenden Märsche auf: »Heimat, Deine Sterne«, »Alte Kameraden«, »Deutsche Eichen«, »Berliner Luft« und »Argonner Wald« (Laks 2000, S. 38, 49, 53, 71). Außerdem gibt er deutsche Operetten und Schuberts Lieder an (ebd., S. 70). Nur einmal erwähnt er einen Tango, der sich aber als ein populärer Jazz-Hit entpuppte, den Laks gehört hatte – als er noch frei war (ebd., S. 38). Und Simon Wiesenthal sagte, nachdem er an Hitlers 54. Geburtstag, dem 20. April 1943, seiner Exekution entkam: »Die Arbeitseinheiten ziehen zur Nachmittagsarbeit aus … Das Lagerorchester spielt: ›Alles geht vorüber …‹« (BAL B 162/5764, Bl. 311).64 An anderer Stelle wiederholte Wiesenthal, dass Marschmusik gespielt wurde: »Die Häftlingskapelle am inneren Tor spielte wieder einen flotten Marsch, als wir ausmarschierten« (Wiesenthal 1970, S. 79). Märsche spielte ein weiteres Orchester an einem anderen Tor, das für die Lemberger Juden am Ende ebenso beängstigend war wie für ihre Leidensgenossen im Janowska-Lager. Im Diskurs über den Todestango tritt es faktisch nicht in Erscheinung: das Ghetto-Orchester. Es soll angeblich beim täglichen Ausmarsch von etwa 20.000 Arbeitern aus dem »Judenlager« (Julag) aufgespielt haben (Sandkühler 1996, S. 226). Wie so oft differieren auch hier die Erinnerungsberichte, vor allem was den Gründer des Orchesters betrifft. So führt der Historiker Thomas Sandkühler Wilhelm Mansfeld als jenen an, der das Orchester »aus überlebenden Musikern zusammengestellt hatte« (ebd., S. 226). Mansfeld, geboren 1896, war Anfang 1943 kurzzeitig Leiter des »Julag« in Lemberg, er starb kurz nach seiner Ablösung an Fleckfieber (ebd., S. 514, Anmerk. 292). Demnach wäre das Ghetto-Orchester Anfang des Jahres 1943 entstanden. Tadeusz Zaderecki und der Holocaust Überlebende Uri Lichter sind sich darin einig, dass SS-Hauptscharführer Josef Grzimek (1905–1949) anordnete, im Ghetto ein Orchester zu schaffen (Zaderecki 2018, S. 390).65 Und Adolf Folkman, dem am 15. Juli 1943 die Flucht aus Lemberg glückte, sieht in »Heinrich« den Mann, der aus den im Ghetto noch lebenden Musikern eine Kapelle gebildet hatte.66 Wir können hier nur mutmaßen, dass er Ernst 64

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Wiesenthal gibt den Titel nicht ganz korrekt wieder, er heißt: »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei«. Mit diesem »Durchhalteschlager« hatte der Schlagerkomponist Fred Raymond im Jahr 1942 »noch mal einen großen Hit« gelandet (Kühn 2008, S. 101). Zu seinen bekanntesten Liedern gehört »Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren«. Wörtlich: »At first Grzimek gave orders to create an orchestra in the Ghetto.« Bei dem Buch Der letzte Jude aus Polen handelt es sich nur bedingt um den Bericht eines Überlebenden. Es basiert auf »vielstündigen, durch mehrere Wochen Tag für Tag durchgeführten Verhören« mit Adolf Folkman, der Angestellter und Vertreter einer Krakauer Glas- und Flaschenfabrik in Lemberg war und den Holocaust überlebte, schreibt Stefan Szende im Vor-

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Heinisch meinte, geboren am 12. Juli 1901. Er war von »Februar oder März 1943 stellvertretender Kommandant des Lemberger ›Julag‹« (Sandkühler 1996, S. 434).67 Welche Musik erklang am Ghettotor, wenn sich die jüdischen Arbeiter zu militärischen Kolonnen ordneten? »Die jüdische Kapelle spielte Marschweisen. Die SS kommandiert. Wir marschierten jeden Tag im Takte der Musik durch das Ghettotor, in scharf ausgerichteten Reihen […]. Es war ein täglich wiederkehrendes Schauspiel von grausam-groteskem Charakter. Hunderte SS-Leute und sogar Gruppen deutscher Soldaten kamen täglich, um den Parademarsch der Juden und die Marschkapelle der Ghettomusiker zu bestaunen« (Szende 1945, S. 276). Zaderecki berichtet, man habe früh um 5 Uhr morgens den Klang eines flotten (»brisk«) Marsches hören können (Zaderecki 2018, S. 390), während Uri Lichter schreibt, die Arbeitsbrigaden hätten zur Musik der »Beer Barrel Polka« das Tor passiert. Die unbeschwerten Verse der Polka sollten die Marschierenden anspornen, vermutete er (Lichter 1987, S. 51).68 Für die Lemberger Juden war dieses Schauspiel zur Gaudi der deutschen Besatzer eine Qual. So wie das Tor des Janowska-Lagers war auch das Ghettotor nicht nur ein Gelenk zwischen innen und außen, sondern eine Stätte der Quälereien und Selektionen. Jeden Morgen habe »Obersturmbannführer Grzimek in seiner grauen und schwarzen Uniform dann und wann auf einen der vorbeimarschierenden Häftlinge gezeigt – ein Finger, der über Tod oder Leben entschied oder, sofern er milder gestimmt war, mit einer Auspeitschung« (ebd., S. 52).69 Spätestens ab März 1943 sei es »lebensgefährlich geworden, morgens und abends den Viadukt zu passieren. Oft stand Grzimek mit seinen Henkern am Ghettotor […] ›Links heraus‹ war ein Todesurteil« (Szende 1945, S. 280). Schließlich wur-

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wort, das mit »Stockholm, den 31. März 1944« datiert ist. Diese »Vernehmung« sei in einem Protokoll von »90 Schreibmaschinenseiten« zusammengefasst und »mit vielen sachlichen, politischen, historischen und sozialen Angaben ergänzt« worden (Szende 1945, S. 6). Zu den »Ergänzungen« dürfte auch die Freiheit Szendes gehört haben, Folkmans Geschichte wie einen Roman mit vielen Passagen in Dialogform zu erzählen. Das LG Stuttgart verurteilte Ernst Heinisch im Lemberg-Verfahren 1968 zu achteinhalb Jahren Zuchthaus. Wörtlich: »They could leave in work details early in the morning marching to the music of the ›Beer Barrel Polka‹ played by a Jewish band on the gate. The jaunty lyrics – ›My MŁódźi! My MŁódźy! Nam bimber nie zaszkodzil! We are young! We are young! A glass of Schnaps won’t hurt us!‹ were presumably considered a good spur for languishing marchers« (Lichter 1987, S. 51). Hier irrt Lichter, was Grzimeks Rang betrifft. Laut Thomas Sandkühler war er Hauptscharführer der SS, was dem Rang des Oberfeldwebels in der Wehrmacht entsprach, während ein Obersturmbannführer der SS einem Oberstleutnant der Wehrmacht gleichkam, eine Stufe vor dem Oberst. Auch Das Schwarzbuch gibt Grzimeks Rang fälschlicherweise als »SS-Hauptsturmführer« an (Grossman; Ehrenburg 1994, S. 182).

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de die »Todesgefahr am Ghettotor« so groß, »dass viele Leute es lieber morgens und abends riskierten, von der SS-Patrouille erschossen zu werden, wenn sie zwischen dem Ghetto und der Arbeitsstelle durch Löcher verkehrten, die sie in die Zäune des Ghettos gerissen hatten. Dadurch wurden viele Juden getötet. Doch immer mehr zogen diesen Weg dem Marsch mit Musik durch das Ghettotor vor« (ebd., S. 281). Während sich also an beiden Toren, dem Ghetto- und Lagertor, ähnliche Szenen abspielten, soll der Todestango allein im Janowska-Lager zu hören gewesen sein. Auch das gehört zu den vielen Fragezeichen der Todestango-Legende. Für Märsche finden sich viele weitere Hinweise nicht nur in der Musik, sondern auch im Alltagsleben, das für die Soziologin Maja Suderland in dieser Zeit von »militärischen Erscheinungsformen« geradezu durchdrungen gewesen sei (Suderland 2009, S. 188). Dem entspricht die »Militarisierung« des Musiklebens, das die Nationalsozialisten vor und während des Krieges betrieben. So schreibt Sophie Fetthauer in ihrer Geschichte über die Deutsche Grammophon im »Dritten Reich«, dass das »Repertoire nationalsozialistischer Marschmusik- und Sprechplatten im Laufe der Dreißigerjahre stark ausgeweitet« wurde (Fetthauer 2011, S. 33). Pro Monat veröffentlichte der Schallplattenproduzent Electrola im Durchschnitt »etwa sieben Schallplatten mit patriotischen Märschen und Gesängen« (ebd.). Die »Telefunkenplatte GmbH«, die nach der Übernahme der Deutschen Grammophon GmbH im Jahr 1940 neben Electrola der größte Schallplattenhersteller im Deutschen Reich war, wollte da nicht zurückstehen. In ihrem Katalog vom August 1940 feierte sie Märsche als eine Art musikalischer Offenbarung, »in denen sich die Dynamik des neuen Deutschland den Millionen« zu erkennen gab.70 Dazu gehörten namentlich der »Egerländer Marsch, das Lied der Deutschen in Polen, das England-Lied, der Bombenflieger-Marsch«, die »führende Musikkorps der deutschen Wehrmacht« für Telefunken eingespielt hatten u.a. das »Musikkorps des Infanterie-Regimentes Groß-Deutschland«. Das übrige Programm, so heißt es weiter, sei von »friedensmäßiger Vielseitigkeit«. Das »neue Deutschland« zeigte sich auch im Radio, wo bereits in der Frühzeit des Nazi-Regimes von 1933 bis 1935 die Wortprogramme gestutzt und dafür »in breiter Front […] vor allem Volkstümliches ins Programm [rückte]: Volksmusik, Militärmusik, gehobene Unterhaltungsmusik« (Dussel 2002, S. 185). Martin Rempe spricht sogar von einer »Remilitarisierung des deutschen Musiklebens« nach 1933 (Rempe 2020, S. 258) und erst recht nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht im März 1935. Eine gezielte Nachwuchspolitik habe die »Expansion der Militärmusik« (ebd., S. 259) flankiert, etwa durch die Einrichtung von Militärmusikschulen, in denen »gestandene Orchestermusiker« lehrten (ebd., S. 260). Zum neuerlichen Aufstieg der Militärmusik habe auch gehört, dass Adolf Hitler 70

Online: https://grammophon-platten.de/e107_plugins/forum/forum_viewtopic.php?26077 (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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eine alte Forderung der Militärmusik erhörte und die »Musikmeister im April 1938 endlich in den Offiziersrang« erhob (ebd., S. 260).71 Das Bemühen, im angeblichen Todestango unbedingt einen Tango zu sehen, lässt sich nicht anders als eine Strategie beharrlicher Ignoranz werten. Sie weigert sich, die Ergebnisse einer seit den 1990er Jahren vorangetriebenen umfangreichen Forschung über musikalische Praktiken in Konzentrationslagern zur Kenntnis zu nehmen.72 Fania Fénelon berichtet in ihren Erinnerungen über »Das Mädchenorchester in Auschwitz« über alle Arten von Musik: Marschmusik für die Arbeitsbrigaden, »die Ouvertüre Lustspiel« des Wiener Komponisten Franz von Suppè, Wiener Walzer sowie »Zwölf Minuten« von Peter Kreuder. Es handelte sich um einen »Potpourri seiner bekanntesten Melodien« (z.B. »Zwischen heut und morgen« und »Ich wollt’ ich wär ein Huhn«), »Josef, Josef«, »a well-known foxtrot, the work of a Jewish composer« (Fénelon 1997, S. 125) sowie »An der Blauen Donau« (»Blue Danube«) und »Rigoletto«. Nicht ein einziges Mal taucht bei ihr oder dem GhettoSwinger Coco Schumann, der Mitglied eines anderen Orchesters in Auschwitz war, ein Tango auf. Fénelons Schilderung ist als historisches Zeitdokument vielfach infrage gestellt worden. Gabriele Knapp nannte ihren Bericht, an dem die Ghostwriterin Marcelle Routier mitwirkte, umstandslos einen »Roman«, der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwische. Es sei nicht erkennbar »was in Auschwitz Realität war, was ihre Bearbeitung der Realität ist bzw. die der Co-Autorin, und was Fiktion ist« (Knapp 1996, S. 288). Ähnlich äußerte sich Guido Fackler. Angesichts der »Ergänzungen und Ausschmückungen einer professionellen Mitautorin« könne man eigentlich nur »von einem autobiografischen Roman mit fiktionalen Teilen sprechen« (Fackler 2000, S. 466). Fénelon konnte die Kritik an ihren Erinnerungen nicht mehr erwidern, sie starb 1983.73 Nimmt man jedoch die von ihr geschilderte Mu71

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Einer der bedeutendsten Militärmusiker des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Wieprecht (1802–1872), hatte schon 1868 in einer Denkschrift die Forderung erhoben: Dem Regimentskapellmeister »dem so vielseitige Thätigkeit zugemuthet, eine so große Verantwortlichkeit aufgebürdet wird, [muß] jedenfalls ein höherer Dienstgrad zugetheilt werden, als der eines Unteroffizieres« (Wieprecht 2020, S. 459). Exemplarisch Richard Martin: »Es ist bekannt, dass die Orchester der Konzentrationslager den Tango bevorzugten und ihn so buchstäblich zum Tanz des Todes formten« (Martin 1995, S. 180). Selbst wenn man Martin zubilligt, dass die großen Überblicksdarstellungen (Guido Fackler, Des Lagers Stimme) und Monografien wie Das Frauenorchester in Auschwitz von Gabriele Knapp später erschienen – Szymon Laks Buch Music of Another World und Fania Fénelons Bericht Playing for Time hätten ihm ein anderes Bild vermitteln können. Zu Fénelon siehe Susan Eischeid, The Truth about Fania Fénelon and the Women’s Orchestra of Auschwitz-Birkenau (Eischeid 2016) und besonders Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz. Knapp hat für ihre Studie sieben ehemalige Mitglieder des Orchesters interviewt. An Fénelons Erinnerungen kritisiert sie, es hinterlasse nicht deshalb ein Unbehagen, »weil die Ereignisse, die geschildert werden, schrecklich sind, sondern im Gegenteil, weil es stel-

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sikauswahl in den Blick, so zeigt sich, dass sie sich weitgehend mit dem Ergebnis decken, zu dem Guido Fackler in seiner umfassenden Überblicksstudie über Musik und Lagerkapellen in Konzentrationslagern kommt: »Das Repertoire der Lagerkapellen war dem jeweiligen Anlass entsprechend insgesamt sehr vielseitig. Es umfasste Marschmusik, Liedbearbeitungen, z.B. KZ-Hymnen, Salon-, Unterhaltungs- und Tanzmusik, Schlager, Film- und Operettenmelodien, sogar Werke der klassischen Musik und Opernauszüge. Dabei konnte sich die Auswahl der Musikstücke von Lager zu Lager unterscheiden« (Fackler 2000, S. 348). Schon diese Aufzählung verdeutlicht, dass Tangos im Repertoire der Lagerkapellen keine oder nur eine geringe Rolle spielten, ihre Bedeutung mithin nicht annähernd so groß gewesen sein kann, wie mancher Glauben machen möchte.74 Das unterstreicht auch die Diskografie KZ Musik.75 Diese umfassende Sammlung über Musik in Konzentrationslagern hat der italienische Pianist und Dirigent Francesco Lotoro herausgegeben. Zu jeder CD gibt es eine Broschüre mit einer »Beschreibung der Lager, wo die Werke der CD komponiert wurden«, Angaben zu den Komponisten und ihren Kompositionen sowie kurze, kritische Anmerkungen und schließlich die Texte der Vokal- und Chormusik in der Originalsprache. Unter den rund 500 Stücken, die auf den 24 CDs versammelt sind, gibt es sechs Tangos, darunter »Żal Tango« von Józef Kropiński (1913–1970), der Häftling in Buchenwald war, den »Tango fun Oshvientshim« (Der Tango von Auschwitz) und »Tango Argentynskie« von Zygfryd Maciej Stryjecki (1918-?).76 Ein Todestango findet sich hier nicht.

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lenweise den Eindruck vermittelt, Auschwitz war nicht so schlimm, man konnte überleben« (Knapp 1996, S. 289). Axel Jockwer hat in seiner Studie zur Unterhaltungsmusik im Dritten Reich gezeigt, dass die Übergänge zwischen Märschen, Soldatenliedern und zivilen Schlagern fließend waren. Er plädiert dafür, sie »in einem gemeinsamen Kontext zu sehen« (Jockwer 2005, S. 232). Francesco Lotoro, Grazia Tiritiello, KZ Musik: Encyclopedia of Music Composed in Concentration Camps 1933–1945, 24 discs (Rome: Assoc. Culturale, 2008–2009). Online: www.musiquesregenerees.fr/GhettosCamps/KZMusik/KZMusik.html (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Nicht auszuschließen ist, dass es sich bei diesem Namen um Maciej Striks handelt. Der polnische Journalist Thomasz Lerski, der die beeindruckende Monografie über Polens bedeutendsten Schallplattenhersteller Syrena Record. Poland’s first recording company 1904–1939 schrieb, führt einen Maciej Striks auf, der bei ihm Pianist ist und nach seinen Angaben allerdings im Jahr 1922 geboren wurde (Lerski 2004, S. 763). Dieses Geburtsjahr ist wiederum schwer mit einer Aufnahme zu vereinbaren, die Maciej Striks im April 1937 »Fortepiano solo« bei Syrena Record gemacht haben soll: Striks wäre demnach gerade 15 Jahre alt gewesen, als er das »Rondo Capricioso E-moll Op. 14« von Felix Mendelssohn Bartholdy einspielte (Lerski 2004, S. 478).

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Zweiter Teil Im ersten Teil haben wir gesehen, wie die Legende vom Todestango Gestalt annahm. Es wurde gezeigt, dass sie ihren Ausgang in den Vernehmungen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission nahm, die das Ursprungsdokument der Legende lieferte, wie es im Zuge der Publikationstätigkeit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission (Friedman, Borwicz, Wells) in wichtige Erinnerungsberichte Überlebender des Janowska-Lagers eindrang und sich verbreitete. Im Zentrum stand der Nachweis, dass das prominenteste und angeblich meistgespielte Musikstück im Janowska-Lager keine lebendigen, subjektiven Spuren in den Erinnerungen ehemaliger Inhaftierter wie Leon Wells, Joachim Schoenfeld oder Michał M. Borwicz hinterlassen hat. Wo sie vom Todestango sprechen, wiederholen sie oft formelhaft eine Erzählung, deren Grundmuster die ASK im November 1944 in die Welt gesetzt hatte und das über verschiedene Stationen zunächst ein nur polnisches und russisches Publikum (Prawda; Izvestija), doch spätestens mit dem Auftritt des sowjetischen Anklägers Smirnov vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und der Publikation der amerikanischen Ausgabe des Schwarzbuchs ein weltweites Publikum fand. Der Befund, dass ehemalige Inhaftierte des Lagers den Todestango nicht mit der von ihnen vielfach beschriebenen musikalischen Praxis des Orchesters in Verbindung bringen können, ist eines der wichtigsten Ergebnisse des ersten Teils dieser Studie. Die Zeugnisse anderer Überlebender des Janowska-Lagers, die wie etwa David Kahane oder Samuel Drix offensichtlich nie einen Todestango vernommen haben, sowie die Bildanalyse der Ikone führten zu einem Schluss, der diametral zum bisherigen Diskurs über die Legende steht: Alles spricht dafür, dass der Todestango eine Konstruktion oder propagandistische Fiktion ist und kein eigenständiges Stück Musik, das in den Erinnerungen Überlebender einen nachweisbaren, authentischen Niederschlag gefunden hätte. Mit diesem Resultat hätte es sein Bewenden haben können. Doch 36 Jahre nach dem Ende des »Todesorchesters« schlug der polnische Liedermacher Aleksander Kulisiewicz ein weiteres Kapitel auf. Erwartungsgemäß folgte er dem vertrauten Erzählmuster, führte allerdings zwei neue, bislang unbekannte Elemente in die Legende ein: einen Text und eine Melodie, die angeblich auf dem erfolgreichsten Tango-Schlager des argentinischen Komponisten und Orchesterleiters Eduardo Bianco basierte: das 1925 entstandene Stück Plegaria. Im Jahr 1979 spielte Kulisiewicz das Lied »Das Todestango« während einer Konzertreise in die USA ein. Damit schien endlich der lang ersehnte Beweis erbracht, wie er geklungen hatte. Auf welchen

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Zeugnissen Kulisiewicz’ Version basiert, wie er die bislang vergebliche Suche nach unwiderlegbaren Beweisen für den Todestango zu diesem überraschenden Erfolg führte, wie andere sein Zeugnis begeistert aufgriffen und es ungeprüft verbreiteten, ist Gegenstand der folgenden Kapitel. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch mit dem Charakter Eduardo Biancos befassen. Denn damit der Schlager Plegaria mit einiger Plausibilität zur Melodie des Todestangos werden konnte, musste zunächst sein Urheber ins Zwielicht gerückt und Bianco zum Parteigänger des Nationalsozialismus erklärt werden.

Verbreitung

Wie Plegaria zum Todestango wurde Das Musikfestival auf der Burg Waldeck im Hunsrück war in den 1960er Jahren ein Open-Air-Festival, das sich auf der Basis eines ehrenamtlichen Engagements schnell zu einem der »zentralen Ereignisse« der Gegen- und Alternativkultur entwickelte. Während im Jahr 1964 gerade 400 Menschen das Festival besuchten, war das »zumeist studentische und gymnasiale Publikum« (Siegfried 2015, S. 278) vier Jahre später auf 5000 Anhänger des Volkslieds, Chansons und zeitkritischer Lieder gestiegen – die höchste jemals erreichte Besucherzahl. Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Walter Mossmann kamen auf Burg Waldeck groß heraus. Es war die Zeit der Ostermärsche und des Kriegs in Vietnam. Vom 24. bis 28. Mai 1967 fand das 4. Festival unter dem Motto »Das engagierte Lied« statt. Es wurde auch für den polnischen Sänger Aleksander Kulisiewicz zur Bühne. In seinem rund einstündigen Konzert am 28. Mai trug er etwa elf Lieder vor, darunter bekannte wie »Jüdischer Todessang«, »Liebeslied aus Majdanek« und den »Choral aus der Tiefe der Hölle« – der Todestango war nicht dabei.1 Auf den Liedermacher und Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch (1925–2005) machte Kulisiewicz’ Auftritt einen tiefen Eindruck. Sein Bericht erschien wenig später in dem Magazin »Song«: »Es war am Sonntagmorgen im Sälchen. Dort stand und saß abwechselnd Alex Kulisiewicz, Pole, 1939, verhaftet, nach Sachsenhausen verschleppt, 66 Monate bis zum 2. Mai 1945. Im KZ organisierte er illegale Liederabende. Er schrieb selbst 54 Lagerlieder. Aus dem Gedächtnis schrieb er dann über 700 Schreibmaschinenseiten, Texte und Lieder in vier Sprachen, wieder auf. Nun stand er vor uns, und man hatte plötzlich das Gefühl, was wir da so machen, das ist ein ziemlich dürftiges Kunstgewerbe mit dem Anspruch einer ungeheuren Aussage. Dieser Mann aber, – da ging es nicht mehr um Kunst, auch nicht mehr um Aussage, sondern wir erlebten einen Sonntagvormittag, den man nicht vergessen wird, weil plötzlich et1

Ein Mitschnitt von Kulisiewicz’ Konzert sowie eine Auflistung aller vorgetragenen Stücke liegt heute im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) in Frankfurt a.M.

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was sichtbar wurde: Das, wogegen wir schreiben und singen, hatte dieser einfache Mann mit allen Qualen schon hinter sich. Und wir?« (zitiert nach Schneider 2015, S. 355). Hüschs Reaktion ist nicht ungewöhnlich. Die Begegnung mit Zeitzeugen, so hat die Hamburger Historikerin Dorothee Wierling vielfach erfahren, gehe selten »über Ehrfurcht, Scheu, Identifikation und im Extrem Überwältigung hinaus« (Wierling 2008, S. 36). Wierling hatte Begegnungen zwischen Überlebenden und Nachgeborenen in der Hoffnung organisiert, sie würden als »produktiver Moment« die Entstehung von Geschichtsbewusstsein fördern. Die Wirklichkeit erwies sich jedoch vielfach als desillusionierend. Über eine Veranstaltung mit der Auschwitz-Überlebenden Eva Kor vor etwa 300 Menschen schreibt sie: Der voll besetzte Saal habe sich »in eine Art evangelikales Erweckungsereignis« verwandelt (ebd., S. 35). Aus der begreiflichen Furcht heraus, Kritik an Überlebenden würde ihr Leid und ihre Qualen verkennen, blieben kritische Nachfragen aus. Diese Furcht scheint auch Kulisiewicz eine Aura der Unantastbarkeit gesichert und sein Zeugnis zum Todestango in den Rang einer zuverlässigen Quelle gehoben zu haben. Kulisiewicz war jedoch nicht nur Überlebender des Faschismus und Liedersänger. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem Wissenschaftler, der sein Leben mit großer Hingabe dem Sammeln und der Erforschung der Lieder in Konzentrationslagern widmete. Kritik, wie sie auf den folgenden Seiten geäußert wird, richtet sich mithin ausschließlich gegen sein Werk, soweit es die Legende vom Todestango betrifft. Aleksander Tytus Kulisiewicz wurde am 7. August 1918 als Sohn einer Musiklehrerin und eines Gymnasiallehrers in Krakau geboren. Im Alter von sechs Jahren begann er mit dem Geigenspiel, das er aber schon zweieinhalb Jahre später nach einem Unfall wieder aufgeben musste. Er verbrannte sich an einer Stromleitung die linke Hand und hätte durch den Schock fast die Sprache verloren (Kulisiewicz 1997, S. 12). Damals war er achteinhalb Jahre alt. In diesem Alter will er auch mithilfe eines rumänischen Hypnotiseurs sein sagenhaftes Gedächtnis erlangt haben. Es soll ihm erlaubt haben, nach dem Zweiten Weltkrieg »über 700 Schreibmaschinenseiten, Texte und Lieder in vier Sprachen« aus dem Gedächtnis aufzuschreiben.2 2

Laut Kulisiewicz hatte ihm der »Hypnotiseur« geraten: »›Du musst dir vorstellen, alles, was du sagen willst, zuerst auf weißen Grund zu schreiben und es dann vorzulesen. Wenn du vorliest, wirst du nicht mehr stottern.‹ Weil ich diese Fähigkeit erworben hatte, konnte ich mir später im Lager über 700 Seiten KZ-Gedichte und KZ-Lieder in vier Sprachen einprägen, meine Gedichte und die der anderen. Ich behielt sie im Kopf – auf weißem Grund« (Kulisiewicz 1997, S. 12). Darunter sollen Gedichte »von 20 Seiten Länge« gewesen sein. Seine Erklärung für sein ungewöhnliches Gedächtnis ist nie infrage gestellt worden, sie wird in der Literatur fast durchgehend kommentarlos wiedergegeben. Zu fragen wäre, wie diese Gedichte überhaupt in sein Gedächtnis gelangten und dort zum Teil über Jahre »gespeichert« werden konnten, erst recht, wenn man sich die Bedingungen vergegenwärtigt, unter denen die Häftlinge Erinnerung und Gedächtnis bewahren mussten: »Auch auf dem Block war es schwierig zur Ru-

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Fortan betätigte er sich zunächst als Kunstpfeifer und Sänger, bevor er im Jahr 1936 in Krakau ein Jurastudium begann und sich gleichzeitig dem Gitarrenspiel zuwandte. Außerdem arbeitete er ab 1937 als Journalist. Zum Verhängnis wurde ihm ein polemischer Artikel in einer Teschener Wochenschrift gegen die politischen Anbiederungen Schlesiens an das nationalsozialistische Deutschland. Er endete mit der Zuspitzung ›Heil Butter! Genug Hitler!‹« (Brauer 2009, S. 205). Kurz nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen verhaftete ihn die Gestapo am 23. Oktober 1939 als »Staatsfeind und Kriegshetzer«. Nach etlichen Gefängnisaufenthalten kam er in das als »Modell- und Schulungslager« errichtete Konzentrationslager Sachsenhausen (bei Berlin), wo er laut der Zugangsliste vom 30. Mai 19403 als Schutzhäftling aufgenommen wurde und bis zur Räumung des Lagers im April 1945 inhaftiert blieb. Über seinen Alltag im KZ Sachsenhausen äußerte sich Kulisiewicz zurückhaltend. Zuerst, so schrieb er in seinen Autobiographischen Fragmenten, habe er im Klinkerwerk gearbeitet, »eine sehr schwere Arbeit«. Das Klinkerwerk war ein »selbstständiges Außenlager mit eigener Verwaltung« sowie Wohnbaracken, einer Küchen- und Sanitätsbaracke, schrieb der frühere Hamburger KPD-Funktionär Harry Naujoks in seinen Erinnerungen über die sechs Jahre von 1936 bis 1942, die er im KZ Sachsenhausen verbringen musste (Naujoks 1989, S. 111). Die schwere Arbeit, von der Kulisiewicz spricht, war für viele seiner Mithäftlinge tödlich. Unter allen Arbeitskommandos habe es »im Klinkerwerk die höchste Sterberate gegeben« (ebd., S. 112).4 Später war er in der Schuhfabrik und für kurze Zeit im »Kanalabladekommando« beschäftigt, wo es »am schlimmsten war« (Kulisiewicz 1997, S. 18). Ebenfalls nur kurze Zeit habe er »zum Hundezwingerkommando« gehört, wo er sich infizierte und fast erblindet wäre (ebd., S. 25). Sehr viel ausführlicher ging Kulisiewicz darauf ein, dass er »mit der Zeit fast alle Leute im Lager (kannte), die Lieder und Gedichte machten und damit auch auftraten« (ebd., S. 21). Namentlich nennt er seinen Freund Jan Vala, der nicht nur eine gute Stimme hatte, sondern »populärer als ich« war (ebd.). Der tschechische Gastwirt Vala war wegen »seiner kritischen und spöttischen Lieder inhaftiert worden«, schreibt Juliane Brauer (Brauer 2009, S. 185), was ihn aber nicht verstummen

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he zu kommen, da man ständig in Gesellschaft Hunderter Mitgefangener war […]. Die Enge bewirkte zudem eine Atmosphäre der Gereiztheit und Aggressivität, die dem Ziel des SichSammelns und der gedanklichen Klärung völlig widersprach. Letztlich musste der Einzelne jedoch über die physische Kraft verfügen, sich einer intellektuellen Tätigkeit zu widmen, nachdem ihn sein Arbeitstag bereits an den Rand der Erschöpfung geführt hatte«, schreibt Claudia Westermann im Nachwort zu seinen Autobiographischen Fragmenten (Westermann 1997, S. 164). Russisches Staatliches Militärarchiv Moskau, 1367/1/98, Bl. 28, zitiert nach Archiv Sachsenhausen, D 1 A/1098, Bl. 24. Zum Klinkerwerk als »Außenlager und Vernichtungsgelände« des KZ Sachsenhausen siehe vor allem Joachim Müller (Müller 2001).

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ließ. In Sachsenhausen textete und komponierte er weiter bissige Lieder. Ferner gab es die »Sing-Sing-Boys«, eine Musikertruppe, die tschechische Studenten gegründet hatten, sowie einen »deutschen Chor, den Eberhard Schmidt dirigierte« (ebd., S. 22). Doch der Beste von allen sei »der jüdische Chor in Block 37 und 38, im sogenannten kleinen Lager, mit seinem Leiter Rosebery d’Arguto (von 1940 bis 1942)« gewesen (ebd., S. 22). D’Arguto, geboren am 24. Dezember 1890, war ein deutscher Jude polnischer Herkunft. Er hatte in Österreich und Italien Musik und Komposition studiert, sich im Alter von 22 Jahren in Berlin niedergelassen und 1922 die Leitung des aus Arbeitern und Arbeiterinnen bestehenden Männer- und Frauenchors Neukölln übernommen, der zu seinen besten Zeiten aus 200 Erwachsenen und 90 Kindern bestand (Brauer 2009, S. 317). Am 13. September 1939 wurde er in Berlin als »staatenloser Jude« verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht, wo er vermutlich in den isolierten Baracken 37, 38 und 39 des »Judenblocks« untergebracht wurde.5 Drei Jahre später, am 22. Oktober 1942, wurde er mit allen anderen im KZ Sachsenhausen inhaftierten Juden nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort vermutlich im März 1943 ermordet.6 D’Arguto war es, der Kulisiewicz »die innere Welt des Liedes« erschloss (Kulisiewicz 1997, S. 15) und ihn offenbar bewegte, im Lager Sachsenhausen »alles, was ich sah, in meinen Gedichten festzuhalten« (ebd., S. 33). Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Krakau am 14. Mai 1945, zwölf Tage nach seiner Befreiung am 2. Mai in der Nähe von Schwerin (Kulisiewicz 1997, S. 35),7 musste er sich wegen einer beginnenden Tuberkulose in ein Lazarett begeben. Binnen dreier Wochen habe er insgesamt 716 Seiten Lieder und Gedichte in der jeweiligen Originalsprache diktiert, »die er selbst geschrieben oder für Mitgefangene memoriert hatte« (Brauer 2009, S. 210). Wieder genesen, machte er sich umgehend an die Mammutaufgabe: Nach dem Krankenhausaufenthalt »sammelte ich KZ-Gedichte, möglichst Manuskripte aus dem Lager. Mein erstes Tonbandgerät sowjetischer Produktion war sehr schwer. Obwohl ich aus dem KZ auch einen doppelten Bruch hatte, lief ich durch ganz Polen in über 300 Kreisstädte und Dörfer, um Aufnahmen zu machen […] So entstanden insgesamt über 52.000 Meter Tonband mit Berichten von ehemaligen Häftlingen aus [über] 34 Lagern und Nebenlagern, Lieder, Gedichte, dazu Berichte über die Genesis von Gedichten und Liedern, mit Beschreibungen illegaler Liederabende, Veranstaltungen usw.« (Kulisiewicz 1997, S. 37). 5 6 7

Über den sogenannten Judenblock im KZ Sachsenhausen: (Szalet 2006). Ausführlich über Rosebery d’Arguto und den Chor der jüdischen Häftlinge im KZ Sachsenhausen (Brauer 2009, S. 316ff.). Das KZ Sachsenhausen wurde ab dem 21. April 1945 geräumt und die etwa 33.000 Häftlinge Richtung Nordwesten in Marsch gesetzt. Die erste dieser Marschkolonnen wurde am 1. Mai, die zweite am 2. Mai von den Sowjets befreit. Siehe (Benz; Distel 2006).

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Daraus entstand eine riesige Sammlung an »Liedern aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern« und ein am Ende 2600 Seiten umfassendes Manuskript mit dem Titel Musik und Gesang in faschistischen Konzentrationslagern 1933–1945.8 Es war das »Ergebnis seiner jahrzehntelangen Forschungs- und Sammelarbeit in komprimierter Form«, schreibt Juliane Brauer im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (Brauer 2010).9 Fackler hebt an dieser Sisyphusarbeit die »Unabhängigkeit von ideologischen Motiven« hervor, wenngleich »ein gewisser polnischer Nationalismus auffällt« (Fackler 2000, S. 482f). Diese »Schlagseite« ergibt sich aus der Tatsache, dass Kulisiewicz für seine Tonbandaufzeichnungen »durch ganz Polen« lief, wie er schreibt. Lemberg dagegen gehörte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Ukraine, was das Leid der Bevölkerung weit über den Krieg hinaus verlängerte – weil nun ein beispielloser, erzwungener Bevölkerungsaustausch zwischen Polen und dem nun zur Ukraine gehörenden ehemaligen Galizien einsetzte: »Die polnische Bevölkerung Lembergs, die vor dem Krieg mehr als die Hälfte aller Lemberger Bürger ausmachte, wurde zwischen 1944 und 1946 im Zuge der ›Repatriierung‹ vor allem in die neuen polnischen Westgebiete umgesiedelt«, schreibt Grzegorz Rossolinski über die Geschichte der Stadt mit verwischten Grenzen (Rossolinski 2007, S. 29). Umgekehrt musste die ukrainische Bevölkerung aus den Grenzregionen Polens auf Druck der Sowjets in die neue sowjetische Ukraine umziehen. 80 bis 90 Prozent der einstigen Bevölkerung Lembergs wurde so durch Krieg, Holocaust und anschließender Repatriierung ausgetauscht – mit der Folge eines »grundlegenden Traditionsbruch[s]«: »Mit der Aussiedlung der polnischen und der Vernichtung der jüdischen Lemberger war die bürgerliche Tradition in Lemberg so gut wie ausgelöscht« (Rossolinski 2007, S. 30) und die einst multiethnische Metropole »in eine ethnisch fast vollständig ukrainische Stadt verwandelt worden« (Dieckmann 2017, S. 373). In seinem Manuskript Musik und Gesang in den faschistischen Konzentrationslagern10 findet sich auch ein größerer Sachsenhausenteil. Er besteht aus insgesamt

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In Polnisch: Muzyka i Piesni w hitlerowskich obozach koncentracyjnych 1933–1945. www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002619 (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Diese Sammlung an KZ-Liedern ist bis heute nicht veröffentlicht worden. Die verworrene und am Ende gescheiterte Editionsgeschichte seines Manuskripts, die teilweise Übersetzung dieser Sammlung mit Geldern der VW-Stiftung und schließlich die Rückgabe des Originalmanuskripts an Kulisiewicz’ Sohn Krysztof hat Juliane Brauer in ihrer Studie über Musik im Konzentrationslager Sachsenhausen ausführlich beschrieben. Neun Jahre nach seinem Tod am 12. März 1982 erwarb das Holocaust Memorial Museum in Washington (USHMM) im Frühjahr 1991 »das gesamte Privatarchiv des KZ-Sängers« (Brauer 2009, S. 212). Das könnte auch erklären, warum das USHMM die einzige Gedenkstätte ist, die den von SS-Untersturmführer Richard Rokita angeblich in Auftrag gegebenen Todestango mit einem »früheren Werk von Eduardo Bianco« in Verbindung bringt, so wie es Kulisiewicz behauptet hatte.

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65 Liedern. »Aus seiner eigenen Feder stammten 46, 19 weitere Liedkompositionen überlieferte er von Mithäftlingen« (Brauer 2009, S. 213). 37 Lieder »entstanden, indem er bekannte Liedmelodien bearbeitete und dazu neue Texte schrieb«. Nur zu neun Liedern habe er eigene Melodien komponiert. Er sang mithin »im KZ Sachsenhausen nicht nur neu geschaffene KZ-Lieder, wie er dies nachträglich von einem Lagersänger streng genommen« gefordert hatte (Fackler 2000, S. 398).11 Unter den 46 Liedkompositionen von Kulisiewicz, die Juliane Brauer im Anhang auflistet, finden sich unter dem Stichwort »Melodie«: Volksweisen, Soldatenlieder, die Adaption eines polnischen Volkstanzes oder die »Melodie eines slowakischen Volkslieds« – aber nur ein Tango, und zwar die Lagersatire »Leichenträger Tango« (Brauer 2009, S. 443),12 die auf der Melodie eines »Tango der 30er Jahre« basierte (ebd.). Wie er möglicherweise entstand, deutete Kulisiewicz in dem schon erwähnten Gespräch mit Peter Wortsman an: »I was, among other tasks, a corpse-bearer«, also ein Leichenträger. Die Melodie des »Leichenträger Tangos« ging nach seinen eigenen Worten auf einen Vorkriegshit von Wiktor Krupinski »Po kieliszku« (»After the First Drink«) zurück, den der seinerzeit bekannte Sänger Tadeusz Faliszewski (1898–1961) popularisiert hatte (Kulisiewicz 2008). Auch unter den Liedern anderer Lagermusiker in Sachsenhausen, die Brauer aufführt, ist vom Volkslied bis zum Weihnachtslied alles vertreten – nur keine Tangos. Sie scheinen in der »konzentrationären Musik« nicht annähernd so populär und verbreitet gewesen zu sein, wie es die Sängerin und Forscherin Lloica Czackis nahelegen möchte (Czackis 2009, S. 116). Der »Kämpfer gegen das Vergessen«, wie sich Aleksander Kulisiewicz selbst beschrieb, trat jedoch nicht nur als Sänger oder als »Ein-Mann-Chor-Orchester« (Wortsman, S. 9)13 bei Liederfestivals wie der Burg Waldeck in Erscheinung. Er hat sich auch in wissenschaftlichen Publikationen über verschiedene Erscheinungsformen der Musik in Konzentrationslagern und ihre Wirkung auf die Häftlinge auseinandergesetzt. 1977 und 1979 veröffentlichte er in der Zeitschrift Przeglad Lekarski (Medizinische Rundschau) zwei längere Aufsätze über »Musik und Gesang als Faktoren des psychischen Selbstschutzes der Häftlinge in den nationalsozialistischen Lagern.« In einem dieser Beiträge geht er kurz auf das Janowska-Lager

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In seinen Autobiographischen Fragmenten schreibt er: »Ein richtiger KZ-Sänger sollte seine Texte mit seinen eigenen Melodien singen, möglichst auch im KZ-Jargon, nicht Lieder trällern, die er von früher kannte« (Kulisiewicz 1997, S. 21). Im Anhang listet Brauer alle Lieder auf, die A. Kulisiewicz aus Sachsenhausen überlieferte sowie alle Häftlingsensembles, Musiker und Lagerlieder (Brauer 2009, S. 441f.). Wortsmans Beitrag Orpheus Raising Hell. Impressions of the late Aleksander Kulisiewicz erschien im 60-seitigen Beiheft der CD Ballads and Broadside, das 20 kommentierte Lieder aus dem KZ Sachsenhausen sowie die Liedtexte enthält. Die CD hatte das USHMM im Jahr 2008 herausgegeben.

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in Lemberg ein. Dort sei 1943 ein verzweifeltes Lied »zur Melodie eines Krakowiak« gereimt und ein »vulgärer Ausdruck für Mutter=Hure« gesungen worden.14 In derart »schändlichen Beinamen« sah er »die ganz verständliche Reaktion auf die Bestialität, der die Todeskandidaten im Janowska-Lager tagtäglich ausgesetzt waren«. Denn, während das Orchester spielte, seien »den Menschen die Bäuche mit stumpfen Knüppeln durchbohrt [worden], sie wurden in Fässern mit eiskaltem Wasser eingefroren, Kinder wurden hochgeworfen und in der Luft erschossen oder sie wurden durchgehackt, so wie man Holzkloben zerkleinert.«15 Für diese Schilderung bezieht er sich auf Borwicz’ Universität der Mörder und die Zentrale Jüdische Historische Kommission. Mit anderen Worten: Er knüpfte an die vorherrschende Überlieferung an, wie sie Borwicz und andere Überlebende des Lagers in ihren Erinnerungen der Nachwelt tradiert hatten. Auffallend ist: Auf das von ihm kurze Zeit später veröffentlichte bekannteste Musikstück des Janowska-Lagers, den Todestango, geht Kulisiewicz an dieser Stelle nicht ein. Kurz darauf taucht der Todestango gleichwohl in seinem Liedrepertoire auf, wenn auch sehr spät, nämlich drei Jahre vor seinem Tod. Während einer Konzertreise 1979 in die USA spielte er bei Folkways Records die Schallplatte »Songs from the Depths of Hell« ein (Album Not. FSS 37700). Unter den 15 Stücken befindet sich auf »Seite II« als zweites Stück auch »Das Todestango (The Deathtango)«. Zu der Schallplatte erschien ein 16-seitiges, von dem Schriftsteller Peter Wortsman verfasstes Beiheft. Wortsman hatte Kulisiewicz 1975 für ein Interview in Warschau getroffen. Diese Annotationen enthalten die Texte aller Lieder und erläutern kurz, wie sie entstanden sein sollen. Kulisiewicz versichert hier, dass die Melodie »from a ›Plegiara-tango‹ by Eduardo Bianco«16 stamme. Als Herkunftsgeschichte bot er die folgende Darstellung an: 14

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Der Aufsatz Musik und Gesang als Faktoren des psychischen Selbstschutzes der Häftlinge in den nationalsozialistischen Lagern erschien 1977 erstmals in: Przegląd Lekarski [Medizinische Rundschau], Jg. 34, 1977, Heft 1, Seite 66–77 und ein zweiter Teil im Jg. 36, 1979, Heft Nr. 1, S. 38-50. Mein Dank gilt Juliane Brauer, die mir eine deutsche Übersetzung von Doris Radojewski zur Verfügung stellte, die auch die Arbeitsübersetzung von Kulisiewicz’ großem Manuskript angefertigt hatte. Diese vier Gräueltaten werden in der Erinnerungsliteratur am häufigsten genannt. Sie erwähnt Oberst Smirnov bereits in der Anklage vor dem Nürnberger Militärtribunal im Februar 1946 (IMT 1947c, S. 450f.), ferner die New Yorker Ausgabe des Schwarzbuchs (The Jewish Black Book Committee 1946, S. 308). Dass sie schon früh unter Überlebenden verbreitet waren, bezeugte Leon Wells bei seiner Aussage vor der ASK am 21. und 22. September 1944: »Eines Tages im Januar befahl Gebauer, Kübel, die draußen standen, mit Wasser zu füllen. Sieben Personen mußten sich nackt ausziehen und ins Wasser steigen. Alle sieben sind erfroren: Gebauerwäsche« (BAL B 162/29309, Bl. 353). Wells kann davon nur gehört haben, da er nach eigenen Angaben von März bis Juni 1942 und von Juni bis November 1943 im Janowska-Lager bzw. der Todesbrigade war, mithin nicht im Januar. Im Original hat sich wohl ein Fehler eingeschlichen, dort steht »Plegiara« statt »Plegaria«.

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»Während einer Selektion im Vernichtungslager Lemberg […] wurden Juden auf Befehl von Stephan Rokita [sic!] gezwungen, dem bekannten Fiedler Schatz zuzuhören, während er diesen ›Hit‹-Tango spielte. Die damals inhaftierte Anna Muzycka erinnerte sich des Textes und schrieb ihn später nieder. Nur die letzte Strophe wurde geändert« (Übers. d. Vf., Kulisiewicz 1979). Nähere Angaben zu Anna Muzyczka, wann er sie traf und wie sie in den Besitz des Liedtextes des angeblichen Todestangos gekommen sein will, macht Kulisiewicz entgegen seiner sonst genauen Dokumentation der Lieder nicht. Tatsächlich hat es eine Anna Muzyczka17 gegeben. Allerdings war nicht Kulisiewicz ihr begegnet, sondern Jan Tacina (1909–1990). Tacina war in den 1960er Jahren Mitarbeiter von Jozef Lizega, der damals die ethnografische Abteilung des Schlesischen Forschungsinstituts in Kattowitz leitete und sich entschlossen hatte, »mit dem Sammeln der Lieder aus den Konzentrationslagern zu beginnen« (Fackler 2000, S. 484). Bevor sich Kulisiewicz und Tacina zwischen 1965 und 1967 zu gemeinsamen Forschungsarbeiten im Schlesischen Forschungsinstitut zusammenfanden, hatte Tacina bereits seine Sammeltätigkeit aufgenommen. Kulisiewicz schreibt im Vorwort seines großen Manuskripts, Tacina habe zwischen 1961 und 1964 auf dem Territorium der Wojewodschaften (Bezirke) Katowice, Opole und Poznań sowie Wrocław, Warszawa und Krakow 74 Lieder einschließlich der Noten und Texte aus Dachau, Buchenwald, Majdanek, Auschwitz, Birkenau, Gusen, Ravensbrück, Litomierzyce, Wiener-Neudorf und dem Janower Lager in Lwow (Lemberg) aufgezeichnet. Es ist eines der wenigen Male, dass das Janowska-Lager bei ihm Erwähnung findet. In diese Zeit, im Mai 1964, fiel auch Tacinas Treffen mit Anna Muzyczka im polnischen Bytom, etwa 15 Kilometer von Kattowitz entfernt. Ihren Bericht hat Tacina in einem kurzen Papier protokolliert, das sich im Kulisiewicz-Archiv des USHMM in Washington D.C. befindet18 . Es enthält unter anderem den Liedtext in deutscher und polnischer Sprache, den Aleksander Kulisiewicz 1979 als »Das Todestango« bei Folkways Records einspielte.

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Bei Aleksander Kulisiewicz heißt sie Anna Muzycka, bei Jan Tacina Anna Muzyczka (mit czk statt nur mit ck). USHMM Aleksander Kulisiewicz Collection, RG-55.016*03, Box 78, »Piesni obcojezyczne« (songs in foreign languages).

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Der Text lautet:   »Das Todestango« Hoerst du, wie die Geige schluchzend spielt? Blutig klingen ihre Toene Hoerst du, wie dein Herz sein Ende fuehlt? Das Todestango spielt Hab’ kein’ Angst, mein Lieb’ Sand wird deine Leiche decken Sternenkerzen dient als Brennen Und als Polster dient dir nur ein Stein. Doch gluecklich wirst du sein so ganz allein Schuesse fallen, Kugeln knallen Segregieren! Gift! Nur spielen Und der Tod packt dich in die Hand D’rum sei fertig und bereit.19

Ohne Titel20 Słyszysz, jak te skrzypce łkają i załośnie smutno grają? Krwawo dźwięczą skrzypiec tony, źycia twego byt skończony. Płyna tanga rzewne dźwięki, dość juz trwogi, dość udręki! Piach zasypie twoje oczy, gwiazdy zaświecsą ci w nocy, głowa spocznie na kamieniu, spoczniesz sam w grobowym cieniu. Padły strzały, świszczq kule, wnet sie skończą nasze bóle. Śmierć wyciąga ao nas ręce, koniec wreszcie naszej męce.

Dieser Text und Tacinas Erläuterungen zu seiner Entstehung werfen eine Fülle an Fragen auf, wobei sich das folgende Kapitel auf drei Aspekte konzentriert: Wie glaubhaft ist der Bericht der Zeugin Anna Muzyczka? Warum greift Kulisiewicz auf ein in der Erinnerungsliteratur vertrautes Erzählmuster zurück? Und was hat es mit der ungewöhnlichen Sprechhaltung des Lieds auf sich?

Anna Muzyczka: die Advokatin des Todestangos Jan Tacinas Protokoll21 macht nur sehr knappe biografische Angaben zu Anna Muzyczka.22 Sie wurde 1923 in Lemberg geboren, war also gerade 18 Jahre alt, als

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Der gleiche Text mit der Überschrift Der Todestango findet sich auch in der von Ellinor Lau und Susanne Pampuch herausgegebenen Anthologie Lieder und Gedichte aus deutschen Konzentrationslagern (Lau; Pampuch 1994, S. 39). Als Quelle geben sie das »Archiv Aleksander Kulisiewicz, Krakau« an (ebd., S. 205). Sie folgen auch seiner Darstellung, wonach Anna Muzyczka sich an den Text erinnerte. Die Titel »Das Todestango« und »Tango Smierci« stehen nicht im Original, sondern nur auf einer Abschrift, die einige Fehler im Vergleich zum Original enthält. Beispielsweise ist in der sechsten Zeile das Wort »sicher« eingefügt worden: »Sand wird Deine Leiche sicher decken« statt »Sand wird Deine Leiche decken.« Genaugenommen besteht es aus zwei Seiten: dem Original und einem Durchschlag. Ich habe versucht, beim Schlesischen Institut (Instytut Śląski) in Kattowitz mehr über Jan Tacina und seine Aufzeichnungen zu Anna Muzyczka in Erfahrung zu bringen. Piotr Solga, Mitarbeiter im Institut, teilte mir mit, dass sich in der Instituts-Bibliothek »keine bemerkenswerten Quellen« zu Tacina finden lassen. Als mögliche Gründe nannte er den mehrfachen Umzug des Instituts und die Schäden einer Flut im Jahr 1997. »Es ist also nicht sicher«, so

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sie im Jahr 1941 verhaftet wurde und ins Lager kam. Zu dieser Zeit existierte in Lemberg nur das Zwangsarbeitslager (ZAL) in den Deutschen Ausrüstungswerken (DAW), die SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer leitete. Dass sie nichtjüdische Polin war, erschließt sich aus der Tatsache, dass sie zwei Jahre in dem Lager verblieb und auch seine Auflösung überlebte. In der Nacht des 4. Dezember 1943, »vor der letzten Liquidierungsaktion«, konnte sie aus dem Lager fliehen. Über ihre Zeit im Lager berichtet sie: »In diesem Lager versammelten sich Juden verschiedener Nationalitäten. Deshalb kommunizierten sie auf Deutsch. Aus diesem Grund sind die Texte in dieser Sprache.« Das Orchester des Lagers, »bestehend aus jüdischen Gefangenen«, habe während der Exekutionen gespielt. »Kurz vor der letzten Liquidierungsaktion«, also im November oder Anfang Dezember 1943, sei das folgende Lied geschrieben und »nach der Melodie eines alten Tangos gesungen« worden. Darauf folgen die Noten in Buchstabenschrift,23 die ohne Zweifel die Melodie des Tango-Schlagers Plegaria wiedergeben. Wie Tacina imstande war, diese Notenfolge zu notieren, ob Anna Muzyczka sie vorsang oder -summte und er sie niederschrieb, geht aus dem Dokument nicht hervor, auch nicht, wie Anna Muzyczka die bemerkenswerte Gedächtnisleistung vollbrachte, diese Melodie während 21 Jahren so genau im Kopf zu behalten, dass sie eine Notierung erlaubte. Dass es sich um Biancos Schlager Plegaria handelte, war Jan Tacina seinerzeit nicht bekannt. Auf einer Abschrift des Lieds heißt es: »Unbekannter Vorkriegshit.« Unter den Noten folgt der Text des Lieds in deutscher und polnischer Sprache. Festzuhalten bleibt, dass Anna Muzyczka im Tacina-Protokoll nicht vom Janowska-Lager, sondern nur vom Zwangsarbeitslager Deutsche Ausrüstungswerke spricht. Das Wort Todestango kommt hier nur im deutschen, nicht im polnischen Liedtext vor. Auch hat das Lied im Tacina-Protokoll weder in der deutschen noch der polnischen Version eine Überschrift. Generell sind Zeugnisse aus den 1960er Jahren zur Todestango-Legende unter einen quellenkritischen Vorbehalt zu stellen. Sie beweisen gut 20 Jahre nach dem Ende des Janowska-Lagers nicht, wie im ersten Teil bereits gezeigt wurde, die Existenz eines Todestangos, sondern möglicherweise nur, wie sehr die Legende in der Erinnerung von Zeitzeugen Platz gegriffen hatte.24 Das gilt auch für Anna Muzy-

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schrieb er, »dass wir heute sein Archiv haben, auch wenn er es uns hinterlassen hat« (E-Mail vom 23. Juli 2020). Es sind die folgenden Noten: »g fis e dis e fis g e g fis e dis fis e dis e h c h a h c d e c e g h g g fis a …« Ein weiteres Beispiel ist die bereits im ersten Teil angeführte Aussage von Leopold Schimonowitsch Zimmerman, der am 21. Dezember 1966 vor dem Militärgericht des Karpatischen Militärbezirks über das Lagerorchester berichtet hatte: Die Deutschen hätten es »aus den besten Musikern der Stadt Lemberg gebildet«, »vierzig Musiker« hätten der Kapelle angehört. Und »wenn die Gefangenen zur Arbeit gebracht wurden und während der Erschießungen spielte das Orchester den Todestango« (BAL 162/29309, Bl. 79).

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czka. Obwohl sie vermutlich Polin und ihre Muttersprache Polnisch war und sie den deutschen Text nach eigenen Angaben nur einmal gehört haben kann, nämlich »kurz vor der letzten Liquidierungsaktion«, will sie ihn 21 Jahre lang in ihrer Erinnerung bewahrt haben, einschließlich einer Melodie, die man nicht gerade als eingängig bezeichnen kann. Eine Fülle weiterer Widersprüche verstärken die Zweifel an ihrem Bericht. Warum Tacina ihnen nicht nachging, bleibt unklar. Obwohl Anna Muzyczka berichtete, mehr als zwei Jahre in dem Lager gewesen zu sein – von 1941 bis zur Auflösung 1943 –, erwähnt sie weder einen Fiddler Schatz, von dem Aleksander Kulisiewicz spricht, noch SS-Untersturmführer Richard Rokita, der während seiner Zeit im Janowska-Lager – von Juni/Juli 1942 bis November/Dezember 1942 – angeblich das »Todesorchester« gründete und die Komposition des Todestangos anordnete. Nicht einmal der Name Janowska-Lager, geschweige denn der Name eines der Kommandanten, Gebauer, Willhaus oder Warzok, fällt in ihrem Bericht. In ihrer Schilderung dringt dieses Lied erst in dem Moment an ihr Ohr, als das Lager aufgelöst wird, alle noch verbliebenen Häftlinge ermordet werden und damit auch den Orchestermitgliedern die Stunde ihres Todes schlägt.25 Irritierend ist Anna Muzyczkas Aussage, Deutsch sei die Lingua franca unter den Häftlingen gewesen. Laut dem abschließenden Protokoll der Lemberger Kommission, die im Herbst 1944 die Gewaltverbrechen der deutschen Besatzer untersuchte, setzte sich die Häftlingsgesellschaft des Janowska-Lagers aus insgesamt zehn Nationalitäten zusammen: Russen, Ukrainer, Polen, Franzosen, Tschechen, Jugoslawen, Belgier, Italiener sowie Amerikaner und Engländer (BAL B 162/29309, Bl. 27). Die große Mehrheit waren polnische Juden aus Galizien, die überwiegend Jiddisch sprachen. Saul Friedländer verweist auf die Volkszählung von 1931, bei der »79,9 Prozent Jiddisch als ihre Muttersprache angaben, während 7,8 Prozent […] erklärten, ihre Sprache sei Hebräisch« (Friedländer 1998, S. 238). Dass unter ihnen »Deutsch« die gemeinsame Sprache gewesen sein soll, wie es bei Anna Muzyczka heißt, lässt sich mit Sicherheit ausschließen.26 Mit etwas gutem Willen könnte

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Anna Muzyczkas Zeugnis steht im Gegensatz zur uns bekannten Legende des Todestangos. Muzyczka war zwei Jahre lang im Lager. Nach ihrer Aussage wurde das Lied kurz vor der letzten Liquidierungsaktion im November/Dezember 1943 »geschrieben«. Danach kann SS-Untersturmführer Richard Rokita weder die Komposition angeordnet noch den Geiger Schatz angehalten haben, »diesen Hit-Tango« zu spielen, wie Kulisiewicz behauptet. Rokita war zu dieser Zeit seit einem Jahr in Tarnopol. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung vor: Laut dem Juristen und Historiker Adam Redzik war Deutsch die offizielle Sprache in der Zivilverwaltung Galiziens: »The official language was German, although directives, orders and legal acts were also printed in the Ukrainian and Polish languages« (Redzik 2014, S. 212). Auch der polnische Historiker Włódźimierz Borodziej betont in seiner Studie Terror und Politik, dass keiner »der Gestapo-Offiziere des Generalgouvernements im Jahr 1939 Polnisch gekonnt« habe und »die beiden wichtigsten

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man ihre Aussage dahingehend deuten, dass sie das dem Deutschen nahestehende Jiddisch meinte, die Muttersprache des weitaus größten Teils der galizischen Juden.27 Auch wenn das Jiddische »im Wesentlichen ein alter deutscher Dialekt ist« (Levi 2019, S. 104) – vom modernen Deutsch unterscheidet es sich so sehr, dass der deutsche Offizier Heinz Rahe »kein Wort verstehen« konnte, wenn seine jiddisch sprechende Putzfrau mit Bekannten sprach, wie er in einem Brief an seine Frau am 7. September 1941 schrieb (VEJ 7/77). Vergleicht man den polnischen und deutschen Liedtext, springen zwei entscheidende Unterschiede ins Auge: Die polnische Fassung ist in einem strengen Paarreim gehalten, was jeder leicht erkennen kann, selbst wenn er kein Wort Polnisch spricht: 12 der 14 Zeilen sind von einer solchen symmetrischen Exaktheit, dass ihre Endsilben fast übereinanderstehen. Außerdem fällt im polnischen Text nirgendwo das Wort Todestango (polnisch: Tango Smierci). Hätte Anna Muzyczka recht, dass das Original des Liedtextes Deutsch gewesen sei, würde das bedeuten: Der Übersetzer Jan Musial hat ein ungebundenes deutsches Gedicht in ein streng gebundenes polnisches Gedicht übertragen – was für Nachdichtungen in eine andere Sprache sehr ungewöhnlich sein dürfte. Wie das Lied zu seinem Titel kam, erschließt sich aus den Dokumenten nur bedingt. Jan Tacina kann man mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen. Denn »Tango Smierci« über der polnischen und »Das Todestango« über der deutschen Fassung finden sich nur auf einer Abschrift, die auf grau-meliertem Papier angefertigt wurde, während Tacina beigefarbenes oder inzwischen vergilbtes Papier nutzte. Als Urheber des Titels Todestango bleibt nur Aleksander Kulisiewicz. Dafür spricht zum einen seine »überformende Arbeitsweise« (Brauer 2009, S. 329), die schon bei Juliane Brauer verschiedentlich Zweifel an der »Authentizität« der von ihm überlieferten Fassungen weckte. So scheute er sich nicht, dem »Jüdischen Todessang« des von ihm bewunderten Chorleiters Rosebery d’Arguto die eigene Handschrift zu geben. Außerdem weist er darauf hin, dass der »letzte Vers verändert« worden sei, ohne den Autor der Umbildung zu nennen. Vermutlich hatte er sie vorgenommen. Kulisiewicz Arbeitsweise könnte auch eine Erklärung bieten, warum er die ins Auge stechenden Ungereimtheiten in dem Bericht Anna Muzyczkas überging.

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Gestapo-Beamten in Polen über einen längeren Zeitraum hinweg die Hilfe von Polizeidolmetschern in Anspruch nehmen« mussten (Borodziej 1999, S. 51). Primo Levi schreibt, dass die »Bevölkerung von Auschwitz seit 1943 zu 90–95 Prozent aus Juden bestand« (Levi 2019, S. 50). Die »polnischen, russischen und ungarischen Juden waren erstaunt, dass wir Italiener kein Jiddisch sprachen: Damit waren wir verdächtige Juden« (ebd., S. 104).

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Warum Kulisiewicz einem vertrauten Erzählmuster folgt Leichter nachzuvollziehen ist, warum Kulisiewicz ein Erzählmuster aufgreift, das in der Erinnerungsliteratur über das Janowska-Lager weit verbreitet ist. Der Hauptgrund ist, dass er offensichtlich nicht mit den historischen Fakten des Janowska-Lagers vertraut war und glaubte, sich auf das Zeugnis Borwicz’ verlassen zu können. Dafür spricht nicht nur der falsche Vorname »Stephan« (statt Richard Rokita), sondern seine Adaption von Borwicz’ Die Universität der Mörder. Borwicz führt er zum einen in seinem Musik-Artikel in der »Medizinischen Rundschau« und im Vorwort seines großen Manuskripts an, von dem es im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen eine »Arbeitsübersetzung« von Doris Radojewski gibt. Die Übersetzerin hatte »das polnische Originalmanuskript zu circa sechzig Prozent« ins Deutsche übertragen (Brauer 2009, S. 211), darunter auch das fast 100 Seiten lange, vermutlich im Jahr 1976 zuletzt bearbeitete Vorwort.28 Hier kommt Kulisiewicz auch auf Rokita und den Todestango zu sprechen. Wo Borwicz Rokita einen »Geiger in den Cafés von Kattowitz« nennt (Borwicz 2014, S. 88), der das »Lagerorchester organisierte« (ebd.) und »wegen irgendeiner Unruhe in den Reihen einige Menschen erschoss«, schreibt Kulisiewicz vom einem »ehemaligen Kaffeehausgeiger aus Kattowitz«, der das »Orchester im JanowskaLager zusammengestellt« und »stets ganz gerührt dem Todestango« gelauscht habe (Kulisiewicz, S. 16, Vorwort). Nachdem er einige Häftlinge erschossen hatte, habe er sich vor ihnen mit den Worten gerechtfertigt: »Ich bin so gut zu euch und ihr nervt mich. Schaut, wozu ihr mich bringt« (ebd.).29 Der geschilderte Vorfall soll sich laut Kulisiewicz »an einem Tag im Jahr 1943« ereignet haben, also zu einer Zeit, als Rokita das Lager schon Richtung Tarnopol verlassen hatte. Nur nebenbei sei angemerkt, dass er in diesem Vorwort weder näher auf den Todestango eingeht noch ihn mit Plegaria von Eduardo Bianco in Verbindung bringt.

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Die Datierung des Vorworts, das kein Datum trägt, ist aus der von ihm zitierten Literatur ungefähr zu erschließen. Die jüngste angeführte Quelle trägt das Datum 7.6.1975. In dem Kapitel über Birkenau wird eine weitere Quelle vom 26.1.1976 zitiert. Dieser Satz steht so fast wörtlich bei Borwicz: »Wenn er wegen irgendeiner Unruhe in den Reihen einige Menschen niederschoss, rauchte er danach eine Zigarette und sagte schmeichlerisch lächelnd: ›Ich bin so gut zu euch und ihr nervt mich. Schaut, wozu ihr mich bringt‹« (Borwicz 2014, S. 88). Borwicz wiederum scheint diese Passage von Simon Haupt übernommen zu haben. Sein Zeugnis befindet sich in dem Buch Dokumenty zbrodni i meczeństwa (Borwicz; Rost; Wulf 1945, S. 32-33), das Borwicz als Band Nr. 5 der Publikationen der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission herausgab. In der deutschen Übersetzung heißt es bei Haupt: »Es schoss Rokita. Nach der Exekution wendete er sich an die jüdischen Milizianten und sagte: ›Ihr seht, ich bin so gut zu Euch und ihr macht mich so nervös‹, und zündete eine Zigarette an« (StAL El 317 III Bü 1698, S. 18).

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Aus dem Gesagten wird deutlich: Kulisiewicz hatte trotz seiner immensen Sammel- und Publikationstätigkeit zum Thema Lieder in Konzentrationslagern keinen privilegierten Zugang zu bislang unbekannten Quellen über die Herkunft und Entstehung des Todestangos im Janowska-Lager. Seine Kenntnisse bezieht er aus den Schilderungen Michał M. Borwicz’, dessen Erinnerungen zum Todestango im Janowska-Lager ihrerseits auf Gehörtem beruhten. Borwicz war, wie wir sahen, erst Anfang Januar 1943 ins Janowska-Lager gekommen. Er kannte die Legende von Rokita als dem Orchestergründer, der die Todestango-Komposition befohlen hatte, nur aus zweiter Hand. Es verwundert daher nicht, dass auch Kulisiewicz auf den bekannten Topos zurückgreift und den vertrauten Versatzstücken der Todestango-Legende keine individuellen Beschreibungen hinzufügen kann. Seine Version kennzeichnet wie alle anderen auch ein Mangel an quellenkundlicher Sorgfalt, die nicht nach der Zuverlässigkeit der verwendeten Zeugnisse fragt. Sie liefert mithin nicht den endgültigen und unwiderleglichen Nachweis für die Wirklichkeit einer besonderen Melodie im Janowska-Lager oder dafür, dass Plegaria der Todestango ist. Seine Schilderung greift vielmehr die verbreitete Legende auf und hält sie so am Leben. Dafür finden sich weitere Indizien. Im Jahr 1964 als Jan Tacina in Bytom auf Anna Muzyczka traf, erschien in Lublin Stanisława Gogołowskas Buch Schule der Grausamkeit. Ob es Kulisiewicz bekannt war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber vor ihm gab es nur zwei Autoren, die Schatz als Urheber dieser legendären Melodie nannten: den Historiker Philip Friedman, Kopf der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, und die Journalistin Stanisława Gogołowska. Doch anders als bei Kulisiewicz ist bei ihnen Schatz der Komponist des Todestangos und nicht nur derjenige, der »diesen Hit-Tango« spielte. Des ungeachtet ist Kulisiewicz’ Darstellung, Schatz habe auf Befehl Rokitas »diesen Hit-Tango« gespielt (mithin Biancos Plegaria), eher geeignet, die Legende zu erschüttern, als zu festigen. Sykmund Schatz, geboren am 16. Februar 1899, hatte am Konservatorium der Polnischen Musikgesellschaft und der »Musikakademie in Wien« eine klassische Ausbildung als Geiger genossen. In den Jahren 1923 bis 1927, also im Alter von 24 Jahren, war er durch Europa getourt. Seit 1928 leitete er ein eigenes Orchester (alle Angaben zu Schatz siehe: Lerski 2004, S. 748ff). Bei Syrena Record, dem führenden polnischen Schallplattenhersteller in der Zwischenkriegszeit, hatte er in den 1930er Jahren den Tango »Dlaczego?« (Warum?) mit dem Orkiestra Taneczna mit Ady Rosner als Dirigenten (Lerski 2004, S. 472) eingespielt. Kulisiewicz hätte eine Erklärung dafür anbieten müssen, welchen Grund ein so begabter und erfolgreicher Geiger wie Sygmunt Schatz gehabt soll, im Janowska-

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Lager nicht seine eigene Musik, sondern den Erfolgsschlager eines argentinischen Tangokomponisten zu spielen.30 Was Aleksander Kulisiewicz dazu veranlasste, den Todestango während seiner USA-Reise auf Schallplatte aufzunehmen, lässt sich nur vermuten. In seinen Publikationen und bei seinen Auftritten auf Liederfestivals spielte er offenbar keine Rolle. Carsten Linde hat 1972 im Verlag Wendepunkt in Sievershütten unter dem Titel KZ-Lieder eine Auswahl aus Kulisiewicz’ Repertoire in einer bibliophilen Ausgabe »von 200 nummerierten Exemplaren« veröffentlicht. Die dort abgedruckten Liedtexte und Kommentare basieren auf Tonbandaufnahmen eines Konzerts »Alex Kulisiewicz’ vom 5. Oktober 1968 in der Werkstatt 68«, wie es im Impressum heißt. Über ein Exemplar verfügt das Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen.31 Einen Todestango gibt es in dieser Auswahl von »KZ-Liedern« nicht. Auch bei anderen Konzerten scheint Kulisiewicz »Das Todestango« nicht gespielt zu haben. Zwischen 1965 und 1981 hatte er Auftritte bei 90 Konzerten in elf Ländern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs (Milewski 2014, S. 145). Dazu zählten seinerzeit berühmte Lieder-Festivals wie »Le Musiche della Resistenzia« in Italien (1965), die bereits erwähnte Burg Waldeck (1967), die Internationalen Essener Songtage (1968), auf denen auch berühmte Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt auftraten, und zuletzt das Nürnberger Bardentreffen (1981) ein Jahr vor seinem Tod. Wie Kulisiewicz bei diesen Konzerten beim deutschen Publikum ankam und wie er in Deutschland aufgenommen wurde, hat Andrea Baaske in ihrer Untersuchung über die Die Musikalische Rezeption des Aleksander Kulisiewicz in der bundesdeutschen Folkbewegung (Baaske 1996) ausführlich beschrieben und dafür auch Pressetexte ausgewertet. Es überrascht nicht, dass der »Jüdische Todessang« mit sieben Erwähnungen in einem Pressetext und sechs Kommentaren an erster Stelle steht. Er gehört mit dem »Wiegenlied« zu den »eindrücklichsten und künstlerisch anspruchsvollsten jüdischen Liedern, die Kulisiewicz überlieferte« (Brauer 2009, S. 329). An zweiter Stelle steht der »Choral aus der Tiefe der Hölle«, der viermal erwähnt und dreimal kommentiert wird. Danach folgt der »Der Gekreuzigte 1944« (viermal erwähnt, dreimal kommentiert). Der Todestango dagegen taucht in keinem der von ihr ausgewerteten Pressetexte auf. Das kann bedeuten, dass Kulisiewicz ihn nie bei einem Konzert öffentlich vorgetragen hat oder aber, dass »Das Todestango« zum damaligen Zeitpunkt noch nicht Bestandteil seines Repertoires war. Auf jeden Fall wäre es erstaunlich, wenn die Presse ausgerechnet »Das Todestango« keiner Erwähnung wert befunden haben soll, hätte Kulisiewicz ihn öffentlich vorgetragen. Es scheint, als habe der Todestango in der Version von Aleksander Kulisiewicz nur einen Auftritt

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Über Schatz und sein Todesjahr gibt es unterschiedliche Angaben. Laut Jakob Honigsman ist der Geigenvirtuose Sykmund Schatz »1942 im Ghetto Lwow umgekommen« (Honigsman 2001, S. 369), was im Widerspruch zu den Angaben Kulisiewicz’ steht. Ein weiteres Exemplar gibt es in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt a.M.

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erlebt: 1979 in den Tonstudios von Folkways Records. Als eine mögliche Erklärung schließt Baaske kommerzielle Interessen der Plattenlabels bei der Auswahl der Lieder nicht aus. Ihrer Meinung nach spiegelt »die Menge dieser auf LPs publizierten Lieder vornehmlich die Interessen der LP-Produzenten« wider (Baaske 1996, S. 84). Bei drei der vier Schallplatten-Produktionen, »die anlässlich der Präsentation des spezifischen Repertoires von Aleksander Kulisiewicz entstanden, stammen ca. die Hälfte der Lieder aus der Nachkriegsrecherche des Sängers und Sammlers und wurden später durch dessen individuellen Vortrag dokumentiert« (ebd.). Dazu müssen wir auch »Das Todestango« zählen.

Die Stimme des Todestangos oder: Wer spricht? Vier Jahre nach Kulisiewicz’ Tod im Jahr 1982 erschien in der Zeitschrift Modern Language Studies posthum ein kurzer Beitrag von ihm über die Charakteristika und die Funktion von Lagerliedern. Aus seiner Sicht dienten sie vor allem dazu, »den Überlebenswillen der Häftlinge zu stärken«. Sie sollten Trost spenden, indem die Dichter der Lieder oft »glücklichere Zeiten heraufbeschworen« und zugleich die Gemeinschaft stärken (Kulisiewicz 1986, S. 4). Als gebräuchlich beschreibt er, »dass Lieder [.] Melodien bekannter Opern verwendeten« (ebd., S. 3), sie Zeugnis von der Brutalität der KZ-Aufseher gaben und sich dafür einer derben Ausdrucksweise bedienten. »Eine vulgäre Sprache war die Norm« (ebd., S. 6). So wollten die Häftlinge zum Ausdruck bringen, wie sehr sie den chauvinistischen Jargon der Deutschen satthatten. Er beschreibt auch die negative Seite, Musik als Tortur und Qual, wenn, wie im Vernichtungslager Treblinka, Kinder von ihren Eltern zu den Klängen des Lieds »Mutti, Mutti, Mutti – komm’ mal du zurück« getrennt wurden (ebd., S. 5). Gleichwohl zeigt er sich überzeugt, dass die Lieder für die Häftlinge ein »Gegengift« zu dem »perversen Missbrauch der Musik« durch die Nazis gewesen seien (ebd., S. 5). Inwieweit treffen die von Kulisiewicz genannten Charakteristika auf das Lied »Das Todestango« zu? Ist dieses Lied geeignet, den Willen zum Widerstand zu stärken? Taugt es als Gegengift gegen die Pervertierung der Musik in Todeslagern? Findet sich hier jene »vulgäre Sprache«, die laut Kulisiewicz die Regel war? Und wer spricht in diesem Lied eigentlich? Und zu wem? Die Erinnerungsliteratur Überlebender des Janowska-Lagers bezeugt an vielen Stellen, dass die Häftlinge im Lager, in der Todesbrigade und vor allem, wenn sich die Arbeitsbrigaden auf den Weg zu ihren Einsatzstellen machten, sangen oder zum Singen gezwungen wurden.32 Der Arzt Samuel Drix zitiert in seinen Erinnerungen unter anderem das folgende Lied: 32

Wie sich die Häftlinge diesem Zwang entzogen, beschreiben Wolfgang Benz und Barbara Distel: »Mit Gesang und Musik aus der Heimat setzten die Inhaftierten den deutschen Mili-

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»Wir sind diejenigen aus dem Janowska-Arbeitslager, die Welt wird uns eines Tages kennen…[.] hört Ihr Zivilisten, wie lieblich es bei uns im Lager ist…« (StAL EL 317 III Bü 1721, S. 40). An anderer Stelle erwähnt er ein altes Lied, in dem die Häftlinge die Sehnsucht nach und den Schmerz über die verlorenen Jahre ausdrücken: »Moischele, mein Freund! Mein Herz sehnt sich noch heute nach diesen schönen, jungen Jahren! Kinderjahre, schöne zarte Blumen, ihr werdet nie mehr zu mir zurückkommen!« (ebd., S. 51). Auch Leon Wells berichtet in Die Todesbrigade über ein Lied, das sie »auf dem Marsch« zur Arbeit sangen: »He, alte Hure, warum hast du mich geboren, was für ein Leben, was für ein Leben, hättest mich besser gleich verloren« (Wells 1979, S. 171f).33 In diesen und anderen Liedern finden wir wieder, was Kulisiewicz über polnische Lagerlieder ausgeführt hat. Sie sind mal satirisch, mal sehnsüchtig wie bei Samuel Drix oder vulgär wie bei Leon Wells. Ihnen gemeinsam ist eine Sprechhaltung, die Anna Kathrin Bleuler in anderem Zusammenhang als »in kollektivierendem Sprechgestus (man, wir, uns) verfasste Gruppenlieder« bezeichnete (Bleuler 2020, S. 69). Diesen Sprechgestus findet man auch in 14 von 15 Liedern auf Kulisiewicz’ Schallplatte »Songs from the Depths of Hell« wieder (Herv. d. Vf.): »Höre unseren Choral aus der Hölle« heißt es im gleichnamigen Lied, »Zehn Brüder waren wir gewesen« im Lied »Jüdischer Todessang« oder »Wir sind die Moorsoldaten« im Lied »Hymne« (Kulisiewicz 1979). In zwei Liedern – »Hecatomb 1941« und »Lullaby for my little Son in the Crematorium« – beklagen Einzelne ihr persönliches Leid, in

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tärliedern, die beim Marschieren der Arbeitskommandos gesungen werden mussten, eigene kulturelle Traditionen entgegen« (Benz; Distel 2006, S. 62). In Wells’ Die Todesbrigade wird das Lied anders übersetzt: »He, f… deine Mutter/Was hast du mich zur Welt gebracht?/So ein Leben, so ein Leben/Hättest du wohl nie gedacht« (Weliczker 1958, S. 79).

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dem andere ihr eigenes wiedererkennen konnten, weil individuelles und kollektives Schicksal miteinander verbunden waren: Viele jüdische Mütter und Väter mussten erleben, wie ihnen ihre Kinder entrissen und vor ihren Augen ermordet wurden. Urheber und Adressat dieser Lieder »ist eine konkrete Gemeinschaft (wir/uns)« (Brauer 2009, S. 142). Die Funktion dieser und anderer Lieder sieht Brauer daher in einer »emotionalen Vergemeinschaftung« (ebd.). Vergleicht man diese Sprechhaltung, die sich in der »gemeinschaftskonstituierende[n] Funktion von Gruppenliedern« (Brauer 2009, S. 385) zeigt, mit der Sprechhaltung, die uns im Todestango begegnet, so könnte der Unterschied kaum größer sein: Hier richtet ein Außenstehender, der nicht in das Geschehen involviert zu sein scheint, das Wort an einen Todgeweihten, dem er das ihm bevorstehende Schicksal ausmalt: »Hörst du, wie dein Herz sein Ende fühlt/Das Todestango spielt/Hab keine Angst mein Lieb’ …« (Kulisiewicz 1979, S. 9), was eine seltsame Beruhigung ist. Seltsam, weil es schwer vorstellbar ist, dass ein Häftling diese Worte an einen zur Exekution bestimmten anderen Häftling richtet: »Hab’ keine Angst mein Lieb’.« Mehr noch irritiert an der Stimme ihre Äußerlichkeit gegenüber einem Geschehen, von dem jeder im Lager wissen musste, dass es auch ihn früher oder später ereilen würde. Die Stimme wirkt unbeteiligt, als spiele der Todestango nur für andere, nicht für den Sänger selbst. Das erklärt womöglich, dass das Lied gleichsam das Geschehen verdoppelt, das sich in dem Moment abspielt, als es erklingt: Während Häftlinge, die zur Exekution bestimmt waren, sich der Gewissheit gegenübersahen, dass ihre Stunde geschlagen hatte und es nun keinen Aufschub mehr gab, erzählt ihnen der Todestango, dass genau das geschieht, was sie gerade erfahren bzw. ihnen widerfährt. Welchen Sinn macht es, einem Todeskandidaten, der um sein Schicksal weiß, zu erzählen, dass er sterben wird? Sand seine »Leiche decken« wird und er »d’rum fertig und bereit« sein soll? Soll man sich wirklich vorstellen, dass dem Autor eines Todestangos nicht wärmere und tröstendere Worte eingefallen wären als jene, an die Anna Muzyczka sich erinnert haben will? Wie sinnvoll ist es darüber hinaus, ein Lied in einer Sprache zu verfassen, die mit ziemlicher Sicherheit drei Viertel der jüdischen Gefangenen nicht verstand, dessen Trost mithin unverstanden verhallt wäre? Kulisiewicz hat nicht nur diese Frage unbeantwortet gelassen. Er hat sich auch nicht um eine Erklärung bemüht, wie ein Orchester, dem Sygmunt Schatz angehörte und das aus etwa 40 Musikern bestanden haben soll, einen Sänger integrieren konnte und schließlich, wie sich sein Gesang bei Exekutionen gegen das Rattern der Maschinengewehre hätte Gehör verschaffen sollen.34

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Siehe Ola Hnatiuk Courage and Fear, die anmerkt: »Singing and lyrics would not be heard over the sound of machine guns« (Hnatiuk 2019, S. 287).

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Todestango und Todesfuge Die Wirkung der Schallplattenaufnahme ist mit jener des ikonografischen Bildmotivs vergleichbar. So wie die Fotografie angeblich die Existenz einer speziellen Komposition mit Namen Todestango beglaubigte, so verwandelte Kulisiewicz’ Einspielung den Todestango von einer abstrakten Vorstellung in eine konkrete und fassbare Gestalt, die einen vermeintlich authentischen Text, eine Melodie und einen Schöpfer, Eduardo Bianco, vereinte. Dass es nun »eine Schallplattenaufnahme des Todestangos« gab (Felstiner 2014, S. 376), beseitigte die letzten Zweifel an seiner Authentizität. Sie lüftete das Geheimnis, wie dieses berühmte und doch bislang unauffindbar gebliebene Stück geklungen hatte und schloss damit jene Lücke, die alle Autoren, ob Historiker oder Augenzeugen, bislang nicht zu schließen vermocht hatten. In ihren Versionen über die Entstehung des Todestangos konnten sie zwar sagen, wer ihn angeblich komponiert oder intoniert hatte, aber niemand hatte fertiggebracht, was Kulisiewicz 36 Jahre nach der Ermordung der Musiker des Orchesters gelang: den Todestango erklingen zu lassen und ihn unauflöslich mit dem Tangoschlager Plegaria zu verschmelzen. Die Resonanz war groß. Niemand hat Kulisiewicz’ Version und Erläuterung so begeistert aufgegriffen wie der amerikanische Literaturwissenschaftler John Felstiner. Sie schien ihm ein Rätsel zu entwirren, dem er in seiner Biografie des rumänischen Dichters Paul Celan auf der Spur war: Warum hatte Paul Celan, geboren am 23. November 1920 als Paul Antschel in Czernowitz (damals Rumänien, heute Ukraine), seinem berühmten Gedicht »Todesfuge« zunächst den Titel Todestango gegeben? Der Todestango aus dem Lemberger Janowska-Lager schien der Schlussstein in einem Puzzle, der nun das vollständige Bild in aller Klarheit offenbarte. Dies umso mehr, als sich mit dem Namen Eduardo Bianco eine weitere Brücke schlagen ließ: Der argentinische Orchesterchef hielt sich 1939 zur gleichen Zeit wie der damals 19-jährige Paul Antschel in Frankreichs Hauptstadt auf. Es bestand mithin die Möglichkeit, dass er Plegaria und damit den vermeintlichen Todestango kannte. Ob sich Paul Antschel tatsächlich für Tango interessierte und jemals ein Konzert von Bianco besucht hatte, schreibt Felstiner nicht. Außerdem schloss er nicht aus, dass Celan womöglich zeitweilig Häftling im Janowska-Lager war, wo er den Fiedler Schatz gehört haben könnte, dessen Hit-Tango als Todestango eine unmenschliche Praxis musikalisch begleitete. In diesem Todestango könnte Celan Plegaria wiedererkannt haben, um schließlich der späteren »Todesfuge« zunächst das »rumänische Tangoul Mortii (Todestango)« zu geben (Felstiner 2014, S. 57). Der Konjunktiv deutet bereits an, dass sich Felstiner hier auf dem unübersehbaren Feld der Spekulation bewegt. Gleichwohl sieht er im Titel Todestango die

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»Aura des zuverlässigen Zeugnisses«.35 Felstiner: »Dieser Mensch wusste, wovon er sprach, er musste selbst dort gewesen sein, musste das Gedicht dort geschrieben haben« (ebd., 56). Was Celan in seinem Gedicht »Todesfuge« schrieb, würde von dem zehren, was er »am eigenen Leib durchgemacht hatte […], mögen sie wohl auch die Prägung durch Überlebende aufweisen, denen er zuhörte« (ebd., S. 57).36 Die Entstehung der »Todesfuge« datierte er auf den Herbst 1944 und damit »nahe an seine historische Ursache« (ebd., S. 55), obwohl das Janowska-Lager bereits ein Jahr zuvor im November 1943 aufgelöst worden war und sich Lemberg seit Juli 1944 wieder in der Hand der Sowjetunion befand.37 Um diese Aussage zu stützen, verbindet Felstiner den Geburtsort Celans suggestiv mit dem Janowska-Lager in Lemberg: »Unweit von Czernowitz, im Lager Janowska in Lemberg […], befahl ein SS-Leutnant jüdischen Geigern,38 einen Tango mit neuem Text namens Todestango zu spielen« (ebd.). Von diesem Tango gäbe es eine Schallplattenaufnahme, die »auf dem größten Vorkriegsschlager des Argentiniers Eduardo Bianco«39 basierte (ebd.), der 1939 »vor Hitler und vor Goebbels [auftrat], die beide den Tango dem ›dekadenten‹ Negerjazz vorzogen« (ebd.).40 Wie Fel35

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Felstiner beschwerten offenbar nicht die Bedenken, die Helmuth Kiesel bei dem Gedanken befielen, »die Bezeichnung ›Todestango‹ als Originaltitel der ›Todesfuge‹ zu akzeptieren […], das schreckliche Geschehen, das in Celans Gedicht vergegenwärtigt wird, in Analogie zu der erotisch motivierten und affektiert wirkenden Tanzform zu sehen, die man mit dem Wort ›Tango‹ assoziiert« (Kiesel 1996, S. 562). Kiesel macht sich hier allerdings eine Deutung des Tangos zu eigen, die womöglich weniger dem Tango als seiner sozialen Konstruktion entspringt. Felstiner schließt nicht aus, dass es eine Druckschrift vom 29. August 1944 über das Vernichtungslager Majdanek gewesen sein könnte, die Celan dazu angeregte. Die Rote Armee hatte sie in mehreren Sprachen zu Propaganda-Zwecken weltweit publiziert (ebd., S. 56). Die Stiftung »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« gibt auf ihrer Website ein anderes Datum an: »Am 19. Juli 1944 wurde das Lager vor der Ankunft der herannahenden Roten Armee aufgelöst« (siehe www.memorialmuseums.org). Dem widerspricht nicht, dass am 19. November 1943 alle jüdischen Zwangsarbeiter in einer groß angelegten Aktion ermordet wurden. Danach sei das »Gelände noch als Haftstätte weiterbenutzt, vor allem für nicht jüdische (z.B. ukrainische) Gefangene, die aus den verschiedensten Gründen aufgegriffen worden waren« (E-Mail der Stiftung vom 26. März auf meine Anfrage vom 25. März 2019). Aus dem Fiedler Schatz bei Kulisiewicz werden bei Felstiner »jüdische Geiger«. Dass sich Paul Antschel/Celan angesichts seiner notorischen Geldnot den Besuch eines Bianco-Konzerts leistete, scheint aus drei Gründen unwahrscheinlich: Erstens war Celan nur von November 1938 bis Juli 1939 in Frankreich, zweitens verbrachte er den größten Teil davon aus Kostengründen im billigeren Tours (240 km von Paris entfernt), wo er sich an der École Préparatoire de Médecine auf das Hochschulstudium vorbereitete (Sparr 2020, S. 38ff.), und drittens war Bianco im März 1939 nachweislich in Deutschland und nicht in Frankreich (siehe Kapitel: Das große Debüt). Den Widerwillen der Nationalsozialisten gegenüber der Jazzmusik erklärt der britische Historiker Ian Kershaw so: Sie »schien im Land Bachs und Beethovens massiv die Amerikanisierung nicht nur auf dem Gebiet der Musik, sondern auch in allen Lebensbereichen anzu-

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stiner zu dieser Aussage gelangte, ist rätselhaft. Sie geht in vielfacher Weise an der Wirklichkeit vorbei. Zum einen hatten auch die SA und SS ihre eigenen Orchester und Kammermusikgruppen, die vor allem »dem wachsenden Einfluss der populären Musik« entgegentreten sollten (Potter 2000, S. 36) und Blechblasinstrumente und die Orgel favorisierten. Die Protagonisten von Blechbläsergruppen, so schreibt Pamela Potter weiter, »drängten Jugendgruppen und erwachsene Amateurmusiker, Blechblasinstrumente zu erlernen und an Massenveranstaltungen wie den Parteitagen teilzunehmen, in der Hoffnung, dass die Adepten der Militärmusik nacheifern und den ›Missbrauch‹ der Blechblasinstrumente im Jazz meiden würden« (ebd., S. 36). Insofern hätte es näher gelegen, mit dieser Aufgabe die Bläser statt die Geiger im Orchester zu betrauen. Darüber hinaus sympathisierten die Nationalsozialisten keineswegs mit dem Tango und noch weniger mit der Weise, wie er getanzt wurde. Umso entschiedener betrieben sie nicht nur die Militarisierung und Arisierung des Musiklebens, sondern auch des Geschehens in den Tanzsälen, wie ein Bericht in der Zeitschrift Volkstum und Kultur über die Reichstagung Kraft durch Freude (KdF) in Hamburg unterstreicht. In der »Kampfschrift für nationalsozialistische Kulturarbeit«, wie sie im Untertitel hieß, feierte ein ungenannter Autor dröhnend die Geburt eines neuen Tanzes: »Der deutsche Tanz ist da!« (Tanz und politische Führung 1939, S. 205). Dieser »völkische Tanz«, so hieß es weiter, passe zu »unserem Wesen […] und zu unserer Zeit« (ebd.), er suche die Gemeinschaft, während die anderen Tänze »im Höchstfall einzelmenschliches Vergnügen« (ebd.) seien.41 Tänze wie »Fox und Tango? Nein, so wird nicht mehr gespielt« (ebd.), schloss der Autor, denn diese internationalen Tänze würden »alle Volkstümer in ihrem Adel und ihrer Wesenheit« vernichten (ebd., S. 206).42 Und schließlich dürfte über den Musikgeschmack des »Führers« auch beim Erscheinen von Felstiners Celan-Biografie kein Zweifel bestanden haben: Tangomusik war es jedenfalls nicht. In sieben umfangreichen Biografien über Adolf Hitler,

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kündigen« (Kershaw 2013, S. 24). Die »reaktionäre Bourgeoisie, die mit Befremdung auf die ›Amerikanisierung‹ der großstädtischen Populärkultur in den Zwanzigerjahren« reagiert hatte, dürfte es daher begrüßt haben, dass Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky am 12. Oktober 1935 die »Ausstrahlung von ›Nigger-Jazz‹ im deutschen Rundfunk« verbot (Studt 2002, S. 56). Dieses Verbot betraf jedoch nur »die als ›Niggerjazz‹ bezeichneten ›Auswüchse‹, während ›deutscher‹ Jazz weitgehend gesellschaftsfähig blieb«, schreibt Axel Jockwer, der sich ausführlich mit Unterhaltungsmusik im Dritten Reich beschäftigt hat (Jockwer 2005, S. 426). Zudem seien Gaststättenmusik, Tanzveranstaltungen und Schallplatten von der »für den Bereich Rundfunk geschaffenen Verordnung […] weitgehend unberührt« geblieben. Laut Joseph Wulf bezeichneten die Nationalsozialisten den Tanz eines Paares auch als »Egoismus zu zweien« (Wulf 1963, S. 271), wofür er leider keinen Beleg anführt. Allem ideologischen Getöse zum Trotz hielten auch »die Soldaten moderne Tanzmusik mit Jazz-Einschlag keineswegs für ›entartet‹« (Prieberg 2015, S. 292). Schlager wie »Regentropfen« (im Übrigen ein Tango) verkauften sich weitaus besser als ernste Musik. »Das Gros des deutschen Musikpublikums«, schreibt Prieberg, »war für ›minderwertige‹ Musik« (ebd.).

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die nach dem Ende des »Dritten Reiches« erschienen, sind Hitlers musikalische Vorlieben ausführlich dokumentiert. Auch wenn sie nur einen Bruchteil der »über achtzig wissenschaftliche[n] Biografien zu Hitler« darstellen (Thamer 2018, S. 11), die zum Teil schon zu Lebzeiten erschienen,43 fällt der Befund so eindeutig wie einseitig aus: Hitlers »Passion für Richard Wagner und sein Werk« (Ullrich 2013, S. 448f). Unbestritten ist, »dass Hitler schon seit seiner Jugendzeit ein begeisterter Verehrer Wagners war« (Pyta 2015, S. 67), seine ganze Leidenschaft »den Musikdramen Richard Wagners« galt (Thamer 2018, S. 25), den er als »künstlerisches Genie« verehrte (ebd.). Schon als junger Mann träumte er davon, »Bilder für die Theaterbühne zu entwerfen, am liebsten für das dramatische Musiktheater Richard Wagners« (Pyta 2015, S. 51). Wagner sei als »Musiker, als politisierender Schriftsteller sowie als Persönlichkeit schlechthin das unvergleichliche Bildungserlebnis Hitlers« gewesen (Fest 2013, S. 22). In seiner Wiener Zeit, also mit 18, 19 Jahren, soll Hitler »Lohengrin«, sein Lieblingswerk, »gewiss zehn Mal angeschaut« haben, berichtet sein Jugendfreund August Kubizek (zitiert nach Longerich 2017, S. 31). Und als es den »Mann aus dem Volke«, zu dem er sich gern stilisierte, an die Spitze des Deutschen Reiches getragen hatte, sei Hitler im Hause Wagner in Bayreuth »wie ein Familienmitglied« aufgenommen worden (Ullrich 2013, S. 438). Zu den Bayreuther Festspielen reiste er regelmäßig in die fränkische Provinz. Seine Begeisterung für Wagner war so groß, dass er »kein einziges der Festspiele in Bayreuth« versäumte (Bullock 1961, S. 388). Die »Meistersinger« und die »Götterdämmerung« will Hitler nach eigenem Bekunden mehr als »hundertmal gehört« haben (ebd.). Und dennoch konnte er von Bayreuth nicht genug bekommen. Nicht nur war der »Führer« ein viel geehrter Gast in Bayreuth, sondern auch »Schirmherr« der Festspiele (Potter 2000, S. 54), die er großzügig förderte: Für jede neue Produktion habe er »eine halbe Million Mark zur Verfügung« gestellt (Potter 2000, S. 54). Im Hause Wahnfried wurde Adolf Hitler geradezu verehrt. Im »Gartenhaus« konnte er sich ganz entspannen, war »er wieder der ›Onkel Wolf‹, wie ihn die Wagners seit seinen frühen Tagen als Politiker kannten« (Kershaw 2013, S. 281). Selbst bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Berlin, am 1. August 1936, war es Richard Wagners Huldigungsmarsch, der Hitler auf seinem Weg zur Ehrenloge musikalisch begleitete (Ullrich 2013, S. 622). Und noch Jahre später, als sich Hitler praktisch permanent im Führerhauptquartier Wolfsschanze aufhielt, plärrte am Silvesterabend 1941 »das neu erworbene Grammofon Lieder von Richard Strauss und selbstverständlich den unvermeidlichen Wagner« (Kershaw 2013, S. 610). Sein Leibfotograf Heinrich Hoffmann konstatierte, dass Hitlers Liebe »den Wagner-Opern [galt], höchstens noch den Symphonien von Beethoven und 43

Zum Beispiel die zweibändige Hitlerbiografie Adolf Hitler von Konrad Heiden, die 1936 und 1937 erstmals erschien und als »erste substantielle Studie über Hitler« galt (Heiden 2016, S. 19) und im Jahr 2016 neu aufgelegt wurde.

Verbreitung

Bruckner oder den Liedern von Richard Strauss« (Hoffmann 2011, S. 149). Auch leichterer musikalischer Kost sei er nicht gänzlich abhold gewesen, zum Beispiel Operetten wie »Die lustige Witwe« von Franz Lehár oder »Die Fledermaus« von Johann Strauss (ebd.). Nach allem, was wir wissen, scheint Tango seine Sache nicht gewesen zu sein. Felstiners Spekulationen zur Entstehung des Todestangos und Celans Todesfuge sowie seine durch nichts begründete Aussage zur angeblichen Schwäche Hitlers und Goebbels für den Tango können als widerlegt gelten.44 Ihre Verbreitung hat das nicht aufhalten können, mögen die Widersprüche in seiner Darstellung noch so offenkundig sein.45 Seine Celan-Biografie beglaubigte einmal mehr Kulisiewicz’ Zeugnis, auf den er sich ausdrücklich beruft. Andere wie José Judkovski griffen sie bereitwillig auf: »Während der Tragödie des Holocaust […] begleitete ein Tango diejenigen, die in den Todeslagern sterben sollten. Jüdische Musiker wurden gezwungen, während des Trauermarsches den Tango ›Plegaria‹ des argentinischen Geigers Eduardo Bianco zu spielen. Der bedeutendste deutsche Dichter der Nachkriegszeit, der Jude Paul Celan, nannte ihn ›Tango des Todes‹« (Judkovski 1998, S. 26).46 Das ikonografische Foto vom Lagerorchester Janowska, das auch Felstiner in seiner Celan-Biografie nutzt, wird nun zum gültigen Beweis für die Trias von Todeslager, Todestango (alias Plegaria) und Todesfuge – verbürgt durch die Autorität eines damals an der Elite-Universität Stanford lehrenden Wissenschaftlers. 44

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Die Literaturwissenschaftlerin und Celan-Kennerin Barbara Wiedemann betont, die Todesfuge sei kein Gedicht, »das eigene Erfahrungen in einem deutschen Vernichtungslager thematisiert« (Wiedemann 2011, S. 441). Sie weist nach, dass Celan der Bericht der ASK in der Izvestija vom 23. Dezember 1944 bekannt war und diese Tatsache »unseren Blick auf die Todesfuge« verändert habe (ebd.). Der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr meint, dass der 24-jährige Celan »im Dezember oder um die Jahreswende […] einen Bericht der Iswestija« über die Verbrechen der Deutschen gelesen habe (Sparr 2020, S. 58). Auch andere verlangte es nicht nach Erklärungen. In einem Blog-Beitrag, datiert mit »Moskau 22. Mai 2014«, geht alles – Todesfuge, Todestango und Plegaria – wild durcheinander. Aus Plegaria wird nun die Todesfuge. Wörtlich heißt es: »Obwohl Celans Gedicht Todesfuge anfänglich den rumänischen Titel ›Tangul‹ trug, wurde in der endgültigen deutschen Version aus ›Plegaria‹ die ›Todesfuge‹« Siehe: https://riowang.blogspot.com/search?q=tango+of+death (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Diese Kenntnisse verdankt der Blog-Beitrag offenbar Manuel Adet und seinem Artikel in der argentinischen Digitalausgabe der Regionalzeitung El Litoral (Santa Fe/Argentinien) vom 29. Juni 2013 über Eduardo Bianco y ›El tango de la muerte‹. Dort heißt es, dass Paul Celan im Janowska-Lager war. Die schrecklichen Lager-Erlebnisse habe er nie vergessen können, weshalb er sein Gedicht »Todesfuge« nannte – als »Hommage an den Tango von Bianco«. Siehe: http://bit.ly/el-litoral (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Diese Aussagen sind weder von Felstiner noch von Kulisiewicz gedeckt, aber sie offenbaren die Folgen ihrer Spekulationen. José Judkovski schließt nicht aus, dass der französisch-jüdische Musiker und Freund Carlos Gardels, Marcel Lattes, am 12. Dezember 1943, den Weg in die »Gaskammern zu den Klängen dieses TANGOS« antreten musste (Herv. i. O., Judkovski 1998, S. 26).

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Eduardo Bianco: Der König des Tangos Auch andere Autoren nahmen nicht die Mühe auf sich, Kulisiewicz’ Zeugnis auf seine Verlässlichkeit als historische Quelle zu überprüfen. Stattdessen suchten sie vor allem nach Bestätigung für die Existenz des Todestangos. Dafür war keine Hilfskonstruktion gewagt genug. In der Folge geriet der Argentinier Eduardo Bianco ins Fadenkreuz derer, die diese Idee nicht aufgeben wollten. Um die Geschichte glaubhaft zu machen, dass ein zwischen 1925 und 1927 in Paris komponierter Tango47 17 Jahre später zu einem Todestango in einem SS-Konzentrationslager in Ost-Galizien werden konnte, musste sein erfolgreichster Tango zu einem »Übernachthit in ganz Europa«, einschließlich Warschau, erklärt (Czackis 2009, S. 116)48 und sein

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Willem de Haan gibt das Jahr 1925 an (de Haan 2021, S. 187), Lloica Czackis meint, es sei 1929 gewesen (Czackis 2009, S. 116). Mir lag ein Druck der Noten des spanischen Musikverlags Unión Musical Espanola aus dem Jahr 1927 vor. Union Musical hatte Vertretungen in sieben spanischen Städten und in Paris. Wer eine solche Aussage trifft, müsste mit Blick auf die damalige Medienwelt wenigstens andeuten, wie das möglich gewesen sein soll. Infrage kommen vor allem zwei Medien: Grammofon und Radio. Im Jahr 1925, als Biancos Tangoschlager in Paris erschien, wurden im Deutschen Reich 196.000 Grammofone verkauft, zwei Jahre später waren es bereits 417.400 Stück (Sowade 2008, S. 25). Die Schallplattenproduktion stieg jeweils in den Jahren 1928 und 1929 auf einen »maximalen Stand von etwa 30 Millionen« Stück (Fetthauer 2011, S. 19), was aber bedeutete, dass rechnerisch nur jeder zweite Deutsche eine Schallplatte gekauft hatte (von Exporten einmal abgesehen). Schon 1930 sank die Produktion auf 20 Millionen Stück; 1935 fiel sie im Deutschen Reich auf 5 Millionen Schallplatten, dem tiefsten Stand. Bis 1939 stieg sie wieder auf 14 Millionen Stück. Von sehr populären deutschen Schlagern wie »Regentropfen« wurden 1936 binnen acht Monaten 36.914 Stück und von »Du kannst nicht treu sein« 32.276 Stück im ganzen Jahr verkauft (Prieberg 2015, S. 292). Diese Zahlen bestätigen den Befund von Martin Rempe über den Markt der Tonträger, der bis in »die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in lokale Märkte fragmentiert« blieb. Die theoretische Verfügbarkeit von Musik aus aller Welt habe zunächst »nicht dazu [geführt], dass diese musikalische Vielfalt auch signifikant nachgefragt wurde« (Rempe 2014, S. 207). Rundfunk und Grammofon waren für großstädtische Arbeiterhaushalte mit einem durchschnittlichen Einkommen von etwa 250 Mark im Monat (Angestellte und Beamte verfügten über 400–450 Mark) nahezu unerschwinglich. Das Statistische Reichsamt ermittelte, dass 1927/28 »einem großstädtischen Arbeiterhaushalt durchschnittlich nur 68,13 Mark für die kulturellen und geselligen Bedürfnisse aller Familienmitglieder zur Verfügung standen – wohlgemerkt im Jahr, nicht im Monat« (Dussel 2004, S. 72). Auch 2 Mark monatliche Rundfunkgebühr waren daher nicht leicht zu stemmen. Das gilt auch für elektrische Grammofone, die Telefunken in seinem Roten Hauptverzeichnis 1936–1937 zu Preisen zwischen 64 und 86 Reichsmark oder in Ratenzahlung für 5,65 bis 6,70 RM pro Monat anbot. Siehe https://bit.ly/Hauptverzeichnis (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Das Rote Verzeichnis war der Unterhaltungsmusik (Tanz, Tonfilm, Kabarett und Märsche), das Blaue der »ernsten Musik« (Konzert, Oper und Operette) vorbehalten. Der »Volksempfänger« kostete 1933 zuerst 76 Mark, bis der Preis 1937 auf 59 Mark gesenkt wurde. Der Rundfunk entwickelte sich in der Weimarer Republik vor allem in den Großstädten, al-

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Urheber in einen Nazi-Sympathisanten verwandelt werden, der die Gesellschaft von Königen und Diktatoren wie Mussolini suchte, mit der deutschen Wehrmacht paktierte, vor Hitler persönlich aufspielte und am Ende sogar in Gesellschaft des bekennenden Vegetariers Adolf Hitler drei aus Tirol herbeigeschaffte Schafe verspeiste. Je absurder die Konstruktionen, desto mehr bewährte sich die Regel, dass sich dafür niemals Quellen oder Belege finden lassen werden.49 So auch im Falle Biancos. Geboren wurde er am 26. Juni 1892 in Rosario, Argentinien, als Kind einer »notablen Musikerfamilie« (Ludwig 2002, S. 77). Sein Vater, »Don Miguel Bianco Ciriaco, war Violinist eines Opernorchesters« (ebd.), der sich der musikalischen Erziehung seiner Söhne Francisco Nicolas (geboren 1887) und Eduardo annahm. Während Francisco Sänger und Gitarrist wurde, blieb Eduardo wie sein Vater bei der Geige. Sehr viel mehr ist über seine Kindheit und Jugend nicht bekannt. Im Alter von 31 oder 33 Jahren zog es Bianco, wie andere Tangomusiker auch – zum Beispiel Francisco Canaro, Carlos Gardel, Manuel Pizarro, Juan Bautista Deambroggio –, nach Paris, wo er laut Ludwig die »Leitung eines größtenteils mit Argentiniern besetzten Orchesters übernahm und dort einen Beitrag zur Popularisierung des Tangos in Europa leistete« (ebd.). Zu seiner Rolle als Botschafter des argentinischen Tangos trug zweifellos seine umtriebige Reisetätigkeit bei, die Bianco praktisch um die halbe Welt führte. Der Tango-Lexikograf Horacio Ferrer listet als Stationen Städte wie Rom, Paris, Marseille, Biarritz, Leningrad, New York und Boston auf, lässt aber Berlin, Moskau und Warschau aus. Auch macht er keine genaueren Angaben zu Reisezeiten und Auftrittsorten (Ferrer 1980b, S. 117, Bd. 2). Egon Ludwig fügt noch Biancos Deutschlandaufenthalt ab dem Jahr 1932 hinzu, wo er »viele Konzerte in Berlin gegeben und zahlreiche Schallplatten aufgenommen« habe (Ludwig 2002, S. 77).50 Offenbar war Bianco nicht nur ein guter Tangomusiker und -komponist, sondern auch ein begnadetes Marketingtalent, der es früh verstand, sich als »König des argentinischen Tango« zu inszenieren. Während viele seiner Tango-Kollegen es vorzogen, in Buenos Aires zu bleiben und ihre Musik in Gestalt von Schallplattenaufnahmen zu exportieren (Juan D’Arienzo, Rodolfo Biagi, Edgardo Donato, um nur einige zu nennen), konnte man Bianco und sein Orchester zeitweilig jeden Abend auf einer europäischen Varietétheaterbühne erleben.

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so im Umkreis der Sender, woran sich bis Mitte der 1930er Jahre wenig änderte: »Noch 1935 wohnte fast ein Viertel aller deutschen Radiohörer in Berlin« (Führer 1997, S. 66). Die Folgen hat der Musikwissenschaftler Fred K. Prieberg sehr deutlich benannt: »Wer Fakten ignoriert oder gar nicht erst ermittelt, schafft sich ein Vakuum, in dem er die absurdesten Hirngespinste wuchern lassen kann« (Prieberg 2004, S. 10, Vorwort). Die »Diskografie im Anhang«, auf die Ludwig an dieser Stelle verweist, führt allerdings nur Titel auf, die Bianco zwischen 1939 und 1941 in Deutschland aufnahm (Ludwig 2002, S. 579f.).

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Bis die Sage Platz griff, Plegaria sei der Todestango, hatte Bianco einen untadeligen Leumund, jedenfalls in der lexikalischen Literatur. Horacio Ferrer handelt ihn in seinem großen Tangolexikon El Libro del Tango auf etwas mehr als einer Spalte ab (Ferrer 1970, S. 74f). Über Plegaria heißt es nur, es sei Biancos größter Erfolg gewesen (»mayor suceso«, S. 76). Mit keinem Wort bedenkt Ferrer Biancos angebliche Sympathien für das Nazi-Regime. Auch zehn Jahre später, als sein Werk El Libro del Tango. Arte Popular de Buenos Aires in stark erweitertem Umfang erschien, bleibt Biancos Reputation ohne Makel (Ferrer 1980a, S. 117). Und Ferrers Stimme dürfte in der Tangowelt mehr als andere gezählt haben, wie Julio Nudler betont. Für ihn ist Ferrers Lexikon das »Grundlagenwerk« der Tangoliteratur, an dem »kein Forscher vorbeikommt«.51 Im Falle Bianco leistete sich Ferrer allerdings einige Fehler, die Zweifel an der Verlässlichkeit nähren könnten. In beiden Ausgaben seiner Tangobücher bezeichnet er Bianco als »Bandoneonista«, obwohl ihn die jüngere Ausgabe seines Lexikons auf einer Fotografie mit Geige zeigt und er auf allen bekannten Fotos nie am Bandoneon zu sehen ist.52 Ludwig nennt Bianco daher durchgehend einen Violinisten (Ludwig 2002, S. 77). Bemerkenswert ist, dass weder Ludwig noch Ferrer Biancos Verhältnis zum faschistischen Deutschland einer Erwähnung für wert befanden. Immerhin trieb das Nazi-Regime Bürger und Bürgerinnen jüdischen Glaubens, darunter auch viele Künstler und Musiker, erbarmungslos außer Landes, während sich Bianco in Deutschland als »König des argentinischen Tangos« feiern ließ und sich um Auftrittsmöglichkeiten in den Varietétheatern Berlins bemühte. Mit dieser Haltung war er keineswegs allein. Wie Tausende deutsche Musiker im Dritten Reich dürfte auch Bianco »das Hohelied der Anpassung« (Kühn 2008, S. 99)53 angestimmt und sich nicht mit kritischen Äußerungen über die Nationalsozialisten den Weg auf

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»With more than two thousand pages, it is the binding reference of any researcher.« Julio Nudler auf: www.todotango.com/english/artists/biography/64/Horacio-Ferrer (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Auch Dieter Reichardt bezeichnet Ferrers Tangobuch als »lexikalisches Standardwerk« (Reichardt 1977, S. 13). Dass die zwischen 1955 und 1975 entstandene Tangoliteratur bis heute den »epistemologischen Status eines wissenschaftlichen Wissens« (Anzaldi 2012, S. 17) beansprucht, ändert nichts daran, dass das Tangowissen weitgehend auf mündlicher Überlieferung basiert. Ferrers lexikalischer Fleiß und die Fülle des von ihm zusammengetragenen Materials ist beeindruckend. Auch wenn sein Tangobuch wissenschaftlichen Standards nicht genügt, seine Angaben nicht überprüfbar sind und er keinerlei Belege oder weiterführende Quellenangaben macht – es ist ein großartiges Zeugnis der Tangowelt von Buenos Aires. Lloica Czackis nennt Bianco einen »Akkordeonisten« (Czackis 2009, S. 121). Der Schlagertexter Hans Fritz Beckmann hatte es 1936 in einem Filmchanson so formuliert: »Was auch passiert – geschickt sich anzugleichen und aufzupassen, dass du nicht der Dumme bist: Das ist gescheit. Willst du im Leben was erreichen, mußt du das Leben nehmen, wie es eben ist« (zitiert nach Kühn 2008, S. 100).

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die hauptstädtischen Varietébühnen verstellt haben. »Widerstand«, wie ihn Musiker nach 1945 für sich reklamierten (Heister 2004, S. 340f), hat er sicher so wenig geleistet wie die einheimische Musikerpopulation, die der Musikwissenschaftler Fred K. Prieberg auf »100.000-150.000 Köpfe« schätzte (Prieberg 2004, S. 10). Wer als Orchestermusiker, Maler, Schauspieler oder Schriftsteller in Deutschland tätig sein wollte, musste der »Arbeitsfront der Kulturschaffenden« angehören, genauer der im November 1933 geschaffenen Reichskulturkammer (RKK). Sie wurde am 15. November 1933 »im großen Saal der Berliner Philharmonie in Anwesenheit Hitlers und anderer führender Vertreter von Partei und Staat feierlich eröffnet« (Dahm 2004, S. 76). Die RKK und ihre sieben Einzelkammern für Presse, Rundfunk, Film, Theater, Schrifttum, Musik und bildende Künste waren »gesetzliche Zwangsorganisationen« (Dahm 2002, S. 109), die Künstler als »›freien‹, aber gleichzeitig als staatlich kontrollierten Stand« betrachteten (Föllmer 2016, S. 68). Wer nicht aufgenommen oder ausgeschlossen wurde, stand faktisch vor einem Berufsverbot. Erleichtert wurde vielen Musikern der Beitritt zur Reichsmusikkammer (RMK), weil sie nicht nur einige wichtige Verbesserungen für sie schuf, sondern vor allem »ihre Existenzängste besänftigte und bei einer Reihe von Forderungen nach finanzieller und beruflicher Sicherheit einlenkte« (Potter 2000, S. 34). In relativ kurzer Zeit habe die RMK viele Maßnahmen durchgesetzt, für die sich die einschlägigen Berufsverbände bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten stark gemacht hatten: »Die Einrichtung von Besoldungsrichtlinien für Berufsmusiker, Regelungen für Berufsabschlüsse, Beschränkungen für Amateure, die gegen Honorar auftraten […], die Einführung von Examina und Ausbildungskursen für private Musiklehrer sowie eine Pensionsregelung«, nennt die amerikanische Germanistin Pamela M. Potter in ihrer Studie über Die deutscheste der Künste (Potter 2000, S. 34f). Viele traten auch der Partei bei, nicht nur gezwungenermaßen wie der Pianist Peter Kreuder, der bereits 1932 Mitglied der NSDAP und »1936 zum Staatsmusikdirektor der Bayerischen Staatsoperette ernannt« wurde (Kühn 2008, S. 100). Andere wie Richard Strauss, seinerzeit einer der größten lebenden Komponisten, mimten aus »künstlerischem Pflichtbewusstsein« den Präsidenten der Reichsmusikkammer (Dahm 2004, S. 85), traten aber nicht in die Partei ein, während der Dirigent Herbert von Karajan »vorsichtshalber gleich zweimal in die Nazi-Partei« eintrat, »möglicherweise weniger aus Überzeugung als im Hinblick auf Karrierechancen« (Heister 2004, S. 319). Dass Bianco Argentinier, mithin Bürger eines mit dem Deutschen Reich befreundeten Landes war, das sich bis zuletzt weigerte, in den Krieg gegen Hitler einzutreten (Blaschke 2015),54 dürfte seine Möglichkeiten, als Künstler vor großem Publikum in Erscheinung zu treten, gewiss verbessert haben. Das 54

Der Beitrag ist online verfügbar: https://bit.ly/Blaschke-Argentinien (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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am 4. Februar 1942 verfügte »Verbot feindländischer Schallplattenmusik« betraf ihn nicht.55 Ob Bianco Opportunist oder Mitläufer war oder ob er wie die meisten deutschen Männer und Frauen im Musikgeschäft versuchte, »den drückenden politischen Zwängen auszuweichen […] und ihren Lebensunterhalt zu verdienen«, wie der kanadische Historiker Michael H. Kater in seiner Monografie Die missbrauchte Muse milder als andere urteilt (Kater 2000, S. 19),56 wissen wir nicht.57 Gleichwohl gilt auch für ihn, was Kater über Musiker, Sänger, Komponisten und Dirigenten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt. Sie tauchten »mit einem schweren Makel behaftet« wieder auf: »Ihr professionelles Ethos war beschädigt und ihre Musik oft kompromittiert« (ebd.). Darin ist der nachvollziehbare Grund für die Sage von Biancos angeblichen Sympathien für das Hitler-Regime zu suchen.

Wie ein Tangolyriker Rufschädigung betrieb Wäre Eduardo Bianco nur ein talentierter und erfolgreicher Tangomusiker gewesen, hätte ihm die Nachwelt vermutlich nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Als zwielichtige Gestalt und Nazi-Sympathisant, der angeblich »seine faschistischen Sympathien« offen bekannte,58 und sogar vor Hitler und Goebbels gastiert haben soll, war ihm ein gesteigertes Interesse sicher. Diese Sage, die Autoren wie Torsten Eßer, Lloica Czackis, John Felstiner oder Néstor Pinsón verbreiteten, Letzterer in seinem biografischen Abriss über Bianco auf der Website Todotango,59 geht auf eine einzige Quelle zurück: den Tangolyriker Enrique Cadícamo

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Diese Verfügung ist abgedruckt in Sophie Fetthauers Monografie über die Deutsche Grammophon (Fetthauer 2011, S. 39). Michael H. Kater verhehlt nicht seine Antipathie gegenüber Fred K. Prieberg, dem er eine Neigung »zur Schwarz-Weißzeichnung seiner Porträts« und einen oft schrillen und anklägerischen Ton vorwirft (Kater 2000, S. 9). Nicht viel anders dürfte die Lage in Argentinien ausgesehen haben. Die Militärdiktatur, die ab 1943 die Macht übernahm, hat keinen Schatten auf den Glanz der »Epoca de Oro« geworfen, der goldenen Epoche des argentinischen Tangos. Dieter Reichardt schreibt, dass Libertad Lamarque die »prominenteste und einzige unter den Tangokünstlern« gewesen sei, die »1947 zum Zeichen ihres Protests gegen den Peronismus Argentinien« verließ und sich in Mexiko niederließ (Reichardt 2017, S. 119). Im »Dritten Reich« wie jenseits des Atlantiks trifft das Fazit zu, das Volker Dahm in seinem Aufsatz über Künstler als Funktionäre zieht: »Zu allen Zeiten und allenthalben haben Künstler mit Diktaturen paktiert und von ihnen gelebt« (Dahm 2004, S. 109). So Lloica Czackis: »Without disguising his sympathy with fascist ideals […]« (Czackis 2003, S. 6). Mir lag der Text vor, den Lloica Czackis auf ihre Website gestellt hat. Das erklärt die unterschiedlichen Seitenangaben zu ihrem Beitrag in der Zeitschrift Jewish Quarterly. Siehe: https://lloicaczackis.com/read.html (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). www.todotango.com/english/artists/biography/1187/Eduardo-Bianco (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

Verbreitung

(1900–1999). Dieser Mann scheint für die Genannten schon ob seiner gelebten Lebensspanne die unangreifbare Autorität einer Jahrhundertgestalt gehabt zu haben. Sein Buch La Historia del Tango en Paris, das 1975 in Buenos Aires erschien (Cadícamo 1975), 16 Jahre nach Biancos Tod am 26. Oktober 1959, ist der Ursprung aller Legenden, die sich um den Plegaria-Komponisten gruppieren, vor allem jene des angeblichen Gastspiels vor Hitler, Goebbels und Mussolini sowie Biancos Verehrung für den europäischen Adel.60 Zu ihrer Verbreitung haben auch renommierte Wissenschaftler wie der britische Historiker Simon Collier (1938–2003) beigetragen.61 Collier hatte in den 1960er Jahren an der Universität Cambridge das Fachgebiet Geschichte Lateinamerikas etabliert. Von 1965 bis 1991 lehrte er an der Universität Essex Geschichte. Er war Herausgeber eines Lexikons über Lateinamerika und Verfasser einer Biografie über Carlos Gardel, die 1986 auf Englisch und zwei Jahre später auf Spanisch in Buenos Aires erschien.62 Über Bianco, der laut Collier 1925 in Paris eintraf, heißt es in einem Nebensatz: Später sollte ihm »die einzigartige Ehre zuteilwerden […], in Anwesenheit von Mussolini und Hitler Tangomusik zu spie-

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Für Biancos Liebe zu den Herrschenden seiner Zeit wird gern das Titelblatt eines vierseitigen Notendrucks des »größten Erfolgs des gefeierten Orchesters Bianco-Bachicha« angeführt, den der spanische Musikverlag Unión Musical Española 1927 auflegte und zum Preis von »2 Ptas« anbot. Auf der Titelseite sind ein Konterfei König Alfonsos XIII. und eine Unterschrift Biancos zu sehen. Was man jedoch auf Fotografien nicht erkennt: Es handelt sich um eine aufgedruckte oder aufgestempelte, nicht um eine persönliche Unterschrift Biancos. Ob Bianco mit seinem Namenszug auf dem Titelblatt einverstanden war oder ob sich der Musikverlag davon eine höhere Auflage versprach, muss hier offenbleiben. Auf dem Titelblatt und auch auf den folgenden drei Seiten gibt es keinen Hinweis, dass Bianco diesen Tango König Alfonso XIII. gewidmet hätte. Im Übrigen suchten auch andere Tango-Stars die Nähe zum europäischen Adel, wie überhaupt die Historie dieses argentinischen Kulturexports nach Europa in der Regel als Geschichte eines sozialen Aufstiegs erzählt wird. Danach sehnten sich die Pioniere des wichtigsten Ausfuhrguts nach Rindfleisch und Getreide nach nichts mehr als der Anerkennung des Pariser Bürgertums. Nachdem diese Bastion gefallen war, mochte auch der Pampa-Adel nicht länger zurückstehen: »Paris, das unbestrittene Zentrum für kulturelle Entscheidungen, machte schließlich die verärgerte Aristokratie von Buenos Aires gefügig« (Ossa 1982, S. 148). Der Sänger Carlos Gardel soll sich sehr schwer mit der Provinzialität Buenos Aires getan haben, nachdem er »Paris kennengelernt«, die »Côte d’Azur« gesehen »und den Applaus von Königen genossen« hatte, wie er 1935 der Zeitschrift Sintonía in einem Interview sagte (zitiert nach Reichardt 2017, S. 141). Seinem Ruf tat das keinen Abbruch, so wenig wie dem des Neutöners Arnold Schönberg, der »eine Revolution in der Musik bewirkt hatte« und »ein sich zu Monarchie und Adel bekennender Mann« war (Wiggershaus 1986, S. 98). Nachruf im Guardian: www.theguardian.com/news/2003/mar/15/guardianobituaries.obituaries (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Außerdem veröffentlichte er eine Reihe von Büchern über Tango (Collier 1995) und eine Biografie des Komponisten und Musikers Astor Piazzolla.

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len« (Collier 2003, S. 90),63 wofür er keinen Beleg anführt. Collier, der ab 1991 an der Vanderbilt Universität in Nashville (Tennessee, USA) lehrte, war auch für den Literaturwissenschaftler John Felstiner ein wichtiger Hinweisgeber. Ihm verdankte er die Information, dass die Schallplattenaufnahme des Todestangos »auf dem größten Vorkriegsschlager des Argentiniers Eduardo Bianco« basierte (Felstiner 2014, S. 376, Anmerk. 24). Die Sage vom Gastspiel vor Hitler und Goebbels bildet zusammen mit zwei weiteren – dem Asado beim scheidenden argentinischen Botschafter Eduardo Labougle aus Berlin und Biancos Reise in die stalinistische Sowjetunion zur Zeit der Moskauer Schauprozesse – den Refrain der im Zusammenhang mit dem Todestango über Bianco kursierenden Geschichten. Geboren am 15. Juli 1900, war Cadícamo vor allem Dichter und Librettist. Für Horacio Ferrer ist er eine der »wichtigsten Gestalten in der Entwicklung des literarischen Tangos« (Ferrer 1980a, S. 147). Und Egon Ludwig zählt ihn zu den »herausragenden Vertretern eines mit lyrisch wertvollen Texten unterlegten Tango Rioplatense« (Ludwig 2002, S. 95). Während seines fast hundertjährigen Lebens soll Cadícamo insgesamt 1300 Liedtexte verfasst haben (Ludwig 2002, S. 96). Als seine Historia erschien, war er 75 Jahre alt. Die Ereignisse, über die er berichtet, spielten sich in den Jahren zwischen der Ankunft des von ihm überaus verehrten Carlos Gardel in Paris im Jahr 1928 und 1942 ab. Sie lagen zu dieser Zeit zwischen 33 und 46 Jahre zurück, was auch für ein sehr gutes und langes Gedächtnis ein herausfordernder Zeitraum sein dürfte. Die nur 175 Textseiten starke »Geschichte«, plus 16 Seiten Fotos im Anhang, schöpft vor allem aus der Erinnerung des Autors und dem, was andere ihm über den rastlosen Bianco und sein Orchester zutrugen. Sie basiert mithin vornehmlich auf Kolportage. Es überrascht daher nicht, dass es fast vollständig ohne Quellenangaben auskommt.64 Sein Buch reiht sich damit ein in die vielen Publikationen, die zwischen 1955 und den 1970er Jahren in Argentinien entstanden und die der Hamburger Politikwissenschaftler Franco Barrionuevo Anzaldi unter den Begriff der »Tangografie« fasste. Zum Selbstbild der Intellektuellen der damaligen Zeit habe gehört, »in ihrer Tangoliteratur wissenschaftliche Geschichtsschreibung betrieben zu haben, eine sogenannte ›Tangografie‹« (Anzaldi 2012, S. 15). Ob sich Cadícamo seinerseits als »Tangograf« verstand, beantwortet Anzaldi nicht, vermutlich, weil seine »Historia« zwei Jahre nach dem »Beobachtungszeitraum« – 1955 bis 1973 – erschien, auf den sich Anzaldi konzentriert hatte.

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Diese Aussage wiederholte er knapp zehn Jahre später in Tango. Mehr als nur ein Tanz: »Bianco war der einzige bedeutende Tangomusiker, der vor Hitler und Mussolini auftrat« (Collier; Cooper; Azzi u.a. 1995, S. 200). Eine der wenigen Ausnahmen: Auf S. 167 erwähnt Cadícamo die Nachrichten-»Agentur Reuter« (richtig: Reuters), die angeblich mitgeteilt habe, dass Deutschland im April 1945 »ein unterworfenes, erobertes und besetztes Land ohne politische Existenz« gewesen sei.

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Doch was Anzaldi über die Tangografen schreibt, dürfte auch auf ihn zutreffen: Indem Cadícamo das »vornehmlich mündlich überlieferte Tangowissen« verschriftlichte, trug er seinerseits dazu bei, dass sich die »Tangonarrationen der damaligen Zeit« (Anzaldi 2012, S. 141) nicht nur im »nationalkollektiven Gedächtnis Argentiniens«, sondern auch im kollektiven Gedächtnis der heute zu einem globalen Phänomen angewachsenen Tango-Fangemeinde sedimentierten. Während Anzaldi bereit ist, der Tangografie, wenngleich in »sehr reduktionistischer Weise, einen historiografisch nachvollziehbaren ›Wahrheitskern‹« (ebd.) zu attestieren, fällt es schwer, Cadícamos Historia diese Konzession zu machen. Schon der Titel ist irreführend. Von ernst zu nehmender Geschichtsschreibung kann keine Rede sein. Der Umgang mit harten Fakten mutet abenteuerlich an. Cadícamo macht nirgendwo genaue kalendarische Daten zu Ereignissen und Treffen, mit wem Eduardo Bianco wann zusammentraf oder auf Tournee ging.65 Stattdessen bedient er sich vager Zeitangaben wie »Monate danach«, »zwei Jahre danach«, »einige Monate«, die »folgende Woche«, »in diesem Jahr« – immer ohne ein eindeutiges Referenzdatum anzugeben. Dieser eklatante Mangel an historischer Genauigkeit dürfte ein deutliches Indiz dafür sein, dass der Autor vor allem auf seine nachlassende Erinnerung angewiesen war. So groß Cadícamos Bewunderung für Carlos Gardel war, für den er laut Egon Ludwig »20 Texte« schrieb (Ludwig 2002, S. 95) – darunter »Al subir – al bajar«, »Anclao en Paris« – so unüberwindlich scheint seine Abneigung gegenüber Eduardo Bianco gewesen zu sein. Mit ihm, dem Leiter eines der damals erfolgreichsten und überall in Europa auftretenden Tango-Orchesters, sprach Cadícamo nicht persönlich. Sein Draht zum Orchester und seiner bewegten Geschichte war Juan Pecci, der Erste Bandoneonist bei Bianco. An der Verlässlichkeit seiner Angaben darf man jedoch erhebliche Zweifel haben. Pecci scheint Analphabet gewesen zu sein, was keineswegs so abwegig ist, wie es zunächst klingt. Im Jahr 1914, als Pecci seinen zehnten Geburtstag feierte, konnten fast 36 Prozent aller Argentinier jenseits des 14 Lebensjahres nicht lesen und schreiben.66 Diesen Verdacht drängt Cadí-

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Zu den raren Ausnahmen gehört die Ankunft Gardels in Paris, die Cadícamo auf den 10. September 1928 datiert. Sein Rat, bitte im Kalender »rot anstreichen« (Cadícamo 1975, S. 65). Das gilt im Übrigen auch für Horacio Ferrers Buch El Libro del Tango, wo überwiegend Jahresangaben zu finden sind: »Als Francisco Canaro im Jahr 1925 in Paris ankam […]« (Ferrer 1980a, S. 253). Während bei der ersten Volkszählung in Argentinien im Jahr 1869 noch 77,4 % der Bevölkerung ab 14 Jahren Analphabeten waren, »hatte sich diese Zahl im Jahr 1914 bereits mehr als halbiert (35,9 %)« (Oelsner 2015, S. 44). Zum Vergleich: In Preußen hatte die 1763 eingeführte Schulpflicht zur Folge, dass im Jahr 1846 82 % aller schulpflichtigen Kinder »auch faktisch die Schule besucht hatten« (Nipperdey 2011, S. 448, Anmerk. 9). Zugleich sank kontinuierlich die Rate der Analphabeten zwischen 1800 und 1848, »bis sie vielerorts nur mehr 20 % der älteren Bevölkerung umfasste« (Wehler 1987, S. 521).

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camo seinen Lesern auf, wenn er betont, der Bandoneonist habe ihm vieles über die »unglaubliche, fast zwei Jahre lange Tango-Tour« durch Russland dank seines »außerordentlichen Gedächtnisses« berichten können (Cadícamo 1975, S. 147).67 Wäre Pecci, so fragt man sich, nicht besser beraten gewesen, seine Erinnerungen einem Tagebuch statt seinem Gedächtnis anzuvertrauen, erst recht bei einer so langen Tour? Grundsätzlicher ist ein anderer Einwand: Kaum eine Angabe in der Historia hält einer Überprüfung stand. Cadícamo teilt uns weder den genauen Tag noch den Monat des Debüts von Bianco in der berühmten Berliner Scala mit. Er nennt nur das Jahr 1939 – das bis dahin krisenreichste Jahr des NS-Regimes: Besetzung der Tschechoslowakei und des Memellandes in Litauen sowie der Beginn des Polenfeldzugs und damit des Zweiten Weltkrieges. Mit den örtlichen Gegebenheiten in der damaligen Reichshauptstadt ist er so wenig vertraut, dass er die Scala, die »führende Varieté-Bühne Europas«, wie sie für sich 1933 auf einer Werbepostkarte warb,68 in die Friedrichstraße verlegt, unweit des Beethovenplatzes, »Av. Friedrichstraße, cercana a la plaza Beethoven« (Cadícamo 1975, S. 152).69 Tatsächlich war sie in der Lutherstraße 22–24 (heute Martin-Luther-Straße 14–18) zwischen Nollendorf- und Wittenbergplatz zu Hause. Das Theater, das er im Blick gehabt haben mag und das 67

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Wörtlich: »Me informó Pecci con su extraordinaria memoria.« Cadícamos Darstellung zu Biancos Russland-Tour im Jahr 1936 klingt auf den ersten Blick wenig glaubwürdig, besonders wenn man sich Juan Peccis angebliche Antwort auf die Frage vergegenwärtigt, wie das Essen in der Sowjetunion gewesen sei. Sie bedient das auch heute noch verbreitete Stereotyp über Russen: »Kaviar und Wein [sic!], eimerweise« (»caviar y vinos, a baldes«, ebd., S. 147). Gleichwohl scheint sich Eduardo Bianco zur Zeit des ersten Schauprozesses »gegen das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum« vom 19. bis 24. August 1936 in der sowjetischen Hauptstadt aufgehalten zu haben. In drei Ausgaben der Parteizeitung Prawda vom 22. Juni, 19. und 26. August 1936 wird in einer Annonce auf das »Neue Programm« und das »Tango-Orchester n/a. Bianco (Argentina) und andere Nummern« hingewiesen. Als Dirigent an den drei Abenden wird »Dmitri Pokrass« genannt, dessen Bruder Samuel 1922 einen »TodesTango« und »Todes-Czardasz« (Czardasz Smierci) komponiert hatte. Aus Cadícamos Schilderung der angeblich zwei Jahre währende Russland-Reise Biancos (Cadícamo 1975, S. 147) erfährt man leider nicht, wie Biancos Orchester durch die Sowjetunion reiste, ob mit der Bahn (in der »harten« oder »weichen« Klasse), unter Führung des erst 1929 geschaffenen TouristenBüros Intourist zur Förderung des ausländischen Fremdenverkehrs in der UdSSR oder mit Privatautos, die in der Sowjetunion eher zu den Raritäten gehörten: 1934 kamen auf 6800 Einwohner ein PKW, während die PKW-Dichte in den USA bei 1 zu 6 und in Deutschland bei 1 zu 98 Einwohnern lag. Gern hätte man gewusst, wie Bianco und seine Musiker in einer Welt zurechtkamen, über die der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch Terror und Traum. Moskau 1937 schreibt: »Knappheit und Not sind so wichtige Konstituentien der Zeit wie Hass, Neid und Erschöpfung« (Schlögel 2008, S. 425). https://bit.ly/Scala-Werbekarte (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Dieser Platz war auf den historischen Shell-Karten aus dem Jahr 1939 nicht zu entdecken, jedenfalls nicht unweit der Friedrichstraße in Höhe des Bahnhofs.

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tatsächlich an der Friedrichstraße lag, hieß seit 1934, also kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, »Theater des deutschen Volkes«. Den Sitz der argentinischen Botschaft in Berlin lokalisiert Cadícamo in der Prachtstraße »Unter den Linden« (»la más hermosa avenida«, S. 154). Im Jahr 1939 befand sich die Vertretung aber in der Tiergartenstraße, wie die Botschaft auf Anfrage bestätigte (heute in der Kleiststraße 23–26). Umso gewagter erscheint es, auf der Grundlage dieses Buches Eduardo Bianco zum Nazi-Sympathisanten zu erklären, wie es die Sängerin Lloica Czackis tut. Czackis, die 1973 in Karlsruhe geboren wurde und in Venezuela aufwuchs, gastierte mit ihrem Trio Tangele als Interpretin jiddischer Lieder in den vergangenen Jahren in vielen Städten Europas. Außerdem unternahm sie Forschungen über jiddischen Tango und veröffentlichte ihre Ergebnisse in verschiedenen Zeitschriften wie »Jewish Quartely«. In einem längeren Beitrag »Yiddish Tango: A Musical Genre?« in der Zeitschrift »European Judaism« führt sie aus: Weil Biancos Tangoschlager bei Adolf Hitler und Joseph Goebbels so gut ankam, sei er »zu einem großen Erfolg unter den Nazis« geworden und habe schon bald die Konzentrationslager erreicht, wo die Lagerkapellen Plegaria auf Kommando als Lagerhymne zu spielen hatten (Czackis 2009, S. 116). Auch in Polens Hauptstadt Warschau sei Plegaria ein Hit gewesen.70 Über den Reichtum und die Vielfalt der Musikwelt im Polen der Zwischenkriegsjahre sind wir dank der beeindruckenden Fleißarbeit des polnischen Journalisten Tomasz Lerski sehr gut informiert. Während acht Jahren hatte Lerski in Archiven Polens und anderer europäischer Länder recherchiert und die Ergebnisse in einer schon ob ihres Umfangs beeindruckenden Monografie mit dem Titel Syrena Record. Poland’s first recording company 1904–1939 zusammengetragen und dem Unternehmen damit in der Tat ein würdiges »Denkmal« gesetzt, wie er in der Einleitung 70

Diese Lagerhymne wird bei Czackis allerdings nicht zum Todestango im Janowska-Lager, sondern zu einer »Hymne des Todeszuges« (»hymn of the train of death«, S. 116). Es seien Züge gewesen, die Häftlinge in die Vernichtungslager transportierten. Leider führt sie nicht aus, wie sie zu dem Ergebnis kommt, dass Plegaria zur Melodie für Lagerhymnen mit dem Titel »Todeszug« oder »Todeszüge« wurde. Dass die Reichsbahn »ein unerlässliches Element in der Vernichtungsmaschinerie« war, ist unbestritten, wie Raul Hilberg in seinem Buch Sonderzüge nach Auschwitz schreibt (Hilberg 1981, S. 112). Diese Sonderzüge bestanden im Durchschnitt aus 50, einige aus 60 bis 70 Güterwaggons »sowie einem oder zwei Personenwagen für die Wachmannschaft« (Libionka 2021, S. 126). Sie konnten so »5000 bis 7000 und in einigen Fällen […] bis zu 10.000 Personen aufnehmen« (ebd.), d.h., »die SS pferchte bis zu 160 Personen in einen Waggon« (Lehnstaedt 2017, S. 67). Die Fahrpläne in Abstimmung mit Wehrmachtstransporten erstellte die Abteilung »Sonderzüge«, die Teil des Referats 33 (Passagierzüge) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) war. Die Reichsbahn zählte mithin zu den wichtigsten »›peripheren‹ Apparaten der Endlösung«, wie der in Klagenfurt lehrende Historiker Dieter Pohl schreibt. In ihren Zügen seien »seit Oktober 1941 über drei Millionen Juden in den Tod« befördert worden (Pohl 2001, S. 122).

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schreibt (Lerski 2004, S. 9). Juliusz Feigenbaum, geboren 1872 in Warschau, hatte Syrena Record in der zweiten Hälfte des Jahres 1908 gegründet (ebd., S. 12) und zum erfolgreichsten Schallplattenproduzenten des Landes vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht. Mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf Polen am 1. September 1939 endete auch die Geschichte von Syrena Record. Der letzte Schallplattenkatalog, der die Aufnahmen für Juli und August ankündigte, erschien im Sommer des Jahres 1939. Auf rund 1000 Seiten listet Lerski 14.000 Titel auf,71 die Syrena Record in den 31 Jahren seiner Firmengeschichte produziert hatte – Opern, Operetten, Symphonien sowie leichte Musik wie Lieder, Tanz- und Filmmusik, die den größten Teil der Aufnahmen ausmachen (42 %). Überdies verfasste Lerski annähernd 900 Kurzbiografien zu Leben und Werk der seinerzeit wichtigsten Komponisten, Dirigenten, Sänger und Musiker des Landes. Darunter finden sich auch Namen, die uns zum Teil schon an anderer Stelle begegnet sind: Emanuel Schlechter, der Komponist Jerzy Petersburski, die Dirigenten und Komponisten Henry und Artur Gold sowie Henryk Wars, das Vokalorchester Chór Dana und der Sänger Tadeusz Faliszewski. Auch Biancos größter Erfolg, Plegaria, kam im April 1929 bei Syrena Record heraus. Allerdings stammte die Aufnahme nicht von ihm und seinem Orchester, sondern vom »Chór Dana«, den das »Syrena Record Society Orchester« unter der Leitung von Henryk Gold begleitete (Lerski 2004, S. 370). Wenig später nahm das Salon-Orchester (Orkiestra Salonowa) mit dem Dirigenten Majorossy den »Tango argentynskie Plegaria« auf. Als Komponist wird »Bianco, E.« genannt (ebd., S. 543). Doch auch der »Tango-König« und sein »Orkiestra Argentynska« trugen persönlich zum stetig wachsenden Katalog des Warschauer Schallplattenunternehmens bei. Zwischen Mai und Juli 1936 gab Bianco offenbar ein Gastspiel in der polnischen Hauptstadt, das er nutzte, um mit »seinem exzellenten Orchester die schönsten Stücke aus seinem Repertoire« beim führenden Musikkonzern des Landes einzuspielen. Besonders glücklich schätzte sich Syrena, dass Bianco diese Stücke exklusiv und »nur auf SYRENA-Platten aufgenommen« hatte (Lerski 2004, S. 462) und nicht etwa bei der Konkurrenz Lonora Electro, Christal Electro oder Orpheon. Insgesamt zehn Tangos nahm Bianco mit den Sängern Manuel Bianco und Carlos Moreno auf: »Destino«, »Serrana«, »Canzon de cuna«, »Amanecer«, »Corazon!«, »Portami tante rose«, »Pebeta«, »Lamento gaucho«, »Café conzert«, »Flores de Espana« (Pasodoble). Sein größter Erfolg, Plegaria, war nicht dabei. Das erlaubt vielleicht den Schluss, dass dieser Schlager elf Jahre nach seinem Erscheinen etwas Patina angesetzt hatte.

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Tatsächlich war die Schallplattenproduktion noch größer. Die 14.000 Titel entsprächen etwa 65 Prozent, Nachweise für das übrige Drittel seien als Folge des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen (Lerski 2004, S. 9).

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Schon diese wenigen Angaben verdeutlichen, dass Biancos Plegaria kein so herausragendes Musikstück in der musikalischen Welt Polens gewesen sein kann, wie Czackis und andere glauben machen möchten.72 Die recht allgemeine Rede vom »Übernachthit« ignoriert überdies die dramatischen Folgen, die der Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen auch für die Medienwelt des Nachbarlandes hatte. Verglichen mit dem Deutschen Reich war Polen ein armes Land, was sich auch in der Verbreitung des Rundfunks zeigte. Vor Kriegsbeginn im September 1939 »gab es ca. 1,2 Millionen Besitzer von Rundfunkgeräten« in Polen (Geiss; Jacobmeyer 1980, S. 30, Anmerkung 5), bei einer Bevölkerung von etwa 35 Millionen Einwohnern.73 Das Deutsche Reich hatte bei einer Einwohnerzahl von 62 Millionen zehn Mal so viele oder 12 Millionen Rundfunkteilnehmer (Studt 2002, S. 97). Wie im Deutschen Reich dürfte sich der überwiegende Teil der Radios in großstädtischen Haushalten befunden haben,74 während sich die ländliche Bevölkerung Radios weder leisten noch sie betreiben konnte. Die meisten Bauern mussten ohne Strom auskommen. Sie liefen damit wenigstens nicht Gefahr, wegen Besitz eines Radios von den deutschen Besatzern mit dem Tode bestraft zu werden (Blaszczak 2018, S. 223). Außerdem erging am 15. Dezember 1939 eine Verordnung zur Beschlagnahme von Rundfunkgeräten, ein Schritt, mit dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels »das gesamte Nachrichtenvermittlungswesen der Polen zerschlagen« wollte

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Auch Willem de Haan meinte: Weil Tangos »in den 1930er Jahren nicht nur in Argentinien und Frankreich, sondern auch in Deutschland und Polen populär waren, fanden sie auch Eingang ins Repertoire der Lagerorchester. Das könne erklären, warum das Janowska-Lagerorchester Tangos spielte, und einmal die Popularität des Tangos Plegaria unterstellt, warum Häftlinge diesen populären Tango mit eigenem Text sangen« (de Haan 2021, S. 199, Übers. d. Vf.). Für seine Behauptung, das Orchester im Janowska-Lager habe Tangos gespielt, führt er keinen Beleg an. Außerdem hätten sich viele andere Musikstücke als Kandidaten für einen Todestango angeboten, wenn die Popularität eines Schlagers oder Liedes als Bedingung ausgereicht hätte. Ganz anders beurteilt Dieter Reichardt die Beliebtheit des argentinischen Tangos: Außerhalb Argentiniens und Uruguays sei der Tango »musikhistorisch eine Episode« geblieben. »Von Frankreich und Japan abgesehen, wo er in den 20er und 30er Jahren als exotische Importe geschätzt wurde, beschränkte sich seine Rezeption im Allgemeinen auf den Rhythmus und ein Dutzend im Repertoire der Tanzorchester bald zerschlissener Melodien« (Reichardt 1977, S. 3). Zahlen zur Bevölkerung Polens: Bundeszentrale für politische Bildung: https://bit.ly/Polen_ bpb (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Laut Karl Christian Führer war der Rundfunk ein »großstädtisches Medium« (Führer 1997, S. 66). Während im April 1932 »die Rundfunkdichte im Reichsdurchschnitt bei 24 Teilnehmern pro 100 Haushalten« lag (ebd.), kamen Großstädte mit mehr als 500.000 Einwohner auf fast doppelt so viele Teilnehmer. Im Jahr 1935 habe »fast ein Viertel aller deutschen Radiohörer in Berlin« gewohnt (ebd., S. 66). Anders als Christoph Studt gibt Oliver Rathkolb die Gesamtzahl aller Radioteilnehmer im Jahr 1939 statt mit 11,9 mit 10,8 Millionen und 1942 mit 16 Millionen an, »was de facto einer Totalversorgung gleichkam« (Rathkolb 2006, S. 139).

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(Geiss; Jacobmeyer 1980, S. 30).75 Man kann also annehmen, dass Schlager wie Plegaria bereits drei Jahre lang weitgehend aus der polnischen Medienöffentlichkeit verschwunden waren, bevor er als Todestango im Janowska-Lager eine Art Wiedergeburt erleben und der Legende nach zum meistgespielten Stück werden sollte. Wie im Deutschen Reich waren auch in Polen andere Musiker und Komponisten weitaus geschätzter als gelegentlich bei Gastspielen anwesende ausländische Künstler wie Bianco. Vier Jahre, nachdem der Tango Plegaria angeblich die Hitlisten der Metropolen Europas erobert und der Chór Dana eine »Cover-Version«, wie man heute sagen würde, davon eingespielt hatte, trat ein polnischer Tango seinen Siegeszug um die Welt an, der Biancos Tangoschlager an Popularität weit übertreffen sollte: Jerzy Petersburskis »Tango Milonga«. Petersburski, geboren am 20. April 1895, war Komponist, Pianist und Dirigent und einer der begabtesten Tonsetzer von Unterhaltungsmusik seiner Zeit. Bei Syrena Record sollte er im Laufe seiner Karriere mehr als 200 Aufnahmen einspielen, was einmal mehr unterstreicht, dass auch in Polen andere Musiker beliebter waren als der in Europa zum »König des Tangos« geadelte Orchesterleiter aus Argentinien. Wie in anderen Ländern waren Tangos Ende der 1920er Jahre in Polen en vogue. Und Petersburski war nicht der Einzige, der diese Nachfrage zu befriedigen wusste. Im ersten Quartal 1929 nahm er mit dem Orchester »W Obsadzie Tangowej«, das er und Artur Gold dirigierten, eine Reihe Tangos auf, darunter sieben, die ausdrücklich als »argentinische Tangos« angeboten wurden, weil es sich ausnahmslos um Stücke argentinischer Komponisten wie »E. Bianco« oder »A. P. Berto« handelte. Zu diesen Aufnahmen gehörten unter anderem »Nostalgia Arrabalera«, »Pato« und »Que gaúcha«. Seine Komposition »Tango Milonga« erschien im April 1929 bei Syrena in einer Aufnahme mit der Sängerin Stanisława Nowicka vom »Teatrów Warszawskich« (Lerski 2004, S. 730). Sie wurde sein bekanntestes und erfolgreichstes Stück. Zum Welthit machte es erst der Wiener Bohème-Verlag, der Anfang der 1930er Jahre die Rechte an der »Tango Milonga« erwarb und den Wiener Rechtsanwalt und Schlagertexter Fritz Löhner-Beda (1883–1942) beauftragte, dem Stück einen neuen Text und Titel zu geben. Die Wahl fiel nicht zufällig auf ihn. Löhner-Beda, geboren am 24. Juni 1883 im österreichisch-ungarischen Wildenschwert, war als Spross einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie im Alter von fünf Jahren nach Wien gekommen. Schon als Gymnasiast hatte er begonnen, Verse zu schreiben, wofür er sich das Pseudonym Beda zulegte. Ganz im Sinne der Eltern hatte er zunächst Jura an der Wiener Universität studiert und mit einer Promotion abgeschlossen. Doch mehr als die »Arbeit als ›Konzipient‹ in einem Wiener Anwaltsbüro« lockte ihn »das Leben in der Bohème, Musik, Kabarett, Operetten, der Flirt in den Kaffeehäusern« (Schwarberg 2000, 75

Ganz so einfach ließ sich die Verordnung offenbar nicht durchsetzen, sie wurde mit einer weiteren Verordnung »vom 13. 4. 1940 teilweise wieder aufgehoben« (Geiss; Jacobmeyer 1980, S. 30).

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S. 10). Er schrieb bis heute bekannte und beliebte Schlager wie »Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?«, »Dein ist mein ganzes Herz«, und er gab Petersburskis »Tango Milonga« den Titel und Text, der bis heute Bestand hat: »Oh, Dona Clara«. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Version zum Evergreen, den fast alle der damals bekannten Künstler, ob Willi Kollo oder die Comedian Harmonists, in ihrem Programm hatten. Und noch heute feiern Sänger wie Henry de Winter und Max Raabe mit seinem Palastorchester Erfolge mit »Oh, Dona Clara«. Der Mann, der »die schönsten Lieder der Welt schrieb« (Günther Schwarberg), wurde zwei Tage bevor Adolf Hitler am 15. März 1938 vom Balkon der Wiener Hofburg »den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich« verkündete (Studt 2002, S. 79) von der Gestapo verhaftet und zunächst ins KZ Dachau und danach ins KZ Buchenwald gebracht. »Vier Jahre lang kann das Lagerkomitee in Buchenwald Fritz Löhner-Beda vor dem Transport nach Auschwitz schützen« (Schwarberg 2000, S. 158). Mitte Oktober 1942 wird er zusammen mit 405 Häftlingen nach Auschwitz gebracht, wo ihn sechs Wochen später der Lagerälteste in Auschwitz-Monowitz, Josef Windeck, ermordete (ebd., S. 162). Die »Tango Milonga« hat auch Autoren wie die englische Journalistin Juliette Bretan nicht ruhen lassen. Bretan76 hat sich nach eigenen Angaben auf polnische Kultur spezialisiert. In ihrem Beitrag über die »Tango Milonga« begegnen wir einer Legende, die uns vertraut klingt: »Tango Milonga may have been an international success story in the 1930s, but dur ingthewar, the song took on a darker history. Once a symbol of Polish modernity, the Nazi regime twisted the song into an object of mockery. Petersburski’s cousin, the stirring composer Artur Gold, had been deported from Warsaw to Treblinka in 1942. There, he was ordered by the SS officer and camp commander Kurt Franz77 to establish a camp orchestra. Allegedly forced to perform dressed as a clown, one of the songs that Gold and his band played as other prisoners were sent to their deaths was, supposedly, Tango Milonga. Gold himself was murdered in the camp in 1943.«78 76 77

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Siehe: https://culture.pl/en/article/tango-milonga-polish-interwar-hit (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Kurt Franz war zunächst stellvertretender Kommandant des Lagers unter Franz Stangl, der am 24. August 1942 zum Kommandanten befördert worden war, »jedoch erst Mitte September aus Sobibór anreiste« (Lehnstaedt 2017, S. 83). Erst nach der Abberufung Stangls übernahm er das Kommando für die Monate von August bis November 1943, in denen das Lager aufgelöst wurde. Eine andere Darstellung findet sich in den von Abraham Silberschein herausgegeben Augenzeugenberichten über die Judenausrottung in Polen: »Aber noch eine ›Spezialität‹ hatte das Lager von Tremblinki [sic!]. Es wurde nämlich dort das jüdische Orchester Arthur Golds […] konzentriert. Und es hatte die Pflicht, denen aufzuspielen, die man zum Tode führte!!!! Im gleichen Augenblick, da Tausende von Juden in den Gaskammern verendeten, mussten

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Treblinka war eines von drei Vernichtungslagern (Sobibór, Bełżec und Treblinka), die im Zuge der sogenannten Aktion Reinhard/t entstanden. Es war bis Ende 1942 in Betrieb. In dieser Zeit wurden dort 715.000 Juden ermordet, nur 60 überlebten.

Das große Debüt: Eduardo Bianco in der Berliner Scala Wenn sein Führer nach ihm rief, war Reichspropagandaminister Joseph Goebbels immer zur Stelle. Am Samstag, dem 11. März 1939, um 12 Uhr mittags, ließ ihn Adolf Hitler kommen. Es war der Tag der Entscheidung und Hitler »schon ganz in Aktion«, wie Goebbels notierte. In aller Kürze teilte ihm Hitler mit, was für Millionen Tschechoslowaken das Ende ihrer Republik bedeutete: »Am Mittwoch, den 15. März, wird einmarschiert und das ganze tschechoslowakische Zwittergebilde zerschlagen« (TB, 11. März 1939).79 Nachmittags arbeitete er allein »den Schlachtplan« aus. Von dem Ergebnis ist Goebbels, den sein Biograf Peter Longerich einen »exemplarische[n] Fall von Selbstüberschätzung« nennt (Longerich 2012, S. 15), in höchstem Maße angetan: »Es wird wieder mal ein Meisterstück der Strategie und Diplomatie« (TB, 11. März 1939). Vier Tage später, in der Nacht zum 15. März, marschierte die Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein. Adolf Hitler reiste noch am selben Tag per Sonderzug von Berlin nach Prag, wo er gegen 20 Uhr »unbemerkt von der Bevölkerung in den Hof der Prager Burg« einfuhr (Domarus 1965, S. 1098). Am 16. März verkündete er auf der Burg einen 13 Artikel umfassenden Erlass über das Protektorat Böhmen und Mähren, das »von jetzt ab zum Gebiet des Großdeutschen Reiches« gehöre (ebd., S. 1099) und unter dessen Schutz stehe. Sein Propagandaminister sah nach diesem Coup das Deutsche Reich »nun wenigstens moralisch schon (als) die Herren Europas« (TB, 16. März 1939) und bereitete einen »triumphalen Empfang« für Hitlers Rückkehr vor. Flak-Scheinwerfer bildeten auf der Prachtstraße Unter den Linden einen »Lichterbaldachin«, über dem Höhenfeuerwerke abgebrannt wurden (Longerich 2012, S. 408). Es folgte der Auftritt des »Führers«: »Es ist unbeschreiblich …

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diese Musiker frohe Weisen spielen« (Silberschein 1944, S. 40). Wieder anders liest sich die Geschichte bei Stephan Lehnstaedt: »In Treblinka hatte die SS den bekannten Warschauer Violinisten und Komponisten Artur Gold an der Rampe selektiert, um ein Orchester aus bis zu zehn Personen zu bilden, die dann in einer Art Frack Operettenhits darboten. Auch musste Gold für den stellvertretenden Lagerkommandanten Kurt Franz die Musik zum sogenannten ›Lied von Treblinka‹ schreiben, dessen Text Franz bei dem Häftling Walter Hirsch in Auftrag gegeben hatte. Die Insassen sangen dieses Lied jeden Tag mehrfach – wer es am zweiten Tag seines Aufenthalts noch nicht auswendig konnte, riskierte, erschossen zu werden« (Lehnstaedt 2017, S. 99). Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, 32 Bde. in drei Teilen, München 1993–2008 (Fröhlich 1993–2008). Goebbels’ Tagebücher werden hier in Kurzform als TB mit dem Datum des jeweiligen Eintrags zitiert.

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Göring spricht. Mit Tränen in den Augen. Dann Einfahrt nach Berlin. Das alles ist grandios und noch nie da gewesen. Millionen auf den Beinen« (TB, 20. März 1939). Die Proteste in England und Frankreich über die Besetzung der Tschechoslowakei schienen die beiden Hauptakteure nicht zu beunruhigen, wenigstens bemühten sie sich, diesen Anschein zu erwecken. Reichskanzler Adolf Hitler und seinen Propagandaminister zog es kurz darauf »zum Tarnen«, wie Goebbels schreibt (TB, 23. März 1939), ins »Theater in der Behrenstraße«, wo sie ein »harmloser, aber sehr lustiger Schwank von R. A. Roberts ›Hau-ruck‹« erheiterte (ebd.). Das gleiche Manöver hatten sie schon vor dem Einmarsch praktiziert, als Goebbels und Hitler »zur Tarnung ins Nollendorfplatztheater« gingen und sich die Operette »Landstreicher« von Carl Michael Ziehrer ansahen, die Goebbels als entzückend und »sehr geistreich herausgebracht« beschrieb (TB, 13. März 1939). Anschließend führten er und Außenminister Ribbentrop beim »Führer« noch bis 3 Uhr nachts eine »außenpolitische Debatte«. Eine weitere Nebelkerze warfen sie wenige Tage später bei einem Besuch im »Wintergarten«, einem anderen bekannten Varietétheater in Berlin. »Etwas Entspannung«, meinte Goebbels, könne »nach vieler, harter Arbeit« nur guttun (TB, 25. März 1939). Tatsächlich hatte das NS-Regime »den nächsten außenpolitischen ›Coup‹« bereits im Blick: die gewaltsame Lösung der sogenannten »Memelfrage« (Longerich 2012, S. 409), die Angliederung des weitgehend deutschsprachigen und seit dem Ersten Weltkrieg von Litauen besetzten Gebiets, einem schmalen Streifen entlang des Grenzflusses Memel, das heute zu Litauen gehört. Es war »der letzte außenpolitische Erfolg, der Hitler ohne Blutvergießen zufiel« (Ullrich 2013, S. 832). Schenkt man dem Tangografen Enrique Cadícamo Glauben, fanden Adolf Hitler und sein Reichspropagandaminister im Jahr 1939 noch Zeit, eine weitere der damals berühmten »amerikanischen Zerstreuungsfabriken« (Kracauer 1963, S. 50) aufzusuchen: das Varietétheater Scala in der Lutherstraße 22/24, Ecke Augsburger Straße. Die Bühnen der Scala und des Wintergartens boten, was die Nationalsozialisten nach Darstellung von Christoph Dompke bevorzugten: »heitere, artistisch geprägte Programme ohne politische Anspielungen« (Dompke 2011, S. 132). Der Saal der Scala »fasste mehr als 2200 Personen«. Wenngleich ein Engagement »für die Schauspieler, Sänger und Kabarettisten keine Auszeichnung« war, wie die Operettensängerin und Kabarettistin Loni Heuser anmerkte, so halfen die sehr guten, viel besseren Gagen als im Wintergarten nicht nur Heuser, etwaige künstlerische Bedenken zu zerstreuen (Pütz 1991, S. 96). In der Scala, so hatte der Tangohistoriker Cadícamo geschrieben, gaben Eduardo Bianco und sein Orchester ihr Debüt – in Anwesenheit von Adolf Hitler, Joseph Goebbels, dem Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann und seinem Stellvertreter Rudolf Heß (Cadícamo 1975, S. 153). Bis dahin erschienen Hitler und Goebbels in dem Varietétheater nur zu »Sonderveranstaltungen«, wie etwa einem Konzert des Weltstars und Tenors Beniamino Gigli, der regelmäßig in der Scala gastierte.

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Gastspiele namhafter ausländischer Künstler wusste das Nazi-Regime propagandistisch zu nutzen, um sie gleichsam zu Kulturbotschaftern des neuen Deutschland zu machen (Prieberg 2015, S. 379). An Namen nennt Prieberg den Cellisten Enrico Mainardi, die Geiger Aldo Ferraresi und Barnabás von Géczy, den Bariton Celestino Sarobe und den dänischen Heldentenor Helge Roswaenge (ebd.).

Wenn der seinerzeit bewunderte Tenor Beniamino Gigli wie hier im August 1937 in der Scala gastierte, gehörten auch Adolf Hitler und Joseph Goebbels (hinter Hitler) zu seinen Zuhörern.

Josef Donderer/bpk

Ob Bianco seinerseits in diesem Sinne wirkte, erscheint eher unwahrscheinlich. Dafür war er nicht berühmt genug. Den Ton in der deutschen Unterhaltungsmusik der 1930er Jahre gaben nicht »Tangokönige« wie Eduardo Bianco an, sondern andere wie Barnabás von Géczy, Marek Weber, Adalbert Lutter mit seinem Orchester, das Tanzorchester Walter Fenske und natürlich Peter Kreuder mit seinen Solisten.80 Bianco war sicher kein Unbekannter im Deutschen Reich, aber kein »Star«. Das Tanzplatten-Lexikon des Schallplattenherstellers Electrola vom November 1939 80

Siehe die sehr informative Website: https://grammophon-platten.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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führte 19 Bianco-Stücke auf, sein Hit Plegaria war nicht dabei. Diesen Tango hatte er im Frühjahr 1939 beim Konkurrenten Telefunken eingespielt.81 Andere argentinische Tango-Orchester wie Juan D’Arienzo oder Osvaldo Fresedo kamen bei Electrola auf neun bzw. sechs Titel.82 Ein Vergleich mit der Zahl der Stücke, die allein Géczys Orchester bei Electrola einspielte, unterstreicht die eher marginale Bedeutung original argentinischer Tangomusik im »Dritten Reich«. Der 1897 in Budapest geborene Geiger, der bereits im Alter von 22 Jahren Konzertmeister der Budapester Oper wurde und im Jahr 1924 nach Berlin ging, ist mit mehr als 280 Einträgen im Tanzplatten-Lexikon vertreten83 – Foxtrotts, langsamen Foxtrotts und Walzern sowie Märschen und einigen Tangos. Auch im Rundfunk war Géczy allgegenwärtig. Beim Frankfurter Sender präsentierte er in der Abendsendung »Ein musikalisches Plauderstündchen« vor allem »Schlager, die ab 1937/38 immer öfter im Rundfunk zu hören waren« (Koch 2003, S. 97). Tatsächlich waren Adolf Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels mehrfach Gäste in der Scala, was besonders den »Oberspielleiter« der Scala, Eduard Duisberg, beglückte. Im Jahr 1935 freute er sich, »stolz berichten zu können und zu dürfen, dass die Scala wiederholt von den Spitzen der Regierung besucht wurde. Der Führer und Reichskanzler kam zweimal, der Herr Reichsminister Dr. Goebbels viermal«, wie es im Programmheft der Scala vom August 1935 hieß (zitiert nach Pütz 1991, S. 67). Goebbels beließ es nicht dabei. Er war in der Lutherstraße Dauergast, der sich besonders von den Gastspielen des damals berühmtesten Clowns Grock angezogen fühlte. In diesen häufigen Scala-Besuchen des Reichspropagandaministers dürfte eine Erklärung für die Sage von Biancos Debüt vor Hitler und Goebbels zu finden sein. Es liegt immerhin im Bereich des Wahrscheinlichen. Außerdem erlangte die Scala ihre dominierende Stellung erst in der 1930er Jahren: »1941 war sie Deutschlands größtes Varieté- und Revuetheater«, schreiben der Theaterwissenschaftler Wolfgang Jansen und der frühere Leiter des Bildarchivs Preußischer Kulturbesitz (BPK), Karl H. Pütz, zur Geschichte der Scala (Pütz 1991, S. 53). Akrobaten wie die Talo Boys, Tänzerinnen wie Marie Hollis und Sängerinnen wie Loni Heuser und natürlich Tangomusiker wie Bianco, die in der Scala Gastspiele gaben, standen mithin generell unter Verdacht, Parteigänger des Regimes zu sein.

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Zwei Jahre zuvor, im mehr als 60 Seiten starken Roten Hauptverzeichnis 1936–1937 der Telefunken, ist Bianco mit keiner Aufnahme vertreten. Für das »Tango-Chanson« »Poema«, den die Tangokapelle Bernardo Alemany bei Telefunken einspielte, wird er als Texter genannt. Von Juan D’Arienzo führt der Electrola-Katalog u.a. folgende Tangos auf: Florida, De mi Flor, El Cabure, EI Cencerro, EI Choclo, El Esquinazo, El Triunfo, Paciencia, Union Civica. Von Osvaldo Fresedo: Adios Para Siempre, Siempre Es Carnaval, Aromas, Dulce Amargura, Besos Brujos, EI Campeón. Siehe: https://grammophon-platten.de (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

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Welche Sänger, Akrobaten, Jongleure oder Tänzer auf der Scala-Bühne standen, ist nirgendwo so gut dokumentiert wie in der BPK-Bildagentur am Märkischen Ufer in Berlin, die Teil der 1957 gegründeten Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist. Zu ihrem Bestand an Fotosammlungen gehört der gesamte Nachlass des Berliner Fotografen Josef Donderer (1903–1958) – etwa 200.000 Kleinbildfilmnegative aus den Jahren 1933 bis 1945 und weitere 25.000 Negative aus den Jahren 1954 bis 1958. Donderer war seit 1934 Hausfotograf der Scala,84 er galt in Deutschland als einer der »ganz wenigen Spezialisten für Theater- und Varieté-Nachtaufnahmen« (Pütz 1991, S. 178). An dem Objektiv seiner Contax-Kamera kam niemand vorbei, der sich auf der Bühne der Scala dem Publikum präsentierte.

Eduardo Bianco, der »König des Tangos«, und Orchester bei ihrem Debüt in der Berliner Scala im März 1939. Die Phantasiekostüme entsprachen wohl weniger dem Wunsch der Musiker und mehr den Erwartungen des Publikums.

Josef Donderer/bpk

Auch »Eduardo Bianco und sein Original Argentinisches Tango-Orchester« nicht, wie es im Scala-Programm vom März 1939 heißt. Mit anderen Worten: 84

Die BPK-Archivare haben anhand der Scala-Programme und anderer Quellen in einer langwierigen Arbeit fast alle Künstler, Sänger, Tänzer und Akrobaten identifiziert, die auf Donderers Fotos zu sehen sind. Das erleichtert die Suche in den Fotobeständen enorm.

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Eduardo Bianco hatte sein Debüt im März 1939, jenem Monat also, als Adolf Hitler in Prag die Zugehörigkeit des »Protektorats Böhmen und Mähren« zum »Gebiet des Großdeutschen Reiches« verkündete. Im Donderer-Nachlass, der bis zum Januar 1934 zurückreicht, gibt es keine früheren Fotos von Bianco. Bedauerlicherweise ist den Aufnahmen nicht zu entnehmen, an welchem Tag genau er und sein Orchester auftraten. Sie sind nur nach Monaten und Jahren datiert. Auch die Scala-Programme, die den dickleibigen Ordnern mit den Kontaktabzügen von Donderers Fotos beiliegen, tragen kein Tagesdatum. Es kann die erste Hälfte oder auch die zweite Hälfte des Märzes gewesen sein – das Programm wechselte nicht täglich, sondern alle zwei Wochen. Der Scala-Direktor Eduard Duisberg, geboren 1892 in Marburg und damit so alt wie Bianco, hatte im Jahr 1929 vom Theater Flora in Hamburg-Altona das »amerikanische System« übernommen, »bei halbmonatlichem Programmwechsel pro Tag zwei Vorstellungen zu zeigen« (Pütz 1991, S. 62). Im Jahr 1931 kostete der teuerste Platz in der Scala am Nachmittag 2 Reichsmark und am Abend 4. Das wären nach heutiger Kaufkraft etwa 7,60 und 15,20 Euro.85 Für Biancos ersten Auftritt in der Scala sollen die Wehrmacht und die Gestapo Werbung gemacht haben, behauptet Cadícamo (Cadícamo 1975, S. 153). Das passt in sein düsteres Bild, das er von Bianco als Nazi-Anhänger zeichnet. Den erhofften Erfolg scheinen die vereinten Werbeanstrengungen nicht gezeitigt zu haben: Dass die Scala dem »König des Tangos« den Hof gemacht habe, kann man nicht behaupten. Bianco war bei seinem Erstauftritt eine unter vielen Nummern, aber nicht die Hauptattraktion des Abends. Er und seine Musiker tauchen unter dem Programmpunkt 8 auf, hinter Otto Stenzel, der das Unterhaltungsprogramm mit seinem Scala-Orchester eröffnet hatte, der Tänzerin Marie Hollis, der Komikerund Akrobatentruppe Talo Boys und dem Humoristen Hellmuth Krüger. Bei ihrem Auftritt tragen Bianco und seine Orchestermitglieder Fantasiekostüme, von denen sie wohl annahmen, dass sich ihr Publikum so argentinische Gauchos vorstellte: Stiefel, pludrige Pumphosen, eine kurze Samtjacke mit Umschlägen an den Ärmeln und weiße große Tücher um den Hals.86 Und um den etwas fülligeren Bauch von Bianco, der in seinem 47. Lebensjahr war, spannte sich ein Schmuckgürtel,

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Kaufkraftvergleiche historischer Geldbeträge: https://bit.ly/Bundesbank-Kaufkraftvergleich e (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Eine andere Erklärung bietet die englische Schriftstellerin Artemis Cooper an: Nach dem Ersten Weltkrieg hätten französische Gesetze ausländischen Musikern in Paris vorgeschrieben, nur in »Nationaltracht« aufzutreten, was Tango-Musiker zwang, »sich als Gauchos mit pludrigen Bombacha-Hosen zu kostümieren« (Cooper 1995, S. 104). Den Tanzsaalbesitzern habe diese Vorschrift gut ins Konzept gepasst, die nun ihrerseits die Musiker verpflichteten, »in ihren Gaucho-Kostümen anzureisen, um so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen« (ebd.).

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breit wie eine Schärpe. Bianco spielte laut dem Programm sechs Stücke, die wie folgt aufgeführt sind: »Duelo Criollo (Tangofantasie von Razzan), Nocturno (Tangolied von Eduardo Bianco, Gesang: Mario Visconti), Marin Pescador (Ranchera Argentina von Pracanico), La Cumparsita (Tangofantasie von Rodriguez), Plegaria (Tangolied von Eduardo Bianco, Gesang: Mario Visconti), Bohemia (Paso doble von Eduardo Bianco).«

Ausschnitt aus dem Programm der Scala vom März 1939. Eduardo Bianco tritt kurz vor der Pause auf. Sechs Lieder durfte er spielen, eine Zugabe gab es nicht.

Scan der bpk

Sein Debüt in der Scala wird kaum länger als 20 Minuten gedauert haben. Eine Zugabe durfte Bianco nicht geben. Auch größeren Stars war das nicht erlaubt, wie Loni Heuser erfahren musste, deren Namen die Scala »mit Neonbuchstaben

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über den Eingang schrieb« (siehe ihren Bericht in: Pütz 1991, S. 95).87 Nach Biancos Premiere ging es pünktlich in die Pause und unter dem Programmpunkt 9 mit Otto Stenzels Scala-Orchester weiter. Anders als der Tenor Beniamino Gigli war der Tangokönig Bianco beileibe kein Weltstar. Dieser Hinweis scheint nötig, weil er schon allein geeignet ist, die Mär ins Reich der Hirngespinste zu verweisen, Hitler und Goebbels hätten sich seinet- und des Tangos wegen in die Scala bemüht. Doch es gibt weitere Fakten, die vor allem Joseph Goebbels lieferte. Wo sich der Reichspropagandaminister gerade aufhielt, wen er traf und was ihn beschäftigte, hat Goebbels mit einer Besessenheit in seinen Tagebüchern dokumentiert, die ihresgleichen sucht und definitiv die Aussage erlauben: Im fraglichen Monat März 1939 waren Hitler und Goebbels mit Sicherheit nicht Gast in dem Varietétheater. Darüber hinaus ist es nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, welches Thema im März 1939 das Deutsche Reich beherrschte: die Besetzung der Tschechoslowakei und damit die Angst vor einem weiteren Krieg. »Seit dem 13. März dominierte in der deutschen Presse die tschechoslowakische Krise«, schreibt der Historiker Peter Longerich in seiner Goebbels-Biografie (Longerich 2012, S. 408). Goebbels ist im März 1939 an acht Abenden mit Hitler zusammen, sei es auf Diplomatenempfängen (1. März), Wirtschaftsempfängen (3. März) oder Künstlerempfängen (5. März) oder einfach nur beim Führer (14. und 15. März).88 Trotz einer Nierenkolik nimmt Goebbels am 7. März am »Empfang der Propagandisten im Ministerium teil«, der bis 1 Uhr nachts dauert. Am 8. März ist er wegen quälender Schmerzen infolge eines Nierensteins ans Bett gefesselt. Und kaum ist der am 9. März abgegangen, eilt er am Abend zum »Empfang der Regierung beim Führer. Großer Auftrieb« (TB, 10. März 1939). Er redet bei der Jahrestagung der Reichsfilmkammer in der Krolloper (11. März), fährt am Abend darauf in sein Haus am Bogensee und schläft sich anschließend »mal richtig aus« (TB, 12. März 1939) oder geht mit dem Führer, wie bereits weiter oben erwähnt, ins »Nollendorfplatztheater« (TB, 13. März 1939). Am 13. März ist Goebbels »abends beim Führer«, der den zu dieser Zeit bereits abgesetzten slowakischen Ministerpräsidenten Jozef Tiso empfing und ihm »klarmacht, dass die historische Stunde der Slowaken gekommen ist« (TB, 14. März 1939). Was Goebbels »klarmachen« nennt, ist wohl besser mit Erpressung beschrieben: Sollte die Slowakei nicht ihre Selbstständigkeit erklären und sich von der Tschechoslowakei lösen, könnte Hitler für die folgenden Ereignisse nicht mehr garantieren 87

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Loni Heuser hatte bei ihrer Premiere in der Scala, überwältigt von dem begeistert applaudierenden Publikum, kurz entschlossen zwei Zugaben gegeben, als mitten in der zweiten der Vorhang fiel. Die Gründe erklärte ihr anschließend Direktor Eduard Duisberg in unmissverständlichen Worten: »Du hast zwölf Minuten und nicht mehr. Ohne Erlaubnis gibt es keine Zugabe. Hier geht alles nach Minuten und Sekunden« (Pütz 1991, S. 95). Viele Einträge in Joseph Goebbels’ Tagebüchern beginnen mit »Gestern«. Das heißt, dass ein Eintrag von Freitag, 3. März 1939 sich auf Ereignisse des Vortags, also Donnerstag, 2. März, bezieht.

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(Bullock 1961, S. 485). Einen Tag nach dem Treffen mit Hitler rief das Parlament in Bratislava (Preßburg) die Selbstständigkeit der Slowakei aus, um sich zwei Tage später auf Ersuchen Tisos unter den Schutz des »Großdeutschen Reiches« zu begeben (Ullrich 2013, S. 830). Zu dieser Zeit, es ist der 15. März 1939, ist Hitler bereits auf dem Weg nach Prag, um »Hacha feierlich die neue Verfassungsurkunde von Böhmen und Mähren zu überreichen« (TB, 16. März 1939). Erst am Samstagabend des 19. März kehrte Hitler nach Stationen in Brünn, Wien und Linz nach Berlin zurück (Ullrich 2013, S. 830). Sein Propagandaminister ist derweil bei einem »Empfang der Tobis im Kaiserhof« zu Ehren des Schauspielers Emil Jannings (»Der blaue Engel«, 1930), dem er in seinem 45. Lebensjahr im »Auftrage des Führers die Goethemedaille« übergab (TB, 19. März 1939). Nicht einen Abend im März 1939, so lässt sich lückenlos zeigen, verbringen Joseph Goebbels und Adolf Hitler im Varietétheater Scala. Das »größte politische Geniestück aller Zeiten«, wie Goebbels die Besetzung der Tschechoslowakei feierte, nimmt die beiden offenbar derart in Anspruch, dass dafür keine Zeit mehr bleibt. Wie sehr die Anspannungen dieses Monats trotz aller äußerlich zur Schau getragenen Gelassenheit an den Kräften des »Führers« und seines Propagandaministers gezerrt hatten, zeigte sich zum Monatsende. Hitler reiste am späten Abend des 25. März nach München ab, um sich ein paar Tage auszuruhen (TB, 26. März 1939) und Goebbels brach zwei Tage später zu einer lange geplanten Reise auf und traf am Dienstagmittag in Budapest ein (TB, 28. März 1939). Wenn schon nicht im März 1939, so war Propagandaminister Joseph Goebbels in diesem Jahr noch genau zweimal in der Scala, und zwar am 17. April, wo er den Clown Grock sieht und »wieder mal Tränen« lacht, und eine Woche später am 24. April, zusammen mit Rudolf Heß und »dem Führer«, der vier Tage zuvor seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte. Und wieder steht Grock auf dem Programm, bewundert Goebbels »den großen Humoristen« (TB, 24. April 1939). Danach kommt das Varietétheater »Scala« in seinen Tagebüchern nur noch vor, weil sich Mitglieder des Varietétheaters offenbar despektierlich über den Nationalsozialismus geäußert hatten. Er drohte: »Denen werden wir KZ aufbrummen« (TB, 17. Oktober 1939). Tatsächlich wurden »fünf Angehörige der Scala – Otto Stenzel, die Sängerin Anita Spada-Kambeck, der Pressechef Will Meyer, der Conférencier Heinz Heimsoth und ein Scala Girl – festgenommen und in verschiedene Konzentrationslager eingeliefert« (Pütz 1991, S. 67). Stenzel kehrte alsbald zurück. Im Herbst 1940 oblag ihm bereits die »musikalische Leitung« der Varieté-Revue »Das ewig Weibliche«. Und spätestens im Jahr 1942, bei der Festspiel-Revue »… und abends in die Scala!« in der Inszenierung von Eduard Duisberg stand er mit dem »neuen Scala-Orchester« wieder auf der Bühne. Folgt man dem Tangografen Enrique Cadícamo, gehörten bei Biancos Debüt in dem Varietétheater noch »die braune Eminenz« der NSDAP, Martin Bormann, Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß sowie ein »Gefolge niederer NS-Chargen« (Cadícamo

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1975, S. 153) zum Tross Hitlers und Goebbels. Heß, der laut dem Hitler-Biografen Konrad Heiden ein »Hitler völlig ergebener, ja höriger Mensch« war (Heiden 2016, S. 456), soll an diesem Abend, so Cadícamo, »kurz vor seiner Abreise nach London« gestanden haben (ebd., S. 153).89 Demnach wäre Biancos Debüt kurz vor dem 10. Mai 1941 und nicht im März 1939 gewesen. Denn an diesem Tag flog Heß »in einem Akt konfusen Heroismus« (Fest 2013, S. 264), aber offenbar mit Billigung Hitlers (Studt 2002, S. 154),90 nicht nach London, wie Cadícamo meint, sondern nach Schottland, »um die Briten im gleichsam allerletzten Augenblick vor dem Beginn des Unternehmens ›Barbarossa‹, also dem Bruch des Molotow-RibbentropVertrags und des Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, doch noch zu einer Allianz mit dem ›Dritten Reich‹ zu bewegen« (ebd.).91 Sein Ausflug auf die Insel brachte dem »Jünger und Privatsekretär Hitlers« (Ullrich 2013, S. 431) außer Häme und dem Ausschluss aus der NSDAP92 eigentlich nur eines ein: Er bewahrte ihn beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess vor dem Strick. Eduardo Bianco hatte noch zwei weitere Auftritte in der Scala, und zwar im Oktober/November 1940 und im März 1942. Im Herbst 1940 ist er in der Varieté-Revue »Das ewig Weibliche« in der Inszenierung von Eduard Duisberg zu sehen. Wieder sind die Stars andere und nicht der »König des Tangos« und sein Orchester: die Operettensängerin Loni Heuser, Polly Frank, Werner Fuetterer, Anita Spada sowie die Schwestern Hedi und Margot Höpfner, die »Erste[n] Solotänzerinnen des Deutschen Opernhauses«, die für ihren Auftritt in der Scala eine Sondererlaubnis der Oper »einzuholen« hatten (siehe Margots Bericht in: Pütz 1991, S. 93). Sie werden im Programm als »Mitwirkende« ganz oben aufgeführt. Alle sechs sind aus Deutschland und treten im ersten Teil auf. Danach folgen die »Attraktionen« oder, wie man auch sagen könnte, die Ausländer. Das Herkunftsland gibt das Programm jeweils in Klammern an: Zu den Ausländern zählen Bianco, der als »Troubadour der Frauen (Argentinien)« angekündigt wird, Kambar (Persien), Renée & Ramé (Protektorat), Prinzessin Ming Chu (Japan) oder das Borry Trio (Russland) sowie drei Orchester und 20 Scala Girls. Auf ihren argentinischen Troubadour mussten die Frauen aller-

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Wörtlich heißt es: »poco antes de ausentarse a Londres« (Cadícamo 1975, S. 153). Hans Günter Hockerts meint, Rudolf Heß sei »im Vorfeld des Angriffs auf die Sowjetunion wahrscheinlich aus eigener Initiative nach Schottland geflogen« (Hockerts 2002, S. 93), ebenso wie Joachim C. Fest, der von Heß’ »eigenmächtigem Englandunternehmen« spricht (Fest 1997, S. 270). Sein Flug wurde auch vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg verhandelt: »Heß flog in Hitlers Auftrag nach England«, titelten die Nürnberger Nachrichten am Samstag, 9. Februar 1946. Die NN verfolgten wie kaum eine andere deutsche Tageszeitung den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. »Heß seit 1942 nicht mehr in der Partei«, meldete die Süddeutsche Zeitung am 4. Januar 1946. Am 7. Oktober 1942 sei er aus »der Mitgliederliste der NSDAP gestrichen« worden.

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dings lange warten, er konnte sich erst im zweiten Teil unter dem Programmpunkt 18 in Szene setzen.

Drei Jahre nach seinem Debüt ist Eduardo Bianco im März 1942 erneut in der Scala. Pluderhose und Schärpe hat er nun gegen einen Frack eingetauscht.

Josef Donderer/bpk

Von diesem Auftritt und dem nächsten im März 1942 hat Josef Donderer zahlreiche Fotos gemacht, die die Aussage erlauben: Goebbels und Hitler gehörten weder im Herbst 1940 noch im Frühjahr 1942 zu Biancos Zuhörern, wenigstens finden sich im Donderer-Nachlass keine Aufnahmen. Überraschend ist das nicht. Eine heitere und forsche Revue wie »Das ewig Weibliche« dürfte nur geringen Reiz auf den Wagner-Fan Hitler oder auf Goebbels ausgeübt haben, der richtig ins Schwärmen kam, wenn Furtwängler Bach oder Beethoven »großartig hinhaute«.93 Auch das Programm im März 1942, wo Bianco als »König des Tangos« erscheint und die Tänzerin »Anita Costa« mitwirkte, hätte den beiden viel Geduld abverlangt: Bianco, der nun anders als seine Musiker einen Frack trug, trat erst kurz vor der Pause auf – als zwölfter Programmpunkt.

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»Abends Philharmonie. Furtwängler dirigiert […] Konzert für 3 Klaviere von Bach, klar und fast mathematisch, ›Tod und Verklärung‹, großartig hingehauen« (TB, 3. Oktober 1940).

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Gegen die Anwesenheit von Adolf Hitler und Joseph Goebbels bei Biancos Konzerten im Frühjahr 1942 spricht vor allem die dramatisch veränderte politische und militärische Lage. Schon ein Jahr nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte ein Teil des Kriegsgeschehens große Teile des Deutschen Reiches erfasst, wozu vor allem die Entscheidung des britischen Kabinetts vom 11. Mai 1940 beigetragen hatte, den Luftkrieg gegen Deutschland zu beginnen. Es vergeht nun kaum ein Tag, wo Goebbels in seinem Tagebuch nicht die Dauer des »Luftalarms«, »Einflüge ins Reich« oder die Schwere von »Bombenangriffen« erwähnt. »Kaum Bomben auf Berlin«, notiert er am 1. Oktober (TB, 1. Oktober 1940). Einen Tag später heißt es: »In Berlin kaum Schäden. Also wieder einmal Ermüdungsflüge der Engländer«. Am 8. Oktober 1940 notiert Goebbels: »Schwerster Angriff der Engländer. 25 Tote und 50 Schwerverletzte«. Zwei Tage später: »Schwere Bombenangriffe auf Bremen.« Einen Monat später ist Hamburg Ziel der britischen Bomber: »Schwere Angriffe auf Hamburg mit beträchtlichem Schaden« (TB, 17. November 1940). Je länger der Krieg dauert und je schlechter es um das »Dritte Reich« stand, desto mehr Zeit raubten ihm die verstärkten Propagandaanstrengungen, vor allem das Prüfen von Filmen, dem »besten Mittel zur Führung des Volkes und zur Aufhellung der inneren Stimmung« (TB, 22. März 1942). Hinzu kam die Durchsicht der jeweils aktuellen »Wochenschau«, dem wichtigsten Propagandamittel des Nazi-Regimes während des Krieges. Dafür waren viele Abende reserviert. Außerdem hatte das Deutsche Reich am 11. Dezember 1941 den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärt und damit alle Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende zunichtegemacht. Umso wichtiger wurde der Film als Stimmungsaufheller, zumal sich das Blatt an vielen Fronten gegen die Deutschen wendete. An der Ostfront zerrte ab Ende 1941 die »Winterkrise« an den Nerven Adolf Hitlers und seiner Generäle. Hitler hatte offiziell am 19. Dezember 1941 auch den Oberbefehl des Heeres übernommen, nachdem er zuvor dem bisherigen Oberbefehlshaber von Brauchitsch »den Laufpass« (Kershaw 2013, S. 606) gegeben hatte. Hintergrund war der unerwartete Rückzug der Deutschen: Am 2. Dezember 1941 waren deutsche Spähtrupps gerade noch 20 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernt, standen die Dritte und Vierte Panzerarmee »etwa 30 Kilometer nördlich des Kreml« (ebd., S. 594). Doch nur drei Tage später, am 5. Dezember 1941, ging die Rote Armee »überraschend zur gut vorbereiteten Gegenoffensive ihrer ›Westfront‹ über« (Ueberschär 2011, S. 109). Die deutschen Verbände wurden zwischen 100 und 280 km zurückgedrängt. Erst Ende Januar 1942 gelang es dem deutschen Heer, die Ostfront zu stabilisieren – allerdings zu einem hohen Preis: Bis zum 31. Januar 1942 verlor es »etwa 6000 Flugzeuge, 3254 Panzer und Sturmgeschütze sowie fast 918.000 Mann an Verwundeten, Gefangenen, Vermissten und Gefallenen; dies entsprach etwa 28,7 Prozent der Durchschnittsstärke

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von 3,2 Millionen Soldaten des Heeres« (ebd., S. 116).94 Generalfeldmarschall von Brauchitsch, den Hitler entlassen hatte, erkannte nüchtern, dass der Ostfeldzug »als nicht gewonnen bezeichnet werden müsse« (ebd., S. 109). Die »Winterkatastrophe«, urteilt Kershaw, kann man »nicht nur als einen Wendepunkt, sondern auch als den Anfang vom Ende betrachten« (Kershaw 2013, S. 613). Das galt auch für die Luftherrschaft über große Teile Deutschlands, die »bereits 1942 an die Alliierten übergegangen« war. Der »Hitler-Mythos« (Kershaw) verlor in der deutschen Bevölkerung beträchtlich an Strahlkraft. Schwere Angriffe flog besonders die Royal Air Force »hauptsächlich gegen Städte im nördlichen und nordwestlichen Deutschland« – Hamburg, Lübeck, Rostock, Köln, Essen, Bremen und andere (Kershaw 2018, S. 261). Nach Jahren der Triumphe, dem Anschluss Österreichs, dem Einmarsch in die Tschechoslowakei und dem schnellen Sieg über Frankreich tauchte vor Hitler und den deutschen Soldaten erstmals das Gespenst der Niederlage auf. Adolf Hitler, Reichskanzler und Oberbefehlshaber des Heeres, kam nun kaum mehr aus dem Führerhauptquartier Wolfsschanze in Rastenburg heraus (rund 200 km östlich von Danzig), das Beobachter »treffend als eine Mischung aus Kloster und Konzentrationslager« beschrieben haben (Fest 2013, S. 944). Am 12. Februar 1942 reiste er nach Berlin, wo er an dem Staatsbegräbnis für den Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt, teilnahm und die Totenrede hielt. Todt, »der führende Kopf beim Bau der Autobahnen und des Westwalls« (Kershaw 2013, S. 662), war bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt. Den März 1942 verbrachte Hitler fast durchgehend in der Wolfsschanze, wie die Aufzeichnungen Heinrich Heims über Hitlers »Monologe im Führerhauptquartier« (Jochmann 1980, S. 307ff) und »Hitlers Tischgespräche« von Henry Picker zeigen (Picker 1997, S. 159ff). Nur einmal, am 15. März 1942, verließ er die Wolfsschanze, um sich zur Feier des Heldengedenktags erneut nach Berlin zu begeben, wo er vor allem »der schlechten Stimmung in der Bevölkerung entgegenwirken« wollte, in der Hitlers Stern zu sinken begann. Dazu hatten auch die großen Verluste an der Ostfront beigetragen. Am 19. März 1942 war er schon wieder im Führerhauptquartier, wo er fünf Tage später den bulgarischen König Boris III. empfing. Weil Hitler der Reichshauptstadt immer öfter und länger fernblieb, verwandelte sich das Deutsche Reich allmählich »in einen Führerstaat mit einem nicht anwesenden Führer« (Kershaw 2013, S. 567). Je deutlicher sich jedoch abzeichnete, »dass der Ostfeldzug nicht zu einem weiteren schnellen militärischen Triumph führen würde, wurden Hitlers Abwesenheitszeiten von Berlin immer länger und dann so gut wie permanent« (ebd.), während »dem Regime seine bisher größte 94

Andere Zahlen nennt Joachim C. Fest in seiner Hitler-Biografie: Gesamtverluste der Deutschen zu diesem Zeitpunkt »etwas über eine Million oder 31,4 Prozent des Ostheeres« (Fest 2013, S. 933).

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militärische Krise noch bevorstand« (Longerich 2012, S. 537): Am 22. November 1942 wurde die 6. Deutsche Armee unter General FriedrichPaulus und damit etwa 250.000 Soldaten vor Stalingrad eingeschlossen. Die »Prestigeschlacht« (Bullock 1961, S. 688) war damit für das Deutsche Reich verloren. Zugleich wuchs an der »Heimatfront« die Unzufriedenheit über die schlechte Versorgung, wie Goebbels ein ums andere Mal den Berichten des Sicherheitsdienstes (SD) der SS entnehmen konnte. »Der SD-Bericht weist eine gewisse Gereiztheit in den breiten Massen aus. Die Verknappungserscheinungen machen nun doch das Leben in diesem Winter ziemlich ungemütlich. Es fehlt vor allem an Kartoffeln und an Kohlen« (TB, 8. März 1942). Es kann also keine Rede davon sein, dass sich Adolf Hitler und Joseph Goebbels im Oktober/November 1940 oder im März 1942 in aller Seelenruhe ein Konzert des Tangomusikers Eduardo Bianco und seinem Orchester anhörten. Wer das behauptet, offenbart nicht nur eine Unkenntnis der historischen Fakten, sondern auch der veränderten Stimmung im deutschen Volk. Während eine Maskerade wie im März 1939 nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei noch angehen mochte, als Hitler und Goebbels zur Tarnung ins Theater gingen und der Welt glaubten vorgaukeln zu können, es gehe alles seinen gewohnten Gang, wäre ein Varietébesuch im Jahr 1942 sicher nicht gut bei einem Volk angekommen, das hungerte, fror und wegen der wachsenden Zahl der Luftangriffe um das eigene Leben bangte und dessen Armee im Osten davorstand, vernichtend geschlagen zu werden.

Barbecue mit einem Vegetarier Dr. Eduardo Labougle war von 1932 bis 1939 Botschafter Argentiniens in Berlin. Anfang Juli 1939 sollte er Deutschland verlassen und nach Argentinien zurückkehren. Was lag da näher, als dem Reichskanzler seines Gastlandes eine große Ehre zu erweisen und ihn landestypisch zu einem »asado a la criolla« (Cadícamo 1975, S. 154) einzuladen? An Kosten und Mühen ließ es der »argentinische Ministerbevollmächtigte«, wie ihn Enrique Cadícamo nennt, nicht missen. Weil in Berlin angeblich keine Lämmer (corderos) zu bekommen waren, wurden aus Tirol drei Schafe in die Reichshauptstadt geschafft und auf den Grill gespannt. Golden glänzte das Fleisch im Schein des Feuers. Auch an Tangos mangelte es nicht, wofür niemand anderes als Eduardo Bianco zuständig war. Das ist in Umrissen die Geschichte, die Cadícamo seinen Lesern von den letzten Tagen des argentinischen Botschafters Eduardo Labougle in der Hauptstadt Berlin erzählt. Sie handelt auch davon, wie Adolf Hitler vielleicht doch noch in den Genuss kam, Bianco und sein Orchester live zu erleben. Es fällt nicht leicht, dieser Geschichte Glauben zu schenken. Gegen sie spricht zunächst die Autorität von sechs anerkannten Historikern und die erdrückende Masse des von ihnen zusammengetragenen Materials zum Werdegang und zur Wirkung des deutschen Diktators. In

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sechs Hitler-Biografien von zusammen mehr als 6000 Seiten Umfang sucht man vergeblich nach diesem Asado.95 Labougle selbst, der sicher am meisten Grund gehabt hätte, sich damit zu brüsten, verliert darüber in seinen Erinnerungen Mision en Berlin kein Wort. Seine tagebuchartigen Aufzeichnungen beginnen mit dem 4. März 1935 und enden im Juli 1939. Zwischen den Einträgen sind große Lücken. Private Einträge gibt es so gut wie keine. Umso ausführlicher geht Labougle auf offizielle Begegnungen wie mit Reichsminister Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter, oder Dr. Hans Frank, Hitlers Rechtsbeistand und bayerischen Justizminister und späteren Generalgouverneur in Polen ein, der sich über die künftige Außenpolitik Deutschlands äußert. Breiten Raum nimmt Adolf Hitler ein, dem er persönlich gegenüberstand, und zwar während der üblichen Neujahrsempfänge des gesamten diplomatischen Korps in Berlin. Das erste Mal begegnet er Hitler am 20. September 1934 anlässlich eines Empfangs, das letzte Mal am 11. Januar 1939 in der gerade zuvor fertiggestellten neuen Reichskanzlei. Labougle lässt in seinen Aufzeichnungen praktisch keine Begegnung mit den damaligen Größen der internationalen Politik aus: Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels, Baron von Neurath, dem damaligen Außenminister Baron von Papen und Staatssekretär von Weizsäcker, dem späteren Außenminister Joachim von Ribbentrop, Hitler und Präsident Roosevelt, Eden und Churchill sowie dem englischen Außenminister Chamberlain und seinem französischen Kollegen Daladier, Mussolini und die Legion Condor, die am 31. Mai 1939 von Hamburg aus zur Unterstützung der Franco-Truppen startete. Und selbstredend ist unter dem Eintrag vom 13. März 1939 von den angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei die Rede (Labougle 1946, S. 229). Während Labougle in seinem Tagebuch mehrere Fotos von den Neujahrsempfängen in der Reichskanzlei zeigt, auf denen er in Gala-Uniform unter anderem mit Adolf Hitler zu sehen ist, verwundert es, dass es von dem besagten Grillabend keine Bilder gibt. Nicht weniger erstaunt, dass der Vertreter Argentiniens in Deutschland Lämmer für dieses landestypische Asado aufs Feuer legen lässt: Angeblich war Argentinien wie kaum ein anderes Land für seine Rinderzucht und die außerordentliche Qualität seiner Steaks bekannt. Im Ersten Weltkrieg soll der südamerikanische Staat Dank der Lieferung von »Millionen Dosen voll Rindfleisch« für die britischen und französischen Armeen zu beträchtlichem Reichtum gelangt sein (Cooper 1995, S. 101). Wenn es Fotos gäbe, müssten sie in dem Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek oder in den National Archives in Washington D.C. zu finden sein. Die Bayerische Staatsbibliothek hat mehr als 66.000 Bildmotive Heinrich Hoffmanns

95

Es handelt sich um Alan Bullock, Hitler (1961); Joachim Fest, Hitler (2013); Ian Kershaw, Hitler, 2 Bde. (2013); Volker Ullrich, 2 Bde. Adolf Hitler (2013 und 2018); Peter Longerich, Hitler (2017) und Wolfram Pyta, Hitler (2015).

Verbreitung

(1885–1957) in ihrem Bestand. Hoffmann war der persönliche Fotograf Adolf Hitlers oder sein »Leibfotograf«, wie der NWDR den Reichsbildberichterstatter am 24. Januar 1946 im »Porträt der Woche« nannte (Schneider 1999, S. 283). Auch andere warben um ihn, zum Beispiel Joseph Goebbels, der ihm das Angebot unterbreitete, als Fotograf ins Propagandaministerium zu wechseln, was Hoffmann aber ablehnte. Seine Begründung: Er wolle Geschäftsmann bleiben (Hoffmann 2011, S. 47). Das tat er so erfolgreich, dass er »praktisch ein Monopol auf die politische Bildfotografie in Deutschland« erlangte (Heiden 2016, S. 470) und »bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine Firma mit zehn Filialen in verschiedenen europäischen Städten« aufbaute, wie es auf der Website der Bayerischen Staatsbibliothek heißt.96 Am Ende des Krieges bezifferte er den Bildbestand seines Archivs auf »rund eineinhalb Millionen Aufnahmen« (Hoffmann 2011, S. 47). Den größten Teil davon beschlagnahmte nach Kriegsende die US-amerikanische Militärregierung. Er befindet sich heute in den National Archives.97 Hoffmann rühmte sich, er sei »stets in Begleitung Hitlers und fotografiere nur Ereignisse, bei denen er anwesend ist« (Hoffmann 2011, S. 51). Wenn Hitler nach ihm rief, scheute er auch nicht die lange Anfahrt von rund 1000 Kilometern, um Hitler im Führerhauptquartier Wolfsschanze aufzusuchen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum denkbar, dass der »Monopolist auf Hitlers fotografische Aufnahmen« (Pyta 2015, S. 276) und »fast ständige Begleiter Adolf Hitlers« (Heiden 2016, S. 470) diesem »asado a la criolla« mitten in Berlin ferngeblieben wäre. Doch selbst wenn Hoffmann verhindert gewesen wäre und es deshalb keine Fotografien gibt, unterstellt Cadícamo dem langjährigen Diplomaten Dr. Eduardo Labougle einen bemerkenswerten Mangel an Feingefühl. Labougle war seit 1932 zunächst als Gesandter seines Landes in der Reichshauptstadt, ab 1936 als Botschafter, weil die Gesandtschaft im Jahr 1936 zur Botschaft aufgewertet wurde, wie der auf Südamerika spezialisierte Historiker Holger M. Meding schreibt (Meding 2011, S. 244). Labougle hatte die Machtübernahme Hitlers erlebt. Regelmäßig sendeten seine Botschaft und die Konsulate in Hamburg, Bremen, Leipzig und München Berichte über die politische Lage in Deutschland nach Buenos Aires. So verweist er in einem Bericht vom August 1938 darauf, dass für die Juden die »Schwierigkeiten zu emigrieren wachsen«, weil das NS-Regime sie einerseits aus Deutschland herausdrängte, andererseits aber alles tat, um 96 97

www.bsb-muenchen.de/sammlungen/bilder/fotoarchive/ (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Einen bereits geplanten Besuch und gebuchten Flug nach Washington musste ich wegen der Corona-Krise im März 2020 absagen. Ich hatte auch Kontakt mit Christina Irrgang, die jüngst eine Abhandlung über Hitlers Fotograf. Heinrich Hoffmann und die nationalsozialistische Bildpolitik bei Transcript veröffentlichte und dafür »mehrere 100.000 Fotos« durchgesehen hat. Ein Asado mit Hitler in der argentinischen Botschaft sei ihr nicht aufgefallen, wie sie mir mitteilte.

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»ihnen die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen« (Ullrich 2013, S. 736), sie mithin um die Mittel brachte, die für die Emigration nötig gewesen wären. Holger M. Meding, der Hunderte dieser Schreiben ausgewertet hat, beschreibt Labougle als einen kritischen »Berichterstatter, doch besaß die Aufrechterhaltung guter bilateraler Beziehungen für ihn klar Priorität« (Meding 2011, S. 250).98 Tatsächlich hätten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht besser sein können. Am 26. Januar 1934 ehrte »das neue Deutschland« Argentinien, indem es die frühere »Grunewald Allee« in Berlin in »Argentinien Allee« umbenannte. In seiner Rede dankte der argentinische Gesandte Dr. Eduardo Labougle der Stadt Berlin für die »Ehrung seines Landes«.99 Die Beziehungen waren so ungetrübt, dass sich Argentinien bis zuletzt weigerte, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten. Erst im letzten Augenblick, am 27. März 1945, erklärte der südamerikanische Staat Deutschland den Krieg – knapp sechs Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und gerade noch rechtzeitig, »um an der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco teilnehmen zu können« (Paulus 2010, S. 100), wofür die Kriegserklärung gegen die Achsenmächte (Deutschland, Italien, Japan) eine Bedingung war. Truppen musste es dafür nicht in Bewegung setzen: »Das Land beteiligte sich an keiner Kampfhandlung«, wie Olaf Blaschke über den »kurzen deutsch-argentinischen Krieg« schreibt (Blaschke 2015).100 Botschafter, so schreibt der Historiker und Russlandexperte Karl Schlögel, verstanden sich »als Gemeinde sui generis, sie tauschten Informationen aus, teilten sich ihre Eindrücke mit, die immer Gleichen der höheren Gesellschaft trafen sich auf den immer gleichen Empfängen, Theaterpremieren oder Tennisplätzen« (Schlögel 2008, S. 469). Nicht anders verhielt es sich in der Reichshauptstadt Berlin. Der »Embajador Soviético« Maksim M. Litvinov (1876–1951), ein Diplomat alter Schule und zugleich Vertreter des für Adolf Hitler ausgemachten Hauptfeindes des »jüdischen-Bolschewismus«, war selbstverständlich ebenso beim Neujahrsempfang zugegen wie Robert Coulondre, der Vertreter Frankreichs, das von Deutschland ein gutes Jahr später am 10. Mai 1940 angegriffen wurde. Es ist daher fast undenkbar, dass Labougle Hitlers »verschrobene[s] Vegetariertum« entgangen sein soll (Kershaw 2013, S. 74). Ihm dürften auch die Klagen des einen oder anderen hochrangigen Politikers zu Ohren gekommen sein, wie sehr Hitler mit einem »seiner Lieblingsthemen« (Kershaw 2013, S. 671) und langatmigen Monologen über die vegetarische Ernährung seinen Zuhörern auf den Geist gehen konnte. Selbst zum Geburtstag von Goebbels’ Frau Magda, als sich im Hause des Propagandaministers

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Labougle vertrat sein Land in der Bundesrepublik Deutschland noch einmal für kurze Zeit von 1956 bis 1957 (Paulus 2010, S. 114). 99 https://www.bild.bundesarchiv.de/dba/de/search/?yearfrom=&yearto=&query=labougle (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). 100 Online verfügbar: https://bit.ly/Blaschke-Argentinien (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022).

Verbreitung

abends eine »kleine Gesellschaft« versammelt und »gegen 10 Uhr auch der Führer« eintrifft, kann Hitler nicht auf »lange Ausführungen über Vegetarismus, die ›kommende Religion‹« verzichten (TB, 12. November 1940). Dass er »alle greifbaren Argumente zur Hand« hatte, wie Goebbels fortfährt, verhieß nichts Gutes. Die Séance dauerte lange. Hitler »bleibt bis 4 Uhr nachts« (ebd., S. 415). Beim Asado des Botschafters ging es schneller: »Das Mittagessen und das Abendessen dauerten zwei Stunden, in denen es keinen Mangel an Tangos gab, woraufhin sich Hitler mit seiner Eskorte zurückzog« (Cadícamo 1975, S. 155).101 »Monate nach« der Zerstörung der Berliner Scala bei Luftangriffen auf Berlin, die Cadícamo ins Jahr 1941 verlegt (tatsächlich war es der 23. November 1943), soll Labougle Eduardo Bianco überzeugt haben, Deutschland im Jahr 1941 zu verlassen (Cadícamo 1975, S. 156). Labougle hatte seine Berliner Mission zu dieser Zeit längst beendet und sich nach eigenen Worten am 4. Juli 1939 in Hamburg auf dem Luxusdampfer Cap Arcona102 nach Buenos Aires eingeschifft (Labougle 1946, S. 246). In der argentinischen Hauptstadt traf er etwa 15 Tage später ein. Bereits sieben Monate später hatte das »ehemals so strahlende Flaggschiff der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft« (Lange 2014, S. 59) viel von seinem Glanz eingebüßt und im Gotenhafen von Gdynia (nördlich von Danzig) festgemacht, wo es als »schwimmende Kaserne für U-Boot-Besatzungen und Nachrichtenhelferinnen« diente (ebd.). Und Eduardo Bianco? Der scheint von einer Rückkehr nach Buenos Aires wenig angetan gewesen zu sein. Im Oktober/November 1940 und im März 1942 gastierte der »König des Tangos« mit seinem argentinischen Tangoorchester erneut in der Scala. Sein ehemaliger Musikerkollege Bachicha hielt es noch länger in Deutschland aus. Er trat im Oktober/November 1943 in der Lutherstraße 22–24 auf, kurz bevor Berlin und das Varietétheater im Bombenhagel der britischen Luftwaffe untergingen.

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Cadícamos Darstellung wirkt so unglaubwürdig und erfunden wie der hölzerne Wortwechsel, den Pecci in »gebrochenem Deutsch« (»un alemán de naufragio«, S. 155) mit Hitler auf Deutsch darüber geführt haben will, wie Fleisch richtig gegart wird: Pecci: »Herr Kanzler, nich [sic!] mit dem Feuer wird das Fleisch gar, sondern durch die Glut der Kohlen.« Nachdem Hitler seine Überraschung über diese Theorie überwunden und einige Sekunden in die Glut gestarrt hatte, soll er geantwortet haben: »Danke … Man lernt immer etwas Neues …« (Cadícamo 1975, S. 155). 102 Der »Schnelldampfer der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft« war am 19. November 1927 von Hamburg aus zu seiner Jungfernreise nach Buenos Aires aufgebrochen (Schwarberg 1998, S. 10). Sechs Jahre später, bei einem Bombenangriff der englischen Luftwaffe vor der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945, sollte das »Märchenschiff« zusammen mit einer Flotte von Häftlingsschiffen für mehr als 8000 Menschen – überwiegend aus dem Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg – zum »Massengrab« werden (Ineichen 2015).

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Nachspiel: eine Dokumentation des RBB

Am 29. April 1990 begann der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) mit der Ausstrahlung einer vierteiligen Dokumentation über die Vernichtung der europäischen Juden. Titel: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Rosh; Jäckel 1990). Die Journalistin Lea Rosh und der Historiker Eberhard Jäckel befragten darin Zeitzeugen in der Sowjetunion, Norwegen, Polen, Belgien, Rumänien und anderen Ländern. Im selben Jahr veröffentlichten die beiden unter dem gleichen Titel ein Buch. Zu den von ihnen befragten Zeitzeugen gehörte Zygmunt Leiner, den sie als ehemaligen Direktor der Konservenfabrik in Lemberg vorstellen.1 Leiner war vom 5. März bis zum 18. November 1943 Häftling im Janowska-Lager. Er konnte einen Tag vor der Auflösung des Lagers fliehen, als die letzten verbliebenen Häftlinge liquidiert wurden. Mit Leiner fahren Rosh und Jäckel »nach Piaski« – zum Sand, dem Ort der Massenerschießungen. In ihrem Buch geben sie das Gespräch mit Leiner wieder. Sie spricht mit ihm über die Erschießungen und fragt ihn, ob es stimme, dass bei den Erschießungen im Lager Musik gespielt wurde. »Ja«, antwortet er, »wenn sie im Lager erschossen haben. Hier nicht.« Gemeint ist der »Sand«, wo das Gespräch stattfand. Rosh fragt weiter, welche Musik das war. Leiner: »Die Musik hieß ›Todestango‹. Das kam vom ›Tango Milonga‹. Das haben jüdische Musikanten gespielt und auch geschrieben« (Rosh; Jäckel 1990, S. 57).2 Sie fragt auch, ob er sich noch an die Melodie erinnert? »Er summt die Melodie, ganz leise«, schreibt sie und fährt fort: »Ich kenne diesen Tango. Jeder kennt ihn. Er ist schön« (ebd., S. 58). Den Titel nennt sie nicht.3 In der Film-Dokumentation nimmt das Gespräch einen anderen Verlauf. Statt um Musik und den Todestango geht es um die Verbrennung der Leichen und den

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Adam Redzik schreibt, dass Zygmunt Leiner im März 1943 ins Janowska-Lager kam und die »prisoner number 5640« erhielt (Redzik 2014, S. 226). Gleichlautend Jurij Wynnytschuk: »Sicher. Es ist die gleiche Melodie wie beim Tango Milonga« (Wynnytschuk 2014, S. 110). Überzeugend klingt das nicht: Von welchem Tango hätte man Anfang der 1990er Jahre in Deutschland sagen können, dass »jeder ihn kennt«? Und wenn ihn jeder kannte, also auch Lea Rosh, warum teilte sie nicht den Titel mit?

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schrecklichen Gestank, der wochenlang über Lemberg lag.4 Warum die Film-Dokumentation die im Buch so genau beschriebene Szene nicht enthält, konnte mir Lea Rosh leider nicht beantworten. Des ungeachtet glaube ich nicht, dass dieses »Tondokument«, wäre es in der Film-Version vorgekommen, die Existenz eines Todestangos bewiesen hätte. Auch bei Zygmunt Leiner müssen wir annehmen, dass die Todestango-Legende 47 Jahre nach der Auflösung des Janowska-Lagers auf vielen Wegen Eingang in seine Erinnerung gefunden hatte.

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Der starke Rauch alarmierte sogar die Berufsfeuerwehr, deren Turmwache am 23. Juli 1943 einen Brand hinter dem Friedhof zu sehen glaubte und zum Löschen ausrückte (Sandkühler 1996, S. 278f.).

Fazit und Schluss

Dem Tango wurde und wird noch immer viel angedichtet. Er wird idealisiert, glorifiziert, mystifiziert. Er ist eine unerschöpfliche Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Sehnsüchte. Anders ist kaum zu verstehen, warum die Legende vom Todestango so lange fraglos geglaubt, wiederholt, variiert und in nahezu jeder Publikation über Lemberg aufgegriffen wurde. Tango soll ein »Tanz der Liebe wie ein Tanz des Todes sein« (Martin 1995, S. 177), auf musikalischer Ebene soll sich im »Tango die Atomisierung der Gesellschaft« spiegeln (Reichardt 1977, S. 4). Ihn zeichnet angeblich eine »seismografische Wiedergabe menschlicher Empfindungen« aus, was ihn als »poetische und musikalische Psychoanalyse« ausweist (Allebrand 1999, S. 99). Er ist getanzte Leidenschaft, in der sich »Sinnlichkeit und Todessehnsucht« zeigen (Martin 1995, S. 178),1 was gleichsam die Brücke zwischen Todestango und mittelalterlichem Totentanz schlägt.2 Damit nicht genug, der Tango vermochte in den Augen des Schweizer Journalisten Jörg Krummenacher binnen 1

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Dieter Reichardt hat den »Erotikdiskurs« im Tango infrage gestellt und angemerkt, ob »die als direkte oder kompensatorische angenommene Erotik nicht eher den Hirnen braver Ehemänner [entspringt], und könnte nicht auch in gegebenen Umständen ein Choralvorspiel von Bach ähnliche Reflexe auslösen?« (Reichardt 1982, S. 234). Reichardt geht hier leichtfüßig über die durchaus ernst zu nehmende Frage hinweg, wer eigentlich das Bild bestimmt, das wir vom Tango haben und ob die Erotisierung des Tangos, seine unentwegt betonte »Leidenschaft« nicht bestimmte Wahrnehmungsstereotypen wiedergibt. Der Tango entsprang um die Wende zum 20. Jahrhunderts dem Bodensatz des Volkes, mithin der Unterschicht, deren Angehörige kaum schriftliche Quellen hinterlassen haben. Sofern sie vorliegen, geben sie »fast ausschließlich die Optik der Oberschichten, der Herrschenden« wieder (Groh 1999, S. 238). Die aber haben die Masse, die Volksmenge seit jeher als Menschen wahrgenommen, »die blindwütig ihren unberechenbaren Leidenschaften folgten« (ebd., S. 238) und deren Handeln in Begriffen wie »irrational und unkalkulierbar« (ebd., S. 243) sowie »naturhaft« beschrieben wurde, während der Staat (und damit die Oberschichten) laut Leopold von Ranke die vernunftgeleiteten »sittlichen Mächte« repräsentierte. So bei Klaus Manger in einem Beitrag zur Bedeutung des Todes in der Dichtung von Paul Celan: »Der ältere Titel [gemeint ist Todestango, d. Vf.] drückt in der Tradition des Totentanzes die unterschiedslos dahinraffende Gewalt des Todes aus« (Manger 1989, S. 440). So unterschiedslos wie in den mittelalterlichen Totentänzen, die die Gleichheit aller Stände vor dem Tod betonten, traf der Tod inner- und außerhalb der Konzentrationslager eben nicht alle,

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eines Jahrhunderts, was Philosophie und Theologie in Jahrtausenden versagt blieb, »eine Antwort auf die Rätsel des Lebens« zu geben (Krummenacher 1997, S. 22). Man kann es auch so formulieren: Dem Tango traut man buchstäblich alles zu – im Positiven wie im Negativen, obwohl er doch nur »populäre Musik und nicht autonome Kunst« ist (Reichardt 2017, S. 106). Er scheint auch für jene eine fantastische Projektionsfläche zu sein, die vorgeben, seine objektive Geschichte zu schreiben. Der Tango ist derart mit »Bildern« inszenierter Leidenschaft überformt, von so vielen Stereotypen und Klischees überlagert und überhöht, dass der Unterschied zwischen Fiktion und historischer Realität kaum mehr auszumachen ist. Wer es dennoch versucht, steht in dem Augenblick vor einer weiteren Schwierigkeit, wo sich Tango-Fiktionen mit der unannehmbaren Realität der Konzentrationslager des Nazi-Regimes verbinden. Dass der Todestango in der Mordstätte Janowska-Lager in Lemberg verortet wurde, wo er die Begleitmusik zu den Massenmorden gewesen sein soll, dürfte eine weitere Erklärung bieten, warum diese Legende nie ernsthaft infrage gestellt wurde. Wie sie entstand, wie sie sich entwickelte, wie Überlebende des Janowska-Lagers den Todestango zu einem Teil ihrer Erinnerung machten, habe ich so ausführlich und so nah an den historischen Quellen wie möglich zu zeigen versucht. Die Literatur zum Todestango ist geprägt von Versuchen, in den Zeugnissen Überlebender des Janowska-Lagers Bestätigung für seine Existenz als besondere Melodie zu finden. Diese Studie hat den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und ist zu einem anderen Ergebnis gekommen: Den Todestango als eigene Komposition hat es nicht gegeben, seine Existenz erschöpfte sich von vornherein darin Legende zu sein. Diese Legende setzte zunächst die Lemberger ASK in ihrem abschließenden Protokoll vom November 1944 und in ihrem Gefolge der russische Ankläger Oberst Lev N. Smirnov vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal in die Welt, als er im Februar 1946 während seiner Anklage von einer »besonderen Melodie« sprach. Wie wenig begründet diese Auffassung ist, verdeutlichte unter anderem die Untersuchung der Spuren, die der Todestango in den Erinnerungen Überlebender hinterließ. In ihren Zeugnissen lassen sich keine lebendigen, subjektiven, authentischen Eindrücke und Wertungen zu dieser »besonderen Melodie« auffinden. Wo Überlebende wie Borwicz und Schoenfeld vom Todestango sprechen, ist unübersehbar, dass sie auf ein vertrautes, vielfach wiederholtes Muster zurückgreifen, dessen Grundgerüst die Lemberger ASK bereits sechs Monate vor Kriegsende geschaffen hatte: Die Deutschen (später SS-Untersturmführer Richard Rokita) gründen ein Lagerorchester und befehlen die Komposition einer besonderen Melodie, die sie Todestango nennen. Hervorzuheben bleibt, dass sich das Motiv des Todestangos sondern vor allem eine Gruppe: Jüdinnen und Juden. Zum mittelalterlichen Totentanz siehe (Bartels 1989).

Fazit und Schluss

keineswegs in der Erinnerung aller befragten Überlebenden finden ließ. Viele andere wie der Rabbiner David Kahane, der Arzt Samuel Drix oder Stefan Schoenfeld haben ihn nicht zum Gegenstand ihrer Erinnerungsberichte gemacht. Das gleiche gilt für jene ehemaligen Inhaftierten, die im Herbst 1944 vor der Außerordentlichen Staatlichen Kommission in Lemberg aussagten. Für sie scheint der Todestango keinerlei Wirklichkeit besessen zu haben: Obwohl viele das Lagerorchester erwähnten oder direkt von den Vernehmungsbeamten danach gefragt wurden, brachte nicht einer die angeblich bedeutendste Komposition im Repertoire des Lagerorchesters zur Sprache. Daraus lässt sich kein anderer Schluss als der ziehen, dass es den Todestango bis zum Herbst 1944 in der Erinnerung Überlebender des JanowskaLagers nicht gegeben hat. Konturen gewann er erst, als das abschließende Protokoll der Lemberger Außerordentlichen Staatlichen Kommission am 23. Dezember 1944 in großer Aufmachung in der Prawda und Izvestija sowie vier Tage danach in den Moscow News erschienen war. Die viele Jahrzehnte später aufgestellte Behauptung, der Todestango basiere auf dem Schlager Plegaria ist zum einen durch die Tatsache widerlegt, dass schon seine Existenz als Legende nachgewiesen wurde. Ferner wurde gezeigt, dass sie nur einen Gewährsmann hat, nämlich Aleksander Kulisiewicz, der sich seinerseits auf das fragwürdige Zeugnis Anna Muzyczkas stützte. Kulisiewicz trug maßgeblich dazu bei, die Auffassung zu untermauern, es gehe um eine besondere Komposition. Weil für den vermeintlichen Todestango nun eine reproduzierbare Plattenaufnahme und somit »ein Beweis« vorlag, geriet Kulisiewicz’ Zeugnis zu einer Art Primärquelle: Wer Plegaria als den Todestango im Munde führte, berief sich auf ihn. Dieser »Beweis« wog umso schwerer und unangreifbarer, als ihn ein ehemaliger KZ-Häftling geliefert hatte, der das Leid selbst erlitten hatte, von dem er sang. Dass Kulisiewicz’ Lesart der Entstehung des Todestangos dem bekannten und lange vor ihm verbreiteten Erzählmuster folgte (siehe den Zeitstrahl im Anhang), weckt Zweifel an der Authentizität seiner Darstellung. Sie gewannen an Gewicht durch die Tatsache, dass er die einzige Quelle ist, die den Todestango im Janowska-Lager mit dem Tango Plegaria von Eduardo Bianco in Verbindung bringt. So einzigartig wie die Stellung des Todestangos in der »konzentrationären Musik«, so singulär ist auch das Zeugnis, das Plegaria zum Todestango machte. Dass es keine zweite Quelle gibt, die seine Version bestätigt, ist ein hinreichender Grund, ihr mit größter Skepsis zu begegnen. Alle späteren Autoren oder Institutionen – das US Holocaust Memorial Museum in Washington, der Historiker Simon Collier und der Literaturwissenschaftler John Felstiner – folgten ihm und trugen, weil sie ihrerseits als »Autoritäten« galten, so zur Verbreitung und Verfestigung dieser Version bei.3 Doch wie schon der polnische Liedersänger blieben auch sie über3

Auch Katarzyna Naliwajek-Mazurek bezieht sich für ihre Darstellung des Konnexes von Todestango und Plegaria auf das USHMM: »Among several criminal responsible for the despica-

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zeugende Belege schuldig. Die Verkettung von Todestango und Plegaria beruht zur Gänze auf faktenfreien Spekulationen, wackeligen Konstruktionen und freihändigen Ableitungen statt auf verlässlichen historischen Quellen.4 Was über Kulisiewicz gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise für das viel zitierte Foto, die Ikone des Todestango. Dass sie bis zum heutigen Tag als »Beweis« diente, macht vor allem die suggestive Kraft fotografischer Authentizitätsversprechen deutlich. Tatsächlich ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, welches Orchester sie zeigt. Des ungeachtet mag sie vieles belegen, nur eines sicher nicht: die Existenz eines oder des Todestangos. Alles, was die Fotografie zeigt, ist eine Kapelle, die im Kreis steht und offensichtlich spielt. Um welche Musik oder welches Stück es sich handelt, ist dem Foto nicht zu entlocken. Man könnte auf die Idee kommen, diese Studie habe das Ziel verfolgt, die Legende vom Todestango zu widerlegen. Von der Frage abgesehen, ob Legenden überhaupt widerlegbar sind, stand im Zentrum dieser Recherche die Entstehung und Entwicklung der Legende. Beides sollte sichtbar und damit verständlich gemacht werden. Davon abgesehen bleibt festzuhalten: Überlebende des Lagers wie Joachim Schoenfeld, Michał M. Borwicz oder Leon Wells haben den Todestango angenommen, ihn zu einem wichtigen Teil ihrer Erinnerungen gemacht und die Todestango-Legende unauflöslich mit dem Mord an den Juden Galiziens verbunden. Schon deshalb wird sie nicht aufhören, spätere Generationen zu beschäftigen.

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ble torture and killing of prisoners in this camp was a former cafe player, SS-Obersturmführer Richard Rokita. He made musicians play during executions and forced them to perform a special song for other prisoners just before their execution. lt was a well known tango before the war, originally entitled Tango Plegaria with music by Eduardo Bianco. In the Nazi version, with the title changed to – on the one hand explicit, on the other mocking – The Death Tango it was played with new words« (Naliwajek-Mazurek 2012, S. 221). Als eines von vielen Beispielen sei der Aufsatz El tango de la muerte des Journalisten Isidoro Gilbert erwähnt, der am 17. November 2010 in der argentinischen Zeitung Clarin erschien. Er behauptet, es gebe »zuverlässige Nachweise über den makabren Einsatz von Plegaria unter anderem in den Lagern Janowska, Auschwitz und Majdanek« (Übers. d. Vf.) https://bit.ly /Gilbert_Clarin (zuletzt abgerufen: 15. Februar 2022). Doch gibt er diese angeblich sicheren Quellen nicht preis, sondern nutzt ausschließlich Sekundärquellen, vor allem Enrique Cadícamo La Historia del Tango en Paris. Es überrascht daher nicht, dass er die bekannten Topoi wiederholt (einschließlich des Gastspiels Biancos vor Hitler und Goebbels).

Anhang Ungeachtet der hier erörterten Ereignisse scheint das Wort Todestango auf viele eine große Faszination auszuüben. Ihr können sich vor allem Kriminalautoren schwer entziehen, vielleicht, weil es in ihrem Genre vor allem um Mord, Totschlag, Körperverletzung und Raub geht, also um alle Formen von Kapitalverbrechen. Diese Faszination hält bis heute an, fünf Beispiele sollen das belegen. Der Fischer-Verlag veröffentlichte im Jahr 2015 Roderic Jeffries Kriminalroman Todestango auf Mallorca (Jeffries 2015). Was den Verlag zu dieser Titelwahl bewog, erschließt sich dem Leser nur zögernd. Das Wort Todestango oder gar Tango kommt im gesamten Roman nicht mehr vor. Mit Tango hat die ganze Sache also nichts zu tun. Vom Tod ist dafür umso häufiger die Rede. Im Original, das 1993 beim Scherz Verlag erschien, hieß es Murder’s Long Memory. Dem Fischer-Verlag war das offenbar zu langweilig. Für eine Buchreihe, die mit den Worten für sich wirbt: »Jeder Band ein Schlager« ist der Todestango vermutlich der erwünschte Verkaufshit – wenigstens im Titel. Auch das zweite Buch Zum Teufel mit dem Todestango. Morton lässt die Maske fallen (Conter 1962) hat nichts mit einem Todestango zu tun. Immerhin erklärt einer der Protagonisten, Gopal, was es mit dem Todestango auf sich hat. Gopal, der als der »bullige Chef der Leibwache« und als »Prototyp eines asiatischen Ringkämpfers« beschrieben wird, kennt sich mit Musik nicht gut aus. Er lässt sich zum Beispiel Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre und den Trauermarsch von Frédéric Chopin als Todestango andrehen. Nun ist Gopals Selbstbewusstsein mindestens so robust wie seine Physis. Über seinen Irrtum aufgeklärt, reagiert er gelassen: »Gopal nahm interessiert die Zigarre aus dem Mund. Tatsächlich? Na, das tut nichts weiter zur Sache. Das Stück gefällt mir. Und ob Nationalhymne oder nicht: Ich habe es den Todes-Tango genannt.« Seine Begründung: »Weil es mir so passte« (Conter 1962, S. 19). Die Autorin Beate Rosner veröffentlichte vor vier Jahren im Selbstverlag eine Reihe von Kurzgeschichten, darunter eine mit dem Titel Todestango (Rosner 2017, S. 107-112). Während einer Faschingsparty erscheint ein als Clown verkleideter Gast. Als der »Kriminaltango« erklingt, stürzt er sich auf die Frau seines Herzens mit den Worten: »Das ist mein Tanz« und zieht sie aufs Parkett. Kurz darauf wird er tot aufgefunden. So kommen die Kriminalkommissarinnen Christa Sturm und Nike Schönau ins Spiel und beginnen das, was in jedem Krimi unvermeidlich ist: das Verhör möglicher Verdächtiger. Das Ergebnis der Ermittlungen

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steht umgehend fest: Zwei der Gäste hatten den Clown mit genügend Wodka »ruhigstellen«, aber nicht töten wollen. Fazit von Christa Sturm: »Das war also sein letzter Tango«, nein, korrigiert Kollegin Schönau: »Der Todestango.« Drei Jahre vor seinem Tod im August 2013 arbeitete der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf an einem Agententhriller, der Sand heißen sollte und 2011 erschien. Seine Parodie auf das Genre hätte auch anders heißen können. In seinem Tagebuch Arbeit und Struktur variiert und spielt er mit verschiedenen Titeln, die er auf gut zwei Seiten »in der Reihenfolge: Nüchterne, Supermarktkassenbestseller, Hochkultur, Parodien, Seventies, mit Gewalt und Too much« auflistet (Herrndorf 2013, S. 185). Hinter »Dicke Luft in der Sahara«, »Ein Kamel zum Knutschen«, »Koyoten lügen nicht«, die wohl in die Kategorie Parodien gehören, folgen in der Gruppe »mit Gewalt und Too much« die Titel »Todestango im Treibsand« und »Das Ultrazentrifugenmassaker« (ebd., S. 187). Wie er auf Todestango gekommen ist, vermag ich nicht zu sagen, es scheint mir aber eindeutig, dass er die Legende nicht kannte. Jurij Wynnytschuk publizierte im Jahr 2014 einen Roman, der in Tangokreisen vermutlich auf größere Resonanz gestoßen wäre, wenn der Haymon Verlag in Innsbruck ihn nicht unter dem Titel Im Schatten der Mohnblüte auf den Markt gebracht hätte. Im Original heißt er: Todestango (Tango Smierci). Der Autor greift darin die Legende über den Todestango im Janowska-Lager auf: »Er wurde im JanowskaKZ gespielt, während man die Gefangenen zum Richtplatz brachte« (Wynnytschuk 2014, S. 266). Und webt darum eine eigene Legende, in der eine Melodie, die auf Noten aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht, ein »Weiterleben nach dem Tode« verspricht. Heute wissen wir: Der Todestango oder die Musik, die summarisch darunter gefasst wurde, hat keinem Häftling des Janowska-Lagers das Leben retten können. Romane wie Wynnytschuks Im Schatten der Mohnblüte, die zwischen Fakt und Fiktion changieren und historische Ereignisse zum Hintergrund einer eigenen Erzählung machen, sorgen aber dafür, dass zumindest eines weiter am Leben bleibt: die Legende vom Todestango.

Zeitstrahl: Von der »Exekutionsmelodie« zur »Unsterblichkeit der Seelen«

1944, 12. September: »Ich kenne einen Musikprofessor aus Lwow, sein Name war Striks. Der Lagerführer zwang ihn, ein Lagerorchester zu gründen und während der Exekutionen der Häftlinge musste es deutsche Musik spielen. Letztendlich wurden alle Musiker des Orchesters, das größtenteils aus Musikprofessoren bestand, im November 1943 erschossen. Während der Erschießung mussten sie Lieder singen und auf ihren Instrumenten spielen und jeder Musiker musste einzeln aus dem Kreis heraustreten, sich ausziehen und sich mit dem Rücken zudrehen, um erschossen zu werden, und so ging es bis zum letzten Musiker. Dabei sang der letzte Musiker, bevor er erschossen wurde, für das Sonderkommando Nr. 1005 auf Deutsch das Lied ›Morgen kann es schlechter sein‹. Es ist ein polnisches Lied, er sang die Worte: ›Es wird euch morgen schlechter gehen, als es uns heute geht‹, und das waren seine letzten Worte, bevor er vom Kommando Nr. 1005 ermordet wurde.« (Anna Poizer, Aussage am 12. September 1944 vor der Lemberger ASK)

1944, November: »Die Deutschen stellten ein Lagerorchester auf, dem die besten und talentiertesten Musiker der Stadt angehörten. Das Orchester leitete der Musikprofessor Striks und der bekannte Dirigent Mund. Den Komponisten des Orchesters befahlen die Deutschen, eine besondere ›Exekutionsmelodie‹ zu schreiben. Sie wurde auch geschrieben und auf Befehl der Hitlersadisten wurde sie ›Tango des Todes‹ genannt. Die deutsch-faschistischen Barbaren haben diese Orchestertruppe zum Spielen gezwungen und zu den Klängen der Musik haben sie die Exekution und die Verbrennung unschuldiger Menschen vorgenommen. Kurze Zeit vor der Liquidierung des Lagers haben die Deutschen auch das ganze Orchester vernichtet. Das hat sich folgendermaßen abgespielt: Während der ›Todestango‹ erklang, wurden die Mitglieder des Orchesters einzeln herausgeholt und vor den Augen der übrigen erschossen. Das gesamte Orchester ist auf diese Weise umgekommen.« (Protokoll der »Kommission für die Feststellung und Untersuchung der von den deutsch-faschistischen Eindringlingen in der Stadt Lemberg begangenen Gewaltverbrechen«)

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»Der Todestango«

1944, 23. Dezember: »Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen nahmen die Deutschen bei Musikbegleitung vor. Zu diesem Zweck schufen sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Die Leitung des Orchesters mussten Prof. Striks und der bekannte Dirigent Mund übernehmen. Komponisten wurden von den Deutschen angewiesen, eine besondere Melodie zu schreiben, die ›Der Todestango‹ genannt wurde. Kurz vor der Liquidierung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters.« (Prawda Nr. 307 vom 23. Dezember 1944/Izvestija Nr. 302 vom 23. Dezember 1944) 1945: »Das Lager hatte ein Orchester, das sich aus Häftlingen zusammensetzte. Leon Striks war der Dirigent und unter den Mitgliedern des Orchesters waren berühmte Musiker wie der Komponist Jakob Mund und Josef Herman. Auf Anordnung des ›Musikliebhabers‹ Rokita komponierten die Musiker den ›Tango des Todes‹. Ab diesem Moment wurde jede Gruppe von Gefangenen mit einer Aufführung dieser makabren Komposition in den Tod geschickt.« (Filip Friedman, Die Vernichtung der Lemberger Juden) 1946, 14. Februar: »Die Deutschen führten ihre Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen bei Musikbegleitung aus. Zu diesem Zweck errichteten sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Sie zwangen Professor Striks und den bekannten Dirigenten Mund, dieses Orchester zu leiten. Sie forderten Komponisten auf, eine besondere Melodie zu komponieren, die sie den ›Todestango‹ nannten. Kurz vor der Auflösung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters.« (Oberjustizrat L. N. Smirnov, Hilfsankläger für die Sowjetunion vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg am 59. Verhandlungstag, Nachmittagssitzung) 1956: »An orchestra was organized in the camp at the initiative of SS-Untersturmführer Rokita. It was composed of the musicians Józef Mund, Jósef Herman, Edward Steinberger, Schatz, and others, with Leonid Striks as its conductor. Rokita, a connoisseur of music, would listen to the music with his gifted ear, and if he detected a false note, would storm the orchestra and shoot the performer who dared to impair the harmony. At Rokita’s order a special tune, ›Tango of Death‹, was composed (reportedly by Schatz). The macabre ›Tango of Death‹ would be played on frequent occasions, especially when work brigades were leaving the camp or when groups selected for execution were being taken to the ›Sands‹.« (Philip Friedman, The Destruction of the Jews of Lwów) 1963: »[…] das Orchester, gebildet aus verhafteten Musikern, [spielt] den ›Todestango‹, zu dessen Rhythmus Folterungen und Hinrichtungen vollzogen wurden. Willhaus’ Frau erschoss mitunter eigenhändig Häftlinge. Übrigens war

Zeitstrahl: Von der »Exekutionsmelodie« zur »Unsterblichkeit der Seelen«

ein anderer SS-Untersturmführer dieses Lagers, Rokita, früher selbst Geiger in einer Jazzband gewesen.« (Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich) 1963: »Outside the gate music starts to play. Yes, we have an orchestra, made up of sixty men, all inmates. This orchestra, which has some known personalities in the music world in it, always plays when we are going to and from work or when the Germans take a group out to be shot. We know that for many, if not all, of us the music will someday play the ›Death Tango‹, as we call it on such occasions.« (Leon Wells, The Janowska Road, Erinnerungen an das Janowska-Lager) 1964: »Das Lager erweiterte sich, es gab bereits über 2000 Lagerinsassen. Unter anderem war zwischen ihnen ein ganz junger Schüler des Konservatoriums, Maximilian Striks, ein sehr begabter Pianist. Sein Vater Leonid war Violinist und musizierte vor dem Krieg in irgendeinem Nachtlokal zusammen mit Rokita in Kattowitz. Eines Tages begegnete Leonid Striks Rokita und vertraute ihm seine Sorgen an. Rokita schlug seinem ehemaligen Kollegen die Einrichtung eines Orchesters im Lager vor, das gäbe ihm die Gelegenheit seinen Sohn zu sehen. Es würden sich bestimmt unter den Gefangenen auch Musiker befinden, meinte Rokita, und wenn es nötig sein sollte, wird man das Orchesterteam durch Leute von der Freiheit komplettieren können. Striks ging auf den Vorschlag ein und errichtete bereits nach kurzer Zeit ein vortreffliches Orchester. Unter anderem gehörte ihm als Erster Violinist der berühmte Virtuose und Komponist vieler Schlager, Schatz, an. Das Orchester spielte jetzt den Gefangenen, als sie zur und von der Arbeit marschierten. Es spielte auch während der Selektionen. Schatz komponierte einen hübschen ›Todestango‹, der durch das Orchester gespielt wurde, wenn die Menschen zur Hinrichtungsstätte, zur Erschießung gingen.« (Stanisława Gogołowska, Schule der Grausamkeit) 1967: »Richard Rokita liebte die Musik. Als er nach Lemberg kam, gründete er als Erstes ein Lagerorchester. Unter den Häftlingen waren vorzügliche Tonkünstler. Sigmund Schlechter, ein bekannter Komponist aus Lemberg, musste auf Rokitas Befehl einen ›Todes-Tango‹ schreiben. Dieses Stück intonierte das Orchester, während Hinrichtungen stattfanden. Sonst hört man so etwas wohl auf einer Opernbühne – in Lemberg schossen sie scharf mit musikalischer Begleitung.« (Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben) 1970: »Eines Tages brachte Rokita einen Chansonkomponisten namens Zygmunt Schlechter mit und befahl ihm, einen ›Todestango‹ zu komponieren. So oft dann das Orchester diesen Tango spielte, bekam der Sadist und Unmensch Rokita feuchte Augen. Frühmorgens, wenn die Häftlinge das Lager zur Arbeit verließen, spielten die Musiker dazu auf. Peinlichst achtete die SS darauf, dass wir schön im

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»Der Todestango«

Takt der Musik marschierten. Erst wenn wir das Tor passiert hatten, fingen wir an zu singen.« (Simon Wiesenthal, Die Sonnenblume) 1979: »Jews waiting to be selected for death at the Nazi extermination camp in Lemberg […] were forced on order of SS-Lieutenant Stephan [sic!] Rokita, to listen while a well-known fiddler by the name of Schatz played this ›hit‹ tango. Former prisoner Anna Muzycka remembered and later wrote down the words. Only the last verse was changed.« (Aleksander Kulisiewicz, Songs from the Depths of Hell, Folkways Records 1979) 1980: »Einige der in den Zeugenaussagen der Häftlinge beschriebenen Ereignisse fanden zu den Klängen eines Orchesters statt, das der SS-Offizier Rokita im Sommer 1942 zusammengestellt hatte. Die Mitglieder waren vor dem Krieg bekannte jüdische Musiker gewesen – Josef Mund, Gold, Josef Hermann und Eduard Steinberg, um nur einige zu nennen. Das Orchester leitete Leon Striks. Rokita hörte bei den Auftritten des Orchesters aufmerksam zu, registrierte jede Note und erschoss jeden Spieler, der einen Fehler machte. Auf den Befehl Rokitas hin schrieb ein inhaftierter Komponist namens Schatz eine besondere Melodie – den ›Todestango‹ –, die oft gespielt wurde, wenn die Häftlinge zur Arbeit aufbrachen oder in Gruppen auf ihren letzten Weg in die Dünen geschickt wurden.« (Eliyahu Yones, Die Juden in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939–1944) 1990: »Das Stück ›Todestango‹ (Tango of Death) wurde von Yakub Munt [.], dem einstigen Direktor der Lemberger Oper komponiert. Die Musik basiert auf einem früheren Werk von Eduardo Bianco.« (US Holocaust Memorial Museum, Erläuterungen zum Foto eines im Kreis stehenden Orchesters, dem angeblichen Orchester im Lager Janowska) 1993: »Das Lagerorchester Janowska. Während die Häftlinge zur Arbeit abmarschierten und wenn sie zurückkehrten, musste es zu ihrer Verhöhnung und Demütigung aufspielen.« (Enzyklopädie des Holocaust, dt. Ausgabe) 1995: »Unweit von Czernowitz, im Lager Janówska in Lemberg […], befahl ein SS-Leutnant jüdischen Geigern, einen Tango mit neuem Text namens Todestango zu spielen, der bei Märschen, Folterungen, beim Gräberschaufeln und Hinrichtungen zu erklingen hatte. Vor der Liquidierung des Lagers durch die SS wurde dann das ganze Orchester erschossen. Dieser Todestango, von dem es eine Schallplattenaufnahme gibt, basierte auf dem größten Vorkriegsschlager des Argentiniers Eduardo Bianco.« (John Felstiner, Paul Celan) 1998: »Rokita, der vor dem Krieg in verschiedenen Jazzkapellen gespielt hatte, bildete ein Lagerorchester. Einer der Musiker musste einen ›Todestango‹ komponieren, der beim Ein- und Ausmarsch der Brigaden und bei den zahlreichen Hinrich-

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tungen auf dem Appellplatz gespielt wurde.« (Thomas Sandkühler, Das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska 1941–1944) 2009: »Not only did the Nazis allow this music, they forced Lagerkapellen, the camp orchestras, to play the Tango of Death to accompany prisoners as they were marched to the gas chambers.« (Lloica Czackis, Yiddish Tango: a Musical Genre?) 2010: »Biancos größter Erfolg, der Tango ›Plegaria‹ (1929), den er 1939 vor Hitler und Goebbels spielte, erreichte traurige Bekanntheit durch den Umstand, dass er von Gefangenen in Konzentrationslagern auf dem Weg zur Hinrichtung bzw. in die Gaskammern gesungen werden musste, weswegen er auch ›Todestango‹ genannt wird. Berichtet wird auch, dass von den Nazis ein neuer Text zur Melodie erfunden wurde.« (Torsten Eßer, Jesuiten, Todestango, Tote Hosen. Musikalische Begegnungen zwischen Argentinien und Deutschland) 2014: »On the initiative of Rokita, during the summer of 1942, a camp orchestra was organised, into which were gathered many famous pre-war musicians: Jakub Mund, Artur Gold, Józef Herman, Edward Steinberger, Zygmunt (Maciej?) Schatz as well as the conductor Leon (Leopold?) Striks. Szac [sic!] composed the death tango, played frequently as groups of prisoners were led out to execution in the ›Sands‹.« (Adam Redzik, The Janowska Hell) 2017: »Für die musikalische Begleitung von Exekutionen komponierte der ehemalige Direktor der Lemberger Oper, Jakob Mund, eigens einen ›Todestango‹, der den Opfern Trost spenden und sie der Unsterblichkeit ihrer Seelen versichern sollte.« (Lutz C. Klevemann, Lemberg, Die vergessene Mitte Europas) 2021: »Die Ungereimtheiten und Widersprüche zwischen den verschiedenen Versionen des Geschehens im Janowska-Lager können als charakteristisch für eine falsche oder ›fiktive Erinnerung‹ betrachtet werden […] Erinnerungen werden in erster Linie konstruiert, um die Vergangenheit sinnvoll und plausibel erscheinen zu lassen. Als Mythos erfüllen die Geschichten über den ›Todestango‹ ein tief empfundenes Bedürfnis, den Holocaust moralisch zu verurteilen und sich von ihm zu distanzieren, ohne sich mit den schockierenden Details auseinandersetzen zu müssen.« (Willem de Haan, Todestango)

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Abkürzungen

ASK:

Außerordentliche Staatliche Kommission der Sowjetunion zu den Verbrechen in der Region Lemberg BAK: Bundesarchiv Koblenz BAL: Bundesarchiv Ludwigsburg BpK: Bildarchiv preußischer Kulturbesitz DANA: Deutsche Allgemeine Nachrichtenagentur DAW: Deutsche Ausrüstungswerke DENA: Deutsche Nachrichtenagentur DG IV: Durchgangsstraße Süd (sogenannte Rollbahn) dpa: Deutsche Presseagentur DRA: Deutsches Rundfunkarchiv EK: Einsatzkommando FR: Frankfurter Rundschau GG: Generalgouvernement GARF: Gosudarstvennyi arkhiv Rossiiskoi Federatsii (Staatliches Archiv der Russischen Föderation) GFH: Ghetto Fighters’ House HKP: Heereskraftfahrzeugpark HSSPF: Höherer SS- und Polizeiführer IMT: International Military Tribunal IWM: Imperial War Museum JAFK: Jüdisches Antifaschistisches Komitee KdF: Kraft durch Freude KPdSU: Kommunistische Partei der Sowjetunion Kripo: Kriminalpolizei NGBK: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst NKWD: Narodnyj Kommissariat Wnutrennich Del (sowjetische Geheimpolizei 1936–1946) NN: Nürnberger Nachrichten NS: Nationalsozialismus NSDAP: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

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»Der Todestango«

NSG: NWDR: Orpo: POW: RAF: RBB: RKK: RMK: RSHA: SA: SD: Sipo: StAL: SSPF: SZ: VEJ: UdSSR: USAAF: USHMM: WDR: WVHA: ZAL:

Nationalsozialistische Gewaltverbrechen Nordwestdeutscher Rundfunk Ordnungspolizei Prisoner of war Royal Air Force Rundfunk Berlin-Brandenburg Reichskulturkammer Reichsmusikkammer Reichssicherheitshauptamt Sturmabteilung Sicherheitsdienst Sicherheitspolizei Staatsarchiv Ludwigsburg SS- und Polizeiführer Süddeutsche Zeitung Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United States Army Air Forces United States Holocaust Memorial Museum Westdeutscher Rundfunk Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt Zwangsarbeitslager

Ungedruckte Quellen

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Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg (BAL) BAL B 162/29309: Vernehmungsprotokolle der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission der Sowjetunion (ASK) vom September 1944 BAL 162/5764: Vernehmung Fritz Gebauer am 17. Mai 1961 BAL 162/5764: »Geburtstag im Konzentrationslager«: Simon Wiesenthals Bericht über seine Rettung BAL B162/5766: Vernehmungsprotokoll Richard Rokita vom 21. September 1960 und 9. August 1961 vor der Kriminalpolizei Waldshut. BAL B 162/29309: Vernehmungsprotokolle der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission der Sowjetunion (ASK) vom September 1944

Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL) StAL EL 317 III Bü 1721: Tagebuch Samuel Drix StAL El 317 III Bü 1724: Erinnerungen Josef Weinberg, »Dort, wo der Tod eine Linderung war« StAL El 317 III Bü 2034: Vernehmung Leon Wells am 11. April 1949 durch das Konsulat der Republik Polen in München StAL EL 48/2 I 385: Vernehmung Richard Rokita am 13. November 1961 vor dem Amtsgericht Waldshut StAL EL 317 III Bü 1520: Aussage Leon Wells am 2. Mai 1961 im »Eichmann-Prozess« in Jerusalem StAL EL 317 III Bü 1720: Stanisława Gogołowska, »Schule der Grausamkeit«, Teilübersetzung ins Deutsche StAL EL 317 III Bü 1674: »Die Verbrechen der Deutschen, begangen auf dem Territorium des Lemberger Bezirks.« Übersetzung des Prawda-Berichts vom 23. Dez. 1944 ins Deutsche

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»Der Todestango«

StAL EL 317 III Bü 1722: Aktenvermerk Rolf Sichting zur Übersetzung von Leon Wells Todesbrigade StAL EL 317 III Bü 1538: Anklageschrift im Lemberg-Tatkomplex (10. März 1965) StAL EL 333 II Bü 1771: Anklageschrift im Tarnopol-Tatkomplex (20. März 1964) StAL EL 317 III Bü 2015: Rokitas Werdegang (geschrieben in Ich-Form) StAL El 317 III Bü 1698: Deutsche Übersetzung der Berichte der drei ehemaligen Häftlinge des Janowska-Lagers Dr. Josef Göbel, Abraham Beer und Dr. Szymon Haupt StAL EL 48/2 I Bü 385: Anhörung Simon Wiesenthal am 6. Juni 1961 im Kriminalkommissariat Waldshut StAL EL 48/2 Bü 397: Vernehmung Richard Rokita am 9. August 1961 vor der Sonderkommission des Kriminalkommissariats Waldshut StAL EL 317 III Bü 1517: Aussage Richard Rokita bei der Vernehmung am 21.9.1960

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»Der Todestango«

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»Der Todestango«

des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. Bd. 9. München: C. H. Beck, S. 125154. Westermann, Claudia (1997): Nachwort. In: Claudia Westermann (Hg.): Adresse: Sachsenhausen. Literarische Momentaufnahmen aus dem KZ. Gerlingen: Bleicher, S. 159-178. Wette, Wolfram (2012): Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer. Wiedemann, Barbara (2011): Welcher Daten eingedenk? Celans Todesfuge und der Izvestija-Bericht über das Lemberger Ghetto. In: Wirkendes Wort 2011 (3/2011), S. 437-452. Wieprecht, Wilhelm (2020): Die Militair-Musik und die militair-musikalische Organisation eines Kriegsheeres. Hinterlassene Denkschrift. In: Achim Hofer; Lucian Schiwietz (Hg.): Wilhelm Wieprecht (1802–1872). Korrespondenz, Schriften und Dokumente zu Leben und Wirken. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 446-463. Wierling, Dorothee (2008): Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – drei Geschichten und zwölf Thesen. In: Bios: Zeitschrift für Biographieforschung, oral history und Lebensverlaufsanalysen 21 (1), S. 28-36. Wiesenthal, Simon (1967): Doch die Mörder leben. Gütersloh: Bertelsmann. Wiesenthal, Simon (1970): Die Sonnenblume. Von Schuld und Vergebung. Hamburg: Hoffmann und Campe. Wiggershaus, Rolf (1986): Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung. München: Carl Hanser. Wnuk, Rafal (2009): Zwischen Scylla und Charybdis: Deutsche und sowjetische Besatzung Polens 1939–1941. In: Osteuropa 59 (7/8), S. 157-172. Wortsman, Peter, S. 6-13: Orpheus raising hell. Impressions of the late Aleksander Kulisiewicz. In: Aleksander Kulisiewicz (Hg.): Ballads and broadsides. Songs from Sachsenhausen concentration camp 1940–1945. Washington, D.C. Wulf, Joseph (1963): Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Gütersloh: Sigbert Mohn. Wynnytschuk, Jurij (2014): Im Schatten der Mohnblüte. Roman. Innsbruck: Haymon. Yones, Eliyahu (1999): Die Straße nach Lemberg. Zwangsarbeit und Widerstand in Ostgalizien 1941–1944. Bearbeitet von Susanne Heim. Frankfurt a.M.: Fischer. Yones, Eliyahu (2018): Die Juden in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939–1944. Stuttgart: Ibidem. Young, James E. (1992): Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag.

Literatur

Zabarko, Boris; Müller, Margret; Müller, Werner (Hg.) (2019): Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden. Unter Mitarbeit von Dieter Pohl, Natalia Blum-Barth und Christian Ganzer. Berlin: Metropol. Zaderecki, Tadeusz (2018): Lwów under the swastika. The destruction of the Jewish community through the eyes of a Polish writer. Jerusalem: Yad Vashem.

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Geschichtswissenschaft Manuel Gogos

Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n) 2021, 272 S., Hardcover, Fadenbindung, durchgängig vierfarbig 40,00 € (DE), 978-3-8376-5423-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5423-7

Thomas Etzemüller

Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion 2021, 294 S., kart. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2

Thilo Neidhöfer

Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 2021, 440 S., kart., 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4

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Geschichtswissenschaft Norbert Finzsch

Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 2021, 528 S., kart., 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7

Frank Jacob

Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert 2021, 88 S., kart. 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2021/2, Heft 84: Monogamie 2021, 182 S., kart., 4 Farbabbildungen 22,00 € (DE), 978-3-8376-5344-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5344-5

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