Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland [1 ed.]
 9783428487523, 9783428087525

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GUNDULA HELMERT

Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 92

Der StaatsbegrifT im petrinischen Rußland Von Gundula Helmert

DUßcker & Humblot · Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Helmert, Gundula: Der Staats begriff im petrinischen Russland I von Gundula Helmert. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Beiträge zur politischen Wissenschaft; Bd. 92) ISBN 3-428-08752-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08752-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Inhaltsverzeichnis I. Zielsetzung und Begriffsdefmitionen...........................................

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ll. Quellencharakteristik und Forschungsstand .................................

21

ill. Staatsterritoriwn..........................................................................

31

IV. Staatsvolk....................................................................................

39

V. Legitimationsgrundlagen und Staatszwecke........... ... ............ .......

45

VI. Zur Person des Souveräns............................................................

79

Vll. Gesellschaftliche Stellung des Adels ......................... ...... ............

94

Vill. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit................................. 107 IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertwns ................................. 120 X. Gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft .... ..... ................. ...... 132 XI. Staatstragende Werte I Staatsgefährdende Unwerte ..................... 150 Xll. Heer und Flotte ............................................................................ 161 Xill. Die neue Hauptstadt .................................................................... 181 XIV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen .... ... ...... ....... ................... ...... 189 XV. Lokale Verwaltungseinrichtungen ............................................... 205 XVI. Staatskirchenturn ........ .... .......... ............ ............ ... ................... ..... 223 XVll. Finanzwesen................................................................................ 235 XVill. Staatliche Wirtschaftsförderung .... ........................ ....................... 253 XIX. Bildung und Wissenschaft ............................. ;............................. 265

6

Inhaltsverzeichnis

xx.

Aspekte des Rechtsstaates .... .............. ............ ............. ................ 278

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates ..................................................... 290 XXII. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa ............ 296 XXIll. Spezifika des russischen Absolutismus unter Peter I. .................... 312

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung ................................................ 324 Literaturverzeichnis ................ ............. ................................. ................ ... 335

Personenregister....................................................................................... 347 Sachregister............................................................................................. 352

I. Zielsetzung und BegritTsdefinitionen Rußland durchlebt derzeit eine der heftigsten Krisen seiner Entwicklung, da der Übergang von der zentralen Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft sowie die Ablösung von Einparteiherrschaft und bürokratischem Totalitarismus durch eine pluralistische und demokratische Ordnung erhebliche Reibungsverluste verursachen. Das ehemals riesige Staatsgebiet der UdSSR zerfiel Ende 1991 in fünfzehn Nationalstaaten. Deren größter, die Russische Föderation, besitzt zwar seit Dezember 1993 eine vom Volk mehrheitlich gebilligte Verfassung mit Grundrechten, Anerkennung der ideologischen Vielfalt in der Gesellschaft und formaler Gewaltenteilung. Problematisch allerdings erscheint dabei die starke Stellung des Präsidenten, die sich vor allem darin ausdrückt, daß er die Duma auflösen und auch ohne ihre Zustimmung selbständig Dekrete erlassen darf, soweit sie mit der Verfassung in Einklang stehen. Ferner bestimmt er maßgeblich die Regierungsmannschaft, hat den Oberbefehl über die Streitkräfte und kann im Notfall den Kriegszustand oder den Ausnahmezustand ausrufen und dabei wesentliche Grundrechte außer Kraft setzen. 1 Die Abberufung des Präsidenten wird mit dem englischen Ausdruck "impeachment" umschrieben, da bezeichnenderweise ein genuin russisches Wort für diesen Vorgang fehlt. Gemäß Artikel 83 der Verfassung der Russischen Föderation ist sie an so hohe Mehrheiten in der Duma sowie an die Beteiligung des höchsten Gerichts gebunden, daß sie faktisch kaum zu verwirklichen ist, wie sich erst unlängst im Sommer 1995 angesichts des Tschetschenien-Konfliktes erwies. Hinsichtlich seiner exekutiven Funktionen stützt sich der Präsident auf den überkommenen umfangreichen Verwaltungsapparat, der teilweise korrupt ist, d. h. Bestechungsgelder annimmt und die jeweils eigene Klientel protegiert. Die Lokalverwaltung hat dem Gesetz nach zwar weitgehende Gestaltungsfreiheit, verfügt aber de facto über so geringe Finanzmittel, daß ihre Rechte ad absurdum geführt werden? Die Budgetzuweisungen an die Kommunen erfolgen durch höhere Instanzen, schwanken stark zwischen den einzelnen Regionen, werden teilweise noch während des laufenden Haushaltsjahres gekürzt und erlauben insgesamt keine verläßliche Durchführung dringlicher Vorhaben. Nicht einmal der Erhalt der Bausubstanz kann so überall gewährleistet werden. 3

1 K. Westen, Die Verfassung der Russischen Föderation, in: Oste uropa 9/1994, S.813ff. 2 Ebd., S. 831. 3 K. Mildner, Lokale Finanzen und kommunale Selbstverwaltung in Rußland, in: Osteuropa 8/1995, S. 723, 733.

I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

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Gemessen an der starken Figur des Präsidenten, wirkt das russische Parlament zur Zeit noch weitgehend ohnmächtig. Der frühere Oberste Sowjet wurde von Präsident Boris Nikolaevic El'cin am 21. September 1993 unter Einsatz der Armee gewaltsam aufgelöst, weil er sich der Politik des Präsidenten widersetzt hatte.~ Die Abgeordneten der nachfolgenden Duma, die aus den Wahlen vom Dezember 1993 hervorging, blockierten sich auf weiten Strecken gegenseitig, zankten um Geschäftsordnungsfragen, beschimpften sich lauthals, entrissen mißliebigen Rednern das Mikrophon, kurz benahmen sich in der Anfangsphase ihrer demokratischen Praxis so ungestüm, daß Augenzeugen von einer Art absurdem Theater sprachen; in diesen Vorgängen äußert sich ein historisch bedingter Mangel an Ubung in parlamentarischer Streitkultur. Die Mehrheitsbildung im Parlament gestaltet sich nach wie vor schwierig sowohl, was die letzte Legislaturperiode betraf, als dreizehn Parteien in die Duma einzogen und 182 Reformanhänger mit 212 Reformgegnern aus dem nationalistischen bzw. kommunistischen Lager konfrontiert waren, wobei 56 als unabhängig eingestufte Abgeordnete das Zünglein an der Waage bilden konnten, 5 als auch, was die aktuellen Zustände angeht, wie sie sich nach der Wahl vom Dezember 1995 abzeichnen; diesmal schafften nur vier Parteien den Sprung ins Parlament über die Listenwahl, einige weitere errangen Direktmandate, die Anzahl der Unabhängigen erhöhte sich auf 78, die Kommunisten legten zu, wurden mit 158 von 450 Abgeordneten stärkste Fraktion und bilden nun eine Sperrrninorität in allen Fällen, wo Zweidrittel-Mehrheiten benötigt werden; auch stabile Koalitionen zum Zwecke der einfachen Mehrheitsbildung sind derzeit nicht in Sicht. 6 Als beträchtliches Manko muß angesehen werden, daß viele Parteien in Rußland erst kurzfristig aus dem Boden gestampft wurden und teilweise keine seriösen Programme anboten, so daß die Wähler nicht in jedem Fall einschätzen konnten, für wen oder was sie ihre Stimme abgaben. Diese Desorientierung wird noch gefährlich erhöht durch die irreführende Bezeichnung "Liberal-Demokratische Partei" für die nationalistische Rechte unter Vladirnir Zirinovskij. Die dritte Gewalt in Rußland, die Justiz, erscheint gleichfalls schwach, aus historischen wie aus gegenwartsbezogenen Gründen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kam der russische Staat erstaunlicherweise völlig ohne Juristen aus. Während der Zarenzeit wirkten sie dann im wesentlichen als Handlanger der Regierung. In der Sowjetperiode galt Ahnliches, dafür sorgten einerseits die Inhalte der Gesetze, andererseits die Personalauswahl bei der Postenvergabe, drittens die Furcht. Ein von der Regierung unabhängiges Arbeiten ist die russische Justiz also traditionell nicht gewohnt, auf diesem Feld muß sie erst Erfahrungen sammeln. Derzeit wird ihre Tätigkeit durch eine restriktive Stellenpolitik behindert, wobei insbesondere die Staatsanwaltschaft an gravierender Unterbesetzung leidet, so daß sogar schon Jura-Studenten als Aushilfen eingesetzt wurden. 7 Unterschwellig spürt man hier den Wunsch der Mächti4 5 6 7

Der Spiegel 18/1993, S. 170ff. Der Spiegel 2/1994, S. 109; ebd. 3/1994, S. 115f. Süddeutsche Zeitung vom 27 .12.1995, S. 6. Der Spiegel 37/1994, S. 186.

I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

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gen, einer effektiven Kontrolle möglichst auszuweichen. Die Kriminalität in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft steigt rapide, während sich für den Durchschnittsbürger die bedrohliche Tendenz mangelnder Rechtssicherheit abzeichnet. Für eine effektive Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität fehlt es zudem an entsprechenden Bestimmungen im Strafgesetzbuch. 8 Am 24.12.1990 wurde in Rußland das Privateigentum an Betrieben, Grund und Boden, Wohnhäusern, Banken und Massenmedien per Gesetz eingeführt. Welcher ehemalige Staatsbesitz wann, wo und zu welchem Preis veräußert wurde, entschied die Verwaltung. Von der danach einsetzenden Privatisierungswelle profitierte die durchschnittliche Bevölkerung nur zu etwa vier Prozent in Form von Privatisierungsschecks in Höhe von je 1 000 Rubeln pro Person, die im Herbst 1992 als Anteilscheine kostenlos an alle Bürger abgegeben wurden. 9 Den Löwenanteil von 40 Prozent am früheren Gemeinbesitz sicherte sich die alte und neue Nomenklatura, während je 21 Prozent der Aktiengesellschaften an ihre jeweiligen Belegschaften sowie an die Mafia übergingen. Unter "Mafia" soll dabei eine untereinander verfilzte Gruppierung von Menschen verstanden werden, die hohe Profite auf kriminelle Art unter Umgehung bzw. durch Bruch der Gesetze erzielt. lO Die Nomenklatura schnitt so günstig ab, weil sie am ehesten über alte Beziehungen und Startkapital verfügte; in der Übergangszeit amtierende Betriebsdirektoren veruntreuten zudem Werte des Volksvermögens, indem sie aus den Stammwerken Gelder und Material in zu diesem Zweck neu gegründete private Tochtergesellschaften umleiteten. 11 Von 1988 bis 1993 sank die russische Industrieproduktion um 40 Prozent, worin sich eine gravierende Krise ausdrückt. Viele Betriebe mußten wegen Zahlungsunfähigkeit schließen, Arbeiter bleiben monatelang ohne Lohn, oder sie erhalten verminderte Geldsummen. 12 Auch in der Landwirtschaft ist die Situation unbefriedigend. Die Erzeugerpreise für Maschinen, Dünger usw. steigen rascher als der Erlös für Getreide und Vieh; erschwerend kommt hinzu, daß ein Drittel der Ernte an den Staat verkauft werden muß, der dafür möglichst wenig zahlen Will. 13 Es fehlt an notwendigen Arbeitsmitteln sowie auch infolge der niedrigen staatlichen Abnahmepreise an Motivation bei den Landwirten. Vor diesem Hintergrund verringerte sich zwischen 1990 und 1994 der Anteil der Agrarproduktion an der gesamten Volkswirtschaft von 15,8 auf 10,2 Prozent, im einzelnen lag etwa ein Achtel der Saatflächen brach, während die Milch- und Fleischproduktion

8 W.Kolesnikow / S. Sidorow, Refonnen in Rußland: Auf dem Weg zum korrumpieren Markt?, in: Oste uropa 4/1994, S. 356. 9 K. Schröder / A. Kazmin, Der Privatisierungsprozeß in Rußland. Programmatik, Widersprüche und Erfolge, in: Osteuropa / Wirtschaft 2/1993, S. 121. 10 Finansovye izvestija Nr. 43 vom 27.9.1994, Graphik S.·VIll. 11 S. A. Saizew, Das neue russische Unternehmertum, in: Oste uropa / Wirtschaft 3/1994, S. 188. 12 G. Mrozek, Notbremse gegen den freien Fall, in: Focus 5/1994, S. 159. 13 K.-E. Wädekin, Agrarpolitik in Rußland zur Wende 1993/94, in: Osteuropa 6/1994, S. 515ff.

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1. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

sogar um jeweils rund 20 Prozent zurückging. 14 Dies alles vollzog sich von einem ohnehin niedrigen Ausgarlgsniveau her, so daß inzwischen die Versorgung der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt ist und Importe, vor allem arl Getreide, nötig werden. Da die staatliche Besteuerung der privaten Wirtschaft bis zu 70 Prozent des Gewinns beträgt, hat sich zur Umgehung der Ansprüche des Fiskus eine sogenarmte Schattenwirtschaft gebildet, die Ende 1993 circa ein Siebtel der Gesamtwirtschaft ausmachte. Hier wird schwarz produziert oder Harldel getrieben, werden Gelder und Produkte veruntreut, wird die Buchhaltung gefälscht, illegal Erdöl exportiert, werden Waffen aus Armeebeständen verschoben, Alkohol und Drogen verkauft, Naturalien getauscht. 15 In diesem Bereich ist vornehmlich die bereits erwähnte Mafia aktiv, die sich in rund 5 700 Barlden vor allem in den Großstädten organisiert hat. 1994 erpreßte sie von vier Fünftein der Wirtschaftsunternehmen Schutzgelder oder Luxusgüter, wie z. B. teure Westwaren und Eigentumswohnungen; wer es wagt, sich der Mafia zu verweigern, muß mit Anschlägen auf sein Leben rechnen. In letzter Zeit häufen sich die Morde arl kritischen Journalisten. Weitere typische Betätigungsfelder der russischen Mafia sind Geldwäsche, Drogenharldel, Verschiebung gestohlener Autos aus dem Westen, Geschäfte mit Prostituierten sowie am gefährlichsten der Verkauf von Plutonium aus Kernkraftwerken. Bei ausländischen Firmen werden z. T. in betrügerischer Absicht Waren bestellt, aber nicht bezahlt. Derartige kriminelle Aktionen werden dadurch erleichtert, daß die Mafia über Kontakte zur Polizei, zu Banken und zum Militär verfügt, also gewissermaßen krakenähnlich mit ihren Farlgarmen zahlreiche relevarlte Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu umgreifen SUCht. 16 Die russische Staatsverschuldung wächst schwindelerregend. Im Herbst 1994 belief sie sich auf 100 Milliarden Dollar gegenüber dem Auslarld und 16 Billionen Rubel nach innen, letzteres überwiegend in Form nicht gezahlter Gehälter. Da die Regierung längst die Kontrolle über die Wirtschaftsabläufe verloren hat und nur noch die Notenpresse auf Hochdruck laufen läßt, erreicht die Hyperinflation inzwischen gewaltige Ausmaße. 17 Während Anfarlg der siebziger Jahre Dollar und Rubel noch etwa gleich bewertet wurden, zahlte marl Ende 1994 rund 2 000 Rubel für einen Dollar. Weite Teile der Bevölkerung wissen nicht mehr, wie sie die explosionsartig gestiegenen Kosten für Mieten, Strom, Gas, Eßwaren und Trarlsportwesen noch aufbringen sollen. Insbesondere die RentrJer leiden Not. Früher war der Lebensstarldard zwar auch nicht üppig, aber marl konnte die eigenen Einkünfte und ihren Marktwert wenigstens sicher kalkulieren, da sie nicht ständig inflationsbedingt entwertet wurden. Heute lebt in Rußlarid jeder Dritte am Existenzminimum. Die Gebur14 Ders., Der Niedergang von Rußlands Agrarproduktion, in: Osteuropa 12/1995, S. 1108, ll11f. 15 A. Schulus, Schattenwirtschaft in Rußland: Fonnen, Ausmaße und Bedrohungen, in: Oste uropa / Wirtschaft 3/1993, S. 25lff. 16 Der Spiegel 37/1994, S. 180ff. 17 H. König, Rußland nach den Wahlen vom Dezember 1993. Bericht über die erweiterte Redaktionskonferenz, in: Osteuropa 9/1994, S. 876.

I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

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tenzahlen sind unter die Todesrate gesunken, der Alkoholismus steigt, die LebenselWartung für russische Männer beträgt im Durchschnitt nur noch 59 Jahre. Wegen der Mangelernährung nimmt die Anfälligkeit für Krankheiten zu; eine Grippewelle kostete bereits Todesopfer. 18 Am anderen Ende der sozialen Skala stehen etwa 3,5 Prozent Spitzenverdiener, die ihr Einkommen großenteils illegal elWirtschaften und es bevorzugt auf Auslandskonten parken. Die soziale Schere klafft in Rußland gegenwärtig weiter auf als in den USA; während dort der Abstand zwischen den zehn Prozent Reichsten und den zehn Prozent Ärmsten der Gesellschaft 1: 14 beträgt, liegt er in Rußland neuerdings bei 1: 26. 19 Insgesamt erscheint die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Russischen Föderation bedrohlich und dringend verbesserungsbedürftig. Ihre Hauptkennzeichen sind sinkende Produktion, Korruption, Kriminalität, galoppierende Inflation, massenhafte Annut, wachsende gesellschaftliche Spannungen, denen Parlament, Regierung und Justiz weitgehend hilflos gegenüberstehen. Das Gros der russischen Bevölkerung, das bisher nicht von der Einführung der Marktwirtschaft profitieren konnte und zudem sein über zwei Generationen Sowjetherrschaft aufgebautes Wertsystem in Trümmern liegen sieht, steht vor einer tiefen Sinnkrise, die durch materielle Not noch verschlimmert wird. Der historische Betrachter fühlt sich an die Situation in Deutschland gegen Ende der Weimarer Republik erinnert. Man kann nur hoffen, daß Rußland eine neue totalitäre Diktatur erspart bleibt, wie sie bereits unter Stalin bestand und mit weniger offenen staatsterroristischen Mitteln Ausläufer bis in die Bremev-Ära hinein sprießen ließ. Angesichts der vielfältigen Konflikte im heutigen Rußland könnte es von Interesse sein, nach ihren historischen Wurzeln zu fragen, um auf diese Weise klarere Strategien für die Bewältigung der Zukunft zu gewinnen. Streng genommen müßte man dazu die gesamte Entwicklung des russischen Staates aufarbeiten. Da dies jedoch, zumindest wenn es gründlich geschehen soll, die Arbeitskraft einer einzelnen Person überfordert, konzentriert sich die folgende Darstellung auf den Staatsbegriff und seine praktische Umsetzung im petrinischen Rußland. Gerade diese Epoche bietet sich für die Zwecke unserer Untersuchung besonders an, weil damals gegen Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wichtige Weichen gestellt wurden: außenpolitisch trat Rußland in das Konzert der europäischen Großmächte ein, während Innenpolitisch der Grundstein für den Aufbau eines modemen Staates nach dem Vorbild des westeuropäischen Absolutismus gelegt wurde. Folgende Detailfragen sollen in diesem Zusammenhang geklärt werden: -

Wie veränderte sich das Territorium?

-

Auf welche Weise beeinflußten die naturgegebenen Bedingungen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft?

Literaturnaja gazeta Nr. 32 vom 10.8.1994, S. 12. R. Ahlberg, Soziale Aspekte des Transformationsprozesses. Sozialstruktur und Marktwirtschaft in Rußland, in: Oste uropa 5/1994, S. 431f. 18

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I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

Gab es ein einheitliches Staatsvolk oder nicht? -

Welches waren die hauptsächlichen Staatszwecke, und wer definierte sie?

-

Gab es kaschierte Staatszwecke ?

-

Welche staatstragenden Werte wurden proklamiert? Welche Unwerte galten als staatsgefährdend? Welche staatlichen Machtrnittel waren vorhanden, und wie wurden sie eingesetzt? Konnte der einfache Bürger mit Aussicht auf Erfolg gegen ihn beschwerende Verwaltungsakte vorgehen? Welche Stellung kam dem Monarchen zu? Fühlte er sich an das Recht gebunden? Welche Aufgaben wurden den verschiedenen Schichten im Staat zugedacht? Welche Vorteile besaßen sie, und von welchen Nachteilen waren sie betroffen? Gab es Elemente eines Rechtsstaates?

-

Gab es Elemente eines Wohlfahrtsstaates?

-

Inwiefern beeinflußte das von Byzanz übernommene orthodoxe Christentum den Staatsbegriff? Welche Auswirkungen zeitigte die rund zweieinhalb Jahrhunderte währende mongolisch-tatarische Fremdherrschaft?

-

In welchem Verhältnis standen Autokratie und Absolutismus zueinander? Was wurde im russischen Absolutismus aus Westeuropa entlehnt? Was war spezifisch russisch? Welche Effizienz hatte das System zu seiner Zeit?

-

Welche seiner Bestandteile wirkten nur kurz? Welche erwiesen sich als dauerhaft?

Der wissenschaftstheoretische Hintergrund für das geplante Arbeitsvorhaben läßt sich in lockerem Anschluß an die Frankfurter Schule um Jürgen Habermas und Theodor Adorno knapp so skizzieren: Jede Gesellschaft, die ihre Defizite beseitigen will, muß sich über die eigene Vergangenheit Rechenschaft ablegen, ähnlich wie auch das Individuum seine persönliche Lebensgeschichte durchdenken sollte. Andernfalls besteht die Gefahr, daß sich Fehler perpetuieren, weil Akteure und Betroffene die Determinanten ihres Handelns nicht erkennen. Die Aufklärung der Gesellschaft über deren Vergangenheit ist Sache der Historiker. Klassisch äußerte Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang: "Die Geschichtswissenschaften haben teil an der Dialektik der historischen Aufklärung, die mit der Erweiterung des historischen Bewußtseins geschichtliche Traditionen gerade entkräftet: die historischen Wissenschaften

I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

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setzen die aufgeklärten Subjekte von der naturwüchsigen Gewalt verhaltenssteuernder Traditionen frei.,,20 In ähnlicher Weise formulierte Jörn Rüsen: "Geschichtswissenschaft ist eine institutionalisierte Erinnerungsleistung, die für eine zukunftsfähige Selbstidentifizierung der sie tragenden Gesellschaft notwendig ist.,,21 Als politischen und historisch in der Tradition des Humanismus verankerten Grundwert einer solchen aufklärerisch orientierten Geschichtswissenschaft nannte Amold J. Toynbee das "Wachstum in Richtung auf Selbstbestimmung" möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft,22 während Habermas die ideale Kommunikationsgemeinschaft der Zukunft anstrebte, die "einen herrschaftsfreien Dialog aller mit allen entfaltet".23 Auch Karl Raimund Popper, wohl der bedeutendste Wissenschaftstheoretiker unseres Jahrhunderts, rief dazu auf, der Geschichte der politischen Macht nicht nur entsetzt zuzusehen, sondern sie zu deuten" vom Standpunkt unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für die Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens". Mit dem letzten Punkt meint Popper Kriegstreiber. 24 Zwar wird der Beitrag des einzelnen Historikers zur Durchsetzung dieser Zielwerte gering bleiben, trotzdem aber dürfte sich der Versuch lohnen, da die Summe vieler Anstrengungen im ganzen doch eine gewisse Kraft hervorruft. Bevor also im folgenden die Ursprünge und Inhalte der Staatsauffassung zu Beginn der russischen Neuzeit bewußt gemacht werden sollen, und zwar in emanzipatorischer Absicht, damit die nähere Zukunft möglichst freiheitlich, gerecht und effektiv gestaltet werden kann, erscheint es sinnvoll, zunächst als zentrale Begriffe "Staat", "Macht", "Herrschaft" und "Absolutismus" zu definieren, um auf diese Weise eine gemeinsame Ausgangsbasis der Wortbedeutungen zwischen Autorin und Leser zu schaffen bzw. dem Leser die Bevorzugung abweichender Definitionen zu ermöglichen. Gerade weil es sich um Abstrakta handelt, die zahlreiche Einzelinhalte in sich bergen können, sollte ihre Verwendung reflektiert sein. Das Wort "Staat" bezeichnet ein umfassendes Ordnungsgefüge, in welchem eine bestimmte Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium organisiert ist. Der Kulturhistoriker Jakob Burckhardt nannte den Staat neben Religion und Kultur eine der "drei großen Potenzen" im weltgeschichtlichen Prozeß. 25 20 J. Habennas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt / M. 1971, 2. Aufl., S. 91. 21 J. Rüsen, Ursprung und Aufgabe der Historik, in: H. M. Baurngartner I J. Rüsen (Hrsg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Frankfurt I M. 1976, S. 87. 22 A. J. Toynbee, A Study of History. Some Leading Ideas. Bielefeld I Hannover 1951, S. 38. 23 J. Habennas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt I M. 1970,4. Aufl., S. 164. 24 K. R. Popper, Hat die Weltgeschichte einen Sinn?, in: Baurngartner I Rüsen, Historik, S. 326. 25 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt I M. o. Jahresangabe, S. 7, 25.

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I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

Laut Burckhardt bewirkt der Staat als "systematisierte Gewalt" die "Abdikation der individuellen Egoismen" und soll Recht und Ordnung gewährleisten, auch wenn er ursprünglich durch die Usurpation von Macht entstand. 26 Vor kurzem wiederholte ein zeitgenössischer Autor die schon durch Jahrhunderte vorgetragene Hauptfunktion des Staates, die Herrschaft des Rechts, solle dem einzelnen Sicherheit vor den Übergriffen seiner Artgenossen bieten. Weitere wesentliche Zwecke des Staates bestünden darin, Wehrhaftigkeit nach außen und Wohlstand nach innen zu sichem. 27 Der Verfassungsrechtler Hans Kelsen unterschied zwischen einem soziologischen und einem juristischen Staatsbegriff. Soziologisch betrachtet werden durch divergierende Interessen getrennte Menschen im Staat als soziale Wirklichkeit vereint und tendenziell zu einem gemeinsamen Denken, Wollen und Fühlen zusammengeführt. 28 Dem Staat eignet also eine synthetisierende Kraft, indem er das Verhalten seiner Mitglieder in dieselbe Richtung lenkt. Juristisch gesehen basiert der Staat auf einem System zwanganordnender Normen, die zunächst als "Gedankenwesen" ein Sollen bezeichnen und die sowohl gewohnheitsrechtlich durch Tradition als auch schriftlich fIXiert im Sinne positiven Rechtes auftreten können. Die in den Normen vorgegebenen Gebote oder Verbote werden zur empirischen Realität, indem der Staat ein Monopol legitimen Zwanges gegen abweichendes Verhalten ausübt, d. h. in Gestalt von Gerichten, Armee und Polizei über einen Erzwingungsstab verfügt. 29 Einen sehr originellen Beitrag zur Rechts- und Staatsdiskussion lieferte der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, als er auf ein mythisches Fundament im Rechtsverständnis hinwies. Kolakowski formulierte: "Das mythische Bewußtsein ist allgegenwärtig, obwohl es zumeist schlecht in Erscheinung tritt. Wenn es in jedem Weltverständnis gegeben ist, das die Welt als eine mit Werten ausgestattete sieht, ist es auch in jedem Verständnis der Geschichte als einer sinnvollen gegenwärtig." Mythos bedeutet für Kolakowski "eine sekundäre Projektion unserer praktischen Absicht".30 Mit anderen Worten: der Mensch schafft sich den Mythos ursprünglich selbst und überhöht ihn dann zu etwas Anbetungswürdigem, aus dem er die staatstragenden Normen gewinnt, mit denen er sein kollektives Zusammenleben regelt.

Ebd., S. 27f, 31f. B. Wehner, Nationalstaat, Solidarstaat, Effizienzstaat. Neue Staatstendenzen, neue Staatstypen. Darmstadt 1992, S. 2. 28 H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staats begriff. Neudruck Aalen 1981, S. 4, IOff, 18,44. 29 Ebd., S. 87, 91 (Zitat), 95,107,164,168f; ders., Allgemeine Theorie der Normen. Neudruck Wien 1990, S. 2f, 76; ähnlich M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976, 5. Aufl., S. 18; S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt / New York 1991, S. 181. 30 L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1973, S. 41ff, 45 (Zitat), 48 (Zitat). 26

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I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

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Je nachdem, welcher Teilbereich im staatlichen Aufgabenfeld am stärksten ausgeprägt ist, unterschied der Jurist earl Schmitt den Gesetzgebungsstaat mit zentraler Stellung des Parlaments, den Jurisdiktionsstaat, in dem Richter das letzte Wort haben, den Regierungsstaat mit autoritärem Staatsoberhaupt sowie den Verwaltungsstaat, bei dem die Erledigung von Sachaufgaben vorherrscht. Diese Einteilung ist idealtypisch zu verstehen, denn in der historischen Wirklichkeit treten in der Regel Mischformen auf. Alle diese Staatstypen können sich Schmitt zufolge als Rechtsstaat ausgeben, worunter Schmitt einen schillernden Begriff versteht, der historisch betrachtet mit differierenden Inhalten gefüllt wurde. 3l An anderer Stelle wies Schmitt darauf hin, daß auch solche staatstragenden Werte wie der liberale Kembegriff Freiheit bzw. die öffentliche Ordnung und Sicherheit Verschiedenes bedeuten können. 32 In ideengeschichtlicher Hinsicht setzte sich Friedrich Meinecke intensiv mit dem Begriff der Staatsräson auseinander, die er als "die Maxime staatlichen Handeins, das Bewegungsgesetz des Staates" gleichsam als dessen innere Triebfeder defmierte. Als politisches Schlagwort trat der Ausdruck "ragione di stato" zunächst in Italien seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts auf. Bei seinem Bestreben, den Grundlagen im politischen Verhalten von Machthabern und unterworfenen Massen nachzuspüren, schrieb Meinecke zur Staatsräson: "Auf zwei Quellen läßt sich ihr Ursprung zurückführen, auf den persönlichen Machttrieb der Herrschenden und auf das Bedürfnis des beherrschten Volkes, das sich beherrschen läßt, weil es Gegenleistungen dafür empfängt, und das durch seine eigenen latenten Macht- und Lebenstriebe auch die der Herrschenden mitnährt. Herrschende und Beherrschte werden dabei umschlungen durch ein gemeinsames Band, durch das menschliche Urbedürfnis nach Gemeinschaft.,,33 Wesentlich orientiert an Machiavelli und Hobbes sowie zusätzlich geprägt durch die negativen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, sah Meinecke pessimistisch Verletzungen von Recht und Sitte sowie das Mittel der Kriegsfuhrung als Form der Unkultur als unvermeidbar im Interesse staatlicher Selbstbehauptung an, auch wenn sich das sittliche Empfmden dagegen empöre. 34 Aus heutiger Sicht bliebe kritisch anzumerken, daß Meinecke sehr wenig zwischen den Selbstbehauptungsinteressen der Mächtigen einerseits und der Massen andererseits differenzierte und sie statt dessen unter dem Deckmantel des übergreifenden Abstraktums "Staat" meines Erachtens unzulässig vermengte. Was die Verlaufs geschichte betrifft, so entstand der Staat im historischen Prozeß anfangs aus Urhorden und Stämmen, die sich allmählich zu Nationen zusarnmentaten. 35 Während des Mittelalters dominierte in Westeuropa der Personenverbandsstaat, bei dem das Lehnswesen die Gesellschaft strukturier3l C. Schmitt, Legalität und Legitimität. Berlin 1988,4. Aufl., S. 7ff, 19. 32

Ders., Verfassungslehre. Neudruck Berlin 1983, S. 37.

33 F. Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte. München

1963, S. 2 (Zitat), 11 (Zitat), 54 . 34 Ebd., S. 14,43,251. 35 Wehner, Nationalstaat, S. 1.

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I. Zielsetzung und Begriffsdefinitionen

te, wo abgestufte Herrschaftsansprüche der Feudalherren miteinander rivalisierten sowie Papst und Kaiser um die Oberhoheit rangen. 36 Der frühmoderne Territorialstaat seit Beginn des 15. Jahrhunderts war bereits als zusammenhängende, von der Zentralverwaltung erfaßbare Fläche konstituiert. Er zeichnete sich durch eine Dualität der Machtsphären aus: einerseits regierte der Landesherr, andererseits benötigte er für alle wichtigen Entscheidungen, insbesondere fmanzieller Art, die Zustimmung der Ständeversammlung, in der Adel, hohe Geistlichkeit und Städte korporativ organisiert waren und ihre Rechte verteidigten?7 Aus dem Ständestaat entwickelte sich in Westeuropa durch Zurückdrängung der gesellschaftlichen Mitwirkungsorgane der Absolutismus, für den die Konzentration der Macht in den Händen des einen Souveräns typisch war, wobei der Regent niemandem auf Erden Rechenschaft schuldete. Diese Staatsform hielt sich im Westen nicht lange, weil ihr die institutionelle Absicherung von Freiheit und Menschenwürde fehlte und weil der eine Herrscher von der Fülle der Aufgaben tendenziell überfordert war. Der Absolutismus wurde durch den Verfassungsstaat der Neuzeit abgelöst, der Schutz vor willkürlichen Übergriffen der Obrigkeit bieten soll, indem er unantastbare Grundrechte defmiert und wesentlich unter bezug auf Montes~uieus Hauptwerk von 1748 "De l'esprit des lois" auf Gewaltenteilung setzt. Für den Verfassungsstaat der Neuzeit kann als wesentliches Merkmal gelten, daß auch die Herrschenden dem Gesetz unterworfen sind. Staat, Macht und Herrschaft stehen miteinander in enger Beziehung. Der Staat ist insofern janusköpfig, als er zugleich Rechtsordnung und Machttatsache darstellt. Kelsen meinte in den letzten Jahren der Weimarer Republik, der Wille zur Macht suche sich oft im Staat seine Maske, besonders seit die Gottesidee verblasse und religiöse Bindungen schwächer würden. 39 Heute setzt sich im afro-asiatischen Raum mit dem islamischen Fundamentalismus, bei dem die Normen staatlichen Handelns wesentlich aus dem Koran abgeleitet werden, wieder eine Gegentendenz mit verstärktem Rückgriff auf die Religion als staatstragendes Prinzip durch. Umfangreiche Überlegungen zur Macht fmden sich bereits bei Thomas Hobbes in seinem Hauptwerk "Leviathan" aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hobbes erklärte u.a., Macht könne einzeln oder in Gruppen (parteien) ausgeübt werden, sie bringe Furcht oder Liebe ein und sei generell ein Mittel zur Erlangung von Gütern, um sich ein angenehmes Leben zu sichern. Ein Kernsatz bei Hobbes lautet: "So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet." Hier wird also das 36 H. Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. I, Die Grundlagen. Frankfurt I M. 1970, S. 115; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Reinbek 1975, S. 64. 37 Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 180f; H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Bd. I, Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806. München 1990, 2. Aufl., S. 208f. 38 Ebd., S. 182; Kriele, Staatslehre, S. 65f. 39 Kelsen, Staatsbegriff, S. 232, 250.

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Machtstreben als ein Urtrieb aufgefaßt, ohne daß Hobbes die altruistischen Tendenzen berücksichtigt, die der Mensch ebenso aufweist, vor allem in der Beziehung zur Familie. Zusätzliche Macht könne nötig werden, um bestehende Macht abzusichern, so daß sich eine Art perpetuum mobile ergibt. Die größte Macht sah Hobbes bei den Königen konzentriert. 4o In der modemen Soziologie wird Macht noch defInitiver in Richtung zwischenmenschlicher Konflikte aufgefaßt, nämlich als "Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen" (Max Weber)41 , bzw. als generalisierte Fähigkeit, Ziele und Zwecke in sozialen Beziehungen durchzusetzen (Talcott Parsons). Dies kann entweder durch Motivation oder durch Sanktion geschehen, d. h. durch Geben oder Nehmen, Belohnen oder Bestrafen, Versprechen oder Drohen, Behüten oder Unterdrücken, wobei derselbe Machthaber auch zu beiden Arten von Mitteln greifen kann. 42 In ethischer Hinsicht wird Macht problematisch, sofern sie Furcht erzeugt oder wenn sie gegen die Interessen der von ihr Betroffenen gehandhabt wird. Da die Mächtigen ihre Zwecke umso sicherer erreichen, je größer der Machtabstand zur übrigen Bevölkerung ist, streben sie in der Regel nach Kumulierung ihrer Macht. 43 Sehr pointiert formulierte dazu Jakob Burckhardt: "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel, wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen. ,,44 Abgeschwächter und ausgewogener schrieb Romano Guardini, Macht könne zu positivem Gestalten eingesetzt werden, negativ aber ebenso Fehlgang, Unmaß und Zerstörung bewirken; deshalb forderte er, den Machtgebrauch an ethische Maßstäbe zu binden; leider fehlt in seinen Ausführungen die Konkretisierung dieses Postulats.45 Um den vielen Möglichkeiten des politischen Machtrnißbrauchs vorzubeugen, zeigt der neuzeitliche Rechtsstaat das Streben nach Machtbegrenzung, indem unveräußerliche Grundrechte des Individuums, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Gewaltenteilung und Wahlen zu zahlreichen Ämtern eingeführt wurden. Gegenläufig dazu vergrößert jedoch im 20. Jahrhundert das explosionsartig erweiterte technische Wissen etwa in Gestalt von Abhöranlagen, schwer kontrollierbaren Datennetzen sowie atomaren, biologischen und chemischen Waffen das verfügbare MachtJ!Otential der herrschenden Elite und bedroht Freiheit und Leben des einzelnen. 6

40 T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. I. Fetscher (Hrsg.). Frankfurt / M. 1989,6. Aufl., S. 66, 75 (Zitat). 41 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 542. 42 T. Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien. Opladen 1980, S.60, H. Popitz, Phänomene der Macht. Autorität - Herrschaft - Gewalt - Technik. Tübingen 1986, S. 34, 36; H. Baumann, Macht und Motivation. Opladen 1993, S. 71. 43 H. Haferkamp, Soziologie der Herrschaft. Opladen 1983, S. 141f. 44 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 75, ähnlich S. 105. 45 R. Guardini, Das Phänomen der Macht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 13. Jahrgang. Stuttgart 1962, S. 619f. 46 Popitz, Phänomene der Macht, S. 92, 128f.

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Herrschaft bezeichnet institutionalisierte Macht. 47 Sie ist an Ämter und Funktionen gebunden. Im Unterschied zur Macht wird Herrschaft nicht sporadisch aktualisiert, sondern regelmäßig ausgeübt. Ihr Alltag ist durch Routine und Rituale geprägt, die auch auf die Verkehrsfonnen der Beherrschten untereinander ausstrahlen. 48 Das für sie typische institutionell-organisatorische Gerüst verleiht der Herrschaftsordnung in der Regel eine gewisse Dauerhaftigkeit, obwohl allerdings die weltweit immer wieder gelingende Ablösunf menschenverachtender totalitärer Diktaturen auch Gegenbeispiele liefert. 4 Eine Summe von bürokratischen Herrschaftsverhältnissen bildet den Staat. Analog zur Macht funktioniert auch die Herrschaft nach dem Muster von Befehl und Gehorsam. Damit Herrschaft anerkannt wird und dauerhaft ist, bedarf sie einer Legitimation. Je nach Art der vorherrschenden Rechtfertigungsgrundlage unterschied Max Weber drei Typen von Herrschaft: (1) Die rationale Herrschaft. Sie beruht auf dem Glauben an die Rechtrnäßigkeit gesatzter Ordnungen, die bestimmten Amtsträgern ein Anweisungsrecht einräumen. Diese Art von Herrschaft ist relativ unpersönlich und bedient sich eines bürokratischen Verwaltungsstabes. Ihr wichtigster Repräsentant ist der Vorgesetzte. (2) Die traditionale Herrschaft. Sie basiert auf dem Alltagsglauben an die Richtigkeit von Traditionen. Ihre Leitfigur ist der Herr, an den sich die Gefolgschaft pietätvoll bindet. Er entscheidet nach Gnade und Ungnade, jedoch darf er dabei den Boden der Tradition nicht zu weit überschreiten, weil er sonst seine Herrschaft gefährden würde. Eine festgefügte Hierarchie und fachgeschulte Spezialisten benötigt dieser eher archaische Typ von Herrschaft nicht. (3) Die charismatische Herrschaft. Sie wird geprägt durch die Hingabe vieler an eine vorbildliche Person von besonderer Ausstrahlungskraft. Eine Anhängerschaft glaubt an ihren Führer bzw. an dessen außer-alltägliche Sendung. Wenn der Führer auf eine längere Zeit hin keine Erfolge vorweisen kann, erlischt sein Charisma, und seine Herrschaft endet. Weber verstand diese Einteilung als idealtypisch; in den geschichtlichen Wirklichkeit kommen die Herrschaftsfonnen meistens gemischt vor. 50 In jedem Fall wird durch Herrschaft ein ansonsten eher amorphes Handeln der Gemeinschaft auf verbindliche Ziele hin gebündelt. 51 Einzelne Teilsysteme innerhalb des Herrschaftsverbandes wie z. B. Annee, Bürokratie oder eine besonders wichtige Region können ein so starkes Eigengewicht im gesellschaftlichen Ganzen erhalten, daß sie in der Lage sind, andere Teilsysteme zu steuem. 52 Während Staaten, Macht und Herrschaft bereits seit Jahrtausenden existieren, bezeichnet der Absolutismus eine spezifische Regierungsfonn, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts in fast allen Teilen Europas herausbildete. In 47 Ebd., S. 37; A. Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien. Göttingen 1991, S.9; Haferkamp, Soziologie der Herrschaft, S. 147. 48 Lüdtke, Herrschaft, S. 35f, 41. 49 A. Söllner, Geschichte und Herrschaft. Frankfurt I M. 1979, S. 174. 50 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124ff. 51 Ebd., S. 541. 52 Haferkamp, Soziologie der Herrschaft, S. 304f.

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England wurde sie bereits 1688 infolge der Glorious Revolution abgelöst, in Kontinentaleuropa endete sie mit der Französischen Revolution von 1789 bzw. der Revolution von 1848, in Rußland wurde sie endgültig erst mit der Revolution von 1905/06 überwunden. 53 Kennzeichnend für den Absolutismus war die Zusammenfassung aller staatlichen Gewalt in den Händen des einen Monarchen, des Souveräns, der zugleich als höchster Gesetzgeber, Richter, Heerführer und Verwaltungsoberhaupt fungierte; verglichen mit früheren Zeiten standen ihm dabei effektivere Machtmittel zu Gebote. Der Absolutismus änderte Wesentliches am Verhältnis von Staat und Gesellschaft, indem der Einfluß des Staates in jener Epoche zunahm und die Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation zurückgedrängt wurden. Obwohl der Souverän selbst vom Gesetz ausgenommen war, da er es sonst nicht hätte ändern können, durfte er dennoch nicht völlig willkürlich herrschen, sondern unterlag einer doppelten moralischen Bindung: gemäß der Meinung seiner Zeit hatte er sich vor Gott zu verantworten und im Einklang mit den als unveränderlich geltenden Prinzipien des Naturrechts zu entscheiden, die allerdings nicht allgemeinverbindlich fixiert waren. Ein schrankenloser Despot sollte er nicht sein. 54 Die Legitimationsgrundlagen des absoluten Monarchen werden im fünften Kapitel dieser Arbeit detailliert beschrieben und ideologisch hinterfragt. Im wesentlichen waren es die angebliche Einsetzung des Königs durch Gott, wie sie besonders prägnant Bossuet behauptete, sowie die von Hobbes entwickelte Theorie des Gesellschaftsvertrages, die besagte, die Menschen hätten sich freiwillig ihrer Rechte begeben und sie unwiderruflich einer Obrigkeit übertragen, damit diese ihnen Sicherheit biete und den anfänglichen Kriegszustand aller gegen alle beende. S5 Die Untertanen waren dem Herrscher grundsätzlich zum Gehorsam verpflichtet. Da dies ausnahmslos für alle galt, wurden die ständischen Abstufungen und Vorrechte aus der Egx:he des ausgehenden Mittelalters im Absolutismus tendenziell eingeebnet. An die Stelle der mittelalterlichen Lehenspyramide trat die neue Polarität Regent - Untertanen; soziologisch entstanden auf diese Weise die Strukturen für einen modemen Massenbegriff. Im übrigen deckte die Forschung auf, daß die angestrebte Konzentration aller Macht in den Händen des Staatsoberhauptes in der Alltagspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts oft doch nicht erreicht wurde, da Volksrecht und Landesrecht als Gegenprinzipien fortwirkten und traditionelle Machtorgane dem Herrscher nicht voll dienstbar gemacht werden konnten. 1053 W. Hubatsch, Das Zeitalter des Absolutismus 1600 bis 1789. Braunschweig 1965,2. Aufl., S. 1; H.-J. Torke, Autokratie und Absolutismus in Rußland - Begriffsklärung und Periodisierung, in: U. Halbach I H. Hecker I A. Kappeier (Hrsg.), Geschichte Altrußlands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl. Stuttgart 1986, S. 48f. 54 J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat. P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.). München 1981, Bd. I, S. 590; Hobbes, Leviathan, S. 248. 55 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, S. 284; Hobbes, Leviathan, S. 96, 131, 134; J. B. Bossuet, Politique tiree des pTOpres paroies de I' Ecriture Sainte, in: ders., Oeuvres completes, ed. Lachat. Paris 1862-66, Bd. XXIII, S. 533. 56 Hubatsch, Absolutismus, S. 10.

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sofern haftet der Staatsidee des Absolutismus etwas Idealtypisches an. Sie war eher ein zu Ende gedachtes geistiges Extrem als soziale Wirklichkeit. 57 Philosophisch wurde der absolutistische Staat durch den Rationalismus im Sinne von Rene Descartes mitgeprägt, indem die politischen Denker und praktischen Akteure die Staatsgeschäfte möglichst effektiv regeln wollten bzw. sie zu regeln vorgaben, wobei die Maschine Vorbildfunktion übernahm. 58 In diesem Zusammenhang setzten die absoluten Monarchen neue starke Machtrnittel ein: das stehende Heer, eine vermehrte und zentralistisch ausgerichtete Bürokratie, höhere Steuern, eine merkantilistische Wirtschaftsförderung, welche die Staatseinkünfte steigern sollte, die staatliche Reglementierung der Kirche und des Bildungswesens, schließlich die Polizei. 59 Als sozialpsychologische Grundlage für die Entstehung des westeuropäischen Absolutismus nannten Friedrich Meinecke und Rudolf Vierhaus die verheerenden Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges: eine starke Herrscherpersönlichkeit sollte die Zeit der Glaubenskriege beenden, den wirtschaftlichen Wiederaufbau absichern sowie den Bürgern des Landes Ruhe, Ordnung und Besitzwahrung garantieren. 6o Gegenüber diesen existenzsichernden Werten trat das Streben nach Freiheit in den Hintergrund. Ein ähnliches Erklärungsmuster, nämlich die Überwindung der konfessionellen Spaltung sowie der fast permanenten Kriegs- und Bürgerkriegssituation, griff unlängst Klaus Malettke in einer Darstellung zum französischen Absolutismus unter Ludwig XIV. auf, als Frankreich zum häufig nachgeahmten Modellfall für eine ganze Epoche wurde. 61 Es bliebe zu untersuchen, welche Entstehungszusammenhänge für den Absolutismus in Rußland geltend gemacht werden können, für ein Land also, das am Dreißigjährigen Krieg nicht beteiligt war. Den Begriffen "Staat", "Macht", "Herrschaft" und "Absolutismus" ist gemeinsam, daß sie jeweils hierarchische Strukturen bezeichnen, in denen vielfältige Interessenkonflikte auftreten können. Die genannten Begriffe ordnen die Positionen von Individuen zueinander, jedoch nicht in der Art einer Fixierung von unbegrenzter Dauer, sondern - gerade wegen der Kollision unterschiedlicher Interessen - mit dem dynamischen Aspekt potentieller Veränderbarkeit, wie sie sich in der Geschichte aktualisiert.

57 I. Mieck, Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit. Köln 1989, 4. Aufl., S. 174; J.-P. Findeisen, Das Ringen um die Ostseeherrschaft. Schwedens Könige der Großmachtzeit. Berlin 1992, S.85f, 90, 105, 177f, 186, 243; K. Malettke, Ludwig XIV. von Frankreich. Leben, Politik und Leistung. Göttingen I Zürich 1994, S. 84, 132, 158. 58 B. Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986, S. 14,35, 66f. 59 Meinecke, Staatsraison, S. 485; R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. Göttingen 1984,2. Aufl., S. 1Of. 60 Meinecke, Staatsraison, S.152; Vierhaus, Absolutismus, S. 147. 61 Malettke, Ludwig XIV., S. 59.

11. Quellencharakteristik und Forschungsstand Die Quellen zum Staatsbegriff des russischen Absolutismus aus der Regierungszeit Peters I. zwischen 1689 und 1725 erschließen sich dem Historiker nicht gerade griffig. Hierin dürfte eine wesentliche Ursache dafür liegen, daß die Staatsauffassung im Rußland der frühen Neuzeit bisher noch wenig erforscht wurde. Der neueste Überblicksband von Klaus Adomeit etwa spart diesen Bereich vollkommen aus und läßt die russische Staatsphilosophie unzulässigerweise erst mit den Anarchisten des 19. Jahrhunderts beginnen. 62 Während für Westeuropa seit dem 16. Jahrhundert umfangreiche und in sich abgerundete Werke zur Staatsphilosophie vorliegen, wie die von Niccolo Machiavelli, Jean Bodin, Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Jacques Benigne Bossuet, Samuel Pufendorf und anderen, existierte etwas Vergleichbares für Rußland nicht. Vielleicht ließ die stärkere Jenseitsbezogenheit des von Byzanz übernommenen orthodoxen Christentums die Frage nach der günstigsten Einrichtung weltlicher Herrschaft im russischen Raum nicht in dem Maße aufkommen wie im Westen. Zudem wies Rußland damals ein sehr niedriges Bildungsniveau auf. Universitäten und eine systematisch betriebene Jurisprudenz fehlten, so daß potentielle Träger einer höher entwickelten Staatsphilosophie in diesem wichtigen Bereich ausfielen. Schließlich hätte die Reflektion über den besten Staat die Kenntnis alternativer Modelle vorausgesetzt, was wegen der stark eingeschränkten Mobilität der Bevölkerung im Zaremeich und ferner wegen der Weite des Landes illusorisch war. Auch die Quellengattung "Politische Testamente", in denen westeuropäische Herrscher wie Kardinal Richelieu, Ludwig XIV. von Frankreich, August der Starke von Sachsen und Polen, der Große Kurfürst oder Friedrich II. von Preußen ihre Auffassung vom Staat und von den Pflichten des Regenten an ihre Nachfolger weitergaben, fehlt für Rußland. Peter I. selbst verhielt sich in der Art seines Regierens ausgesprochen pragmatisch. Er regelte die politischen Probleme, wie sie durch die Erfordernisse des Tages anfielen, ohne über ein vorab entworfenes Gesamtkonzept zu verfügen. 63 Sofern der Zar doch etwas Theorie benötigte, stützte er sich in erster Linie auf seinen engen Mitarbeiter Feofan Prokopovic, den Zögling der Kiever Geistlichen Akademie und Erzbischof von Novgorod, der 1722 in Peters Auftrag die "Pravda voli Monarsej vo opredelenii naslednika Dedave svoej", d. h. die Thronfolgeordnung, verfaßte. Diese Schrift von etwa fünfzig 62 K. Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie Bd. 11: Rechtsdenker der Neuzeit. Heidelberg 1995, S. 123ff. 63 B. H. Sumner, Peter the Great and the Emergence of Russia. New York 1962, S.180.

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11. Quellencharakteristik und Forschungsstand

Seiten stellt bereits das umfangreichste direkte Dokument zum russischen Staatsbegriff unter Peter I. dar. Daneben stammen von Prokopovic ein knappes Dutzend Lobreden auf den Regenten und seine Familie, wobei besonders die "Rede von der Macht und Ehre des Zaren" vom April 1718 einige Aspekte zur Klärung der damals favorisierten Herrschaftsauffassung beitragen kann. Da also kaum direkte Quellen zu den russischen Staatsvorstellungen unter Peter I. vorliegen, müssen sie indirekt erschlossen und mosaikartig aus Einzelteilen zusammengesetzt werden. Hier bietet sich als breiter Materialfundus die "Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches" (abgekürzt PSZ) an, die in den Bänden m bis Vß auf rund 3500 Seiten die Regierungszeit Peters behandelt. Diese Quelle wurde von der Autorin im Hinblick auf den damaligen Staatsbegriff komplett ausgewertet. Zar Peter I. war von einem starken Änderungswillen getragen und erließ zwischen 1689 und 1725 insgesamt über 3 100 Gesetze, also durchschnittlich neunzig pro Jahr bzw. alle vier Tage eine neue Regelung. Mit dieser angespannten Aktivität übertraf er die Jahrzehnte vor und nach seiner Herrschaft. Besonders im Manifest zur Anwerbung von Ausländern für den Staatsdienst in Rußland vom April 1702, in der Einleitung zur Heeresordnung vom März 1716 sowie im Generalreglement für die Kollegien vom Februar 1720 liegen einige zusammenhängende Ausführungen zum Selbstbild des Monarchen vor. Im übrigen ergibt sich bereits aus der Fülle der Gesetzgebung, daß Peter die Details der Staatsgestaltung offenbar als etwas von oben Dekretierbares ansah und weniger als eine an Tradition und Volksmeinung gebundene Größe. Insofern war seiner Haltung etwas Selbstherrliches und zugleich etwas Naives eigen, denn der Staat läßt sich nicht formen wie ein toter Lehrnklumpen. Eine weitere Quellengattung neben den Gesetzen stellen die Selbstzeugnisse des Zaren in Form seiner Aufzeichnungen und Briefe dar, die sukzessive ab 1887 in bislang zwölf Bänden herausgegeben wurden und inzwischen bis in das Jahr 1712 reichen. Wer hier allerdings weittragende Reflexionen erwartet, etwa in der Art der Aufzeichnungen Ludwigs XIV. von Frankreich zur Belehrung des Dauphins oder des "Politischen Testaments" und anderer politischer Schriften Friedrichs 11. von Preußen, wird enttäuscht. Vielfach ging es in Peters Briefen nur um knappe ad-hoc-Anweisungen zur Kriegsführung; die breite Masse der Untertanen kam als solche nur ganz selten vor; höchstens wenn sich Aufstände ereigneten, geriet sie kurz ins Blickfeld des Herrschers, und dann ging es darum, wie man den Pöbel möglichst rasch und taktisch geschickt zum Kuschen bringen könne. Unter den wichtigen Mitarbeitern Peters hinterließ außer Prokopovic kaum jemand staatspolitische Äußerungen von größerem Umfang und Bedeutung. Für die Anfangsphase der Herrschaft des Zaren liegt zwar noch das Tagebuch des Generals Patrick Gordon vor, doch sind die Eintragungen dort eher knapp gehalten, betreffen häufig private Dinge und brechen 1699 mit dem Tode des Generals ab. Die Sammlung "Aufzeichnungen russischer Menschen. Die Ereignisse zur Zeit Peters des Großen", die erstmals 1841 in St. Petersburg erschien, eignet sich für unsere Untersuchungszwecke weniger, da sie

II. Quellencharakteristik und Forschungsstand

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stark ereignisgeschichtlich abgefaßt ist, maximal bis 1709 reicht und den Herrscher entweder übertrieben glorifiziert oder die Position seiner Gegner einnimmt, also insgesamt parteilich wirkt. Als abgewogene und aussagekräftige Darstellung aus dem Volk hingegen kann das "Buch über Armut und Reichtum" von 1724 des gebildeten Kaufmanns und ehemaligen Leibeigenen Ivan Tichonovic PosoSkov gelten, in dem der Autor nach gesellschaftlichen Schichten geordnet seine Vorstellungen von einer zweckmäßigen Staatsgestaltung darlegt. PosoSkov wollte dem Zaren diese Abhandlung als Anregung für die Praxis übergeben. Wegen dieser Kühnheit wurde der Kaufmann inhaftiert und starb 1726 im Gefängnis. PosoSkovs Buch ist insofern für unsere Untersuchungszwecke besonders interessant, als es Rückschlüsse auf die tatsächlichen Gegebenheiten in Rußland zu Beginn des 18. Jahrhunderts erlaubt, also auf die Staatspraxis. Ähnlich wertvoll sind die Aufzeichnungen des Engländers John Perry, der sich unter Peter I. für einige Zeit als Schleusenbaumeister in russischen Diensten verdingte, viel im Lande herumkam und Kontakte zu Durchschnittsmenschen gewann. Sein Buch "The State of Russia Under the Present Czar", das erstmals in London 1717 erschien, schrieb er bereits aus sicherer Entfernung, nachdem er den russischen Staatsdienst aus Enttäuschung über das schlechte Management und die unzulängliche Bezahlung quittiert hatte. Dank dieser räumlichen Distanz konnte es sich Perry erlauben, die Verhältnisse in Rußland ungeschminkt und ohne Beschönigung darzustellen. Als letzte und relativ ergiebige Quellengruppe sind noch die Berichte ausländischer Diplomaten zu nennen, die als distanzierte und gebildete Zeitgenossen die Herrschaft des Zaren miterlebten. Zu dieser Kategorie gehören annähernd chronologisch geordnet - das Tagebuch des kaiserlichen Gesandtschaftssekretärs Johann Georg Korb, das wegen der anprangernden Schilderung der grausamen Abrechnung mit den aufständischen Strelitzen auf Veranlassung Peters I. in Wien aus dem Verkauf zurückgeholt wurde. Es folgten die kurzen Aufzeichnungen des kaiserlichen Gesandten Otto Pleyer aus dem Jahre 1710, sodann vereinzelte Berichte des englischen Gesandten Charles Whitworth sowie des französischen Gesandten Jean Casirnir de Baluze und seines Landsmannes Sieur de La Vie, mit denen sie ihre Regenten auf dem laufenden hielten. Mit den politischen und sozialen Gegebenheiten aus der Spätphase der Herrschaft Peters I. befaßte sich kenntnisreich der preußische Legationssekretär Johann Gotthilf Vockerodt, dessen über einhundert Seiten umfassendes Werk erst nach dem Tode des Zaren erschien. Den größten Erfolg einschließlich Übersetzungen erzielte die dreibändige sehr aspektreiche Darstellung "Das veränderte Rußland" aus der Feder des hannoverschen Residenten Friedrich Christi an Weber, der sich unter Peter I. fünf Jahre in Rußland aufgehalten hatte und dann wieder in der Heimat aus der Retrospektive die russische Politik zwischen 1714 und 1730 anschaulich einem breiteren Publikum vermittelte, wobei er dessen Rußlandbild nachhaltig prägte. 64 Die eben aufge64 E. Matthes, Das veränderte Rußland. Studien zum deutschen Rußlandversländnis im 18. Jahrhundert zwischen 1725 und 1762. Frankfurt am Main I Bern I Cirencester 1981, S. 130f.

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11. Quellencharakteristik: und Forschungsstand

führten Quellen erschienen teils als Einzeldrucke, teils in der "Sammlung der Kaiserlichen Gesellschaft für russische Geschichte" (SBIRIO), teils bei den "Lesungen in der Kaiserlichen Gesellschaft für Geschichte und russische Altertümer an der Moskauer Universität". Der Reiz dieser Quellengattung liegt vor allem darin, daß hier die russischen Verhältnisse vor dem Hintergrund alternativer Erfahrungshorizonte beschrieben und ausgewertet wurden. Ferner waren die ausländischen Autoren dem Zugriff des Zaren entzogen und konnten von daher ohne Furcht vor eventuellen Racheakten schreiben, so objektiv, wie es ihnen möglich war. Was die Forschungslage betrifft, so zog die Regierungstätigkeit Peters I. in ereignisgeschichtlicher, weniger jedoch in ideengeschichtlicher Hinsicht die Aufmerksamkeit zahlreicher Historiker auf sich. Unter allen Monographien geriet das sechsbändige Werk von N. G. UstIjalov "Die Geschichte der Regierung Peters des Großen" aus den Jahren 1858 bis 1863 am umfangreichsten. Im Sinne eines russischen Leopold v. Ranke versuchte UstIjalov, durch genaue Recherchen die Wahrheit über Peter ans Licht zu bringen. Der Zar erschien ihm als ein Mann "von flammendem Charakter" und "eisernem Willen". "Er wollte das halbasiatische Rußland in einen Staat mit blühenden Industrien, Künsten und Wissenschaften mit dem nötigen politischen Gewicht in Europa umwandeln.,,65 An anderer Stelle äußerte UstIjalov, Peter habe sich immer an vorderster Front "für den Nutzen des Volkes" eingesetzt,66 eine These, mit der wir uns noch beschäftigen werden. Während der Stalinzeit unternahm es der marxistische Historiker M. M. Bogoslovskij, Ustrjalov an Intensität nachzuahmen oder ihn möglichst noch zu übertreffen. Mit seiner fünfbändigen Darstellung "Peter I. Materialien zu einer Biographie" vom Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts gelangte Bogoslovskij jedoch nur bis 1700, d. h. die entscheidenden politischen Veränderungen unter Zar Peter I. erfaßte er nicht. In dem ehrgeizigen Anspruch, "das Leben Peters Tag für Tag wiederauferstehen zu lassen", äußerte sich prägnant der damalige Personenkult. 67 Ein ideologiekritischer Ansatz kann von Bogoslovskijs Arbeit nicht profitieren. Die russische Geschichtsschreibung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte beträchtliche Schwankungen in der Bewertung von Zar Peters Reformtätigkeit. Der konservative Fürst M. M. Scerbatov sah in Peter I. den Unterdrücker des wertvollen altrussischen Erbes, der guten alten Sitten. Im einzelnen machte ihn Scerbatov verantwortlich für den Niedergang von Glauben, Gesetzestreue und Sippenzusammenhalt sowie für die Übernahme westlicher Luxusbedürfnisse, die den russischen Adel in Geldnot brachte und ihn dem Zaren gegenüber schmeichlerisch werden ließ in der Hoffnung auf einträgliche Ämter. 68 Ahnlich kritisch äußerte sich der Historiker und Literat N. M. 65 N. G. UstIjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago. SPb 1858, Bd. 1., S. XXIXf. 66 Ebd., Bd. III, S. 5. 67 M. M. Bogoslovskij, Petr I. Materialy dlja biografii. Moskva 1940, Bd. I, S. 10. 68 M.M. Scerbatov, 0 povrddenii nravov v Rossii. SPb 1906, S. 5f, 17, 22f, 29f.

II. Quellencharakteristik und Forschungsstand

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Karamzin gegen das Lebenswerk Peters 1., weil sich dieser Herrscher mit seinen Neuerungen gegen die "Natur", gegen die russische nationale Tradition gestellt habe, indem er das Land westeuropäisch verfremdete. 69 Der Liberale S. M. Solov'ev hingegen lobte Peter in den höchsten Tönen als Staatsmann von weltgeschichtlicher Bedeutung, unter dessen Ägide Rußland in historisch sehr kurzer Zeit einen notwendigen Transformations- und Reifeprozeß durchgemacht habe und der endlich die westeuropäische und die osteuropäische Entwicklung zusammengeführt habe. Ferner brachte Solov'ev wiederholt den Gedanken vor, Zar Peter I. habe Rußland durch eine harte, aber unumgängliche Schule geführt, d. h. er sah den Zaren als Lehrmeister seines Volkes. 7o Diese Sichtweise hat durchaus etwas für sich, nur untertreibt Solov'ev die Härte der Zuchtrute in der Hand des Herrschers. V. O. Kljucevskij nahm eine mittlere Position ein, indem er sowohl Peters Verdienste bei der Erneuerung des Landes als auch die menschenverachtende Grausamkeit des Monarchen, so etwa bei der Abrechnung mit den aufständischen Strelitzen, berücksichtigte und zu dem Schluß kam, Peter habe "eine politische Quadratur des Kreises" unternommen, indem er Despotie und Freiheit, Sklaverei und Aufklärung zusammenbringen wollte. 71 Kljucevskijs Meinung erscheint mir persönlich am ausgewogensten. Ferner gestattet seine großenteils soziologisch orientierte Darstellungsweise - er ordnet die Kapitel z. B. nicht rein chronologisch, sondern nach gesellschaftlichen Gruppen - einen guten Überblick. Eine Außenseiterposition unter den russischen Historikern vor der Revolution bezog S. F. Platonov, indem er den Umbruchscharakter in Peters Politik bestritt: außenpolitisch habe der Zar gegen die alten Feinde Türkei und Schweden gekämpft, innenpolitisch sei die Wirtschaft nach wie vor vom Agrarsektor geprägt worden, und auch die gesellschaftliche Schichtung habe unter Peter keine wesentliche Veränderung erfahren. Später in der Emigration deutete Platonov den Zaren dann etwas schwammig als "Kraft" (sila), was letztlich doch auf eine Weichenstellung oder einen Umschwung hinausläuft. 72 Die sowjetrussische Forschung durfte sich nur in den engen Interpretationsmustern des Marxismus-Leninismus bewegen,73 andernfalls hätte der Forscher sein Leben oder zumindest seine Karriere gefährdet. Diese Forschungsrichtung faßte überwiegend unter Stalin bzw. während der spätstalinistischen Breznev-Ära die absolutistische Regierungsweise unter Peter I. als "Spätform N. M. Karamzin, Zapiska 0 drevnej i novoj Rossii. SPb 1914, S. 28, 40. S. M. Solov'ev, Publicnye ctenija 0 Petre Velikom, in: ders., Sobranie socinenij. SPb o. Jahresangabe, S.975ff, 1013f, 1060; ders., Istorija Rossii s drevnejsich vremen, Bd. VII, Moskva 1962, S. 541, 548f. 71 V. O. Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, Moskva 1958, S. 221. 72 S. F. Platonov, Lekcii po russkoj istorii. Petrograd 1917, 10. Aufl., S.540f; ders., Petr Velikij. Licnost' i dejatel'nost'. Paris 1927, S. 13. 73 Vgl. W. Schulz, Die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie. Freihurg I Basel I Wien 1968, S.928ff; H.-J. Torke, Die neuere Sowjethistoriographie zum Problem des russischen Absolutismus, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 20. Berlin 1973, S. 113ff. 69

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11. Quellencharakteristik und Forschungsstand

des Feudalismus" auf, "während derer das feudal-leibeigene System in die Periode des Zerfalls eintrat und sich in seinen Adern die Herausbildung kapitalistischer Beziehungen vollzog". 74 Ein typisches Merkmal der Epoche sei die noch rücksichtslosere Ausbeutung der Werktätigen gewesen. 75 Der Begriff "Feudalismus" läßt sich auf Rußland nicht sinnvoll anwenden, weil die namensgebende Basis dieser Staatsform, das Lehnswesen mit seiner wechselseitigen Treuebindung zwischen Lehnsherrn und Vasall, im Moskauer und Petersburger Reich gar nicht vorhanden war. Wenn er von den marxistischen Historikern trotzdem immer wieder benutzt wurde, so geschah das, um eine scheinbare Parallelität zwischen West- und Osteuropa während des Mittelalters zu konstruieren und auf diese Weise eine universale Verwendbarkeit des marxschen Vokabulars als angeblich unfehlbares Instrument zur Erhellung der Weltgeschichte zu suggerieren. Unterschiedliche Einschätzungen zeigten die marxistischen Historiker hinsichtlich der Frage, welches die staatstragende Schicht im russischen Absolutismus gewesen sei. Während M. N. Pokrovskij hier "das sich entwickelnde Handelskapital" nannte und meinte, der Staat sei in Form eines Kaufmannskontors organisiert worden,76 bezeichneten M. Ol'minskij, E. V. Spiridonova, E. I. Indova, A. A. Preobrafenskij, Ju. A. Tichonov und andere Peters Regierungszeit als Ausdruck der Klassenherrschaft des Adels. 77 N. I. Pavlenko diffenzierte, es habe sich weniger um den Hochadel gehandelt, da die Bojarenduma unter Peter I. entmachtet worden sei, als vielmehr um die Herrschaft des mittleren und niederen Adels (dvOljanstvo).78 S. I. Syromjatnikov wiederum faßte zusammen, unter Peter habe die Staatsrnacht einerseits eine feudale Position eingenommen, indem sie die Interessen der Gutsbesitzer verteidigte, - was ungefähr stimmt, abgesehen von der bereits erwähnten Problematik bei der Übertragung des Begriffs Feudalismus auf die russischen Verhältnisse. Andererseits soll laut Syromjatnikov die russische Staaatsmacht unter Peter I. auch eine antifeudal-bürgerliche Tätigkeit in Form merkantilistischer Schutzmaßnahmen zugunsten der einheimischen Industrie entfaltet haben. Mit diesem zweiten Aspekt übertreibt Syromjatnikov den damals verschwindend geringen Einfluß der russischen Stadtbevölkerung und des Unternehmertums. Insgesamt sei unter Peter I. versucht worden, zwischen den antagonistischen Klassen balancierend für den Staat eine relative Selbständigkeit zu erreichen 74 L. G. Beskrovnyj 1 B. B.Kafengauz (Hrsg.), Chrestomatija po istorii SSSR XVIII veka. Moskva 1963, S. 22. 75 K. A. Sofrenko (Hrsg.), Pamjatniki russkogo prava. Vyp. 8. Zakonodatel'nye aktr, Petra I. Moskva 1961, S. 568. 6 M. N. Pokrovskij, Russkaja istorija v samom szatom oeerke. Moskva 1933, S. 4f, 71. 77 M. Ol'minskij, Gosudarstvo, bjurokratija i absoljutizm v istorii Rossii. Moskva 1925, S. 105; E. V. Spiridonova, Ekonomiceskaja politika i ekonomiceskie vzgljady Petra 1. Moskva 1952, S. 180; E. I. Indova 1 A. A. Preobraienskij 1 Ju. A. Tichonov, Narodnye dvizenija v Rossii XVII - XVIII vv. i absoljutizm, in: N. M. Druzinin u. a. (Hrs~.), Absoljutizm v Rossii (VII - XVIII vv.). Moskva 1964, S. 84. 7 N. I. Pavlenko, K voprosu genezise absoljutizma v Rossii in: Istorija SSSR 4/1970, S. 74.

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und die Illusion zu wecken, das Staatswesen stünde über den Klasseninteressen und diene dem Allgemeinwohl. 79 Dieser dritte Teil von Syromjatnikovs Einschätzung enthält meines Erachtens einen gute Portion Wahrheit, wie noch zu zeigen sein wird. V. I. Buganov schrieb 1989 zur Frage der staatstragenden bzw. vom Staat profitierenden Schichten im russischen Absolutismus, Peter I. festigte "den absolutistischen bürokratischen Staat der herrschenden Klasse der Adligen und der herangewachsenen Bourgeoisie", was wohl als Umschreibung eines Kompromisses gemeint ist. Darüberhinaus habe der Zar wichtige nationale Aufgaben gelöst, indem er Armee und Flotte stärkte, die Wirtschaft förderte und das nationale Selbstbewußtsein erhöhte; negativ sei die Niederschlagung von Volksaufständen zu bewerten. 80 Die zuletzt in russischer Sprache erschienene umfangreiche Monographie "Peter der Große" von N. I. Pavlenko aus dem Jahre 1990 verzichtet auf deutliche Wertungen und überläßt sie dem Leser. 81 Hierin dürfte sich eine Art Unsicherheit der sowjetischen Intelligencija seit den geistigen Umbrüchen der Perestrojka unter Gorbacev ausdrücken. Was die deutsche Forschung angeht, so bieten die Arbeiten von Erich Donnert und Peter Hoffmann aus der früheren DDR im wesentlichen nur einen verdünnten Aufguß des schon in Rußland ausgebreiteten Materials und tragen partiell populärwissenschaftliche Züge. 82 Ganz anders verhält es sich mit der großen zwei bändigen Arbeit von Reinhard Wittrarn "Peter I. Czar und Kaiser" aus dem Jahre 1964, die als gründlich recherchiertes deutsches Standardwerk über Peter I. und seine Zeit gelten kann und zudem ein hervorragendes Register aufweist. Wittrarn stützt seine Darstellung u. a. auf neues Material aus den Staatsarchiven Wiens und Stockholms. Seine Schwerpunkte liegen neben der Innenpolitik bei der Kriegs- und Diplomatiegeschichte Rußlands. Der Autorin dieses Buches erscheint allerdings als unterschwellige Tendenz Wittrarns in seinem Werk eine emoticnal doch wohl zu starke Identifikation mit dem eigenen Forschungsgegenstand problematisch, die Wittrarn dazu verleitete, die negativen Komponenten im Charakter und in der Politik Peters I. wie Trunksucht, Unberechenbarkeit, Grausamkeit, verstärkte Belastung der Volksrnassen, Mord arn eigenen Sohn und potentiellen Nachfolger herunterzuspielen bzw. zu schnell zu entschuldigen. Mit dem Verhältnis von Autokratie und Absolutismus beschäftigte sich Hans-Joachim Torke in seiner mit strenger Logik konstruierten Habilschrift aus dem Jahre 1974 "Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613 - 1689", in der er die Umbrüche vom mittelalterlichen Moskauer Reich hin zu neuzeitlich79 V. I. Syromjatnikov, 'Reguljarnoe' gosudarstvo Petra Pervogo i ego ideologija. Moskva / Leningrad 1943, S. 151. . 80 V. I. Buganov, Petr Velikij i ego vremja. Moskva 1989, S. 185. 81 N. I. Pav1enko, Petr Velikij. Moskva 1990, passim. 82 P. Hoffmann, Rußland im Zeitalter des Absolutismus. Vaduz 1988, passim; E. Donnert, Peter der Große. Der Veränderer Rußlands. Göttingen / Zürich 1987, passim; ders., Peter der Große. Wien / Köln / Graz 1989, passim.

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II. Quellencharakteristik und Forschungsstand

absolutistischen Staatsstrukturen aufzeigt, insbesondere die ursprüngliche Funktion und allmähliche Entmachtung der Reichsversammlungen (Semskie sobory). Ferner beschäftigte sich Torke intensiv mit Periodisierungsfragen des russischen Absolutismus, wobei er als Frühphase von 1676 bis 1762 (Beginn der Regentschaft des Zaren Fedor Alekseevic bis zur Ermordung Peters III.) den "autokratischen Absolutismus" ansetzt und betont, anders als in Westeuropa habe die absolute Gewalt des Herrschers in Rußland nicht speziell erkämpft werden müssen, da sie schon seit Ivan IV. politische Praxis gewesen sei. Die Zeit von 1762 bis 1861 (Regierungsantritt Zarin Katharinas 11. bis zur Bauernbefreiung unter Zar Alexander 11.) rechnet Torke dem "aufgeklärten Absolutismus" zu. Die Periode von 1861 bis 1906 (Einberufung der neuzeitlichen Duma, Übergang zur konstitutionellen Monarchie) charakterisiert er als "Spätabsolutismus".83 Diese Art der Gesamtschau erscheint sinnvoll, weil sich tatsächlich an den Grundstrukturen der zarischen Selbstherrschaft über lange Jahrhunderte hin nichts Wesentliches änderte. In ähnlicher Weise wie Torke widmeten sich auch einige Autoren aus den USA dem Studium des russischen Absolutismus in größeren Zusammenhängen. Stellvertretend sollen hier Paul Dukes genannt werden, der in seinem 1982 erschienenen Buch "The Making of Russian Absolutism 1613 - 1801" die konstituierenden Bedingungen jener Epoche behandelte und dem Zaren Peter I. den Hauptanteil bei der Etablierung des Absolutismus in Rußland zuerkannte,84 ferner Marc Raeff, dessen Buch "The Well-Ordered Police-State" von 1983 die intensive Gängelung des Alltagslebens durch staatliche Vorschriften für die Zeit von 1600 bis 1800 am Beispiel Deutschlands und Rußlands nachvollzog und dabei zahlreiche Parallelen zwischen dem russischen Absolutismus und der Landesherrschaft in Westeuropa aufdeckte. Raeffs Werk bildet meines Erachtens einen der wertvollsten komparativen Beiträge zum Gesamtphänomen des eu.:-opäischen Absolutismus überhaupt, weil es Detailtreue, Anschaulichkeit und einen ungewöhnlich gelungenen Sprachstil vereint, z. B. die Formulierung "The webster of history ist seemless ... ". Im übrigen charakterisiert Raeff den Zaren Peter I. - soweit ich sehe erstmals in der historischen Forschung - als Renaissancepersönlichkeit, was die Energie, den Lerneifer und die Zielstrebigkeit dieses Regenten anbelangt. 85 Bei einer eventuellen deutschen Übersetzung des Buches von Raeff könnte man auch gut von einer Barockfigur im Hinblick auf den russischen Zaren sprechen. Von Robert Massie stammt die Monographie "Peter der Große. Sein Leben und seine Zeit", die 1982 auch auf Deutsch erschien. Positiv fällt die Anschaulichkeit dieses Werkes auf sowie an einigen Stellen das Durchschimmern von Lokalkolorit; negativ könnte man ankreiden, daß die Kriegsgeschichte vom Verfasser unnötig breit behandelt wird, während die Verwal83 H.-J. Torke, Autokratie und Absolutismus, S. 33,49. 84 P. Dukes, The Making of Russian Absolutism 1613 - 1801. London / New York

1982, S. 53. 85 M. Raeff, The Well-Ordered Police-State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and in Russia, 1600 -1800. New Haven / London 1983, S. 195.

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tungsrefonnen sowie ideengeschichtliehe Aspekte ungebührlich kurz wegkommen. Noch drei weitere Titel englischsprachiger Autoren, diesmal eher zu Einzelfragen der absolutistischen Herrschaft, aber natürlich zugleich immer auch vor dem Hintergrund der Epoche, können als besonders gelungen hervorgehoben werden: das großartig recherchierte und sehr anschaulich gehaltene Werk von James Cracraft zur petrinischen Schul- und Kirchenpolitik "Tbe Church Refonn of Peter the Great", Stanford 1971; James Michael Hittles Buch "Tbe Service City. State und Townsmen in Russia, 1600 - 1800", Cambridgel Mass. 1979, in dem als Hauptgedanke die dienende Rolle der russischen Stadt im Gefüge von Autokratie und Absolutismus herausgearbeitet wird, während sich in Westeuropa ja bekanntlich die Städte seit dem Mittelalter zu gesonderten Rechtsbezirken und in Grenzen zu einem Hort bürgerlicher Freiheiten entwikkelten; ferner die Forschungsarbeit von John Le Donne "Absolutism and Ruling Class. Tbe Fonnation of the Russian Political Order 1700 - 1825", New York / Oxford 1991, die von den Wandlungsprozessen im russischen Adel und zugleich von der staatstragenden Elite des zaristischen Rußland zwischen Peter I. und dem Dekabristenaufstand handelt. Abschließend zur Forschungslage soll auf diejenigen drei Werke eingegangen werden, die bisher am engsten auf unser Tbema bezogen waren: (1) 1936 erschien das Buch von Robert Stupperich "Staatsgedanke und Religionspolitik Peters des Großen". Der Autor war nicht von einer Rußland abwertenden nationalsozialistischen Betrachtungsweise infiziert, wie man vielleicht zunächst befürchten könnte. Auf relativ schmaler Faktengrundlage gelangte er zu dem Ergebnis, zur Zeit Peters I. hätten zwei Wurzeln die russische Herrschaftsauffassung gespeist, nämlich einerseits die religiös geprägte Vorstellung, der Monarch sei als der Gesalbte Gottes (pomazannik Gospoden) von diesem ins Amt berufen worden, andererseits die Idee des westlichen Naturrechts, wonach der Fürst das Allgemeinwohl (bonum commune) zu fördern habe. Dieser zweite Topos sei unter dem Zaren Fedor Alekseevic (Regierungszeit 1676 - 1682), dem Stiefbruder Peters 1., nach Rußland vorgedrungen, wobei Fedors Erzieher Simeon Polockij als Vennittler fungiert habe. 86 Was bei Stupperich fehlt, ist die Legitimation der Herrschaft aus der Tradition heraus (starina). (2) 1943 wurde das Werk von V. I. Syromjatnikov "Der 'regulierte' Staat Peters I. und seine Ideologie" veröffentlicht. Leider hält die Darstellung nicht, was der Titel verspricht: nach einer umfangreichen allgemeinen historiographischen Einführung zur russischen Politik unter dem Zaren Peter I. bleibt Syromjatnikov überwiegend in der Ereignisgeschichte stecken und findet kaum zu Abstraktionen. Sein Vorhaben war ursprünglich umfangreicher geplant und blieb unvollendet, vennutlich aus politischen Gründen. Einen wesentlichen Ertrag aus Syromjatnikovs Arbeit bildet die Erkenntnis, daß in Rußland 86 R. Stupperich, Staats gedanke und Religionspolitik Peters des Großen. Königsberg 1936, S. 25f.

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bis ins 17. Jahrhundert hinein der Staat als Erbbesitz (votcina) des Fürsten angesehen wurde 87 und eine aufgeklärtere Einstellung des Monarchen zum Staatswesen als zu einem Gut, dem er auch selbst zu dienen habe, erst im 18. Jahrhundert einsetzte. (3) In jüngerer Zeit unternahm es N. I. Pavlenko, den Begriff Allgemeinwohl (obScee blago) für Rußland zu Beginn des 18. Jahrhunderts näher zu untersuchen, zuletzt in seinem dicken, ziemlich positivistisch und außer im Titel mit wenig Wertungen abgefaSten Buch "Petr Velikij", Moskau 1990. Pavlenkos Meinung zufolge bedeutete Allgemeinwohl in erster Linie, daS die einzelnen Gesellschaftsschichten in unterschiedlicher Weise die Ansprüche des Staates erfüllen sollten: die Bauern durch Zahlung von Steuern und Stellung von Rekruten, die Stadtbevölkerung durch fleißiges Betreiben von Handwerk und Handel sowie entsprechende Steuerleistung, der Adel durch die allgemeine Dienstpflicht im Heer oder in der Zivilverwaltung. 88 Diese Auffassung scheint den Kern des Problems insofern nicht zu treffen, als unter dem Stichwort "Allgemeinwohl" eigentlich Leistungen des Staates für die Bürger und nicht umgekehrt beschrieben werden müßten. Aus diesem Grunde widmet die Autorin in der hier vorliegenden Arbeit zwei Kapitel den Fragen nach der Gewährleistung einer rechtsstaatlichen Ordnung sowie nach dem Umfang wohlfabrtsstaatlicher Leistungen im petrinischen Rußland.

ZusammengefaSt wurde der russische Staatsbegriff unter Peter I. bisher zwar mit zahlreichen Details, insgesamt jedoch nur wenig systematisch bzw. einseitig unter marxistisch verengtem Blickwinkel aufgearbeitet, so daS es sich lohnen könnte, auf der Basis der in die Breite gewachsenen Forschung sowie unter bewußtem Rückgriff auf die am besten tradierten Hauptquellen der damaligen Politik, nämlich sämtliche erlassenen Gesetze der Epoche, sozusagen flächendeckend das damalige Staatsverständnis zu rekonstruieren. Dabei geht es in erster Linie ideengeschichtlich um Fragen der Theoriebildung. Aber auch die Praxis soll nicht vernachlässigt werden, damit sich der Leser die wirklichen Zustände im Russischen Reich zwischen 1689 und 1725 möglichst plastisch vorstellen kann, statt daS ihm nur unanschauliche Abstrakta im Kopf herumschwirren. Am Ende soll dann versucht werden, eine gedankliche Brücke zu den Problemen des russischen Staates der Gegenwart zu schlagen, sofern diese in bestimmten Traditionen wurzeln, die es aufzudecken gilt.

Syromjatnikov, Reguljamoe gosudarstvo, S. 106. N. I. Pav1enko, Petr I (k izuceniju social'no-politiceskich vzgljadov), in: ders. (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I. Moskva 1973, S. 67ff; ders., Petr Velikij, S. 490f, 497. 87

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m. Staatsterritorium Bereits unter Peter I. bildete Rußland flächenmäßig den größten Staat der Erde. Beim Regierungsantritt des jungen Zaren im Jahre 1689 erstreckten sich die gewaltigen Landmassen des Russischen Reiches von Westen nach Osten über mehr als 9 000 Kilometer, und zwar von den Gebieten westlich der Linie Pskov-Smolensk-Kiev über die weiten Ebenen, kleinen Dörfer oder größeren Städte, Sümpfe, Wiesen und dichten Wälder Zentralrußlands sowie über das wald- und tierreiche, aber fast menschenleere Sibirien hinweg bis an den Pazifischen Ozean. Die maximale Nord-Süd-Ausdehnung betrug damals annähernd 4 000 Kilometer und erreichte noch kaum die Wüstengebiete Mittelasiens. 89 Sie durchzog so verschiedene Klimagürtel wie die polamahe Tundra mit Frostperioden von neun bis zehn Monaten, wo Flechten, Moose und Rentiere das Landschaftsbild prägten; erreichte dann die Taiga mit ihren Torfsümpfen, Niedriggehölzen und Nadelwäldern im Norden sowie Mischwäldern weiter südlich; anschließend folgte die siedlungsfreundlichere Waldsteppe mit ihren typischen Laubbäumen Eiche, Linde, Ulme, Ahorn, mit Haselnußsträuchern und Wiesenregionen, auf deren Lößboden Ackerbau betrieben wurde; als letzte größere Region öffnete sich die Steppe mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden bzw. mannshohen Gräsern dort, wo der Boden nicht kultiviert war. 90 Von Nordwesten nach Südosten hin nahmen die Niederschläge ab. Das Klima gestaltete sich kontinental mit langen kalten Wintern, reichlichen Überschwemmungen im Frühjahr, kurzen heißen Sommern und einem buntfarbigen kurzen Herbst. In der nahezu unendlichen Weite des Landes konnte sich der einzelne Mensch fast verloren vorkommen. Insofern lag es von der Erfahrung des riesigen Raumes her wohl näher, eine kontemplative Grundhaltung einzunehmen als eine aktiv-umgestaltende Arbeitstätigkeit zu entfalten. Dem Binnentransport und der Kommunikation in Rußland zur Zeit Peters I. diente in erster Linie ein reich gegliedertes Flußsystem mit Fließrichtung überwiegend von Norden nach Süden im europäischen Teil bzw. umgekehrt von Süden nach Norden im asiatischen Teil des Landes. Der Ural mit seinen mittelgebirgsartigen Erhebungen stellte keine wirkliche Grenze zwischen Europa und Asien dar. Er wurde bereits im 11. Jahrhundert von Novgorod aus überquert, und anschließend reichte das Einflußgebiet der Novgoroder Kaufleute bis zum Ob. 1584 endete ein siegreicher Feldzug unter dem Kosaken Jermak mit der Unterwerfung des sibirischen Chanats unter Moskau. Im Jahre 89 H.-E. Stier u. a. (Hrsg.), Völker, Staaten und Kulturen. Ein Kartenwerk zur Geschichte. Braunschweig 1973, S. 63, 77. 90 H. Bütow (Hrsg.), Länderbericht Sowjetunion. Bonn 1988,2. Aufl., S. 51ff.

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ill. Staatsterritorium

1652 gründeten russische Siedler Irkutsk am Baikalsee, das zum Verwaltungszentrum Ostsibiriens wurde. Im Frieden von Nercinsk vom Spätsommer 1689 regelte der russische Staat seine Beziehungen zu China, indem er sich aus dem Amurgebiet zurückzog und auf weitere Eroberungen in dieser Ge. htete. 91 gen d verzlc Als auffälligstes Merkmal der naturräumlichen Ausstattung des Russischen Reiches kann gelten, daß echte Grenzen nur in Form des Nördlichen Eismeeres, des Pazifiks und des asiatischen Hochgebirges existierten. Diese Offenheit des Territoriums erleichterte einerseits das Vordringen fremder Eroberer, der Normannen im 9. Jahrhundert, der Mongolen und Tataren im 13. Jahrhundert, der Polen zu Beginn des 17. Jahrhunderts sowie im südlichen Landesteil immer wieder Überfälle der Steppennomaden. Andererseits begünstigte das Fehlen natürlicher Grenzen die großflächige eigene Expansion des Moskauer Staates, in erster Linie die Erschließung Sibiriens seit dem 16. Jahrhundert, die man als eine Kolonisation vor der Haustür, zeitlich in etwa parallel zum Ausgreifen der westeuropäischen Staaten nach Übersee, interpretieren könnte. 92 Im Unterschied zu den Vorgängen in Amerika, Afrika und Südasien, wo jeweils mehrere westliche Kolonialmächte um die Herrschaft über diese Territorien miteinander rangen, vollzog sich die Eroberung Sibiriens durch die Russen konkurrenzlos, gewissermaßen als Geschenk der Geschichte. Während der Regierungszeit Peters I. zeigte sich insofern ein Umbruch im russischen Staatsdenken, als das riesige Land zunehmend als Einheit aufgefaßt wurde. Das offizielle Staatssiegel und der volle Titel des Herrschers, wie er im diplomatischen Verkehr mit dem Ausland gebräuchlich war, zählten zunächst noch bis zum Beginn der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts traditionell alle Reichsteile einzeln auf, wobei Sammelbezeichnungen und Einzelterritorien nebeneinander standen. So hieß es während der Doppelregierung von Ivan V., der 1696 starb, und Peter I.: "Von Gottes Gnaden Wir die Durchlauchtigsten und Mächtigsten großen Herrscher Zaren und Großfürsten Ioann Alekseevic Petr Alekseevic des ganzen Großen und Kleinen und Weißen Rußland Selbstherrscher von Moskau, Kiev, Vladirnir, Novgorod, Zaren von Kazan', Zaren von Astrachan', Zaren von Sibirien, Herrscher von Pskov und Großfürsten von Smolensk, Tver', Jugrien, Perm', Vjatka, Bolgar und anderen, Herrscher und Großfürsten von Niinij Novgorod, Cernigov, Rjazan', Rostov, Jaroslavl', Beloozero, Udorien, Obdorsk, Kondinien und der ganzen nördlichen Region, Befehlshaber und Herrscher des Iverischen Landes der Kartalinischen und Grusinischen Zaren und des Kabardinischen Landes der Cerkessen- und Gebirgsfürsten und vieler anderer Herrschaftsgebiete und Länder im Osten und Westen und Norden vom Vater und Großvater her Erben

91 R. H. E. Mellor, Sowjetunion (HaJOls, Handbuch der Erdkunde, Bd. ill). München I Frankfurt I Berlin 1966, S. 32f, 86. 92 W. Philipp, Altrußland bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in: PropyläenWeltgeschichte Bd. V, Frankfurt I München I Berlin 1991,2. Aufl., S.229f; T. Szamue1y, The Russian Tradition. London 1974, S. 166.

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und Nachfolger und Herrscher und Besitzer".93 Eine solche Fülle von Herrschaftsgebieten konnte durchaus imponieren. Daneben fällt auf, daß die Besitzansprüche mit der langen Zugehörigkeit der Territorien zum Russischen Reich im Sinne althergebrachter Rechtstitel untermauert wurden, d. h. der Herrschaftsraum leitete sich wesentlich aus der "starina", der Tradition, ab. Auch ein Erlaß vom 31.10.1699, in dem die Zahlung von Abgaben auf alle Urkunden mit staatlichem Siegel geregelt wurde, nannte die wichtigsten Reichsteile noch separat. 94 Im Jahre 1699 dagegen erschien erstmals eine Münze mit dem Bildnis Peters I. und der zusammenfassenden Umschrift "Selbstherrscher und Befehlshaber von ganz Rußland" (samodeciec i povelitel' vserossijskij) anstelle der alten Aufzählung mindestens der drei wichtigsten Reichsteile Groß-, Kleinund Weißrußland; hier wurde die Abstraktion "ganz Rußland" vermutlich aus Gründen des Platzmangels bevorzugt. 95 Ähnlich hieß es im Jahre 1700 anläßlich eines Vertrages mit einem holländischen Kaufmann über den Vertrieb von Druckerzeugnissen in Rußland wiederum summierend "Unser Russisches Zartum"; analog sollten gemäß einem Edikt vom April 1701 Schreibkundige "in die Städte des Allrussischen Reiches" entsandt werden, um dort Leibeigene zu registrieren. Die hier verwendeten Sammelbezeichnungen für das ganze Herrschaftsgebiet zeugten bereits von einem stärker ausgeprägten Einheitsgefühl. 96 Endgültig seit dem Abschluß des Nordischen Krieges im Jahre 1721, der Rußland mit den neuen Provinzen Livland, Estland, Ingermanland und Karelien den ersehnten handelspolitisch und strategisch wichtigen Zugang zur Ostsee brachte, setzte sich - nach innen wie nach außen - die einheitliche Benennung "Allrussisches Imperium" (Vserossijskaja Imperija) durch, parallel zur Annahme des Kaisertitels durch den Zaren. 97 1725, am Ende von Peters Regierungszeit, betrug die Gesamtfläche des Russischen Reiches 275 571 Quadratmeilen gegenüber 265 128 Quadratmeilen im Jahre 1682, d. h. sie hatte sich um knapp vier Prozent erhöht. 98 Quantitativ war diese Steigerung nicht so bedeutsam, qualitativ hingegen doch, weil sie einer ehemaligen Landmacht die Offnung zum Meer brachte und damit das Russische Imperium aus dem Status einer latenten Großmacht zu einer tatsächlichen Großmacht aufwertete. Entsprechend der Haltung "Sorge um die Ganzheit unseres Staates, der mit göttlicher Hilfe jetzt umso mehr ausgedehnt wurde" bemühte sich der Zar schon frühzeitig um die Sicherung der Grenzen. Sie waren damals in weiten Teilen des Landes noch nicht genau abgesteckt, es gab eher Grenzzonen als 93 Wittram, Peter 1., Bd. I, S. 17f, 398; PSZ VI, S. 453. 94 PSZ m, S. 665.

95 A. Soloviev, Byzance et la formation de I' Etat russe. Recueil d' etudes. London 1979, Teil XI, Le nom byzantin de la Russie, S. 44. 96 PSZ IV, S. 6f, 164. 97 A. N. Filippov, Ucebnik istorii russkago prava. Jur'ev 1907, Bd. I, S. 567. 98 L. Schultz, Russische Rechtsgeschichte von den AnHingen bis zur Gegenwart einschließlich des Rechts der Sowjetunion. Lahr I Schwarzwald 1951, S. 155f.

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Grenzlinien, was eine Paralle zu Frankreich unter Ludwig XIV. darstellte. 99 Um hier gegenzusteuern und eindeutige Verhältnisse zu schaffen, verfügte Peter I. am 29.10.1691, daß die Grenze zwischen Polen und Rußland im Laufe der folgenden zehn Monate genau zu vermessen sei. lOO Nachdem die Russen 1696 die türkische Festung Azov am Schwarzen Meer erobert hatten, sie aber schon 1711 angesichts der osmanischen Übermacht am Pruth wieder räumen mußten, sollte eine Übereinkunft vom 13.7.1714 "Ruhe und Frieden" in dieser Region schaffen. Um die Hände für die weitere Auseinandersetzung mit Schweden frei zu bekommen, stimmte der Zar zu, daß eine gemeinsame Kommission aus Russen und Türken den Grenzverlauf zwischen Dnepr und Don markieren sollte, indem man in regelmäßigen Abständen jeweils zwei gegenüberliegende Hügel aufwarf, welche die Hoheitsgebiete voneinander trennten. 101 Der Zar bevorzugte also klare Grenzen, einerseits, um Konflikte zu minimieren und andererseits, um alle Kräfte auf den Hauptkonflikt mit seinem nördlichen Nachbarn konzentrieren zu können. Zum Schutz der neuen Fabriken und Siedlungen in Sibirien gegen Überfälle der BasKiren wurde am 29.5.1724 angeordnet, die Dörfer im Grenzsiedlungsbereich mit Palisaden und Kanonen auszustatten sowie dort Dragoner zu stationieren. 102 Die sibirische Grenze brauchte erst spät gesichert zu werden, da die Widerstände gegen die Zarenmacht in diesem Raum wegen seiner dünnen Besiedlung lange Zeit gering blieben. Vermutlich aus Geldmangel unternahm Peter I. keine Versuche, etwa analog zum damaligen Frankreich die Grenzen des Reiches durch einen Gürtel systematisch angelegter Festungsbauten abzuschirmen; 103 dies erübrigte sich auch deshalb, weil vom unmittelbaren Nachbarn Polen wegen dessen innenpolitischer Schwäche, die sich aus den Vorrechten der miteinander rivalisierenden Adelsfarnilien sowie aus der handlungsblockierenden Institution des Liberum Veto im Sejm ergab, keinerlei Gefahr für das Russische Reich ausging. Die karthographische Erfassung im lnnern des Landes wurde unter Peter I. vorangetrieben, wenn auch nicht mit der Genauigkeit des späteren österreichischen Katasters zur Zeit Maria Theresias und Josephs ll.; dem standen die Größe Rußlands und der Mangel an Fachkräften entgegen. Bereits 1685/86 waren auf zahlreiche Bitten des Adels hin Landvermesser im europäischen Teil Rußlands tätig geworden, um strittige Besitzverhältnisse zu klären. 104 Im Januar 1696 hieß es dann, alle Städte, Dörfer und Bezirke Sibiriens sollten samt den Entfernungsangaben zwischen ihnen aufgezeichnet werden,105 d. h. Malettke, Ludwig XlV., S. Bf. V. I. Lebedev (Hrsg.), Refonny Petra I. Sbomik dokumentov. Moskva 1937, S. 100 (Zitat); PSZ ill, S. 115. 101 PSZ V, S. 119ff. 102 PSZ VII, S. 291f. 103 1. Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westflilischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime. Göttingen 1986, S. 12, 93f, 104 H.-1. Torke, Adel und Staat vor Peter dem Großen (1649 - 1689), in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 27. Berlin 1980, S. 284. 105 PSZ III, S. 217. 99

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Peter I. bemühte sich schon relativ früh um einen genaueren Überblick über diesen bis dahin am wenigsten erschlossenen Teil des Reiches. Nachdem 1719 der Verwaltungsfachmann und Historiker Vasilij Nikitic Tatiscev dem Zaren die Vermessung des gesamten Staatsgebiets vorgeschlagen hatte, insbesondere um Übergriffen der großen Landeigner auf die Güter des kleinen und mittleren Adels vorzubeugen, verfügte der Monarch am 9.12.1720, aus der St. Petersburger Akademie sollten Absolventen der Fachrichtungen Geodäsie und Geographie Landkarten der einzelnen Gouvernements anfertigen. 106 Diese Karten mit Überblicksdarstellungen oder Detailausschnitten dienten auch allen staatlichen Kollegien, einer Art Ministerien, zur Orientierung. 107 Daneben ließ der Zar Karten vom Schwarzen Meer, von der Ostsee sowie vom Weißen Meer erstellen und setzte Expeditionen zur Erforschung des Kaspischen Meeres und Kamtschatkas in Gang, wobei ebenfalls geodätische Arbeiten zu verrichten waren. 108 Insgesamt bedeuteten die umfangreichen Landvermessungen für Rußland zu jener Zeit eine Neuerung. Sie zeugten von einem hohen Interesse des Herrschers am Territorium seines Reiches, dessen Flächen er einzeln wie insgesamt dem staatlichen Zugriff verfügbarer machen wollte. Insbesondere konnte die karthographische Erfassung des Landes militärischen Zwecken dienen, indem sie etwa ein rascheres Vorrücken der Truppen oder eine gleichmäßigere Verteilung der Stationierungsorte des Heeres ermöglichte. Was die wirtschaftliche Nutzbarkeit der gewaltigen russischen Landmassen betraf, so mischten sich hier günstige und ungünstige Komponenten. Etwa ein Drittel des Territoriums, das Gebiet nördlich des fünfzigsten Breitengrads, war als Dauerfrostboden für die landwirtschaftliche Nutzung ungeeignet. 109 Einen Vorteil stellten die fast unerschöpflichen Waldbestände dar, die für den Hausbau, für Feuerungszwecke, für den Schiffsbau und für den Export genutzt wurden. In Sibirien und dort besonders am Ural entdeckte und erschloß man unter Peter I. mit intensiver staatlicher Förderung Vorkommen an Eisen, Kupfer und Silber, wie sie vor allem die Rüstungsindustrie und die Münzprägung benötigten. 110 Insgesamt deckten die russischen Bodenschätze den Eigenbedarf, so daß Importe in dieser Hinsicht nicht nötig waren. Den merkantilistischen Bestrebungen der Zeit kam diese Unabhängigkeit entgegen. Auch die Ernährung der Bevölkerung konnte durch die eigenen Ressourcen im Grundbestand sichergestellt werden. Zeitgenossen rühmten den Tierreichtum Rußlands, die großen Rentierherden im Norden, die üppigen Fischfanggründe, die

106 C. Grau, Der Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler Vasilij N. Tatiscev (1686 - 1750). Berlin-Ost 1963, S. 27; PSZ VI, S. 266. 107 N. A. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty Petra I. Redakcii i proekty zakonov, zametki, doklady, donosenija, celobitja i inostrannye istocniki. Moskva / Leningrad 1945, S. 506. 108 PSZ V, S. 549f, 607; Donnert, Peter der Große, S. 219. 109 Mellor, Sowjetunion, S. 13, 168. 110 F. C. Weber, Das veränderte Rußland. Reprint Hildesheim / Zürich / New York 1992, Bd. I, S. 33, 178f.

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zahlreichen Hasen und die wertvollen Pelztiere Sibiriens. 111 Die breite eigene Basis an Nahrungsmitteln und Rohstoffen bildete eine wichtige Voraussetzung für den Großmachtstatus des Russischen Reiches, da es so auf die eigenen Kräfte vertrauen konnte und wenig von Importen abhing. Im manpowerSektor hingegen war Rußland zur Zeit Peters I. noch auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen, wenn es die Naturschätze des Reiches entsprechend nutzen wollte.

In schlechtem Zustand befand sich das Straßennetz; von Moskau nach Petersburg z. B. benötigte man mit der Kutsche vier bis fünf Wochen, da man streckenweise im Schlamm nur schwer vorankam oder Brücken beschädigt waren. 112 Erst spät, nämlich im Herbst 1724, versuchte der Zar, hier regulierend einzugreifen, indem er zornig äußerte: "Ich habe schon lange gesagt, daß die Wege wie in Schweden eingerichtet werden sollen ... ". Er forderte eine Ausbesserung der Landstraßen durch die jeweils dort ansässigen Bauern; dabei sollten auch Grenzsteine zwischen den Verwaltungsbezirken und Hinweisschilder auf die nächsten Orte gesetzt werden; ferner war vorgesehen, an den Hauptstraßen HerberBen für Durchreisende im Abstand von zehn bis zwanzig Werst einzurichten.! Auffällig ist hier, wie die staatlichen Mittel geschont werden sollten, indem der Zar den Bauern eine unbezahlte Zusatzarbeit aufbürdete. Die Weite des Raumes verbunden mit einem wenig ausgebauten Verkehrsnetz erschwerte die Regierbarkeit des Landes, zumal auch die Kommunikationsmittel der neuzeitlichen Technik noch fehlten. Imanuel Geiss wandte in diesem Zusammenhang den Begriff "Tyrannei der Entfernungen" auf Rußland an. 114 Einen großen Teil seines Reiches kannte Peter I. nicht aus eigener Anschauung, in Sibirien etwa war er nie gewesen. Umgekehrt hielt sich - Otto Pleyer zufolge - der Gouverneur von Sibirien, ein Fürst Cerkasskij, niemals in Moskau auf. Es dauerte lange, bis die Beschlüsse der Zentrale vor Ort bekannt wurden. Steuerzahlungen aus den Regionen trafen häufig verspätet oder gar nicht in der Hauptstadt ein. Die praktische Durchsetzung von Verordnungen ließ sich kaum kontrollieren, Willkür und Korruption blühten. Pleyer schilderte die Verhältnisse so: "Der Moskauer Zar mußte seit ziemlich langer Zeit und nicht nur einmal betrübt erkennen, welche großen Mißstände bei der Erfüllung seiner Befehle durch die so zahlreichen Voevoden und sonstigen Vertreter der Obrigkeit vorkommen (von denen keiner dem anderen untergeben ist, sondern unmittelbar nur vom Zaren abhängen will), besonders in den dortigen weit entfernten und über wüste Steppen verstreut liegenden Städten und Gebieten, woraus sich für die Mehrheit des Volkes eine sehr schädliche Bedrängnis ergab, die der Zar nicht leicht zu beseitigen imstande war, denn we111 J. Perry, The State of Russia Under the Present Czar. Reprint London 1967, S. 64, 98f, 242. 112 R. Massie, Peter der Große. Sein Leben und seine Zeit. Königstein / Taunus 1982, S. 327. 1 \3 PSZ VII, S. 349 (Zitat), 362ff. 114 I. Geiss / K. Verfuß / H. Wunderer, Der Zerfall der Sowjetunion. Frankfurt/Mo 1995, S.12, 14.

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gen der großen Entfernung konnte er darüber nicht rechtzeitig und gründlich informiert werden ... ". Nun erst - um 1710 - seien die Voevoden Gouverneuren unterstellt worden, die den Einfluß des Zaren vor Ort stärker zur Geltung bringen und geordnetere Verhältnisse erzwingen sollten. 115 Der Zar versuchte also, durch die Einschaltung von Zwischeninstanzen seinem Willen eine größere Durchschlagskraft zu verleihen, ohne zu berücksichtigen, daß sich mit der Etablierung jeder weiteren administrativen Ebene zusätzliche Möglichkeiten der Korruption ergaben. Daneben bemühte sich Peter 1., durch ein verdecktes und offenes Kontrollsystem von Fiskalen bzw. Prokuroren Herr der Lage zu werden, und wiederholt rief er auch die Bevölkerung zur Anzeige von Amtsmißbräuchen auf, doch letzten Endes entzogen sich viele Vorgänge an der Peripherie seinem Einfluß. Aus diesen Umständen lassen sich die sehr zahlreichen Strafandrohungen in seinen Gesetzen erklären, die fast immer den Handlungsanweisungen folgten. Am ehesten schien der Zar noch auf die Furcht der Untertanen ihm gegenüber als Mittel zum Zusammenhalt des Reiches zu vertrauen. J. M. Hittle meinte zum Problem der gewaltigen Ausdehnung des Reiches, die russischen Herrscher hätten eigentlich nur die Wahl zwischen politischer Desintegration odel einem wenig effektiven Zentralismus g~habt, der lokale Initiativen unterdrückte. 116 In der Praxis entschieden sich die Zaren traditionell für den zweiten Weg. Es fragt sich allerdings, ob die naturräumlichen Voraussetzungen des russischen Staates nicht doch kostengünsliger, humaner und effektiver mit einer entwickelten Selbstverwaltung voll Ort hätten verbunden werden können. Die Wahl und Abwahl öffentlicher Funktionsträger hätte die Korruption vermutlich wirksamer eingedämmt, als Strafandrohungen auf dem Papier dies vermochten. Gerade weil der Zar infolge der Weiträumigkeit des Landes außerstande war, die lokalen Obrigkeiten effektiv zu kontrollieren, bot sich eigentlich eine politische Mitbestimmung des Volkes an seinem jeweiligen Wohnort als Alternativlösung an, wenn die Massen nicht zur Beute der Raffgier skrupelloser Beamter werden sollten. In der historischen Perspektive wurde noch bedeUitsam, daß Rußland im Unterschied zu den meisten westeuropäischen Staaten nicht auf dem Kulturboden der Antike entstanden war. Indem Westeuropa an eine bereits hoch entwickelte Zivilisation anknüpfen konnte, erhielt es einen Entwicklungsvorsprung vor Rußland, das sein Staatswesen gewissermaßen auf einer tabula rasa neu gestalten mußte. Die Fließrichtung der russischeI1l Gewässer nach Süden bzw. Norden, nicht aber nach Westen hin begünstigten ebenfalls eine Sonderentwicklung und Abkapselung vom Okzident bis in die Neuzeit hinein, solange Wasserwege die bevorzugten Verkehrsverbindungep darstellten. Ein übriges bewirkte die Mongolenherrschaft über Rußland vom 13. bis zum 15. Jahr115 O. Pleyer, 0 nynesnorn sostojanii gosudarstvennago upravlenija v Moskovii, in: Ctenija v irnperatOfskorn obscestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete. Moskva 1874, Bd. II, S. 1 (Zitat), 15. 116 J. M. Hitt\e, The Service City. State and Townsrnen in Russia, 1600 - 1800. Cambridge / Mass. 1979, S. 23.

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hundert. Sie blockierte die Teilhabe des Landes an den zentral wichtigen Epochen Renaissance, Humanismus und Refonnation, mit denen im Westen ein Aufschwung des wissenschaftlichen Denkens sowie eine Aufwertung des Individuums verbunden waren. Erst Zar Peter I. versuchte, in Rußland durch einen gewaltigen und partiell gewaltsamen Modernisierungsschub den Anschluß an Westeuropa zu erzwingen. Dabei begab er sich zwangsläufig in die undankbare Rolle eines Einzelkämpfers, denn das Volk konnte wegen der Weite des Landes, wegen der Schollenbindung und wegen der über Jahrhunderte hin betriebenen Abwehrpolitik der orthodoxen Geistlichkeit gegenüber fremden Einflüssen keine realistischen, empirisch gestützten Vorstellungen vom Ausland entwickeln. Abstrahiert ergaben sich aus den gewaltigen territorialen Dimensionen des Russischen Reiches zwei hauptsächliche Konsequenzen: positiv boten die fast unerschöpflichen naturräumlichen Ressourcen, sprich diverse Bodenschätze samt Flora und Fauna, günstige Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Autarkie und Großmachtstellung des Landes; negativ hingegen hatten die weiten Entfernungen letztlich eine Asymmetrie der Macht zur Folge, die darin bestand, daß dem Willen des Regenten zwar in der Hauptstadt im großen und ganzen Geltung verschafft werden konnte, viel weniger jedoch in den peripheren Regionen, wo lokale Obrigkeiten egoistische Interessen verfolgten und die offizielle Politik konterkarierten. Aus diesem Spannungsverhältnis resultierte ein Mangel an Effizienz im Staatsapparat, zudem litt die Loyalität der Bevölkerung gegenüber dem Herrscher Schaden. Noch im 20. Jahrhundert scheiterte die zentrale Planwirtschaft der Sowjetepoche an ganz analogen Disproportionen, indem die Betriebe häufig geschminkte Bedarfsanmeldungen und Kapazitätsdaten nach oben weitergaben, während die übergeordneten Planungsinstanzen ihrerseits willkürlich Abstriche vornahmen, so daß Zentrum und Peripherie nicht zusammenarbeiteten.

IV. Staatsvolk Im 17. und 18. Jahrhundert wies das Russische Reich nur eine dünne Besiedlung auf, was seine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung hemmte, indem die Variationsbreite der zwischenmenschlichen Beziehungen vor Ort gering blieb. Zum Vergleich: Frankreich als stilbildende Nation des europäischen Absolutismus war zur selben Zeit etwa vierzig Mal dichter bevölkert, und noch höher lag die Einwohnerzahl der Niederlande pro Quadratkilometer. Im Zarenreich hingegen standen großflächige Räume im Norden und Osten des Landes fast menschenleer. Städte gab es wenige, und sie lagen zudem weit voneinander entfernt. Da genug Ackerfiächen vorhanden waren, nutzten die Bauern das Land eher extensiv als intensiv. Der beträchtliche Abstand zwischen den einzelnen Siedlungen, desgleichen die bäuerliche Schollenbindung, die endgültig gegen Ende des 16. Jahrhunderts fixiert wurde, schließlich auch die langen Winter, die reichlich Zeit zu handwerklicher Betätigung b0ten, bewirkten eine Selbstgenügsamkeit und Eigenversorgung der ländlichen Bevölkerung. Ähnliches galt für die Posad-Bewohner der Städte, die ebenfalls zur Subsistenzwirtschaft neigten, schon weil ihre fmanziellen Mittel gering waren. lI ? Genaueren Aufschluß über die russische Einwohnerschaft und ihre soziale Gliederung lieferten die Daten einer ersten großen allgemeinen Volkszählung, die zwischen 1719 und 1721 stattfand. Sie diente einerseits der Vorbereitung für die Einführung der Kopfsteuer, andererseits als Basis für die Einziehung von Rekruten für Armee und Flotte und entsprach der allgemeinen Tendenz des Absolutismus, den staatlichen Zugriff auf die Bevölkerung zu verstärken. Um die Verheimlichung von Revisionsseelen zu unterbinden, drohte der Zar mehrfach harte Strafen an: Knutung, Folter und sogar Hinrichtung wurden in Aussicht gestellt, falls Dorfälteste oder Gutsverwalter zu niedrige Angaben machen würden; pro unterschlagener Person sollte je ein zusätzlicher Mann als Soldat eingezogen werden; diejenigen Dörfer, aus denen keine Daten einträfen, sollten in den Besitz der Krone fallen; Gleiches galt für die Güter von Voevoden, aus deren Amtsbereich die Ergänzungslisten nicht fristgemäß zugestellt würden. 118 Trotz dieser rigiden Drohungen stellte sich 1724 bei einer weiteren Revision heraus, daß etwa jeder sechste Mann bei der ersten Volkszählung nicht erfaßt worden war;1I9 viele Befragte hatten sich also kooperati-

Hittle, The Service City, S. 22, 42. PSZ V, S. 619; PSZ VI, S. 248, 263, 272f, 290f, 372f. 119 V. M. Kabuzan, Narodonase1enie Rossii v XVIII - pervoj polovine XIX v. Moskva 1963, S. 124. ll?

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onsunwillig gezeigt, denn ihr privater Vorteil war ihnen wichtiger als die Staatseinkünfte oder die Stärke der Armee. Obwohl die Daten der ersten Revision von 1719 bis 1721 nur mit Vorbehalt übernommen werden können, müssen wir doch auf sie zurückgreifen, da Genaueres nicht verfügbar ist. Ihnen zufolge wurden im damaligen Russischen Reich 7 108 711 steuerpflichtige männliche Seelen registriert, darunter rund 200 000 in den neu gewonnenen baltischen Provinzen. Die meisten Menschen lebten im zentralrussischen Gebiet in und um Moskau, Vladimir, Jaroslavl' und Tver', gefolgt vom südlich angrenzenden Raum um Voronez, Tambov, Kursk und Tula sowie der mittleren W olga. Auch der Ural wies eine relativ zahlreiche Bevölkerung auf wegen der dort ansässigen Hüttenindustrie. Die weiten Räume Sibiriens hingegen waren mit circa 300 000 Steuerseelen extrem dünn besiedelt,120 doch auch damals schon gab es dort mehr Russen als Angehörige autochtoner Volksgruppen, etwa doppelt so viele. 121 Unter den 7, 109 Millionen erfaßten Steuerzahlern in Rußland um 1720 machte die männliche Stadtbevölkerung rund 230 000 Personen aus, also etwas mehr als drei Prozent. 122 Verglichen mit den westeuropäischen Verhältnissen, wo durchschnittlich circa zehn bis fünfzehn Prozent der Menschen in den Städten wohnten, war dies sehr weni~. Gleichzeitig umfaßte die russische Bürokratie ungefähr 12000 Mitglieder. 12 An Nicht-Steuerpflichtigen wurden zusätzlich 140 000 adlige Grundbesitzer ermittelt; etwa dieselbe Zahl entfiel auf die Vertreter der Geistlichkeit, wenn man Weltgeistliche und Klosterbewohner zusammenrechnet. 124 Das Heer in einer Stärke von circa 210 000 Mann sowie die Flotte mit 28 000 Mann wären ebenfalls noch hinzuzufügen. Addiert man nun die verschiedenen genannten Kategorien und verdoppelt sie um die weibliche Bevölkerung, die bei der Revision nicht erfaßt wurde und also nur geschätzt werden kann, so ergibt sich eine Gesamtbevölkerun§ Rußlands von rund fünfzehn Millionen Menschen für die Zeit um 1720. 12 Dies entsprach etwa der deutschen Einwohnerzahl zur sei ben Zeit, während die britische Bevölkerung damals zehn Millionen, die französische zwanzig Millionen ausmachte. 126 Als problematisch muß gelten, daß es in Rußland unter Peter I. kein einheitliches Staatsvolk gab, sondern ein Konglomerat aus weit über hundert Nationalitäten. 12 ? Marc Raeff sprach in diesem Zusammenhang von einem 120 Ebd., S. 159ff, 163, 171. 121 AN SSSR (Hrsg.), Sovetskaja Istoriceskaja Enciklopedija, Bd. 12. Moskva

1969, S. 833. 122 Ja. E. Vodarskij, Naselenie Rossii v konce XVII - nacale XVIII veka. Moskva 1977, S. 134. 123 Ebd., S. 90. 124 Ebd., S. 65, 82. 125 Vgl. auch H.-H. Nolte, Der Aufstieg Rußlands zur europäischen Großmacht. Stutt~art 1981, S. 108. 12 C. M. Cipolla / K. Borchardt (Hrsg.), Bevölkerungsgeschichte Europas. München 1971, S. 130. 127 R. A. Mark, Die Völker der Sowjetunion. Opladen 1989, S. 26ff.

IV. Staatsvolk

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"multiethnic and multireligious character of the empire".128 Mit siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung stellten die Russen damals den bei weitem größten Anteil, der sich später infolge schwächerer Geburtematen kontinuierlich verringerte; dann folgten zahlenmäßig die Ukrainer und Balten. Die Turkvölker, im einzelnen Tataren, BaSkiren, Cuvasen, Uzbeken, Kasachen, Kirgisen und Jakuten, bekannten sich überwiegend zum Islam. Von den FinnUgriern, gegliedert in Mordvinen, Udmurten, Komi, Karelier, Saami und andere, hingen viele Menschen noch Naturreligionen und Schamanentum an. Unter den mongolischen Volksgruppen wie Burjaten und Kalmücken dominierte der Buddhismus. 129 Allein in Sibirien lebten um 1700 über fünfzig verschiedene Völker, die zwölf linguistischen Hauptgruppen zuzurechnen waren. Einige von ihnen zogen noch als Nomaden mit Rinder- und Pferdeherden durch die Lande. Nur die wenigsten von ihnen besaßen ein eigenes Schrifttum. 130 Der Grad der Verstädterung war sehr unterschiedlich, den höchsten Wert wies er bei den überwiegend im Baltikum ansässigen Juden auf, da ihnen traditionell kein Landerwerb gestattet war. 131 Die vielgestaltigen Ausprägungen in Sprache, Religion, Brauchtum, Siedlungs- und Wirtschaftsweise bei gleichzeitiger eindeutiger Dominanz der Russen schufen im Zaremeich eine quasi-koloniale Ausgangslage voll innerer Labilität, insofern als sich weitaus die meisten nichtrussischen Völkerschaften politisch unterdrückt und ökonomisch ausgepreßt fühlten und großenteils gegen ihren Willen nur aufgrund militärischen Zwanges im aktuellen Staatsverband verharrten. Während des 19. Jahrhunderts kam in diesem Zusarmnenhang die Rede vom zaristischen "Völkergefängnis" auf; die entsprechenden Fakten bestanden lange vorher. Der Zar reagierte auf die bunt gemischte ethnische Zusarmnensetzung seiner Untertanen gespalten. In einem ausführlichen Erlaß vom 25.8.1713 gegen habgierige Steuereintreiber, die der Bevölkerung zu viel Geld abnahmen und in die eigene Tasche wirtschafteten, erklärte er patriarchalisch-fürsorglich, er wolle "sich als großer Herrscher über die Völker seiner Staaten erbarmen", 132 benutzte also den Plural und erkannte damit indirekt den multinationalen Charakter seines Reiches an. Beim Reglement für das Karmnerkollegium hingegen, das am 11.12.1719 in Kraft trat, strich der Zar im Vorfeld aus der Wendung "über die Ausgaben und Abgaberegelungen des Staates und der ihm angehörenden Nationen, Völker und Provinzen" den Begriff "Nationen", \33 vermutlich weil er der Ansicht war, sein Land dürfe nur eine Staatsnation aufweisen. Hier zeigte sich die Tendenz sowohl zur sprachlichen Verschleierung eines unbequemen Sachverhalts als auch zur inhaltlichen Verdrängung des Nationalitätenproblems. Eine einheitliche Nation hätte sich im Laufe der Raeff, The Well-Ordered Police-State, S. 194. Mellor. Sowjetunion. S. 134ff. 130 B. o. Dolgich. Rodovoj i plemennoj sostav narodov Sibiri v XVII v. Moskva 1960. S. 7. 615ff. 131 A. Kappeier. Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung - Geschichte - Zerfall. München 1992. S. 326. 132 PSZ V. S. 51. 133 Voskresenskij. Zakonodatel'nye akty. S. 560. 128 129

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Zeit eventuell bilden können, wenn es den russischen Staatslenkern gelungen wäre, integrierende Ideale von großer Uberzeugungskraft an die verschiedenen Völkerschaften heranzutragen, wn so ein einigendes Band zwischen ihnen zu schaffen. Diese Aufgabe schien der Zar nicht zu erkennen. In seinen Gesetzen fehlte jeder Hinweis auf eine Art Brüderlichkeit im Umgang der Nationalitäten miteinander, obwohl gerade die vorherrschende ethnische Gemengelage 134 eigentlich dazu aufgefordert hätte, mit derartigen Vorgaben den inneren Frieden zu sichern. So wie sich die absolutistische Staatstheorie über die Meinung der Russen hinwegsetzte, negierte sie weitgehend die Empfmdungen der Nichtrussen; prinzipiell galten ihr alle ethnischen Gruppierungen in gleicher Weise als rechtlose Untertanen. Da es dem Zaren unmöglich war, die vielen Dutzend Nationalitäten seines Reiches wirklich kennenzulernen und er sich auch gar nicht erst darum bemühte, dürften sie sich in seinem Bewußtsein hauptsächlich als amorphe Masse widergespiegelt haben, was die nivellierenden Tendenzen des Absolutismus speziell im russischen Herrschaftsrawn - im Gegensatz etwa zu Osterreich-Ungarn, wo die Regierung den Nationalitäten in Maßen entgegenkam - noch verstärkte. Abweichend von diesem allgemeinen Charakterzug behandelte Peter l verschiedene ej}n.ische Großgruppen des Reiches in manchem Detail doch unterschiedlich, einfach weil er mit differierenden Problemen konfrontiert wurde. Gegenüber Unruhen und kleineren Aufständen der BaSkiren, Kirgisen und Tataren im Süden und Südosten des Reiches zeigte er sich nach Möglichkeit versöhnungsbereit, sofern diese Völker in Zukunft "wie bisher in allem treu dienten mit dem geziemenden Gehorsam". 135 Dieses Verhalten erinnert an einen Vater, der seinen unmündigen Kindern Dummheiten verzeiht, falls sie für die Zukunft Besserung geloben. Parallel dazu ergriff der Zar Vorbeugemaßnahmen zur Sicherung seiner Herrschaft, indem er den Heiden unter der Bevölkerung auf freiwilliger Basis die Taufe anbot und sie dabei mit Steuererleichterungen lockte. Von diesem Ubertritt zwn Christentum wegen wirtschaftlicher Vorteile machten aber nur wenige Menschen Gebrauch, da die verwurzelte Religion ihnen aus Gewissensgründen ein derartig opportunistisches Verhalten verbot. Außerdem ließ Peter l Zehntausende regierungstreuer Kosaken vom Terek in das aufständische Gebiet Südsibiriens wnsiedeln. Eine ähnliche Art der Umsiedlungspolitik zwn Zwecke der Herrschaftssicherung wurde auch in der Sowjetperiode der russischen Geschichte intensiv praktiziert, als zahlreiche Russen in Städte mit überwiegend nichtrussischer Bevölkerung abwanderten, wn dort sozial höherrangige Positionen einzunehmen. Zur Zeit Peters l lautete eine bevorzugte Sprachregelung, die Völker an der Südgrenze sollten sich "in die Untertänigkeit und in den Schutz Ihrer Zarischen Majestät" begeben bzw. dort verharren, wobei der Ausdruck "Schutz" in Wirklichkeit eine Umschreibung für Herrschaft darstellte, die mit Rücksicht auf das Selbstwertgefühl der nichtrussischen Völkerschaften vornehm

134 Kappeier, 135

Rußland als VielvöLkerreich, S. 102. PSZ VI, S. 180.

N. Staatsvolk

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verbrämt wurde. 136 Hier wiederholte sich also der Versuch, Machttatsachen verbal zu kaschieren. Über die Bewohner Sibiriens äußerte Peter in einem Brief an den Senat vom 11.8.1719, man solle von dort möglichst viele Rekruten ausheben, "weil diese Leute bei weitem besser sind als die übrigen",137 d. h. er schätzte die Sibiriaken als ungewöhnlich zäh ein und sah in ihnen ein wertvolles Reservoir für das Militär, das in seinem Denken einen hohen Stellenwert innehatte. In bezug auf die baltischen Provinzen wies der Zar am 28.2.1720 alle Kollegien an, die seit alters her bestehenden Privilegien in diesem Raum zu respektieren; 138 so beugte er in staatsmännischer Klugheit Schwierigkeiten vor und konnte hoffen, die Bevölkerung der neuen Territorien an der Ostsee, die seit der Hansezeit eine beachtliche Kultur und Wirtschaftskraft aufwies, werde seine Herrschaft eher tolerieren. Den Ukrainern kam Peter nicht so weit entgegen. Als sie ihm im April 1722 durch ihren Hetman Ivan II'ie Skoropadskij einen umfangreichen Beschwerdekatalog gegen Übergriffe der großrussischen Verwaltung vorlegten, gestattete er ihnen zwar eine eigene Gerichtsbarkeit und selbständige Steuereintreibung, die Posten von Obersten in ukrainischen Regimentern jedoch blieben weiterhin den Großrussen vorbehalten, so daß ein eventueller Aufstand leichter hätte erstickt werden können. 139 Katharina ll. schaffte dann 1764 die Hetman-Würde ganz ab und setzte statt dessen einen Generalgouverneur russischer Herkunft ein, der vor allem ein erhöhtes Steueraufkommen aus der Ukraine beibringen sollte. 140 Insgesamt erinnert die Ungleichbehandlung der verschiedenen Nationalitäten des Reiches durch Peter I. an die bewährte römische Devise "Divide et impera!". Es ist nicht auszuschließen, daß sich der Zar bewußt an dieses Vorbild hielt, denn er hatte einige Kenntnis von der Geschichte Roms und verehrte Cäsar. Gegen diese Vermutung spricht allerdings, daß keinerlei schriftliche Zeugnisse des Zaren oder seiner engen Mitarbeiter eine Anknüpfung an römische Verhältnisse belegen könnten. Ebensogut oder vielleicht mit mehr Recht läßt sich die petrinische Nationalitätenpolitik dahingehend interpretieren, daß sich der Zar einfach von Störfall zu Störfall durchlavierte, wobei ihm die Bewahrung der Reichseinheit oberstes Gebot war. Jede Abspaltung hätte er als Eingeständnis eigener Schwäche, als Verlust an "Ruhm", gewertet. Damit blieb er dem Staatsdenken seiner Zeit verhaftet. Auch sonstige absolutistische Staaten strebten danach, ihr Territorium zu erweitern statt Flächeneinbußen hinzunehmen. Außenpolitische Konflikte, aber auch innenpolitische Querelen, soweit es um die Rechtsstellung unterworfener Minderheiten ging, waren damit vorprogrammiert.

PSZ VI., S. 220f, 226 (Zitat). SBIRIO Bd. 11, S. 391f. 138 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 496f. 139 PSZ VI, S. 667ff, 682; PSZ vn, S. 26. 140 H. Fleischhacker, Mit Feder und Szepter. Katharina ll. als Autorin. Stuttgart 1978, S. 51ff 136 137

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IV. Staatsvolk

Grundsätzlich bliebe anzumerken, daß ein Vielvölkerstaat wie das Russische Reich zu Beginn des 18. Jahrhunderts stets schwieriger zu regieren ist als ein Staat mit nur einer Volksgruppe, denn im ersten Fall müssen unterschiedliche historische Hintergründe, Sprachen, Anschauungen, Religionen, Sitten und Wirtschaftsweisen miteinander vereinbart werden, oder der Herrschaftsbereich wird auf längere Sicht zerfallen. Während der Epoche des russischen Absolutismus erfolgte die Integration des Staatswesens in erster Linie durch Zwang, ohne daß auf die innere Einstellung der Bevölkerung - mit Ausnahme des Baltikums - besondere Rücksicht genommen wurde. Gerade deshalb war die erzwungene Einheit labil sowie auf emotionaler Ebene brüchig. Der Zar versäumte es, tragende Leitgedanken einer Nationalitätenpolitik zu formulieren, die zugleich für die Betroffenen attraktiv gewesen wären. Theoretisch hätte Peter I. die Zemskie sobory wiederbeleben und ihren geographischen Einzugsbereich erweitern können, um so schrittweise durch die Gewährung von Mitspracherechten eine stärkere Identifikation der einzelnen Reichsteile mit dem Staatsganzen aufzubauen, doch stand dem der absolutistische Zeitgeist entgegen, der gerade umgekehrt jegliche Delegation von Machtbefugnissen seitens des Herrschers für gefährlich erachtete. So konnte sich paradoxerweise höchstens noch ein negatives Element des russischen Absolutismus pazifizierend auf den multiethnischen Charakter des Reiches auswirken: da sämtliche Nationalitäten unterdrückt waren, auch die Russen selbst, fehlte es an lebendigen Beispielen eines besseren Daseins, für das es sich gelohnt hätte zu kämpfen. Staatlichkeit bedeutete damals im Klartext Fremdbestimmung für alle mit Ausnahme des Regenten.

v. Legitimationsgrundlagen und Staatszwecke Entsprechend dem allgemeinen Zug der Zeit zum Rationalismus bemühte sich Peter I. in stärkerem Maße um eine ideologische Rechtfertigung seines Tuns, als dies bei früheren Zaren üblich gewesen war. Da Peters wichtigster Berater in Fragen der Herrschaftstheorie, der Erzbischof von Novgorod Feofan Prokopovic,141 die Werke westlicher Theoretiker wie Grotius, Hobbes und Pufendorf kannte und auch Pufendorfs Schrift "De officio hominis et civis" von 1691 einen Ehrenplatz im Kabinett des Zaren einnahm,142 erscheint es sinnvoll, zunächst den damaligen Stand der westeuropäischen Staatsphilosophie zu charakterisieren, um dann vor diesem Hintergrund die Analogien bzw. Besonderheiten der russischen Herrschaftsauffassung gegen Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts besser herauspräparieren zu können. Die absolutistische Staatstheorie im Westen wurde vorbereitet durch die hohe Wertschätzung der starken Einzelpersönlichkeit während der italienischen Renaissance. In seiner aufsehenerregenden Schrift "Der Fürst" aus dem Jahre 1513 hatte der florentinische Politiker Niccolo Machiavelli (1469 1527) einem ungehemmten Machttrieb der Regenten das Wort geredet. Seine Axiome zur Herrschaftssicherung lauteten z. B.: "Jedem ist klar, daß es lobenswert ist, wenn ein Fürst sein Wort hält und mit Rechtschaffenheit und ohne Hinterlist seinen Weg geht. Allein die Erfahrung unserer Tage lehrt uns, daß nur jene Fürsten mächtig geworden sind, die es mit Treu und Glauben leicht nahmen und sich darauf verstanden, andere zu täuschen und zu betrügen, und daß es jenen, die redlich ihren Verbindlichkeiten nachkamen, am Ende übel erging.'d43 Laut Machiavelli rechtfertigt allein der Erfolg das Tun des Herrschers. Der Fürst darf wortbrüchig, ja sogar grausam sein, sollte sich aber nach außen geschickt mit dem Schein der Tugend tarnen. Im Interesse der "Staatsräson" werde der Herrscher oft gezwungen, die Gebote von Religion und Menschlichkeit zu verletzen. Damit passe er sich jedoch nur seiner Umgebung an, denn die Menschen seien generell schlecht, wankelmütig und machtgierig. Hier zeigt sich der Versuch, unmoralische Verhaltensweisen des Fürsten mit dem Hinweis auf die Niederträchtigkeit seines gesellschaftlichen 141 S. V. Utechin, Russian Political Thought. A Concise History. New York 1 London 1964, S. 40. 142 M. M. Bogoslovskij, Oblastnaja refonna Petra Velikogo. Provincija 1719 - 27 gg. Moskva 1902, S. 16; A. B. Prosina, Apologija absoljutizma v ucenii Feofana Prokopovica 0 gosudarstve i prave in: Vestnik Moskovskogo universiteta. Pravo. 2/1969, S.55.

143 C. Schmid (Hrsg.), Machiavelli. Frankfurt 1 Hamburg 1956, S. 77.

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V. Legitimationsgrundlagen und Staatszwecke

Umfeldes zu rechtfertigen; Herrschaft gerät so zum Uberlebenskampf. In der Quintessenz reduzierte Machiavelli den Staat auf ein Aktionsfeld für den Machttrieb des Regenten: "Es muß also des Fürsten einziger Zweck sein, sein Leben und seine Herrschaft zu erhalten."I44 Dazu waren alle Mittel recht. Machiavelli huldigte also gewissermaßen einer psychologistischen Staatsauffassung: entscheidend war das Wohlbefmden des Herrschers. Das Wohl und Wehe der Untergebenen des Monarchen schien für Machiavelli kein Problem darzustellen. Ebenso negierte er in seiner Herrschaftstheorie die Existenz zwischenmenschlicher Werte. Seine Lehre war zutiefst unethisch und wurde deshalb von vielen nachfolgenden Theoretikern verworfen. Den politischen Hintergrund für Machiavellis Staatstheorie bildeten die Kämpfe innerhalb und zwischen den italienischen Stadtrepubliken, bei denen Machiavelli privat den kürzeren zog, indem er aus Florenz fliehen mußte. Er schrieb also aus einer Haltung der Enttäuschung heraus und erhob dabei vorschnell das Intrigenspiel, das er persönlich erfahren hatte, zu einem allgemeinen Gesetz fürstlichen Handeins. Positiv konnte Machiavellis Bemühen um eine ungeschminkte Darstellung der politischen Handlungsabläufe seiner Zeit vermutlich dazu beitragen, Illusionen der Beherrschten über ihre Regenten abzubauen. Zum eigentlichen theoretischen Begründer des Absolutismus wurde der französische Theologe und Jurist Jean Bodin (1529 - 1596). Auf die lateinische Fassung seines Hauptwerks "Sechs Bücher über den Staat" von 1576 geht die Begriffsbildung "Absolutismus" zurück, und zwar auf den Passus "Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas" .145 Badin nannte die Wissenschaft vom Staat "die fürstlichste von allen". 146 Hierin kam ein bereits verweltlichter Zeitgeist zum Ausdruck, denn im Mittelalter galt noch die Theologie unbestritten als wertvollstes Erkenntnisobjekt. Interessanterweise setzte Bodin das höchste Gut des Staates mit dem des einzelnen und des ganzen Volkes identisch; für ihn war der wichtigste Staatszweck ein Leben "in den Tugenden des Verstandes und der Kontemplation"; er fand es "zwingend, daß ein Volk wahrer Glückseligkeit teilhaftig ist, wenn es als Ziel vor Augen hat, sich in der Betrachtung der natürlichen, menschlichen und göttlichen Dinge zu üben und für alles dem mächtigen Fürsten der Natur zu lobpreisen".147 In ähnlicher Weise hatte bereits Thomas von Aquin in seiner Schrift "Oe regirnine principum" aus der Mitte des 13. Jahrhunderts den "Genuß Gottes" durch ein tu~endhaftes Leben als letzten Zweck der menschlichen Gesellschaft benannt. 48 Auch der bedeutendste Philosoph der Antike, Aristoteles, hatte Kontemplation und Sittlichkeit zum höchsten Glück des ein-

144 145 146 147 148

Ebd., S. 56ff, 78, 79 (Zitat). Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 1. Halbband, S. 590. Ebd., S. 94. Ebd., S. 101. A. Fitzek, Staatsanschauungen im Wandel der Jahrhunderte. Paderbom 1970,4. Aufl., Bd. I, S. 74.

v. Legitirnationsgrundlagen und Staats zwecke

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zeinen wie des Staates erklärt: "Der Zweck des Staates ist also das gute (d. h. tugendhafte) Leben.,,149 Damit die Menschen in Ruhe die Werke Gottes betrachten und genießen könnten, hielt Bodin eine "am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt" für erforderlich. Sie sollte Gerechtigkeit üben, das Eigentum der Bürger schützen, Schwachen helfen, Missetäter bestrafen 150 und zur Durchsetzung dieser Zwecke auf unbegrenzte Zeit über umfassende Machtbefugnisse in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Ernennung von Beamten sowie Entscheidung über Krieg und Frieden verfügen. 151 Diese Idee der obersten unbefristeten und ungeteilten Staatsgewalt, der Souveränität, machte den Kern von Bodins Lehre aus. Er sah sie historisch in den unterschiedlichen Staatsformen von Demokratie, Aristokratie und Monarchie verwirklicht und abstrahierte sie aus ihnen. 152 Persönlich bevorzugte Bodin die Monarchie, weil sich der König die Besten als Gehilfen aussuchen könne und weil die Herrschaft eines einzelnen sowohl in der Familie mit der Dominanz des Vaters als auch allgemein im Universum mit dem Walten des einen Gottes ihre Entsprechung habe. 153 Bodin sah die Monarchie also gleichsam als die natürlichste Herrschaftsform an. Im Unterschied zu Machiavelli, von dem er sich ausdrücklich distanzierte, sprach Bodin den Regenten nicht von jeder moralischen Bindung frei, sondern verpflichtete ihn auf Gott, dem der König Rechenschaft schulde, und ebenso auf die Naturgesetze als unveränderliche Basis des Gemeinschaftslebens. Jeder Herrscher müsse zunächst sich selbst beherrschen lernen, indem er der Vernunft Gewalt über seine Triebe einräume. Er dürfe nicht ohne zwingenden Grund nur den eigenen Vorteil suchen, statt dessen habe er den Untertanen in sittlicher Hinsicht ein Vorbild zu sein. Sie sollten ihn eher lieben als fürchten. 154 In den letztgenannten Postulaten Bodins zeigte sich eine gewisse Neigung, den absoluten Herrscher charakterlich zu idealisieren, um so eine Rechtfertigung für die Konzentration aller Machtbefugnisse in den Händen des einen Regenten zu gewinnen. Wohlweislich unterließ es der Autor, die Herrschergestalten der Geschichte auf ihre moralische Vollkommenheit hin zu untersuchen, denn dann wäre sein politisches System ins Wanken geraten. Auf das Individuum bezogen interpretierte Bodin den Staat in der Weise, daß es zwar "die dem einzelnen von Natur aus gegebene Freiheit, sein Leben nach eigenem Wollen einzurichten, der Macht eines anderen unterstellt habe"; jedoch sei dies sinnvoll gewesen, denn ohne diesen partiellen Unterwerfungsakt hätte der einzelne seine Freiheit völlig verloren und wäre zur Beute des Stärkeren ohne den Schutz des Rechts geworden. 155 Einem guten Fürsten gegenüber, dem "Stellvertreter Gottes", habe der Untertan in jeder Weise Ehr149 150 480. 151 152 153 154 155

H. Brauer, Die Entwicklung der Demokratie in Athen. Paderbom 1983, S. 8f. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, l. HaJbband, S.98 (Zitat), l1lf, 343f, Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 206, 292, 294. S. 319. 2. Halbband, S. 415, 420, 50l. l. HaJbband, S. 115,214,229,233; 2. HaJbband, S. 117, 119. 1. HaJbband, S. 115 (Zitat), 159f.

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erbietung und Gehorsam zu leisten. 156 Sofern allerdings das fürstliche Gebot "in unmittelbarem Widerspruch zum Gesetz Gottes" stehe, sei die Ablehnung der befohlenen Handlung gestattet. Bodin befürwortete sogar im Extremfall die Tötun8 eines Tyrannen, sofern dieser nicht freiwillig auf seine Macht verzichte. 7 Bodins Vorstellung von einem idealen Staatswesen war also keine Willkürherrschaft, vielmehr baute er für Notfälle den Ungehorsam der Untertanen als Sicherungsmechanismus gegen Despotie ein. Die ersten Ursprünge des Staates sah Bodin in Gewaltakten. 158 Er versuchte gewissermaßen, den Staat zu läutern, indem er ihn an die Idee des Rechts, an die Verwirklichung von Gerechtigkeit, band, worin Bodins größter Verdienst liegen dürfte. Die Über- und Unterordnungsverhältnisse in Bodins Staatsmodell waren klar und einfach, gerade dies ließ seine Vorstellungen prägnant wirken. Die Qualität des Staates hing im wesentlichen vom Charakter des Regenten ab. Allerdings blieb unklar, wie die erforderlichen positiven Charakterzüge des Herrschers gewährleistet werden konnten; faktisch regierte hier eher der Zufall, was Bodin unterschlug. Für Extremfälle des Machtmißbrauchs allerdings wurde den Untertanen ein Widerstandsrecht eingeräumt, so daß letztlich ein Korrektiv vorlag. Der Niederländer Hugo Grotius (1583 -1645), Theologe, Jurist und Politiker, formulierte unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges bahnbrechend das neuzeitliche Naturrecht und wurde daneben zum Begründer des modemen Völkerrechts. Sein wichtigstes Werk "De iure belli ac pacis libri tres" von 1625 wurde in viele Sprachen übersetzt und begründete den Weltruhm seines Autors. Ähnlich wie im Altertum Aristoteles und die Stoa den Menschen als Gemeinschaftswesen, als "zoon politikon", definiert hatten, sah auch Grotius den "appetitus societatis, id est communitatis" als kennzeichnend für die menschliche Spezies an, wobei er hinzufügte, der Mensch liebe vor allem den vernünftigen Gedankenaustausch mit seinesgleichen und werde nicht nur vom Eigennutz regiert. 159 Die Grundlage für das menschliche Zusammenleben bildet laut Grotius das unveräußerliche, ewig gültige Naturrecht (ius naturale), "das gewissermaßen aus dem freien Willen Gottes kommt" und im Einklang mit der Vernunft steht. Es gelte für alle Menschen in gleicher Weise und umfasse solche allgemein anerkannten Verhaltensregeln, wie z. B. fremdes Eigentum zu achten, angerichteten Schaden zu erstatten, Versprechen einzulösen, Schulden zurückzuzahlen, Vergehen zu ahnden oder völkerrechtliche Verträge zu halten. 160 Vom Naturrecht unterschied Gr.otius das gesetzte Recht (quae ex constituto veniunt), das je nach Ort und Zeit differieren kann. 161 Auf Dauer könne keine Ebd., S. 185,284. Ebd., S. 231 (Zitat), 362. 158 Ebd., S. 159. 159 H. Grotius, Schriften zum Natur- und Völkerrecht. Münster 1976, S. 10. 160 Ebd., S. 10ff, (Zitat S. 11); H. Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Tübingen 1950, S. 51f. 161 Grotius, Schriften zum Natur- und Völkerrecht, S. 15. 156

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menschliche Gemeinschaft ohne das Recht existieren. Die Staatsgewalt sei nötig zur Eindämmung von Verbrechen und zur Gewährleistung von Ruhe und Ordnung: "Der Staat aber ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, die sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben." Auch die Regierenden seien zur Einhaltung des göttlichen Rechts und des Naturrechts verpflichtet. Sobald sie dagegen verstießen, habe die Bevölkerung das Recht zum Widerstand: "Das jedenfalls steht bei allen rechtlich denkenden Menschen fest, daß, wenn der Inhaber der Staatsgewalt etwas befehlen sollte, was dem Naturrecht oder dem Gebote Gottes widerspricht, es kein Mensch zu tun braucht.,,162 Indem Grotius eine gemeinsame unveräußerliche Rechtsgrundlage für alle Menschen postulierte und auch die Herrschenden an das Recht band, erwies er sich als bedeutender Humanist und bereitete Gleichheitsideen den Weg. In völkerrechtlicher Hinsicht erklärte Grotius, das Meer solle Gemeineigentum sein, da es wegen seiner Größe für alle ausreiche; die freie Seefahrt dürfe nicht behindert werden. 163 Diese Forderungen entsprachen den damaligen Handelsinteressen der Niederlande. Als weiteren Beitrag zum Völkerrecht formulierte Grotius ein Gesandtschaftsrecht, dessen Kern die Exterritorialität und Unverletzbarkeit von Menschen bildete, die in diplomatischer Mission unterwegs waren. l64 Zum größten Problem seiner Zeit, dem Krieg, unterschied er gerechte und ungerechte Waffengänge und mahnte, selbst wenn ein Krieg gerechtfertigt erscheine, solle man ihn wegen der vielen zu erwartenden Opfer doch nach Möglichkeit vermeiden. Ein abschließender Appell an die gesamte Christenheit, wieder zu Treue und Frieden zusammenzufmden,165 zeigte Grotius noch einmal als Pazifisten, der in diesem Fall zusätzlich auf das mittelalterliche Gemeinschaftsideal des corpus christianum zurückgriff. Viel pessimistischer als Grotius sah der Philosoph Thomas Hobbes (1588 1679) die natürliche Disposition der Menschen. Ohne eine gegensteuernde Zwangsgewalt befänden sie sich "in einem Krieg eines jeden gegen jeden", und: "Das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.'.t66 Angesichts dieser ganz kategorischen Abqualifizierung des Lebens könnte man staunen, daß sich Hobbes überhaupt so viel Mühe machte, eine umfassende Beschreibung von Staat und Gesellschaft zu erarbeiten, von der er sich letztlich offenbar doch eine Verbesserung der Daseinsumstände erwartete. Vor den Wirren des englischen Bürgerkriegs, der sein Weltbild maßgeblich beeinflußte. floh Hobbes nach Paris. Dort verfaßte er sein berühmtestes Werk "Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates", das erstmals 1651 in London erschien.

162 Ders .• Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, S. 53, 113. 163 Ders., Schriften zum Natur- und Völkerrecht. S. 19f, 24. 164

Ebd., S. 30f.

165 Ebd., S. 35ff, 4l. 166 T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bür-

gerlichen Staates.!. Fetscher (Hrsg.). Frankfurt I M. 1989,6. Aufl., S. 96. 4 Helmert

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Hobbes verherrlichte den starken Staat, den er für notwendig erachtete, um die menschliche Bosheit zu bändigen. Der Staat sei entstanden "durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem", wobei der Hauptinhalt so lautete: "Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst." Der Zweck des Staates, "des sterblichen Gottes", sei "Frieden und Schutz" nach innen und außen. Ihm stehe eine so große Autorität, "so viel Macht und Stärke zur Verfügung ... , daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken". Keine Macht der Erde sei stärker als der Staat. Die Verkörperun§ der höchsten Staatsgewalt heiße "Souverän", jeder andere sei "Untertan".1 7 Bemerkenswert erscheint bei dieser Konzeption, daß die vertragliche Bindung nur zwischen den einzelnen Bürgern erfolgt, die so zu Untertanen werden, ohne daß der Souverän selbst eine rechtliche Verpflichtung eingeht. Er ist praktisch sakrosankt, d. h. er darf weder angeklagt noch bestraft werden. Er hat die Befugnis, vorbeugend alles zu tun, was er zur Sicherung des inneren Friedens und zur Verteidigung nach außen für erforderlich hält, im übrigen stehen ihm dieselben Rechte zu, die auch Bodin schon genannt hatte. 168 Zusätzlich betonte Hobbes als Anhänger der anglikanischen Kirche, daß der bürgerliche Souverän über dem Papst stehe; es solle nur ein Oberhaupt geben, damit das Volk nicht verwirrt werde. 169 Den Untertanen gestattete Hobbes keinen aktiven Widerstand gegen ungerechte Herrschaft. Ihnen blieb nur die Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich ohnehin der staatlichen Kontrolle entzieht. 170 In dieser Hinsicht zeigte sich Hobbes deutlich konservativer als Bodin oder Grotius. Dabei berücksichtigte der englische Theoretiker Dich:, daß die Gedanken- und Gewissensfreiheit im Extremfall zu systemsprengenden Handlungen führen kann, wie es etwa das Auftreten Martin Luthers belegt. l7l Was die Stellung der Untertanen zueinander betraf, so vertrat Hobbes hier Gleichheitsvorstellungen: "Jedermann soll den anderen für seinesgleichen von Natur aus ansehen.,,172 Auch die Regenten untereinander in ihren außenpolitischen Beziehungen Aalten Hobbes als gleichberechtigt, unabhängig von der Größe ihrer Staaten. 1 Insgesamt erscheint Hobbes als ein ungewöhnlich verbitterter Mensch, der gleichwohl sehr ernsthaft nach Lösungen für die. Probleme des sozialen Zusammenlebens suchte.

Ebd., S. 134f. Ebd., S. 139ff. 169 Ebd., S. 358, 525f. 170 Ebd., S. 521. 171 C.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Eine Einführung in die Grundlagen. Heidelberg 1986,5. Aufl., S. 60. 172 Ebd., S. 118. 173 Ebd., S. 269. 167 168

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Während Hobbes die Entstehung des Staates aus dem Gesellschaftsvertrag ableitete, also weltlich begründete, rechtfertigte Jacques-Benigne Bossuet (1627 - 1704), Bischof und Kanzelredner am Hof Ludwigs XIV. sowie Erzieher des Dauphins. die Herrschaft der Monarchen allein aus dem Willen Gottes. In seinem Buch "Politik nach den ureigensten Worten der Heiligen Schrift" von 1682 vertrat Bossuet einen theokratischen Absolutismus, dessen Kernsatz lautete: "Dieu etablit les rois comme ses ministres, et regne par eux sur les peuples." Die Person des Königs sei heilig, da sie den göttlichen Willen repräsentiere. Wer sich dem König widersetze, begehe ein Verbrechen vor Gott und den Menschen. Laut Bossuet verkörpert der Monarch sowohl "das Bild Gottes" als auch "den Willen des ganzen Volkes".174 Der Zweck seiner absoluten Herrschaft sei. "alles für das öffentliche Wohl zu tun". 175 Indirekt wird hier vom Monarchen Selbstlosigkeit verlangt. Zudem war die Ausrichtung auf das allgemeine Wohl fast die einzige denkbare Möglichkeit. mit der sich die starke Zusammenballung von Kompetenzen in den Händen des Herrschers rechtfertigen ließ. Aus dem Bewußtsein. daß er sich vor Gott werde verantworten müssen, solle der König eine Haltung der Demut schöpfen und seine Macht nicht mißbrauchen. Bossuet verlegte also die Hemmschwelle gegen eine Willkürherrschaft allein in das Gewissen des Regenten, ohne der Bevölkerung eine Gegenwehr zu gestatten. Die Untertanen wurden Bossuet zufolge schon als solche geboren. Sie seien zum Dienst am Herrscher und am Staat verpflichtet und hätten pünktlich zu gehorchen, da sonst die öffentliche Ordnung und der innere Friede Schaden nähmen. 176 Über eventuelle Rechte der Untertanen schwieg Bossuet. In seinem "Abriß der Universalgeschichte" von 1681 betonte der Geistliche ebenfalls, der Gang der Weltgeschichte werde ausschließlich durch die göttliche Vorsehung bestimmt, alle menschliche Macht diene nur Gottes Zwecken. Die Monarchen täten, was ihnen richtig erscheine, erzielten aber oft unvorhergesehene und ungewollte Wirkungen. 177 Indem Bossuet die Absichten Gottes weit über alle Monarchen hob, eröffnete er seiner eigenen Organisation. der Kirche. eine gewisse Einflußchance auf den absolutistischen Herrscher, insofern als sich die Vertreter der Kirche am ehesten berufen glaubten, den Willen Gottes zu interpretieren. Er sprach also geschickt kaschiert pro domo. Im übrigen erscheinen seine Vorstellungen sehr konservativ. sie hätten auch ins Mittelalter gepaßt. Zusammenfassend könnte man Bossuet als dezidierten Vertreter eines theokratischen Absolutismus kennzeichnen, da er alle politischen Vorgänge als Handeln Gottes interpretierte. Wie bereits erwähnt wurde. schätzte Zar Peter I. besonders die Arbeiten des deutschen Staatsrechtiers Samuel v. Pufendorl (1632 - 1694). Aus dessen Buch "De officio hominis et civis". einem Auszug aus dem größeren Werk "De iure naturae et gentium", ließ Peter den Mitgliedern des russischen Senats Bossuet, Oeuvres compU:tes. ed. Lachat. Bd. XXIII, S. 533f, 644. Ebd., Bd. XXIV, S. 1. 176 Ebd., Bd. XXIII, S. 537; Bd. XXIV, S. 1,8. m J.-B. Bossuet, Discours sur l'histoire universelle. Paris 1822, Bd. n, S. 1, 125f. 174

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mehrmals vorlesen und lobte den Autor als "weisen Gesetzeskenner" .178 Pufendorf ging in mancher Hinsicht eklektizistisch vor. Von Grotius übernahm er die Kennzeichnung des Menschen als eines geselligen Wesens sowie die Idee des unveräußerlichen, von Gott gegebenen Naturrechts. 179 Im Anschluß an Hobbes formulierte er, den Menschen treibe "sein böses Temperament" zur Übertretung gesetzlicher Schranken, deshalb sei der Staat als irdische Strafmstanz notwendig. 18o Auch die Vertragstheorie entlieh Pufendorf von Hobbes: zur staatlichen Gemeinschaft hätten sich die Hausväter einst zusammengeschlossen und ihre natürliche Freiheit vertraglich zugunsten der Obrigkeit aufgegeben, damit diese sie vor Gewalttäti~keiten untereinander schütze und die Sicherheit des einzelnen gewährleiste. I So wie Bossuet den Monarchen auf das Allgemeinwohl (bien public) verpflichtete, sagte ähnlich auch Pufendorf: "Diß soll aller hohen Regenten General-Regel seyn, daß sie sich des Volcks Wohlfarth vor allen Dingen angelegen seyn lassen.,,182 Konkret verstand Pufendorf unter der Wohlfahrt des Volkes die Einsetzung rechtschaffener Beamter, ein sparsames Haushalten durch den Regenten, die Vermehrung von Nahrung und Vermögen der Bevölkerung, das geduldige Anhören ihrer Wünsche, die Aufrechterhaltung von guter Zucht und Sitte, d. h. wirtschaftliche und moralische Güter. Bezogen auf die Untertanen hieß es: "Ein rechtschaffenes Glied dieser politischen Gesellschafft oder ein redlicher und guter Bürger ist derjenige, der seiner Obrigkeit gehorsame Folge leistet, der das gemeine Beste nach allen Kräfften zu befördern trachtet und solches seinem Privat-Nutzen nachzusetzen allemabI bereit ist; ja der sich selbst nichts zuträglich zu seyn erachtet als was den gemeinen Staats-Nutzen befördert und sich endlich gegen seine MitBürger dienstfertig, willfährig und hilfreich bezeuget.,,183 Der ideale Untertan sollte also seine privaten Interessen stets gegenüber den öffentlichen Belangen zurückstellen. Indem Pufendorf sowohl den Herrscher als auch die Beherrschten auf dasselbe "gemeine Beste" ausrichtete, gaukelte er eine Harmonie und Interessenidentität vor, wie sie in der Wirklichkeit des absolutistischen Staates nur sehr eingeschränkt bestand. Ferner redete Pufendorf einer besonderen Unterwürfigkeit der Bevölkerung das Wort, wenn er - ohne Vorbilder - behauptete, zum Naturrecht gehöre auch der Gehorsam gegen die rechtmäßige Obrigkeit. Im Gegensatz zu Hobbes wollte der deutsche Philosoph sogar die Gedankenfreiheit der Untertanen einschränken: der einzelne müsse "mit der gegenwärtigen Staats-Verfassung jedesmahl zufrieden seyn" und dürfe keine andere Staatsordnung bewundern, über seinen Landesherm müsse er "alle178 Pavlenko, Rossija v period refonn Petra I, S. 49f. 179 S. v. Pufendorf, Einleitung zur Sitten- und Staatslehre oder Kurtze Vorstellung der Schuldigen Gebühr aller Menschen und insonderheit der Bürgerlichen StatsVerwandten nach Anleitung Derer Natürlichen Rechte. Aus dem Lateinischen übersetzet durch I. Webern. Leipzig 1691, S. 69, 71, 79, 81. 180 Ebd., S. 19. 181 Ebd., S. 390ff, 396, 450. 182 Ebd., S. 515 (Zitat), ähnlich 516, 522ff. 183 Ebd., S. 447.

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mahl das Beste" denken. 184 Derartig kuschende Personen, die sich nicht einmal mehr in der Phantasie günstigere Verhältnisse vorzustellen wagten, waren für die Regierenden natürlich sehr bequem, und entsprechend konnte Pufendorf auf den Beifall der Obrigkeit rechnen. Für den Fall, daß ein Regent grob gesetzlos handelte, empfahl Pufendorf, lieber auszuwandern als sich zu empören. 185 Stärker als frühere Theoretiker des Absolutismus beschäftigte sich Pufendorf mit den Problemen des moralischen Verhaltens der Bürger untereinander. Im Anschluß an ein Wort aus dem Neuen Testament, Matthäus 7, Vers 12: "Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen" verlangte er, keiner solle den anderen schädigen, sondern ihm so viel wie möglich nützen, und jeder solle den anderen achten wie sich selbst. 186 Solchermaßen von Tugend und Nächstenliebe geleitete Untertanen konnten dem Regenten nur recht sein, da sie ihm die Herrschaft erleichterten. In letzter Konsequenz wäre der Herrscher dann vielleicht sogar entbehrlich geworden, was Pufendorf aber nicht zu bemerken schien. Seine Theorie trägt ziemlich viele Züge der Anbiederung an die Mächtigen. Ähnlich wie Pufendorf stellte auch dessen Schüler Christian Wolff (1679 1754) das "gemeine Beste" ins Zentrum seiner Staatsauffassung und formulierte als Hauptgesetz: "Thue, was die Wohlfahrt der Gesellschaft befördert; unterlaß, was ihr hinderlich oder sonst nachteilig ist.,,187 Gehorsam gegenüber der Obrigkeit sei umso mehr nötig, als die Untertanen im allgemeinen das Gemeinwohl nicht erkennen könnten, sondern sich statt dessen vom eigenen Vorteil leiten ließen. 188 Auch bei Wolff zeigte sich also eine deutliche Tendenz zur Entmündigung des Volkes. Insgesamt rückte die westeuropäische Staatstheorie des Absolutismus folgende Probleme ins Zentrum ihrer Betrachtungen: die Machtsicherung des Herrschers (Machiavelli), die Idee der Souveränität (Bodin), das Naturrecht als unveränderliche Basis des menschlichen Zusammenlebens (Grotius), den Gesellschaftsvertrag als konstituierende Grundlage des Staates (Robbes), die göttliche Herkunft des Königtums (Bossuet) sowie die moralischen Verpflichtungen der Bürger untereinander (Pufendorf, Wolff). Wirklich menschenfreundlich und human zugunsten der breiten Massen dachte dabei nur Grotius. Die übrigen Autoren paktierten einseitig mit den jeweiligen Regenten, indem sie nach Begründungen für eine möglichst umfangreiche Konzentration von Macht in einer Hand suchten und die Verhinderung von Machtmißbrauch gedanklich weitgehend vernachlässigten.

Ebd., S. 537, 60l. Ders., Acht Bücher vom Natur- und Völckerrecht. Frankfurt / M. 1711, Bd. II, S.674. 186 Ders., Einleitung zur SiUen- und Staatslehre, S. 169ff, 188ff, 2OOff. 187 C. Wolff, Gedancken von dem vemünfftigen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Frankfurt / Leipzig 1736,4. Aufl., S. 7. 188 Ebd., S. 460. 184 185

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Dem russischen Herrschaftsbereich war ursprünglich vor allem die Idee eines unveräußerlichen Naturrechts fremd, das auch die Staatsgewalt binden konnte und das Individuum vor Gewaltakten der Regierung schützen sollte. Die Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag hatte in Rußland eine gewisse rudimentäre Entsprechung in der Nestorchronik, gemäß der die Anfänge des russischen Staatswesens auf die Berufung varägischer Fürsten durch slavische Stämme zurückgeführt wurden, wobei die Fürsten "Ordnung" schaffen und aufrechterhalten sollten. l89 Bemerkenswert erscheint hier, daß anders als in der Fassung von Hobbes die Untertanen sich nicht in erster Linie gegenseitig binden, sondern einen Beherrschungsvertrag (wie lengendär auch immer) mit ihrer Obrigkeit eingehen. In späteren Jahrhunderten wurde die staatliche Gewalt in Rußland häufig aus der Tradition heraus, dem Althergebrachten, gerechtfertigt (starina). Schon seit vielen Generationen habe der Fürst alles Land als Eigentum (votcina) besessen. So äußerte Großfürst Ivan III., unter dessen Herrschaft die Moskauer Autokratie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ihre typischen Formen armahrn: "Und das ganze russische Land ist seit alters her von unseren Vorfahren unser Vatererbe." In diesem eher privatrechtlich als staatsrechtlich aufgefaßten Besitz wollte Ivan III' keinerlei Einschränkungen seiner Souveränität dulden, weder gedanklich noch faktisch. Auf Verträge mit dem eroberten Novgorod etwa ließ er sich nicht ein. V. O. Kljucevskij charakterisierte den Staats begriff des Moskauer Reiches folgendermaßen: "Den Staat verstand man nicht als die Union des Volkes, die von einer obersten Macht gelenkt wurde, sondern als Wirtschaftsgut des Herrschers, zu dessen Bestand mit der Bedeutung von Wirtschaftsfiguren die Klassen der BevölkeruncIß zählten, die auf dem Territorium des herrscherlichen Erbbesitzes lebten."l Sein Patrimonium konnte der Fürst entweder selbst behalten oder Genossenschaften freier Bauern gegen Tribut überlassen bzw. es an Bojaren, Dienstrnannen oder Klöster übertragen, wobei ihm grundsätzlich die Gerichts- und Steuerhoheit verblieben, soweit er nicht selbst in Immunitätsurkunden Ausnahmen davon zuließ. 191 Interessanterweise begnügten sich die Zaren bei der Rechtfertigung ihrer Herrschaft aus der Tradition heraus nicht damit, lediglich ihre unmittelbaren russischen Väter und Vorväter aufzuzählen. Vielmehr bildete sich seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts innerhalb der russischen Geschichtsschreibung die Legende, der aktuelle Monarch des Moskauer Reiches leite sich genealogisch über Rjurik, über den römischen Kaiser Augustus und über Alex-

189 G. Stökl, Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln 1965, 2. Aufl., S. 34f. 190 V. O. Kljucevskij, Socinenija, Bd. III. Moskva 1957, S. 16. 191 W. Schulz, Die Immunität im nordöstlichen Rußland des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Grundbesitz und Herrschafts verhältnissen. forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 8. Berlin 1962, S. 65ff.

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ander den Großen letztlich von Noah ab. 192 Auf diese Weise schmückten sich die russischen Zaren gewissermaßen mit einer geliehenen Identität und beanspruchten für sich dieselbe hohe Bedeutung wie die größten Herrscher der Antike. Indem sie eine Abstammung von Noah behaupteten, gehörten sie indirekt zu den Auserwählten Gottes. Zugleich wird über die lange Abstammungskette die Auffassung deutlich, daß die Weltgeschichte ein folgerichtiges Kontinuum sei. Der Stolz der Untertanen auf ihr Oberhaupt und ihre Identifikation mit ihm sollten so tendenziell gesteigert werden. Die Auffassung, daß die Herrschaft des Zaren auf der Tradition beruhe, zeigte sich auch noch bei Peters Halbschwester Sofja, als sie in ihrer Eigenschaft als Regentin dem Strelitzenaufstand von 1682 mit der Forderung entgegentrat, die Strelitzen hätten zu gehorchen "ohne jede Widerrede, so wie ihre Großväter, Väter und sie selbst gedient haben und in allem gehorsam waren bei unserem Großvater seligen Angedenkens, dem großen Herrscher, Zaren und Großfürsten Michail Fedorovic, dem Selbstherrscher von ganz Rußland, und bei unserem Vater seligen Angedenkens, dem großen Herrscher, Zaren und Großfürsten Aleksej Michajlovic, dem Selbstherrscher von ganz Großund Klein- und Weißrußland, und bei unserem Bruder seligen Angedenkens, dem großen Herrscher, Zaren und Großfürsten Fedor Alekseevic, dem Selbstherrscher von ganz Groß- und Klein- und Weißrußland" . 193 Die alte Rechtsanschauung, daß alles Land eigentlich dem Zaren gehöre, lebte zur Regierungszeit Sofjas und Peters in der Sitte fort, Erbgüter und Dienst~ter aufrührerischer Adliger in den Besitz der Krone heimfallen zu lassen. 4 Auch der russische Kaufmann Ivan Pososkov äußerte in seinem "Buch über Armut und Reichtum", das erstmals 1724 erschien, alles Land sei Eigentum des Zaren und folgerte daraus, jeder, der es nutze, solle Steuern zahlen; diese Forderung war gegen die Steuerfreiheit von Adel und Kirche gerichtet. 195 Außer mit der Tradition wurde die Macht des Herrschers in Rußland mit seiner angeblichen Einsetzung durch Gott gerechtfertigt, ähnlich wie es unter den westeuropäischen Theoretikern des Absolutismus am stärksten Bossuet betonte. Auch in Rußland vertraten vor allem Theologen diese Auffassung. So äußerte bereits um 1500 Josef Sanin, der Abt des Klosters Volokolamsk, das zwischen Moskau und Novgorod lag, in seiner Schrift "Prosvetitel''', Gott habe die Fürsten als seine Stellvertreter berufen. Ihre Pflicht sei es, für die Untertanen zu sorgen und den orthodoxen Glauben gegen Ketzer zu verteidigen. Sie selbst sollten dem Volk ein Vorbild in bezug auf christliche Lebensfüh192 G. M. Basile, Power and Words of Power: Political, Juridical and ReJigious Vocabulary in Some IdeologicaJ Dokuments in 16th Century Russia, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 50. Berlin 1995, S. 55. 193 Zapiski Sil'vestra Medvedeva, in: I. P. Sacharov (Hrsg.), Zapiski russkich Ijudej. Sobytija vremen Petra Velikago. SPb 1841, Reprint Newtonville I Mass. 1980, S.40. 194 Zapiski Andreja Artamonovica grafa Matveeva, in: ebd., S. 57; Zapiski Ivana Afanas'evica Zeljabuzskago, in: ebd., S. 1Of. 195 I. T. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve. B. B. Kafengauz (Hrsg.). Moskva 1951, S. 196.

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rung bieten. Als Mittel ihrer Herrschaft stünden ihnen Schwert und Gnade zur Verfügung. Der Herrscher sei keinem weltlichen Gericht untertan und stehe rangmäßig auch über dem Metropoliten, vor Gott jedoch müsse er sich am Jüngsten Tag verantworten. Demut und Unterwerfung seien die christlichen Pflichten der Untertanen. Wenn ein Herrscher sich von Gewalt, Falschheit oder Häresie leiten lasse, solle der Untertan nicht gehorchen, sondern lieber zugunsten seines Seelenheils Folter und Tod erdulden. 196 Josef von Volokolamsk begründete also immerhin das Recht des passiven Widerstandes gegen einen gottlosen Regenten, was für Rußland in jener Zeit eine mutige Haltung darstellte. Im übrigen huldigte er einem Cäsaropapismus byzantinischer Prägung, indem er dem weltlichen Herrscher zugleich die Oberhoheit über die Geistlichkeit zuerkannte. Das Motiv, der Monarch habe auch die geistliche Fürsorge für seine Untertanen zu übernehmen, wurde in Rußland nach dem Fall Konstantinopels ungleich stärker betont als im Westen, wo eher dem Papst diese Aufgabe zukam. Ivan IV., der sich im Jahre 1547 als erster Regent des Moskauer Reiches zum Zaren krönte, konnte weitgehend an Josefs Deutung der Autokratie anknüpfen. Auch I van IV. verstand seine Herrschaft als von Gott gegeben. Alle Untertanen ~eien ihm durch die Macht des Himmels als Sklaven überantwortet, damit er sie zur Erkenntnis des wahren Gottes bringe. Wer der Gewalt des Zaren wohl gesonnen sei, den wolle er mit Gnade bedenken, seine Widersacher dagegen dürfe er umbringen. In einem Briefwechsel mit der Königin von England sowie den Königen von Polen und Schweden wies Ivan IV. jede potentielle Einschränkun!j seiner Macht, sei es durch Wahlmonarchie oder Parlament, weit von sich. 97 Zu Recht charakterisierte der französische Staatstheoretiker Jean Bodin Ivan IV. als Beispiel eines tatsächlich souveränen Regenten, er sei "einer der mächtigsten und gefürchtetsten Monarchen, die wir kennen" .198 Wie aus der Selbstauffassung Ivans III. und Ivans IV. hervorgeht, beanspruchten die russischen Herrscher spätestens ab dem 15. Jahrhundert ein Gewaltmonopol für sich, das sie faktisch auch besaßen. In Westeuropa dagegen hatte es traditionell während des ganzen Mittelalters durch den Dualismus von Kaiser und Papst immer zwei Oberhäupter gegeben, ein weltliches und ein geistliches, die sich gegenseitig Konkurrenz machten und so vermutlich in den Augen des einfachen Mannes den Herrschaftsbegriff relativierten. Im Zeitalter der sich bildenden Nationalstaaten verlagerte sich die Macht dann ohnehin auf mehrere Zentren, vertieften sich in Westeuropa pluralistische Strukturen. In Rußland versuchte rund eine Generation vor Peter I. der Patriarch Nikon, die geistliche Gewalt als separate Kraft und sogar über dem Zaren zu etablieren. Da ein solches Denken in Rußland keine Tradition hatte und der Patriarch ohne effektive Machtmittel war, scheiterte er kläglich. 1660 und 196 M. Racff, An Early Theorist of Absolutism: Joseph of Volokolamsk, in: S. Harcave (Hrsg.), Readings in Russian History, Bd. I. Ncw York 1962, S. 18lff. 197 Utechin, Russian Political Thought, S. 27. 198 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 1. Halbband, S. 279.

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wiederum 1666 wurde er von einer dem Zaren ergebenen Bischofssynode seines Amtes enthoben und verbannt. 199 Wie stark die russischen Herrschaftsverhältnisse auf den jeweiligen Autokrator zugeschnitten waren, belegt auch der Begriff "Staat" selbst, der in Rußland erst spät, nämlich im 17. Jahrhundert, aufkam. Das Wort "gosudarstvo" ist ab8celeitet von "gosudar'" = Herrscher und bezeichnet dessen Einflußbereich. 2 ° Man könnte also für Rußland von einem ursprünglich personenbezogenen Staatsbegriff sprechen, während in vielen westlichen Sprachen der Ausdruck "Staat", "state", "l'etat" mit "status" = Zustand verwandt ist und eher eine Sachlage, sprich Verfassungsordnung, umschreibt. Bevor sich in Rußland die Bezeichnung "gosudarstvo" durchsetzte und auch dann noch parallel zu ihr gab es bereits den Ausdruck "samoderfavie" = Selbstherrschaft. Er bezeichnete etwas, das der Herrscher selbst in den Händen hält. Erstmals wurde dieser Begriff in den Quellen 1492 benutzt, und zwar mit außenpolitischer Stoßrichtung, indem ihrt der Metropolit Zosima verwandte, um so die Herrschaft Ivans m. als unabhängig von Konstantinopel und den Tataren zu charakterisieren. Seit 1625 erschien dann der Titel "samoderfec" = Selbstherrscher auf dem russischen Staatssiegel, wo er die Handlungsfreiheit des Zaren sowie die Gleichrangigkeit mit anderen Staatsoberhäuptern symbolisierte. Innenpolitisch gedeutet bezeichnete die Selbstherrschaft eine Regierungsform, die auf die Mitwirkung von Ständen verzichtete und alle Macht ungeteilt beim Monarchen konzentrierte. Diesem stand das Recht zu, unhinterfragbar das Schicksal der Bevölkerung und jedes einzelnen zu bestimmen?OI Im Grunde stand die Selbstherrschaft damit der antiken Tyrannis sehr nahe. Ein Adelsstand mit verbrieften einklagbaren Rechten wie in Westeuropa hatte sich in Rußland nicht gebildet, weil die adlige Gefolgschaft der Fürsten viel mit diesen herumzog und deshalb nicht fest in einer bestimmten Landschaft verwurzelt war, von der aus sie der Zentralmacht leichter hätte Widerstand leisten oder Sondervollmachten abtrotzen können. 202 Das Städtewesen war in Rußland wegen der geringen Bevölkerung, des weiten Raumes und des Hangs zur Selbstversorgung ebenfalls schwach entwickelt. Mit der Unterwerfung Novgorods unter die Herrschaft Ivans m. im Jahre 1478 war zudem die letzte Bastion der Städtefreiheit gefallen. Im Moskauer Reich waren Privilegien der Städte im Sinne eines gesonderten Rechtsbezirks nicht üblich. Außerdem fehlte im russischen Raum bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein der Berufsstand der Juristen, so daß eine stärkere Verrechtlichung der

Stökl, Russische Geschichte, S. 312. H.-J. Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und ZernVa in der altrussischen Herrschaftsverfassung 1613 - 1689. Leiden 1974, S. 2f. 20 Ebd., S. 19; Syromjatnikov, Reguljarnoe gosudarstvo, S. 80; E. Smurlo, Kurs russkij istorii Bd. III. Moskovskaja Rus'. Vtoroj period (1613 - 1725). Prag 1935, S.438f. 202 Schulz, Immunität, S. 69. 199

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Gesellschaft und verbriefte Mitspracheregelungen auch aus diesem Grunde zu kurz kamen. Eine Außenseiterrolle unter den Theoretikern des russischen Absolutismus vor Peter I. nahm der Kroate Jurij Krifanic (1613 - 1683) ein. Als Pope und Missionar war er viel in Westeuropa herumgekommen, bevor er nach Rußland ging, um dort für die Union zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche zu werben, ähnlich wie es rund zweihundert Jahre später der russische Religionsphilosoph Vladirnir Sergeevic Solov'ev tat. Nach Tobolsk verbannt, verfaßte Krifanic dort zwischen 1663 und 1666 sein wichtigstes Werk "Politik oder Gespräche über die Regierung". Ein Exemplar dieses Buches übergab er dem Zaren Fedor Alekseevic, dem Halbbruder Peters aus der ersten Ehe des Zaren Aleksej Michailovic mit einer Miloslavskaja, während Peters Mutter . N arysVkina war. 20:1 eme Die Besonderheit im Denken Krifanics bestand darin, daß er den Hauptzweck des Staates wirtschaftlich definierte: der Herrscher solle den Reichtum der Untertanen vermehren, so daß alle Güter im Überfluß und preiswert vorhanden seien. Um dieses Ziel zu erreichen, müßten die Untertanen zu eifriger Arbeit in Landwirtschaft, Handwerk und Handel angehalten werden, auch müsse der Staat für eine entsprechende Bildung des Volkes sorgen. Eine gute Regierung erkenne man daran, daß die Untertanen zufrieden seien und Fremde auch gern unter einer solchen Herrschaft stünden. 204 Ausdrücklich formulierte Krifanic, der Monarch solle "sich um den allgemeinen Reichtum der Untertanen und den Überfluß und billige Preise im Lande kümmern", dann werde das Volk ihn lieben. Ferner hieß es: " ... die Berufung des Königs (oder die Sorge, die Pflicht und die Verantwortung) ist es, die Menschen glücklich zu machen. Das heißt, die Frömmigkeit zu respektieren und zu unterstützen, gerechtes Gericht zu halten, den Frieden zu bewahren, billige Preise zu gewährleisten, für die Ehre des Volkes zu sorgen und für alles, was für das allgemeine Wohl nützlich ist". Hinzu komme noch die Verteidigung gegen äußere Feinde. 205 Wie man sieht, dachte Krifanic ähnlich wie Bossuet, der wenig später ebenfalls das Allgemeinwohl als Staatszweck proklamierte. Eine weitere Parallele zu Bossuet, zugleich auch die Wiederholung von traditionellen russischen Vorstellungen enthielt Krifanics Behauptung, der König sei von Gott eingesetzt und nur ihm Rechenschaft schuldig. Gegen pflichtvergessene Herrscher gestattete Krifanic den Untertanen keinen Widerstand, sondern meinte, Tyrannen seien eine Strafe Gottes für die Sünden des Volkes und müßten deshalb mit Geduld ertragen werden. 206 Analog war auch schon rund vierhundert Jahre vorher die Fremdherrschaft der Mongolen von der russischen Geistlichkeit interpretiert worden.

203

204 205 206

1. Krizanic, Politika. Moskva 1965, S. 703f. Ebd., S. 381, 424, 454. Ebd., S. 564, 572. Ebd., S. 552f, 554, 572.

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Krizanic bevorzugte die Erbmonarchie vor dem Wahlkönigtum, wie es etwa in Polen bestand, denn mit Hilfe fester Erbregelungen könne inneren Unruhen und Schwächeperioden des Reiches vorgebeugt werden. 207 Im übrigen warnte er die Russen vor der Hinterlist von Ausländern aus dem Westen, die egoistischerweise nur ihren eigenen Vorteil suchen würden. 2os Diese Ausländerfeindlichkeit bildete damals ein typisches Merkmal der konservativen russischen Kirche, die ihre Wertvorstellungen und Sitten durch westliche Einflüsse bedroht sah. Insgesamt wirken die Vorstellungen Krizanics vielleicht etwas zu naiv harmonistisch, etwa wenn er meinte, der Zar könne es allen Schichten der Gesellschaft in gleicher Weise recht machen. 209 Andererseits bedeutete die Verpflichtung des Herrschers auf das Gemeinwohl (obscee dobro) sicher einen Fortschritt, zum al sie sich mit einem gewissen Gleichheitsideal paarte, denn Krizanic wollte das Glück sämtlicher Untertanen. Zur konkreten Forderung nach der Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft konnte er sich allerdings nicht durchringen, vermutlich weil er sich selbst dadurch noch stärker gefährdet hätte. Trotzdem waren seine Ansichten für die damaligen russischen Verhältnisse ungewöhnlich mutig. Einmal schimmerte auch die moderne Idee des Naturrechts bei Krizanic durch, als er sagte, Gott verleihe dem Monarchen die Macht zum Nutzen des Volkes, nicht jedoch zu dessen Zerstörung; dies entspreche "dem /&öttlichen und natürlichen Gesetz" (bozestvennomu i prirodnomu zakonu).2 Die historische Forschung ist sich nicht sicher, ob Zar Fedor die Ausführungen von Krizanic wirklich gelesen hat. Dafür spricht, daß dieser Zar als erster russischer Herrscher den Begriff "Gemeinwohl" in einen offiziellen Gesetzestex t einfließen ließ, als er am 12.1.1682 vor einer zahlreichen Versarnmlung von Prälaten und weltlichen Würdenträgern die Abschaffung der Rangplatzordnung (mestnicestvo) damit begründete, daß sie "zum Verderben und zur Verringerung des allgemeinen Wohls" führe. 211 Gemeint war damit konkret, daß diese Anciennitätsordnung, die traditionell den Anspruch von Adligen auf bestimmte Ämter entsprechend ihrer Herkunft und den Verdiensten ihrer Vorfahren begründet hatte, zu vielen Streitigkeiten geführt hatte und die Dispositionsmöglichkeiten des Herrschers bei der Vergabe hoher Positionen in Heer und Verwaltung unnötig einschränkte. Als Zar Peter I. im Jahre 1689 nach dem zweiten Strelitzenaufstand seine Halbschwester Sofja entmachtete und - zunächst pro forrna gemeinsam mit seinem kränklichen Halbbruder Ivan V. - die Regierung übernahm, standen ihm zwei traditionelle und ein modemes Legitirnationsmuster für seine Herrschaft zur Verfügung: das Herkommen und der Wille Gottes einerseits, die Sorge um das Allgemeinwohl andererseits. Interessanterweise nutze Peter den 207 Ebd., S. 661f. 208 Ebd., S. 513ff. 109 Ebd., S. 597. 110 111

Ebd., S. 573. PSZ II, S. 371.

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Topos des Althergebrachten, daß er den Thron von seinen Vorvätern ererbt habe, fast gar nicht. Die Ursache für die Vernachlässigung dieses Aspekts dürfte darin zu suchen sein, daß der neue Zar in den Details seiner Politik vielfach gerade gegen die Tradition antrat, indem er Rußland nach dem Vorbild der westeuropäischen Staaten modernisieren wollte, d. h. das Argument der Tradition hätten seine Widersacher leicht gegen ihn kehren können. Die innere Logik seiner Politik zwang ihn also, sich gerade nicht auf das Althergebrachte zu berufen. Einige Zeitgenossen Peters jedoch dachten durchaus noch im alten Stil. So schrieb der russische Theologe Sil'vestr Medvedev (1641 - 1691), ursprünglich ein Parteigänger Sofjas, Ivan V. und Peter säßen "auf dem von ihren Vorvätern stammenden Thron des Moskauer Staates und der Staaten, die ihm untertan sind". 212 Wie man sieht, neigte Medvedev hier auch noch der älteren Auffassung zu, das Territorium des Reiches sei aus unterschiedlichen Einzelstaaten zusammengesetzt. Der Adlige Andrej Artamonovic Matveev (1666 1728), russischer Diplomat und Präsident des Justizkollegiums von 1717 bis 1724, benutzte die Tradition in der Weise, daß er die Frauenherrschaft Sofjas als "selbstherrlichen Eigenwillen" (samovlastnaja volja) verwarf und ihr die "gesetzmäßige Macht" (zakonnaja vlast') Peters entgegenstellte, die zu Recht über Sofjas Dreistigkeit gesiegt habe. 2I3 Die weibliche Thronfolge war im Moskauer Reich nicht üblich gewesen, in der Kiever Periode hingegen schon eher, etwa bei der Großfürstin 01' ga, die circa zwanzig Jahre lang die Regentschaft für ihren Sohn Svjatoslav innehatte. Auf den zweiten Topos zur Rechtfertigung seiner Herrschaft, daß er die Macht von Gott erhalten habe, griff Peter wie alle absolutistischen Monarchen durchaus zurück. Dieser Legitirnationsgrund hatte den Vorteil, die Inhalte der Herrschaft wenig zu präjudizieren. Peter bediente sich seiner über die gesamte Regierungszeit hinweg. Schon 1689 schrieb er an seinen Halbbruder Ivan: "Durch Gottes Gnade ist uns das Szepter des Reiches in die Hände gelegt." Anschließend wünschte er Ivans Zustimmung dafür, " ... zu unserem Nutzen und zur Beruhigung des Volkes ... in den Behörden gerechte Richter einzusetzen und schlechte auszuwechseln, damit unser Staat dadurch beruhigt und in Kürze erfreut wird".214 Es fällt auf, wie der junge Zar hier den Nutzen des Volkes und des Herrschers gleichsetzte und mit der Sorge für ein gerechtes Gericht bereits früh einen Staatszweck benannte, der auch seine spätere Tätigkeit begleiten sollte. Weit aufwendiger ließ Peter seine angebliche Berufung durch Gott am 20.7.1696 in einer Urkunde an den Kaiser Leopold I. formulieren: "Wir, von Gott dem Allmächtigen eingesetzt, der stets in allem wirkt, überall existiert, alles vollbringt und allen Menschen seligen Trost spendet, der mit uns ist als gepriesene Dreieinigkeit, der uns mit Kraft und Tat und Absicht und Wohlwollen bestätigte und der durch Seine Allmacht das er212 Sacharov, Zapiski russkich Ijudej, Vorwort S. 8; Zapiski Sil'vestra Medvedeva, in: ebd., S. 43. 213 Zapiski Matveeva, in: ebd., S. 51. 214 Pib I, S. 10, 14.

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wählte Szepter im rechten Glauben stärkte, der uns auftrug, in Ansehung des großen Russischen Reiches mit seinen vielen unterworfenen nützlichen Staaten das großväterliche Erbe und die Verfügung darüber in Frieden zu halten und für Jahrhunderte zu bewahren ... " Im folgenden teilte Peter den Sieg der Russen über die Türken bei Azov mit und schlug dem Kaiser einen Bündnisvertrag vor, worauf Leopold nicht einging, da er den Frieden mit der Türkei anstrebte. 215 Die aufwendige Selbstdarstellung des Zaren in diesem Zusammenhang verfolgte wohl den Zweck, den Kaiser zu beeindrucken und ihm Peter als gleichrangig darzustellen. Da Peter auch die anderen christlichen Regenten als von Gott ein~esetzt auffaßte, nannte er sie gewöhnlich "Bruder", "Freund" oder "Nachbar". 16 Die Herrscher islamischer Länder hingegen titulierte er distanziert und ohne Bekundung von Wärme; gegenüber seinen Mitarbeitern diffamierte er sie und ihre Untertanen als "mohammedanische Teufel" oder "Hunde der Hölle", als sei deren Existenz bzw. deren Machtstellung nicht von Gott gewollt. Streng logischen Anforderungen konnte diese Ungleichbehandlung von christlichen und andersgläubigen Herrscherpersönlichkeiten nicht standhalten, denn entweder regierten alle kraft der himmlischen Vorsehung oder niemand von ihnen. Als emphatisches Beispiel dafür, wie Peter I. unter seinen Anhängern als von Gott gegeben verherrlicht wurde, kann folgender Satz seines Mitarbeiters Petr Nikiforovic Kreksin (1684 - 1763) gelten, der als Angehöriger des niederen Adels in der Verwaltung tätig war und 1742 der Zarin Elisabeth eine Biographie ihres Vaters überreichte. Kreksin schrieb: "Gott ließ aus der Dunkelheit Licht erstrahlen und in die Herzen der Söhne Rußlands leuchten und schenkte der Welt Peter den Großen, setzte ihn auf den Thron des seligen Rußlands, auf den Thron seiner Väter, krönte ihn mit Ruhm und Ehre, erleuchtetem Verstand, großer Weisheit und Kenntnis, salbte ihn mit Myrrhe, Gnade und Frei 9iebigkeit und drückte ihm das Siegel der Gabe des Heiligen Geistes auf...,,21 In dieser Betrachtungsweise erschien Peter schon fast selbst als irdischer Gott und nicht nur als von Gott eingesetzt. Mit dem wirklichen Leben eines oft betrunkenen und dann unberechenbaren und gewalttätigen Regenten dürfte der Heilige Geist aber wenig zu schaffen gehabt haben, anders gesagt, Kreksin trug zur Mythenbildung um Peter bei wie später noch Lomonosov. Allgemeiner formulierte der schon erwähnte Matveev am Ende seiner politischen Erinnerungen, Gott "erlöste immer seine frommen gesalbten Stellvertreter, die großen Monarchen, und bewahrte sie sehr löblich, aber seine unehrlichen Feinde überantwortete Er der Qual des Gerichts".218 Worin aber Peters Frömmigkeit bestanden habe, sagte Matveev nicht. Eine tatsächliche Nähe zu Gott ließ sich beim realen Zaren eben schwer ausmachen. Er nahm sich z. B. ähnlich den Maitressen am französischen Hof Frauen, wie es ihm gerade beliebte, schickte seine legale Gattin gewaltsam ins Kloster, lebte 215 Ebd., S. 90f. 216 Ebd., S. 13; Pib X, S. 227, 232, 242, 250,406,432; Pib XII, S. 138. 217 P. N. Kreksin, Kratkoe opisanie blaiennych deI Velikago GosudaIja, Impera-

tora Petra Velikago, SamoderZca Vserossijskago, in: Zapiski russkich Ijudej, S. 3. 218 Zapiski Matveeva, in: Zapiski russkich Ijudej, S. 67.

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lange in wilder Ehe mit einer livländischen Bauemmagd und hatte mit ihr bereits mehrere uneheliche Kinder, bevor er sie schließlich heiratete und noch später zur Kaiserin Katharina I. krönen ließ, hielt die Fastenpflicht der Orthodoxen nicht ein, verspottete die kirchlichen Würdenträger in grotesken Umzügen etc. Auch in weiten Teilen des Volkes hielt sich die traditionelle Vorstellung, der Zar habe seine Macht dank dem Walten des Himmels. Dies bezeugen u. a. die Aufzeichnungen des Engländers John Perry, der sich zur Zeit Peters l einige Jahre als Kanal- und Schiffsbauingenieur in russischen Diensten befand und der eine aspektreiche Darstellung der russischen Verhältnisse zu Beginn des 18. Jahrhunderts hinterließ. Perry notierte als damals geläufige Redewendungen der Alltagssprache "Gott und der Zar sind mächtig", "wenn Gott und der Zar es gestatten". "Gott und der Zar wissen es".219 Ob derartige Ausdrucksweisen beim Sprecher stets bewußt mit ihrem realen Bedeutungsinhalt verknüpft waren oder eher automatisch erfolgten, läßt sich nicht mehr feststellen; immerhin würde auch die zweite Variante auf eine ursprüngliche Parallelsetzung von Gott und Zar hinweisen. Politisch ausgedeutet weisen diese Redewendungen auf die Hilflosigkeit des Volkes hin, das überwiegend meinte. gegen den Zaren könne es nichts ausrichten, so wie man gegen Gott oder das Schicksal nicht ankommen kann. Während die behauptete Einsetzung durch Gott die Herrschaft des Zaren religiös untermauerte, wurde sein Regiment in weltlicher Hinsicht mit der Sorge um das Allgemeinwohl (obScee blago) begründet. Fast synonym dazu erschienen die Begriffe "Nutzen des ganzen Volkes" (vsenarodnaja pol'za), "staatliches Interesse" (gosudarstvennyj interes) und "gute Ordnung" (dobryj porjadok).220 Die Idee des Allgemeinwohls als des höchsten Staatszwecks hat eine lange Geschichte. Sie läßt sich bis auf den griechischen Geschichtsschreiber Polybios zurückverfolgen, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert eben diesen Begriff als "koinon agathon" zum obersten Ziel des Lebens in der staatlichen Gemeinschaft erklärte. 221 Aus Griechenland war dann dieselbe Idee als "bonum commune" bzw. "salus populi" in das antike Rom übernommen worden. Nach der Aufspaltung in ein Weströmisches und ein Oströmisches Reich im Zuge der Völkerwanderung verpflichtete im byzantinischen Raum beispielsweise die Epanagoge, eine Zusammenstellung von Rechtsgrundsätzen aus dem 9. Jahrhundert, den Herrscher darauf, für das allgemeine Wohl zu sorgen. In Westeuropa erlebte die Idee des "bonum commune" eine neue Blüte erst wieder in der Philosophie des Naturrechts, als etwa Thomas Hobbes in "Oe cive" 'schrieb: "Salus populi suprema lex". Nach Rußland wurden ähnliche Gedanken unmittelbar vor Peters Regierung durch 219 J. Perry, The State of Russia Under the Present Czar. Reprint London 1967, S.220. 220 N. I. Pavlenko, Idei absoljutizma v zakonodatel'stve XVllI v. in: N. M. Druzinin I N. I. Pavienko I L. V. Cerepnin (Hrsg.), Absoljutizm v Rossii (XVII - xvm vv.d. Moskva 1964, S. 398,408,415. 21 Fitzek, Staatsanschauungen, Bd. I, S. 44.

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Jurij Kriianic und Simeon Polockij, den für die damaligen russischen Verhältnisse hoch gebildeten Lehrer des Zaren Fedor Alekseevic, eingeführt. 222 Der Begriff des Allgemeinwohls als des obersten Ziels der Zarenherrschaft konnte mit vielen Einzelinhalten gefüllt werden, gerade darin bestand sein Vorteil. Peter selbst äußerte sich zu diesem Thema erstmals im Frühjahr 1702, als er knapp dreißig Jahre alt war, also eher spät. Bereits aus dieser Datierung ergibt sich, daß er kein großer Theoretiker war. Er schrieb damals, er wolle "so regieren, daß jeder einzelne unserer treuen Untertanen fühlen kann, wie unsere einzige Absicht darin besteht, daß wir uns intensiv um ihren Wohlstand und ihren Zugewinn kümmern und deshalb alle Mittel und Wege nutzen, die zur Erreichung dieses ruhmreichen Zwecks auf irgendeine Weise dienen können". 223 In dieser programmatischen Erklärung wurde das Allgemeinwohl also vorrangig in Richtung wirtschaftlicher Blüte interpretiert, die sich bis in den einzelnen russischen Haushalt hinein bemerkbar machen sollte. Zugleich sollte der Zuwachs an Wohlstand den "Ruhm", sprich das Renommee des Zaren erhöhen; offenbar war "Ruhm" für den Monarchen eine wichtige Größe. Als Vorbilder standen Peter I. dabei vermutlich so relativ reiche Staaten wie England oder die Niederlande vor Augen, die er rund vier Jahre früher aus eigener Anschauung über mehrere Monate hin kennengelernt hatte. Die "Mittel und Wege", mit denen ein solcher Wohlstand erreicht werden könnte, blieben in Peters damaliger Aussage noch sehr verschwommen. Bemerkenswert erscheint die Einschränkung, daß der Zar sich nur treuen Untertanen gegenüber positiv verpflichtet fühlte. Mit untreuen Leuten, zunächst in Gestalt der Strelitzen nach ihrem erneuten Aufstand von 1698, hatte er sehr hart abgerechnet und viele grausame Folterungen sowie qualvolle Todesarten gegen sie verhängt. Als ihn der Patriarch Adrian deshalb zur Milde mahnte, soll die Antwort des Zaren gelautet haben: "Die Pflicht befiehlt mir, die Untertanen zu retten und Missetäter gemäß einem gerechten Gericht zu bestrafen. Dies verlangt das Gesetz, dies verlangt auch das Volk. ,,224 Offenbar gehörten für Peter auch die Erstickung jeglichen Widerstandes und abschrekkende Härte zu den unverzichtbaren Inhalten seiner Regierung. Inwieweit er vielleicht das angeblich "gerechte Gericht" nur als Vorwand benutzte, um in Wirklichkeit eigene Rachegelüste zu befriedigen, schien er nicht zu reflektieren. In einem großen Manifest zur Anwerbung von Ausländern für den Dienst in Rußlands Armee und Wirtschaft vom 16.4.1702 verknüpfte Peter I. die beiden wichtigsten Legitirnationsgrundlagen seiner Herrschaft, den Willen Gottes und die Sorge um das Allgemeinwohl, folgendermaßen: "In allen Ländern, die der Allerhöchste Unserer Regierung unterwarf, ist hinlänglich bekannt, 222 M. A. Rejsner, ObScestvennoe blago i absoljutnoe gosudarstvo, in: Vestnik prava 9-10/1902, S. 2 (Hobbes-Zitat), 5, 70; Stupperich, Staats gedanke und ReligionsE?litik, S. 25. 3 Pib 11, S. 45. 224 S. S. Dmitriev / M. N. Neckina, Chrestomatija po istorii SSSR, Bd. II (1682 - 1856). Moskva 1949, S. 102.

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daß Wir seit Unserer Thronbesteigung alle Unsere Kräfte und Absichten darauf gerichtet haben, diesen Staat so zu regieren, daß alle Unsere Untertanen dank Unserer Sorge um das allgemeine Wohl mehr und mehr in einen besseren Zustand geraten; zu diesem Zweck haben wir Uns sehr bemüht, den inneren Frieden zu bewahren, den Staat gegen einen Angriff von außen zu verteidigen und auf jede Weise den Handel zu verbessern und auszuweiten. Dieses Ziel hat Uns veraniaßt, in der Regierung selbst einige notwendige, dem Wohl Unseres Landes dienende Veränderungen vorzunehmen, damit Unsere Untertanen umso mehr und bequemer lernen können, denn jetzt verfügen sie über keine Kenntnisse, und in allen Handelsdingen umso geschickter werden ...Wir fürchten jedoch, ... daß Unsere Untertanen noch nicht in vollkommener Ruhe die Früchte Unserer Arbeit genießen können; deshalb dachten Wir noch über andere Möglichkeiten nach, wie Wir Unsere Grenzen gegen einen feindlichen Angriff sichern und das Recht und den Vorteil Unseres Staates sowie die allgemeine Ruhe in der Christenheit bewahren können, wie es sich für einen christlichen Monarchen schickt. Zur Erreichung dieser edlen Ziele haben Wir Uns umso mehr bemüht, Unser Heer als Stütze Unseres Staates bestens einzurichten .. " Dann folgte das eigentliche Anliegen des Zaren, die Werbung ausländischer Fachkräfte. Geschickt verschwieg der Zar, daß er zwei Jahre zuvor selbst einen Angriffskrieg begonnen hatte und das ausländische knowhow in eben diesem Zusammenhang nutzen wollte, statt dessen stellte er sich unter Rekurs auf "die allgemeine Ruhe in der Christenheit" irreführenderweise als friedliebend dar. Um den Aufenthalt in Rußland für Ausländer attraktiver zu gestalten, versprach ihnen Peter die freie Religionsausübung, eine begrenzte Selbstverwaltung sowie auf Wunsch die unbehinderte Rückkehr in ihre Heimat. 225 Gewissermaßen als Unterzwecke des Allgemeinwohls fungierten in diesem Dokument die Bewahrung des inneren Friedens, die Verteidigung nach außen, die Förderung der Wirtschaft u. a. durch eine bessere Ausbildung der Untertanen sowie Reformen in Armee und Verwaltung. Soziale Verbesserungen, wie etwa die Beseitigung des Paßsystems oder die Aufhebung der Leibeigenschaft, von denen man dank einer erhöhten Mobilität und verstärkten Arbeitsmotivation noch am ehesten eine Ankurbelung der Wirtschaft hätte erwarten können, wurden dagegen nicht anvisiert. Auch die innenpolitische Funktion des Heeres als Instrument zur Unterdrückung von Aufständen, wie es gegen die Strelitzen eingesetzt worden war und 1705 bei der Niederschlagung des Aufstandes von Astrachan' wiederum geschah, kam im Manifest tunlichst nicht zur Sprache. Der Zar stellte seinem Volk zwar mehr Wohlstand in Aussicht, verschob dessen Genuß aber auf eine unbestimmte Zukunft. Die Schuld an dieser verzögerten Bedürfnisbefriedigung gab er der Bevölkerung wegen ihres Mangels an Bildung, obwohl hier natürlich in früheren Regierungsjahren Wichtiges versäumt worden war. Inwieweit sich einzelne Punkte des umrissenen Programms widersprachen, daß nämlich die Vergrößerung des Heeres und der Aufbau einer Flotte enorme Finanzmittel verschlingen wür225

PSZIV, S. 192f(Zitat), 193ff.

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den, die insofern dem Konsum und "Genuß" entzogen wurden, verheimlichte das Manifest ebenfalls. Vielleicht fehlte dem Zaren auch das entsprechende Problembewußtsein. In einer Urkunde vom 30.11.1704 an den deutschen Kaiser Leopold I. wiederholte Peter das Motiv des Wachstums als Staatszweck, indem er dem Kaiser "ein glückliches Herrschen in Euren Staaten und eine Regierung mit Zugewinn (s prirasceniem)" wünschte. 226 Ob hier der Ausdruck "priraScenie" eher innenpolitisch im Sinne von Wirtschaftsblüte oder eher außenpolitisch im Sinne einer Erweiterung der Staatsgrenzen gemeint war oder ob Peter an beides dachte, blieb unscharf. Auf seine eigene Herrschaft bezogen verband der Zar den außenpolitischen und den innenpolitischen Wachstumsaspekt. Wie schon Ivan IV. vor ihm im Livländischen Krieg und die ungeliebte Halbschwester Sofja in zwei Expeditionen gegen die Vasallen der Türkei auf der Krim versuchte auch Peter I., das Russische Reich bis an das Schwarze Meer bzw. bis an die Ostsee hin auszudehnen, um so einen territorialen Zuwachs, strategische Vorteile und vor allem eisfreie Häfen zur Förderung des Handels zu gewinnen. Rußlands einziger Hafen für den Fernhandel mit Westeuropa war damals der Ort Archangel'sk am Weißen Meer, der von den Metropolen weit entfernt lag und nur während der Sommermonate zu Schiff erreicht werden konnte. Auch Krizanic hatte seinerzeit festgestellt, Rußland sei in bezug auf den Fernhandel benachteiligt und überall eingeschlossen. 227 Die Realisierung des Ziels, für Rußland einen günstigen Anschluß an die Weltmeere zu erringen, gestaltete sich langwierig. Nach zwei Feldzügen von 1695/96 hatten die russischen Truppen zwar die Festung Azov am Schwarzen Meer erobert; 1711 allerdings mußte sie infolge des Debakels am Pruth bereits wieder an die Türken zurückgegeben werden. Erfolgreicher war Peters Auseinandersetzung mit den Schweden unter Karl XII. im Nordischen Krieg, der sich von 1700 bis 1721 hinzog. Dieser Krieg wurde eindeutig als Angriffskrieg von russischer Seite begonnen. Dabei nannte die Regierung des Zaren 1704 in ihrer diplomatischen Korrespondenz mit Preußen als Kriegsursachen den Rückgewinn des großväterlichen Erbes sowie die persönliche Kränkung Peters durch die Schweden in Riga 1697 zu Beginn seiner großen Auslandsreise. Dieser letzte Grund diente eher als Vorwand, denn konkret war Peter nur untersagt worden, einen Lageplan der Festung anzufertigen, was aus schwedischer Sicht durchaus plausibel erscheint. Später behauptete Peter in eigenhändigen Anmerkungen zu einer Geschichte des Nordischen Krieges, die rudimentär blieb, von Seiten der Schweden habe Rußland eine große Gefahr gedroht, da sie schon lange geplant hätten, Novgorod, Pskov, Olonec und Archangel'sk ihrem Reich einzuverleiben, um auf diese Weise Rußland zu schwächen und selbst Handelsvorteile zu genießen. 228 In dieser Darstellung erkennt man erstens, wie Peter eigene aggressive Absichten auf den militäri226 221

228

Pib III, S. 204. Krizanic, Politika, S. 382. Ustrjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. I, S. 326f.

5 Helmert

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schen Gegner projizierte. Zweitens wird das Bemühen deutlich, den begonnenen Krieg als gerecht einzustufen, da offenbar das Denken von Grotius und anderen Vertretern des Naturrechts insoweit auch bis nach Rußland hinein gewirkt hatte, daß der russischen Regierung die Meinung der europäischen Öffentlichkeit nicht gleichgültig war. Peters enger Mitarbeiter, der Vizekanzler Petr Pavlovic Safrrov, schrieb ähnlich zu den Hintergründen des Nordischen Krieges: "Und ich meine, daß jeder Leidenschaftslose aus dem oben Beschriebenen die Rechtrnäßigkeit (pravost') jenes Krieges sowie seine alten und neuen gesetzmäßigen Ursachen erkennen und nicht anders urteilen kann, als daß Ihre Zarische Hoheit den Krieg nicht unterlasssen konnte sowohl wegen des Nutzens und des Interesses Ihres Staates als auch zur Rächung der Kränkungen und Ehrverletzung, die Ihrer hohen Person zugefügt wurden.,,229 Wenn wie hier der staatliche Nutzen, konkreter: ein erwarteter territorialer Zugewinn, bereits eine bewaffnete Auseinandersetzung rechtfertigen sollte, war das eigentliche Gesetz des Handelns die Willkür des jeweils Mächtigeren, der skrupellos agierte. Mit echter Moral hatte dies nichts zu tun, vielmehr ging es lediglich um die Kaschierung egoistischer Antriebe. Die sogenannte "Staatsräson" entpuppte sich in der absolutistischen Doktrin, was die Beziehung der Staaten untereinander betraf, schlicht als das Recht des Stärkeren. Außenpolitisch bezogen faßte Zar Peter I. das Allgemeinwohl bzw. das staatliche Interesse also im Sinne einer Expansion auf, die das Volk zwar zunächst teuer zu stehen kam, von der er aber langfristig Vorteile militärischer und handelspolitischer Art erwartete. Diese tatsächlichen Hintergründe für sein kriegerisches Vorgehen verbrämte er, indem er seinem Gegner feindliche Absichten unterstellte und indem er die Bagatelle von Riga aus dem Jalrre 1697 im eigenen Interesse aufbauschte. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes könnte sich der Historiker an Bismarcks Vorgehen bei der Emser Depesche erinnert fühlen. Im strengen Sinn kann eine Expansionspolitik eigentlich nie als Ausdruck des Strebens nach Allgemeinwohl gelten, weil sie lediglich einen nationalen Egoismus gegen einen anderen ausspielt und auch beim Gewinner des Kampfes stets Opfer an Menschen und Material zu beklagen sind. Eine solche pazifistische und humanistische Erkenntnis war allerdings den Regenten des 18. Jalrrhunderts noch fremd, statt dessen wurden damals sogenannte Kabinettskriege als kalkulierbare begrenzte Konflikte am runden Tisch geplant. Erst die gewaltigen Katastrophen der beiden Weltkriege im 20. Jalrrhundert führten hier zu Änderungen in der Einstellung und zur Schaffung internationaler Kontrollgremien wie Völkerbund und UNO. Über Peters Selbstverständnis als Monarch und seinen persönlichsten Beitrag zum Allgemeinwohl gibt eine denkwürdige Rede des Zaren Auskunft, die er am 27.6.1709 vor der entscheidenden Schlacht gegen die Schweden bei Poltava gehalten haben soll. Ob der Wortlaut der Ansprache evtl. im Nachhinein noch überarbeitet und beschönigt wurde, ist leider nicht überliefert; 229

P. P. Safirov, Razsuzdenija 0 pricinach Svejskoj vojny. SPb 1722, S. 102.

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gewisse Zweifel begründet meines Erachtens der Ausdruck "Vaterland", der Peter sonst selten über die Lippen kam. Hier der Text: "Soldaten! Jetzt ist die Stunde gekommen, die das Schicksal des Vaterlandes entscheiden wird. Und so sollt ihr nicht meinen, daß ihr für Peter kämpft, sondern für den Staat, der Peter anvertraut ist, für euer Volk, für das Vaterland, für unseren rechten Glauben und für die Kirche. Der Ruhm des Feindes, als wäre er unbesiegbar, soll euch nicht kümmern, ihr selbst habt dies durch eure Siege über ihn mehrmals als Lüge entlarvt. Haltet euch im Gefecht das Recht und Gott vor Augen, der für uns kämpft. Von Peter aber sollt ihr wissen, daß ihm sein Leben nicht teuer ist, wenn nur Rußland in Seligkeit und Ruhm lebt zu eurem Wohlstand."no Hier liegt insofern eine Abstraktionsleistung vor, als die Staatsidee von der Person des Monarchen getrennt und ihr übergeordnet wurde, ähnlich wie etwa eine Generation später Friedrich 11. von Preußen zwischen sich und dem Staat differenzierte, indem er sich selbst zu dessen "erstem Diener" erklärte. Bei Ludwig XIV. von Frankreich dagegen waren die Persönlichkeit des Herrschers und der Staat noch in eins gesetzt worden, wie das geflügelte Wort "L'etat - c'est moi" prägnant festhielt. Die philosophischen Begründer des Absolutismus hatten die gedankliche Trennung zwischen dem Staat und seinem Lenker schon lange vollzogen; sie wurde bereits bei Bodin mit der Idee der Souveränität deutlich, die er gerade nicht an eine bestimmte Staatsform band. In Zar Peters Ansprache vor Poltava wurden als konstituierende Elemente des Staates das Volkstum, die Religion sowie Ruhm und Reichtum des Vaterlandes beschworen. Indem der Monarch die Bereitschaft bekundete, für diese Werte notfalls zu sterben, wollte er seiner Armee ein Vorbild an Opferhaltung geben und die Soldaten und Offiziere zu Höchstleistungen anspornen. Sofern der Text echt ist, kann er als einer der seltenen Fälle gelten, in denen Zar Peter an eine Art Nationalgefühl appellierte. Dieselbe Trennung zwischen abstrakter Staatsräson und konkreter Person des Regenten wurde im Juli 1711 deutlich, als sich Peter am Pruth mit einer siebenfachen türkischen Übermacht konfrontiert sah. In dieser Situation verlangte er vor der Schlacht vom Senat als seinem in der Hauptstadt gebliebenen gesetzlichen Vertreter, der Senat solle ihn, Peter, nicht weiter "als seinen Zaren und Herrscher ansehen", falls die Türken ihn gefangennährnen. Der Senat dürfe auch keine angeblichen Befehle des Zaren ausführen, bis Peter persönlich erscheinen werde. 23I Der Sinn dieser Anordnung lag darin, eine Erpressung des Senats seitens der Türken, etwa in Form von Lösegeldzahlungen oder Gebietsabtretungen, zu verhindern. Notfalls zeigte sich der Zar also wiederum bereit, sich selbst für die Interessen seines Staates zu opfern, was sicherlich einen Akt von Größe darstellt, andererseits aber auch von jedem einfachen Soldaten erwartet wurde. Da dieser Text im Unterschied zur oben zitierten Ansprache vor Poltava in die offizielle Sammlung der Gesetze des 230 L. G. Beskrovnyj (Hrsg.), Chrestomatija po russkoj voennoj istorii. Moskva 1947, S. 138. 231 PSZ IV, S. 712.

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Russischen Reiches aufgenommen wurde und auch der sprachliche Duktus sonstigen Verlautbarungen des Zaren entspricht, dürfte an seiner Echtheit kein Zweifel bestehen. Eine analoge Verfügung gegen sich selbst traf später auch Friedrich 11. von Preußen in einem kritischen Moment des Siebenjährigen Krieges. Innenpolitisch zeigte Zar Peter I. ein breit gefächertes Verständnis des Begriffs Allgemeinwohl. Nachdem er schon ganz zu Anfang seiner Regierung seinem Halbbruder Ivan gegenüber die Absicht bekundet hatte, für ein gerechtes Gericht und eine unbestechliche Verwaltung zu sorgen, griff er diesen Topos wieder auf, indem er am 2.3.1711 den Senat, das höchste Gremium im Staat, verpflichtete, die Annahme von Bestechungsgeldern in Prozessen und bei sonstigen Entscheidungen der Verwaltung zu unterbinden sowie die Veruntreuung von Staatseigentum zu bekämpfen. 232 Am 25.8.1713 wurde das staatliche Interesse u. a. deftniert als die Aufhebung von "Ungerechtigkeit und Beschwernis" während der Eintreibung von Steuern, Zöllen und bei der Rekrutenaushebung; alle Abgaben sollten zusammenkommen "ohne jede Hinterlist und ohne Bestechung, indem man den staatlichen Nutzen ohne Beschwerung (tjagost') des Volkes sucht".233 Dieser Text setzte als Faktum voraus, daß im russischen Staatswesen eine weit verbreitete Korruption herrschte. Problematisch erscheint, daß Peter nicht sagte, mit welchen Mitteln die vorhandenen Mißstände zu bekämpfen seien, statt dessen blieb er in einer allgemeinen Absichtserklärung stecken. Auch der Wunsch des Zaren, die Lasten zugunsten des Staates einzutreiben, ohne die Bevölkerung zu schädigen, wirkt so lange unrealistisch, wie diese Lasten nicht verringert oder gerechter auf alle Schichten der Gesellschaft verteilt wurden. Am 20.5.1714 äußerte Peter I. seine Vorstellungen von einem gerechten Gericht präziser, indem er verlangte: "Wir, der große Herrscher, Zar und Großfürst Petr Alekseevic, Cäsar und Monarch von ganz Rußland, befehlen im Eifer um das göttliche Gesetz, daß in allen Uns von Gott verliehenen Staaten das Gericht für alle überall gleich sein möge ohne gottverhaßte Heuchelei und ohne die verfluchte Habgier, die der Wahrheit entgegensteht.,,234 Zwei Jahre später allerdings verstieß der Zar selbst gegen dieses Gleichheitsideal, denn seine Heeresverordnung von 1716 sah unterschiedliche Strafen für dieselben Vergehen vor, je nachdem, ob der Delinquent ein einfacher Soldat oder ein adliger Offtzier war. Letzterer wurde leichter bestraft. Allen verbalen Bekundungen zum Trotz wurde ein gerechtes Gericht unter Peter I. faktisch doch nicht erreicht. Darin zeigte sich exemplarisch, daß der absolute Monarch zwar Gesetze erlassen, nicht jedoch in jedem Fall deren Einhaltung erzwingen konnte.

An einer Stelle ist überliefert, daß Peter den Zweck seiner Herrschaft nicht nur als Modernisierung im Sinne einer Angleichung an westeuropäische Verhältnisse verstand, sondern sogar auf eine Überflügelung anderer, damals noch 232 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 201. 233 PSZ V, S. 51ff. 234 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 40.

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höher entwickelter Kulturstaaten hoffte. Zumindest berichtet der hannoversche Gesandte Friedrich Christian Weber, dem wir ausführliche und ausgewogene Aufzeichnungen über Peters Regierungstätigkeit verdanken, der Zar habe beim Stapellauf eines Schiffes im Mai 1714 den anwesenden, beeindruckt lauschenden Russen eröffnet, die Geschichte verlaufe in Form wechselnder Macht- und Wissenshöhepunkte bei den einzelnen Völkern. Nachdem das antike Griechenland, Rom und die Staaten Westeuropas bereits an der Reihe waren, werde nun wohl für einige Jahrhunderte Rußland die Vorrangstellung einnehmen. Weber zufolge schloß der Zar seine Ansprache mit den Worten: "Indessen ermahne ich euch, das lateinische Sprichwort Ora et labora wohl in Obacht zu nehmen, und alsdann versichert zu seyn, daß ihr vielleicht noch bey unsern Lebzeiten andere gesittete Länder beschämen und den Rußischen Ruhm auf den höchsten Gipffel setzen werdet.,,235 Selbst wenn man konzidiert, daß Weber nur den allgemeinen Sinn von Peters Rede wiedergab, so zeigte sich hier doch deutlich das Großmachtstreben als ein wesentliches Staatsziel. Wiederum erschien - wie schon 1702 - die Chiffre des Ruhms. Indem der Zar die Bevölkerung zu fleißiger Arbeit aufforderte, gab er zu erkennen, daß Rußland eine Großmachtstellung nicht automatisch, sondern nur durch menschliche Anstrengung erringen würde. Er selbst leistete seinen Beitrag unermüdlich. Problematisch erscheint, daß der Zar meinte, der Ruhm seines Landes könne nur durch die "Beschämung" anderer Staaten erreicht werden, d. h. er verstand die Weltpolitik als dauernden Konkurrenzkampf der Völker gegeneinander. Für Friedensliebe blieb in diesem Konzept wenig Platz. Das Generalreglement für die Kollegien vom 28.2.1720 gab dem Zaren noch einmal Gelegenheit, seine Herrschaftszwecke zusammenhängend darzustellen. Dort hieß es, der Zar habe die Kollegien eingerichtet "zur ordentlichen Verwaltung Seiner Staatsangclegenheiten und zur verbesserten Bestimmung und Auszählung Seiner Einkünfte und zur Gewährleistung einer nützlichen Justiz und Polizei ... , ebenso wegen der möglichen Bewahrung Seiner treuen Untertanen und der Erhaltung Seiner Truppen zur See und zu Land in gutem Zustand, auch wegen des Handels, der verschiedenen Wirtschaftszweige und der Manufakturen und der guten Einrichtung Seiner See- und Landzölle und wegen der Vermehrung und des Anwachsens der Bergwerke und anderer staatlicher Bedürfnisse". In derselben Verordnung stand noch allgemein: "die öffentlichen staatlichen Angelegenheiten berühren das Interesse Ihrer Zarischen Hoheit".236 Dieser Quelle zufolge trugen praktisch sämtliche Einzelheiten von Peters Politik zum Allgemeinwohl, der "Bewahrung Seiner treuen Untertanen", bei, gleichgültig, ob es sich um steuerliche, verwaltungstechnische, militärische oder wirtschaftliche Maßnahmen handelte. In der politischen Realität der petrinischen Epoche belasteten der erhöhte Finanzbedarf des Staates, die Kosten für den Ausbau von Heer, Flotte und Verwaltung, die jährlichen Rekrutierungen in früher nicht gekanntem Umfang sowie die 235

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Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I. S. 11. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 482, 486.

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Zwangsrekrutierungen von Bauern für Bergwerke, Hüttenindustrie, Hafenanlagen und den Aufbau St. Petersburgs die breiten Massen ganz erheblich, so daß Ideologie und Wirklichkeit weit auseinanderklafften. Extrernerweise sollte sogar das Ableben des Zarensohnes Aleksej, der auf Befehl seines Vaters im Jahre 1718 zu Tode gefoltert wurde, dem Staatswohl und dem Interesse der Allgemeinheit dienen. Peter äußerte dazu nach Aleksejs Beisetzung: "Ich leide, und das alles für das Vaterland, weil ich ihm Nutzen wünsche ... ,,237 In Wahrheit stellte dieser Kommentar zum eigenen Tun eine Beschönigung dar. Der Zar bot hier eher ein Beispiel für machiavellistisches Verhalten, indem er seine eigenen Herrschaftsabsichten vor der Ethik rangieren ließ und sogar vor dem Gebot der Staatsräson, denn er beraubte das Russische Reich aus Eigensucht des einzigen legitimen männlichen Nachfolgers. Dies wußte Zar Peter I. damals allerdings noch nicht genau, denn sein schwächlicher und entwicklungsmäßig zurückgebliebener Sohn Peter 11. aus der Verbindung mit der ehemaligen Magd Katharina, auf den er illusorischerweise alle Hoffungen in der Frage der Thronfolge setzte, starb erst etwas später im Alter von vier Jahren. Im Unterschied etwa zu Kardinal Richelieu, der rechtzeitig vor dem eigenen Ableben den Kardinal Mazarin als Fortsetzer des begonnenen Werks aufgebaut hatte,238 versagte der russische Herrscher in diesem für das Staatswohl so zentralen Punkt. Gegen Ende seiner Regierungszeit, nach dem erfolgreichen Friedensschluß mit Schweden, wurde Peter I. von Senat und Synod der Ehrentitel "Vater des Vaterlandes" verliehen. Während dieser Feierlichkeiten faßte der Zar noch einmal kurz seine Auffassung vom Staatszweck zusammen, indem er in einer knappen Dankesrede mahnte: "Man muß für den allgemeinen Nutzen und den allgemeinen Gewinn arbeiten, den Gott Uns vor die Augen legt, sowohl nach innen wie nach außen, wovon das Volk Erleichterungen haben wird.,,239 Hier wurde das Allgemeinwohl wiederum vorrangig ökonomisch begriffen, der Wohlstand aber erneut erst in die Zukunft verlegt. Der Rekurs auf den Willen Gottes diente dazu, das eigentlich säkulare Herrschaftsziel im Empfinden der Bevölkerung mit einer höheren Weihe auszustatten. Wenn man die einzelnen Staatszwecke zusammenfaßt, wie sie in Rußland unter Peter I. favorisiert wurden, nämlich Expansion nach außen, Großmachtstreben, florierende Wirtschaft, gerechtes Gericht, geordnete Verwaltung, Wohlstand und Bildung der Untertanen, Gewährleistung des inneren Friedens, so unterschieden sich die russischen ideologischen Präferenzen nicht wesentlich von denen anderer absolutistischer Staaten, sondern spiegelten den Zeitgeist wider. Verglichen mit den Herrschaftszielen früherer Zaren im Moskauer Reich fällt eine gewisse Säkularisierung auf, insofern als die Sorge um das geistliche Wohl der Untertanen gegen Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum mehr eine Rolle spielte. Hier schimmerte 237 Solov'ev, Publicnye ctenija 0 Petre Velikom, S. 1105. 238 C. J. Burckhardt, Richelieu, Bd. 3, Großmachtpolitik und Tod des Kardinals.

München 1966, S. 545, 550. 239 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 169.

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auch in Rußland ein protestantischer Einfluß durch, insofern als der Protestantismus die Religion in stärkerem Maße zur Privatsache erklärt hatte und die Verantwortlichkeit des Individuums für das eigene Seelenheil erhöhte. Ähnliche säkulare Tendenzen gab es damals auch in England und Preußen, wo sich die Herrscher aus konfessionellen Problemen weitgehend heraushielten, während in Frankreich unter Ludwig XIV. mit der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes sowie später in Österreich unter Maria Theresia der Katholizismus als Staatsreligion gefördert wurde und sich insofern ein älterer Wesenszug der Politik fortsetzte. Sehr problematisch an der absolutistischen Staatskonzeption erscheint, daß es den Untertanen verwehrt blieb, selbst die Inhalte des Allgemeinwohls mitzubestimmen, obwohl sie von ihnen stark betroffen waren. Vom Monarchen dagegen ließ sich in keiner Weise begründen oder sicherstellen, daß er tatsächlich über die besonderen ethischen und verstandesmäßigen Qualifikationen verfügte, wie sie sein hohes Amt notwendig von ihm verlangte. Die Masse der Bevölkerung war politisch vollkommen entmündigt. Der Staat als Abstraktum, sein Glanz, sein Ruhm rangierten weit vor den Interessen des Individuums. Der Subjekt-Charakter des einzelnen wurde von der offiziellen Staatstheorie negiert. In dieser Nichtbeachtung der selbständigen Persönlichkeit sehen manche Politologen ein typisches Merkmal der russischen Kultur überhaupt. 240 Während des russischen Absolutismus verschob sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Selbstherrschaft" noch stärker von der außenpolitischen Unabhängigkeit hin zur innenpolitischen Willkür. Entsprechend hieß es unter Zar Peter I. im Manifest zur Einrichtung des Geistlichen Kollegiums vom 25.1.1721: "Die Macht des Monarchen ist eine selbstherrschaftliche, der zu gehorchen Gott selbst durch das Gewissen beflehlt.,,241 Hier wurde die Selbstherrschaft also bereits innenpolitisch auf die eigene Bevölkerung bezogen. Der geforderte verinnerlichte Gehorsam kann als besonders sicheres Mittel der Herrschaftsstabilisierung gelten, weil sich die Untertanen hinsichtlich ihrer Stimmungen und Ziele ständig selbst überwachen sollten und jede Differenz zum Regenten als Sünde gewertet wurde. Das zuletzt auszugsweise zitierte Papier zum Geistlichen Kollegium hatte der Ukrainer Feofan Prokopovic (1681 - 1736) formuliert. Er war - modem ausgedrückt - Peters Chefideologe. Der Zar förderte ihn und machte ihn 1711 zum Rektor der Kiever Theologischen Akademie, 1718 zum Bischof von Pskov und 1724 zum Erzbischof von Novgorod. Ungewöhnlich hoch gebildet und rhetorisch begabt, entwickelte Prokopovic als erster in Rußland eine zusammenhängende Theorie über Herkunft und Wesen des Staates, wobei er theologische Elemente mit den rationalistischen Ideen des westlichen Naturrechts kombinierte. Seine Meinung über den Staat legte Prokopovic einerseits 240 V. Glagoljew, Die russische Kultur und die Wiedergeburt der Orthodoxie, in: M. Harrns / P. Linke (Hrsg.), Uberall Klippen. Innen- und außenpolitische Gegebenheiten Rußlands. Berlin 1992, S. 126. 241 Lebedev, Reformy Petra 1., S. 141.

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in Lobreden auf den Zaren und seine Familie aus Anlaß von russischen Siegen oder von Feierlichkeiten im Herrscherhaus dar, ferner verfaßte er in Peters Auftrag im August 1722 die Schrift "Wahrheit des monarchischen Willens in der Bestimmung des Nachfolgers Seiner Herrschaft" (Kurztitel "Pravda voli monarsej"), mit der er die vom Regenten bereits am 11.2.1722 veröffentlichte Thronfolgeordnung nachträglich ideologisch untermauerte. Als Theologe betonte Prokopovic analog zu Bossuet die angebliche Einsetzung des Herrschers durch Gott. Er schrieb dazu, die höchste Macht im Staate sei "von Gott eingerichtet und mit dem Schwert ausgerüstet"; wer sich ihr widersetze, versündige sich an Gott selbst und falle der ewigen Verdammnis anheim. Die Staatsrnacht galt ihm als "Vertreterin Gottes auf Erden". Als unanfechtbaren Beleg für diese Ansicht zitierte er das Pauluswort aus dem Brief an die Römer Kapitel 13, Vers 1: "Es ist keine Macht, es sei denn von Gott.,,242 Neben dieser theologischen Rechtfertigung von Herrschaft berief sich Prokopovic in weltlicher Hinsicht auf das Naturrecht (estestvennye zakony). Wie ähnlich auch Pufendorf behauptete er, die Existenz einer obersten Macht im Volk sei den Menschen von der Natur vorgeschrieben; dies sei sogar ihr wichtigstes Gesetz. Wenn schon das Bienenvolk ein Oberhaupt anerkenne, dann dürfe sich die menschliche Gesellschaft doch wohl nicht dümmer verhalten. Ebenfalls analog zu Pufendorf und letztendlich auf die Bergpredigt zurückgreifend, nannte Propokovic als wichtigsten Grundsatz der zwischenmenschlichen Moral, man dürfe den Nächsten nicht schlechter behandeln als sich selbst, ohne dieses Postulat allerdings auf den Zaren anzuwenden. Schließlich faßte er zusammen: "Da uns also einerseits d~e Natur befiehlt, uns selbst zu lieben und dem anderen nichts zuzufügen, was wir für uns nicht wollen, und da andererseits die dem Menschengeschlecht innewohnende Bosheit herumklügelt, um dieses Gesetz zu zerstören, so ist immer und überall ein Wächter. ein Verteidiger und ein starker Verfechter des Gesetzes wünschenswert, und das ist die Staatsmacht.,,243 Was die natürliche Bosheit der Menschen betrifft, so übernahm Prokopovic in diesem Fall ein zentrales Motiv von Hobbes. Über Hobbes oder andere westliche Theoretiker des Absolutismus hinausgehend. behauptete Prokopovic sogar, ohne das Regulativ des Staates wäre die Menschheit längst ausgestorben. An diesen Gedankengang knüpfte er dann eher verschämt und insgesamt in seinem Werk nur zweimal die naturrechtliche Vertragstheorie an, die er gleichfalls über Hobbes kennengelernt hatte: "Die oberste Macht über die Menschen hält die bösen menschlichen Leidenschaften im Zaum, schützt und bewahrt das menschliche Zusammenleben und ist der ruhige Hafen gegen den Wind. Ohne sie wäre die Erde längst leer, wäre das menschliche Geschlecht längst verschwunden. Die menschlichen Bosheiten zwangen den Menschen, sich in ein Bündnis der Gesellschaft und in eine Gruppe zu sammeln und sich durch oberste Instanzen, denen die Macht vom ganzen Volk und umso mehr von Gott selbst gegeben ist, bewaff242 F. ProkopoviC. Socinenija. I. P. Eremin (Hrsg.). Moskva-Leningrad 1961,

s. 77f, 84. 98.

243 Ebd., S. 82.

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net zu halten und sich vor äußeren Widersachern sowie vor inneren Übeltätern zu schützen. ,,244 Als Legitirnationsbasis und zugleich Hauptzweck des Staates fungierte hier also die Sicherung der Untertanen gegen innere und äußere Feinde. Ein zweites Mal griff Prokopovic die Idee des Gesellschaftsvertrages in der Thronfolgeordnung auf und schränkte ihn dabei auf die Monarchie ein, so daß alternative Staatsfonnen gar nicht erst zur Debatte standen. Laut Prokopovic habe das Volk dem Monarchen den Auftrag erteilt: "Und du herrsche zu unserem allgemeinen Nutzen ewig über uns." Der Vertrag sollte also unwiderrufbar sein, wie das Wort "ewig" suggerierte. Gleichsam als reiche der Volkswille allein nicht als Weihe für den Herrscher, füfte Prokopovic noch hinzu, im Volkswillen sei auch Gott zugegen gewesen. 24 Bereits früher hatte Prokopovic die Meinung vertreten, die oberste Macht sei zwar ein Grundprinzip der Natur, reiche aber letztlich doch auf Gott zurück, da dieser die 246 Natur geschaffen habe. Insofern als Prokopovic auch das Naturgesetz und den Volkswillen, wie er sich im Gesellschaftsvertrag geäußert haben sollte, auf Gott als letzte Ursache zurückführte, ist seine Lehre dem theokratischen Absolutismus zuzurechnen. Unter den Theoretikern Westeuropas war ihm vor allem Bossuet geistesverwandt. Beide hatten auch ähnliche gesellschaftliche Positionen als kirchliche Würdenträger und Prediger am Hof des Monarchen inne. Der Franzose verfügte dabei über die weitere Perspektive, denn er versuchte eine Summierung der Weltgeschichte insgesamt und kam dabei zu dem Ergebnis, daß Gottes Zwecke dem bewußten Wollen weltlicher Herrscher auch zuwiderlaufen könnten, während es bei seinem russischen Kollegen viel naiver so aussah, als wären die Absichten des Regenten und der Wille Gottes grundsätzlich identisch. Ähnlich harmonistisch deutete Prokopovic die Tatsache, daß in der Schlacht von Poltava der Hut des Zaren zerschossen wurde, Peter selbst aber unverletzt blieb, in der Weise, daß Gott auf der Seite Peters gekämpft habe. An anderer Stelle nannte er den Zaren "unser rechtgläubiger und von Gott bewahrter Monarch Peter 1.".247 Wie seine westeuropäischen Vorbilder äußerte sich auch Prokopovic über das allgemeine Wohl (obscee dobro, obScee blagopolucie). Er variierte diesen Begriff teilweise durch den Ausdruck "Nutzen des ganzen Volkes" (vsenarodn~a pol'za). Zum Allgemeinwohl zählte Prokopovic die "Ganzheit des Vaterlandes" (celost' otecestva), die er sowohl als Abwehr äußerer Feinde als auch im Sinne der Unterdrückung innerer Widerstandsversuche auffaßte. 248 Zum ersten Aspekt führte er aus, der Krieg gegen Schweden sei zu Recht unternommen worden, um alte russische Gebiete wiederzuerlangen und um die Kränkung des Zaren in Riga zu rächen; den Kampf gegen die Türken wertete Prokopovic als Verteidigung des Vaterlandes und der ganzen Chri244

245 246 247 248

F. Prokopovic, Slova i reci poucitel'nye. Bd. 11, SPb 1761, S. 80. PSZ VII, S. 624 (Zitat)f. Prokopovic, Socinenija, S. 82. Ebd., S. 43, 56. Ebd., S. 38,41,56, 101; PSZ vrr, S. 615, 624, 629.

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stenheit gegen den "mohammedanischen Drachen", wobei er die Anschauungen Peters paraphrasierte und Relikte eines Kreuzzugsdenkens gegen die Ungläubigen bekundete. 249 In beiden Fällen rechtfertigte er Angriffskriege, was besonders für einen Theologen problematisch erscheint, denn schließlich hätte er das fünfte Gebot kennen müssen. Zum innenpolitischen Aspekt der Unversehrtheit des Vaterlandes schrieb Prokopovic ebenfalls ganz im Sinne des Zaren, die Aufstände in Astrachan' von 1705/06 und am Don unter Bulavin von 1707/08 hätten nur dem äußeren Feind genützt, Rußland aber Not und Schaden gebracht. Gerade an die außenpolitischen Erfolge des Landes knüpfte Prokopovic die Mahnung zur Eintracht nach innen: "WeIche Freude aber bleibt dem Vaterland, das von den äußeren Feinden befreit wurde, wenn wir nicht aufhören, uns selbst gegenseitig mit Neid, Feindschaft, Schmähreden und anderen Werkzeugen der Bosheit zu bekämpfen?,,25o Als weitere innenpolitische Bausteine des Allgemeinwohls führte Prokopovic fast sämtliche Unternehmungen des Zaren an, wie es auch Peter selbst in seinen Gesetzgebungswerken dargestellt hatte. Im Detail subsumrnierte der Chefideologe unter dem Oberbegriff "Nutzen des Volkes und Befreiung von Trübsal" (bezpecalie) alle Verwaltungsreformen aus Peters Regierungszeit, seine wirtschaftlichen Neuerungen, den Ausbau von Heer und Festungen im Lande, die Schaffun~ der Flotte, die Übernahme westlicher Einrichtungen und die IGrchemeform. 2 1 In Wirklichkeit war das russische Volk allerdings keineswegs frei von Trübsal, sondern stark belastet, stärker als vor Peters Regierungszeit. Was den Wohlstand der Bevölkerung auf der Basis reichlich vorhandener Waren betraf (izobilie), der Krizanic zentral wichtig gewesen war, so strebte auch Prokopovic materiellen Reichtum für jeden an: "die Frucht des Friedens ist der allgemeine und persönliche Überfluß an allem", fügte aber sofort einschränkend hinzu, dies gelte nur, sofern kein Staatsvermögen unterschlagen und keine Bestechungsgelder verlangt würden. 252 Falls also die DurchschniUsbevölkerung nach wie vor arm blieb, wie es Tatsache war, sollte die Schuld daran nicht den Zaren treffen. Zur Person des absolutistischen Herrschers äußerte sich Prokopovic vor allem in seiner Apologie der Thronfolgeordnung 1722. Er übernahm hier den westeuropäischen Begriff "Majestät" (maestet) als Fremdwort und übersetzte ihn parallel mit "Hoheit" (velieestvo). Die einzelnen Herrschaftsattribute und Kompetenzen entsprachen Bodins Idee der Souveränität: dem Monarchen allgemein und dem Zaren speziell oblagen auch gemäß Prokopovics Auffassung die Gesetzgebung, das oberste Richteramt, die höchste Befehlsgewalt in allen Bereichen; der Souverän selbst sollte keinem irdischen Gesetz Verantwortung schulden, sondern nur vor Gott Rechenschaft ablegen. Als wesentlichste Tugenden des Herrschers galten Weisheit, sittlich vorbildliches Handeln, Fleiß,

249 Prokopovic, Socinenija, S. 50, 132 (Zitat). 250 251 252

Ebd., S. 54, 59 (Zitat). Ebd., S. 136ff. Ebd., S. 125

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militärische Begabung sowie der uneigennützige Dienst am Vaterland. 253 Hatte Krizanic wn 1665 erklärt: "Nicht die Königreiche sind um der Könige willen geschaffen, sondern die Könige für die Königreiche", so hieß es analog bei Prokopovic: "Die guten Herrscher leben nicht so sehr für sich selbst als für ihre Untertanen".254 Zu den Rechten und Pflichten des Souveräns gehörte bei Prokopovic zusätzlich zwn westeuropäischen Theoriegut auch die freie Auswahl eines geeigneten Nachfolgers, damit die Herrschaft im begonnenen Sinne fortgesetzt werde. Viele Beispiele aus der Bibel und der Geschichte sollten diese Ansicht stützen, so habe etwa Isaak den zweitgeborenen Sohn Jakob gegenüber Esau bevorzugt, Cäsar habe den Augustus, Augustus den Tiberius als Reichserben benannt etc. Einmal berief sich Prokopovic auch auf Grotius, der in seinem Werk"Oe iure belli ac pacis libri tres" die Enterbun~ pflichtvergessener Thronanwärter durch den Monarchen befürwortet habe. 2 Insgesamt sah Prokopovic den Souverän als eine Art Übervater der Untertanen. Die Gesetze, die der Herrscher erließ, bedurften angeblich keiner Beweise von Gelehrten, obwohl Prokopovic doch selbst in dieser Richtung tätig war, indem er z. B. die freie Auswahl des Thronfolgers durch den amtierenden Monarchen verfocht. 256 Konkret auf Peter I. bezogen idealisierte Prokopovic ihn über die Maßen, nannte ihn sehr weise, tapfer, fleißig, uneigennützig, militärisch und politisch begabt; der Zar sei "unsere Macht", "unser Ruhm", "unser Vater", der "Wächter des Vaterlandes"; "durch diesen Seinen großen Minister" habe Gott Rußland gesegnet und gegenüber anderen Völkern aufgewertet. 257 Oer letztgenannte Punkt belegt, daß auch Prokopovic analog zum Zaren, dem er diente, die internationale politische Szene als von Konkurrenz geprägt auffaßte. Am 8.3.1725 anläßlich der Beisetzung Peters I. stellte Prokopovic den Verstorbenen in eine Reihe mit Moses, Samson, David, Salomon oder Konstantin, die hier als Symbolfiguren für weise Gesetzgebung, starke Kraft und gottbegnadete Herrschaft fungierten. Fast schon blasphemisch mutet die Behauptung Prokopovics an, Peter habe "Rußland gleichsam von den Toten auferweckt und es zu solcher Kraft und solchem Ruhm geführt, daß ihm die guten Söhne Rußlands ewiges Leben WÜDschten".258 Keiner der westeuropäischen Theoretiker des Absolutismus hatte sich so direkt mit dem eigenen Landesherm identifiziert. Teilweise muß man Prokopovics Ausführungen schon als Lobhudelei bezeichnen. So sehr Prokopovic den Zaren auf ein hohes Podest stellte, so tief darunter siedelte er die Untertanen an. Sie sollten "still und friedlich verharren", Gott für einen so fähigen Monarchen danken und ansonsten dem Zaren in allen Dingen widerstandslos gehorchen. 259 Ausdrücklich sprach Prokopovic den PSZ VII, S. 617, 619, 627. Krizanic, Politika, S. 571; Prokopovic, Socinenija, S. 47. 255 PSZ VII, S. 609f, 614f, 629, 634, 642. 256 Ebd., S. 604. 257 Prokopovic, Socinenija, S. 115, 124, 131, 135, 145. 258 Ebd., S. 126f. 259 PSZ VII, S. 620, 625 (Zitat), 643. 253 254

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Untertanen das Recht ab, Befehle des Regenten zu hinterfragen. Der Gehorsam des Volkes insgesamt und jedes einzelnen sollte nicht allein aus Angst vor Bestrafung erfolgen, sondern sich aus dem Gewissen heraus ergeben ("ne tokrno za gnev, no i za sovest'''),260 d. h. Prokopovic forderte einen verinnerlichten und damit umso zuverlässiger funktionierenden Gehorsam. Damit setzte sich der russische Theoretiker in Gegensatz zu Hobbes, der den Untertanen wenigstens die innere Freiheit abweichender Meinungen zugebilligt hatte. Anders als Josef von Volokolarnsk, Bodin oder Grotius und in einer Front mit Bossuet und Kriianic sprach Prokopovic dem Volk jegliches Widerstandrecht gegen einen launischen Herrscher ab: "Das Volk aber muß jede beliebige Mißstimmung und schlechte Sitte seines Monarchen dulden: so befiehlt der Heilige Geist. sich nicht nur den Guten und Sanftmütigen, sondern auch den Sperrigen (stroptivym) zu unterwerfen ... ,,261 Indern Prokopovic die Akzeptanz jedes beliebigen Herrschers verlangte, wurde indirekt auch die Reflexion der Bevölkerung über den Charakter des Monarchen zu einer sinnentleerten, weil folgenlosen Beschäftigung. Der Ausweg Pufendorfs, bei einern pflichtvergessenen Regenten eventuell auszuwandern, war den Russen versperrt, erstens wegen der Schollenbindung der Bauern und zweitens wegen des allgemeinen Paßzwangs für Reisen innerhalb und außerhalb des Landes. Faßt man noch einmal zusammen, welche Staatszwecke in Rußland Ende des 17. Jahrhunderts und Anfang des 18. Jahrhunderts theoretisch vorgebracht wurden und vergleicht sie mit der westeuropäischen Philosophie des Absolutismus, so ergeben sich folgende Parallelen bzw. Sonderentwicklungen: Die Grundzüge der Legitimation des Herrschers, nämlich seine vorgebliche Berufung durch Gott als religiöser Aspekt sowie die Sorge um das Allgemeinwohl als weltlicher Aspekt, waren in West- und Osteuropa identisch. Auch die Ausstattung des Monarchen mit allen nur vorstellbaren politischen Kompetenzen, einer Machtfülle, die philosophisch in Bodins Theorie der Souveränität wurzelte, galt prinzipiell in beiden geographischen Räumen. In Rußland wurde der Absolutismus darüber hinaus durch die politische Praxis der Moskauer Autokratie seit dem 15. Jahrhundert vorbereitet, während sich die absolutistische Herrschaft in Westeuropa mühsamer und spannungsreicher erst gegen die ständische Mitbestimmung durchsetzen mußte. Der russische Weg führte also geradliniger zum Absolutismus. Da die Praxis der zarischen Selbstherrschaft bereits seit Jahrhunderten in diese Richtung tendierte, bedurfte es in Rußland kaum noch der Theorie, um die Herrschaft des Zaren unangefochten zu bewahren. Sowohl was den Umfang als auch was die Qualität der Darstellungen betrifft, war das russische Staatsdenken dem des Westens unterlegen. Während Prokopovic, schon der versierteste Theoretiker Rußlands unter Peter 1., zwei bis drei Bücher mittlerer Dicke mit seinen Anschauungen füllen konnte, brachte es z. B. Bossuet auf 43 Bände. Die Qualität der Argumentation im Westen erscheint insofern höher, als sie sich auf weitaus mehr Fallbeispiele 260 Ebd., S. 620; ders., Socinenija, S. 78. 261 PSZ VII, S. 626.

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der Geschichte und damaligen Zeitgeschichte bezog als dies in Rußland geschah. Den westlichen Theoretikern standen auch juristische Argumentationen zur Verfügung, wohingegen die Jurisprudenz für Rußland 'bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein unerschlossenes Feld blieb. Als konservativer Ersatz und Stütze der Gedankenführung dienten den Russen entsprechend mehr Rückgriffe auf die Bibel. Die Stellung der Untertanen wurde in der russischen Staatstheorie noch eingeschränkter gefaßt als im Westen, indem Kriianic und Prokopovic ein Widerstandsrecht des Volkes strikt ablehnten, während es bei Bodin und Grotius, eingeschränkter auch bei Pufendorf als ultima ratio vorkam. Differenzen zwischen Ost und West zeigten sich ferner darin, daß Hobbes als Urheber der Idee vom Gesellschaftsvertrag diesen als gegenseitige Bindung der Menschen untereinander konzipiert hatte, während Prokopovic den Vertrag als Abkommen zwischen dem Herrscher und den Beherrschten umdeutete und ihn zudem ewig gelten lassen wollte, wovon Hobbes nicht gesprochen hatte. Auch im Hinblick auf den verinnerlichten Gehorsam bei Prokopovic, wo im Westen nur äußere Anpassung verbunden mit innerer Gedankenfreiheit gefordert war, wurden die russischen Untertanen noch stärker entmündigt. Schließlich fällt zur Biographie der Staatstheoretiker auf, daß Bodin, Grotius und Hobbes infolge der Bürgerkriege und ungeklärten Machtverhältnisse in ihrer jeweiligen Heimat selbst über Jahre hin politisch verfolgt waren, z. B. wäre Bodin fast ein Opfer der Bartholomäusnacht geworden, Grotius mußte die Niederlande verlassen und starb im Ausland, und auch Hobbes wurde von vielen seiner Landsleute angefeindet. Gerade solche negativen persönlichen Erfahrungen verliehen den Schriften dieser Philosophen eine besondere Gedankentiefe und einen hohen Reifegrad, wie sie oft erst durch persönliches Leid möglich werden. Prokopovic dagegen merkt man die Sattheit des abgesicherten Amtsträgers an. Er idealisierte seinen Regenten in einer so platten Art, daß es oft schon peinlich anmutet. Der Konservative Fürst Michail Michajlovic Scerbatov kritisierte Prokopovic als "blind vor Ehrgeiz" und verurteilte dessen Ausführungen zur Thronfolge als "ein Denkmal an Schmeichelei und mönchischer Unterwürfigkeit unter den Willen des Herrschers". 262 Diese Einschätzung dürfte den Kern der Sache, das Karrieredenken des Ideologen, treffen. Zur Belohnung erhielt Prokopovic von seinem Landesherrn ein Erbgut geschenkt, d. h. seine bedingungslose und angesichts seines hohen Bildungsgrades auch skrupellose Parteinahme für Peter zahlte sich aus. 263 Insgesamt bedeutete es bereits einen Fortschritt, daß in Rußland zur Zeit Peters I. überhaupt ernsthafter und zusammenhängender über eine Staatstheorie nachgedacht wurde, denn nun ergänzten rationale Argumentationsmuster den überlieferten Topos vom göttlichen Willen, und der Staat wurde als bewußt gestaltbar empfunden. Diese Ideen waren nicht mehr umkehrbar. Die gedankliche Trennung von Herrscher und Staat stellte eine Abstraktionsleistung dar. Der Begriff des Allgemeinwohls konnte auch nachfolgende Gene262 263

Scerbatov, 0 povrddenii nravov, S. 26f. Voskresensltij, Zakonodatel'nye akty, S. 114.

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V. Legitimationsgrundlagen und Staatszwecke

rationen zum Weiterdenken reizen und von ihnen mit neuen Inhalten gefüllt werden. Die Defizite bei den Erläuterungen der Staatszwecke, insbesondere die recht- und machtlose Stellung der Untertanen, spiegelten die damaligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse wider. Die russische Staatstheorie unter Peter I. war also nicht fortschrittlicher als ihre Zeitumstände.

VI. Zur Person des Souveräns Nachdem bisher die geopolitischen, demographischen und ideologischen Voraussetzungen des russischen Staates unter Peter I. dargestellt wurden, behandeln die folgenden fünf Kapitel gesellschaftliche Aspekte, insbesondere die Frage, in welcher Weise die unterschiedlichen sozialen Schichten zum Staatsganzen beitrugen, welche Lasten ihnen auferlegt waren und welche Rechte sie genossen. Obwohl der Zar bei der Bestellung seiner Mitarbeiter und zur Förderung der Wirtschaft einige Ausnahmen zuließ, war die russische Gesellschaft an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert insgesamt immobil. Prokopovie rechtfertigte diesen Zustand, indem er 1718 anläßlich einer Gedenkfeier für Aleksandr Nevskij behauptete: "Jeder Stand ist von Gott" (vsjakij ein ot boga est'). Für alle Menschen sei es "eine sehr notwendige und Gott angenehme Sache", ihren Pflichten an ihrem jeweiligen feststehenden gesellschaftlichen Ort nachzukommen, gleichgültig ob als Zar, Senator, Krieger, Geistlicher oder leibeigener Bauer. Falls jeder nur treu den ihm von Gott zugewiesenen Platz ausfülle, werde er die ewige Seligkeit erlangen: "Wenn aber allen die Erlösung bestimmt ist unabhängig vom Unterschied der gesellschaftlichen Ränge, was bleibt dann anderes zu tun, als daß jeder seiner Berufung folgt? Und das genügt allein und braucht keine weiteren Beweise. Gott straft die Verschiedenheit des Ranges nicht, sondern lobt sie umso mehr. Er verlangt nichts anderes, als daß wir jeder in unserer Position verbleiben und unserer Berufung nicht zuwiderhandeln.,,264 Indem Prokopovie die krassen gesellschaftlichen Unterschiede im damaligen Rußland aus dem Willen Gottes ableitete und jedem das Paradies versprach, der in der ihm zugewiesenen sozialen Position verharrte und sie gewissenhaft ausfüllte, wirkte er potentiellen Aufständen entgegen. Bemerkenswert ist dabei noch, daß der Theologe seine These nicht beweisen konnte, sondern die Forderung nach Beweisen nur apodiktisch abwehrte. In Westeuropa, soweit es calvinistisch geprägt war, herrschte zur selben Zeit die kapitalistische Leistungsethik. Sie forderte den gesellschaftlichen Aufstieg insofern geradezu heraus, als der einzelne Calvin zufolge aus dem eigenen wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen ableiten durfte, er stehe in der Gnade Gottes und werde auch des ewigen Lebens teilhaftig werden. 265 Dank dieser Ideologie wurde die gesellschaftliche Mobilität im Westen im Unterschied zu den russischen Verhältnissen begünstigt.

264

265

Prokopovic, Socinenija, S. 96, 98. M. Weber, Die protestantische Ethik I. Gütersloh 1979, S. 128f, 169.

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VI. Zur Person des Souveräns

Im Absolutismus generell hing viel von der Begabung, dem Charakter und dem Bildungsstand des jeweiligen Regenten ab, da das gesamte Staatswesen auf die Person des einen Souveräns zugeschnitten war. Peter I. wurde in dieser Hinsicht von der Natur relativ günstig ausgestattet. Schon äußerlich überragte er seine Untertanen, denn er war etwa 1,90 Meter groß. Meist hielt er sich nach vom gebeugt, wohl um den Kontakt zu den Menschen seiner Umgebung zu erleichtern. Eine breite Stirn, stark gezeichnete Brauen und ein wacher Augenausdruck verliehen seinem Gesicht etwas Energisches. Die Auffassungsgabe des Zaren war überdurchschnittlich, er begriff schnell. Er besaß einen lebhaften Charakter und war voller Tatendrang. Allerdings scheute er in seinem ungestümen Temperament auch vor Grobheiten nicht zurück. 266 Johann Georg Korb, der sich im Jahre 1698 als kaiserlicher Legationssekretär in Moskau aufhielt und bald darauf in Wien umfangreiche Schilderungen der russischen Sitten veröffentlichte, berichtete allein für dieses eine Jahr schon von drei Ausfällen des Zaren sogar gegen Freunde: seinem Favoriten Mensikov versetzte er eine derartige Ohrfeige, daß das Blut aus der Nase schoß, weil Mensikov beim Tanzen den Säbel nicht abgelegt hatte. Bei einem Festmahl ärgerte sich der Zar über den General Franz Lefort, dem er eigentlich viel verdankte, warf ihn zu Boden und trat ihn mit Füßen. Einem Bojaren, der keinen Essig mochte, stopfte Peter mit Gewalt so viel Essigsalat in Mund und Nase, bis der Malträtierte einen Hustenanfall bekam und Blut spie. 267 Der Zar besaß Selbstbewußtsein genug, um sich der höfischen Etikette nicht zu unterwerfen, z. B. trug er fast nie die übliche Perücke, sondern sein eigenes dunkelbraunes Haar offen und wehend?68 Auch hinsichtlich der Kleidung legte er sich keinen Zwang auf: im Alltag bevorzugte er einen Rock aus grobem Tuch, einen unbetreßten Hut, von Frau oder Tochter gestopfte Strümpfe und altes wiederbesohltes Schuhzeug; bei offiziellen Anlässen trug er die grüne Uniform eines Obristen des Preobrafenskij-Regiments. 269 Als eklatantestes Beispiel seines eigenwilligen und selbstbewußten Verhaltens kann Peters Entscheidung für seine zweite Frau Katharina gelten, die ursprünglich nur eine einfache livländische Magd war. Kein anderer absolutistischer Herrscher und auch kein Zar vor Peter hatte einen solchen Bruch mit der Tradition gewagt. Die Trauung wurde im November 1707 heimlich vollzogen, als die beiden schon fünf Kinder zusammen hatten; im Februar 1712 fand dann die offizielle Feier statt. 270 Aus diesen getrennten Daten läßt sich schlußfolgern, daß sich Peter offenbar selbst darüber im unklaren war, wie die Bevölkerung seine Verbindung mit Katharina aufnehmen würde, deshalb verschob er vorsichtshalber die Deklaration der Beziehung nach außen.

266 SBIRIO Bd. 34, S. 145; F. Voltaire, Histoire de L'Empire de Russie sous Pierre-Ie-Grand. Paris 1821, S. 136. 267 J. G. Korb, Tagebuch der Reise nach Rußland. Reprint Graz 1968, S. 84, 86f. 268 Beskrovnyj / Kafengauz, Cbrestomatija, S. 124. 269 K. Waliszewski, Peter der Große. Berlin 1899, Bd. I, S. 114,201. 270 R. Massie, Peter der Große. Sein Leben und seine Zeit. Königstein / Ts. 1982, S.323f.

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Für seine privaten Bedürfnisse gab der Zar wenig Geld aus. Vennutlich wollte er in der Rolle eines sparsamen Hausvaters seiner Bevölkerung ein Vorbild sein. Er wohnte in Petersburg die meiste Zeit über in einem einfachen Holzhaus, viel bescheidener als etwa sein Favorit Aleksandr Danilovic Mensikov. Peters Hofstaat bestand nur aus sechs Adjutanten, zwei Eilboten, einem Kammerdiener, einem Sekretär und zwei Gehilfen, d. h. er beschränkte sich auf das Nötigste ganz anders als zeitgleich Ludwig XIV. von Frankreich, der eine riesige Anzahl von Dienstboten beschäftigte und der in Versailles ein Gefolge von mehreren tausend Personen, überwiegend aus dem Adel, ständig um sich versammelt hielt, um vor dieser prunkvollen Kulisse die eigene Person umso glanzvoller herauszustellen. Nicht einmal eine Prachtkutsche nur für den eigenen Gebrauch leistete sich Zar Peter, statt dessen lieh er sich im Bedarfsfall die des Generalprokurors für den Senat, Pavel Ivanovic Jaguzinskij, aus. 271 Kleinere Luxusbedürfnisse gestattete sich der Zar höchstens, wenn er für den Hof Melonen, Weintrauben und Kaviar bestellte oder für den Eigenbedarf Rheinwein und englischen Likör. 272 Hinsichtlich seiner sparsamen privaten Lebensführung erinnert Zar Peter I. an den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm 1., seinen Zeitgenossen. Wie dieser steckte er viel Geld in die Annee. Im Unterschied zu Friedrich Wilhelm 1., der sein Heer schonte, setzte Peter I. die russischen Streitkräfte intensiv ein, um seinem Großmachttraum faktisch näher zu kommen. Peter I. wies eine vielfältige praktische Bildung auf, was für einen absoluten Monarchen durchaus untypisch war. Er betätigte sich in vierzehn verschiedenen Handwerken wie Steinmetz, Schmied, Zimmennann, Dreher, Maler, Drucker, Buchbinder, Feuerwehrmann, Geburtshelfer, Bader und Zahnarzt. In einem Brief an den Senat vom 20.1.1712 gab der Zar mitten unter anderen Regierungsgeschäften detailliert an, wo beim Schiffsbau Nägel einzuschlagen seien und wo nicht. 273 Fast täglich verrichtete er auch handwerkliche Arbeit, schreinerte z. B. Boote oder Haushaltsgegenstände. Diese Betätigung brauchte er anscheinend als Ausgleich zu den Staatsgeschäften, sie war seine Art der Entspannung. Vennutlich schaltete der Zar während dieser handwerklichen Tätigkeit nicht völlig von allen politischen Fragen ab, sondern durchdachte die anstehenden Probleme noch einmal im Sinne eines brain storrning und führte sie dadurch einer Entscheidung näher, ähnlich wie geistig Arbeitende von Zeit zu Zeit auf einem Spaziergang ihre Gedankenwelt effektiver ordnen können, als wenn sie ständig über den Schreibtisch gebückt verharren. Insofern sollte man sich hüten, das Ausweichen des Zaren in praktische Arbeiten als reine Zeitverschwendung abzutun. In geistiger Hinsicht blieb Peters Bildungsgang rudimentär. Anders als seine älteren Halbgeschwister wurde er nicht humanistisch unterwiesen. Sein 271 Waliszewski. Peter der Große, Bd. I, S.206; E. Donnert, Peter der Große. Wien / Köln / Graz 1989, S. 307. 212 Pib III, S. 95; PSZ V, S. 477; SBIRIO Bd. 34, S. 325f. 273 Pib XII, vyp. I, S. 87; E. Donnert, Peter der Große. Der Veränderer Rußlands. Göttingen / Zürich 1987, S. 14.

6 Helmert

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Vater, der Zar Aleksej Michajlovic, starb bereits, als Peter noch keine vier Jahre alt war und konnte sich also nicht mehr um die Erziehung seines jüngsten Sohnes kümmern. Peters Mutter, Natalja Kirillovna, mißtraute den ukrainischen Gelehrten, die damals am Zarenhof die Bildung der Thronprätendenten bestimmten; deshalb hielt sie Peter von ihnen fern. Seiner Halbschwester Sofja, die ab 1682 regierte, war an einer gründlichen Unterweisung ihres Rivalen nicht gelegen. So endete Peters systematische Bildung bereits, als er im Alter von zehn Jahren nach der Machtübernahme durch Sofja vom Moskauer Hof entfernt wurde. Bis dahin hatte er überwiegend an Psalmen, Evangelien und Apostelgeschichte Lesen und Schreiben gelernt, daneben etwas Rechnen und die Anfangsgründe von Geographie und Geschichte betrieben. 274 Aus der russischen historischen Überlieferung beeindruckten ihn besonders Aleksandr Nevskij, der die Deutschritter abgewehrt hatte, und Dmitrij Donskoj, der Held im Kampf gegen die Tataren. Im übrigen identifizierte sich der junge Peter mit Alexander dem Großen und Julius Cäsar, die er sich zu Vorbildern erkor, wie es parallel auch sein späterer Gegenspieler Karl Xß. von Schweden tat. 275 Auffällig ist dabei, daß sich Peter nur an militärischen Größen orientierte, nicht jedoch z. B. an Jaroslav dem Weisen oder anderen vorbildlichen Gesetzgebern. Die weitere Bildung des zukünftigen Zaren erfolgte ab 1682 hauptsächlich nach seinem eigenen Gutdünken in der deutschen Vorstadt Moskaus und durch seine Spielregimenter, mit denen er militärische Übungen veranstaltete. In den Jahren 1697/98 unternahm er dann bereits als Herrscher eine große Auslandsreise in mehrere Länder Westeuropas, die seinen Horizont beträchtlich erweiterte. Bei seinem autodidaktischen Vorgehen interessierte sich der junge Regent vor allem für technische und militärische Fragen wie Festungsbau, Heereswesen, Brücken, Kanäle, Fabriken oder Gartengestaltung; derartige Einrichtungen besichtigte er im Ausland häufig. Seine philosophische und sittliche Bildung hingegen, darunter auch die für einen Souverän so entscheidende Komponente, was Zweck und Inhalt einer guten Herrschaft sei und welche Mittel der staatlichen Lenkung Erfolg versprechen, blieb unterbelichtet. Über Peters Selbstverständnis als Herrscher berichtete Ivan Ivanovic Nepljuev, der ab 1721 als russischer Botschafter in der Türkei tätig war. Ihm zufolge soll der Zar, als er Nepljuev auf den neuen Posten berief, zu diesem Thema geäußert haben: "Ich bin euch von Gott als Vorgesetzter gegeben, und meine Pflicht ist es, darauf zu achten, daß dem UnWÜTriigen nichts gegeben wird und dem Würdigen nichts genommen wird; wenn du erfolgreich sein wirst, tust du nicht mir, sondern stärker dir selbst und dem Vaterland Gutes; wenn es aber schlecht gehen wird, so bin ich der Ankläger, denn Gott verlangt von mir für euch alle, daß ich dem Bösen und Dummen keine Gelegenheit

Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 8, 12. T. S. Majkova, Petr Ii "Gistorija Svejskoj vojny", in: Pavlenko (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I, S. 103. 274 275

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gebe, Schaden anzurichten; diene im Glauben und in der Wahrheit!,,276 Aus dem Zitat geht hervor, daß Peter offenbar in Gegensatzpaaren dachte und die Welt in Leute einteilte, die für oder gegen ihn arbeiteten. Dabei blieben allerdings seine Vorstellungen von "gut" und "böse", "würdig" und "unwürdig", "Schaden" und "Wahrheit" unscharf, indem er keine Kriterien ihres Inhalts nannte. Sein eigenes Rollenverständnis als Rächer von Missetaten erscheint insofern fragwürdig, als er wegen der Größe seines Herrschaftsraumes gar nicht über alle Fehlhandlungen informiert sein konnte. Zu diesem Selbstbild paßte nicht, daß Peter es gegen Ende seiner Regierungszeit ablehnte, persönlich die Beschwerdebriefe und Gesuche seiner Untertanen zur Kenntnis zu nehmen. Typisch erscheint, daß der Zar von seinen Untergebenen den "Dienst" am Staat verlangte; denselben Begriff wandte er in anderen Äußerungen auch auf sich selbst an. Peters Selbstdarstellung als Zar hob sich deutlich vom Auftreten seines Vaters ab. Aleksej Michajlovic, der von 1645 bis 1676 die russischen Geschicke lenkte und sich besonders durch die Herausgabe des großen Gesetzbuches "Ulozenie" von 1649 verdient machte, pflegte den Stil eines frommen und zurückhaltenden Regenten. Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen betete er erst zwanzig Minuten, las Andachtsbücher, küßte die Ikonen und besprengte sich mit Weihwasser, bevor er den Staatsgeschäften nachging. Täglich besuchte er morgens und nachmittags den Gottesdienst, führte dort auch Regierungsgespräche und erteilte von dort aus Anweisungen. Die Fastenregeln beobachtete er streng, nahm oft stundenlang an nächtlichen Messen teil und lebte persönlich anspruchslos, ja fast asketisch. 277 Die Briefe Aleksejs an seine Gattin und Schwestern zeugen von einem starken Gottvertrauen in Wendungen wie: "Hofft auf Ihn, das Licht: oh, Er wird uns und euch Gutes tun!"; "Freut euch und vertraut kräftig auf Gott! Er bewahrt euch, Er wird euch im Gebet und im Fasten stärken, Er wird euch, seine Lichter, bewahren, daß wir uns in Freude wiedersehen." Die eigene Regierungstätiskeit faßte Zar Aleksej als Gottesdienst auf: "und wir sind im Dienste Gottes" 78; Peter hingegen begriff die Aufgaben eines Regenten eindeutig säkular. Das Volk verlieh dem Zaren Aleksej Michajlovic den Beinamen "tisajsij", was soviel wie "der sehr Stille, Friedfertige" bedeutete. Indirekt wird aus dieser positiv gemeinten Bezeichnung klar, daß sich die Bevölkerung idealerweise einen Monarchen wünschte, der sie möglichst weitgehend in Ruhe ließ. Unter Peter I. wurde das Attribut "tisajsij" auf seinen e~enen Wunsch hin aus der Liturgie gestrichen, wenn das Volk für ihn betete. 2 Vermutlich fand er den Beinamen für einen so kämpferischen und kompromißlosen Charakter, 276 Zapiski Ivana Ivanovica Nepljueva (1693 - 17773). SPb 1893, Reprint New York 1974, S. 110. 277 Massie, Peter der Große, S. 18f. 278 Pis'ma russkich gosudarej i drugich osob carskago semejstva. V. Pis'ma CaIja AleksejaMichajlovica. Moskva 1896, S. lf, 19. 279 M. Chemiavsky, Tsar and People. A Historical Study of Russian National and Social Myths. New Haven 1962,2. Aufl., S. 72.

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wie er es war, unpassend. 1722 strich er auch die Bezeichnung "osvescenejsij" = allerheiligster zur Kennzeichnung seiner eigenen Person aus der Erstfassung eines neuen Reglements für den Senat und dokumentierte so einmal mehr eine säkularisierte Herrschaftsauffassung. 28o Den Dienstgedanken seines Vaters deutete er zwar weltlich um, die Dienstidee als solche aber blieb erhalten und spielte eine zentrale Rolle in Peters Selbstverständnis. Bereits ein früher Brief Peters an seine Mutter, den er am 20.4.1689 aus Perejaslavl' schrieb, wo er gerade seine ersten Versuche in der Seefahrt unternahm, enthielt den Passus: W •• dein Sohn Peter ist bei der Arbeit (v rabote prebyvajuscij) und bittet um deinen Segen.,,281 Sicherlich flossen hier noch Arbeit und Vergnügen ineinander. Seit dem Feldzug gegen die Türken im Frühjahr 1695 datierte Peter dann seinen eigentlichen Dienstantritt im Interesse des Staates. Entsprechend schrieb er an den Admiral Fedor Matveevic Apraksin: "Auf Euren allergnädigsten Befehl hin werden wir am 18. dieses Monats zum Dienst nach Azov gehen.,,282 Ende August 1708 äußerte der Zar über die Schlacht bei Cernaja Napa gegen die Schweden: "Tatsächlich, seit ich zu dienen begann, habe ich ein solches Spiel nicht gesehen. Jedoch tanzten wir diesen Tanz vor den Augen des feurigen Karl ganz ordentlich.,,283 Gegenüber dem damaligen Metropoliten von Rjazan', Stepan Javorskij, bekundete Peter die Absicht, im Kampf gegebenenfalls auch sein Leben für den Staat zu opfern: "Wir werden mit Sicherheit keine Mühen scheuen und auch unser Leben für die Kirche und das Vaterland nicht schonen. ,,284 Über den Feldzug am Pruth von 1711, als die Russen gegen eine gewaltige türkische Übermacht antraten und ihnen zudem noch Reiterei und Proviant fehlten, gestand Peter seinem Vertrauten Apraksin: "Und wirklich, seit ich anfmg zu dienen, war ich noch nie in einer solchen Verzweiflung.,,285 Gegen Ende seiner Regierungszeit, in einem Manifest vom 15.11.1723 anläßlich der Krönung seiner Frau Katharina zur Kaiserin, betonte Peter noch einmal, er habe persönlich sehr große Mühen für das Vaterland auf sich genommen und dabei von Zeit zu Zeit auch sein Leben riskiert. 286 Der Dienstgedanke als Konstante seiner Selbstauffassung war für Peter I. keineswegs eine Floskel, vielmehr nahm er ihn sehr ernst und verzehrte sich geradezu in ihm. Bei seinem Regierungsantritt vermachte er in einer noblen Geste den größten Teil seiner privaten Besitzungen dem Staat, im einzelnen ausgedehnte Ländereien sowie etwa 5 000 Häuser, die ein jährliches Einkommen von 200 000 Rubel erwirtschafteten. Für sich persönlich behielt Peter I. nur das Erbe der Romanovs im Gouvernement Novgorod, rund 800

280 28\ 282 283 284 285 286

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 287. Pib I, S. 11. Ebd., S. 29. Pib VTII, Vyp. 1, S. 110. Pib VII, Vyp. 1, S. 28. Pib IX, Vyp. 2, S. 12. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 180.

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Seelen. 287 Diese Aktion zeigte, daß er zwischen seinen eigenen Interessen und denen des Staates differenzieren konnte, während seine Untergebenen etwa im Kammerkollegium "die Einkünfte Ihrer Zarischen Hoheit und Ihres ganzen Staates" noch unreflektiert gleichsetzten. 288 Peters Einsatz für die Staatsgeschäfte war enorm, er nahm sich täglich ein volles Arbeitsprogramm vor, auch sonntags. Dabei wechselten Korrespondenzen mit Besuchen im Senat, im Gericht, in der Admiralität oder in neu geschaffenen Betrieben ab; zusätzlich reservierte der Zar einige Stunden pro Woche für besondere Vorkommnisse. 289 Gemäß einem Bericht des hannoverschen Gesandten F. C. Weber sah Peters genau eingeteilter Tagesablauf so aus: 3 Uhr morgens Aufstehen; mehrere Stunden Lektüre; eine Stunde Drechseln zur Entspannung; beim Ankleiden Verlesen der eingegangenen Berichte und ihre Kommentierung durch den Zaren; Ausfahrt zur Besichtigung von Werften, Festungsbauten, Manufakturen etc., dabei notierte Peter auf einer mitgeführten Schreibtafel seine jeweiligen Instruktionen; 11 Uhr bis 11.30 Uhr Mittagessen; anschließend Mittagsruhe; am Nachmittag Gespräche mit Generälen, Handwerkern oder Beamten entsprechend den Notizen des Vormittags; Abendessen; Schachspiel oder Ausfahrt zu Besuchen; an besonderen Tagen Beratschlagung mit der Geheimkanzlei. 29o Gelegentlich reiste Peter zu Inspektionen über Land. Sehr oft befand er sich auf Feldzügen. Diese rastlose Tätigkeit forderte ihren Preis: gegen Ende seiner Regierung konnte Peter kaum noch von den Staatsgeschäften abschalten und litt unter Schlaflosigkeit. 291 Peters Dienstauffassung enthielt eine Besonderheit, die er sich selbst gewählt hatte und für die es in Rußland keine Vorbilder gab. Parallel zu seiner Funktion als Zar schlüpfte er zeitweilig in verschiedene untergeordnete Rollen und spielte gewissermaßen seinen eigenen Untertan. So nahm er 1695 am ersten Feldzug zur Eroberung Azovs als einfacher Bombardier Petr Michajlov teil. Dies erscheint durchaus sinnvoll und realistischer in der Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten, als wenn er sofort den Oberbefehl angestrebt hätte, denn der Übergang von seinen Spielregimentern zu einem wirklichen Krieg barg das Risiko des Mißerfolgs, an dem er in untergeordneter Stellung weniger beteiligt war. Beim Triumpbmarsch nach dem zweiten Feldzug gegen Azov 1696 erschien Peter bereits im Rang eines Kapitäns. Die weiteren Stationen seines militärischen Aufstiegs waren die Beförderung zum Oberst des Preobraienskij-Regiments im August 1706, die Verleihung der Ränge eines Konteradmirals und eines Älteren Generalleutnants nach dem Sieg von Poltava im Juli 1709, die Peter diesmal selbst über den Feldmarschall Boris Petrovic Seremetev beim Fürsten Fedor Jurevic Romodanovskij in dessen Funk-

287 28B 2B9 290 291

Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 179. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 555. Ebd., S. 94, 259, 265. Weber, Das veränderte Rußland, Bd. 11, S. 20. Ebd., S. 21.

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tion als Reichsvetweser beantragte; schließlich erhielt der Zar im August 1713 den Titel eines Generals der Flotte. 292 Einen gesellschaftlich untergeordneten Platz bestimmte Peter für sich selbst auch während seiner großen Auslandsreise, die er bescheiden unter das Motto stellte: "Ich bin im Rang eines Lernenden und bedarf der Lehrer." Diese Devise ließ er auf das Siegel eingravieren, das er während der Reise mit sich führte. 293 In Holland und England arbeitete er dann gleichfalls unter dem Pseudonym Petr Michajlov einige Monate als Schiffszimmermann, um seinem Land praktisch nutzen zu können. Ein solches Verhalten war für einen Zaren geradezu sensationell. Wieder nach Rußland zurückgekehrt, ließ er sich zwischen 1701 und 1704 ein Jahresgehalt von je 366 Rubeln als Schiffsbaumeister auszahlen. 294 Von diesem unkonventionellen Auftreten in untergeordneten Positionen erhoffte sich der Zar eine erzieherische Wirkung auf seine Untertanen, indem er ihnen einerseits ein Vorbild an Fleiß vor Augen stellte und andererseits mit dem Rollentausch jedesmal den schuldigen Respekt gegenüber seinen angeblichen Vorgesetzten verband, so wie er sich eben einen treuen Untertan wünschte. Nepljuev überlieferte folgende Eigeninterpretation des Monarchen zu dessen rollenspielartiger Betätigung als einfacher Arbeiter: "Siehst du, Bruder, ich bin der Zar, und ich habe Schwielen an den Händen; alles deshalb, um euch ein Beispiel zu geben und wenigstens, wenn ich alt bin, meiner würdige Gehilfen und Diener des Vaterlandes zu sehen.,,295 Peter bediente sich also origineller didaktischer Hilfsmittel, um sein Volk zur Arbeit zu motivieren. Die Verblüffung der Untertanen dürfte aber größer gewesen sein als der erzieherische Wert. Trotz dieser eben beschriebenen gelegentlichen Ausflüge in die Welt des kleinen Mannes gab Zar Peter spätestens seit seiner Rückkehr aus Westeuropa 1698 die tatsächliche Führung des Staates nie mehr aus der Hand. Gegen Rebellen zeigte er sich kompromißlos und grausam, "mit racheschnaubendem Sinn", wie J. G. Korb formulierte. Nach dem letzten Strelitzenaufstand von 1697/98 wurden innerhalb weniger Tage mehrere Tausend Rebellen an Doppelgalgen reihenweise gehängt, z. T. vom Zaren persönlich bzw. von den dazu gezwungenen Bojaren enthauptet, oder den Delinquenten wurden zuerst Arme und Beine gebrochen, und dann wurden sie aufs Rad geflochten. Zur vorausgegangenen Folter schrieb Korb: "Die Anwendung der Tortur erfolgte mit unerhörter Entsetzlichkeit. Man peitschte die Attentäter aufs grausamste, brachte sie, falls damit das verstockte Schweigen noch nicht gebrochen war, mit dem wunden, \Zon Blutgerinnsel und Eiter triefenden Rücken ans Feuer, damit durch das langsame Rösten der Haut und des kranken Fleisches die scharfen Schmerzen unter entsetzlichen Qualen bis ins Mark der Knochen und bis zu den Nervenspitzen dringen konnten. Diese Foltermethoden wurden im Wech-

292 293 294 295

Pavlenko, Petr I, in: ders. (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I, S. 44f. Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 8lf. Pib III, S. 31. Nepljuev, Zapiski, S. 104.

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sei auf die eine und die andere Weise wiederholt." Die Bevölkerung reagierte hierauf mit Abscheu. 296 Im Sommer 1718 ließ der Zar sogar seinen eigenen Sohn Aleksej mit vierzig Knutenhieben umbringen, die eigentlich Umsturzgeständnisse und die Angabe von Mitverschwörern aus dem Zarevic herauspressen sollten. Da der Thronfolger politisch konservative und antimilitärische Neigungen zeigte, auch eine gewisse Anhängerschaft besonders unter der Geistlichkeit hatte, fürchtete Peter, Aleksej würde ihm die Herrschaft streitig machen, sich als eine zweite Sofja entpuppen.~7 Tatsächlich war der Zarevic harmlos und fürchtete seinen Vater; er hätte sicherlich bis zu dessen Tod auf den eigenen Regierungsantritt gewartet, bot sogar an, sich ins Privatleben zurückzuziehen. Peter reagierte in der ganzen Affare deutlich überzogen und offenbar traumatisch, da er selbst als Jugendlicher einige Machtkämpfe hatte durchstehen müssen. Staatspolitisch gesehen war es sehr unklug, das Land des einzigen erwachsenen männlichen Thronfolgers zu berauben. Aus diesem Jähzorn und der rachsüchtigen Grausamkeit Peters I., aber auch z. B. Ivans IV., dürfte das russische Sprichwort abzuleiten sein: "Dem Zaren nah, dem Tode nah." Es offenbarte die Angst der Untertanen vor ihrem Regenten und ihr Mißtrauen ihm gegenüber. Sowohl mit seinen Eroberungsplänen als auch mit den vielfältigen innenpolitischen Reformvorhaben bürdete sich der Zar ein gewaltiges Arbeitsprogramm auf, das ihn im Alltag stark beanspruchte. Zwar schuf er zu seiner Entlastung 1711 den Senat, doch arbeitete dieser wenig effektiv. Peter wünschte sich durchaus die Mithilfe anderer Menschen und war nicht eitel in dem Sinne, daß alle Ideen von ihm selbst stammen mußten. So schrieb er z. B. im Februar 1724 an die Senatoren, zur Aufstockung der staatlichen Kupfervorräte sei ihm eingefallen, daß man Kirchenglocken einschmelzen könne und fügte hinzu: "Dies habe ich allein ausgedacht, aber wenn viele darüber nachdenken werden, kann man bessere Mittel fmden." Anschließend fuhr er fort, um die Altgläubigen am Fortzug nach Sibirien zu hindern, könne man ihnen mit Strafen drohen "oder wie ihr es besser beschließen werdet".298 Er wünschte sich also die Unterstützung durch andere, sofern er nur die Zielrichtung persönlich bestimmte. Ein absolutistischer Staat ist jedoch letztlich nicht auf die Kooperation vieler angelegt, sondern auf die Prädominanz des einen Souveräns. Deshalb erscheint es nicht verwunderlich, wenn Peter sich in manchen Perioden seiner Tätigkeit überfordert fühlte, insbesondere bevor die Russen den entscheidenden Sieg über die Schweden bei Poltava errungen hatten. Aufschlußreich formulierte der Zar zu diesem Problemkomplex am 21.1.1706 in einem Brief aus dem Feld an den Kanzler Fedor Alekseevic Golovin, der Kanzler solle sich selbständig um die Vermögensangelegenheiten des Feldmarschalls Sere296 Korb, Tagebuch, S. 153f (Zitate), ähnlich S. 83f, 87f, 93, 106f, 109, 159ff.

297 Dmitriev I Neckina, Chrestomatija, Bd. 11, S. 105; Massie, Peter der Große, S. 594f, 598. 298 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 142f.

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metev kümmern, "denn ich, der ich in dieser Hölle bin, habe nicht nur genug, sondern dieses Leid übersteigt meine Kraft" (ibo rnne, buduci v sem ade, ne tociju dovol'no, no, gej, i crez moe' moju sej goresti). Eine Woche später wies der Zar Golovin allgemeiner an, er dürfe den Monarchen nicht mit Bagatellfragen belästigen: "Ich habe oft genug geschrieben, daß Sie mir wegen der Entscheidung über kleinere Dinge nicht schreiben sollen, sondern sie dort erledigen sollen, denn ich habe genug mit dem Hiesigen zu tun.,,299 Für den Herbst 1707 teilte der englische Gesandte Charles Whitworth seiner Regierung mit, der Zar sei oft depressiv und habe geklagt: "Gott gab dem Zaren zwanzigmal so viele Aufgaben wie anderen Menschen, aber er gab ihm nicht zwanzigmal mehr Kraft oder Fähigkeit, damit fertig zu werden. ,,300 In der Einleitung zum Flottenreglernent vom 13.1.1720 formulierte Peter, bereits sein Vater habe den Ausbau der Flotte beabsichtigt, sei aber nicht mehr dazu gekommen, so daß "der Wille des höchsten Regenten Uns diese Bürde (bremja) aufzuerlegen beliebte".301 Wenn der Zar sogar sein Lieblingsprojekt als Last empfand, deutete dies tatsächlich auf gravierende Überarbeitung hin. Gegen Ende seiner Herrschaft fühlte sich Peter vor allem durch die zahlreichen Bittschriften seiner Untertanen überfordert, aus denen ja in der Regel Mißstände zu erkennen waren. 1718 entfuhr ihm dazu der Stoßseufzer, nicht einmal ein Engel könne so viel bewältigen, "aber der, an den sie die Gesuche richten, ist eine einzige Person, und mit wie vielen militärischen und sonstigen Arbeiten sie beschäftigt ist, ist allen bekannt". 302 Entsprechend wurde durch Erlaß vom 21.10.1721 denjenigen eine harte Strafe angedroht, die den Zaren persönlich mit ihren Bitten belästigen werden, statt sich an die dafür zuständigen adligen Mittelsmänner zu wenden. 303 Diese Tendenz zur Abwimmelung der Anliegen aus dem Volk erscheint in doppelter Hinsicht problematisch: erstens mußte diese Maßnahme das Vertrauen in den Herrscher empfindlich schwächen, und zweitens beraubte sich der Regent selbst einer guten Möglichkeit, Genaueres über die wirklichen Zustände im Reich zu erfahren. Vermutlich wollte er letzten Endes lieber verdrängen, wie viele Details in Rußland trotz aller Bemühungen des Regenten immer noch der Veränderung bedurften. Hinweise darauf, daß Peter überfordert war, ließen sich auch aus seiner regelmäßigen Mißstimmung beim Aufwachen sowie aus seiner gesundheitlichen Verfassung entnehmen. Seit seiner Jugend zeigte er - wie ähnlich vor ihm Ivan IV. - nervöse Gesichtszuckungen, ferner litt er gelegentlich unter Fieberanfällen und häufiger unter Kopfschmerzen. Letztere bekämpfte er, indem er Katharina seinen Kopf auf den Schoß legte, damit sie seine Schläfen massierte, bis er wegdämmerte. 304 Mit dieser Geste zeigte sich der Wunsch nach RePib IV, S. 27, 36. SBIRlO Bd. 39, S. 448f. 301 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 74. 302 Ebd., S. 66 (Zitat); ähnlich PSZ m, S. 654; PSZ IV, S.189. 301 PSZ VI, S. 442. 304 Waliszewski, Pcter der Große, Bd. I, S. 39, 124,205, 287f. 299

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gression, nach Selbstzurücknahme aus der Situation der Überbeanspruchung, ungewöhnlich deutlich. Auch Peters Neigung zum Alkohoeos könnte als Symptom der Überforderung interpretiert werden; umgekehrt dürfte der Genuß starker Spirituosen dem Zaren das Arbeiten erschwert haben, so daß sich, je älter er wurde, ein verhängnisvoller Kreislauf ergab. Daß Peter die Lasten seines Amtes überhaupt, wenn auch mit Einbußen, ertrug, verdankte er neben einer letztlich robusten Konstitution seiner spezifischen Religiosität. Diese war ihm schon als Kind vermittelt worden. In seiner Jugendzeit erhielt sie dann, begünstigt durch die Aufenthalte in der Moskauer Ausländervorstadt, eine protestantische Färbung. In einem seiner Notizbücher notierte der Zar die Lebensdaten Martin Luthers,306 was auf ein Interesse an dem Reformator schließen läßt, mit dem ihn ein entschlossener Neuerungswille verband. Als protestantisches Merkmal kann die Auffassung Peters gelten, daß der richtige Weg zur ewigen Seligkeit nicht im Rückzug aus der Welt und in einem Leben als Mönch, nicht im täglichen Kirchgang oder im Fasten zu finden sei, sondern in einer beständigen treuen Pflichterfüllung. Diese Haltung versuchte er auch seinemVolk nahezubringen, indem auf Veranlassung des Zaren im Sommer 1722 das Erbauungsbuch "Über die Seligkeit" mit einem entsprechenden Vorwort versehen wurde. 30? Peter selbst ließ sich im April 1716 durch den Patriarchen von Konstantinopel von der Fastenpflicht (außer in der Karwoche) befreien, wobei der Patriarch die Ausnahmegenehmigung damit rechtfertigte, daß der Zar zu Skorbut neige und deshalb und wegen seiner hohen Stellun§ stets kräftig essen müsse, um seinen Amtsgeschäften genügen zu können. 08 Im übrigen dürfte der Patriarch wohl auch deshalb so entgegenkommend gewesen sein, weil er aus Rußland regelmäßig Unterstützungszahlungen bezog und diese nicht verlieren wollte. In der Ablehnung von Äußerlichkeiten des religiösen und kirchlichen Lebens ging Peter streckenweise zu radikal vor, wenn er nämlich mit den Kumpanen seiner häufiger tagenden Saufsynode (Vsesutejsij sobor) kirchliche Würdenträger in parodistischen Umzügen grob verspottete, bei denen man Leute in geistlichen Gewändern auf Schweinen durch die Straßen reiten sah. Das Volk zeigte für solche karnevalsmäßigen Übertreibungen kein Verständnis, sondern faßte sie schlicht als Gotteslästerung auf. 309 Gleichwohl hielt der Zar an diesen Vergnügungen fest, möglicherweise in der Erwartung, mit der Zeit würde die breite Masse durch verulkende Umzüge doch gegen klerikalen Prunk immunisiert werden. Damit unterschätzte er allerdings den tiefen Ernst in der Religiosität des Volkes und kalkulierte nicht ein, daß er durch die Exzesse der Saufsynode seine eigene moralische Autorität herabsetzte.

305 V. O. Kljucevskij, Peter der Große und andere Porträts aus der russischen Geschichte. Stuttgart 1953, S. 98. 306 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 38. 307 Ebd.,S.llO,1l9. 308 PSZ V, S. 466ff. 309 Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 158ff.

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Trotz derartiger Entgleisungen, die sich jedoch nur gegen den Hoheitsanspruch einer verkrusteten Institution, nicht aber gegen den Glauben als solchen richteten, war der Zar im Grunde seines Herzens religiös gesonnen. Dies bezeugen vor allem seine Briefe. In ihnen rekurrierte er immer wieder auf Gott als den "Bewahrer aller".310 Er verstand Gott als den "Allerhöchsten", den Lenker aller Dinge und Geber aller Gaben, der ihm selbst das Szepter verliehen habe,311 der über Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, 312 Sieg oder Niederlage bestimme. 313 Insbesondere bei seinen vielen Kriegszügen half Peter das Vertrauen auf Gott, wie es sich z. B. in den Sätzen ausdrückte: "Das übrige aber überlasse ich dem Willen des Allmächtigen." Oder: "Die Hoffnung, so scheint es, ist mit Gott. Gib, Gott, daß es gut ausgeht." Oder drängender: "Gib, gib, allergnädigster Gott, Deinen Segen um Deiner Gnade willen.,,314 Eine solche Haltung des Glaubens ließ den Zaren Strapazen wagen und überstehen, hier konnte er seine eigene hohe Verantwortung letztendlich an Gott delegieren und sich dadurch emotional entlasten. Da beispielsweise auch Peters Kanzler Graf Gavriil Ivanovic Golovkin in seinen Briefen im Zusammenhang mit militärischen oder diplomatischen Unternehmungen Wendungen gebrauchte wie "Gib uns Glück, Gott!" oder "Gott, gib einen guten Ausgang!" steht zu vermuten, daß der Zar mit seinem häufigen Rekurs auf Gott dem Denken seines russischen Umfeldes folgte. 315 Peters Gottesbild war im Kern optimistisch, weil er Gott mit der Eigenschaft der Menschenliebe (celovekoljubie) ausgestattet sah. 316 Nur einmal, in einem Brief vom Juni 1695 an den damaligen Leiter der Geheimpolizei, die für ihre Folterkammer berüchtigt war, Fedor Jurevic Romodanovskij, warnte der Zar, Gott werde unschuldig vergossenes Blut rächen, was er aber keineswegs auf seine eigenen kriegerischen Unternehmungen, sondern auf ein vorangegangenes Fehlverhalten Romodanovskijs bezog.3!7 Gottvertrauen bewahrte Peter auch angesichts innenpolitischen Komplikationen. So schrieb er im Dezember 1705 zum Aufstand von Astrachan' an seinen Favoriten Mensikov: "Diese Angelegenheit wird mit Gottes Hilfe schnell beendet sein.,,318 Ebenso erschienen dem Monarchen außenpolitische Ereignisse, etwa der Thronwechsel in England, als Anlaß zu der Hoffnung, daß Gott die Entwicklung zugunsten Rußlands lenken werde. 319 Insgesamt war er der Meinung: "auf keine Weise wird etwas sein, das nicht mit dem Willen Gottes gePib I, S. 61, 331 Ebd., S.13, 56, 90; Pib X,S. 47 (Zitat). 312 Pib I, S. 12, 14, 16,48,50,52,59; Pib 11, S. 75, 84, 152; Pib IV, S. 35; Pib VII, S. 127, 166. 313 Pib I, S. 36, 38, 42, 68; Pib 11, S. 22, 83, 91, 112; Pib X, S. 58, 141, 159, 175. 314 Pib I, S. 401; Pib 11, S. 17, 75. 315 V. N. Smol'janinov (Hrsg.), Archiv knjazja F. A. Kurakina, Bd. VIII. Saratov 1899, S. 79, 82f. 316 Pib IV, S. 25. 317 Pib I, S. 480. 318 Pib III, S. 540. 319 Pib 11, S. 65; Pib VI, S. 18. 310 311

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schieht".320 Auch hier zeigte sich der Versuch, die letzte Verantwortung auf ein höheres Wesen zu abzuwälzen. Da sich Peter wenig für theoretische Spekulationen interessierte, verirrte er sich nicht in den Problemen, warum Gott wohl die einen Menschen erhebe und die anderen erniedrige, weshalb er die russischen Kriegsanstrengungen fördere, Schweden aber unterliegen lasse, worin überhaupt die göttliche Gerechtigkeit bestehe, inwieweit menschliche Bemühungen angebracht seien, wenn ohnehin alles von Gott komme etc. Statt dessen begnügte sich der Zar mit einer schlichten Frömmigkeit ohne scholastische Fragestellungen und ohne höhere philosophische Anspruche. Insofern unterschied er sich nicht von der durchschnittlichen Bevölkerung seines Reiches. Immerhin konnte ihn der Glaube an eine höhere Instanz einerseits vor auswegloser Verzweiflung, andererseits vor Hochmut in Richtung auf Cäsarenwahn bewahren. Die seit der Mongolenzeit in Rußland übliche Proskynese, den Kniefall vor dem Herrscher, schaffte Peter ab und dokumentierte damit eine aufgeklärte und selbstdistanzierte Haltung. 321 Er selbst kniete im Gottesdienst, z. B. beim Dankgebet nach dem Frieden von Nystadt vom Oktober 1721.322 Als ihn ein Gesandter aus Buchara Ende 1717 weitschweifig mit der Sonne verglich, die allein den Erdboden wärme und erhelle, lachte der Zar nur. 323 Diese Details wie auch seine Abneigung gegen Prunk und Zeremonien beweisen, daß er sich nicht wie etwa zeitgleich Ludwig XIV. als "Sonnenkönig" vorkam, sondern sympathischerweise in seinem Selbstgefühl ziemlich normal blieb. Bei seinem Volk hinterließ Peter I. einen zwiespältigen Eindruck. Die Zaren vor ihm hatten sich gegenüber den gewöhnlichen Sterblichen ungleich distanzierter verhalten, indem sie sich ihnen nur selten und wenn, dann in prächtigen Gewändern und würdevoll in Begleitung des Hofstaates präsentierten. Die Untertanen hatten sich in der Zeit vor Peter regelmäßig in den Staub zu werfen, sobald sie den Herrscher erblickten. Zwischen dem Zaren und der Bevölkerung sorgte stets die Palastgarde für den schicklichen Abstand. 324 In Briefen an den Zaren hatte sich der Bittsteller betont demütig darzustellen, meist mit der abschließenden Wendung "Euer M~estät untertänigster Sklave", eine Sitte, die sich noch unter Peter I. hielt. 32 In offiziellen Verlautbarungen pflegte Zar Peter den absolutistischen Stil eines gewaltigen Abstandes zwischen Herrscher und Volk, der zusätzlich den Gepflogenheiten der Moskauer Autokratie entsprach, wenn es etwa im Militärstatut vom 30.3.1716 unter Artikel 20 hieß: "Denn Seine Hoheit ist ein selbstherrschender Monarch, der niemandem auf der Welt für seine Handlungen Rechenschaft schuldet; er hat aber die Kraft und die Macht, seine Staaten und Länder als christlicher Pib V, S. 5I. Donnert, Peter der Große, S. 86. 322 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 159. 323 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 232. 314 Perry. The State of Russia, S. 141f. 325 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 62, 71, 163; Pososkov, Kniga dosti i bogatstve. S. 244. 320 321

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Regent nach seinem eigenen Willen und Gutdünken zu regieren.,,326 Gleichzeitig aber gebärdete sich derselbe Herrscher, der seine alleinige Macht theoretisch in keinster Weise in Frage stellen ließ, im Alltag doch volksnah, gewissermaßen als Zar zum Anfassen, indem er mit Handwerksmeistem speiste, auch für Kinder einfacher Leute Patenschaften übernahm, ungezWUll en mit den Untertanen redete und sogar persönlich zum Feuerlöschen antrat. 32 Diese Diskrepanz zwischen Tradition und Gegenwart und ebenso zwischen ungezügeltem Herrschaftsanspruch und partiell leutseligen persönlichen Umgangsformen im Verhalten ihres Monarchen überforderte das Verständnis zahlreicher Russinnen und Russen und verunsicherte sie. Erschwerend kam hinzu, daß gerade eine der ersten größeren Reformen des Zaren, das Verbot der altrussischen Bart- und Kleidertracht, in der Bevölkerung als sinnlose Herausforderung wirkte, zu der dann noch steigende Belastungen bei Steuern und Rekrutenaushebung und die langwierigen Kriegshandlungen traten. Insgesamt machte sich der Zar beim russischen Volk unbeliebt, und er fand auch wenig überzeugte Mitstreiter. Der Zeitgenosse Ivan Tichonovic Pososkov formulierte dazu: " ... wir sehen alle, wie unser großer Monarch sich bemüht und nichts erreicht, weil er nur wenige Helfer nach seinem Wunsch hat: er und noch einige Dutzend ziehen die Last den Berg hinauf, aber hinab ziehen Millionen, wie kann dann seine Sache schnell vonstatten gehen?,,328

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Peter gefährdete sich selbst durch sein unkonventionelles Auftreten und durch seine der Bevölkerung kaum verständliche Politik. Bis zum Jahre 1718 wurden 29 Attentate auf ihn versucht. 329 Diese bildeten nur die Spitze des Eisbergs. Darunter gärte eine allgemeine Unzufriedenheit, die sich auch in Legendenbildungen niederschlug: Peter sollte angeblich nicht der echte Zar sein, sondern ein untergeschobener Deutscher aus der Ausländervorstadt in Moskau; andere Leute, vorrangig aus dem Milieu der Altgläubigen, behaupteten, Peter sei der in der Bibel angekündigte Antichrist, den es zu bekämpfen 330 gelte. Wenn man der Meinung zweier ausländischer Diplomaten folgt, hielt etwa im letzten Jahrzehnt von Peters Regierung hauptsächlich die Furcht das Reich zusammen. F. C. Weber urteilte, der Zar jage dem Pöbel einen solchen Schrecken ein, daß der Thron trotz allgemeiner Unzufriedenheit der Massen doch sicher stehe.33! Der französische Gesandte Sieur de La Vie teilte seinem König am 13.1.1718 mit: "Aber sie zittern alle, der Name des Zaren allein flößt diese Furcht ein und verpflichtet sie, an den behaupteten Gegenständen ihres Kummers in der Stille zu nagen.,,332 Der englische Ingenieur John Perry stellte 1716 folgende Prognose: "Und das ist sicher: falls der jetzige Zar ster326 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 325. 327 Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 125; Korb, Tagebuch, S. 98. 328 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 99. Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 214. Platonov, Lekcii po russkoj istorii, S. 531f. 331 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 252. 332 SBIRIO Bd. 34, S. 294. 329

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ben sollte, ohne daß der größte Teil der jetzigen alten Bojaren ihm vorausgeht, dann werden die meisten Dinge, um deretwillen er so viele Mühen der Reform seines Landes unternommen hat, überwiegend in ihre alte Form zurückkehren.,,333 Aufschlußreich ist an dieser Bemerkung vor allem, daß offenbar auch viele Angehörige der Oberschicht Peters Politik ablehnten. Die Kluft zwischen dem Regenten und der breiten Masse hätte vermutlich verringert werden können, wenn sich der Zar stärker um eine Propagierung seiner Regierungszwecke bemüht hätte. Dieser Möglichkeit stand jedoch einerseits das Selbstverständnis des absoluten Herrschers entgegen, der dem Zeitgeist entsprechend glaubte, eine Vermittlung seiner Absichten nicht nötig zu haben, vielmehr eine solche Quasi-Rechtfertigung grundsätzlich als würdelos ablehnte; andererseits verfügte der Zar auch nicht von vornherein über ein in sich geschlossenes politisches Konzept, das die Bevölkerung motivationsmäßig hätte mitreißen können. Insgesamt trug Zar Peter I. durch seine resoluten Reformen, die das Volk unvorbereitet trafen, sowie durch die verwirrende Art seines persönlichen Auftretens wesentlich zur Demontage des alten Zarenmythos bei. Während vor seiner Regierung viele einfache Leute in Rußland die Schuld an der Härte ihres Lebens den Bojaren zugeschoben hatten, weil diese den eigentlich guten Monarchen ränke voll beraten würden, setzte sich nun gegenüber dem neuen Zaren, der sich so oft blicken ließ und so engagiert zeigte, die Tendenz durch, ihn persönlich für das Leiden des Volkes verantwortlich zu machen. 334 Im Regierungssystem des Absolutismus, das ja tatsächlich alle wesentlichen Entscheidungen bei dem einen Regenten konzentrierte, hatte diese Ansicht eine gewisse Berechtigung.

333 Perry, The State of Russia, S. 26l. 334

Massie, Peter der Große, S. 333.

VII. Gesellschaftliche Stellung des Adels Bei der ersten großen Volkszählung in Rußland im Jahre 1719 registrierten die Beauftragten des Zaren rund 140 000 männliche Adlige. Verdoppelt man diese Anzahl, um auch die weiblichen Adligen zu berücksichtigen, so ergibt sich eine Summe von 280 000 Angehörigen des Adels bei einer Gesamtbevölkerung von circa 15 Millionen oder 1,86 Prozent. 335 Die wirtschaftliche Kraft des Adels beruhte auf der Verlügung über Land und Leute. Insgesamt unterstanden dem russischen Adel damals rund 430 000 von 791 000 steuerlich erlaBten Bauernhöfen oder 55 Prozent. Dabei waren die Besitzverhältnisse sehr ungleich. Während zwei Prozent der Adelsfamilien als reichste Grundherren über 42 Prozent der Leibeigenen Gewalt hatten, bestimmte eine mittlere Gruppe von 13 Prozent über 30 Prozent der Leibeigenen, und 85 Prozent der kleineren Gutsbesitzer verlügten über die restlichen 28 Prozent der Höfe. Die wohlhabendsten Geschlechter waren die Fürstenhäuser Cerkasskij und NarySkin mit je 11 000 Höfen; dann folgten die Golycins und Saltykovs mit je 8 000 Höfen sowie die Odoevskijs und Dolgorukijs mit je 5 000 HofsteIlen. Die Seremetevs, Prozorovskijs, Kurakins und Golovins brachten es auf je circa 4 000, die Stresnevs und Romodanovskijs auf je 3 000 Höfe. 336 Diese reichsten Familien entstammten sämtlich alten Bojarengeschlechtem, d. h. sie leiteten ihre Herkunft von den ehemaligen Teilfürsten der Kiever Epoche oder von deren engsten Gefolgsleuten ab. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert gehörten zum russischen Adel rund 3 000 Familien. 337 Adliger wurde man in der Regel durch Geburt, viel seltener durch Nobilitierung. Eine Eintragung in das "Samtbuch" (barchatnaja kniga), das 1682 nach der Aufhebung der Anciennitätsordnung eingeführt worden war, machte den hohen Stand aktenkundig. Daneben wurden die Adligen noch in sogenannten "Geschlechterbüchem" (rodoslovnye knigi) erfaBt. 338 Innerhalb des Adels existierte eine Rangordnung, auf deren oberster Stufe die Bojaren standen. Im 17. Jahrhundert gehörten ihnen nur noch 23 Geschlechter an, nachdem Ivan IV. etwa die Hälfte der Bojarenfamilien als seine vermeintlichen oder tatsächlichen Gegner ausgerottet bzw. zur Flucht ins Ausland gezwungen hatte. Von diesen Bojarenfamilien waren fünf in Moskau Vodarskij, Naselenie Rossii, S. 65. Ebd., S. 65, 71, 73. 337 Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 83. 338 M. F. Vladimirskij-Budanov, Obzor istorii russkago prava. Kiev 1909,6. Aufl., S. 231; Torke, Adel und Staat vor Peter dem Großen, S. 296. 335

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ansasslg, nämlich die Romodanovskijs, Morozovs, Seremetevs, Seins und Saltykovs; die übrigen stammten aus der Provinz. Unter den Bojaren galt die Familienehre als hoher Wert, den sie verteidigten. Die Gesetzessammlung des Russischen Reiches berichtet über einen Vorfall vom Januar 1693, als zwei Angehörige der Familien Sein und Romodanovskij in Streit gerieten, gegenseitig ihre Väter und Vorväter herabsetzten, einander mit Messern bedrohten und sich prügelten. Dabei fiel als Beleidigung der Ausdruck "Mann von geringer Herkunft" (maloporodnyj celovek). Der Zar ermahnte die Kampfhähne zur Eintracht, sagte, ihre Ehre sei bekannt, und verfügte, sie sollten wechselseitig die Beschimpfung der Unehrenhaftigkeit (bezcestie, obida roda) zurücknehmen. 339 Söhne und Enkel von Bojaren bildeten die zweithöchste Ranggruppe der okol'nici, also sprachlich gedeutet diejenigen, die in nächster Nähe des Zaren standen. Dann folgten die Truchsesse (stol'niki), die bei Paradeessen im Herrscherhaus Speisen und Getränke reichten, ferner die Haushofmeister (strjapeie), die zu Ausritten oder an hohen kirchlichen Feiertagen die Insignien des Herrschers trugen. Die bisher genannten Kategorien von Adligen besaßen Erbgüter (votciny). Auf der nächsttieferen gesellschaftlichen Ebene gab es die zahlenmäßig größere Gruppe des Dienstadels, aufgeteilt in Duma-Adlige, Duma-Sekretäre, Dienstleute in Moskau oder in den Provinzen sowie Bojarenkinder, d. h. verarmte Nachkommen alter Familien. Der Dienstadel wurde zur Zeit Peters I. auch "dvorjanstvo" oder "caredvorcy" genannt. Seine Entstehung geht wesentlich auf Ivan IV. zurück, der sich treuer Gefolgsleute in Militär und Verwaltung versichern wollte, indem er sie meist auf Kosten der Bojaren mit Dienstgütern (pomest'ja) ausstattete. Obwohl diese Dienstgüter theoretisch wieder einziehbar waren, wurden sie in der Praxis doch allmählich erblich wie ähnlich die Lehen im westeuropäischen Mittelalter. So festigte sich schon unter dem ersten Romanov-Zaren zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Ausdruck "dem Geschlecht gehörende Dienstgüter" (rodovye pomest'ja), die getauscht, verkauft oder vererbt werden durften. Vermutlich kam Michail Romanov den Interessen des Dienstadels in dieser Weise entgegen, weil er damit die eigene Klientel stärkte. Beim Regierungsantritt Zar Peters I. war der Dienstadel auf dem Territorium des Russischen Reiches zu 33 Prozent großrussischer Herkunft, zu 25 Prozent westeuropäischen, zu 24 Prozent polnischlitauischen und zu 17 Prozent tatarischen Ursprungs, ohne daß sich diese ethnischen Unterschiede in der Einstellung zum Staat und zum Regenten speziell bemerkbar gemacht hätten. 34o Wie generell in der Weltgeschichte genoß der Adel auch in Rußland Privilegien. Zu seinen wichtigsten Vorrechten gehörte die kostenlose und völlig unkontrollierte Nutzung der Arbeitskraft seiner Leibeigenen, wobei der einzelne Bauer umso stärker belastet wurde, je weniger Leibeigene die adlige PSZ m, S. 149ff. Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S.73f, 86; E. Amburger, Geschichte der Behördenorganisation Rußlands von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966, S. 502f; Torke, Adel und Staat vor Peter dem Großen, S. 292. 339

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Familie besaß. Um die Ausbeutung der Bauern in Grenzen zu halten und ebenso, um den adligen Grundbesitz nicht durch ständige Teilung zu ruinieren, erließ Zar Peter am 23.3.1714 das sogenannte Einerbengesetz, demzufolge die Immobilien des Adels nur jeweils an einen Nachkommen übergehen durften, während die bewegliche Habe auf mehrere Kinder verteilt werden konnte. Als erwünschter Nebeneffekt ergab sich dabei ein gewisser Zwang für die nicht mit Grundbesitz bedachten Adelssöhne, ihr Auskommen im Staatdienst zu suchen. 341 Weiterhin gehörte seit alters her die Steuerfreiheit zu den Privilegien des Adels. Wohl aus Vorsicht tastete Peter diese Begünstigung nicht an, obwohl ein anonymer Autor ihm empfahl, der Adel solle eine zehnprozentige Abgabe aus seinen jeweiligen labreseinkünften zahlen zur eigenen Ehre sowie für Glauben und Vaterland. 342 Dieser Vorschlag deutete darauf hin, daß in Teilen des Volkes die Steuerbefreiung des Adels als ungerecht empfunden wurde. Auch im lustizbereich genossen Adlige eine bevorzugte Stellung. Ihr Wort galt vor Gericht höher als die Zeugenaussagen einfacher Leute. Angehörige des Adels waren von der Folter ausgenommen, sofern ihnen nicht Staatsverbrechen oder Mord zur Last gelegt wurden. 343 Gemäß dem Militärreglement vom 30.3.1716 wurden die adligen Offiziere für dieselben Vergehen glimpflicher bestraft als die Mannschaften von überwiegend bäuerlicher Herkunft; typische Militärstrafen für Adlige waren die ZUfÜckstufung im Rang oder Geldbußen, während einfache Soldaten in Eisen geschlossen wurden oder Spießruten laufen mußten. 344 Diesem unterschiedlichen Strafmaß lag die Auffassung zugrunde, daß Körperstrafen unehrenhaft seien und deshalb für den Adel weniger in Frage kämen. Als sonstige Privilegien erhielten adlige Personen die Erlaubnis, daß sie sich "Wohlgeboren" (blagorodstvo) nennen und Wappen führen durften. Auch einige Nichtadlige legten sich aus eigenem Antrieb Wappen zu und mußten deshalb Strafe zahlen. 345 Aus derartigen Vorkommnissen läßt sich schließen, daß dem Adelsrang ein besonderes Prestige anhaftete. Als die Kollegien geschaffen wurden, richtete man f,etrennte Empfangszimmer für den Adel bzw. für das gewöhnliche Volk ein. 46 Sehr wichtig war ferner, daß die höchsten Posten in Militär und Verwaltung in der Regel an Adlige vergeben wurden. So stellte der Adel fast das gesamte Offizierskorps der Kavallerie und zwei Drittel der Infanterie-Offiziere; die Voevoden, Gouverneure sowie die wichtigsten Amtsträger auf gesamtstaatlicher Ebene entstammten meist dem Hochadel. Dabei erfolgte die Vergabe einflußreicher und einträglicher Positionen infor-

PSZ V, S. 9lff. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty., S. 583. 343 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 592, 598. 344 Ebd., S. 329, 331f, 335, 337, 342, 352. 345 Vladimirskij-Budanov, Istorija russkago prava, S. 231; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 79. 346 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty., S. 506. 341

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mell durch ein Patronagenetzwerk,347 ähnlich wie es in früheren Jahrhunderten durch die fürstliche Gefolgschaft (druZina) geschehen war und sich noch im 20. Jahrhundert mit den Seilschaften innerhalb der KPdSU fortsetzte. Peters Politik in bezug auf den Adel bestand zunächst in der großzügigen Belohnung all derer, die ihn im Machtkampf gegen seine Halbschwester Sofja unterstützt hatten. Am 1.10.1689 verfügte der Zar, denjenigen Generälen, Obersten und höfischen Adligen, die seinem Aufruf zur Sammlung seiner Anhänger ins Troickij-Sergievskij-Kloster gefolgt waren, Landgüter und Geldgeschenke zukommen zu lassen, wobei die Gaben umso reichlicher ausfielen, je rascher die Männer eingetroffen waren. 348 Auf diese Weise wollte Peter die Motivation für eine weitere Zusammenarbeit erhöhen. Parallel dazu wurden die Brüder Vasilij und Aleksej Golicyn, die Sofjas Interessen vertreten hatten, der Bojarenwürde und aller ihrer Güter für verlustig erklärt und samt ihren Familien in den hohen Norden verbannt. Sofja selbst wurde gezwungen, ins Neue-Jungfrauen-Kloster bei Moskau überzusiedeln, wo sie für den Rest ihres Lebens unter strenger Bewachung stand. 349 Ein weiteres Element der Politik des jungen Zaren war die allmähliche Entmachtung der Bojarenduma. Diese hatte bereits seit der Kiever Zeit als Beraterin der jeweiligen Regenten fungiert, ohne dabei allerdings über verbriefte Rechtstitel zu verfügen, vielmehr handelte es sich um Gewohnheitsrecht. Anders als etwa in Frankreich, wo es im Vorfeld der Durchsetzung des Absolutismus zum Adelsaufstand der Fronde kam, erfolgte die Zurückdrängung des russischen Hochadels unspektakulär einerseits durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Duma, andererseits durch einfache Verzögerung ihres Zusammentretens. Im Jahre 1676 hatte die Bojarenduma aus 66 Personen bestanden. Bis 1690 erhöhte sich ihre Mitgliederzahl auf 153 Männer, da die konkurrierenden Parteien die eigene Anhängerschaft durch Neuberufungen in das Beratungsgremium zu stärken suchten. Nachdem die Duma wegen ihrer Größe immer schlechter arbeitsfähig war, reduzierte Zar Peter sie bis 1711 sukzessive auf 20 Mitglieder, überwiegend die Leiter der zentralen Behörden, die als "Nahe Duma" oder "Nahe Kanzlei" von Fall zu Fall versammelt wurden. Die übrigen Bojaren betraute er mit der Aufgabe, Materialien für eine Überarbeitung des "Ulozenie" von 1649 zu sichten, womit sie gewissermaßen kaltgestellt und zugleich überfordert waren. 350 Im Jahre 1711 wurde die Bojarenduma dann endgültig durch den Senat abgelöst. Zwischen 1689 und 1702 war sie bereits immer seltener an der neuen Gesetzen beteiligt worden, und wenn, dann betrafen sie in erster Linie Eigentumsfragen an Grundbesitz und Leibeigenen. Manchmal ging es auch um die Prozeßordnung vor Gericht oder um Zölle. 351 Mit der Ausschaltung der Bojarenduma folgte Zar Peter I. der 347 J. Le Donne, Absolutism and Ruling Class.The Fonnation of the Russian Political Order 1700 - 1825. New York / Oxford 1991, s. 12, 20, 297. 348 PSZ III, S. 36ff. 349 Ebd., S. 33, 89; Wittram, Peter I, Bd. I, S. 99. 350 Le Donne, Absolutism and Ruling Class, S. 64; PSZ IV, S. 14. 351 PSZ III, S. 52f, 68, 121, 179; PSZ IV, S. 58f[, 73,164,190.

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allgemeinen Tendenz der absolutistischen Herrscher, keinerlei konkurrierende Entscheidungsträger neben sich zu dulden, sondern alle Macht in den eigenen Händen zu konzentrieren. Das wichtigste Anliegen Peters gegenüber dem Adel seines Landes war die lückenlose Durchsetzung der allgemeinen Dienstpflicht. Theoretisch bestand sie schon seit mehreren Jahrhunderten, in der Praxis jedoch entzogen sich viele Adlige dem Heeresdienst, indem sie entweder der Einberufung gar nicht erst Folge leisteten oder später während des Feldzuges desertierten. Laut Torkes Befund war die Dienstflucht des Adels im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts eine genauso generell übliche Erscheinung wie parallel dazu die Steuerflucht der Bürger und Bauern und die Läuflingsbewegung der Leibeigenen. 352 Angesichts dieser mit den staatlichen Interessen unvereinbaren Situation drohte Peter I. den Adligen wiederholt harte Strafen an, falls sie sich vor der Musterung drückten. So hieß es in einem Erlaß vom 10.12.1693" wenn Kriegsleute nach dreimaligem Aufruf immer noch nicht zum Militärdienst erschienen seien, falle ihr Erb- oder Dienstgut an den Herrscher. Im November 1696 rügte der Zar, ein Teil des Adels "habe die Gottesfurcht und den Befehl Ihrer Majestät vergessen" und sei dem Einberufungsbefehl nicht gefolgt; deshalb werde die Einberufung wiederholt; wer jetzt wieder nicht gehorche, den erwarte "ewiger Ruin". 353 Per Erlaß vom 22.1.1704 wurde angeordnet, ein Verzeichnis aller dienstpflichtigen jungen Adligen zu anzulegen und sie zur Musterung in die Hauptstadt zu bestellen; wer einen Sohn verheimliche oder dessen Alter falsch angebe, solle seinen Grundbesitz an den Zaren verlieren. 354 Am 1.6.1713 verfügte Peter, zum Heeresdienst nicht erschienene Adlige in Haft zu nehmen, bis ihnen der Senat den Prozeß gemacht haben werde; wer einen fflichtvergessenen Adligen herbeischaffe, erhalte zehn Rubel Belohnung. 35 In zwei Erlassen vom 26.9.1714 und 19.7.1715 wurde die Denunziation noch attraktiver gestaltet: wer einen Drückeberger aus dem Adel anzeigte, sollte dessen ganzes Vermögen einschließlich der Dörfer erhalten, gleichgültig aus welcher Gesellschaftschicht der Anzeigende stammte. 356 Eine ähnliche Regelung enthielt auch das Dekret vom 6.7.1722, in dem zusätzlich das musterungsrelevante Alter auf zehn bis dreißig Jahre festgelegt wurde und allen Gouverneuren pro verheimlichtem Dienstpflichtigen je 100 Rubel Strafe angedroht wurden, was auf eine Korruptionsvermutung hindeutete. Zwei letzte diesbezügliche Erlasse vom 11.11.1722 und 3.9.1723 kehrten wieder zum anfänglichen Druckmittel zurück, indem sie die Konfiszierung des Besitzes Säumiger zugunsten der Krone in Aussicht stellten. 357 Gerade die Vielzahl dieser Edikte zur Musterung belegt, daß der Zar die Einhaltung der Dienstpflicht des Adels letztlich nicht durchsetzen konnte; noch im Sommer 1722 hieß es offiziell, "in den Provinzen und Gouvernements erscheinen 352 353 354 355 .156 157

Torke, Adel und Staat vor Peter dem Großen, S. 285ff, 290. PSZ III, S. 169,265. PSZ IV, S. 24lf. PSZ V, S. 35f. Ebd., S. 125, 164f. PSZ VI, S. 406f, 478; PSZ VII, S. 109f.

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sehr wenige".358 Als begrenzten Kompromiß zwischen den Interessen des Staates und seiner Oberschicht bot Zar Peter im März 1699, im April 1701 und wieder im März 1710 an, ännere Adlige, die unter zehn Höfen besaßen, ferner auch Alte und Kranke aus dem Adel dürften ihre Dienstverpflichtung durch jährliche Geldzahlungen ablösen, die pro Hof von 25 Kopeken bis zu einem Rubel reichten. 359 Zur Illustration der Probleme, die sich bei der Durchsetzung des Militärdienstes von Adligen ergaben, kann auch der Bericht des Zeitzeugen Ivan T. Pososkov angeführt werden. Er schrieb, viele Adlige folgten nach gewohnter Sitte erst dem dritten Aufruf zur Musterung und seien dann inzwischen zu alt geworden, um noch Dienst im Heer zu tun. Einige Moskauer Adlige benutzten den Trick, sich ersatzweise als Aufspürer flüchtiger Soldaten registrieren zu lassen, um so die Einberufung zu umgehen; später setzten sie dann ihren normalen Lebensstil fort. Andere ließen sich zwar bei den Elitetruppen des Preobraienskij- oder Semenovskij-Regiments eintragen, in denen nur Adelssöhne ausgebildet wurden, erschienen dann aber nur selten. Generell meinte Pososkov kritisch, nur arme Adlige müßten lange dienen, die Reichen könnten sich nach fünf bis sechs Jahren freikaufen. 360 Dies belegt erneut die Korruption im Bereich der Armee. Der Dienst des Adels im zivilen Sektor war weniger anstrengend und gefährlich und deshalb begehrter als der Aufenthalt in der Armee. Um hier Ausweichweichmöglichkeiten zu kanalisieren, verfügte der Zar am 30.4.1701, daß höhere Offiziere nur mit seiner persönlichen Genehmigung in den Zivildienst wechseln dürften. 361 Die Registrierung der männlichen Adligen für die Verwendung im Heer oder in der Verwaltung oblag den Heroldmeistern, die gleichzeitig auch über die Adelswappen Buch führten. Im Februar 1722 wurde als Proporzregelung festgelegt, daß jeder dritte Adlige im zivilen Bereich dienen durfte. Als Vorbereitung dazu sollten junge Adelssöhne z. B. Ökonomie studieren. 362 Um die Grundbildung des Adels zu gewährleisten und so seinen Dienst effektiver zu gestalten, hatte der Zar bereits am 20.1.1714 verordnet, alle Adelssöhne ohne Ausnahme müßten Mathematik lernen; wenn sie kein entsprechendes Zeugnis vorweisen könnten, solle ihnen die Heiratserlaubnis verweigert werden. Am 28.2.1714 wurde die Einrichtung von Elementarschulen in Klöstern oder Häusern der Erzbischöfe gefordert, wo Kinder von Adligen und Sekretären im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren unterrichtet werden sollten. 363 Theoretisch war bei diesen Erlassen geplant, sämtliche Adelssöhne zu beschulen; in der Praxis allerdings wurde das angestrebte Ziel nur sehr lükkenhaft erreicht, es fehlten auch detaillierte Ausführungsbestimmungen. Da die russischen Bildungseinrichtungen unter Peter I. noch rudimentär blieben, 358 359 360 361 362 363

7*

PSZ VI. S. 407. PSZ III, S. 61Of; PSZ IV, S. 163,479. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 93, 95f. PSZ IV S 167 Voskre~en'skij, Zakonodatel'nye akty, S. 354. PSZ V, S. 78, 86.

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schickte der Zar im März 1716 sechzig als begabt eingestufte Adelssöhne zur Weiterbildung ins westliche Ausland, wobei jeweils zwanzig Personen in England, Frankreich und Venedig in der Navigationskunst unterwiesen werden sollten. 364 Auch im zivilen Bereich kam es massenhaft zu Pflichtverletzungen des Adels. Vom April 1695 ist die Nachricht überliefert, daß die Statthalter des Zaren in Sibirien die Bevölkerung besonders schamlos ausplünderten, Bestechungsgelder verlangten und dem Staat die wertvollsten Felle unterschlugen, die als Naturalsteuer eingetrieben wurden. Im Juli 1696 wurden Klagen laut, daß die Voevoden in Sibirien große Teile der Zolleinnahmen selbst einsteckten. 365 Immer wieder rügte der Zar ungerechte Entscheidungen vor Gericht bzw. die Verschleppung von Fällen. 366 In den zentralen Behörden Senat und Kollegien wurde ebenfalls sehr langsam gearbeitet. 367 Ein umfangreicher Erlaß vom 25.8.1713 stellte überhöhte Steuereintreibungen sowie die Veruntreuung von Staatsgeldern als einen weit verbreiteten Mißstand dar. 368 Gegen zahlreiche enge Mitarbeiter Peters, nämlich gegen den Generalgouverneur von Ingermanland und Karelien Aleksandr Danilovic Mensikov, gegen den Generaladmiral Fedor Matveevic Apraksin, gegen den Präsidenten des Kammerkollegiullls Dmitrij Michajlovic Golicyn, gegen den Vizekanzler Petr Pavlovic Safirov, gegen den Oberfiskal Aleksej Nesterov sowie gegen weitere hohe Amtsträger, wurden z. T. jahrelang andauernde Prozesse wegen widerrechtlicher Aneignung von Staatsvermögen sowie aktiver und passiver Bestechung geführt, die für einige der Delinquenten mit der Todesstrafe oder der Verbannung endeten. 369 Am meisten Aufsehen erregte das langwierige Verfahren gegen den Fürsten Matvej Petrovic Gagarin, der als Gouverneur von Sibirien auf Kosten der Bevölkerung und der Staatskasse große Reichtümer für sich selbst aufgehäuft hatte. Ungeachtet seiner hohen Herkunft endete er im März 1721 auf dem Senatsplatz in Petersburg am Galgen. Seine Leiche schaukelte noch über Monate hin im Wind, weil sich der Zar von ihrem Anblick einen Abschreckungseffekt auf andere potentielle Übertäter erhoffte. 37o Trotz aller Bemühungen gelang es Peter nicht, die Korruption in der Staatsverwaltung wirklich einzudämmen. Dagegen wirkten zum einen seine lange Abwesenheit im Ausland oder im Krieg, zum anderen die Weite des Landes, die Amtsrnißbräuche in abgelegenen Territorien schwer kontrollierbar machte. Ferner wirkte sich hier die russische Tradition negativ aus, gemäß der ein staatliches Amt als Versorgungsinstitut (korrnlenie) galt, von dem sich der Amtsinhaber nach Gutdünken skrupellos holte, was er zu benötigen glaubte. Der russische Adel unter Peter I. bildete keine völlig in sich abgeschlossene Schicht. Anders als im damaligen Preußen durften Adlige in Rußland, be364 365 366 .367 368 369

370

PSZ V, S. 201. PSZ III, S. 203, 255. Pib I, S. 14; PSZ V, S. 53,135f, 160, 621,700 . Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 225, 228f, 308, 381, 400. PSZ V, S. 51ff; ähnlich Vokresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 251, 345. Weber, Das veränderte Rußland, Bd.lI, S. 84. Wittram, Peter L, Bd. 11, S. 482f.

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günstigt durch die Schwäche des einheimischen Bürgertums, auch im Industriesektor tätig werden. Der Vizekanzler Petr Pavlovic Safrrov und der Geheimrat Petr Andreevic Tolstoj z. B. erhielten im Juni 1717 vom Zaren das Monopol zur Errichtung von Fabriken für Luxusstoffe, in denen Seide, Samt, Atlas, Taft, Gold- und Silberbrokat, Borten und Strümpfe für den Bedarf der Oberschicht hergestellt werden sollten. Mit dem Privileg verbunden waren eine Zollbefreiung auf fünfzig Jahre sowie die Erlaubnis, die Stoffe an allen inländischen Orten und Jahrmärkten frei zu verkaufen.37\ Eine begrenzte Durchlässigkeit der sozialen Hierarchie zeigte sich auch insofern, als der Zar von Zeit zu Zeit verdiente Mitarbeiter einfacher Herkunft in den Adelsstand erhob. Dies geschah am 16.2.1710 mit dem Kanzler Gavriil Ivanovic Golovkin, der den Grafentitel erhielt, ferner mit den Vizegouverneuren Aleksej Aleksandrovic Kurbatov und Vasilij Semenovic Ersov, die es andererseits aber gerade wegen ihrer bäuerlichen Abstammung nicht zu Gouverneuren, sondern nur zu deren Stellvertretern brachten, da Peter offenbar das Ehrgefühl des alteingesessenen Adels nicht zu sehr strapazieren wollte. Auffällig erscheint dabei, daß Peter diese Erhebungen in den Adelsrang speziell begründete: da Gott ihn selbst zum Zaren berufen habe, stehe es ihm frei, eigene treue Untergebene zu erhöhen. Mit einer solchen Rechtfertigung sollte vermutlich dem Murren im Erbadel entgegengewirkt werden. 372 Die steilste Karriere in dieser Beziehung machte Peters langjähriger Favorit Aleksandr Danilovic Mensikov. Es scheint, als sei der Zar diesem hübschen, ihm selbst etwa gleichaltrigen Mann niederer Abstammung, der anfänglich sein Stallknecht gewesen war, in erotischer Hinsicht hörig gewesen. Zwischen 1702 und 1710 schrieb Peter zahlreiche Briefe an Mensikov, teilweise in zeitlich sehr enger Abfolge, in denen er ihn vertraulich mit "Mein Herz", "Mein liebster Kamerad", "Mein liebster Freund", "Mein Bruder" anredete und betonte, wie sehr er sich nach Mensikov sehne und wie ungeduldig er ihn oder mindestens dessen Post erwarte. 373 Am 17.3.1703 formulierte der Zar: "Mein Herz ... komm morgen gegen Mittag selbst: ich muß dich unbedingt sehen". Am 28.9.1704 hieß es: "Ach, es ist sehr öde hier! Du kannst Dir selbst eine Meinung darüber bilden, und wenn mich nicht die Arbeit aufhielte, könnte man sich amüsieren." Am 14.5.1705 teile Peter seinem Favoriten vom Krankenbett aus mit: "In dieser Krankheit ist nicht weniger die Schwermut der Trennung von Euch, die ich schon vielfach in mir erduldete; aber jetzt kann ich nicht mehr: beliebt, möglichst rasch zu mir zu kommen, damit ich heiterer werde, worüber Du selbst urteilen kannst.,,374 Auffällig ist, wie höflich Peter seinen Liebling anredete, nämlich mit "belieben Sie", "ich bitte", sogar ein-

PSZ V, S. 496f. Pib X, S. 47; Arnburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 507. 373 Pib II, S. 128, 153, 220f; Pib m, S. 94, 98 155, 162, 342,427; Pib IV, S. 8, 11, 13,25; Pib VI, S. 81, 85,128,138,167,178,188; Pib Vll, S. 70f, 73, 84f, 127, 166; Pib X, S. 143. 374 Pib 11, S. 221; Pib III, S. 162, 342. 371

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mal im Dezember 1707 mit "Euer Gnaden". 375 Verglichen mit diesen Äußerungen zeigten die Briefe Peters an seine Frau Katharina eine geringere emotionale Spannung, dafür eine größere innere Sicherheit. 376 Mensikov, der seinerseits mit dem Zaren ohne erkennbare Anzeichen von Sehnsucht korrrespondierte und ihn dabei kühl mit "Herr Oberst" anredete,377 wußte die Gunst des Herrschers für sich auszuschlachten. Am 1.7.1707 wurde ihm wegen "seiner außerordentlichen Verdienste und hohen Würde" vom Zaren der erbliche Fürstentitel verliehen, d. h. der höchste Adelsrang, den es im damaligen Rußland gab. Dazu erhielt Mensikov als Generalgouverneur die Verfü~gsgewalt über die neu eroberten Gebiete Ingrien,Karelien und Estland. 38 Ende Januar 1708 sowie im März 1708 übernahm Peter von Mensikov dessen detaillierte Vorschläge zur Krie.psführung gegen Schweden und erhob sie zu offiziellen Verlautbarungen. 37 Mehr noch als an politischer Einflußnahme war Mensikov an seiner persönlichen Bereicherung gelegen: durch Schenkungen des Herrschers, Beamtenbestechung und illegale Geldeintreibung wurde er zum reichsten Grundherrn Rußlands an zweiter Stelle nach dem Zaren. Zur Zeit der Volkszählung von 1719 nannte Mensikov rund 3 000 Dörfer und sieben Städte mit insgesamt 414 000 männlichen Seelen sein eigen; daneben besaß er zahlreiche Fabriken für Lederwaren, Segeltuchherstellung, Weindestillation, Fischverarbeitung, Sägewerke, Salinen, Glasfabriken und Eisenbergwerke. Einen Teil seines immensen Vermögens brachte er wenig patriotisch bei einer Londoner Bank unter. 380 Als ihm wegen Veruntreuung von Staatsvermögen der Prozeß gemacht wurde, hätte er nach den damaligen Maßstäben eigentlich hingerichtet werden müssen; jedoch bewahrten ihn die Gunst des Zaren und die Fürsprache der Zarengattin Katharina vor dem Schlimmsten, so daß er mit einer Geldbuße von 60 000 Rubeln glimpflich davonkam. Problematisch bleibt, daß der Zar gegenüber seinem früheren Liebhaber das Recht nur abgeschwächt gelten ließ, obwohl der Regent theoretisch wiederholt für ein gerechtes Gericht eintrat. Nachdem Peter I. über viele Jahre hin negative Erfahrungen mit der schwachen Dienstauffassung des Adels in Heer und Verwaltung gesammelt hatte, entschloß er sich gegen Ende seiner Regierungszeit zu einem entscheidenden Schritt, der bis zur Revolution von 1917 fortwirkte. Nach intensiven Vorstudien der Armee- und Beamtenhierarchien fast aller europäischer Staaten, wobei besonders Schweden, Dänemark und Preußen als Muster ausgewählt wurden, gab der Zar am 24.1.1722 eine vierzehnstufige Rangtabelle heraus, die den russischen Staatsdienst neu strukturierte. Sie ordnete militärische und zivile 375 Pib VI, S. 138, 144f, 178, 189.

376 Pis'ma russkich gosudarej i drugich osob carskago semejstva. Perepiska Imperatora Petra I s gosudaryneju Ekaterinoju Alekseevnoju. Moskva 1861, S. 2ff. 177 Pib VII, S. 369f, 383, 387,389. 378 Pib V, S. 284ff. 379 Pib VII, S. 52, 96ff, 332. 380 S. M. Troickij, Chozjajstvo krupnogo sanovnika Rossii v pervoj cetverti XVIII v. (po archivu knjazja A. D. Mensikova), in: Pavlenko (Hrsg.), Rossija v period refoml Petra I, S. 218, 224f[, 228ff.

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Dienstgrade parallel in genauer Abfolge vom Generalissimus bis hinunter zum Fähnrich und vom Kanzler bis hinunter zum Kollegienassessor, wobei die obersten acht Rangstufen mit der Verleihung des erblichen Adels verbunden wurden. Jeder Beamte oder Angehörige des Militärs hatte sich seitdem von unten her die Rangskala hochzudienen. Für die Beförderung sollten Kenntnisse, Fähigkeiten und eiJäene Verdienste, nicht aber die Stellung durch Geburt ausschlaggebend sein. 1 Brenda Meehan-Waters bezeichnete diese Entwicklung zu Recht als "Professionalisierung der Elite".382 Mit dieser Reform wurde der alte Erbadel durch einen neuen Leistungsadel ergänzt und die Rekrutierungsbasis für den Staatsdienst verbreitert, da die Rangtabelle prinzipiell jedem offenstand, sofern er die erforderlichen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Gleichzeitig verlor der Adel sein althergebrachtes Monopol auf höhere Posten und erhielt Konkurrenz durch Aufsteiger aus den niederen Schichten. Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, wenn Kljucevskij berichtet, bis 1737 sei die Anzahl der adligen Familien in Rußland auf circa 100 000 angestiegen;383 dies kommt einer inflationären Entwicklung gleich. Nachdem der Staat seine Beamten und Offiziere dank Peters Entscheidung von 1722 auch außerhalb des Adels rekrutieren konnte, hob Peter ill. im Februar 1762 die Dienstpflicht des Adels auf, um ihn sich geneigt zu machen, und Katharina n. bestätigte dies in einer großen Gnadenurkunde von 1785. 384 Unbewußt hatte Peter I. dazu die Vorarbeit geleistet. Sein Schachzug mit der Rangtabelle erinnert entfernt daran, wie die französischen Könige bürgerliche Legisten gegen den Adel zuhilfe nahmen. Als übergreifendes Merkmal während der Regierungszeit Peters I. lassen sich Nivellierungstendenzen innerhalb des Adels ausmachen. Die Bojaren verloren ihre Sonderstellung als exklusive Berater des Zaren. Breitenwirksamer wurden durch das Einerbengesetz vom Frühjahr 1714 Erbgüter und Dienstgüter rechtlich gleichbehandelt, so daß sich in Fragen des Besitzrechtes die Unterschiede zwischen höherem und niederem Adel verwischten. Mit der Aufhebung der Anciennitätsrechte 1682 noch unter dem Zaren Fedor Alekseevic waren schon vor Peters Herrschaft die früheren Rangunterschiede zwischen den Adelsfamilien gewissenmaßen einer tabula rasa gewichen, auf der sich nun spätestens ab 1722 der einzelne Adlige seinen Platz durch persönliche Leistung selbst verdienen mußte, ohne sich wie früher überwiegend auf seine Herkunft verlassen zu können. Dem Zaren und seinen Nachfolgern bot das neue System der Rangtabelle freiere Hand bei der Besetzung hoher Positionen in Militär und Verwaltung, denn der Regent brauchte nun nicht länger die Familientraditionen der Adelshäuser zu berücksichtigen, aus denen die jeweiligen Bewerber kamen. Mit der Abschaffung der Anciennitätsrechte und der Einführung der neuen Leistungsränge wurde der einzelne Adlige aus dem 381 PSZ VI, S.486ff; S. M. Troickij, Russkij absoljutizrn i dVOIjanstvo XVIll v. Moskva 1974, S. 49, 111. 382 B. Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy. The Russian Service Elite of 1730. New Brunswick / New Jersey 1982, S. 62. 383 Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 84. 384 Stökl, Russische Geschichte, S. 397, 406f.

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Familienverband tendenziell herausgelöst und dem Staat gegenüber individualisiert. Dies wiederum machte ein gemeinsames Auftreten des Adels gegen den Zaren unwahrscheinlicher, entsprach also der Staatsräson, wie sie die Herrscher interpretierten. Für den gemessen an früheren Zeiten nivellierten und in sich sozusagen atomisierten Adel setzte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Rußland die neue Sammelbezeichnung "slachetstvo", eine Entlehnung aus dem Polnischen, durch. Der russische Begriff "dvorjanstvo" wurde unter Peter I. noch wenig benutzt, weil er sich ursprünglich nur auf den Dienstadel bezogen hatte und eine Beleidigung für die Bojaren gewesen wäre. Erstmals erschien der Name "slachetstvo" im Jahre 1712 in offiziellen russischen Dokumenten. 385 Die Ahnlichkeit im Namen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem polnischen Adel traditionell eine ungleich stärkere Stellung im Sejm und bei der Königswahl zukam, als es in Rußland der Fall war. Die Einstellung des russischen Adels zu Peter und seiner Politik war überwiegend ablehnend. Bereits im Herbst 1698 unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Westeuropa hatte sich der Zar sehr unbeliebt gemacht, als er den zu seinem Empfang versammelten Bojaren und hohen Hofbeamten eigenhändig die langen Bärte als Zeichen ihrer Rückständigkeit abschnitt und dann im Januar 1700 allgemein für Adel und Bürgertum Bartlosigkeit und kniekurze Kleidung nach westeuropäischem Muster verordnete. 386 An ihren Bärten wollten die russischen Männer aus weltlichen wie religiösen Gründen festhalten: sie galten ihnen als Zierde des Mannes und ferner als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen, da der Heiland auf Ikonen stets mit Bart dargestellt wurde, ebenso Gottvater. Der Zar bewies hier mit seinem brüskierenden Vorgehen wenig Einfühlungsvermögen. Vermutlich wollte er in jugendlichem Elan demonstrieren, wer der Herr im russischen Hause sei, und insbesondere gegenüber dem Patriarchen Adrian, der das Abschneiden des Bartes schriftlich verdammt hatte, klarstellen, daß über solche Fragen der Zar persönlich zu entscheiden habe. 387 Staatsklug war diese Maßnahme nicht, da sie keine politischen Vorteile brachte, wohl aber unnötigerweise viel unterschwelligen Groll provozierte. Als im Jahre 1712 über 1 200 Bojaren und hohe Offiziere mit ihren Familien per Dekret zur Umsiedlung nach Petersburg gezwungen wurden, schuf dies erneut böses Blut, denn die Lebenshaltung in der neuen Hauptstadt war dreimal so teuer wie in Moskau, und neue gesellschaftliche Bande mußten erst geknüpft werden. Die Erbregelung für die adligen Güter von 1714 empfanden viele Betroffene als ungerecht und gegen die Tradition verstoßend. Dementsprechend wurden die Erbbestimmungen häufig umgangen und von Peter selbst im Mai 1714 dahingehend modifiziert, daß auch zunächst leer ausgegangene Söhne sich nach siebenjährigem Militärdienst bzw. zehnjährigem Le Donne, Absolutism and Ruling Class, S. 23. PSZ IV, S. 1; UstJjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. III, S. 191 f. 387 P. Bushkovitch, Aristocratic Faction and the Opposition to Peter the Great: The 1690's, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 50. Berhn 1995, S. 104. 385

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Verwaltungsdienst eigene Landgüter kaufen durften. 388 Die Kaiserin Anna Ivanovna, die Nichte Zar Peters 1., schaffte auf Drängen des Adels die einschränkenden Erbregelungen ganz ab. 389 Am meisten aber mußte die Beharrlichkeit stören, mit der Peter die allgemeine Dienstpflicht des Adels immer wieder zu erzwingen suchte. Die Kriegsmotive des Zaren waren vielen Adligen gleichgültig oder in ihrer wirtschaftlichen Zielrichtung unverständlich. Statt dessen neigten sie zu der Ansicht, Rußland sei bereits groß genug, es müsse nur bevölkert, nicht jedoch erweitert werden. Das eigentliche Ideal des russische Adels bestand nach wie vor darin, möglichst unbehelligt und ohne Verpflichtungen auf den ererbten Gütern zu leben. Da der Zar diesen Idylleanspruch andauernd störte, machte er sich verhaßt. 390 Obwohl also viele Adlige gegen Peter eingestellt waren, leisteten sie aus Furcht vor Bestrafung nur selten offenen Widerstand. Scerbatov erwähnt hier lobend als eine der seltenen Ausnahmen den Feldmarschall Fürst Boris Petrovic Seremetev, der sich standhaft weigerte, das Todesurteil gegen den Zaren sohn Aleksej zu unterschreiben und dies damit begründete, er sei geboren, um seinem Herrscher zu dienen, nicht aber, um über dessen Blut zu richten. Auch der Senator Fürst Jakov Fedorovic Dolgorukij wagte es, zwei Befehle des Zaren zur Versorgung der Truppen nicht auszuführen; ferner ließ er durchblicken, wenn Peter die Herrschergröße seines Vaters Aleksej Michajlovic erreichen wolle, müsse er sich stärker als bisher der Innenpolitik widmen. 391 Als Peter nach dem Frieden von Nystadt von 1721 beschloß, fortan fast den gesamten Handel über St. Petersburg zu lenken, wandte der greise Großadmiral Apraksin ein, so würde die russische Kaufmannschaft ruiniert und der Zar belaste sich mit deren unaufhörlichen Tränen. Dieser Appell an die Moral des Herrschers nützte jedoch nichts, denn Peter blieb bei seiner Entscheidung. 392 Dolgorukij konnte sich solche Abweichungen in Maßen leisten, da ihn wegen seiner Unbestechlichkeit ein untadeliger Ruf schützte, Seremetev und Apraksin waren als Oberkommandierende des Heeres bzw. der Flotte schwer ersetzbar. Ein weniger prominenter Adliger, ein achtzigjähriger Greis aus der Familie der Golovin, büßte seinen würdevollen Widerstand mit dem Tod. Im Januar 1725 weigerte er sich, als Teufel verkleidet bei einem der Narrenurnzüge des Zaren mitzuwirken. Daraufhin ließ Peter ihn zur Strafe eine Stunde lang nackt auf dem Eis der Neva ausharren, und der Alte starb kurz darauf an Fieber. 393

PSZ V, S. 97. Stökl, Russische Geschichte, S. 369. 390 Rossija pri Petre Velikom po rukopisnomu izvestiju Ioanna Gottgil'fa Fokkcrodta, in: Ctenija v imperatorskom obsccstve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete. Moskva 1874, Bd. 11, S. 106ff; W.Mediger, Moskaus Weg nach Europa. Der Aufstieg Rußlands zum europäischen Machtstaat im Zeitalter Friedrichs des Großen. Braunschweig 1952, S. 108, 110f, 112 . .19\ Scerbatov, 0 povrezdenii nravov, S. 17. 392 Vockcrodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 71. 393 Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 161. 388 389

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Insgesamt könnte man staunen, daß es Peter so wenig gelang, den Adel als die eigentlich staatstragende und privilegierte Schicht im damaligen Rußland an sich zu binden. Offenbar standen dem hauptsächlich das explosive Temperament des Zaren entgegen sowie die Kompromißlosigkeit, mit der er die Dienstpflicht des Adels durchzusetzen versuchte. Privilegierte Gesellschaftsschichten möchten ihre Vorzugsstellung wohl häufig am liebsten ohne Gegenleistung genießen. Zur Zeit Peters I. waren sich Zar und Adel wechselseitig unbequem, denn ihre Interessen klafften auseinander; während der Zar immer wieder intensives Engagement verlangte, wünschte sich der Adel, in Ruhe gelassen zu werden. Die Nachfolger Peters wählten hier den Weg des geringeren Widerstandes und ließen den Adel weitgehend nach dessen Gutdünken schalten und walten. Im übrigen hütete sich Zar Peter, die Oberschicht des Landes in jeder Hinsicht zu brüskieren. Zwar verdrängte er den Adel mit der Auflösung der Bojarenduma aus einer geregelten politischen Mitwirkung, gleichzeitig beließ er ihm aber alle traditionellen wirtschaftlichen Vorrechte bei der Ausbeutung der Leibeigenen und tastete auch die administrativen Funktionen der adligen Grundherren auf lokaler Ebene nicht an. So trieb er den Konflikt nicht auf die Spitze und beugte einem breit organisierten Widerstand vor. Ein üppiges und luxuriöses Leben am Hof im Sinne einer Ersatzidentiflkation bot Peter I. der einheimischen Elite längst nicht in dem Maße an, wie es in Frankreich geschah und in manchen kleineren Staaten Europas nachgeahmt wurde. Vielmehr sah der Zar seine Hauptaufgabe lange Zeit in der Kriegsführung und bemühte sich, auch den Adel vorrangig in diesem Sinne zu beschäftigen. Im Unterschied zu den Verhältnissen in Dänemark unter Christi an V. und Friedrich IV. war das Adelsprädikat in Rußland nicht käuflich, obwohl der Staat eine Aufbesserung seiner Finanzmittel gut hätte gebrauchen können. 394 Käufliche Adelstitel hätten aber der Idee des Leistungsprinzips, wie es in der Rangtabelle zum Ausdruck kam, entgegengestanden. Die lebenslängliche Verpflichtung des Adels zum Dienst, verbunden mit dem Aufstieg nach Leistung, konnte dem Staat langfristig größeren Nutzen bringen als einmalige Zahlungen, da im ersten Fall der Anreiz zu angespannter Tätigkeit im Interesse des persönlichen Fortkommens permanent vorlag, während im zweiten Fall die Gefahr des Müßiggangs bestanden hätte, nachdem die erstrebte Position erst einmal gekauft worden war.

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Kunisch, Absolutismus, S. 115.

VIII. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit Zu Anfang des 18. Jahrhunderts betrug die Gesamtzahl der russischen Geistlichkeit rund 140000 Personen oder knapp ein Prozent der Bevölkerung. Dabei bildeten die Popen mit ihren Familien die weitaus größte Gruppe, während auf die Klostergeistlichkeit circa 14 500 Mönche und 10 700 Nonnen sowie 6 000 Laienbrüder und Laienschwestern als Hilfspersonal entfielen. 395 Das Kirchengut stellte einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar, einerseits wegen der kostbaren Kunstschätze aus Gold, Silber, Perlen und Edelsteinen, andererseits wegen des reichen Grundbesitzes. Um 1700 gehörten zum russischen Patriarchenstuhl 9 511 Bauernhöfe mit rund 44 000 männlichen Leibeigenen sowie 3 750 Kirchen; neunzehn Bischöfe und Erzbischöfe verfügten zusammen über mehr als 20 000 Höfe mit 95 000 Leibeigenen darauf sowie über 7 700 Kirchen. Am umfangreichsten aber war der Klosterbesitz, angewachsen durch Schenkungen über viele Generationen hin. Die 600 russischen Klöster, von denen 404 im europäischen Landesteil lagen, besaßen zusammen etwa 565 000 Leibeigene auf 125 000 HofsteIlen. Insgesamt unterstanden bei der Volkszählung von 1719 über 700 000 russische Bauern dem kirchlichen Wirtschaftsbereich. 396 Vor der Regierungszeit Peters I. waren es 900 000 Bauern gewesen, dann verringerte sich ihre Anzahl, weil der Zar vor allem die Höfe aus dem Patriarchenbesitz Beamten und Adligen übereignete, die ihm positiv aufgefallen waren. 397 Die rechtliche Stellung der russischen Geistlichkeit war insofern privilegiert. als die Zeugenaussagen von Popen oder Klosterrnitgliedern höher zählten als die von einfachen Leuten. Außerdem wurden Vergehen gegen Geistliche doppelt so hart bestraft wie Rechtsverstöße gegen die Durchschnittsbevölkerung. Eidesleistungen erfolgten oft in der Kirche in Gegenwart eines Priesters, damit der Eidleistende an~esichts des Evangeliums und des Kreuzes umso sicherer die Wahrheit sagte. 3 8 In diesen Details äußerte sich eine gesellschaftliche Hochschätzung des geistlichen Ranges, wie sie ähnlich auch der Zeitzeuge Ivan T. Pososkov formulierte: "Die Geistlichkeit ist der Stützpfeiler und der Garant allen Anstandes und aller menschlichen Errettung, denn ohne sie kann kein Mensch durch irgendwe1che Maßnahmen ins HirnVodarskij. NaseIenie Rossii, S. 82; Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. IX, S. 505. Vodarskij, NaseIenie Rossii, S. 83. 85, 89; I. A. Bulygin, Cerkovnaja reforma Petra I. in: Voprosy istorii 5 /1974, S. 90; N. A. Srnirnov, Cerkov' v istorii Rossii (IX v. - 1917 g.). Kriticeskij ocerk. Moskva 1967, S.165. 397 Waliszewski, Peter der Große, Bd. 11, S. 151. 398 Sofrenko, Parnjatniki russkogo prava, S. 323, 572f, 592. 395

396

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VIII. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

melreich gelangen ...399 Aus dem angeführten Zitat geht eine vom westlichen Protestantismus abweichende Einstellung hervor, denn durch Luther war die Vennittlerlunktion der Kirche bei der Erlangung der ewigen Seligkeit zugunsten der Gnade Gottes bzw. des individuellen Glaubens deutlich herabgestuft worden, während in Rußland die Rolle des Individuums auch in geistlichen Fragen weiterhin relativ gering geschätzt wurde. Als unvereinbar mit der klerikalen Würde galt im russischen Raum eine kaufmännische Betätigung, da sie leicht zum Betrug verführen konnte; deshalb war den Geistlichen ein Nebenerwerb im Handel untersagt. 400 Traditionell übte die russische Geistlichkeit als Vennittlerin des orthodoxen Glaubens einen großen Einfluß auf Meinungsbildung und Verhalten der Bevölkerung aus. Der durchschnittliche Russe war fromm. Dies bezeugte allein schon die ungewöhnlich hohe Anzahl von Kirchen im Lande. Insgesamt gab es im Jahre 1722 im Russischen Reich 15 760 Gotteshäuser oder eine Kirche auf unter hundert Einwohner; davon standen allein in Moskau 1 600, das somit sogar Rom an Kirchenbauten übertraf. 401 In jedem russischen Haushalt hingen eine oder mehrere Ikonen, vor denen die Familie betete und sich bekreuzigte. Das Kreuzeszeichen wurde überhaupt oft geschlagen und galt als Ausdruck gläubiger Demut. Viele Redewendungen der Alltagssprache bezogen sich auf Gott wie "Bofe mof' oder "Gospodi", "Gospodi, pomogi" usw. Der zeitgenössische ausländische Beobachter Friedrich Christian Weber urteilte: "Ein Russe hält die Gesetze seiner Religion mit blindem Gehorsam und grosser Strenge, und habe ich mit Verwunderung gesehen, wie eifrig die Bauren ihre Fasten in acht nehmen ... ". An anderer Stelle berichtete Weber von der russischen Sitte, sich beim Eintritt in ein fremdes Haus zunächst dreimal vor der Ikone zu verneigen und dabei "Herr, erbarme dich" zu sprechen, bevor man die Bewohner des Hauses begrüßte.402 Gott und die Heiligen gingen also weltlichen Belangen vor. Glaube und Aberglaube mischten sich, wenn das Volk - byzantinische Tradition nachahmend - manchen Ikonen Wunderwirkungen zuschrieb. Beispielsweise lieh sich ein Bauer bei einer guten Ernte des Nachbam gegen Bezahlung dessen Heiligenbild, befestigte es am eigenen Pflug und zog damit über das Feld in der Erwartung, auf diese Weise den Ertrag zu erhöhen. 403 Bei solchen Formen des Aberglaubens wirkte sich der Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen aus. Christlicher Glaube und orthodoxer Ritus trugen Wesentliches zur politischen Pazifizierung der Bevölkerung bei. Im Zentrum des orthodoxen Glaubens stand die Auferstehung; entsprechend war Ostern das höchste Fest im Kirchenjahr, wichtiger als Weihnachten. Die intensive Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tode in den ewigen Freuden des Paradieses ließ alle Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 15. PSZ IV, S. 170. 401 J. Cracraft, The Church Refonn of Peter the Great. London 1971, S. 215; Massie, Peter der Große, S. 29. 402 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I , S. 130,414. 403 Ebd., S. 309f. 399

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VIII. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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irdischen Kümmernisse als zweitrangig erscheinen und half dabei, insbesondere die Belastungen aus der Leibeigenschaft und die Anforderungen des Staates geduldig zu ertragen. Eine Versündigung in Form VOn Opposition gegen den Gutsherrn oder gar den Zaren lohnte sich nicht, wenn man dabei der ewigen Seligkeit verlustig ging. Die Liturgie der russisch-orthodoxen Kirche betonte das mystische Erleben im Vollzug des Ritus und rückte die Vernunft in den Hintergrund. Eine längere Predigt gab es nicht. Statt dessen wurde der Gläubige im Gottesdienst durch eine prunkvolle Innenausstattung der Kirche, durch Festtagsgewänder der Popen, durch feierliche Bewegungen, volltönende Gesänge und Weihrauchduft dem Alltag für kurze Zeit in entlastender Weise enthoben. Die Liturgie holte gewissermaßen ein Stück Himmel auf Erde hinunter. So verkündete etwa der Priester bei der Abendmahlsfeier: "Christus ist mitten unter uns!"; die mitzelebrierenden Popen wirkten als Echo: "Er ist es und er wird es sein"; und nach der Austeilung der Hostien an die Gemeinde rief diese im Chor: "Lasset uns anbeten die unzertrennliche Dreifaltigkeit, denn sie hat uns erlöst." Der Gottesdienst war also von einer mystischekstatischen Grundhaltung getragen; Heiligung, Wiedergeburt, Auferstehung suggerierten ersatzweise eine Freiheit und ein Wohlergehen, die das politische und soziale Leben nicht boten. Demgegenüber spielte die geistige Durchdringung der Glaubensinhalte, wie sie in der westeuropäischen Scholastik und während der Reformation versucht worden war, in Rußland nur eine geringe Rolle. Glaubensaussagen galten als evident, keines Beweises bedürftig. So konnten gefährliche Fragen weniger leicht aufkommen, z. B. wozu krasse gesellschaftliche Unterschiede gut sein sollten, wenn doch vor Gott alle Menschen gleich viel gelten. Auch die Kirchenoberen kümmerten sich wenig um die Verbesserung irdischer Verhältnisse, sondern sahen ihre Aufgabe vorrangig darin, die Menschen auf das Jenseits vorzubereiten. 404 Ganz direkt kam der politisch affirmative Charakter der russischorthodoxen Kirche dadurch zum Ausdruck, daß in jedem Gottesdienst sechsmal an verschiedenen Stellen der Liturgie für den Zaren und das gesamte Herrscherhaus gebetet wurde. Am 18.1.1721 schrieb der Synod dazu einen neuen Text vor, in dem das Wort "Zar" durch den Namen "Imperator" ersetzt wurde. Im einzelnen hieß es: "Wir beten zu Gott für unseren frommen Herrscher Peter den Großen, den Kaiser und Selbstherrscher von ganz Rußland, und für unsere fromme Großfürstin, die Kaiserin Katharina Alekseevna, und für die rechtgläubigen kaiserlichen Thronfolgerinnen und für die rechtgläubige Zarin und Großfürstin Praskovja Fedorovna. Und wir beten zu Gott für den rechtgläubigen Großfürsten Petr Alekseevic und für die rechtgläubigen Zarinnen und Großfürstinnen, für den ganzen Palast und für sie alle." Im weiteren Verlauf des Gottesdienstes wurde dann konkreter für die Herrschaft und den Sieg des Zaren, für seine Bewahrung im göttlichen Frieden, für ein langes Le404 E. Benz, Die Ostkirche und die russische Christenheit. Tübingen 1949, S. 146ff; ders., Geist und Leben der Ostkirche. Harnburg 1957, S. 36,40,44; A. M. Ammann, Abriß der orthodoxen Kirchengeschichte. Wien 1950, S. 132; I. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche 1700 - 1917. Leiden 1964, S.4, 15, 28, 538; Cracraft, The Church Reform, S. 34.

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VIll. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

ben der Herrscherfamilie, für den Erhalt des Zaren im rechten orthodoxen Glauben sowie für seine Zukunft im Paradies gebetet. 405 Das Ganze wirkte durch die vielen Wiederholungen einschleifend und fast wie eine Gehirnwäsche. Indem der Herrscher und seine Familie grundsätzlich als fromm dargestellt wurden, unabhängig von der je konkreten Politik, sollte die Treue und Ergebenheit des Volkes ihnen gegenüber gefestigt werden. Die Gebete für den Zaren während des Gottesdienstes entsprachen der Altmoskauer Auffassung, die Geistlichen seien "Fürbitter des großen Herrschers bei Gott" (bogomol' cy velikago gosudarja).406 Bemerkenswert erscheint noch, daß der Beiname "der Große" für den Zaren auch von der Kirche übernommen wurde und daß sein Herrschaftsbereich als Einheit ("ganz Rußland") aufgefaßt wurde. Ein Problem bestand zur Zeit Peters I. in der geringen Bildung der russischen Weltgeistlichkeit. Viele Popen konnten nicht lesen, kannten sich demzufolge in der Bibel schlecht aus und waren kaum in der Lage, auf Fragen ihrer Gemeindemitglieder zu antworten oder eventuellen Vorhaltungen der Raskolniki Argumente entgegenzusetzen. Um Pope zu werden, genügte es in der Regel, eine gute Stimme zu haben und zwölfrnal bis fünfzehnmal hintereinander in einem Atemzug "Herr, erbarme dich" zu wiederholen; eine intensivere Vorbildung wurde nicht verlangt. PosoSkov berichtet über Scheinprüfungen vor dem Bischof, die so abliefen, daß der Popenanwärter einen dritten Anwesenden, den Fragesteller, bestach, von ihm zwei bis drei Psalmen erfuhr, diese vorher auswendig lernte und sie dann in Ge~enwart des Bischofs hersagte; damit galt die Prüfung schon als bestanden. 4o Einmal im Amt konnten sich die Geistlichen kaum weiterbilden, da sie ihre Familie und sich selbst von eigenhändiger Feldarbeit zu ernähren hatten, während ihre westeuropäischen Kollegen da weitaus besser gestellt waren. Viele Popen lebten in Armut, gingen schlecht und schmutzig gekleidet und betranken sich. 408 Der Zar tat wenig, um die QualifIkation der Weltgeistlichen zu heben. Erst am 28.2.1718 verordnete er, der geistliche Nachwuchs solle eine Ausbildung erhalten. 409 Da aber ergänzende Ausführungsbestimmungen zu diesem Erlaß fehlten, blieb er ohne größere Wirkung. Lediglich für die Bildung höherer kirchlicher Würdenträger wurde besser gesorgt. Sie studierten gegen Ende von Peters Regierungszeit in der neuen Hauptstadt im Aleksandr-Nevskij-KIoster, damit sie ihren Verwaltungsaufgaben gewachsen waren. 410 Seit dem Jahre 1701 galt eine neue Bestallungsordnung für Geistliche. Bis dahin hatte die Gemeinde ihren Popen selbst bestimmt und der Bischof ihn in der Regel bestätigt. Von nun an sollte die Gemeinde dem Bischof mehrere Kandidaten vorstellen, unter denen er den Geeignetsten auswählte, d. h. die Kontrollkompetenz der kirchlichen Hierarchie wurde verstärkt. 1718 verfügte der Zar, 405 406 407 408 409 410

PSZ VI, S. 61ff. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 430. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 15,21, 24, 30. Ebd., S. 32, 34, 40f. PSZ V, S. 548. Cracraft, The Church Reform, S. 167.

vm. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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überhaupt keine neuen Geistlichen mehr einzustellen. Offenbar sollte mehr Arbeitskraft weltlichen Zwecken zugeführt werden und der quantitative Einfluß der Kirche auf das gesellschaftliche Leben zurückgedrängt werden. 411 Der bedeutsamste staatliche Eingriff in das Verhältnis zwischen Popen und Gemeinde war die Aufhebung des Beichtgeheimnisses durch den Zaren. Sobald der Priester in der Beichte von Aufruhrtendenzen in der Bevölkerung erfuhr, mußte er das sofort weitermelden und sollte damit eine Art Spitzelfunktion ausüben. Das Vertrauen der Gläubigen nahm so natürlich Schaden. Am 17.2.1718 machte Zar Peter die Beichte für jeden Untertan mindestens einmal pro Jahr zur Pflicht; bei Zuwiderhandlung drohten Geldbußen. Außerdem hatten die Geistlichen genau Buch zu führen, wer wann der Beichtpflicht nachgekommen war oder nicht. Am 16.3.1718 wurden die Popen noch weiter unter Druck gesetzt: ihnen drohte der Verlust von Amt und Besitz, falls sie nicht anzeigten, welche ihrer Gemeindemitglieder der Beichte ferngeblieben waren. 412 Insofern verbreiteten sich Polizeistaatstendenzen im kirchlichen Bereich. Ansonsten griff Peter in den inneren Ablauf des Gottesdienstes nicht weiter ein, vermutlich fand er ihn affIrmativ genug. Das Leben in den russischen Klöstern gestaltete der Zar in stärkerem Maße um. Vor dem Hintergrund seiner eigenen strengen Dienstauffassung und dem, was er von Adel, Stadtbewohnern und Bauern an Einsatz für den Staat forderte, war es ihm ein Dom im Auge, daß Mönche und Nonnen wenig zum Wohl der Allgemeinheit beitrugen. PosoSkov zufolge war der Alltag in zahlreichen russischen Klöstern zunächst bequem. Man aß und trank üppig, leistete sich Süßigkeiten und berauschende Alkoholika, und manche Mönche kleideten sich in Seide, statt sich nach dem Vorbilde Jesu mit einem einfachen Gewand zu begnügen. 413 Ein solcherart relativ luxuriöses Leben war möglich dank des reichen Klosterbesitzes. Das Klosterleben bot eine Art Refugium vor den Härten der Welt. Peters Eingriffe in den Bereich der russischen Klöster waren anfangs vor allem materieller Art. Von 1696 bis 1700 ließ er allein schon aus dem sehr reichen Troickij-Sergievskij-Kloster in der Nähe von Moskau 125 000 Rubel für Kriegszwecke konfIszieren; weitere 100 000 Rubel folgten zwischen 1701 und 1722. Ferner wurden 4412 Bauernhöfe aus Klosterbesitz dem Fiskus übereignet, der daraus u. a. Werften fmanzierte. 414 Gegen Äbte, die sich weigerten, dem Staat die geforderten Geldsummen zu zahlen, sollte der "pravez" angewandt werden, eine Art Schuldpranger, bei dem der Zahlungssäumige so lange täglich an einen Pfahl gestellt und dabei an die nackten Beine geschlagen wurde, bis er den Widerstand aufgab. 415 Mit diesem Vorgehen bekundete der Zar eine ähnliche Respektlosigkeit vor der Würde höherer geistlicher Amter, wie sie bereits in den Exzessen der Saufsynode artikuliert worden war. 411 412 413 414

415

Smimov, Cerkov' v istorii Rossii, S. 166f. PSZ V, S. 544f, 554f. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 132f. Solev'ev, Istorija Rossii, Bd. vm, S. 569. PSZ IV, S. 159.

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Vill. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

Ein Erlaß vom 27.2.1702 lautete dahingehend, daß brachliegende Ländereien der Klöster an Interessenten aus allen Schichten der Bevölkerung zur Rekulti vierung übergeben werden sollten, wobei die neuen Besitzer zwei- bis dreimal höhere Abgaben an den Staat zu entrichten hatten, als bisher für das Ödland gezahlt worden war. 416 Zwischen 1705 und 1716 wurden aus kirchlichem Besitz jährlich Geld- und Naturalsteuern zur Versorgung der Armee eingetrieben, für Feldgeistliche, für Dragoner, für Proviant; ferner wurden auch die Klosterbauern analog zu den übrigen Bauern als Rekruten eingezogen. 417 Am 12.2.1722 schließlich schlug er Fiskus noch einmal hart zu, als verordnet wurde, das Kirchensilber aus den Klöstern einzusammeln, die wertvollsten Stücke daraus dem Staatsschatz zuzuführen und den Rest zu Münzen urnzuprägen. 418 Peter I. tastete also die traditionelle Steuerfreiheit der Kirche an, jedoch nicht in der Art eines generellen Gesetzes, sondern durch fallweise Abgaben, die je nach dem aktuellen Bedarf erhoben wurden. Parallel zum staatlichen Zugriff auf das Klostervermögen wurde der Eigenverbrauch der Klöster drastisch eingeschränkt. Am 30.12.1701 verfügte der Zar, jeder Mönch und jeder Abt dürfe nur zehn Rubel pro Jahr für den privaten Konsum erhalten, dazu zehn Viertel Brot und Feuerholz. Zur Begründung hieß es, auch die früheren Mönche hätten arm gelebt und sich von ihrer Hände Arbeit ernährt. Die Überschüsse aus der Klosterwirtschaft sollten an den Staat fallen und von diesem an Bedürftige verteilt werden. Darüberhinaus wurden die Klöster verpflichtet, Spitäler für Arme, Kranke und Gebrechliche einzurichten und zu betreiben, wobei auf zehn Personen jeweils eine Pflegekraft kommen sollte. Im Sommer 1716 hieß es ähnlich, jedes Bistum müsse Lazarette unterhalten. Zugunsten der Kriegsopfer ergingen im Sommer 1719 sowie im Frühjahr 1723 noch zwei weitere Erlasse, welche die Klöster verpflichteten, verwundete und ausgemusterte Soldaten zu versorgen; jeder Veteran sollte dieselbe Geld- und Essensration erhalten wie ein Mönch. 419 Besonders die Novgoroder Metropolie, die damals von Prokopovic geleitet wurde, wirkte in karitativer Hinsicht vorbildlich; dort entstanden zusätzlich zu Krankenhäusern, Lazaretten und Armenspitälern auch Heime für Waisenkinder. Gemäß dem Novgoroder Beispiel sollte die Kirche laut Erlaß vom 4.11.1714 Bewahranstalten für ausgesetzte uneheliche Kinder über ganz Rußland verteilt einrichten. 42o Der Kirche und insbesondere den Klöstern wurden vom Staat also in breitem Umfang Aufgaben der Sozialfürsorge übertragen. Kontemplativer Müßiggang sollte verhindert werden, ähnlich wie auch der russische Adel nicht unbehelligt auf seinen Gütern leben durfte. Der Zugriff des absolutistischen Staates auf die Gestaltung des Alltags seiner Untertanen machte also vor den traditionell privilegierten Oberschichten nicht halt, sondern verlangte

416 417

418 419

420

Ebd., S. 188. Ebd., S. 315, 360f, 483, 696ff, 761f; PSZ V, S. 471. PSZVI,S.511. PSZ IV, S. 168, 181f; PSZ V, S. 472, 726; PSZ vrr, S. 30. PSZ IV, S. 124, 128.

vm. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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Leistungen von allen Teilen der Gesellschaft. Darin lag eine Tendenz zur Nivellierung sozialer Unterschiede. Um eventuellen Protesten seitens der Klosterbewohner gegen die Senkung ihres gewohnten Lebensstandards zuvorzukommen, verbot Zar Peter I. bereits am 31.1.1701 den Gebrauch von Papier und Tinte in den Zellen. In jedem Kloster dudte es fortan nur einen zentralen Schreibplatz geben, den der Abt zu kontrollieren hatte. Besonders mißtraute Peter der höheren Geistlichkeit. Deshalb verfügte er in demselben Edikt, die Post zwischen ihnen dürfe nur durch Adlige seines Vertrauens befördert werden, welche die Briefe offenbar öffnen und lesen sollten. Hier zeigten sich Anfänge der Zensur. Mitte Januar 1723 wurde der Erlaß in bezug auf das Schreibverbot in den KlosterzelIen erneuert, woraus man schließen kann, daß es immer noch Unzufriedene in den russischen Klöstern gab, die nach Artikulation drängten. Fast gleichzeitig wurde am 28.1.1723 der Neuzugang an Mönchen ganz unterbunden: niemand dudte mehr zum ersten Mal eine Tonsur erhalten; die freiwerdenden Klosterplätze sollten der Unterbringung von Veteranen dienen. 421 Diese Maßnahme stellte eine Parallele zum Aufnahmestop für Weltgeistliche aus dem Jahre 1718 dar. Die Nonnenklöster wurden auf etwas andere Weise dezimiert. Schon im Sommer 1701 war allen Nonnen der Austritt aus dem Kloster zu Heiratszwekken gestattet worden; parallel dazu wurde das Eintrittsalter für Frauen ins Kloster auf vierzig Jahre hinaufgesetzt. Anscheinend sollten die Frauen erst einmal ihre Gebärpflicht zugunsten des Staatswohls erfüllen, damit es nicht an Rekruten und Steuerzahlern fehlte, bevor sie etwas für ihr Seelenheil tun dudten. Durch Erlaß vom 11.9.1722 wurde der Arbeitszwang für alle Frauenklöster eingeführt: außer den ganz alten und gebrechlichen Nonnen dudte keine müßiggehen; jede Nonne sollte fleißig spinnen, nähen oder sonstige Handarbeiten verrichten; Lachen, dreiste Worte oder verdächtige Reden waren bei Strafe verboten. 422 Indem der Zar also daranging, sogar die Redeinhalte zu zensieren, offenbarte er eine weitere Tendenz zu umfassender Kontrolle im Sinne eines Polizeistaats. Insgesamt wurde das Leben in den russischen Klöstern unter Peter I. deutlich rauher und asketischer. Durch die Übernahme von Wohlfahrtsaufgaben sowie durch starke finanzielle EinbuBen muBte auch die Kirche dem Allgemeinwohl dienen, wie es der Zar verstand. Erich Donnert schrieb über Peters Klosterpolitik: "Es handelt sich hierbei um eine Vorwegnahme des Josephinismus in fast allen Details.,,423 Dieser Auffassung ist partiell zuzustimmen, soweit sie sich auf die Indienstnahme der Klöster für soziale Zwecke bezieht. Sonst aber ging Joseph 11. in Österreich noch radikaler vor als Peter I. in Rußland, denn der Habsburger löste etwa 700 Klöster ganz auf und verminderte die Zahl der Mönche und Nonnen um mehr als die Hälfte, griff auch PSZ IV, S. 139; PSZ VII, S. 16, 18. PSZ IV, S. 168; PSZ VI, S. 770f. 423 Donnert, Peter der Große, S. 164. 421

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VIII. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

stärker in die Gestaltung des Gottesdienstes ein als Peter. 424 In Rußland wurde das Kirchen~t in größerem Maßstab 1738 unter der Zarin Anna Ivanovna säkularisiert;4 deren Vorgehen bildete das eigentliche Pendant zu Joseph n. Die offizielle russische Kirche verbrauchte zur Zeit Peters I. einen beträchtlichen Teil ihrer Kraft im Kampf gegen die Raskolniki, was der Seelsorge unter der eigenen Klientel eher abträglich war. Die Altgläubigen machten etwa dreißig Prozent der Bevölkerung aus. 426 Sie hatten sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts von der Mutterorganisation abgespalten, als der Patriarch Nikon die bis dahin geltenden religiösen Bücher entsprechend den Maßstäben der griechischen Kirche umschreiben ließ und zusätzlich Änderungen im Ritus vornahm, z. B. sollte das Kreuzeszeichen fortan mit drei Fingern geschlagen werden und das Halleluja dreimal pro Gottesdienst erklingen in Anlehnung an die Heilige Dreifaltigkeit, während die Altgläubigen wie gewohnt an der Zweizahl festhielten wegen der Doppelnatur Jesu Christi als Gott und Mensch. Mit der religiösen Abspaltung verbanden sich Elemente des sozialen Protestes, indem etwa eine radikalere Gruppierung unter den Raskolniki als sogenannte "Popenlose" jegliche kirchliche Hierarchie verwarf und indem viele Altgläubige aus den Belastungen der Leibeigenschaft in neue Siedlungsgebiete flüchteten. Um 1800 lagen die Raskolniki-Dörfer schwerpunktrnäßig in relativ unwegsamen Gegenden nördlich des Onega-Sees, jenseits der Wolga im Raum von NiZnij Novgorod sowie im Grenzland nach Polen-Litauen hin. Der Raskol stellte die russische Entsprechung zur konfessionellen Spaltung in Westeuropa dar. 427 Viele Altgläubige reagierten fanatisch auf Verfolgungen seitens des Staates oder der offIZiellen Kirche; ehe sie ihrem Glauben abschworen und so ihrer Ansicht nach die ewige Seligkeit aufs Spiel setzten, zogen sie kollektive Selbstverbrennungen VOr. 428 Vom Interesse des Staates her betrachtet war eine solche Vergeudung der Untertanen sinnlos. Zar Peter teilte den Eifer nicht, mit dem manche Kirchenoberen den Raskol bekämpften. Daran hinderten ihn allein schon fiskalische Überlegungen, denn die Altgläubigen zahlten doppelt so hohe Steuern wie sonst üblich, von denen die Hälfte dem Staat wieder verlorenging, falls die Abtrünnigen in den Schoß der Orthodoxie zurückkehrten. 429 Nach außen hin ließ Peter dieses weltliche Moti v allerdings nicht durchblicken, um keinen Skandal zu provozieren. Statt dessen zog er sich geschickt auf die höhere geistliche Gewalt Jesu Christi zurück: "Gott gab den Zaren die Macht über die Völker, aber über das Gewissen 424

S.27.

B. Engelmann, Trotz alledem. Deutsche Radikale 1777 - 1977. Reinbek 1979,

Stupperich, Staats gedanke und Reigionspolitik, S. 53. Raeff, The Well-Ordered Police-State, S. 189. 427 Sovetskaja Istoriceskaja Enciklopedija. Moskva 1968, Bd. XI, S.886ff; M. Hildenneier, Alter Glaube und neue Welt: Zur Sozialgeschichte des Raskol im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 38. Wiesbaden 1990, S. 382. 42R M. Chemiavsky, The Old Believers and the New Religion in: Slavic Review 1/1966. S. 21. 429 PSZ V, S.687; PSZ VI, S. 196, 248f; PSZ VII, S. 300. 425

426

vrn. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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der Menschen herrscht allein Christus." Auch Thomas Hobbes hatte seinerzeit für Gewissensfreiheit plädiert; über Prokopovic konnte Peter davon gehört haben. Weiter sagte der Zar über die Altgläubigen: "Wenn sie ehrlich und fleißig sind, mögen sie glauben, was sie wollen; wenn man sie nicht mit Vernunftgründen von ihrem Aberglauben abbringen kann, dann werden auch Feuer und Schwert nichts helfen; sie aber zu Märtyrern für ihre Torheit zu machen - dieser Ehre sind sie unwürdig, und der Staat hätte auch keinen Nutzen davon. ,,430 In dieser Haltung entsprach der Rekurs auf die Vernunft dem Rationalismus als typischer Philosophie der Zeit; ferner deutete sich die Tendenz an, die Religion zur Privatsache zu erklären, wie es ähnlich auch in Großbritannien, den Niederlanden und Preußen geschah. Die Anspielung auf den Fleiß der Raskolniki war nicht zufällig, tatsächlich schufen sie aus der Kraft ihres Glaubens heraus und befreit vom Joch der Grundherm z. T. blühende Siedlungen. Peter hätte dieses Phänomen eigentlich zum Anlaß nehmen können, allgemein über eine Bauernbefreiung nachzudenken. Die konkrete Politik des Zaren gegenüber den Altgläubigen beschränkte sich darauf, den Abtrünnigen die Rückkehr in den Schoß der Orthodoxie nicht zu verwehren. So hieß es in einem Erlaß vom 13.2.1718, bisherige Raskolniki, die Reue empfänden, dürften straffrei wieder in die Mutterkirche aufgenommen werden, was in manchen Bezirken positive Ergebnisse zeitigte. Am 27.1.1722 und am 3.4.1722 folgte auch der Synod der kulanten Haltung des Zaren, differenzierte zwischen Bösartigen und Unwissenden bei den Altgläubigen und bot letzteren an, bei Zweifeln in Glaubensfragen dürften ihre religiösen Lehrer beim Synod Auskunft einholen, ohne daß sie mit Sanktionen rechnen müßten.43\ Als Ziel der kirchlichen Hierarchie blieb zwar die Ausrottung des Raskol bestehen, doch wurde die Taktik gewechselt. Gleichzeitig gestattete der Staat den Altgläubigen nicht, höhere gesellschaftliche Positionen einzunehmen. In einem Edikt vom 4.6.1724 wurde noch einmal bestätigt, daß sie nirgendwo Vorgesetzte sein dürften und vor Gericht nicht als Zeugen gegen Rechtgläubige zugelassen waren. Die weitere Missionstätigkeit und Ausbreitung des Raskol versuchte der Synod zu verhindern, indem er am 13.10.1724 verfügte, alle handgeschriebenen Glaubensbücher und religiösen Hefte der Altgläubigen müßten bei der Kirchenverwaltung abgegeben werden. 432 Verglichen mit der früheren Politik der körperlichen Vernichtung, bedeutete diese Art von Zensur immerhin einen Fortschritt. Ähnlich wie sich Zar Peter gegenüber den Altgläubigen relativ tolerant zeigte, verhielt er sich auch zu anderen nichtorthodoxen christlichen Konfessionen. Auf die staatliche Garantie der freien Religionsausübung für ausländische Fachkräfte, wie sie sich im Werbemanifest vom April 1702 niederschlug, wurde bereits hingewiesen. Im Jahre 1711 erhielten die Lutheraner in Moskau einen eigenen Superintendenten. Auch der lutherische Glaube und die einheimische Kirchenverwaltung in den eroberten baltischen Provinzen ließ der 430 431 432

8*

Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. vrn, S. 551. PSZ V, S. 542f; PSZ VI, S. 493ff, 519f. PSZ VI, S. 342; PSZ vrr, S. 300, 355f.

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VIII. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

Zar unangetastet. Den protestantischen Kriegsgefangenen aus Schweden wurde im November 1717 gestattet, orthodoxe Frauen zu heiraten, wobei die Kinder aus diesen Ehen allerdings nur der orthodoxen Kirche angehören durften. 433 Nach protestantischem Vorbild ließ Peter die Bibel vom Altkirchenslavischen in die russische Volkssprache übersetzen, wobei er die Neufassung selbst kontrollierte. Im Januar und im September 1723 befahl der Zar die Übersetzung und Verbreitung des römisch-katholischen, lutherischen und calvinistischen Katechismus "zur Kenntnisnahme", vermutlich um so den geistigen Horizont seiner Untertanen im Sinne der Aufklärung zu erweitern. Im Februar 1723 veranlaßte er sogar, ein Buch Apollodors von Athen über den heidnischen Glauben der Antike ins Russische zu übertragen. 434 Mit diesen Maßnahmen zeigte sich der Zar anderen Konfessionen gegenüber weit aufgeschlossener, als die offizielle russische Kirche es war, die in der Regel jegliche Konkurrenz abzuwenden versuchte und dabei selbst erstarrte. Den Anhängern nichtorthodoxer Konfessionen in Rußland gegen Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts war also ein eher unauffälliges Leben nach den eigenen religiösen Überzeugungen gestattet. Sofern Ausländer jedoch zu aktiver Missionstätigkeit überwechselten, war die Toleranzgrenze des russischen Staates erreicht. Entsprechend wurde auf eine Anzeige der lutherischen Gemeinde hin der Freidenker Quirinus Kuhlmann am 29.10.1689 in Moskau öffentlich verbrannt, weil er intensiv für eine Union aller christlichen Konfessionen geworben hatte. Ähnlich wies man im Herbst 1689 sowie im Frühj ahr 1719 Vertreter der Jesuiten aus Rußland aus, nachdem sie durch aggressive Predigten eine gewisse Anhängerschaft unter den Einheimischen gewonnen hatten. 435 Eine Glaubenskonkurrenz, die sich auf Kosten der Eigenbestände der russisch-orthodoxen Kirche ausbreitete, duldete Zar Peter I. also nicht. Statt dessen vertrat er die Politik einer Bewahrung des religiösen Status quo, bei dem die Orthodoxie eindeutig das Übergewicht hatte. Viele Details aus der Religions- und Kirchenpolitik Peters 1., nämlich seine Übergriffe auf das kirchliche Vermögen, die Einmischung in das interne Klosterleben, die zwangsweise Übertragung von Aufgaben der Sozi al fürsorge, die Verfügung eines Aufnahmestops für neue Popen und Klostergeistliche, die Duldung des Raskol und die Sympathie des Zaren für den Protestantismus, waren geeignet, bei der russischen Geistlichkeit Unmut und Widerstand hervorzurufen. Schon am 17.3.1690 hatte der Patriarch Ioakirn den Zaren in einer längeren Urkunde vor dem Umgang mit "ausländischen Häretikern" gewarnt, zu denen der Patriarch Katholiken, Lutheraner und Calvinisten rechnete. Diesen Feinden der Orthodoxie dürfe man in Rußland keine Diskussionen über Glaubensfragen und keine eigenen Kirchenbauten gestatten. Durch das Eindringen fremder Sitten werde die Einheit des Russischen Reiches gefährdet. PSZ V, S. 520f; Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 177. Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 483f; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akti" S. 122, 126f, 142f. 35 PSZ III, S. 39,46; PSZ V, S. 694. 433

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VIn. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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Unnötige teure ausländische Kleidung und importierte Getränke würden die russische Bevölkerung ann machen. Fremdländische Offiziere im Heer seien ein Sicherheitsrisiko. Der Zar solle der einheimischen Bevölkerung ein Vorbild an gottesfürchtigem Leben sein und maßhalten, statt sich mit den "verfluchten fremdgläubigen Ketzern", den "Feinden des Christentums" einzulassen. 436 Diese starken Worte knüpften an die Tradition des Beschwerderechtes (pravo pecalovanija) an, mit dem die russischen Metropoliten und besonders die Patriarchen schon bei früheren Zaren fast als Gleichrangige oder sogar als Belehrende vorstellig geworden waren. 437 Ioakims Nachfolger, der Patriarch Adrian, kritisierte hart Peters Gebot des Bartscherens, indem er sagte: "Unser Erlöser Christus selbst trug einen Bart" und die Beseitigung dieses gottgewollten Attributs des Mannes als Todsünde einstufte. Außerdem rügte er den Zaren, als dieser seine erste Frau Evdokija Fedorovna Lopuchina ins Kloster sperren ließ, um sie loszuwerden, obwohl Evdokija sich nichts Vorwerfbares hatte zuschulden kommen lassen. 438 Im Jahre 1697 wandte sich auch ein niedrigerer Vertreter der Geistlichkeit, der Mönch Avraarnij aus einem der Moskauer Klöster, voller Sorge mit einer Denkschrift an den Zaren. Avraarnij erklärte die "unnötigen Scherze" Peters, vermutlich eine Anspielung auf die Exzesse der Saufsynode mit ihrer Verhöhnung klerikaler Würdenträger, für "Gott nicht wohlgefällig" und verlangte von Peter, er solle "selbst seinem hohen Rang entsprechend ordentlich leben", für ein "gerechtes Gericht" sorgen und die Steuern der Untertanen "vernünftig ausgeben". Erst in zweiter Linie mahnte der Mönch dann eine geistliche Fürsorge des Zaren an, indem er besser rebildete Popen, neue Kirchenbauten und volltönenden Kirchengesang erbat. 43 Da Avraamij sein Gesuch an den Zaren insgesamt wohlwollend formulierte, kam er mit der Versetzung in ein anderes Kloster als milder Strafe davon. Peter aber dürfte wesentlich gerade durch dieses Ereignis dazu motiviert worden sein, den Mönchen das Schreiben in den eigenen Zellen zu verbieten. Opposition von seiten der Geistlichkeit erfuhr der Zar ferner beim Prozeß gegen seinen Sohn Aleksej im Jahre 1718. Die russischen Bischöfe, die sich vom Thronfolger eine Rückkehr zu konservativen Positionen erhofften, versuchten, Peter zur Milde zu bewegen, indem sie diplomatisch äußerten, der Zarevic habe zwar große Verbrechen begangen, doch stehe es dem Vater frei, ihn analog zu Vorbildern aus der Bibel zu begnadigen. Während des Prozesses kam als Skandal ans Licht, daß Aleksej gebeichtet hatte, er wünsche seinem Vater den Tod, worauf die Antwort des Beichtvaters lautete: "Gott vergebe es dir, wir wünschen es alle." Diese Entgegnung mußte der Zar als schweren Af436 Ustrjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago. Bd. 11, SPb 1858, Beilage IX, S.471ff. 437 Srnolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 14. 438 Ustrjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago. Bd. In, SPb 1858, S.193 (Zitate); Srnolitsch, Geschichte der russischenKirche, S. 14. 439 M. Ja. Volkov, Monach Avraamij i ego "Poslanie Petru 1", in: Pavlenko (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I, S. 312, 332, 334.

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Vill. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

front auffassen, weil aus ihr ein allgemeiner Haß des Klerus hervortrat. Dem Beichtvater Aleksejs wurde als Verschwörer der Kopf abgehackt. Gleiches geschah mit dem Beichtvater Evdokijas, der auch belastet wurde, und der Bischof Dosifej aus Rostov wurde für sein oppositionelles Verhalten sogar gevierteilt. 440 Mit diesen harten Strafen wollte der Zar vermutlich weitere Gegner aus kirchlichen Kreisen abschrecken, d. h. er zeigte sich kompromißlos bei der Verfolgung seines politischen Kurses und bei der Verteidigung seiner Macht. Auch manche einfachen Priester leisteten auf ihre Art Widerstand gegen Peters Politik, indem sie dem Volk "weinende Ikonen" vorführten, die angeblich über den Sittenverfall in Rußland trauerten. In Wirklichkeit war ein Mechanismus mit Wasser hinter den Ikonen versteckt, und der Zar beeilte sich, dies aufzudecken. 44 ! Derartige Vorfälle belegten noch einmal den Aberglauben im Volk. Der Bischof Stepan Javorskij, der nach dem Tode des Patriarchen Adrian im Jahre 1700 von Peter als Patriarchatsverweser eingesetzt worden war, erwies sich auch nicht als zuverlässig im Sinne des Zaren, denn mit der Kampfschrift "Stein des Glaubens" bezog Javorskij eine unversöhnliche Gegenposition gegen den Protestantismus. Luther war wegen der von ibm vertretenen Rechtfertigungslehre "sola fide" in den Augen Javorskijs "ein dreifach verfluchter Ketzer, ein mit höllischem Gift erfüllter Wurm, ein garstiger gottverhaßter Verführer, ein wahrheitshassender Ketzer, eine taube Natter", vielleicht weil mit der Erlösung allein aus dem Glauben die kirchliche Hierarchie entbehrlicher wurde. Für einige Zeit verbot der Zar diesem Bischof das Predigen, nachdem Javorskij den Zarevic als "unsere einzige Hoffnung" bezeichnet hatte. 442 Selbst noch nach Peters Tod verfolgte den Monarchen die harte Ablehnung durch den etablierten Klerus. Als am 16.4.1725 im Synod über ein Requiem zu Ehren des verstorbenen Zaren beraten wurde, platzte der Vizepräsident dieses Gremiums, Feodosij Janovskij, damit heraus, es sei "Tyrannei", wenn weltliche Autoritäten glaubten, sie könnten beim höchsten geistlichen Rat Gebete einfach bestellen. Diese Haltung dürfte symptomatisch für das gewesen sein, was viele andere kirchliche Würdenträger vorsichtshalber nur dachten, ohne es zu äußern. Janovskij verlor infolge dieser Insubordination sein Amt und wurde für den Rest seines Lebens verbannt. 443 Insgesamt zeigte sich in Peters Politik gegenüber Religion und Kirche eine Dominanz der weltlichen Belange gegenüber den geistlichen Bedürfnissen. Von Gleichberechtigung konnte keine Rede sein. Deutlich trat diese Tendenz der Säkularisierung auch bei der Umstrukturierung der Kirchenverwaltung zutage. die etwas später im Zusammenhang der staatlichen Machtmittel des russischen Absolutismus unter dem Stichwort "Staatskirchentum" abgehandelt werden wird. Die Widerstände gegen den Zaren aus den Reihen des Klerus 440 441 442

443

Weber. Das veränderte Rußland, Bd. 11, S. 292f, 294. Smimov. Cerkov' v istorii Rossii, S. 170ff. Benz. Die Ostkirche, S. 123f; Massie, Peter der Große. S. 673. Cracraft. The Church Reform, S. 168f.

VIll. Gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit

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waren stärker als die Opposition im Adel, weil die Kirche als Institution einen eigenen Machtkörper darstellte, während eine schlagkräftige korporative Organisation des Adels in Rußland fehlte. Allerdings äußerte sich auch die Mißstimmung innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche zur Zeit Peters I. niemals in einer so intensiven Weise, daß sie die weltliche Herrschaft ernsthaft hätte bedrohen können. Festzuhalten bliebe noch, daß Zar Peter auch die zweite privilegierte Schicht im Russischen Reich nicht für sich und seine Politik gewann, da er ihr kompromißlos materielle Opfer und Anderungen in der Lebensweise abverlangte. Als tragendes ideologisches Motiv des Herrschers fungierte dabei die Uberzeugung, daß sämtliche Teile der Gesellschaft dem Staat zu dienen hätten. Die quantitative Reduktion des Weltgeistlichkeit und der Klosterbewohner durch den Zaren sowie die Ubertragung von Wohlfahrtsaufgaben an die Kirche zeigten deutlich, daß ihn der aktuell geleistete Beitrag dieser sozialen Gruppen zum Staatsganzen nicht zufriedengestellt hatte. Die Indienstnahme der Klostervermögen für weltliche Zwecke, ihre Nutzung als staatliche Reservekasse, war bereits im Zuge der Reformation in Westeuropa vorexerziert worden, hier bedurfte es keines originellen Einfalls. Anders als bei seinem Vater, dem Zaren Aleksej Michajlovic, war die Beziehung zwischen Peter I. und dem russisch-orthodoxen Klerus spannungsgeladen. Deshalb erscheint es aus der Perspektive der Kirchenoberen verständlich, daß sie sich nach den früheren Verhältnissen zurücksehnten und partiell versuchten, den Zarevic in ihre Richtung zu lenken.

IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums Während die Stadtbevölkerung in Westeuropa um 1700 zehn bis zwanzig Prozent der Gesamteinwohner ausmachte, belief sich ihr Anteil in Rußland bei der Volkszählung von 1719 nur auf gut drei Prozent oder in absoluten Ziffern 460 000 Personen. 444 Gleichwohl stieg auch in Rußland die Zahl der Städte von 173 im Jahre 1678 auf 330 gegen Ende von Zar Peters Regierungszeit und folgte damit einem gesamteuropäischen Wachstumstrend. Allerdings war er Ausdruck "Stadt" in Rußland um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ein relativer Begriff, eine Befestigungsanlage reichte bereits als Qualifikation in dieser Richtung aus. Noch im Jahre 1678 zählte ein Drittel der russischen Städte unter 1 000 männliche Einwohner, ein weiteres Drittel wies zwischen I 000 und 2 000 männliche Bewohner auf, nur das oberste Drittel lag darüber. Die größte russische Stadt war Moskau mit circa 14 000 ständig dort lebenden Menschen,445 wohingegen zeitgleich Paris und London schon auf je 400 000 Personen angewachsen waren, Neapel 280 000 Einwohner und Wien, Lissabon und Sevilla je rund 100 000 Bewohner aufwiesen. 446 Die Schwäche des russischen Städtewesens hatte eine Reihe von Ursachen. Zur Zeit des Mongolensturms wurden viele urbane Einrichtungen zerstört, die Bevölkerung niedergemacht und vorhandene Reichtümer geplündert. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft Ivans m. verloren die wichtigen Handelszentren Novgorod und Pskov ihre Selbstorganisation in Form von Stadtrat und Bürgerversammlung (vece). Später bewirkte der Terror unter I van IV. bewirkte einen Verlust an Wirtschaftskraft, denn viele Kaufleute wagten nicht mehr, persönlichen Wohlstand aufzubauen, weil sie dann desto mehr um ihr Leben fürchten mußten. Über Jahrhunderte hinweg behinderte der Staat Handelsreisen und Kreditwesen, und auch die Schollenbindung der Bauern gestattete keinen großen Zuwachs in den Städten.447 Da die russischen Städte im Unterschied zu den Verhältnissen in Westeuropa keine gesonderten Rechtsbezirke bildeten und entflohene Leibeigene in ihnen nicht nach Jahr 444 Mieck, Frühe Neuzeit, S. 148; Vodarskij, Naselenie Rossii, S. 134. 445 J. M. Hittle, The Service City. State and Townsmen in Russia, 1600 - 1800. Cambridge / Mass. 1979, S. 32; Dukes, The Making of Russian Absolutism, S. 78f. 446 Mieck, Frühe Neuzeit, S. 146; R. Mousnier, La stratification sociale a Paris aux XVIIe et XVIIIe siecles. Paris 1976, S. 13; O. Ranum, Paris in the Age of Absolutism. Bloomington / London 1979, S. 293. 447 S. H. Baron, The Weber Thesis and the Failure of Capitalist Development in "Early Modem" Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 18. Berlin 1970, S. 326f; W. Leitsch, Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Tragfähigkeit Rußlands vor den petrinischen Reformen, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 38. Berlin 1986, S. 347f.

IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

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und Tag frei wurden. ergab sich für die Landbevölkerung von vornherein ein viel geringerer Anreiz zum Ortswechsel in ein urbanes Zentrum. Infolge der weiten Entfernungen zwischen den Siedlungen. aber auch wegen der allgemeinen Armut dominierte die Selbstversorgung breiter Bevölkerungsschichten und behinderte die wirtschaftliche Spezialisierung sowie die Entfaltung des ökonomischen Austauschs. so daß die Entwicklung des Städtewesens auch von daher gehemmt wurde. Viele russische Städte entstanden entlang der Flüsse Dnepr. Donec. Oka und W olga als den damaligen Hauptverkehrsadern. Von der Funktion her gesehen gab es militärisch-administrative städtische Stützpunkte. die besonders im Süden des Landes lagen und zur Verteidigung gegen die Krimtataren. Kalmücken und Nogaier errichtet wurden. während in der Mitte und im Norden des Territoriums wirtschaftlich-administrative Zentren vorherrschten. 448 Vom äußeren Erscheinungsbild her war es üblich. daß die städtischen Siedlungen in konzentrischen Kreisen um eine Burg herum wuchsen. In der Festung selbst lebten überwiegend Dienstleute und Geistliche. während sich in den sogenannten Vorstädten (posady) Handwerker und Händler konzentrierten. Oft besaßen deren Farnilien noch einen Garten und ein Stück Feld, um durch Eigenanbau ihre Ausgaben zu reduzieren. Zur Zeit Peters I. waren die Stadthäuser in der Regel noch aus Holz gebaut. Wegen zahlreicher Brandschäden schrieb der Zar mehrfach vor. zumindest in Moskau Gebäude aus Stein zu errichten. 449 Die Abfallbeseitigung gelang besonders in den größeren Städten schlecht. so daß der Staat den Verschrnutzern Geldstrafen androhte. 450 Zahlreiche kleinere Städte Rußlands unterschieden sich äußerlich nur wenig von den ärmlichen Dörfern ihrer Umgebung. 451 Im Vergleich zu diesem mageren Befund mußten die reichen urbanen Siedlungen etwa der Niederlande dem Zaren Peter I. geradezu als Offenbarung erscheinen. Die Bevölkerung jeder russischen Stadt wurde in einem speziellen Einwohnerbuch (gorodskaja obyvatel'skaja kniga) registriert. Als Sarnmelbezeichnungen waren die Begriffe "graidane" oder "mescane" = Bürger. Kleinbürger üblich. wobei der zweite Ausdruck aus dem Polnisch-Litauischen entlehnt war. Ähnlich wurde ja auch der Oberbegriff für den Adel. slachetstvo, vom westlichen Nachbarland übernommen. Seiner Rechtsstellung nach war das russische Bürgertum ursprünglich persönlich frei und mobil gewesen. Man konnte es mit den Schwarzen Bauern (cernye ljudi) vergleichen. die als freie Leute Staatsland bewirtschafteten und dafür Abgaben zahlten. Erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde der einzelne Stadtbewohner durch das Ulozenie von 1649 in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und juristisch auf den Ort fixiert, wo er als Steuerzahler eingetragen war. Analog zu den Hittle, The Service City, S. 21, 23f, 26. PSZ IV, S. 131. 484, 846. 450 PSZ III, S. 613. 451 M. Hildermeier, Was war das mescanstvo? Zur rechtlichen und sozialen Verfassung des unteren städtischen Standes in Rußland. in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 36. Berlin 1985, S. 15. 448 449

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IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

Dötfem galt auch in den russischen Städten das Prinzip der steuerlichen Samthaftung, das den staatlichen Verwaltungsaufwand gering hielt und die Gemeinden unter Zugzwang setzte. 452 Im einzelnen umfaßten die Verpflichtungen der städtischen Bevölkerung gegenüber dem Staat Geldsteuem, Zoll zahlungen, Fuhrdienste, Hilfen beim Wege-, Brücken- und Befestigungsbau sowie in unregelmäßigen Abständen zusätzliche Kontributionen. Der Oberbegriff dazu lautete "tjaglo" = Joch, woraus latent eine ablehnende Haltung der Betroffenen gegenüber den geforderten hohen Belastungen deutlich wird. 4s3 Was die soziale Gliederung innerhalb der russischen Städte betraf, so standen an oberster Stelle die reichen Fernhandelskaufleute, die "gosti". Sie trieben für den Staat in Form von Pachtverträgen mit persönlicher Haftung Zölle und Schenkensteuem ein, betätigten sich im lukrativen Pelzhandel sowie in weiteren ertragreichen Großhandelssparten, teilweise wickelten sie im Namen des Zaren Geschäfte mit ausländischen Kompagnien ab. Sie unterstanden direkt dem Gericht des Monarchen, nicht dem der Voevoden. Von Körperstrafen waren sie befreit. Ihre Privilegien wurden ihnen in Urkunden bestätigt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war diese Oberschicht in der Hundertschaft der Fernhandelskaufleute (gostinnaja sotnja) nationsumspannend organisiert, wobei nur etwa achtzig Farnilien zu diesem exklusiven Kreis gehörten. 454 Die reichste russische Großkaufrnannsfarnilie zur Zeit Peters I. waren die Stroganovs. Im April 1700 verlieh der Zar an Grigorij Dmitrievic Stroganov das Privileg, pro Jahr in ganz Rußland 100 000 Pud Salz zollfrei zu verkaufen; Abgaben wurden erst für das Quantum verlangt, das über dieser Menge lag. Am 6.2.1717 wurde die gesamte Stroganovfarnilie von den staatlichen Stempelsteuern befreit, die normalerweise bei der Registrierung von Waren anfielen. Am 28.5.1723 schließlich erhielten die Stroganovs die Erlaubnis, in Westsibirien Kupferbergwerke zu betreiben, wobei sie zur Versorgung mit Arbeitskräften Dörfer aus Staatsbesitz erwerben dutften und zusätzlich bis zu hundert eingefangene Deserteure für die Beschäftigung im Bergwerk erhalten sollten. 455 Als Gegenleistung für diese Bevorzugungen revanchierten sich die Stroganovs bei der Obrigkeit, indem sie z. B. im Januar 1722 für die Siegesparade in Moskau anläßlich der Feier des Friedens von Nystadt mehrere prächtige Triumphbögen stifteten und die ganze Hofgesellschaft zur Bewirtung in ein eigens zu diesem Zweck neu erbautes Haus einluden. 456 Von der Symbiose zwischen Macht und Geld profitierten also beide Seiten, dadurch hielt ihre Zusammenarbeit lange an. Den zweithöchsten Rang innerhalb der Stadtbevölkerung nahmen die Handeisleute aus der Tuch-Hundertschaft (sukonnaja sotnja) ein. Sie waren eben452 453

Ebd S 18

psz·iv: S. ·397; Filippov, Istorija russkago prava, S. 430f, 432.

454 Filippov, Istorija russkago prava, S. 433f; V1adimirskij-Budanov. Istorija russkagofrava, S. 234. 45 PSZ IV, S. 22; PSZ V, S. 488; Sofrenko. Pamjatniki russkogo prava, S. 254. 456 Lebedev, Reformy Petra I, S. 345.

IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

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falls mit Steuereintreibungen für den Staat beschäftigt, erlangten jedoch nicht denselben Reichtum und Einfluß wie die gosti. Infolge der aufwendigen Tätigkeit für das staatliche Finanz- und Abgabewesen befanden sich zur Zeit Peters I. zwischen einem Fünftel und drei Fünfteln der erwachsenen männlichen Bevölkerung aus der Kaufmannschaft ständig auf Reisen außerhalb ihres eigentlichen Wohnsitzes, um Geld- und Naturalsteuern sowie Zölle einzutreiben, um die Qualität der Naturalabgaben zu überwachen und schlechte Ware auszusondern, um Brückengelder zu erheben, um den Erlös aus staatlich betriebenen Bädern zu kassieren, um den Verkauf von Salz und Rhabarber für den Staat zu organisieren etc. Kaufleute wickelten auch den Staatsanteil am russischen Export ab, der zwischen 1700 und 1725 etwa zehn bis zwölf Prozent des Gesamtvolumens im Außenhandel betrug. 457 Wegen all dieser für den Fiskus unentbehrlichen Arbeiten genoß die Kaufmannschaft das Privileg, vom Dienst in der Annee befreit zu sein; ersatzweise zahlte sie pro Mann und Jahr einhundert Rubel. Seit dem 20.6.1711 hatten alle Vertreter der Kaufmannschaft das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden direkt an den Senat zu wenden. Diese Möglichkeit eines unmittelbaren Drahtes zur Zentralverwaltung belegte einmal mehr, daß die Staatsspitze glaubte, auf die Kaufleute angewiesen zu sein, um eine fmanzielle Blüte im Lande zu erzielen. 458 Unter den beiden zahlenmäßig geringen Oberklassen aus der gehobenen Kaufmannschaft rangierte die breite Masse der städtischen Handwerker und Kleinhändler, die es zu keinem besonderen Wohlstand brachten. Diese Schicht wurde unter der Bezeichnung ,jüngere Bürger" (molodsie) zusammengefaßt, wobei ,jung" nur eine Abstufung im Sozialprestige und keine AItersangabe bedeutete, ähnlich wie bei dem Namen "Bojarenkinder" für die niedere Stufe des Adels. In solchen Ausdrücken deuteten sich patriarchalische Denkmotive an. Die ärmste städtische Unterschicht der Tagelöhner, Bettler und Invaliden galt nicht als zur Bürgerschaft gehörig. 459 Daraus erhellt, daß "Bürger" bereits eine Art Ehrentitel darstellte. Im Unterschied zu Westeuropa existierte für die einzelnen sozialen Schichten der russischeu Stadt keine feste Kleiderordnung. Infolgedessen gaben manche Leute für ihr Äußeres mehr Geld aus, als ihnen eigentlich zur Verfügung stand, wie Pososkov bedauernd feststellte. 460 Zwar schrieb der Zar allen Bürgern und Adligen im Jahre 1701 vor, deutsche Kleidung und Schuhe zu tragen und Sättel deutscher Machart zu benutzen, doch galt das schichtenübergreifend. An den Stadttoren wurden von Zuwiderhandelnden Strafgelder erhoben, von Reitern eine höhere Summe als von Fußgängern. 461 Im Edikt des Monarchen fehlte entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit eine Begründung für die neue vom Staat vorgeschriebene Mode; vermutlich sollte der Er457 N. I. Pavlenko, Torgovo-promyslennaja politika pravitel'stva Rossii v pervoj cetverti XVIII veka, in: Istorija SSSR 311978, S. 53, 59. 458 PSZ IV, S. 702; PSZ vrr, S. 340. 459 Filippov, Istorija russkago prava, S. 434f. 460 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 128ff. 461 PSZ IV, S. 182.

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IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

satz der weiten und langen einheimischen Gewänder durch die kürzere und körpernahe westeuropäische Tracht die Arbeitsfähigkeit der Russen erhöhen. Auf die Bauern bezogen war eine solche Umstellung nicht erforderlich, weil sie ohnehin kurze Kittel trugen. Das Wirtschaftsgebaren der russischen Kaufleute und Handwerker wies einige Besonderheiten auf. Gemäß einem Erlaß des Zaren vom 2.3.1711 war ,jedem Rang das Handeln erlaubt", so daß die hauptberufliche Kaufmannschaft Konkurrenz erhielt. 462 Gilden und Zünfte, die Peter gegen Ende seiner Regierungszeit dem Namen nach aus Westeuropa entlehnte, stellten kein exklusives vererbbares Recht dar und verliehen keine günstigere Position auf dem Markt. 463 Dort kämpfte jeder mit jedem, auch mit unlauteren Mitteln. Der Zeitzeuge Pososkov beklagte, die russischen Kaufleute würden sich untereinander sowie ihre Kunden betrügen, indem sie ungerechte Preise forderten und schlechte Ware mit guter verdeckten. Generelle Qualitäts- und Preiskontrollen durch den Staat oder die Zünfte fehlten. Bei Maßen und Gewichten wurde seitens der Verkäufer häufig gemogelt. Ein Edikt vom Mai 1700 bestimmte dazu, wenn sich Soldaten über die Unehrlichkeit von Kaufleuten beschwerten, sollten die Gerichte dies nicht behandeln; damit trat exemplarisch die Rechtlosigkeit des einfachen Kunden zutage. 464 Auch Adlige, Bauern, Offiziere und Soldaten handelten schwarz nebenbei, ohne die üblichen, von den hauptberuflichen Kaufleuten zu zahlenden Zölle und Steuern zu entrichten, so daß dem Staat Einnahmen verlorengingen. Die handwerklichen Produkte waren oft von geringer Qualität. Ein Teil der Lehrlinge beendete die vereinbarte Lehrzeit gar nicht erst, sondern verließ den Ausbilder früher, stellte selbst minderwertige Waren her und verkaufte sie in Konkurrenz billiger, so daß die Standards der Produktion eher sanken als stiegen. Gegenseitige Hilfeleistungen innerhalb der Zünfte waren nicht üblich. Pososkov, der selbst als Kaufmann arbeitete, wünschte sich vom Staat, daß die Magistrate jeden, der mindestens einhundert Rubel Vermögen vorwies, als Kaufmann zulassen sollten, jedoch verlangte der Autor dabei eine ausschließliche Betätigung im Handel, d. h. Kaufmann sollte ein geschützter Beruf ohne Konkurrenz durch Schwarzhändler werden. Daneben schlug Pososkov die Einrichtung eines staatlichen Kreditwesens vor. 465 Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß die kaufmännische Betätigung in Rußland um die Wende vom l7. zum 18. Jahrhundert noch weitgehend naturwüchsig mit geringem staatlichem Reglement abgewickelt wurde. Auch die Gilden und Zünfte wirkten kaum als Ordnungsfaktor, da es ihnen an entsprechenden Kompetenzen fehlte. In der russischen Stadtwirtschaft spielten auch Ausländer eine Rolle. Kaufleute aus Westeuropa mußten in die Bürgerlisten aufgenommen werden, nachdem sie den Treueid auf den Zaren geleistet hatten. 466 Im März 1698 462 463

464 465 466

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 36; ähnlich PSZ IV, S. 743. Hitt1e, The Service City, S. 87. PSZ IV, S. 24. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 17, 117f, 138. Lebedev, Reformy Petra I, S. 191.

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wurden Femhändlern aus England, Holland und Deutschland ihre Privilegien bestätigt, die in einer ungehinderten Betätigung im ganzen Russischen Reich bestanden sowie darin, daß sie in Rechtsangelegenheiten direkt der zentralen Diplomatenbehörde unterstellt waren. Außerdem verpflichtete sich der russische Staat, ihnen Wachen zu stellen, damit ihre Waren nicht gestohlen wurden. Am 2.3.1710 und am 11.3.1710 erhielten zwei griechische Kaufleute ähnliche Freihandelsprivilegien für ganz Rußland. 467 Der Zar ließ allein schon in Arnsterdam im Jahre 1698 rund eintausend ausländische Meister und Gesellen anwerben und versuchte dies über Agenten auch in anderen Ländern. Umgekehrt schickte er junge Russen, Söhne wohlhabender Kaufleute oder Adliger, nach Westeuropa, damit sie sich in den dortigen Handelspraktiken weiterbildeten bzw. sich in Produktionszweigen wie Seidenherstellung, Schiffsund Schleusenbau oder an~ruchsvoller Architektur unterweisen ließen, die in Rußland defizitär waren. 4 Pososkov klagte darüber, daß von Ausländern vertriebene Waren wie Kupfer, Blei, Schreibpapier, Fensterglas, Luxusstoffe und Spirituosen unverhältnismäßig teuer seien und im Preis schneller stiegen als einheimische Produkte. Zur Abhilfe sprach er sich für einen Boykott dieser Waren aus, bis die westeuropäischen Kaufleute ihre Hartnäckigkeit und ihren Stolz aufgeben und die Preise senken würden. Außerdem empfahl er, die einheimische Produktion zu erhöhen und den Ausländern von Seiten der russischen Kaufleute als Kompagnie entgegenzutreten, um die Preise en gros auszuhandeln und zu drücken. Am Ende äußerte Pososkov die Überzeugung, die russische Wirtschaft könne diejenige anderer Länder überflügeln, sofern man sie nur auf eine solide gesetzliche Grundlage stelle: "Die Ausländer sind Menschen wie wir, sie haben eine feste bürgerliche Satzung und sind gute Handwerker; wenn aber bei uns die bürgerliche Satzung fest geordnet sein wird, dann können unsere Handwerker sie auch übertreffen. ,,469 Eine ähnliche Hoffnung auf eine zukünftige Vorrangstellung Rußlands hatte der Zar für das Staatswesen insgesamt vorgetragen. Dies waren gewissermaßen säkularisierte Heilserwartungen, späte Ausläufer der Denktradition von Moskau als drittem Rom. Die Praxis blieb weit hinter dieser Theorie zurück. Die Eingriffe Peters I. in das russische Städtewesen waren nicht sehr zahlreich. Sie zielten vor allem auf die Sicherung des städtischen Steueraufkommens, das mit etwa einem Fünftel der Staatseinnahmen weit überproportional zum Gesamtetat beitrug. 470 Vermutlich hätten die Städte mehr Wohlstand aufbauen und eine höhere Attraktivität entwickeln können, wenn sie vom Fiskus weniger geschröpft worden wären; doch diesen Weg beschritt der Zar nicht, aus Geldmangel in den öffentlichen Kassen. Durch eine Verwaltungsreform vom 30.1.1699 entzog er den Zentralbehörden und den Voevoden die Steuereintreibung in den urbanen Zentren, da aufgrund bisheriger Mißwirtschaft und Unterschlagungen einerseits die Bevölkerung zu stark belastet worden war und andererseits der Staat finanzielle Einbußen erfahren hatte. 467 468 469 470

PSZ m, S. 434ff; PSZ IV, S. 478f. Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 128, 136, 242, 245. Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 120, 122, 124f, 143 (Zitat). Pokrovskij, Russkaja istorija, S. 571.

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IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

Statt dessen sollten nun alle Kaufleute und Handwerker vor Ort jedes Jahr ihre Steuereintreiber selbst wählen, ohne daß deren Anzahl genau festgelegt wurde. Für Moskau hieß das neue Gremium "Bürgermeisterkammer" (burmisterskaja palata) und wurde bald in "Rathaus" umbenannt; in den übrigen Städten übernahmen sogenannte "Landeshütten" (zemskie izby) analoge Funktionen. Im einzelnen sollten die neu geschaffenen Organe Bittschriften aus der Bevölkerung entgegennehmen sowie die Zölle, Schenkeneinnahmen und sonstigen anfallenden Steuern in der Höhe, wie sie der Staat vorschrieb, eintreiben, darüber genau Buch führen und das Geld jeweils im September an die Zentrale abführen. Für Mindereinnahmen mußten laut Edikt diejenigen aufkommen, weIche die Bürgermeister gewählt hatten, und zwar in doppelter Höhe des Fehlbetrages. Auf diese Weise wurde die Motivation der Wähler gering gehalten; aus der durchschnittlichen Stadtbevölkerung nahm längst nichtjeder Bürger an den Wahlen teil, sondern überließ das Feld den Reicheren. 47 Im November 1699 erhielten die Rathäuser ein eigenes Siegel als Zeichen ihrer hoheitlichen Befugnisse; in Deutschland war das schon seit dem 12. Jahrhundert üblich gewesen. 472 Auch nach der Reform von 1699 traten weiterhin Korruptionsfälle bei der Steuereintreibung auf. So wurde Ende 1699 ein Prozeß gegen Stadtbewohner angestrengt, die sich für die Wahl bestimmter Personen zu Zolleintreibern und Schenkenbeaufsichtigern hatten Bestechungsgelder zahlen lassen; die Schuldigen wurden ausgepeitscht und verbannt. Am 30.9.1700 erneuerte der Zar den Erlaß, daß bei Steuerschulden die Wähler der Rathausverwaltung zur Kasse gebeten werden sollten. Kurz darauf wurden einige Bürgermeister zu Geldzahlungen verurteilt, weil sie Zollbescheinigungen unterschrieben hatten, ohne daß der Zoll vorher entrichtet worden war. Die Angeklagten entschuldigten sich mit ihrer Unbildung ("gramote ne umejut,,).473 Tatsächlich bedeutete es ein großes Problem, wenn die Inhaber von Verwaltungsposten nicht alle lesen und schreiben konnten. Ab dem 9.2.1705 stellte der Staat den Rathäusern besondere Inspektoren zur Seite, weIche die Einnahmen und Ausgaben kontrollieren und Unterschlagungen verhindern sollten. Anfang Januar 1706 erfolgte eine Ausweitung der Selbstverwaltung, indem das städtische Urkundenwesen von den Voevoden auf die Rathäuser übertragen wurde. Ein Edikt vom 18.12.1706 sah vor, die Haushaltsführung der Stadtverwaltungen durch gewählte Vertreter aus verschiedenen sozialen Schichten überwachen zu lassen. 474 Nach diesen Ansätzen zu einer eigenverantwortlichen Tätigkeit brachte dann die Provinzreform von 1708 bis 1710 einen Rückschlag, denn die Rechtsprechung der Gouverneure und ihre Kompetenzen bei der Steuereintreibung erstreckten sich auch auf die Städte. Mit dem Statut für das Kommerzkollegium, das auf gesamtstaatlicher Ebene die Einkünfte verwaltete, wurde im Jahre 1719 zusätzlich noch ein Zentralorgan in die städtischen 471

PSZ III, S. 598ff; Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 15l.

472 PSZ III, S.670; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte. Karlsruhe 1962, 2.

Aufl., Bd. I, S. 332. 473 PSZ IlI, S. 671; PSZ IV, S. 75f, 80f. 474 PSZ IV, S. 287. 335, 358.

IX. Gesellschaftliche Stellung des Bürgertums

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Belange eingeschaltet, insofern als das Kommerzkollegiwn die städtische Wirtschaft und Polizei beaufsichtigte.475 Aus diesem Kompetenzwirrwarr sollte eine erneute Refonn, das "Reglement für den Hauptmagistrat" vom 16.1.1721, heraushelfen. Es stellte Peters abschließenden Beitrag zur Städterefonn dar und verstärkte den Einsatz staatlicher Machtmittel. Dem Kapitän der Leibgarde Fürst Jurij Jur'evic Trubeckoj und dem Hauptmagistrat, dem er vorstand, wurde von Petersburg aus die Oberaufsicht über sämtliche Stadtverwaltungen übertragen. Insbesondere sollte für die Einrichtung gut funktionierender Rathäuser, für ein gerechtes Gericht, für eine schlagkräftige Polizei sowie für die Förderung von Manufakturen und Handel gesorgt werden. Erstmals war eine schriftliche Bestandsaufnahme aller russischen Städte nach Lage, Größe, Wirtschaftskraft, vorherrschenden Produktionszweigen und Bekenntnisstand geplant. "Um die allrussisehe Kaufmannschaft wie eine verstreute Herde zu sammeln", sollten alle Handel und Handwerk Treibenden, die inzwischen in der Bauernschaft oder als Pfandleiher untergetaucht waren, wn sich der Besteuerung zu entziehen, wieder an ihrem früheren städtischen Wohnort als Steuerzahler registriert und abkassiert werden. Die neue Magistratsverfassung stand zunächst nur in Petersburg zur Erprobung an und wurde erst in einem zweiten Schritt auf die anderen Städte übertragen, damit man nicht die Kontrolle über die Ausführung verlor. Im Unterschied zur Regelung von 1699 wurde die städtische Obrigkeit - ein Präsident sowie je nach Einwohnerzahl variierend ein bis vier Bürgermeister plus zwei Ratsherren pro Bürgenneister - nicht mehr von breiteren Schichten der Stadtbevölkerung gewählt, sondern unter der Aufsicht des Gouverneurs oder Voevoden nur von der städtischen Oberschicht aus deren eigenen Reihen ausgesucht sowie anschließend vom Hauptmagistrat bestätigt und instruiert. Diese Stadtverwaltung hatte gemäß offizieller Verlautbarung "zwn eigenen Nutzen der Bürger" tätig zu sein, d. h. Gericht zu halten, Steuern einzutreiben, die Wirtschaft zu fördern, Schulen und Krankenhäuser zu beaufsichtigen, die Einquartierung von Truppenteilen zu regeln usw. Daß hier auch der Versuch vorlag, den staatlichen Zugriff auf die Städte zu intensivieren, verschwieg der Zar; vennutlich sah er den "eigenen Nutzen der Bürger" und den Nutzen des Staates ohnehin als identisch an. Ein eigenes Kapitel in der Verordnung vom 16.1.1721 war der Polizei gewidmet. Sie wurde geradezu panegyrisch als "Seele der Bürgerschaft und aller guten Ordnungen und fundamentale Stütze der menschlichen Sicherheit und Bequemlichkeit" angepriesen, in Wahrheit diente sie auch der Gängelung der Einwohner. Ihr Aufgabenkatalog war lang: "zwn Nutzen des ganzen Volkes" sollte sie Diebstahl und Betrug eindämmen, ,jeden zu Arbeit und zu ehrlichem Handwerk zwingen", Teuerung und Krankheiten verhindern, für Sauberkeit auf den Straßen und in den Häusern sorgen, Üppigkeit in der Lebensführung verbieten, Bettler und Kranke beaufsichtigen, Witwen, Waisen und Ausländer schützen, ferner die Zuchthäuser verwalten. Unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls kam es hier zu einer stärkeren Reglementierung der Pri475

Hittle, The Service City, S. Sif.

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vatsphäre, einige Bestimmungen, wie der Zwang zur Arbeit oder die Sauberkeitskontrolle in den Häusern, konnten bei extensiver Auslegung leicht in behördliche Willkür ausarten. Die Polizeisatzungen der einzelnen Städte mußten erst vom Hauptmagistrat im Sinne einer Vereinheitlichung genehmigt werden, bevor sie in Kraft traten. Die Bürgerschaft wurde 1721 in zwei Gilden eingeteilt, wobei die erste aus Honoratioren bestand und Bankiers, Großkaufleute, Ärzte, Apotheker, Kapitäne von Handelsschiffen, Goldschmiede und Ikonenmaler vereinte, während die zweite Kleinhändler und einfache Handwerker wie Tischler, Schuster, Schneider etc. umfaßte. Tagelöhner zählten wiederum nicht zu den regulären Bürgern. Jedes Handwerk sollte eine Zunft bilden. Falls die Zunftvorsteher zu Wohlstand gelangten, kamen sie auch als Kandidaten für einen Magistratsposten in Frage; hierin lag eine gewissen Motivation zu guter Arbeit. 476 Als Vorbilder für die neue Stadtverfassun8 dienten dem Zaren partiell die Verwaltungsordnungen von Riga und Reval. 7 In kultureller Hinsicht konnte die russische Stadt unter Peter I. nur wenig bieten. Während sich das Bürgertum in Westeuropa seit der Renaissance allmählich von der Kirche emanzipiert hatte und zahlreiche Zweige der Kunst und Wissenschaft zur Blüte gebracht hatte, fehlten in Rußland Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Museen und Buchhandlungen noch weitgehend. Die Entwicklung einer russischen Theaterwelt wurde durch die orthodoxe Kirche behindert, der die Tragödien als zu heidnisch, die Komödien als zu frivol galten. Die Bildhauerei war ebenfalls als tendenziell obszön verpönt, zumindest soweit es sich um Nacktdarstellungen handelte. Für eine Portraitrnalerei mangelte es an Auftraggebern. Die Oper und die Instrumentalmusik konnten sich gleichfalls erst später entwickeln, da nach orthodoxer Meinung allein die menschliche Stimme das angemessene Mittel zum Lobpreis Gottes darstellte. 478 Tolerierte Kunstzweige waren nur solche, die der Religion sehr nahestanden, nämlich die Ikonenmalerei und der Chorgesang für Zwecke des Gottesdienstes. Wegen des niedrigen Bildungsniveaus der Bevölkerung fehlte es zudem an einer interessierten Öffentlichkeit, die das Kunst- und Kulturleben hätte fördern können. Im übrigen waren die meisten russischen Städte auch zu klein für eine entfaltete Kunstszene. In einem Punkt versuchte Zar Peter, das kulturelle Leben der russischen Städte durch Reglement von oben zu beleben. Per Edikt vom 26.11.1718 wurden nach französischem Muster Assembleen eingeführt, d. h. nachmittägliche und abendliche Treffen in Privathäusern, bei denen Adlige, reiche Kaufleute und wohlhabende Handwerksmeister samt ihren Familien zusammenkamen, um Konversation zu treiben und sich bei Getränken und Spielen auszutauschen. Die Vergnügungen durften von 16 bis 22 Uhr dauern. Es gab schriftliche Einladungen, damit nicht etwa jeder Interessierte erschien und die Exklusivität gewahrt blieb. Die wechselnden Gastgeber wurden vom Staat ausge476 477

478

PSZ VI, S. 29lff (Zitate S. 294f, 3(0). Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S.15l. Benz, Geist und Leben der Ostkirche, S. 116f, 121f.

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sucht. Das Ganze stand unter der Aufsicht der Polizei. F. C. Weber berichtete, ab 1719 hätten in Petersburg solche Assembleem dreimal wöchentlich stattgefunden. 479 Für Rußland revolutionär war an dieser Neuerung vor allem die Öffnung des gesellschaftlichen Lebens für Frauen, denn traditionell mußten sich die weiblichen Angehörigen der Oberschicht ständig zurückgezogen in separaten Räumen, dem sogenannten Terem, aufhalten und durften höchstens Gäste einmal kurz begrüßen. Diese Sitte erinnert an die Haremshaltung im Orient und war in der Epoche der Mongolenherrschaft aufgekommen. Peter I. sprengte ansatzweise die Abgeschiedenheit des Terem und leistete insofern einen wesentlichen Beitrag zur Emanzipation der russischen Frau, auch wenn dies in den Gesetzessammlungen nur wenig Raum einnahm. Während wir durch Zeitzeugen über die weit verbreitete Unzufriedenheit im russischen Adel mit der Politik Peters I. unterrichtet sind und aus den Reihen der Geistlichkeit von ihr selbst verfaßte Dokumente der Kritik vorliegen, muß die Haltung der russischen Stadtbevölkerung gegenüber dem Zaren und der von ihm verkörperten Staatsordnung zum großen Teil indirekt erschlossen werden. Aus der Steuerflucht vieler Stadtbewohner läßt sich eine Ablehnung staatlicher Ansprüche rekonstruieren, ebenso aus der Bezeichnung "tjaglo" = Joch für die staatlichen Lasten. Auch die Einführung westeuropäischer Kleidung sowie das Gebot des Bartscherens dürften Ärger und Mißstimmung hervorgerufen haben, andersfalls wäre es nicht nötig gewesen, an den Stadttoren die Einhaltung dieser Vorschriften zu kontrollieren und von Zuwiderhandelnden Strafgelder bzw. eine Bartsteuer zu erheben. Andererseits stellte die Befreiung der Stadtbevölkerung von der RekrutensteIlung ein Privileg dar, dem in ihren Kreisen sicher dankbar zugestimmt wurde. Um die verschiedenen Ansätze zur Refonn der Stadtverwaltung dürften sich die städtischen Unterschichten kaum gekümmert haben, so daß dieser Faktor in der Meinungsbildung über den Zaren vennutlich neutral wirkte. Aufs Ganze gesehen bedeuteten die Städte ein geringeres Konfliktpotential für die petrinische Herrschaft als der russische Adel oder die russische Geistlichkeit, da auch die Eingriffe des Zaren in den städtischen Raum nicht so gravierend ausfielen. Hier deutete sich die paradoxe Tendenz an, daß die Macht des Herrschers dort am stärksten gesichert war, wo er am wenigsten agierte. Nur in einem Fall kam es unter Peter I. zu einer breiteren städtischen Aufstandsbewegung, nämlich in Astrachan' am Unterlauf der Wolga vom Sommer 1705 bis zum Frühjahr 1706. Dort mischten sich Elemente sozialer Unzufriedenheit mit nationalen Gegensätzen; die Mehrheit der Bevölkerung bestand aus Tataren, die Oberschicht jedoch war russisch, seit Ivan IV. die Stadt um die Mitte des 16. Jahrhunderts erobert hatte. Den Anlaß für die Rebellion von 1705 gab das willkürliche Vorgehen des örtlichen Voevoden, der viele zusätzliche Abgaben für Keller, Öfen, Schwitzbäder, für Transporte auf Booten, Fischfang und Kleinhandel verlangte und Zahlungsunfähige auf dem Schuldpranger grob schlagen ließ. Ebenso wurden Personen hart bestraft, die sich über die neuen Belastungen beschwert hatten. Als auch noch die Getrei479

PSZ V, S. 598; Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 226.

9 Helmen

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deration für die Strelitzen und Soldaten der Stadt um zwei Drittel gekürzt wurde, lief das Faß über: Kleinbürger und Angehörige der Armee, etwa zweihundert bis dreihundert Leute, stürmten das Haus des Voevoden und brachten ihn um, aus "Ärger", wie die Quellen berichten. Dasselbe widerfuhr einigen unbeliebten Offizieren und Ausländern. 480 Nachdem sie Astrachan' in ihre Hand gebracht hatten, wählten die Aufständischen einen Ältestenrat und versuchten, die Kosaken am Don und am Terek zum Mitmachen zu bewegen, was diese aber ablehnten. Ein Feldzug der Rebellen gegen Caricyn im Spätsommer 1705 schlug fehl, denn der Zar setzte 6 000 Mann Regierungstruppen unter dem Kommando des erfahrenen Generalissimus Seremetev gegen sie ein. Im März 1706 wurde Astrachan' von den Regierungstruppen eingenommen. Klugerweise wies der Zar Seremetev an, "ohne äußerste Not in Astrachan' nicht grausam und feindlich aufzutreten", d. h. er wollte den Volkszorn nicht noch mehr anheizen. In einem weiteren Brief an den Feldmarschall bezeichnete Peter die Aufrührer als "verfluchte Diebe" und dankte Gott für den Sieg über sie. Die Soldaten im Heer Seremetevs erhielten für drei Monate eine Zusatzlöhnung aus dem Vermögen der Rebellen, um die Motivation des Heeres für analoge Fälle zu stärken. 481 Beim Verhör der Aufständischen stellte sich heraus, daß sie ihr Vorhaben Geistlichen gebeichtet hatten, die den Aufstand dann deckten, ge~enüber dem Staat schwiegen und den Rebellen das Abendmahl austeilten. 4 Hier lag ein wesentliches Motiv Peters, das Beichtgeheimnis aufzuheben. Wie es auch sonst sein Verfahren bei politischem Widerstand war, ließ der Zar ein hartes Strafgericht ergehen, sobald er wieder Herr der Lage war: sechs Anführer der Erhebung wurden gerädert, die übrigen Täter geköpft bzw. an den Straßen um Moskau herum aufgehängt; insgesamt fanden dabei 365 Personen den Tod, einige bereits durch die Folter während der Untersuchungen. 483 Nach diesem abschreckenden Vorfall bewegte sich der Widerstand der Stadtbevölkerung nach altem Muster in den Gleisen der Steuerflucht. Besonders die kleinen Kosakenstädte am Don dienten vielen Farnilien als Versteck. Am 6.7.1707 entsandte der Zar eine Rückhol- und Strafexpedition unter dem Fürsten Jurij Vladimirovic Dol~orukij in diese Gegend, doch ohne Erfolg, Dolgorukij wurde umgebracht. 48 Insgesamt fällt auf, daß Peter I. in der Städtereform eine ungeduldige, rasch wechselnde und in sich widersprüchliche Strategie verfolgte. Noch bevor sich die eingeschränkte Selbstverwaltungsordnung von 1699 bewähren konnte, wurde sie bereits wieder durch Befugnisse der Gouverneure sowie des Kommerzkollegiums konterkariert. Letztlich verließ sich der Zar auf die Armee, um die Stadtbevölkerung auf seine Linie zu zwingen: Truppen unterdrückten den Aufstand von Astrachan' und wurden ebenfalls gegen Steuerflüchtige ein480 481 482 483 484

N. B. Golikova, Politiceskie processy pri Petre I. Moskva 1957, S. 312ff. Pib IV, S. 190 (Zitat), 219 (Zitat), 222. Pib V, S. 348. Golikova, Politiceskie processy, S. 319. Pib VI, S. 9.

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gesetzt; der Präsident des 1721 geschaffenen Hauptrnagistrats, Fürst Jurij Iur' evic Trubeckoj, hatte als Offizier in der Elitetruppe der Garde gedient und sollte wohl einen militärischen Zug auf die Verwaltung übertragen. Innerhalb der Städte gewann die Polizei an Einfluß, die ebenfalls militärähnliche Strukturen aufwies und denselben bedingungslosen Gehorsam fordern konnte, wie er als Verhaltensmuster die Armee prägte. Im Unterschied zu den Verhältnissen in England, Frankreich und Preußen baute der russische Monarch die Städte nicht als Gegengewicht gegen den Adel auf; vielleicht waren sie auch zu schwach dazu und der Bildungsstand ihrer Bürger zu gering. Das blühende Städtewesen Westeuropas wurde in Rußland jedenfalls nicht erreicht. Seine Idealvorstellungen von einem urbanen Zentrum versuchte der Zar ab 1703 mit der Neugründung St. Petersburgs in die Wirklichkeit umzusetzen, davon wird noch die Rede sein.

x. Gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft Die russischen Bauern bildeten mit rund 94 Prozent der Gesamtbevölkerung die weitaus größte soziale Schicht im Lande. Zur Zeit Peters I. unterstanden etwa vier Fünftel von ihnen als Leibeigene (krepostnye) der Verfügungsgewalt des Adels, der Kirche oder des Zaren. Das restliche Fünftel lebte als sogenannte "Staatsbauern" (kazennye) in den weniger fruchtbaren Gebieten des Nordens und Nordostens, die früher zu Novgorod ,~ehört hatten, sowie südlich von Kazan' und NiZnij-Novgorod, wo Tataren, CuvaSen, Mordvinen und Ceremissen den Status von Staatsbauern erhalten hatten. 485 Zur Registrierung der Bauern wurden staatliche Schreib- und Umschreibebücher geführt (gosudarstvennye piscovye i perepisnye knigi).486 Ein typisches russisches Dorf bestand um 1700 aus zwanzig bis dreißig Höfen; pro Hof zählte man im Durchschnitt 3,79 männliche Seelen.487 Damit urnfaßte eine Bauernfamilie in der Regel sieben bis acht Personen, was auf ein Zusammenleben von drei Generationen unter einem Dach schließen läßt. Wenn es möglich war, legten die Bauern ihre Höfe gern auf leichten Anhebungen im Gelände an, um so einen gewissen Schutz vor Überschwemmungen und Matsch zu gewährleisten. Die Staatsbauern waren persönlich frei. Sie bewahrten die Rechtsstellung der Smerden aus der Teilfürstenzeit. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden sie in Urkunden auch "christiany" oder "krest'jane" genannt, wobei der Glaube für die Namensgebung bestimmend war. Im Laufe der Jahrhunderte nahm der Anteil der Smerden immer mehr ab. Schon Ivan ill. vergab in bedeutendem Umfang Staatsland mit ehemals freien Bauern darauf an den russischen Erb- und Dienstadel; Ivan IV. tat dasselbe in noch stärkerem Maße, um sich seiner Anhänger zu versichern. Peter I. setzte diese Tradition der Dezimierung des freien Bauerntums fort, indem er zwischen 1682 und 1710 etwa 44 000 Höfe ehemals unabhängiger Bauern samt einer halben Million Desjatinen Ackerland als Gunstbeweis an Vertreter des Adels verteilte. 488 Die freien Bauern waren in der Dorfgemeinschaft (obScina bzw. mir) zusammengeschlossen, die eine eigene juristische Person darstellte. Als Entgelt für die Nutzung des Landes, das ja prinzipiell als Eigentum des Zaren galt, verlangte der Staat von der Dorfgemeinschaft eine bestimmte Summe von Abgaben und Dienstleistungen, nämlich eine Natural- und/oder Geldsteuer, 485 Wittram, Peter 1., Bd, II, S. 166; Le Donne, Absolutism and Ruling Class,

S.34f.

486 Filippov, Istorija russkago prava, S, 468. 487 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 171; Vodarskij, Nase\enie Rossii,

S.48.

488 Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 189.

x. Gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft

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Fuhrdienste bzw. seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Einrichtung und den Unterhalt von Poststationen, Unterstützung beim Bau von Stadtmauern, Amtsgebäuden oder Gefängnissen, die Errichtung und Reparatur von Brükken, die Stellung von Rekruten und ihre Ausrüstung mit Feuerwaffen, Proviantlieferungen für das Heer sowie Gelder zum Loskauf von Gefangenen. Im Jahre 1681 unternahm die russische Regierung unter dem Zaren Fedor Alekseevic den Versuch, diese vielfaItigen unterschiedlichen Belastungen zu bündeln und damit die Steuereintreibung zu rationalisieren. Innerhalb der Dorfgemeinschaft bestimmte diese selbst, wer in welcher Höhe zum Steueraufkommen beizutragen hatte und wählte entsprechende Steuereintreiber und einen DorfaItesten. Dem DorfaItesten oblag auch die Überwachung der periodischen Um verteilung des Gemeindelandes an die einzelnen bäuerlichen Familien. Ferner hatte er die Interessen des Dorfes vor Gericht zu vertreten, wenn z. B. Besitzstreitigkeiten mit umliegenden Klöstern oder Adelsgütern auftraten. Die Dorfgemeinschaft hatte kein Interesse daran, eines oder mehrere ihrer Mitglieder fortziehen zu lassen, da in diesem Fall die Verbleibenden pro Person umso höhere Lasten zu tragen hatten; insofern behinderten die vorhandenen Steuerstrukturen die Mobilität der Bevölkerung und den Zuzug in die Städte. 489 Auch im absolutistischen Frankreich galt die steuerliche Samthaftung der Dorfgemeinde, 490 sie stellte für den Staat die personalsparendste Form der regelmäßigen Geldbeschaffung dar. Die Leibeigenen hatten ursprünglich mündliche oder seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch schriftliche Verträge mit privaten Grundherm bzw. Klöstern abgeschlossen, in denen ihnen gestattet wurde, eine kleinere Landfläche des Grundeigentümers zu bearbeiten und ihm dafür als Gegenleistung Abgaben zu zahlen und Frondienste auf den Eigengütern des Herm zu übernehmen. Zu den Abgaben (obrok) gehörten die Lieferung von Getreide, insbesondere Roggen und Gerste, von Fisch, Geflügel, Schweineund Harnmelfleisch, Butter, Eiern, Holz und Leinwand. Im Laufe der Zeit nahmen auch die Geldzahlungen zu, teils parallel zu den Naturalabgaben, teils als Ersatz für sie. Unter die Frondienste (barscina) rechneten alle Arten von FeldbesteIlung, ferner das Mahlen des Getreides, der Gemüseanbau, das Errichten von Gebäuden und Zäunen, die Anlage von Fischteichen, das Bierbrauen und Flachsspinnen. Fronarbeiten häuften sich besonders in den fruchtbareren Gegenden der Waldsteppe und Steppe, wo den Bauern zur Bestellung ihres eigenbewirtschafteten Ackers oft nur der Sonntag blieb. Seltener verlangten die Grundherrn lediglich Abgaben ohne Fronarbeit, wenn es sich z. B. um weit entfernt liegende Höfe von Leibeigenen handelte. In der Regel dominierte zur Zeit Peters I. die gemischte Rente aus bei den Formen der bäuerlichen Verpflichtungen. Zusätzlich zu diesen Lasten hatten die Leibeigenen gegenüber dem Staat dieselben Abgaben zu leisten wie die freien Bauern, so daß ihnen zur Deckung ihres Eigenbedarfs kaum etwas übrigblieb. 491 Er489 490 49\

Filippov, Istorija russkago prava, S. 436, 439f, 443f. Burckhardt, Richelieu, Bd. 3, S. 358. Ebd., S. 445, 447, 457; Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 17ff.

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x. Gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft

schwerend kam noch hinzu, daß infolge schlechter Pflüge und rückständiger Dreifelderwirtschaft die Ernteerträge in Rußland nur das Zwei- bis Dreifache der Aussaat erbrachten, während gleichzeitig die Niederlande mit einem Verhältnis von 11 : 1 eine Spitzenstellung in der landwirtschaftlichen Produktivität einnahmen. 492 Die weit günstigeren landwirtschaftlichen Erträge in den Niederlanden resultierten einerseits aus einer fortschrittlichen Produktionstechnik, anderseits aus einem entwickelten Städtewesen als Absatzmarkt für die agrarischen Produkte und drittens aus der Tatsache, daß es dort nur freie Bauern gab,493 die ihre Arbeitskraft auf Grund des selbst genutzten Profits viel energischer einsetzten als die russischen Leibeigenen. Der russische Staat erließ keinerlei rechtliche Rahmenvorschriften zum Problem, in weIchem Umfang die Grundherm Abgaben und Frondienste verlangen konnten, so daß die Leibeigenen auf Gedeih und Verderb der Willkür der Gutseigentümer ausgeliefert waren und sich mit steigenden Forderungen konfrontiert sahen. Um hier Abhilfe zu schaffen, sprach sich Pososkov für eine gesetzliche Fixierung der Belastungen in der Leibeigenschaft aus, damit die Bauern eine Chance bekämen, satt zu werden oder sich das lebensnotwendige Salz kaufen könnten. Derselbe Autor beklagte, daß die Bauern zusätzlich zu den Abgaben an Staat und Grundherm bisweilen noch von Betrügern geschröpft würden, die der lese- und schreibunkundigen Dorfbevölkerung irgendein Papier vorwiesen und behaupteten, zu weiterer Steuereintreibung berechtigt zu sein, worauf die Bauern infolge ihrer Unbildung hereinfielen. Um soIchen Mißbräuchen vorzubeugen, verlangte Pososkov die Einführung eines Elementarunterrichts auch auf dem Lande. 494 Gemäß den Bestimmungen zweier Gesetzbücher aus den Jahren 1497 und 1550 war es den Bauern, die Pachtverhältnisse eingegangen waren, zunächst gestattet, den Grundherm jeweils zum St.-Georgstag im November nach der Ernte zu wechseln. Das Ulozenie von 1649 beseitigte diese Freiheit, verbot den Wegzug von bäuerlichen Pächtern generell und enthielt umfangreiche Verfahrensregelungen zur Rückführung Entlaufener. Damit war die Leibeigenschaft samt Schollenbindung für die große Mehrheit der russischen Bauern besiegelt. Sie waren nicht nur zu hohen Abgaben und Frondiensten verpflichtet, sondern auch in ihren privaten Rechten stark eingeschränkt wenn sie sich als Mietarbeiter verdingen oder Schulden aufnehmen wollten, brauchten sie die Zustimmung ihres Grundherm. Ebenso durften sie nicht ohne dessen Erlaubnis heiraten. Wollte jemand seine Braut in ein anderes Dorf mitnehmen, so mußte er für sie eine Ablösesumme in Höhe von fünf bis zehn Rubeln zahlen. Der Gutsbesitzer war zugleich Gerichtsherr über seine Bauern, außer bei Kapitalverbrechen wie Mord und schwerem Raub. Die Bauern waren ihm grundsätzlich Gehorsam schuldig. Verstießen sie gegen seine Anordnungen, 492

Mieck, Frühe Neuzeit. S. 148.

493 H. Ladernacher, Geschichte der Niederlande. Politik - Verfassung - Wirtschaft.

Darrnstadt 1983, S. 6f. 10. 494 Pososkov. Kniga 0 skudosti i bogatstve. S. 171, 178, 212f.

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so hatte er das Recht der körperlichen Züchtigung, die im Alltag häufig vorkam. Neben Stöcken und Knuten wurde unter Peter I. als Bestrafungsinstrument nach dem Vorbild der Flotte neu die sogenannte "Katze" eingeführt, eine mehrteilige Peitsche mit eingeflochtenen Metallstücken. Mancher Gutsherr ließ seine Bauern schon öffentlich züchtigen, wenn sie nicht regelmäßig zur Kirche und zur Beichte gingen oder sich zum Raskol bekannten oder den Zaren kritisierten. Falls ein Grundherr seinen Leibeigenen hatte zu Tode peitschen lassen, sollte der Staat eigentlich eine Untersuchung einleiten, doch in der Praxis wurde meist kein Prozeß geführt, oder das Verfahren endete mit Freispruch. Der Grundherr durfte widerspenstige Leibeigene auch zur Zwangsarbeit verbannen. Ferner stand es ihm frei, jeden Leibeigenen, auch wenn dieser sich gut führte, zu verschenken, zu verkaufen oder zu tauschen. Häufiger wurden die Bauern, da sie den eigentlichen Reichtum des Grundherrn ausmachten, von diesem umgesiedelt, bevor er das Land verkaufte, auf dem sie bis dahin gelebt hatten. Der Käufer fühlte sich dann betrogen und zog vor Gericht. Ein Beschwerderecht bei höheren Instanzen stand den Bauern gegen ihren Grundherrn nur in Fällen von Hochverrat bzw. bei der Gefährdung der Gesundheit des Zaren zu; .fU?dsätzlich war gegen Urteile des Grundherrn keine Berufung möglich. 4 Als dem Zaren der Vorschlag gemacht wurde, nach schwedischem Muster gewählte Bauern als Beisitzer in ländlichen Gerichten zuzulassen, lehnte er dies mit der Begründung ab: "in den Bezirken gibt es keine klugen Leute unter der Bauernschaft".496 Mit dieser pauschalen Abqualifizierung der Masse der Bevölkerung wollte Peter I. vermutlich seine eigene Machtfülle rechtfertigen. Eine Spezialgruppe innerhalb der leibeigenen Bauern stellten die Hintersassen dar (bobyli). Sie waren deren ärmster Teil, ländliche Tagelöhner, die in der Regel kein eigenes Feld bearbeiteten und kein eigenes Haus besaßen. Hinsichtlich der grundherrlichen Gerichtsbarkeit und des Verbots der Freizügigkeit waren sie den Leibeigenen gleichgestellt. Wegen ihrer noch geringeren Wirtschaftskraft erhob der Staat von ihnen bis zum Jahre 1724 nur die Hälfte der sonst üblichen Abgaben. Die unterste Gruppe der Landbevölkerung bildeten die Cholopen, rechtlose Sklaven, die als Privateigentum ihres Herrn galten und zunächst vom Staat quasi als Sache betrachtet und nicht besteuert wurden. Historisch war das Cholopentum aus drei Wurzeln entstanden: erstens stammten die Cholopen von den Kriegsgefangenen ab, die während der Auseinandersetzungen zwischen den Teilfürstentümern sowie im Kampf gegen Livland und die Tataren gemacht worden waren; zweitens waren es in Schuldknechtschaft geratene Bauern, denen es nicht gelungen war, ihren Kredit zurückzuzahlen und die deshalb selbst auf Lebenszeit sowie ihre Nachkommen zu Sklaven des Gläubigers und seiner Familie wurden; drittens schließlich gab es auch ruinierte Bauern, die gewissermaßen freiwillig per Vertrag in den Cholopenstatus tra495 Filippov, Istorija russkago prava, S. 458ff; PSZ 1lI, S. 57; PSZ IV, S. 163; Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 33. 496 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 61.

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X. Gesellschaftliche Stellung der Bauernschaft

ten, weil sie sich davon erhofften, ihr Besitzer werde sie durchfüttern und ihnen Obdach gewähren. Die Cholopen lebten teils als Gesinde auf dem Herrenhof, teils auch ausgelagert auf Höfen, die ihnen der Herr zuteilte (zadvornye). Vor allem die zweite Gruppe glich sich in ihrer Lebensführung allmählich den Leibeigenen an. Die genaue Zahl der Cholopen läßt sich nicht ermitteln, man schätzt sie auf einige Hunderttausende. 497 Der weibliche Teil der Landbevölkerung wurde im allgemeinen noch stärker unterdrückt als die Männer, und zwar vom Vater und vom eigenen Ehemann. Bei Hochzeiten war es Sitte, daß der Brautvater dem Bräutigam eine Peitsche überreichte als Zeichen des Züchtigungsrechtes. Die Braut mußte ihrem Ehemann zu Füßen fallen und mit der Stirn seine Schuhe berühren, um so ihre Unterwerfung symbolisch auszudrücken. 498 Der hannoversche Gesandte F. C. Weber berichtete, die russischen Frauen würden wie Sklavinnen gehalten; viele hätten deshalb Angst vor dem Ehestand und wollten lieber in ein Kloster gehen. Das Spinnrad sei den Russinnen bisher unbekannt gewesen, jetzt werde sein Gebrauch "durch die Peitsche gelehret" . Der zeitgenössische englische Beobachter J. Perry fügte hinzu, es sei bei den russischen Männern üblich, ihre Ehefrauen zu schlagen "very often so inhumanely that they die with the blows". Hatte ein Russe seine Frau auf diese Weise umgebracht, so ging er straffrei aus, weil man die Affäre dahingehend interpretierte, er habe seine Frau nur bessern wollen. Hatte aber umgekehrt eine Frau ihren brutalen Gatten getötet, so wurde sie ohne mildernde Umstände bis zum Hals in die Erde eingegraben und starb dann einen qualvollen Tod, der sich bis zu acht · hen k onnte. 499 T agen h· lllZle Aber auch ohne solche Exzesse war der Alltag der russischen Bäuerinnen schwer genug: Arbeit von früh bis spät, dazu die Sorge, wie man die Familie bei steigenden Lebensmittelpreisen satt bekommen sollte, schlechte hygienische Verhältnisse, enge Einraumwohnungen ohne jeden Komfort für sechs bis zehn Personen, oft nicht einmal ein Schornstein, so daß der Qualm durchs Zimmer zog, keinerlei bessere Aussichten für die Zukunft. 500 Der preußische Legationssekretär J. G. Vockerodt befand im europäischen Vergleich, die Frauen in Frankreich oder Polen könnten freier leben als ihre russischen Geschlechtsgenossinnen. Er berichtete von blutbefleckten Laken, welche die Unschuld besonders der ländlichen Braut in Rußland beweisen müßten. Die russischen Bäuerinnen würden früh heiraten, mit oder ohne kirchlichem Segen, sie hätten viele Kinder, teilweise auch unehelich, was gesellschaftlich nicht weiter sanktioniert werde. Kindesrnorde seien selten. Ferner hieß es in Vockerodts Schilderung: "Die Frau muß sich ihr Brot durch die Arbeit ihrer Hände verdienen, hat sie doch auch genügend Kraft dazu, und eine Vielzahl von Filippov, Istorija russkago prava, S. 438, 463ff. Massie, Peter der Große, S. 37. 499 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 141, 222 (Zitat); Perry, The State of Russia, S. 201. 500 G. G. Gromov, Krest'janskoe zilisce in: B. A. Rybakov (Hrsg.), Ocerki russkoj kul'tury XVIII v. Moskva 1985, Bd. I, S. 333, 335. 497

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Kindern ist der Reichtum des Bauern." Letzteres bezog sich auf die Altersversorgung. Anschließend sprach Vockerodt "die schreckliche Trunksucht" der russischen Männer an, "die jedes Jahr eine große Anzahl unter den Erwachsenen umbringt". Man kann sich unschwer vorstellen, wie die Frauen leiden mußten, wenn ihre Männer das ohnehin knappe Wirtschaftsgeld versoffen und unbeherrscht nach Hause kamen, als Arbeitskräfte erst einmal ausfielen und bei eventuellen Vorhaltungen noch herumprügelten. Sonst blieb es den Müttern und Vätern häufig nicht erspart, das Dahinsterben ihrer Kinder an Pocken mitansehen zu müssen. Unter den Erwachsenen verbreitete sich zur Zeit Peters I. von Polen her die Syphilis, auch traten Fälle von Skorbut auf. Eine professionelle medizinische Versorgung auf dem Lande durch Ärzte fehlte. 50l Das Leid der einfachen russischen Bäuerinnen läßt sich indirekt erschließen, wenn P. N. Miljukov für das Jahr 1710 schreibt, auf tausend Männer habe es in Rußland damals nur 918 Frauen gegeben. 502 Wurden die übrigen erschlagen oder starben sie im Kindbett oder wählten einige auch den Freitod? Peter I. griff in diese üblen Verhältnisse verbessernd ein, indem er am 12.4.1722 allen Eltern verbot, Zwangsheiraten ihrer Kinder oder Adoptivkinder zu arrangieren. 503 So wie er als Herrscher seine zweite Ehefrau selbst gewählt hatte, sollten es fortan auch seine Untertanen gleich beim erstenmal tun dürfen. Bereits am 5.10.1713 hatte Peter die Frauen von Soldaten und Dragonern mit Kindern unter zwölf Jahren von Proviant- und Geldlieferungen an die Armee freigestellt und damit ihr Los etwas erleichtert. 504 Zar Peter verfügte als absoluter Monarch durchaus über die Macht, mit einschneidenden Maßnahmen die Lebenssituation der leibeigenen Dorfbevölkerung zu verbessern. Gerade hier bot sich wie sonst kaum irgendwo die Gelegenheit, tatsächlich etwas für das allgemeine Wohl im Sinne des größten Glückes für die größte Zahl zu tun. Den Widerstand des Adels hätte der Zar dabei kaum zu fürchten brauchen, da die Adligen mit unter zwei Prozent der Gesamtbevölkerung eine kleine Minderheit darstellten. Gegen Einsprüche aus den Reihen der Geistlichkeit hätte man leicht das Argument der christlichen Nächstenliebe ins Feld führen können. Theoretisch war es Peter I. durchaus klar, daß man die Bauern pfleglicher behandeln müsse, zumindest schrieb er sich im Jahre 1716 aus der russischen Übersetzung eines Lehrbuchs zur Landwirtschaft von W. H. v. Hohberg den Merksatz heraus: "Weil die Bauern die Arterien des Staates sind und wie mittels der Arterien der ganze menschliche Körper genährt wird, so durch die Bauern der Staat - soll man sie pflegen und nicht übermäßig belasten.,,505. Aus der Umgebung des Zaren wurde ihm vorgeschlagen, die Leibeigenschaft aufzuheben. Dazu war er jedoch nicht bereit, weil er von der Mehrzahl Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 104f, 110f (Zitate), 112. P. N. Miljukov, Gosudarstvennoe chozjajstvo Rossii v pervoj cetverti XVIII stoletija i reforma Petra Velikago. SPb 1905,2. Aufl., S. 206. 50J Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 103. 504 PSZ V, S. 56. 505 Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 166. 501

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seiner Untertanen eine sehr geringe Meinung hatte. F. C. Weber schrieb dazu, daß der Zar die Masse der russischen Bevölkerung "eine Heerde unvernünfftiger Thiere nennet, die er zu Menschen gemacht, aber ihre Hartnäckigkeit schwerlich beugen oder die Bosheit ihres Hertzens gänzlich ausrotten wird". Das Verhältnis zwischen Monarch und Untertanen wurde also seitens des Herrschers als Machtkampf aufgefaßt, bei dem angeblich auf der einen Seite der vernunftgeleitete Regent, auf der Gegenseite die uneinsichtige, boshafte und vertierte Masse stand. Eine Vertrauensbasis fehlte. Der Herrscher selbst äußerte sich in diesem Spruch hybrid. Anschließend fuhr Weber fort: " ... und ob man dem Zaren gerathen, die Sclaverey aufzuheben und durch Einführung einer gemäßigten Freyheit die Unterthanen aufzumuntern und sich selbst dadurch Vortheil zu schaffen; so hat derselbe doch, in Ansehung des wilden NatureIs der Russen, und weil sie ohne Zwang sich durchaus nicht führen lassen wollen, Ursach gehabt, diesen Vorschlag bis hieher zu verwerffen".516 Positiv hätte man von der Aufhebung der Leibeigenschaft eine deutlich erhöhte Produktivität erwarten können, da die Bauern dann stärker für sich selbst gearbeitet hätten und insofern besser motiviert gewesen wären; in zweiter Linie wäre auch eine solidere Grundlage für die staatliche Besteuerung entstanden. Wenn der Zar sich trotz dieser Vorteile nicht zur Befreiung der Leibeigenen entschloß, so anscheinend deshalb, weil er fürchtete, bei einer Rücknahme des Zwanges könne die Masse explosiv reagieren und seine eigene Herrschaft in Frage stellen. Er benötigte also die Leibeigenschaft aus seiner Sicht als Mittel der Domestizierung. Daß die Bauern auch mit Dankbarkeit reagieren könnten, schien er nicht zu erwägen. Die angeführten Zitate zeigen, daß ethische Motive in Peters Bauernpolitik kaum eine Rolle spielten, wohl aber Überlegungen zum Machterhalt. Vor dem breiten Möglichkeitshorizont des absoluten Monarchen betrachtet, erscheinen die tatsächlichen Veränderungen, die Peter I. für die bäuerliche Bevölkerung anstrebte, dürftig. Ein Teil seiner Erlasse betraf die Diversifizierung und technische Verbesserung in der Landwirtschaft. So sollte gemäß einem Edikt vom 13.12.1715 in allen russischen Gouvernements die Leinenund Hanfproduktion in etwa verdoppelt werden. Dies wurde als Maßnahme "zum Nutzen des ganzen Volkes" deklariert, in Wahrheit diente die Neuerung eher dem wachsenden Bedarf der Flotte an Segel tuchen und Tauen. Am 29.4.1716 verordnete der Zar, zur Verbesserung der Schafzucht sollten vierzig aus Schlesien und Polen angeworbene Schäfer und Meister der Wollverarbeitung im Raum um Kiev und Azov tätig werden, um die einheimische Produktion zu steigern. Ähnlich initiierte Peter per Dekret vom 3.3.1717 die Ausweitung des russischen Tabakanbaus. Ein Erlaß vom 26.10.1720 schrieb vor, in Astrachan' und Umgebung persische Heilpflanzen zu kultivieren sowie die Schaf-, Rinder- und Pferdezucht durch Rassen aus den südlichen Nachbarländern zu heben. 507

506 507

Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 12,34. PSZ V, S. 185 (Zitat), 462, 490; PSZ VI, S. 251f.

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Während diese Maßnahmen die breite Masse der Dorfbevölkerung wenig betrafen, griff ein persönliches Edikt des Zaren vom 11.5.1721 stärker in den ländlichen Alltag ein, als für die Zukunft die Getreideernte mit Sicheln verboten wurde und statt dessen nach dem Vorbild der baltischen Provinzen Sensen benutzt werden mußten, mit denen die Arbeit bis zu zehnmal rascher, aber auch weit anstrengender vonstatten ging. Der Zar verlangte hier eine Kontrolle und Rückmeldung seitens der Gouverneure und Voevoden, damit der Erlaß auch wirklich durchgeführt würde, und fügte als Begründung hinzu: "denn ihr wißt selbst, wenn eine Sache gut und nützlich ist, aber neu, so werden sie unsere Leute ohne Zwang nicht tun".508 Hier bestätigte sich noch ein weiteres Mal, daß der Monarch ein negatives Bild von seinen Untertanen hatte und sie mehrheitlich als Feinde seiner gut gemeinten Reformen begriff. Ein zweites und umfangreicheres Bündel von Verordnungen des Zaren war gegen die Läuflingsbewegung gerichtet. Im letzten Jahrzehnt seiner Regierungszeit flohen im Jahresdurchschnitt etwa 25 000 Bauern aus ihren angestammten Wohnsitzen, so daß als Folge davon in manchen Gebieten Zentralrußlands bis zu 25 Prozent der Höfe leerstanden und große Fehlbeträge bei der Steuereintreibung auftraten. 509 Wenn man berücksichtigt, daß die flüchtenden Bauern immerhin das Dach über dem Kopf verloren, nur wenig an Hausrat und Proviant mitnehmen konnten, ungünstigstenfalls mit Rückführung und Knutung rechnen mußten und ansonsten einer ungewissen Zukunft entgegensahen, kann man sich ungefähr vorstellen, wie verzweifelt ihre Lage gewesen sein muß, damit ihnen alle diese Belastungen immer noch günstiger vorkamen als ein Weiterleben unter den alten Bedingungen. Einige Bemerkungen Pososkovs illustrieren die schweren Lebensumstände der Bauern. Er kritisierte, daß vielerorts Nüsse noch unreif abgerissen und Fische viel zu jung gefangen würden, was auf Hunger unter den Dorfbewohnern verwies. Ähnlich bemerkte Pososkov, neu angelegte Wälder würden zu wenig geschont, so daß anscheinend auch das Brennholz in Dorfnähe knapp war. Als weiteres schweres Problem nannte derselbe Autor, es gebe solche "unmenschlichen Adligen", die ihre Leibeigenen nicht einmal an einem einzigen Wochentag für den Eigenbedarf ihrer Familien arbeiten ließen. 51o Unter der Last derartiger Verhältnisse entschlossen sich viele Leibeigene zum heimlichen Weggang. Außerdem flohen sie vor der Rekrutierung für die Armee, welche in den unteren Chargen nur die Landbevölkerung, nicht aber die Städter traf. Dabei verbargen sich die Flüchtenden entweder in den umliegenden Wäldern oder liefen gleich ganz . 511 welt weg. Fast in jedem Jahr seiner Regierung erließ Peter I. ein Edikt zur Eindämmung der bäuerlichen Fluchtbewegung und knüpfte damit an die Gesetzgebung der Zaren vor ihm an. Am 6.4.1690 hieß es noch relativ kulant, entflo508 PSZ VI, S. 388. 509 Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 52; Indova I Preobraienskij I Ticho-

nov, Narodnoe dvizenie v Rossii, in: Druzinin (Hrsg), Absoljutizm v Rossii, S. 72. 510 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 173, 175, 177 (Zitat). 511 Pleyer, 0 nynesnom sostojanii, S. 4.

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hene und aufgegriffene Leibeigene sollten einen Monat lang inhaftiert und anschließend freigelassen werden, falls sich bis dahin kein Eigentümer gemeldet habe. Ein Erlaß vom 16.11.1692 verlangte die Bestrafung von Vagabunden und rügte die Nachlässigkeit der lokalen Obrigkeiten, die hier nach Meinung des Zaren nicht hart genug eingriffen. Im März 1694 und noch einmal 1695 wurde es verboten, Bauern ohne Registrierung zu halten oder zu beherbergen; auf diese Weise sollte den Läuflingen das Untertauchen erschwert werden. Am 14.3.1698 schlug der Staat eine härtere Gangart zur Unterbindung der Fluchtbewegung ein: den Gutsherm wurde ausdrücklich verboten, Läuflinge bei sich aufzunehmen; falls sie es dennoch taten, mußten sie für jeden versteckten Flüchtling vier eigene Bauern abgeben und außerdem pro widerrechtlich aufgenommenem Mann und Jahr je zwanzig Rubel Strafe zahlen; zusätzlich sollte der Gutsverwalter ausgepeitscht werden. Im August 1698 wurden Beamte mit Soldaten ins Dongebiet entsandt, um dorthin geflohene Bauern aufzuspüren und zurückzuholen. 512 Am 16.2.1706 erging ein Erlaß des Inhalts, daß entlaufene Leibeigene an ihre früheren Eigentümer zurückzugeben seien; falls ein Gutsherr solche Bauern behalte, sollte sein Grundbesitz je zur Hälfte an den Staat und an den Voreigentümer der Läuflinge übergehen. In einer Verordnung vom 5.4.1707 wurde die Strafandrohung der Güterkonfiszierung noch einmal mit denselben Modalitäten bestätigt; zusätzlich erging ein Aufruf, alle entflohenen Bauern innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu den Alteigentümern zurückzuschicken. Die Voevoden wurden angewiesen, selbst die Dörfer diesbezüglich zu inspizieren, indem sie pro Dorf je nach Größe zwischen fünf und fünfzehn ausgesuchte wohlhabendere Bewohner ausfragen und einen Eid auf das Evangelium schwören lassen sollten, daß ihnen keine Läuflinge im Ort bekannt seien; auf Meineid stand die Todesstrafe. Am 24.4.1713 wurde flüchtigen Bauern noch einmal die Rückführung und Knutung angedroht. Am 22.1.1719 erging an die Bewohner abseits gelegener Einzelhöfe sowie an die Angehörigen nichtrussischer Nationalitäten der Aufruf, niemanden bei sich zu verbergen, sonst würden die Unterkunft Bietenden erbarmungslos mit der Knute geschlagen und müßten zusätzliche Soldaten stellen. Gemäß einem Polizeierlaß vom 11.5.17109 sollten flüchtige Bauern und Vagabunden in den Städten aufgegriffen werden und entweder dem Heer zugeführt oder zur Zwangsarbeit bestimmte werden. Am 19.2.1721 wurde noch einmal bekräftigt, daß entlaufene Bauern und Hintersassen samt ihren Familien an die früheren Besitzer zurückzugeben seien. Ähnlich lautete ein Erlaß vom 6.4.1722, in dem außerdem die Knutung von Gutsverwaltern und Dorfältesten vorgesehen war, falls sie Flüchtlinge aufgenommen hatten. Den Gutsherren wurde eine Frist von drei Jahren eingeräumt, innerhalb derer sie entlaufene Bauern zurückfordern konnten; danach sollten die Läuflin~e an ihrem neuen Wohnort bleiben und dort für die Steuer registriert werden. 13 Gegen Ende seiner Herrschaft rundete Peter den Maßnahmenkatalog gegen die Flucht von Leibeigenen mit dem sogenannten "Plakat"-Edikt vom 512 PSZ III, S. 56f, 145f, 177,200, 443f, 474f. sn PSZ IV, S. 341, 378f; PSZ V, S. 24, 619f, 698; PSZ VI, S. 358ff, 638ff; PSZ VII, S. 164f.

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26.6.1724 ab. Dort wurde der Inlandspaß (pismennyj otpusk bzw. propusknoe pis'mo) für alle Bauern vorgeschrieben, die sich innerhalb ihres Heimatdorfes nicht mehr ernähren konnten und deshalb außerhalb Arbeit suchten. In jedem Fall benötigten sie dazu die schriftliche Erlaubnis ihres Grundherm sowie, falls sie sich weiter als dreißig Werst entfernen wollten, zusätzlich die schriftliche Genehmigung des ländlichen Kommissars und den Stempel eines Obersts vom Militär. Mit diesen Dokumenten ausgestattet, durften sie dann maximal für drei Jahre anderswo arbeiten. Niemals jedoch wurde ihnen gestattet, Frau und Kinder mitzunehmen, so daß dem Staat und dem Grundherm ein Druckmittel zur Erzwingung der Rückkehr des vorübergehend auswärts Tätigen blieb. 514 Dieser Erlaß stellte im Grunde einen Komprorniß dar zwischen den Überlebensinteressen der Leibeigenen, den Wünschen der Gutsbesitzer sowie den Belangen des Fiskus; auf diese Weise mußte nicht jeder Wegzug aus dem eigenen Dorf gleich als kriminell behandelt werden, was schon einen kleinen Fortschritt bedeutete. Insgesamt war den zahlreichen, fast schon ritualartig wiederholten Bemühungen des Zaren zur Eindämmung der bäuerlichen Fluchtbewegung nur ein mäßiger Erfolg beschieden: laut offiziellen Angaben wurden z. B. von 1719 bis 1721 rund 8 000 Läuflinge wieder eingefangen, das wäre etwa jeder zehnte Geflohene. 515 Nur einmal während seiner langjährigen Herrschaft rüttelte Peter I. ein wenig an den Wurzeln der bäuerlichen Massenflucht. Seine Instruktion für die Voevoden vom Januar 1719 enthielt unter Punkt 31 den Passus: "Weil es einige unnütze Leute gibt, die ihre Dörfer ausweglos ruinieren, die aus Trunksucht oder wegen eines unbeständigen Lebenswandels ihre Erbgüter nicht versorgen und beschützen, sondern zerstören, indem sie den Bauern alle möglichen unerträglichen Lasten auferlegen und sie schlagen und quälen und die Bauern deshalb fortlaufen und ihre staatlichen Verpflichtungen aufgeben und davon das Land verödet und sich bei den Abgaben für den Staat Mindereinnahmen häufen: deshalb sollen der Voevode und die ländlichen Kommissare sehr aufpassen und einen solchen Ruin nicht zulassen ... ". Im einzelnen folgte dann als Gegenmaßnahme, daß die Kommissare die Voevoden über verödete und heruntergekommene Siedlungen ihres Aufsichtsbereichs in Kenntnis setzen sollten, die Voevoden hatten das Vorkommnis dem Senat zu melden, dieser sollte den Fall untersuchen und die verwahrlosten Güter gegebenenfalls einem nahen Verwandten des ursprünglichen Eigentümers übertragen. 516 In der Praxis dürfte dieser Erlaß wenig bewirkt haben, denn der Verwaltungsweg war lang, und gerade der Senat verschleppte viele Prozesse. Immerhin hatte der Zar in Gestalt der pflichtvergessenen adligen Grundbesitzer vorerst einige

PSZ VI, S. 315ff. N. N. Alekseev, Beiträge zur Geschichte des russischen Absolutismus im 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 6. Berlin 1958, S.14. 516 PSZ V, S. 629f. 514 515

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Schuldige für das bäuerliche Elend benannt und so die Verantwortung von sich selbst abgewälzt. Die Bestimmung erinnert an ein Scheinmanöver. Ähnlich sprach sich der Zar am 15.4.1721 wenig wirkungsvoll gegen den Einzelverkauf von Leibeigenen und die Trennung ihrer Familien aus mit der Begründung, diese viehähnliche Behandlung von Menschen schade dem Ansehen Rußlands im Ausland. 517 Typisch ist dabei, daß nicht der humane Aspekt ins Feld geführt wurde, sondern das nationale Prestige die Argumentation lenkte. Da aber Sanktionsmaßnahmen gegen die Verkäufer fehlten, handelte es sich eher um ein Lippenbekenntnis. Die zahlreichen Erlasse des Zaren gegen die Läuflingsbewegung dienten nicht nur den Interessen der Grundbesitzer, sondern auch denen des Fiskus, indem der Verlust an Steuerzahlern bekämpft werden sollte. In den ersten Jahrzehnten von Peters Regierung wurde die bäuerliche Bevölkerung nach Höfen besteuert, wobei im Jahresdurchschnitt von jedem Hof drei bis fünf Rubel eingetrieben wurden. 518 Diese Art der Besteuerung gab zu Mißbräuchen Anlaß, zumal der Begriff des Hofes nirgendwo defmiert war. PosoSkov und auch der Oberfiskal Aleksej Jakovlevic Nesterov, der im Auftrag des Zaren und des Senats das Finanzgebaren auf allen Ebenen kontrollieren sollte, berichteten, viele Gutsherrn würden mehrere Höfe durch ein gemeinsames Tor zu einem Pseudohof zusammenfassen, damit ihre Bauern weniger an den Staat zahlten und desto mehr für den Grundbesitzer selbst übrigblieb. Um hier Abhilfe zu schaffen, schlug PosoSkov eine Besteuerung entsprechend der bebauten Landfläche vor, während sich Nesterov schon Ende November 1714 für eine "gleichmäßige Zahlung" (uravnitel'nyj platez) "von den höchsten bis zu den niedrigsten Rängen" aussprach. Sl9 Entgegen dem Vorschlag seines Oberfiskals beließ der Zar dem Adel das Privileg der Steuerfreiheit, vielleicht weil er dachte, zwei Prozent Mehreinnahmen würden den Unmut der Adligen im Falle ihrer Einbeziehung in die Steuer nicht wettmachen. Im übrigen sprach sich Peter erstmals im April 1717 für eine Besteuerung der einfachen Bevölkerung nach Köpfen aus "wie das in der ganzen Welt geschieht". Möglicherweise motivierte ihn auch besonders das französische Beispiel zu diesem Schritt, denn von April bis Juni 1717 hielt er sich in Frankreich auf, das er bei seiner ersten Reise nach Westeuropa nicht besucht hatte. In Frankreich war die Kopfsteuer, "taille" genannt, bereits seit dem Ende des Mittelalters üblich. Für Rußland fanden als Vorbereitung auf die Kopfsteuer zunächst umfangreiche Registrierungen der Bevölkerung statt, die wegen falscher Ergebnisse wi~erholt werden mußten. Nach diesen Vorarbeiten wurde dann die Kopfsteuer ab 1724 eingetrieben, wobei auf jeden männlichen Leibeigenen, Kinder und Greise inklusive, pro Jahr je 74 KopePSZ VI, S. 377. Ju. A. Tichonov, Feodal'naja renta v pomescic'ich irnenijach Central'noj Rossii v konce XVII - pervoj cetverti XVIII v., in: Pavlenko (Hrsg), Rossija v period reform Petra I, S. 199f. 519 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 179f; Lebedev, Reformy Petra I, S.57f. 517 518

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ken entfielen, die in drei Etappen im Winter, Frühling und Herbst zu zahlen waren. 520 Diese drei Zahlungstermine erscheinen auf den ersten Blick unrationell, doch boten sie die Möglichkeit, säumige Schuldner gegebenenfalls mehrfach zu erreichen, außerdem konnten vielleicht nicht alle bäuerlichen Familien die geforderte Summe auf einmal aufbringen. Die Staatsbauern mußten pro Mann 40 Kopeken zusätzlich entrichten, da sie keine Verpflichtungen gegenüber privaten Grundherrn zu tragen hatten und insofern als höher belastbar galten; ebenso wurde die Stadtbevölkerung mit 1 Rubel 20 Kopeken verstärkt zur Kasse gebeten. 521 Die Kopfsteuer war in erster Linie zum Unterhalt des Heeres bestimmt. Durch sie wuchsen die Staatseinnahmen beträchtlich, da auch die ländlichen Schichten der Hintersassen und Cholopen von ihr erfaßt wurden, die bis dahin nur den halben Steuersatz bzw. gar keine Steuern entrichtet hatten. Insofern wurde die Unterschicht via Besteuerung nivelliert. Das Staatsbudget erhöhte sich zwischen 1701 und 1724 inflationsbereinigt um mehr als das Doppelte. 522 Damit folgte Rußland dem Trend anderer absolutistischer Länder, in denen die Budgets ebenfalls anstiegen. Verglichen mit der früheren Besteuerung nach Höfen, bedeutete die Kopfsteuer eine Rationalisierungsmaßnahme und bot größere Chancen, tatsächlich jeden Zahlungspflichtigen zu erfassen. Problematisch erscheint, daß sie die unterschiedliche Wirtschaftskraft der bäuerlichen Familien nicht berücksichtigte und Familien mit vielen jungen Söhnen und einem noch lebenden Großvater überproportional belastete. Der Vorschlag PosoSkovs wäre hier gerechter gewesen, doch auch sehr viel aufwendiger in der Durchführung, weil die Steuereintreiber zusätzlich noch die Größe der Ackerfläche hätten nachprüfen müssen. Kljucevskij zufolge zog die Einführung der Kopfsteuer im Nebeneffekt eine Ausweitung der Fronarbeit nach sich: der einzelne Bauer mußte für seinen Grundherrn mehr Land bestellen, da diese Leistung nicht an den Staat verlorengehen konnte. 523 Ein letztes Bündel von Edikten des Zaren betraf die Nutzung der bäuerlichen Arbeitskraft in Bereichen außerhalb der Landwirtschaft. Die Bauern stellten die große Masse des Menschenmaterials für die Armee. Im Januar 1696 vor dem zweiten Feldzug nach Azov setzte der Zar noch auf Freiwilligkeit und persönlichen Anreiz bei der Rekrutierung, indem er allen leibeigenen Hofknechten, die sich zum Dienst im Heer melden würden, die Freiheit versprach. Später gab es nur noch Zwangsaushebungen, zwischen 1699 und 1725 in 53 Fällen, wobei insgesamt 280 ()()() Männer erfaßt wurden. 524 In der Regel mußte die Dorfbevölkerung von jeweils fünzig Höfen einen Rekruten stellen. Die Dienstzeit war unbefristet. Etwa jeder zweite Soldat starb auf dem Schlachtfeld. In der Armee fehlte es oft an Proviant, die Bekleidung reichte

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PSZ V, S. 492 (Zitat); PSZ W, S. 282, 317. PSZ VI, S. 665; PSZ W, S. 185,317. Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 275. Kljucevskij, Soeinenija, Bd. IV, S. 106. Wittrarn, Peter I, Bd. I, S. 124; Bd. 11, S. 9.

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im Winter nicht aus, mit Soldzahlungen lag der Staat häufig im Rückstand. 525 Insgesamt waren die Lebensumstände im Heer noch erbärmlicher als im heimatlichen Dorf. Die Bauern stellten außerdem die Arbeitskräfte für die einheimische industrie, die sich unter Peter I. mit staatlicher Förderung allmählich entwickelte. Im Jahre 1702 wurde die erste Eisenhütte am Ural an den Schmied Nikita Demidov übergeben, der zugleich eines der seltenen Beispiele für einen glanzvollen Aufstieg aus dem Bauerntum bot und vom Zaren in den Adelsstand erhoben wurde. Bei seinem Tod hinterließ Demidov seinem Sohn ein Vermögen von mehr als 100 000 Rubeln. 526 Zur Zeit Peters I. entstanden über 200 Manufakturen in Rußland. Die tägliche Arbeitszeit in ihnen betrug vierzehn bis sechzehn Stunden bei sehr dürftigem Lohn. 527 Unter diesen Bedingungen wollte kaum jemand dort tätig werden, so daß der Staat den Manufakturen Zwangsarbeiter zuführte, indem er den Eigentümern der Betriebe den Kauf ganzer Dörfer samt den dort ansässigen Leibeigenen gestattete. Das wichtigste Edikt dieses Inhalts wurde am 18.1.1721 erlassen, doch kamen solche Zuteilungen auch schon früher vor. Straffällig gewordene Frauen setzte man befristet oder lebenslang zur Zwangsarbeit in Segeltuchfabriken ein. 528 Schließlich wurden die russischen Bauern noch in großem Umfang für staatliche Bauprojekte zwangsrekrutiert, sei es für die Anlage von Festungen, Kanälen und Häfen, sei es ab 1703 für die Errichtung der neuen Hauptstadt St. Petersburg. Einige zehntausend Menschen starben bei diesen Einsätzen, weil sie dem Aufenthalt in feuchten Zelten, der Mangelernährung, dem Skorbut oder Infektionskrankheiten nicht gewachsen waren. 529 Bei der erzwungenen Tätigkeit in der Armee, in Bergwerken und Manufakturen sowie bei den staatlichen Großbauprojekten zeigte sich übereinstimmend, daß die ländliche Bevölkerung als rechtlose Manövriermasse behandelt wurde. Das abstrakt beschworene Allgemeinwohl und das konkrete Leid der Unterschicht klafften weit auseinander. Die Mehrzahl der Leibeigenen im Russischen Reich reagierte auf ihre bedrückende Lebenssituation mit Resignation und Depression. Wohl nicht zufällig sind viele russische Volkslieder in moll gehalten, mehr als bei anderen europäischen Völkern. Der Zeitzeuge F. C. Weber schrieb: "Die gemeinen Leute pflegen zu sagen, daß ihr Leben ihnen nur eine Last sey." Parallel dazu äußerte er, die Bauern zeigten "eine fast unglaubliche Gedult". Diese Charakteristik paßt nicht mit der Widerspenstigkeit zusammen, von der Zar Peter bei der Einschätzung seiner Untertan,en ausging. Offenbar mangelte es einigen 525 Ebd., Bd. I, S. 234,391; Bd. 11, S. 11; Alekseev, Beiträge zur Geschichte des russischen Absolutismus, S. 13. 526 Zapiska Ioganna Fokkerodta, in: Ctenija v Obscestve istorii i drevnostej rossijskich. Bd. 11, Moskva 1874, S. 75; Alekseev, Geschichte des russischen Absolutismus, S. 48. 527 Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 121, 145f. 528 PSZ VI, S. 31lf, 41l. 529 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 39; Lebedev, Reformy Petra I, S. 90.

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Leibeigenen sogar an Phantasie, sich wenigstens für das Jenseits ein besseres Leben auszumalen, wenn sie nämlich Weber zufolge glaubten, der Himmel sei allein den Bojaren und dem Zaren vorbehalten und dem einfachen Volk verschlossen. 530 Neben diesen regressiven Verhaltensweisen gab es jedoch auch Formen aktiven Widerstandes. Das langsame durchschnittliche Arbeitstempo auf den Feldern des Gutsherrn oder in den Manufakturen dürfte hier einzuordnen sein. Ein Edikt vom Dezember 1700 sprach an, daß sich manche Bauern vor ihrer Einschreibung als Soldaten im Glauben, jetzt ohnehin nichts mehr verlieren zu können, noch schnell an ihrem Grundherrn rächten, indem sie sein Haus in Brand steckten und plünderten. Auf Antrag des Geschädigten sollten diese Delinquenten geknutet und an den Gutsbesitzer zurückgegeben werden, damit das Beispiel nicht Schule machte. 531 Eine weit verbreitete Form des Widerstandes waren die Läuflingsbewegung und die zahlreichen Desertationen aus der Armee. Zeitgenossen berichteten, daß sich viele entflohene Bauern und Soldaten zu Räuberbanden zusammenschlossen, die zwischen zwanzig und zweihundert Personen vereinten. Gemeinsam überfielen sie ganze Dörfer, lauerten entlang größerer Landstraßen, plünderten Häuser und Passanten in den Städten und verschonten selbst Klöster nicht. Auch mancher Mord wurde in diesem Zusammenhang verübt. Die Nachbam der Opfer wagten meist nicht zu helfen, aus Angst, dann selbst beraubt und getötet zu werden. J. G. Korb berichtete, auf der Hinreise nach Moskau sei die kaiserliche Gesandtschaft an einem Ort vorbeigekommen, wo ein Kreuz an dreißig Opfer von Raubmorden erinnerte; auch in der Hauptstadt selbst ereigneten sich während seines Aufenthaltes häufig Überfälle von Banditen, besonders nachts. 532 PosoSkov klagte, das Räuberunwesen sei in Rußland stärker entwickelt als in anderen christlichen oder muslimischen Ländern. Der Staat schritt hier nicht wirkungsvoll ein, sondern förderte Diebstähle sogar indirekt, indem er die Bettelei verbot, so daß mancher Mittellose zusätzlich in die Kriminalität abgedrängt wurde. 533 Der größte kollektive Widerstand gegen die Lebensbedingungen der Leibeigenschaft unter Peter I. ereignete sich vom Okober 1707 bis zum Dezember 1708 am Don, in der Ukraine und im Gebiet der mittleren Wolga, als unter der Führung von Kondratij Afanas'evic Bulavin ein Bauernaufstand losbrach. Den Anlaß dazu hatte das harte Vorgehen der Strafexpedition unter dem Fürsten Jurij Vladimirovic Dolgorukij gegeben, die geflüchtete Leibeigene aufspüren und zurückbringen sollte. Die Angehörigen der Expedition folterten viele Kosaken, damit diese ihnen die Namen und den Wohnort der Geflohenen preisgaben, außerdem wurden auch Prauen vergewaltigt und Kinder mißhandelt. Die erregte und verzweifelte Masse reagierte, indem sie Dolgorukij Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 229. PSZ IV, S. 94. 532 Korb, Tagebuch, S. 49,66,95,97, 105. 533 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 18, 151; P. H. Bruce, Memoirs of Peter Henry Bruce, Esq., a Military Officer in the Service of Prussia, Russia, and Great Britain. Dublin 1783, S. 110ff; Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. VII, S. 583f; Bd. VIII, S. 332f. 530 531

10 Helmen

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und seine Soldaten umbrachte. Nach diesem Anfangserfolg bildete sich unter Bulavins Kommando ein Heerhaufen von rund 15000 Mann, das den lokalen Gewalten und auch dem Zaren die Stirn bieten wollte. Einer der Unterführer dieser Armee, Nikita Goloj, ließ folgenden Werbeaufruf verbreiten, der die Ziele der Aufstandsbewegung so umschrieb: "Wir wollen das einfache Volk in Ruhe lassen. Wir wollen mit den Bojaren abrechnen und mit denjenigen, die Unrecht tun. Aber ihr, einfa6es Volk, kommt alle aus den Städten zu Pferde und zu Fuß, nackt und ohne Schuhe, kommt und habt keine Furcht: ihr werdet Pferde und Gewehre und Kleidung und Geldlohn empfangen. Wir aber setzen uns ein für den alten Glauben und für das Haus der heiligen Gottesmutter und für euch und für das ganze einfache Volk und damit wir nicht dem hellenischen Glauben anheirnfallen." Die Rebellion richtete sich also gegen die Obrigkeit und gegen die als ungerecht empfundenen sozialen Verhältnisse, sie versprach den Armen eine bessere materielle Versorgung und vertrat konfessionell die Richtung der Altgläubigen. Wie schon beim Aufstand von Astrachan' zwei Jahre zuvor beendete die zaristische Armee die Unruhen gewaltsam. Bulavin erschoß sich, als seine Niederlage feststand, um dem Strafgericht des Zaren zu entgehen. Die wichtigsten Unterführer der Rebellenarmee wurden getötet, die Siedlungen der Aufständischen zerstört, die einfachen Beteiligten zur Zwangsarbeit verurteilt oder an ihre früheren Besitzer zurückgegeben. 534 Lediglich im Zusammenhang mit diesem Aufstand erwähnte der Zar in seinen Briefen die Bauern seines Reiches. Er nannte ihren Widerstand mit der damals üblichen Wortwahl "eine Dieberei" (vorovstvo), dankte Gott für den Sieg über die Rebellen und bekundete die Absicht, bei einem erneuten Aufflammen des Protestes noch härter durchzugreifen. 535 Zu den sozialen Hintergründen des Aufstandes verlor er kein Wort. In seinen übrigen Briefen, die insgesamt einige tausend Seiten füllen, reflektierte er die Situation der überwältigenden Mehrheit seiner Bevölkerung überhaupt nicht, so daß man den Eindruck gewinnt, er wollte ihre miserablen Lebensbedingungen verdrängen. Peters Politik gegenüber der Bauernschaft machte eines der schwächsten Kapitel seiner Regierungspraxis aus. Die Mißstände auf dem Lande bekämpfte er in keiner Weise effektiv. Die Leibeigenschaft blieb unangetastet, nicht einmal die Lasten aus der Grundherrschaft wurden gesetzlich fIXiert. Zur Bildung der Bauern wurde nichts unternommen, ihre Beteiligung an der Rechtsfindung ausdrücklich abgelehnt. Die Bauern galten dem Zaren - von einigen wenigen Lippenbekenntnissen abgesehen - nicht als Subjekte mit eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen, sondern als q".lasi seelenlose Verfügungsrnasse für die Zwecke des Staates, zu denen sie sich selbst nicht äußern durften. Zur Frage, wie umgekehrt die Bauern ihren Landesherrn wahrnahmen, faßte Raeff zusammen: "As for the common people, they experienced Peter as a ruthless and harsh tyrant whom they could not understand and whose actions seemed

534

Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 115f, 118 (Zitat), 119.

m Pib VII, S. 166, 175. 189; Pib VIII, S. 36,40,80.

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unnecessary, bringing new burdens of foreign origin. ,,536 Ein Staatswesen, in dem sich ein so tiefer Graben zwischen dem Herrscher und seinem Volk auftat, wo Mißtrauen und Zwang anstelle gemeinsamer Zielvorstellungen dominierten, kann man nicht als gesund und stabil einstufen. Vielmehr stand der staatliche Koloß auf tönernen Füßen. Abschließend zum Kapitel über die Bauernschaft sollen einige verbreitete russische Sprichwörter ausgewertet werden, in denen sich die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung sowie die geistige Verarbeitung der eigenen Situation widerspiegeln. Der Wert dieser Quellengattung liegt vor allem in ihrer hohen Authentizität, insofern als hier sozusagen die Volksseele ungeschminkt und unzensiert zum Ausdruck kommt, während in der Beschreibung durch fernerstehende Beobachter aus anderen Gesellschaftsschichten leichter subjektive Verzerrungen auftreten können. Aus mehreren Sprichwörtern wird die materielle Armut der bäuerlichen Bevölkerung deutlich, so etwa, wenn es heißt "Kohlsuppc und Brei sind unsere Mutter" (Sei i kaSa - mal' naSa) oder "Brot und Wasser sind das Essen der Bauern / Variante: der Soldaten" (Chleb da voda - kresl'janskaja eda / soldatskaja eda). Der Satz "Ohne Salz ist der Tisch schief' (Bez soli stol krivoj) bringt indirekt zum Ausdruck, daß längst nicht jeder Bauernfamilie genügend Salz zur Verfügung stand. Die Unterversorgung mit diesem notwendigen Lebensmittel aber beeinträchtigt die Arbeitsfähigkeit und führt im Extremfall zum Tode. Häufig wird der Hunger als geläufige Lebenserfahrung thematisiert, zum Beispiel in der Wendung "Der Hunger ist keine Tante, er steckt einem keine Pirogge zu" (GoIod ne tetka, pirozka ne podsunet) oder auch "Der Satte versteht den Hungrigen nicht" (Sytyj golodnogo ne razumeet), wobei die reichliche bzw. mangelhafte Ernährung fernab jeder komplizierten soziologischen Theorie als markanteste soziale Scheidelinie aufgefaßt wird. Aus der Sentenz "Eine hungrige Gevatterin denkt immer an Brot" (U golodnoj kume chleb na urne) geht hervor, wie das Leiden an Unterernährung die Konzentration auf andere Wahrnehmungsfelder einschränkt und das Denken verarmen läßt. Für den Fall, daß es dem Bauern doch einmal etwas besser geht, wird der Rat erteilt "Iß die Pirogge mit Pilzen, aber halt den Mund" (Es' pirog s gribami, a jazyk derfi za zubami), d. h. man soll mit seinem Glück besser nicht prahlen, sondern es verbergen, damit es nicht durch den Neid der Mitmenschen wieder verlorengeht. Aumillig ist hier noch, daß bereits Pilze als Luxus empfunden werden, obwohl sie in den russischen Wäldern im Herbst reichlich vorkommen. Von der Unbeständigkeit günstiger Verhältnisse und einem Mangel an sozialer Sicherheit handelt der Satz "Man weiß nicht, wo man etwas fmdet und wo man es wieder verliert" (Ne znaes', gde najdes', gde poteIjaes'). Unter diesen Bedingungen lohnt sich anscheinend auch keine schwere Arbeit, da von ihren Früchten voraussichtlich doch nur wieder andere profitieren werden; so kommt es zu dem bösen Satz "Die Arbeit liebt Dummköpfe" (Rabota 536

10*

Raeff, The Well-Ordered Police-State, S. 200.

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durakov ljubit). Mit der hier artikulierten Neigung der abhängigen Bevölkerung, die eigenen Kräfte zu schonen, wird ein Kernproblem der russischen Volkswirtschaft tangiert und eine wesentliche Ursache für ihre geringe Produktivität benannt. Die Prügelsucht der Gutsherm kann da auch nichts ausrichten. Sie wird folgendermaßen kritisiert: "Wenn nur ein Rücken da ist - eine Schuld fmdet sich schon" (Byla by spina - najdetsja i vina), Gerechtigkeit spielt dabei keine Rolle. Als ein möglicher Ausweg erscheint die Flucht "Gibt man dir etwas, so nimm es, wenn man dich schlägt, so lauf weg" (Dajut - beri, b'jut - begi). Schwächere dagegen flüchten sich nur in den Alkohol nach dem Motto "Wer den Feiertag fröhlich begeht, ist bis zum Morgen betrunken" (Kto prazdniku rad, tot do svetu p'jan). Ein dualistisches Weltbild, das durch die Spannung zwischen Armen und Reichen geprägt wird, deutet sich in der Wendung an "Für die Katze Spielzeug, für die Maus Tränen" (KoSke igruSki, a myske slezki). Drastischer heißt es "Entweder ein Herr sein oder umkommen" (Ili pan, ili propal). Zusammenfassende Wertungen der eigenen schweren Lebensumstände münden häufig in Resignation: "Das Leben leben heißt nicht, ein Feld zu durchwandern" (Zizn' prozit' - ne pole perejti) oder "Unsere Not zerschlagen auch keine Beile" (Nasego gorja i topory ne sekut). Sarkastisch wirkt der Spruch "Überall ist es gut, wo wir nicht sind" (Vezde choroso, gde nas net), aus dem ein eklatanter Mangel an Identifikation mit den Lebensumständen in der Heimat hervorgeht. Von der hohen Politik erwartet sich der Bauer keine Hilfe mehr, denn "Moskau glaubt den Tränen nicht" (Moskva slezam ne verit), d. h. die Obrigkeit stellt sich dem Leid der Massen gegenüber taub. Wer allerdings das Glück hatte, selbst in den Staatsdienst zu gelangen, kann sich dort auf einfache Weise bereichern; dazu heißt es bildhaft "Wenn man den Staatsbock am Schwanz packt, kann man sich einen Pelzmantel schneidern" (Kazennogo kozla za chvost poderzat' - momo subu ssit'). Der Beamte profitiert nämlich reichlich von Schmiergeldern "Ohne Schmiergeld zu zahlen, kommt man nicht voran" (Ne podmaZes' - ne poedes'). Wie ein Stoßseufzer wirkt der Ausspruch "Gott hat das Volk gestraft: er schickte ihm Voevoden" (Nakazal Bog narod: poslai voevod), mit anderen Worten, die Korruption blüht erst recht in den oberen Rängen. Die Bestechlichkeit in der Justiz wird mit der Empfehlung des Ausweichens kommentiert, nämlich "Kämpfe mit keinem Starken und führe keinen Prozeß gegen einen Reichen" (S sil'nym ne boris', s bogatym ne sudis'). Beschwerden beim Zaren gegen erlittenes Unrecht bringen keine Abhilfe, da man ihn doch nicht erreicht "Bis zu Gott ist es hoch, bis zum Zaren ist es weit" (Da Boga vysoko, da carja daleko). Sicherer erscheint es, den Herrscher zu meiden, wie es zugespitzt in der Wendung "Dem Zaren nah, dem Tode nah" formuliert wird (Bliz carja - bliz smerti); hier tritt das krasse Gegenteil eines Vertrauens verhältnisses zutage. Dem einfachen Mann bleibt es in aller Regel verwehrt, Reichtümer zu erwerben, er mag sich noch so anstrengen "Von rechtschaffener Arbeit schaffst du dir keine steinernen Paläste" (Ot trudov pravednych ne naZives' palat kamennych).

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Angesichts dieser übennächtigen und feindlichen Lebensumstände empfiehlt es sich in den Augen des Volkes, die eigene Meinung zurückzuhalten und sich aus Gründen der persönlichen Sicherheit vorsichtshalber äußerlich anzupassen. Ein solches Verhalten ist wenigstens nicht lebensgefährlich "Sich Verbeugen heißt nicht, daß der Kopf abfällt" (poklonit'sja - golova ne otvalitsja). Zur Anpassung raten auch die Redewendungen "Belle in der Herde oder belle nicht, aber wackele mit dem Schwanz" (popal v staju, laj ne laj, a chvostom viljaj), d. h. tu in jedem Fall freundlich bzw. "Wenn man unter Wölfen lebt, muß man mit den Wölfen heulen" (S volkarni fit' - po-vol' ci vyt'). Der Gedanke an eine organisierte kollektive Empörung fehlt in den Sprichwörtern. Statt dessen fmdet sich als Folge der religiösen Beeinflussung die Ergebenheit in den Willen Gottes "Gott hat gelitten und befiehlt es auch uns" (Bog terpel i nam povelel). Die entsprechende säkularisierte Variante dazu lautet "Seinem Schicksal entgeht man nicht" (Cemu byt', tomu ne rninovat').537 Wenn man die aufgeführten Sprichwörter mosaikartig zusammensetzt, so ergibt sich ein düsteres Gesamtbild aus Annut, Hunger, Schlägen, Willkür, Hoffnungslosigkeit, äußerer Anpassung und Resignation. Innerlich jedoch wissen die nauern genau, daß sie ungerecht behandelt werden, da sie das Gegenbild der Reichen vor Augen haben. Der scharfe gesellschaftliche Kontrast zwischen der wohlhabenden Oberschicht aus Gutsherrn und Beamten einerseits sowie der bettelannen bäuerlichen Masse andererseits stellte ein bedrohliches Konfliktpotential für den Bestand des Staates in seiner damaligen Fonn dar. Eigenartigerweise griff Peter I. hier überhaupt nicht regulierend ein. Soziale Empfmdsarnkeit war ihm fremd, wie vor allem seine Briefe ausweisen, in denen jegliche Reflexion über die Notlage der Bauernschaft fehlt. Die Politik des Zaren muß als bauernfeindlich eingestuft werden, sowohl wegen der beträchtlichen Erhöhung der Lasten als auch wegen der Verweigerung effektiver Hilfsrnaßnahmen.

537 V. P. Zukov, Slovar' russkich poslovic i pogovorok. Moskva 1966, S. 514, 478, 39,104,449,460,145,281,373,59,117,195, 190,173,149,263,76,228,176,291, 259,392,130,44,326,355,357,384,50,494.

XI. Staatstragende Werte / Staatsgefährdende Unwerte Nachdem die unterschiedlichen sozialen Schichten Rußlands, ihre Beziehung zum Herrscher und ihre Funktion im Staatsganzen betrachtet wurden, soll im folgenden das Wertsystem der petrinischen Epoche näher untersucht werden, das gewissermaßen als übergreifende Klammer die einzelnen Teile der Bevölkerung zusammenzuhalten hatte. Während die Staatszwecke zur Legitimation der absolutistischen Herrschaft dienten und theoretisch eine Leistung für die Bürger darstellten, geht es nun umgekehrt um diejenigen Verhaltensweisen, mit denen das Volk zu seiner eigenen Regierbarkeit gemäß dem Willen des Monarchen beitragen sollte. Da es üblich war, im politischen Denken des 18. Jahrhunderts den Staat bildhaft mit einem präzise laufenden Uhrwerk oder mit einer aus vielen Einzelteilen zusammengesetzten Maschine zu vergleichen,538 muß auch der Antrieb oder das Gleitmittel beschrieben werden, die ein Funktionieren erst möglich machten. Aus den vorangegangenen Kapiteln zur russischen Sozialstruktur des auslaufenden 17. Jahrhunderts und des beginnenden 18. Jahrhunderts läßt sich abstrahieren, daß die Idee des Dienstes am Staat eine der wichtigsten ideologischen Klammern der Herrschaftsordnung darstellte. Der Zar selbst nahm sich vom Dienstgedanken nicht aus und wollte eigenen Angaben zufolge seinen Untertanen damit ein Vorbild an persönlichem Einsatz bieten. Gleichzeitig dürfte für Peter I. die eigene Pflichterfüllung, wie er sie verstand, als Rechtfertigung dafür gegolten haben, auch von allen anderen Mitgliedern des Staates viel zu verlangen. Als Bezugsrahmen der Dienstidee fungierten der "Ruhm Rußlands" oder auch das "Allgemeinwohl", über deren Einzelkomponenten nur der Zar entschied. Erhebliche Teile des Adels lehnten den Dienstgedanken für sich innerlich ab, zumindest soweit er in der Armee realisiert wurde. Eine höhere Verwaltungstätigkeit dagegen war vielen Adligen wegen der damit verbundenen reichlichen Einkünfte ohne großen Arbeitseinsatz angenehm. Eine gewisse Nachfrage nach derartigen Posten mußte vorhanden sein, denn der Zar wandte sich im Zusammenhang mit der Ämtervergabe in den Kollegien wiederholt gegen Vetternwirtschaft: "Auf keinen Fall soll es Protegees oder eigene Kreaturen geben." Statt dessen verlangte er, es müsse für jede Stelle in den Kollegien jeweils zwei bis drei Bewerber geben, unter denen der Senat per Abstimmung den geeignetsten Kandidaten auswählen sollte. 539 Peter wollte also einer Cliquenbildung innerhalb der Verwaltung vorbeugen, vermutlich 538

Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 32, 35, 62, 110.

539 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 218 (Zitat), 258, 490.

XI. Staatstragende Werte / Staatsgefahrdende Unwerte

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weil er davon Einbußen an seiner persönlichen Macht erwartete. Die Weltgeistlichen stützten den Staat, indem sie ihre Gemeinde mit Hilfe des christlichen Glaubens und insbesondere durch den Aspekt der Jenseitsbezogenheit pazifizierten, ferner, indem sie die Gläubigen mehrmals in jedem Gottesdienst für den Zaren und dessen Familie beten ließen, und schließlich sollten sie gegebenenfalls unter Verletzung des Beichtgeheimnisses potentielle Aufrührer anzeigen. Den Klostergeistlichen wurden als ihre Art des Staatsdienstes Aufgaben der Wohlfahrt übertragen, sei es bei der Veteranenversorgung, sei es bei der Armen- und Krankenpflege allgemein. Auch die Nonnenklöster unterlagen einem Arbeitszwang. Außerdem führte der Zar einen beträchtlichen Teil des Klosterbesitzes weltlichen Zwecken zu. Die Stadtbevölkerung leistete ihren Dienst am Staat überwiegend im Finanzbereich durch Steuerzahlung, Steuereintreibung und Pacht von Zöllen. Die Bauern stellten die Rekruten für die Armee, dienten als Arbeitskräftereservoir für staatliche Großbauprojekte und für die Industrie, zusätzlich trugen sie die Hauptlast der Steuern. Für die meisten Leibeigenen dürfte die Idee des Dienstes für den Staat im Alltag kaum eine Rolle gespielt haben, sondern von den noch härteren Pflichten gegenüber ihrem Grundherrn überlagert worden sein. Über die Inhalte des Staatsdienstes bestimmte der Monarch allein. Dabei verfügte er, wie bereits erwähnt wurde, über kein Gesamtkonzept, sondern entschied eher spontaneistisch und unsystematisch. Es scheint, als sei es dem Zaren letztlich doch nicht so klar gewesen, was man unter Allgemeinwohl zu verstehen habe. Am 24.4.1713 forderte er zwar den Senat auf, rigoros über alle Personen, die absichtlich staatliche Interessen verletzt hätten, die Todesstrafe zu verhängen; gleichzeitig fügte er aber als Ausdruck seiner eigenen Unsicherheit hinzu: "Und deshalb muß man klären, was genau die staatlichen Interessen sind, um sie den Leuten verständlich zu machen.,,54o Dieser Aufforderung zur Definition des Staatswohls kam der Senat - zumindest soweit unsere Quellen reichen - nicht nach, vermutlich weil er damit überfordert war. Wenn nicht einmal die regierende Elite stringente Vorstellungen vom Sinn der staatlichen Gemeinschaft hatte, konnte man es vom einfachen Volk noch weniger erwarten. Andererseits legt gerade die verschwommene Begrifflichkeit von den allgemeinen Interessen den Verdacht nahe, daß es sich beim geforderten Dienst weitgehend um ein Disziplinierungsmittel handelte. Da die harte und wachsende Leistungspflicht für den Staat bei fast allen Russen quer durch die gesellschaftlichen Schichten als ungeliebte und intellektuell undurchschaute Last empfunden wurde, ließ sie sich nur mit Zwang durchsetzen. Die wichtigste Zwangsmaßnahme gegen den Adel war die Güterkonfiszierung; den gebildeten Geistlichen wurde das Schreiben verboten, damit sie nicht gegen den Zaren und seine Politik agitieren konnten; flüchtige Städter und Bauern sollten mit Hilfe der Armee gewaltsam zurückgeholt werden; wer aus der einfachen Bevölkerung Widerstand leistete, wurde ausgepeitscht, zur Zwangsarbeit (katorga) verbannt oder grausam gefoltert und umgebracht. Als Grundsatz zeigte sich: je niedriger der soziale Rang, desto härter 540 Ebd., S. 38.

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XI. Staatstragende Werte / Staatsgefahrdende Unwerte

die Gewaltmaßnahmen. Die Logik liegt dabei in der Zahl: eine rebellierende Masse war viel gefährlicher als ein paar Gegner aus den höheren Schichten. Damit es möglichst gar nicht erst zur Mißachtung der staatlichen Vorgaben und zu nachfolgenden Sanktionen kam, sollte die Bevölkerung dem Zwang mit Gehorsam entgegenkommen. Dies war unter Peter I. - wie zeitgleich auch in anderen absolutistischen Ländern - die eigentliche Bürgertugend. Laut Prokopovic sollte der Gehorsam fest im Gewissen eines jeden Untertanen verankert sein und nicht nur aus Angst vor Bestrafung erfolgen. Der Gehorsam als hoher staatstragender Wert diente einerseits der raschen und reibungslosen Umsetzung von Beschlüssen der Regierung und sollte andererseits einem Verschleiß der staatlichen Ordnungskräfte beim Kampf gegen Widerspenstige vorbeugen. Vom Zaren selbst wurde Gehorsam als ein genaues Befolgen der Gesetze ausgelegt. In einem Erlaß vom 17.4.1722 rügte er, Gesetze seien keine Spielkarten, mit denen man beliebig umgehen dürfe, sondern Verhaltensvorgaben, die ausnahmslos jeder zu respektieren habe. 54l Gehorsam wurde in vielen gesellschaftlichen Beziehungen als Kardinaltugend gefordert: in der Unterordnung der Frau unter den Mann, der Kinder unter die Eltern, des Leibeigenen unter den Grundherren bzw. den Gutsverwalter als dessen Stellvertreter, im bedingungslosen Vollzug von Befehlen im Heer, in der Flotte und in den Industriebetrieben; Gehorsam strukturierte das Verhalten gegenüber der Polizei, den Gerichten, den Steuereintreibern, der kirchlichen Obrigkeit sowie dem Vorgesetzten im Amt. Eigene Ideen, Kreativität sowie innovatives abweichendes Verhalten konnten unter solchen Umständen kaum gedeihen. Ihr Fehlen wirkte sich negativ auf den technischen Erfindungsgeist und die ökonomische Produktivität Rußlands aus, die gering waren, und ebenso konnte sich die lokale Selbstverwaltung nicht entfalten. Dienstpflicht, Zwang und Gehorsam zusammengenommen dürften bewirkt haben, daß der einzelne in vielen Details des Alltags ein Leben führen mußte, das er innerlich ablehnte. Anders gesagt, es kam sowohl zu einer Selbstentfremdung des Individuums als auch zu keiner echten Identifikation mit dem Gemeinwesen. Insofern barg die emotionale Grundstirnmung der Untertanen im absolutistischen Staat etwas Explosives in sich. Eine spezifische Form der Gehorsamsverpflichtung stellte für die zwölftausend russischen Beamten, ferner für die Angehörigen der Armee, für geistliche Würdenträger sowie für die Vollbürger der Städte der Treueid gegenüber dem Zaren dar. Er wurde auch von Ausländern verlangt, die in russische Dienste traten. In der Fassung vom 28.2.1720 lautete er: "Ich, der oben Genannte, verspreche und schwöre beim Allmächtigen Gott und bei Seinem heiligen Evangelium, meinem natürlichen und wahrhaftigen Herrscher, dem durchlauchtigsten und mächtigsten Peter dem Großen, dem Zaren und Selbstherrscher von ganz Rußland etc. etc. und nach Ihm Seiner Hoheit hohen gesetzmäßigen Nachfolgern, die nach dem Willen Seiner Selbstherrscherlichen Zarischen Hoheit bestimmt wurden oder noch bestimmt werden und der Thronbesteigung würdig sind, und Ihrer Hoheit, der Herrscherin und Zarin 541

PSZ VI, S. 656f.

XI. Staats tragende Werte / Staatsgefahrdende Unwerte

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Ekaterina Alekseevna, ein treuer, guter und gehorsamer Sklave (rab) und Untertan zu sein und alle die zu Seiner Zarischen Hoheit Selbstherrschaft, Stärke und Macht gehörenden Rechte und Prärogativen (oder Privilegien), die schon Gesetz sind oder noch Gesetz werden, nach äußerstem Vermögen, Kraft und Möglichkeit zu bewahren und zu verteidigen und dabei im Bedarfsfall auch mein Leben nicht zu schonen und mich im äußersten Maße zu bemühen, alles zu fördern, was den treuen Dienst und Nutzen Seiner Zarischen Hoheit betreffen kann; sobald ich aber von einer Beeinträchtigung des Interesses Seiner Hoheit, von einem Schaden oder Verlust erfahren werde, werde ich mich bemühen, nicht nur rechtzeitig davon Kenntnis zu geben, sondern ihn auch mit allen Mitteln abzuwenden und nicht zuzulassen. Wenn es mir aber befohlen wird, im Dienst und zum Nutzen Seiner Hoheit etwas geheirnzuhalten, so werde ich es völlig geheirnhalten und niemandem mitteilen, der davon nichts wissen soll; und den mir auferlegten Rang werde ich in geziemender Weise nach meinem Gewissen ausfüllen, wie es Vorschrift ist und wie es im Namen des Zaren (durch meine Vorgesetzten) von Zeit zu Zeit in Instruktionen, Reglements und Erlassen verordnet wird. Ich werde nicht aus Eigennutz oder Eigeninteresse oder Freundschaft oder Feindschaft gegen meine Pflicht und den Eid verstoßen: und auf diese Weise werde ich mich so verhalten, wie es einem guten und treuen Sklaven und Untertan Seiner Zarischen Hoheit geziemt und sich gehört und wie ich es vor Gott und Seinem schrecklichen Gericht immer verantworten kann, so es mir Gott der Herr seelisch und körperlich ermöglicht. Am Ende dieses meines Eides küsse ich die Bibel und das Kreuz meines Erlösers. Amen. ,,542 Aus dem Wortlaut des Treueschwurs geht hervor, daß der Beamte oder sonstige eidleistende Untertan sich dem Dienst am Zaren mit allen Kräften verpflichten mußte und notfalls sogar sein Leben für den Regenten opfern sollte. Er gelobte, den Nutzen des Monarchen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, was zunächst breit ausdeutbar erschien, dann aber durch Verweis auf die jeweils gültigen Gesetze präzisiert wurde. Die Bewahrung von Amtsgeheimnissen sowie ein Dienst frei von Eigennutz erschienen speziell aufgeführt. Der Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten gehörte nicht ausdrücklich zum Eid, vermutlich um eine Anzeige eventueller Pflichtverletzungen in den höheren Rängen der Beamtenschaft durch untere Funktionsträger nicht zu vereiteln. Mit der Bezeichnung "Sklave" kam noch einmal die geforderte bedingungslose Ergebenheit des Amtsträgers gegenüber dem Zaren zum Ausdruck. Indem sich der Treueid auch auf die Zarin und den Nachfolger des Zaren bezog, sollte für den Todesfall des Regenten die Kontinuität der Herrschaft sichergestellt werden. Auffällig erscheint, daß der Treueid nicht auf abstrakte Werte wie etwa das Allgemeinwohl oder das Vaterland geleistet wurde, was Interpretationsmöglichkeiten seitens der Eidleistenden zugelassen hätte, sondern eindeutig an die Person des Herrschers mit all seinen Vorzügen und Schwächen band. Insofern erwiesen sich aus der Perspektive der Amtsträger Zar und Staat eben doch als weitgehend identisch, auch wenn Peter I. 542

Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 73f.

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XI. Staats tragende Werte I Staatsgefährdende Unwerte

selbst in kritischen militärischen Situationen zwischen dem Staatswohl und seiner eigenen Person differenziert hatte. Da der Treueid für hohe und niedere Rangstufen gleichlautete, ergab sich eine gewisse Nivellierung in Form der identischen Ausrichtung auf den Monarchen. Derartige Nivellierungstendenzen waren ein typisches Merkmal des Absolutismus und zeigten sich in Rußland außerdem in der rechtlichen Gleichbehandlung von Erb- und Dienstadel beim Einerbengesetz sowie bei der nivellierenden Besteuerung der bäuerlichen Unterschichten, die als Leibeigene, Hintersassen und Cholopen erstmals seit Peter I. einer einheitlichen Kopfsteuer unterlagen. Neben Dienst, Zwang, Gehorsam und Treue zum Regenten war der Fleiß (revnost') ein Wert, den der Zar insbesondere von der Beamtenschaft forderte. In einem Edikt vom 16.3.1706 wurden die hohen Defizite bei der Eintreibung von Abgaben gerügt und die Verantwortlichen als "Gegner der Erlasse ... Seiner Majestät" eines Dienstvergehens bezichtigt. Am 16.3.1709 drohte der Zar den Schreibern von Urkunden mit fmanziellen Sanktionen: wenn sie nicht regelmäßig und pünktlich zum Dienst erschienen, sollten ihnen pro Tag zehn Kopeken vom Gehalt abgezogen werden. 543 Im Januar 1719 und im Mai 1719 verlangte das Justizkollegium von allen Gerichten, Prozesse zügig abzuwikkeIn und sie nicht zu verschleppen. 544 In den Kollegien sollte "mit Fleiß und Eifer, mit Treue und Sorgfalt" gearbeitet werden; außerdem wurde Nüchternheit im Sinne von Alkoholabstinenz gefordert. Im Kollegiengesetz vom 28.2.1720 hieß es analog: "Der hohe Dienst für Seine Zarische Majestät verlangt eine fleißige und rasche Erledigung." Und: " ... die Hauptsache besteht darin, daß jeder seine Angelegenheit kennt und sie treu und fleißig abwikkelt." Die Vorgesetzten sollten ihre Untergebenen zu einem gottesfürchtigen Leben ohne Trunk und Glücksspiele, zum Tragen von sauberer Kleidung und zu nichtprovozierenden Umgangsformen anhalten. 545 Partiell zeigte sich hier die Tendenz des absolutistischen Staates, auch die Privatsphäre seiner Beamten zu reglementieren, ähnlich wie sich die Polizei in die Lebensgewohnheiten der Stadtbevölkerung einmischen durfte. Um den Senat zu einer effektiveren Arbeitsweise anzuhalten, verfügte der Zar am 27.4.1722, die Redezeit der Senatoren mittels einer Sanduhr zu begrenzen, außerdem wurden Privatgespräche und Scherze im Dienst untersagt. Im letzten Punkt schimmerte als Idealbild ein quasi roboterartig tätiger Beamter durch. Die Instruktion für den Generalprokuror ebenfalls vom 27.4.1722, der den Senat bei allen Sitzungen zu überwachen hatte, betonte noch einmal, der Senat müsse fleißig und ordentlich "ohne Zeitverlust" und ohne Faulheit tätig sein. Zusätzlich forderte der Zar eine genaue Buchführung: zu jedem Sitzungstag sollten einerseits die Beschlüsse schriftlich festgehalten und auf der gegenüberliegenden Seite die Details ihrer Ausführung bzw. etwaige Hinderungsmomente angegeben werden, um die Arbeit des Gremiums durchsichti-

543

544 545

PSZ IV, S. 345,450. PSZ V, S. 621, 700; ähnlich PSZ VI, S. 642. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 225, 494, 496, 567f.

XI. Staatstragende Werte I Staatsgefahrdende Unwerte

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ger und leichter kontrollierbar zu machen. 546 Trotz aller Bemühungen des Zaren, den Verwaltungsapparat effizienter zu gestalten, waren in der Praxis Schlendrian und Gesetzesübertretungen weit verbreitet; gerade deshalb ermahnte der Zar seine Beamten so häufig zu angespannter Tätigkeit. Um die staatlichen Funktionsträger besser in den Griff zu bekommen, rief Peter I. in der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit praktisch die gesamte Bevölkerung dazu auf, korruptions verdächtige Amtsinhaber anzuzeigen. Am 23.10.1713 erging der Appell, jeder solle Seiner Majestät persönlich "Verbrecher, Schädiger der staatlichen Interessen und Plünderer" nennen, dafür werde der Anzeigende das bewegliche und unbewegliche Vermögen des Delinquenten erhalten. Ähnlich hieß es am 11.6.1715, "zum Nutzen des ganzen Volkes" sollten Amtsträger angezeigt werden, die Bestechungsgelder verlangten. Im März 1722 beschimpfte in Penza jemand öffentlich den Zaren und verursachte damit einen Volksauflauf. Weil der Steinmetz Fedor dieses Vorkommnis bei der Stadtverwaltung gemeldet hatte, erhielt er vom Zaren die hohe Summe von 300 Rubeln als Belohnung, dazu das Recht auf lebenslangen zollfreien Hande1. 547 Auf diese Weise sollten weitere Untertanen zu einem ähnlichen Anzeigeverhalten motiviert werden. Umgekehrt drohte Peter am 24.12.1714 und am 22.1.1724 denjenigen harte Strafen an, die von einem Fehlverhalten anderer Personen wußten, aber niemanden denunzieren wollten: sie sollten derselben Sanktion unterliegen wie der Schuldige, den sie deckten. Allgemein propaj§ierte der Zar die Regel: "Sich lieber in einer Meldung irren als schweigen". 5 Hier deutete sich an, daß der Monarch die Unterstützung durch seine Untertanen brauchte, wenn er Mißständen wirksam begegnen wollte. Insgesamt dürfte das Wertsystem des russischen Absolutismus mit seinen Elementen Dienstpflicht, Zwang, Gehorsam, Treue, Fleiß und Denunziation die Bevölkerung wenig motiviert haben, da es ihr im wesentlichen die Rolle rechtloser Befehlsempfänger zuwies und keine breiteren Hoffnungshorizonte eröffnete. Wohlstand wurde zwar manchmal versprochen, etwa anläßlich des Friedens von Nystadt, aber nur für eine fernere Zukunft. Höhere ethische Ideale wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit oder Bildung für alle fehlten, denn sie hätten die herrschende Ordnung gefährdet. Erstaunlicherweise unternahm der Zar nie ernsthaft den Versuch, ein einheitliches Nationalgefühl zu fördern. Vielleicht erschien ihm dies aussichtslos wegen der über hundert Völkerschaften im Reich, von denen viele unfreiwillig dazugehörten. Im Grunde fehlte es an einer attraktiven sozialen Utopie, um die man die Nationen hätte gruppieren können. Der Begriff des Allgemeinwohls füllte diese Lücke nicht, da er viel zu schwammig war und durch seine häufige Verwendung eher zur Leerformel verkam. Aus undatierten Notizen Peters I. lassen sich einige seiner persönlichsten Wertvorstellungen rekonstruieren. So formulierte er im Hinblick auf seine 546 547 548

psz VI, S. 661f.

PSZ V, S. 63, 160; PSZ VI, S. 666. PSZ V, S. 135f; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 311 (Zitat), 316.

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Untertanen: "Diejenigen, die selbst nichts wissen, müssen immer Vorschriften erhalten." Er fühlte sich also der durchschnittlichen Bevölkerung wissensmäßig weit überlegen und leitete daraus das Recht zum Dirigismus ab. Ferner hieß es: "Höher als alle Tugenden steht die logische Schlußfolgerung (razsuzdenie), denn jede Tugend ohne Vernunft ist leer." Für Mitleid blieb da wenig Raum. Weiter notierte der Zar: " Man soll über das schreiben und nachdenken, was unmittelbar vor Augen liegt." Damit huldigte er einem Empirismus und lehnte es ab, sich von allzu hochfliegenden Idealen leiten zu lassen. Vernunft bedeutete für Peter konkret auch die Rache an seinen Gegnern, die er zugleich als Feinde des Vaterlandes sah: " ... die Machthaber ... müssen ihr Vaterland immer rächen und das zurückbringen, worin sie der Feind beleidigt hat".549 Hier wird deutlich, daß ein Hauptwert für den Zaren in der Sicherung seiner eigenen Herrschaft bestand, hinter dem ethische Aspekte zurücktreten mußten. Zwar hatte er Machiavelli nicht gelesen, aber er beherzigte dessen Lehren in der Praxis. Das Wertsystem für seine Untertanen dagegen war wie dünnes Eis, wenig tragfähig. Zu den staatsgefährdenden Verhaltensweisen im petrinischen Rußland zählte der Hochverrat, der die schärfste Form des Treuebruchs gegenüber dem Zaren darstellte. Für die Abwehr und Ahndung dieses Delikts war eine eigene Behörde zuständig, der Preobraienskij prikaz. Dessen Akten weisen für die Zeit von 1695 bis 1709 aus, daß gegen Personen aus fast allen Bevölkerungskreisen ermittelt wurde. Im Februar 1697, kurz bevor Peter I. zu seiner langen Reise durch Westeuropa aufbrach, wurde ein Komplott unter dem ehemaligen Strelitzenoberst Ivan Zickler sowie dem Adligen Aleksej Prokofevic Sokovnin aufgedeckt, die den Zaren töten und sich selbst an die Macht bringen wollten. Als handlungsleitende Motive fungierten dabei die Enttäuschung über die eigene Zurücksetzung und persönlicher Ehrgeiz. Nach einem nur einwöchigen Prozeß, bei dem - wie so oft - die Folter das Geständnis erpreßte, köpfte man Anfang März desselben Jahres sechs Angeklagte in dieser Sache, so daß der Zar vor seiner Abreise noch einmal eindrucksvoll seine Herrschergewalt demonstrieren konnte. Nach diesem Vorfall regte sich organisierter politischer Widerstand aus den Reihen des Adels zur Zeit Peters I. nicht mehr. Einige Geistliche wurden verurteilt, weil sie entsprechend der im russischorthodoxen Klerus üblichen sehr konservativen Einstellung gegen Peters vom Westen übernommene Neuerungen wie kurze Kleidung, Bartscheren, Tabakrauchen und den gregorianischen Kalender polemisiert hatten. Der Mönch Grigorij Talickij wurde auf besonders grausame Weise über Flammen gehalten und gevierteilt, nachdem er die Hoffnung auf einen erneuten Staatsstreich der Strelitzen geäußert und damit den Zaren an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen hatte. Einen Abt, der die Requirierung von Kirchengut für staatliche Zwecke kritisierte, schlug man mit Ruten, degradierte ihn und schaffte ihn in ein abgelegenes Kloster. Ein anderer Geistlicher wurde für dieselbe Kritik geknutet und nach Sibirien verbannt. Mehrere Popen wagten es, beim Kirchengebet die Namen des Zaren und der Zarin wegzulassen mit der 549 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 151f.

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fonnal richtigen Begründung, Peter lebe in ungesetzlicher Ehe und breche die Fasten; diesen Widerstand büßten sie mit dem Tod. Bauern, die über die hohen Belastungen durch Steuer und RekrutensteIlung schimpften, das Privatleben des Zaren unchristlich nannten und seine brutale Abrechnung mit den Strelitzen verwarfen, wurden geknutet und nach Sibirien verbannt. Einem, der besonders scharfe Worte gefunden hatte, schnitt man zusätzlich die Zunge ab. Peitschenhiebe und Verbannung erlitten auch Soldaten, die sich über den harten Dienst in der Annee, Rückstände in der Soldzahlung und ihre ausländischen Offiziere erregt hatten. 55o Die Prozeßmaterialien des Preobraienskij prikaz in ihrer Gesamtheit zeigen, daß nicht nur Attentatspläne gegen den Herrscher, sondern bereits einfache Unmutsäußerungen gegen seine Politik sehr rigide als Hochverrat qualifiziert wurden. Vennutlich wollte der Zar jede Flamme des Widerstandes frühzeitig im Keim ersticken, bevor sie einen Großbrand auslösen konnte. Ein solches Vorgehen war staatspolitisch unter dem Aspekt des eigenen Machterhalts klug, human erscheint es nicht. Etwas eleganter und weniger spektakulär, aber letziich denselben Zwecken dienend, löste Ludwig XIV. in Frankreich das Problem etwaigen Aufruhrs mit den lettres de cachet, d. h. willkürlichen Verha::ungen, denen lange Zeiten des Kerkeraufenthalts folgten. Unter den Bedingungen der Weiträurnigkeit Rußlands konnte Peter I. für mittelschwere Fälle kostensparend die Verbannung als Sanktion bevorzugen. Ein Grundübel des russischen Staates, das viele Absichten des Zaren in der Praxis konterkarierte, war die Korruption. llire ungewöhnlich weite Verbreitung hing mit der traditionellen Auffassung zusammen, gemäß der Inhaber eines öffentlichen Amtes dieses als Mittel ihrer Versorgung ansahen (konnIenie), ohne dem eigenen Bedarf Grenzen zu setzen. Folgende Fälle von Korruption wurden bereits erwähnt: die Unterschlagung etwa jeder fünften Steuerseele bei der Volkszählung von 1719, desgleichen die Gewohnheit, daß sich reiche Adlige nach einiger Zeit des Dienstes illegal aus der Annee freikauften, die Vergabe von PopensteIlen teilweise durch Bestechung der Prüfer und ferner die Absicht des Zaren zu Beginn seiner Regierung, korrupte Richter auszuwechseln. Als im Jahre 1705 der Aufsteiger Aleksej Aleksandrovic Kurbatov im Auftrag des Monarchen die Moskauer Rathausverwaltung inspizierte, stellte er fest, daß die Staatskasse vielfach bestohlen worden war. Zur Verschleierung der Unterschlagungen diente dabei eine besondere Art der doppelten Buchführung: ein Buch, das zu wenig Einnahmen auswies, zeigte man bei Revisionen vor; daneben gab es eine zweite Abrechnung mit den echten Daten; den Differenzbetrag steckten die Angehörigen der Verwaltung ein und deckten sich gegenseitig. Die reiche städtische Oberschicht in den Rathäusern legten der ärmeren Masse häufig zu hohe Steuern auf, behielt einen Teil für sich selbst und verlangte zusätzlich noch Bestechungsgelder, ohne die fast nichts lief. Falls es zu Untersuchungen des städtischen Finanzgebarens kam, bot man den Kontrolleuren Schweigegelder an oder vertrieb sie mit Gewalt. Innerhalb eines 550

Golikova, Politiceskie processy, S. 87ff, 136ff, 152ff, 170ff, 198,202.

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Jahres verschwanden durch solche Unterschleife aus der Stadtkasse von Jaroslavl' rund 40 000 Rubel, aus dem Etat von Pskov sogar 90 000 Rubel. Angehörige des Magistrats bereicherten sich ferner illegal, indem sie Waren monopolisierten und dann zu überhöhten Preisen verkauften. Zollzahlungen wurden dadurch umgangen, daß reiche Kaufleute Strohmänner vorschoben, die angeblich zum eigenen Bedarf Tuche, Strümpfe usw. zollfrei erwarben, tatsächlich aber die Waren an den Großkaufmann weitergaben. 551 Am 19.1.1705 erging ein Edikt, daß den Voevoden Kontrolleure aus dem Adel zur Seite gestellt werden sollten, um die Korruption auf der Ebene der Provinzen einzuschränken. Auch dort wurden von den Amtsträgern Steuergelder für private Zwecke einbehalten, zusätzlich illegale Abgaben erhoben, Bestechung prägte den Alltag, und der Schwarzhandel mit Spirituosen blühte, obwohl sie per Gesetz eigentlich ein Staatsmonopol waren. Aus der klaren Einschätzung, daß der Statthalter in der Regel sein Amt mißbrauchen würde, resultierte die Bestimmung, daß er nur zwei Jahre auf diesem Posten bleiben dürfe, was die Raffgier allerdings eher noch verstärkte. Manche Voevoden bedrohten ihre Untergebenen mit dem Tod und zwangen sie auf diese Weise, wider besseres Wissen ein Gesuch auf Verlängerung der Amtszeit des Statthalters zu s~ellen, so daß er sich weiterhin bereichern konnte. 552 Auch in den gesamtstaatlichen Verwaltungsorganen, den Kollegien, kamen Betrug und Bestechung vor. Vom 11.12.1715 datierte ein Urteil, daß Angehörige des Kriegskollegiums mit Stöcken zu schlagen seien, weil sie sich dafür hatten bezahlen lassen, einigen Offizieren Urlaub zu gewähren, die anschließend nicht zurückgekehrt waren. Am 6.4.1722 rügte der Zar, Kollegien und Kanzleien hätten keine Abrechnungsunterlagen an den Senat geschickt, und verlangte die Bestrafung der Schuldigen. Die neue Redaktion des Kollegiumsgesetzes vom 31.1.1724 drohte denjenigen "die Todesstrafe oder ewige Zwangsarbeit mit Aufschlitzen der Nasenflügel und Vermögenskonfiszierung" an, die Dokumente verschwinden ließen, absichtlich unwahr berichteten, ihre Schweigepflicht verletzten oder sich bestechen ließen. 553 Derartig harte Maßnahmen erscheinen schon fast als Verzweiflungsakte des Zaren. Vermutlich hatte er das Gefühl, die Verwaltung entgleite ihm, und wollte seinen Beamtenstab mit Drohungen auf den gewünschten Kurs bringen. Psychologisch gesehen hätte vielleicht eine breite Beförderungsaktion für fleißige und integere Amtsinhaber eher zu guten Leistungen motiviert oder auch ein Rotationsprinzip, bei dem sich die Beamten abwechselnd kontrolliert hätten. Statt dessen etablierte Peter ab März 1711 ein Kontrollsystem von sogenannten Fiskalen, die in den zentralen Verwaltungsgremien, bei den Gouverneuren sowie in den Städten verdeckt ermitteln und insbesondere der Unterschlagung von Staatsgeldern (kaznokradstvo), aber auch sonstigen Rechtsbrüchen auf die Spur kommen sollten. Als Anreiz zu intensiven Recherchen wurSolov'ev, Istorija Rossii, Bd. VIII, S. 325f, 498, 503. PSZ IV, S. 284, 322; Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. VII, S. 586ff. 553 PSZ V, S. 185; PSZ VI, S. 645; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S.513 (Zitat). 551

552

XI. Staats tragende Werte I Staatsgefährdende Unwerte

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de jedem Fiskal die Hälfte der Strafgelder als Eigentum versprochen, die aufgrund seines Einschreitens von den korrupten Beamten erhoben werden würden. Insgesamt belief sich die Anzahl der Fiskale auf etwa: zweihundert Personen. Viele von ihnen erwiesen sich wiederum als bestechlich. Bei den überwachten Amtsträgem war die neue Institution sehr unbeliebt. Schon 1729, vier Jahre nach Peters Tod, wurde sie wieder abgeschafft, indem die freiwerdenden Stellen unbesetzt blieben. 554 Außer durch Korruption wurde die sachgemäße Erledigung von Gerichtsund Verwaltungsangelegenheiten unter Peter I. auch durch die Faulheit mancher Beamter gehemmt. Anscheinend ruhten sich diese Leute bequem auf ihrem Posten aus, wenn sie ihn erst einmal innehatten. Die Verschleppung von Gesuchen und Prozessen (volokita) bildete ein DaueTÜbel, das sowohl im September 1719 der Leiter des Justizkollegiums, Graf Andr~ Artamonovic Matveev, als auch im Januar 1722 der Zar selbst kritisierten. 5 Im Gerichtsgesetz vom 5.11.1723 hieß es einleitend: "In den Gerichten läßt man viele überflüssige Reden zu und schreibt viel Unnützes, was sehr verboten ist"; um hier gegenzusteuern, wurden Vorlade- und Erledigungsfristen eingeführt, außerdem sollte sich die Protokollführung auf die wesentlichsten Gesichtspunkte beschränken. 556 Entsprechend enthielten auch die Kollegiumsgesetze vom 28.2.1720 bzw. vom 31.1.1724 jeweils einen Passus gegen Nachlässigkeit (neradenie) und Bummelei (daby ne guljali). Sachfremde Gespräche und Scherze wurden verboten, was natürlich unrealistisch war, aber wiederum ein roboterartiges Grundverständnis des Zaren über seine Beamten enthüllte. Sitzungsprotokolle sollten am dritten Tag nach dem jeweiligen Treffen unterzeichnet sein. 557 Gegen den Schlendrian in den Gouvernementsbehörden erließ der Zar am 19.12.1719 ein Gesetz, in dem verfügt wurde, Anfragen aus dem Senat oder den Kollegien müßten vor Ort am folgenden Tag nach dem Eintreffen der Post beantwortet werden; Zuwiderhandelnden drohte die Verbannung oder in hartnäckigen Fällen sogar die Todesstrafe. Einigen jungen Kollegiumsschreibern, die der Zar zum Erlernen der deutschen Sprache nach Königsberg schickte, stellte er einen Aufpasser zur Seite, "damit sie nicht schludern".558 Schließlich gab es einige nicht ganz so erhebliche Formen von Fehlverhalten, die der Zar ebenfalls abwenden wollte. So verlangte er insbesondere von den Mitgliedern des Senats und der Kollegien Entscheidungen frei von "Leidenschaften" (strasti), d. h. die Männer sollten sich nur streng sachorientiert von den staatlichen Interessen, nicht aber von persönlicher Sympathie oder Antipathie leiten lassen. Rivalitäten und Beschimpfungen, aber auch Begünstigungen im Amt sollten vermieden werden. Ferner war es laut Edikt vom 554 PSZ IV, S. 635f, PSZ V, S.493; Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. VIJI, S.492f; Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 111 555 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 247, 381. 556 Ebd., S. 400 (Zitat)f. 557 Ebd., S. 226,261,265,488,509,526. 558 Ebd., S. 215 (Zitat), 228f.

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XI. Staats tragende Werte / Staatsgefährdende Unwerte

11.12.1717 verboten, VelWaltungsakte in Privathäusern oder auf der Straße zu besprechen; statt dessen mußte alles in den Behörden in schriftlicher Form erledigt werden, um dem Zaren oder seinen Beauftragten die Kontrolle über die Details der Staatsgeschäfte zu erleichtern. 559 Insgesamt wird aus den geforderten Tugenden bzw. den bekämpften Untugenden deutlich, daß sich Peter I. als Idealvorstellung eine reibungslos arbeitende Staatsmaschinerie wünschte, in der die privaten Interessen ihrer Träger möglichst keinen Störfaktor darstellten und der einzelne als Rädchen im Getriebe funktionierte. Dieses mechanistische Modell war den NatulWissenschaften und der Technik entlehnt, für die Peter eine Vorliebe hegte. Die Psyche seiner Beamten konnte er kaum positiv prägen. Anscheinend war ihm dies als AufgabensteIlung nicht wirklich bewußt, da er den guten Beamten zu sehr als Roboter sah. Eine gewisse Abhilfe gegen die vielen Mißstände in der VelWaltung hätten wohl am ehesten ein solide fundiertes Bildungswesen sowie die Übernahme der westlichen Jurisprudenz schaffen können. Vielleicht wäre zusätzlich eine erhöhte Regelbesoldung sinnvoll gewesen, die es dem Beamten ermöglicht hätte, seine Familie und sich selbst auch ohne Bestechung und Unterschlagung zufriedenstellend zu versorgen. So aber blieb die Praxis der petrinischen Staatsgeschäfte weit hinter den Idealen des Zaren zurück. Die Größe des Reiches erlaubte ihm keine tatsächliche Kontrolle, und mit Gewalt oder Gewaltandrohung als bevorzugtem Lenkungsmittelließen sich die Untertanen nicht willig stimmen. Aufs Ganze gesehen elWies sich das staatstragende Wertsystem der petrinischen Epoche eher als dürftig; zündende Utopien fehlten. So blieb dem einzelnen als wesentliche Handlungsmotivation nur der Egoismus, dem wenig integrierende Kräfte innewohnen.

559

Ebd., S. 217f, 258, 308, 331.

XII. Heer und Flotte Bisher lag der Schwerpunkt der Darstellung überwiegend auf den ideellen und personenbezogenen Aspekten des Staatsbegriffs im russischen Absolutismus. Die folgenden acht Kapitel sind seiner instrumentellen Seite gewidmet, d. h. sie behandeln die Machtmittel, die zu Durchsetzung der Herrschaft benötigt und benutzt wurden. Damit gehen wir von der theoretischen Begründung der Staatsauffassung und ihren sozialen Fundamenten stärker zu Problemen der Praxis über. Das wichtigste Machtinstrument des Absolutismus - und so auch in Rußland unter Peter I. - war das stehende Heer. Seine ununterbrochene Präsenz machte es dem Regenten erst möglich, die eigenen innenpolitischen und außenpolitischen Absichten gegebenenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Im Inneren des Landes entschieden die Truppen 1689 den Machtkampf zwischen Peter und Sofja, indem sie mehrheitlich dem Samrnlungsaufruf des jungen Zaren folgten, wobei gerade auch alle Offiziere ausländischer Herkunft die männliche Thronfolge unterstützten. S60 Neben der Machterringung diente das Heer dem Zaren auch zur Machtbewahrung durch die Unterdrückung von Aufständen; so erstickte es in den Jahren 170511706 die Rebellion von Astrachan' sowie im Jahre 1708 den großen Bauernaufstand in Südrußland unter Kondratij Bulavin. Periodisch wurde es auch immer wieder zur gewaltsamen Rückführung von Läuflingen eingesetzt und bekämpfte damit die individuellere Form des Widerstandes einzelner Bauern. Ferner hielt es die nichtrussischen Völker des Reiches in Schach, soweit sie Separationsbestrebungen zeigten, wie etwa die BasKiren seit 1705. 561 Nach außen hin trat das Heer unter Peter I. in zwei Feldzügen gegen die Türken 1695 und 1696 zwecks Eroberung der Festung Azov am Schwarzen Meer in Aktion. Dann kämpfte es lange zwischen 1700 und 1721 im Nordischen Krieg gegen die Schweden unter Karl XII. und eroberte schließlich die Ostseeprovinzen als bleibenden Gewinn. Vom Mai 1722 bis September 1723 fand ein Feldzug gegen das von internen Machtkonflikten geschWächte Persien statt, dem die Russen Derbent, Baku und einige Provinzen am Süd- und Westufer des Kaspischen Meeres abnahmen. Seitdem übte Rußland einen größeren Einfluß auf den ertragreichen Seidenhandel mit Indien aus. Ein weiteres Motiv für diesen letzten Feldzug des Zaren bestand darin, einer Vockerodt, Rossija pri Petre Ve1ikom, S. 24. Pib VII, S. 144; J. Oswalt, Die inneren Reformen 1700 - 1725, in: K. Zemack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 11, 1613 - 1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht. Stuttgart 1986, S. 346. 560 561

11 Helmert

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eventuellen Machterweiterung des Nachbarn Türkei auf Kosten Persiens zuvorzukommen. Peter I. zeigte von früher Jugend an eine enge Affmität zum militärischen Bereich. Sein Biograph Petr Nikiforic Kreksin beschrieb anschaulich, wie Peter als Kind kurz nach seinem dritten Geburtstag zum Namenstag des heiligen Petrus am 29. Juni 1675 zahlreiche Geschenke von Großkaufleuten erhielt, darunter aber mit Abstand am meisten auf einen kleinen Säbel und ein Gewehr ansprach, die er zum Ergötzen der HofSesellschaft sehr ernsthaft benutzte und dauernd hinter sich her tragen ließ. 5 Psychologisch äußerte sich hier das Geltungsbedürfnis eines kräftemäßig noch schwachen Kindes. Peters Lehrer Nikita Moiseevic Zotov erzählte seinem Zögling verschiedene Begebenheiten aus der russischen Geschichte, wobei sich der Zarevic besonders für die Kriegshelden Dmitrij Donskoj und Aleksandr Nevski4 begeisterte, die ihr Land entschlossen gegen äußere Feinde verteidigt hatten. 63 hn Alter von zehn Jahren erhielt Peter bereits einen eigenen Miniaturparadeplatz im Kreml. 564 Ahnlich "kommandierte" sein späterer Gegenspieler Karl XII. von Schweden sogar schon mit sieben Jahren ein Leibregiment,565 d. h. die Förderung militärischer Neigungen bildete ein allgemeines Merkmal der Fürstenerziehung im Absolutismus. Einige Jahre später stellte sich der Zarensohn selbst aus etwa gleichaltrigen Stallknechten und Kammerherren zwei Spielregimenter a 300 Personen zusammen, mit denen er einen großen Teil seiner Zeit verbrachte, Exerzieren übte und Kampfspiele im Gelände austrug. Diese Spielregimenter bildeten den Kern der späteren Leibgarde des Zaren, die dann aber auf etwa 2 000 Personen erweitert wurde. 566 Unter den bedeutenden Feldherm der Weltgeschichte identifizierte sich Peter I. mit denjenigen, die besonders ausgreifende Eroberungszüge unternommen hatten, nämlich mit Alexander dem Großen und Cäsar. Alexander war analog das Leitbild Karls XII. von Schweden. 567 Vom Namen Cäsars leitete sich im übrigen der Zarentitel ab, d. h. Peter I. bewegte sich mit seiner Begeisterung für den hnperator in alten Denktraditionen. Nach römischem Vorbild ließ auch Peter bei Siegesfeiern Triumphbögen errichten und sich selbst als Reiterstandbild mit allegorischen Figuren verewigen. Den Bericht des Quintus Curius über die Taten Alexanders von Makedonien befahl der Zar ins Russische zu übersetzen, und immerhin erlebte das Buch zur Regierungszeit Peters drei AUflagen. 568 Der kaiserliche Gesandte Dtto Pleyer berichtete,

Kreksin, Kratkoe opisanie blaiennych del, S. 13. Majkova, Petr Ii "Gistorija Svejskoj vojny", S. 103. 564 Cracraft, The Church Reform, S. 3. 565 J.-P. Findeisen, Karl Xll. von Schweden. Ein König, der zum Mythos wurde. Berlin 1992, S. 30. 566 Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 12. 567 J.-P. Findeisen, Das Ringen um die Ostseeherrschaft. Schwedens Könige der Großmachtzeit. Berlin 1992, S. 221. 568 P. P. Epifanov, Voinskij ustav Petra Velikogo in: A. I. Andreev (Hrsg.), Petr Velikij. Moskva I Leningrad 1947, S. 207; N. A. Baklanova, Obraienie idej absolju562 563

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der Zar lasse sich häufig vor dem Einschlafen noch aus diesem Werk vorlesen und wolle Alexander dem Großen nacheifern oder ihn sogar noch übertreffen. 569 Hier äußerte sich dasselbe Großmachtstreben, wie es Peter I. anläßlich einer Schiffstaufe als russische Berufung deutlich werden ließ und wie es konkret in den Eroberungskriegen seiner Herrschaftsperiode zutage trat. Auch bei der Gestaltung von Feierlichkeiten zeigten sich die militärischen Neigungen des Zaren: Theater oder Orchestermusik waren nicht nach seinem Geschmack, wohl aber Militärtrommeln und Kanonensalven, die reichlich bei Gastmählern, Maskeraden, Jubiläen, Schiffstaufen oder zu Neujahr ertönten. 570 Welch überragenden Anteil Fragen der Kriegstechnik im Denken des Zaren ausmachten, offenbaren schließlich seine Briefe, in denen Aufmarschbefehle, Durchhalteparolen, taktische Details, die Sicherung des Nachschubs, die Quartiernahme der Truppen, Maßnahmen zu Aufrechterhaltung der Disziplin sowie das Verhalten in Feindesland einen so breiten Raum einnahmen wie sonst kein anderer Bereich der Politik. Der überwiegende Teil der russischen Armee in der Epoche vor Peter I. war kein stehendes Heer, sondern wurde vom Monarchen jeweils nur im Kriegsfall einberufen. Es bestand aus dem traditionellen Aufgebot an Adligen samt ihren Leuten, die sich selbst mit Kleidung, Pferden und Waffen ausrüsteten sowie für die erste Zeit des Feldzuges Verpflegung mitzubringen hatten. Ein systematisches Training der Kampfflihigkeit fehlte. Uniformen oder Kasernen gab es noch nicht. Die meiste Zeit über lebten die potentiellen Armeeangehörigen als Zivilisten auf dem Lande und beschäftigten sich mit Ackerbau. Daneben existierte seit dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, eingeführt unter dem Zaren Michail Romanov, eine feste Kerntruppe von Regimentern nach ausländischem Muster (polki inozemnogo stroja), überwiegend Infanterie und Artillerie, deren Offiziere oft aus Weste uropa stammten und westliche Technik einsetzen konnten. Der gemeine Soldat diente in diesen Regimentern lebenslang. Ergänzt wurde das russische Heer im 17. Jahrhundert durch die Palastwache der Strelitzen (Schützen), die mit Flinten ausgerüstet waren und in Friedenszeiten nebenbei Handelsgeschäften nachgingen. Beim Feldzug gegen die Türken im Jahre 1681 konnte Zar Fedor Alekseevic 16 000 Adlige, 30 000 Reiter, 60 000 Infanteristen und 22 000 Strelitzen aufbieten, insgesamt knapp 130 000 Mann. 571 Den gestiegenen Machtbedürfuissen eines absolutistischen Herrschers entsprach die überkommene Struktur des russischen Heeres nicht, da die Adligen dem Einberufungsbefehl häufig verspätet oder gar nicht Folge leisteten, die Waffen schlecht gepflegt wurden oder verlorengingen, die große Masse der tizrna v izobrazitel'nom iskusstve pervoj cetverti XVllI v., in: Druzinin u. a. (Hrsg.), Absoljutizrn v Rossii, S. 5OOf, 503. 569 E. Hermann (Hrsg.), Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Rußlands. Leipzig 1872, Bd. I, S. 129. 570 Pokrovskij, Russkaja istorija, S. 610. 571 UstIjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. I, S. 187f; Pokrovskij, Russkaja istorija. S. 611f. 11*

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XII. Heer und Hotte

Soldaten keinen Drill durchgemacht hatte und die Kampfkraft generell zu wünschen übrigließ. Das alte Heer war unprofessionell, zu schwerfaIlig einsatzbereit und nicht jederzeit verfügbar, so daß Maßnahmen zur Steigerung seiner Effizienz aus der Sicht des Zaren unerläßlich erschienen. Dies galt umso mehr, als das Ausland als potentieller Kriegsgegner sich bereits auf eine modernere Heeresorganisation umgestellt hatte. Außerdem konnten speziell die Russen aus der Erinnerung an die Mongolenokkupation besonders gut nachvollziehen, wie wirkungsvoll ein schlagkräftiges und stets präsentes Heer Herrschaft zu stützen imstande war. Vor dieser Zeitsituation, vor diesem historischen Hintergrund und inspiriert von der Vorstellung, in die Fußstapfen Alexanders des Großen und Cäsars zu treten, machte sich der Zar mit Elan an eine umfassende Heeresreform, damit er die eigenen Machtansprüche und die seines Reiches wirkungsvoller durchsetzen konnte. Quantitativ erhöhte Peter I. die Stärke der Armee bis zum Ende seiner Regierungszeit um etwa siebzig Prozent auf 210 000 Mann. Damit lag Rußland, was die Größe der Landstreitkräfte betraf, im Mittelfeld der europäischen Nationen. Der französische König Ludwig XIV. konnte bis zu 400 000 Soldaten und Offiziere aufbieten, die preußischen Truppen machten zu Beginn des 18. Jahrhunder:s rund 40 000 Personen aus. 572 Für Peter entscheidend war dabei, daß sein militärischer Ha'Wtkontrahent Karl XD. von Schweden maximal nur 110 000 Mann befehligte, 3 so daß die Siegeschancen für Rußland im Nordischen Krieg letztlich günstig standen. Der Budgetanteil für die russische Armee betrug im Jahre 1724 75,5 Prozent der tatsächlichen Staatseinnahmen und entsprach damit den Verhältnissen in Preußen unter Friedrich TI., der ähnlich wie Zar Peter I. lange und intensiv Krieg führte. 574 Obwohl Peter schon in jungen Jahren militärisch sehr interessiert war, ging er nicht sofort nach seiner Regierungsübernahme an den Ausbau der Streitkräfte. Anfangs vertrat er noch nicht konsequent die Zielvorstellung eines stehenden Heeres, sondern verfügte am 2.10.1694, für den folgenden Winter solle die Armee entlassen werden, vermutlich um Kosten zu sparen. Erst die konkrete Kriegserfahrung im Kampf gegen die Türken vor Azov 1695/96 sowie die letzte Erhebung der Strelitzen 1698, während sich der Zar auf seiner großen Auslandsreise befand, bewogen den Monarchen, das Heer gründlich zu modernisieren. Im Januar 1700 erging aus Sicherheitserwägungen ein Erlaß, der die Auflösung der Reste der früheren zwanzig Strelitzenregimenter beinhaltete: wer von ihnen die Vergeltungsaktionen des Zaren überlebt hatte, mußte Moskau verlassen und samt der Familie in weit entfernte Städte ziehen. 575 Nun war der Weg frei für einen Neuaufbau. Zwischen 1699 und 1725 ließ Peter I. insgesamt 53 Mal jeweils 10 000 bis 20 000 Rekruten ausheben, wobei meist junge Bauern, überwiegend Ledige Donnert, Peter der Große, S. 129; Krebs, Der europäische Absolutismus, S. 39. Findeisen, Karl XII. von Schweden, S. 87. 574 Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 142f; H. de Buhr, Die Entstehung des modemen Staates im Absolutismus. Frankfurt / M. 1983, S. 19. 575 PSZ m, S. 183; PSZ IV, S. 2. 572 573

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im Alter von fünfzehn bis dreißig Jahren, eingezogen wurden. In der Regel hatten zwanzig Höfe je einen Fußsoldaten bzw. fünfzig Höfe je einen Reiter zu stellen, doch variierte die Rekrutierungsdichte nach dem kriegsbedingten Bedarf und trat in der Spannbreite je eines Soldaten pro zehn bis hundert Höfen auf. Die Grundherren mußten die Rekruten ihres jeweiligen Einflußbereichs mit Winterkleidung, Roggenmehl, Gerstengrütze und einem bis anderthalb Rubel für den Kauf weiterer Nahrung ausstatten. 576 Daneben wurden Landstreicher zwangsweise der Armee zugeführt. 577 Der preußische Botschaftssekretär Vockerodt berichtete über eine weitere Herkunftsgruppe, die Söhne von Soldaten würden als "geborene Rekruten" betrachtet und träten gewöhnlich in die Fußstapfen ihrer Väter. 578 Die RekrutensteIlung erfolgte im Regelfall schleppend. Um seinen Befehlen hier mehr Nachdruck zu verleihen, verfügte der Zar am 16.1.1713, für jeden fehlenden Gemusterten habe der zuständige Gouverneur einen Rubel Strafe zu zahlen; dieselbe Strafe drohte Gutsbesitzern, die ihre Bauern zurückhielten. Im Sommer und Herbst 1720 wurde erlaubt, daß der ausgewählte Rekrut statt seiner eigenen Person gegen Bezahlung auch jemand anderen zur Truppe schicken durfte, einen sogenannten Mietling (naemscik).579 Viele der Einberufenen waren entsetzt über ihr Schicksal, zumal seit 1705 die Dienstzeit prinzipiell für den Rest des Lebens galt, und versuchten zu fliehen. Um ihnen das Untertauchen zu erschweren, befahl der Zar am 19.5.1712, jeden Rekruten am Arm zu tätowieren, was fatal an die Kennzeichnung von Vieh erinnert. Gleichfalls zum Zweck der Fluchterschwemis wurden die jungen Soldaten während des Transports zu ihrem Armeestandort paarweise zusammengeschlossen, so daß sie sich wie Häftlinge fühlen mußten. Einige starben schon unterwegs an Hunger und Kälte. Um diese Verluste an Menschenmaterial einzudämmen, erging Ende Oktober 1719 ein Edikt, die Rekruten nicht zusammengepfercht und eng wie im Gefängnis zu halten, womit bezeichnend die Praxis zutage trat. Ferner sollte überprüft werden, ob die Männer den ihnen zustehenden Sold auch tatsächlich erhalten hatten, d. h. fmanzielle Betrügereien kamen auch in der Armee vor. 580 Der Alltag in den Streitkräften bestand aus einer Kette von Strapazen. Proviant und Unterkünfte waren oft mangelhaft, so daß die Soldaten hungerten und froren. Das für die Armee bestimmte Getreide verfaulte fuderweise in den staatlichen Speichern, weil sich niemand um die sachgerechte Lagerung kümmerte. Der kaiserliche Gesandte Pleyer formulierte zugespitzt, wegen des Mangels an Getreide "zersetzt sich das Heer fast mit jedem Jahr mehr als durch die heißesten Gefechte", worin eine eklatante Fehlorganisation zum Ausdruck kam. 58l Der Drill war hart. Viele Offiziere ließen primitiv ihre 576 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 292; PSZ IV, S. 291ff, 313, 329, 348, 353, 432f, 435, 465, 650, 707; PSZ V, S. 595f. 577 PSZ III, S. 193; PSZ V, S. 698. 578 Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 20. 579 PSZ V, S. 5; PSZ VI, S. 203, 252. 580 PSZ IV, S. 837; PSZ V, S. 745f; Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 37. 581 Pleyer, 0 nynesnom sostojanii, S. 6.

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Macht spielen und schikanierten ihre Untergebenen, die sich faktisch nicht dagegen wehren konnten, da sie nirgendwo Recht bekamen. Ein einfacher Gefreiter erhielt nur zehn bis elf Rubel Jahressold, während es Generäle immerhin auf 3 600 Rubel, der Feldmarschall sogar auf 12 000 Rubel pro Jahr brachten. Ausländischen Offizieren und Unteroffizieren versprach der Zar ein um fünfzig bis hundert Prozent erhöhtes Gehalt. 582 Von seinem mageren Sold, der aber längst nicht immer pünktlich ausgezahlt wurde, mußte der Gefreite noch die Kosten für seine Uniform selbst begleichen, so daß ihm zur privaten Verfügung fast nichts verblieb. Einige der gravierenden organisatorischen Defizite in der russischen Armee wiederholen sich derzeit, indem 1995/96 etwa die Hälfte der Soldaten monatelang ohne Geld blieb und die Versorgung mit Lebensmitteln in den Streitkräften bei weitem nicht ausreicht, was die Zahl der Fahnenflüchtigen und Selbstmörder in die Höhe schnellen läßt. 583 Eine wichtige Neuerung bei der internen Organisation der Armee unter Peter I. bestand darin, daß Rekruten, die aus derselben Region stammten, im Dienst nicht mehr zusammenblieben, sondern bewußt vereinzelt wurden. 584 Mit dieser Aufspaltung wollte der Zar offenbar Fällen von Insubordination vorbeugen, die leichter auftreten konnten, wenn sich mehrere Beteiligte von früher kann:en, einander vertrauten und sich zu gemeinsamem Widerstand entschlossen. Auf die unterschiedlichen Nationalitäten im Russischen Reich bezogen bot die neue Strukturform im Interesse der Zentralmacht eine günstige Möglichkeit, durch gemischte regionale Zusammensetzung der Heereskader die Streitkräfte gewissermaßen als Schmelztiegel zu benutzen und ethnisches Selbstbewußtsein zu dämpfen. Bei den einzelnen Soldaten hingegen dürfte sich die Reform als Verlust an innerer Bindung mit negativen Folgen für die Kampfmoral ausgewirkt haben. In der Schlacht herrschte die Lineartaktik vor. Die Soldaten marschierten eng aneinander gedrängt in sechs Kampfreihen auf, von denen jeweils die beiden vorderen in knieender Haltung auf Kommando gleichzeitig Gewehrsalven auf den Gegner feuerten. Beim anschließenden Nachladen waren sie dann selbst ungeschützt. Diese Kampfesweise forderte hohe Tribute an Menschenleben und offenbarte exemplarisch, welchen geringen Wert die absolutistische Staatskonzeption dem Individuum zumaß. In dieser Weise an Gewalt gewöhnt. gingen die Armeeangehörigen vielfach selbst gewalttätig vor, wenn sie in Privatquartieren untergebracht waren, bedrohten oder vertrieben die Eigentümer und plünderten die Vorräte, um endlich einmal satt zu werden. 585 Wie auch in anderen Armeen während der Epoche des Absolutismus bewirkten diese sehr abstoßenden Lebensbedingungen eine hohe Rate an Deserteuren. Unter Peter I. stieg sie in Rußland zwischen 1705 und 1709 auf jährPSZ IV, S. 590. 595. Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 27.1.1996, S. I unter Berufung auf einen Bericht an den Deutschen Bundestag. 584 M. RaetI, Understanding Imperial Russia. State and Society in the Old Regime. New York 1984, S. 40. 585 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 16,42,44, 5lf. 200. 582 583

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lieh mindestens 10 000 Personen an. Einem Edikt vom 14.2.1715 zufolge waren damals aktuell 20 000 Soldaten oder über zehn Prozent des russischen Heeres flüchtig. Ferner kam es zu Selbstverstümmelungen oder sogar Selbstmorden, um dem ungeliebten Soldatendasein zu entrinnen. 586 Die Mittel der staatlichen Gegensteuerung waren zahlreich, jedoch nicht wirklich effizient. Am 7.7.1710 verfügte der Zar, diejenigen, die den Aufenthaltsort eines Deserteurs kannten und verheimlichten, seien genauso zu bestrafen wie der Delinquent selbst. In den Jahren 1711, 1712, 1713 und 1714 verfolgte der Herrscher teilweise die mildere Taktik der Amnestie für geflohene Soldaten, sofern sie innerhalb von zwei bis sechs Monaten freiwillig zurückkehren würden. 587 Von jeder Kompagnie, aus der Leute entflohen, wurden nach Rängen gestaffelte Strafgelder erhoben, damit die Männer gegenseitig aufeinander aufpaßten und aus Eigeninteresse die Flucht ihrer Kameraden vereitelten. 588 Laut Erlaß vom 11.3.1712 stand auf Beherbergung und Nichtanzeige von Fahnenflüchtigen die Todesstrafe. Dann wieder hieß es, falls Deserteure noch nicht gefaßte weitere Deserteure verrieten, solle nur jeder zehnte unter ihnen per Losentscheid zur Hinrichtung gelangen;589 mit dieser Quote wollte Peter I. anscheinend eine Sanktionsweise im römischen Heer nachahmen. Gegen Ende seiner Regierungszeit nach dem Sieg über die Schweden bevorzugte der Zar zwischen 1721 und 1723 wiederum als milderes Mittel der Motivation den Straferlaß für Deserteure, falls sie sich freiwillig zurückmelden würden, wobei er die Amnestiefristen verlängerte und schließlich unbegrenzt gelten ließ. 590 In ihrer Gesamtheit kann die Massenflucht aus der russischen Armee unter Peter I. als eindeutiges Indiz dafür gelten, wie menschenfeindlich die Lebensumstände dort empfunden wurden. Hunger, Kälte, Schikanen, eine extrem niedriger Sold und stets dieselben miesen Aussichten bis zum Tod mußten bei allen robusteren Naturen den Gedanken an Entkommen nähren. Im übrigen stellten die zahlreichen Desertationen für den militärischen Bereich das Pendant zur bäuerlichen Läuflingsbewegung, zur Steuerflucht der Stadtbevölkerung und zur Dienstflucht des Adels dar. Alle diese Protestbewegungen stimmten insofern überein, als hier Individuen versuchten, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen und privat ein attraktiveres Leben anzufangen. Kollektive Widerstandsformen hingegen waren sehr viel seltener. Die Lage des russischen Offizierskorps gestaltete sich günstiger, sowohl was die Ausübung von Macht betraf als auch hinsichtlich der Bezahlung. Im Unterschied zu den einfachen Soldaten hatten Oberste und sonstige höhere Führungsgrade der Armee im Alter Anspruch auf eine Pension in Höhe eines Drittels ihrer letzten Bezüge, sofern sie lange genug gedient hatten. 591 Jeder angehende Offizier mußte unabhängig von seiner Herkunft die militärische Stufenleiter von unten her durchlaufen und zunächst kurze Zeit als Gemeiner 586 PSZ V, S. 147; Sofrenko, Parnjatniki russkogo prava, S. 359, 403f. PSZ IV, PSZ IV, 589 PSZ IV, 590 PSZ VI, 591 PSZ IV, 587 588

S. S. S. S. S.

527, 768, 818, 462, 74.

590, 744; PSZ V, S. 63f, 76. 777; PSZ V, S. 48. 856. 512f; PSZ vrr, S. 66.

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dienen, so wie es auch der Zar selbst beispielhaft in seiner Rolle als einfacher Bombardier vor Azov vorexerziert hatte. Andererseits wurde der adlige Offiziersnachwuchs überwiegend elitär nicht mit der Masse, sondern separat in den Regimentern der Garde ausgebildet, wodurch das Standesbewußtsein gestützt wurde. Gegen Ende des Nordischen Krieges kamen 62 Prozent des russischen Offizierskorps aus dem Adel. Die übrigen entstammten den unteren Bevölkerungsschichten und waren gemäß dem Leistungsprinzip aufgrund besonderer Verdienste befördert worden. Vor allem in der Infanterie standen die Aufstiegschancen für fähige und interessierte Leute einfacher Abstammung nicht schlecht, während die Offiziersstellen der Kavallerie traditionsgemäß eher dem Adel vorbehalten blieben. 592 Zum Oberkommandierenden der russischen Armee, dem Generalfeldmarschall Boris Petrovic Seremetev, hatte der Zar eine gespannte Beziehung. Allen Rollenspielen mit kurzfristigen untergeordneten Funktionen zum Trotz beanspruchte Peter I. im Endeffekt doch die entscheidende Befehlsgewalt für sich selbst, wie es der Konzeption eines absoluten Herrschers entsprach. Er schickte Seremetev harte unfreundliche Briefe, kommandierte ihn an die verschiedenen Kriegsschauplätze, ließ ihm wenig eigene Gestaltungsmöglichkeiten und machte ihn dennoch voll für Mißerfolge verantwortlich. Im Januar 1708 z. B. herrschte er seinen Generalissimus zornig an: "Mach schon, mach schon, mach schon! Mehr werde ich nicht schreiben, aber du wirst es mit deinem Kopf bezahlen, wenn du wieder anfängst, einen Befehl auszulegen." Seremetev seinerseits reagierte verunsichert und fragte ängstlich wegen vieler Details der Kriegsplanung nach, um den Zaren nicht weiter zu erzürnen. 593 Um Seremetevs Vorgehen zu überwachen, sandte ihm der Zar bei der Niederschlagung des Aufstandes von Astrachan' rangmäßig viel tiefer stehende Leibgardisten hinterher; Seremetev fühlte sich durch dieses Mißtrauen brüskiert. In einigen Fällen bat er den Aufsteiger und Favoriten des Zaren A. D. Mensikov, beim Herrscher ein gutes Wort für ihn einzulegen, worin sich ein bröckelndes Standesbewußtsein zeigte, denn Seremetev gehörte einer der angesehensten Adelsfarnilien an. Da der Generalfeldmarschall als Persönlichkeit im Heer beliebt war und gewissermaßen eine Galionsfigur des alten Adels verkörperte, ließ ihn der Zar trotz mancher Querelen doch nicht fallen. Vielleicht wußte er keinen geeigneten Ersatz. Noch nach seinem Tod mußte der Generalissimus als Symbolfigur für die Größe Rußlands herhalten, indem er gegen seinen Willen pompös in St. Petersburg beigesetzt wurde, während er selbst sich ein Begräbnis im Kiever Höhlenkloster gewünscht hatte. 594 Die Mißstimmung zwischen ihm und dem Zaren rührte nicht zuletzt von dessen 592 M. D. Rabinovic, Social'noe proischozdenie i imuscestvennoe polozenie oficerov reguljarnoj russkoj armii v konce Sevemoj vojny, in: Pavlenko (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I. S. 170f. . m Pib VII, vyp. 2, S. 35 (Zitat), 11lff. 5~4 lJstrjalov, Istorija carstvovaniJa Petra Velikago, Bd. IV. SPb 1863, Beilagen S. 12[; A. I. Zaozerskij, Fel'dmarsal Seremetev i pravitel'stvennaja sreda Petrovskogo vremem, In: Pavlenko (Hrsg.), Rossija v period reform Petra I, S. 178, 185ff, 196, 198.

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Ungeduld und hochfliegenden Plänen her, die umzusetzen fast jedem Oberkommandierenden schwerfallen mußte. Insofern litt Seremetev unter den ehrgeizigen militärischen Zielsetzungen des Zaren ähnlich wie das Heer als ganzes. In qualitativer Hinsicht stellte die Armee nicht nur das wichtigste Machtinstrument zur Durchsetzung der innen- und außenpolitischen Herrschaftsansprüche des Monarchen dar, sondern fungierte auch als wichtige Erziehungseinrichtung, in der millionenfach das Verhaltensmuster von Befehl und bedingungslosem Gehorsam antrainiert wurde. Damit übten die Soldaten im militärischen Alltag beispielhaft, was vom Untertan des absolutistischen Staates allgemein gefordert war. In keinem anderen Feld der Staatsgestaltung trat die Unterordnung des Individuums und die Nichtberücksichtigung seiner privaten Interessen so kraß zutage wie im Militärwesen, hier war der einzelne besonders deutlich bloße Manövriermasse im Machtkalkül. Gerade deshalb widmeten die absolutistischen Herrscher, sei es Ludwig XIV. oder der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. oder Zar Peter 1., diesem Bereich so viel Aufmerksamkeit und setzten dort den Löwenanteil der Finanzrnittel ein. Gemäß der Darstellung des kaiserlichen Gesandten Otto Pleyer aus dem Jahre 1710 funktionierte die russische Armee zwar äußerlich im Sinne gehorsamer Befehlsausführung und gelungener militärischer Übungen, innerlich jedoch seien sowohl die einfachen Soldaten als auch die großen Herren zutiefst kriegsmüde: sie hätten den als sinnlos empfundenen Kampf und die Zerstörung satt und wollten endlich Frieden. 595 Um trotz des Widerwillens der meisten Armeeangehörigen die Disziplin im Heer zu erzwingen, erließ der Zar am 30.3.1716 nach intensiven Vorbereitungen ein Militärstatut (Voinskij ustav) von mehr als zweihundert Artikeln, in dem überwiegend strafrechtliche Aspekte geregelt wurden. Das Militärstatut wurde in russischer und deutscher Sprache abgefaßt, letzteres wegen der ausländischen Offiziere. Es erschien mit der für die damalige Zeit hohen Anfangsauflage von 1 000 Exemplaren und beanspruchte in der Vollständigen Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches zweisprachig 250 Seiten. Damit war es das bei weitem umfangreichste Gesetzeswerk aus der Regierungstätigkeit Peters I. und dokumentierte deutlich, wo das Hauptinteresse des Monarchen lag. Der Zar persönlich redigierte das Werk und brachte zahlreiche Veränderungen an, milderte z. B. das Strafmaß für sexuelle Verfehlungen, weil sie für das Funktionieren der Armee relativ harmlos waren. 596 Als Vorarbeiten zum Militärstatut vom März 1716 dienten ein strafrechtlicher Kodex. des Feldmarschalls Seremetev aus dem Jahre 1702, ein "Kurzer Artikel" zum Verhalten innerhalb der Streitkräfte, den Aleksandr Danilovic Mensikov 1706 herausgegeben hatte, ferner ein "Statut der vergangenen Jahre", das zwischen 1700 und 1705 in der russischen Armee gültig gewesen war. Daneben nutzte der Zar gerade für diesen zentralen Problemkomplex auch westeuropäische Vorlagen, insbesondere aus dem kriegserfahrenen Schweden, das ihm so lange erfolgreich Widerstand leistete und 595 596

Pleyer, 0 nyneSnom sostojanii, S. 2, 6f. PSZ V, S. 203 - 453; Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 276, 279.

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das seit Gustav Adolf trotz geringer Bevölkerungszahl zur Fübrungsmacht im Norden aufgestiegen war. Peter I. hatte von den Schweden militärisch eine hohe Meinung und nannte sie beispielsweise in einem Brief an Seremetev vom 5.7.1708 einen "stolzen Feind", womit er zugleich seinen eigenen Kampf . au fw ertete. 597 gegen sie Das Heeresreglement vom 30.3.1716 begann mit dem Treueschwur auf den Zaren. Im einzelnen gelobten die Militärangehörigen aller Ränge mit demselben einheitlichen Text, gegen die Feinde des Herrschers und des Staates stets tapfer zu kämpfen, nicht zu fliehen, alle Kriegsartikel zu befolgen, Befehle von Vorgesetzten gehorsam auszuführen und etwaige ihnen bekannt werdende Angriffe auf den Monarchen oder die staatlichen Interessen unverzüglich zu melden. Man erkennt, wie hier ideologisch das Wohl des Staates und seines Oberhauptes zusammenflossen, was faktisch natürlich längst nicht identisch sein mußte. Die Soldaten und Offiziere verpflichteten sich zu Treue und Gehorsam bei Ehre und Gewissen, d. h. der Zar appellierte geschickt an innere Werte. Um die Bindung noch zu verstärken, erfolgte die Eidesleistung vor dem Evangelium, das damit herrschaftsstabilisierend genutzt wurde, sowie mit entrolltem Banner. Der Treueschwur wurde wöchentlich in jedem Regiment wiederholt und auch bei größeren Agrellen erneuert, damit sich niemand mit Unkenntnis herausreden konnte. Juristisch eröffnete die Eidesleistung dem Herrscher oder seinen Beauftragten die Möglichkeit, jeglichen Verstoß gegen die Disziplin als Rechtsbruch zu ahnden. Die strafrechtlichen Artikel des Militärstatuts wurden mit Maßnahmen zur Erhaltung der Gottesfurcht eröffnet und knüpften damit an die Tradition des Ulozenie von 1649 an, das ebenfalls mit diesem Bereich begonnen hatte. Die Soldaten erfuhren, daß der Wille Gottes sie in ihren gegenwärtigen Status versetzt habe. Anscheinend ging es darum, auf diese Weise jede Rebellion als aussichtslos und sündhaft darzustellen und die Mitverantwortung des Zaren für den Alltag in der Armee zu verschleiern. Für Idolanbetung, für Aberglauben allgemein oder konkreter gefaßt für das Besprechen des Gewehres drohten Arrest, Spießrutenlaufen und sogar der Tod durch Verbrennen, ohne daß diese sehr unterschiedlichen Strafmaße genauer zugeordnet wurden. Auf Gotteslästerung stand ein ähnlich breiter Bestrafungskatalog, der von der Einbuße eines Monatsgehalts über das Abschneiden der Zunge bis zum Kopfabhacken reichte. Damit - und generell noch in vielen weiteren Fällen - wurde den Militärgerichten ein bedenklich großer Ermessensspielraum eröffnet, was die Rechtsgleichheit behinderte und willkürliche Straffestsetzungen förderte. Wer von einer Gotteslästerung wußte, ohne sie anzuzeigen, sollte Leben und Vermögen verlieren. Gottesdienste hatten laut Militärstatut dreimal täglich stattzufinden, morgens, mittags und abends; damit bot sich die Möglichkeit zu immer neuer ideologischer Einwirkung. Auf die Pflicht zu nüchternem Erscheinen wurde besonders hingewiesen; daraus kann man auf erhebliche AIkoholprobleme auch innerhalb der Armee schließen. Selbst unter den Garde597 598

Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 27lf, 274; Pib VIII, S. 15. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 319ff.

Xß. Heer und Flotte

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soldaten wurden im Oktober 1708 circa sechzig Personen wegen Trunkenheit ausgemustert, nachdem sie in diesem Zustand ihre Gewehre und Pferde verloren hatten sowie Befehlen nicht nachgekommen waren. Bei Nichterscheinen im Gottesdienst kam ein adliger Offizier mit einer niedrigen Geldbuße zugunsten des Spitals davon, während ein gemeiner Soldat strafexerzieren mußte oder für 24 Stunden in Ketten gelegt wurde. 599 Hier zeigte sich ein weiteres durchgängiges Prinzip der petrinischen Heeresordnung, daß nämlich Offiziere für dieselben Vergehen fast immer milder bestraft wurden als einfache Mitglieder der Truppe. Lediglich Hochverrat wurde ohne Ansehen des Standes mit dem Tode bestraft. Typisch für die Staatsauffassung des Absolutismus rangierte an zweiter Position nach Gott gleich der Monarch als dessen angeblicher irdischer Stellvertreter. Von besonderer Wichtigkeit war in diesem Zusammenhang der Artikel 18 des Militärgesetzes, der dem Zaren automatisch den Oberbefehl zuerkannte, sobald er im Heer erschien. Wer gegen den Zaren die Waffe erhob, ihn gefangennehrnen oder töten wollte bzw. wer dazu aufrief, sollte einer der härtesten Strafen überhaupt, der Vierteilung, unterliegen und zusätzlich sein Vermögen verlieren. In gleicher Weise waren bereits die bloße Absichtserklärung ohne entsprechende Ausführung sowie die schweigende Kenntnis dieser Delikte strafwürdig. Auf Kritik am Herrscher oder Lästerreden gegen ihn und seine Familie stand der Tod durch Enthauptung. Zur Begründung hieß es, Seine Hoheit sei ein souveräner Monarch, der niemandem Rechenschaft schulde und nach eigenem Gutdünken regiere. 6oo Bei Tätlichkeiten gegen Generäle oder sonstige höhere Offiziere drohte gleichfalls die Enthauptung, sogar wenn man sich ihnen nur "im Herzen widersetzte" und dies aufgedeckt wurde. Derartig harte Bestrafungen erfüllten die Funktion der Abschreckung (dlja prikladu drugim). Widerstand gegen Unteroffiziere sollte bei Feldzügen mit dem Tod, im Friedensfall mit Spießrutenlaufen bestraft werden. Bei Vergehen im Wachdienst, etwa dem Einschlafen, konnte der Soldat erschossen werden. Gemäß Artikel 43 wirkte Trunkenheit strafverschärfend, anders als im Gesetzbuch von 1649, wo es als mildernder Umstand gegolten hatte; so wollte der Zar den auch im Heer weit verbreiteten Alkoholismus eindämmen. Generell sollte schon einfacher Ungehorsam zum Tod durch Erschießen führen. Andererseits hieß es zum Schutz der Soldaten, die Offiziere dürften die Arbeitskraft ihrer Untergebenen nicht zu privaten Zwecken mißbrauchen. Prinzipiell stand jedem Arrneeangehörigen, der sich ungerecht behandelt fühlte, das Recht auf eine individuelle, höflich abgefaßte Beschwerde beim Zaren oder dessen Beauftragten zu. In der Praxis dürfte so mancher Geschundene nicht gewagt haben, dieses Recht zu nutzen, um von seinen Vorgesetzten nicht noch zusätzlich maltraitiert zu werden. Laut Artikel 133 waren kollektive Bittschriften streng verboten, denn so hatten die Strelitzenaufstände begonnen. Offizieren, die Geld oder Proviant der Soldaten veruntreuten, drohte Verbannung zu Zwangsarbeit oder die To599

600

Ebd., S. 321fT; Pib VIII, S. 199f. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 324f.

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desstrafe. In einem Fall wurde das Subordinationsprinzip durchbrochen, denn es war den Soldaten gestattet, feige Offiziere, die z. B. eine Festung ungenügend verteidigten, zu entmachten und zu ersetzen. 601 Der Soldat mußte auch willig Dienst tun, wenn sein Sold ausblieb. Entlassungen aus der Armee waren nur durch einen Vermerk im Paß legal und bedurften der Entscheidung durch mehrere Instanzen. Bei Märschen, Einquartierungen oder Eroberungen war Plünderung verboten; Zuwiderhandelnde konnten äußerstenfalls gerädert werden. Wer seinen Wirt schlug, wurde mit Spießrutenlaufen oder Abhacken der Hand bestraft. Ertappte Deserteure sollten ohne Prozeß am erstbesten Baum zur Abschreckung ihrer Kameraden erhängt werden. Analoges war bei Flucht vor dem Feind oder dem Vortäuschen von Krankheit möglich. Falls Deserteure freiwillig zurückkehrten, sollten sie mit Spießrutenlaufen bestraft werden. Auf Mord an einem Gleichgestellten stand die Todesstrafe. Auch Duelle waren verboten, was dem sonstigen Appell an das Ehrgefühl widersprach, aber den Staat vor unnötigem Verschleiß an Menschenmaterial schützen sollte. Selbstmörder wurden durch die Straßen geschleift und an einem unehrenhaften Platz außerhalb des Friedhofs verscharrt. Sexualdelikte wie Sodomie, Gewalt gegen Frauen oder Inzest wurden mit Spießrutenlaufen, Zwangsarbeit oder Tod gesühnt. Prostituierte waren im Heer unerwünscht; fand man sie dennoch, sollten sie vom Profoß nackt ausge. zogen und weggejagt werden. 602 Insgesamt verschärften sich die Strafbestimmungen in der russischen Armee unter Peter I. erheblich. In 74 von 209 Artikeln des Militärstatuts war die Todesstrafe als alleiniges Ahndungsmittel verbindlich vorgeschrieben, in 27 weiteren Artikeln stand sie als eine Variante neben schwächeren Bestrafungen zur Auswahl. Unter den Hinrichtungsarten waren die Vierteilung und das Rädern besonders grausam. Die Todesstrafe wurde zur Einschüchterung der Bevölkerung meist öffentlich, häufig im Zentrum einer Stadt vollzogen, wobei das Urteil laut verlesen und zusätzlich über dem Kopf des Delinquenten niedergeschrieben wurde. Die Leiche des Hingerichteten verblieb oft noch lange am Schauplatz der Exekution. Im Extremfall stellte auch das Spießrutenlaufen mit maximal 3 000 Schlägen eine Variante der Todesstrafe dar. Im Abschneiden der Zunge und im Abhacken der Hände setzte sich eine althergebrachte Form der Rache fort, die gewissermaßen den verursachenden Körperteil eliminierte. 603 Tatsächlich gelang es dem Zaren mit äußerster Härte, die Disziplin in der Armee zu wahren und Soldaten wie Offiziere zu den ihm genehmen Leistungen zu zwingen. Ihre Gemüter aber konnte er auf diese Weise kaum gewinnen. Seine Macht beruhte wesentlich auf Gewalt, nicht jedoch auf der inneren Zustimmung seiner Untertanen. Insofern blieb sie stets gefährdet und konnte nur durch weitere Gewalt stabilisiert werden. Für die Bevölkerung ergab sich so ein verhängnisvoller Kreislauf.

601

602 603

Ebd., S. 326 (Zitat), 327ff, 335, 351. Ebd., S. 336ff, 355ff, 361, 425, 457. Ebd., S. 306f, 309, 313.

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Das Militärwesen eIWies sich innerhalb des Gesamtsystems des russischen Absolutismus als so dominant, daß es auf andere Bereiche von Staat und Gesellschaft ausstrahlte. Über die Armee als Schule der Nation im Sinne der Verhaltenslenkung und insbesondere der prompten Ausführung von Befehlen wurde bereits gesprochen. Gleichfalls wurde eIWähnt, daß der Zar am Ende der Experimente zur Städtereform die Unterstellung der urbanen Zentren unter einen Gardekapitän als aussichtsreichstes Mittel der Domestizierung bevorzugte. Viele Artikel des Heeresreglements dienten seit 1716 auch der zivilen Rechtsprechung als Vorbilder, z. B. bei Mordprozessen, denn die russische Strafgesetzgebung befand sich damals in einem chaotischen Zustand und bedurfte dringend neuer Richtlinien. Wie im Militärstatut vorgesehen, setzte sich auch in sonstigen Rechtsfällen der problematische Grundsatz durch, bereits die Absicht und nicht nur die ausgeführte Tat zu bestrafen. 604 Manche einfachen Bauern wurden neben der Rekrutierung und Besteuerung noch insofern vom Militärwesen betroffen, als der Zar für den Fall eines Rückzuges der russischen Truppen die Taktik der verbrannten Erde anwandte, um dem Feind keine Gelegenheit zur Requirierung von Proviantnachschub oder Pferden zu geben. 605 Ahnlich verhielt sich später Kutusov. Für die Einheimischen, deren Höfe und Vorratslager von den eigenen Landsleuten in Brand gesteckt wurden, bedeutete dies eine große Härte. Was die VeIWaltung betraf, so erklärte der Zar 1718, er habe zunächst im Heereswesen eine "gute Ordnung" (dobryj porjadok) geschaffen und wolle dies nun in einern zweiten Schritt für den zivilen Bereich durchsetzen, wobei ihm offenbar der bedingungslose Gehorsam aus der Armee anal~ als Ideal für das reibungslose Funktionieren der VeIWaltung vorschwebte. Konkret sollten die Regimenter, soweit sie sich im Quartier befanden, partiell auch Polizei aufgaben wahrnehmen, die Ausführung von Erlassen kontrollieren und insbesondere die Steuereintreibung beschleunigen. Kljucevskij schrieb dazu, die Armee sei hier ruinöser vorgegangen als die hauptamtlichen Steuereinzieher und habe den Bauern oft rücksichtslos das Letzte entwendet. Ein weiterer Einfluß der Armee auf die VeIWaltung bestand darin, daß Gardeoffiziere periodisch die Senatoren, Gouverneure und Vizegouverneure überprüften und sie sogar einsperren durften, wenn z. B. keine Rechenschaftspapiere vorlagen. Außerdem ermittelten Gardeoffiziere in Untersuchungsausschüssen gegen hohe Adlige, die der Unterschlagung von Staatsgeldern verdächtigt wurden. Beim Todesurteil gegen den Zarevic wirkten zahlreiche Armeeangehörige als Quasirichter mit, obwohl sie in diesem Bereich unqualifiziert waren. Die Garde gab schließlich den Ausschlag für die Thronfolge nach Peters Tod, indem sie seine Frau Katharina zur Zarin ausrief, die sich ihrerseits mit reichlichen Sonderzahlungen revanchierte oder, anders gesagt, die Herrschaft erkaufte. 607

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622.

Ebd., S. 293f, 431, 437. Pib III, S. 122; Perry, The State of Russia, S. 25. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 66. Kljucevskij, Socinenija, Bd. IV, S. 97f; Pokrovskij, Russkaja istorija, S. 612f,

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Im wirtschaftlichen Bereich förderte der Armeebedarf die inländische Tuchproduktion, weil in großem Umfang Uniformen geordert wurden. Die Eisengewinnung vorrangig am Ural nahm einen Aufschwung wegen der Herstellung von Waffen, und einheimisches Pulver wurde in Massen fabriziert. 608 Das Datum des Friedens von Nystadt sowie drei weitere Siege über die Schweden erklärte der Zar zu nationalen Feiertagen, die mit Gottesdiensten und Kanonensalven begangen wurden. 609 Sogar die Räuber bedienten sich militärischer Gepflogenheiten, indem sie sich als Soldaten oder Elitesoldaten verkleideten und nach Herzenslust plünderten, wobei ihnen kaum jemand Widerstand zu leisten wagte. 610 Die Palette der Ausstrahlung des Militärwesens auf das zivile Leben war also bunt gemischt und reichhaltig. Abschließend zum russischen Heereswesen soll noch auf die Besonderheit hingewiesen werden, daß sich die Politik des Zaren in diesem Bereich von der Zuhilfenahme ausländischer Unterstützung allmählich in Richtung auf mehr Autarkie entwickelte. Er selbst hatte sich 1697 während seiner ersten Reise nach Westeuropa in Preußen in der Handhabung moderner Artillerie unterweisen lassen; ähnlich schickte er später russische Armeeangehörige zur Ausbildung in Pyrotechnik nach Deutschland. 611 Westeuropäische Literatur zum Festungsbau und anderen militärisch relevanten Problemkreisen wurden auf Peters Geheiß ins Russische übersetzt, wobei er in erster Linie pragmatisch auf die Verständlichkeit des Inhalts Wert legte und keine wortwörtliche Übertragung verlangte. 612 Waffen gemäß dem vorgefÜcktesten Stand der westlichen Technik wurden in Rußland nachgebaut. Viele ausländische Offiziere und Unteroffiziere traten besonders nach dem aufwendigen Werbemanifest vom April 1702 in russische Dienste, kämpften dort und bildeten Einheimische aus. Das Militärreglement beruhte wesentlich auf schwedischem Vorbild. Französische Einflüsse prägten die Benennung der drei Waffengattungen Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Nach französischem bzw. preußischem Muster wurden viele Ränge innerhalb der Armee bezeichnet wie Feldmarschall, General, Major, Leutnant, Stabskapitän, Rittmeister oder Gewaltiger, wobei letzterer die Kriegsgefangenen zu bewachen und straffällig gewordene Angehörige der Armee den Gerichten zu überantworten hatte. Daneben existierten einige Lehnwörter wie "kriegsrechty", "furlejty", "winterkvartir" oder "abSid", letzteres im Sinne von Entlassungspapieren. Bei den Uniformen, einer Neuheit für Rußland, orientierte sich der Zar partiell am preußischen Vorbild. 613 Autarkiebestrebungen zeigten sich insofern, als etwa ab 1710 die gesamte Kleidung für die russische Armee im Lande selbst hergestellt werden sollte und auch die einheimische. Waffenproduktion florierte. In personeller Hinsicht erscheint wichtig, daß im Jahre 1720 von Seiten des KriegskollegiPleyer, 0 nynesnom sostojanii, S. 3f; Kljucevskij, SoCinenija, Bd. IV, S. 120. Cracraft. The Church Reform, S. 5. 610 Pososkov. Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 131. 611 Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 64; Lebedev, Reformy Petra I, S.214. 612 PSZ VII, S. 217; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 35. 613 Lebedev, Reformy Petra I, S. 76; Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 374. 608

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ums die Aufnahme von Ausländern in die russischen Streitkräfte untersagt wurde; vermutlich sah man in ihnen ein Sicherheitsrisiko sowie eine unliebsame Konkurrenz, und außerdem verursachten sie erhöhte' Kosten. 614 Letztendlich setzte sich also in der Entwicklung der russischen Armee unter Zar Peter I. ein nationales Denken durch. Dies erscheint konsequent, da die Armee neben ihrer Funktion als Disziplinierungsmittel nach innen auch der Verschiebung der Reichsgrenzen nach außen diente, was nur auf Kosten anderer Völker möglich war. Die Ausdehnung des eigenen Herrschaftsgebiets galt im Absolutismus als Zeichen der Größe der Nation, wie teuer auch immer sie dafür bezahlte. Peter I. erweiterte die Streitkräfte seines Landes um eine Kriegsflotte, für die er eine besondere Aufmerksamkeit und Vorliebe hegte. Mit dieser für die damaligen russischen Verhältnisse bahnbrechenden Neuerung dokumentierte der Zar ein weiteres Mal, daß er Rußland insbesondere auf Kosten Schwedens eine Großmachtstellung sichern wollte mit einem wesentlichen Einfluß im Ostseeraum. Schon relativ früh, nämlich 1692, schlug er seinem Stiefbruder und Mitregenten Ivan V. vor, eine Flotte zu schaffen, "mit der man auf dem Ozean und in ganz Europa herumsegeln kann und die in allem den übrigen europäischen Staaten gleichgestellt ist".615 Es ging dem Zaren also darum, Rußland mit denselben Machtrnitteln auszustatten, wie sie anderen europäischen Staaten zur Verfügung standen, sei es für militärische Zwecke, sei es für die Stärkung des nationalen Handels. Im Flottemeglement von 1720 wurde die Zielvorstellung, die sich mit dem Aufbau der Flotte verband, bildhaft folgendermaßen formuliert: " ... diese Einrichtung ist unabdingbar notwendig für den Staat (gemäß dem Sprichwort, daß jeder Potentat, der nur über ein Landheer verfü~t, eine Hand hat, wer aber eine Flotte einsetzen kann, hat zwei Hände).,,61 Grundsätzlich wollte der Zar mit Hilfe der Kriegsmarine den eigenen Handlungsspielraum erweitern. Daneben dürften auch Prestigefragen eine Rolle gespielt haben. Analog zum Heereswesen äußerte sich das Interesse des zukünftigen Herrschers an der Seefahrt bereits in seiner Kindheit. Peters Lehrer Nikita Moiseevic Zotov brachte seinem Schüler die positiven Auswirkungen eines Kanal- und Flottenbaus nahe und verdeutlichte dabei vor allem die handelspolitischen Vorteile. die sich aus derartigen Maßnahmen ergeben würden. Einen nachhaltigen persönlichen Eindruck hinterließen bei Peter Erlebnisse aus der Pubertät, als er im Alter von vierzehn Jahren im Herbst 1686 bei einem Spaziergang im Dorf Izmajlovo in der Nähe von Moskau ein altes Boot sah, nach dessen Funktion fragte, sich selbst ein ähnliches nachbauen ließ und damit trotz der Ängste seiner Mutter auf dem See Perejaslavskoe bei stürmischem Wetter seine ersten eigenen Erfahrungen in der Navigation sammelte. Vermutlich fühlte er sich nach diesem bestandenen Abenteuer erwachsen und 614 Lebedev. Refonny Petra I, S.356; Sofrenko. Pamjatniki russkogo prava. S.270. 615 Kreksin. Kratkoe opisanie blaiennych de!, S. 91. 616 Sofrenko. Pamjatniki russkogo prava, S. 467.

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XII. Heer und flotte

stark. Zeitlebens blieb er ein begeisterter Seefahrer. Sogar die Wiege seiner Kinder hatte die Form eines Bootes. Damals 1686 weihten der Patriarch, Erzbischöfe und Äbte feierlich das neue Projekt des Zarevic. 617 Das persönliche Engagement des Zaren für die Seefahrt reichte so weit, daS er sich im Jahre 1698 in Holland und England zum Schiffsbaumeister ausbilden ließ. Dieser Vorgang entbehrte insofern nicht einer gewissen Logik, als die vom Zaren gewählte Fachqualiftkation im damaligen Rußland einen Mangelberuf darstellte; andererseits wurde der Monarch allerdings gleichzeitig zu Hause gebraucht, so daS man seine Phase als Schiffsbauer bei kritischer Betrachtung ebenso als zeitweilige Vernachlässigung der Herrscherpflichten interpretieren könnte. Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland plante der Zar 1698/99 zunächst die Herstellung von 52 Schiffen als Grundstock der russischen Flotte. Zur Finanzierung wurden zwangsweise Kompagnien aus weltlichen und geistliche Grundherrn sowie Stadtbewohnern gebildet, wobei von 8 000 bis 10 000 Höfen jeweils ein Schiff zu bezahlen war. Wenn sich jemand weigerte, an der Aktion teilzunehmen, mußte er mit dem Verlust seines Besitzes rechnen. Die reichen Stroganovs kamen für zwei Schiffe auf. Standorte der Werften waren Voronez, ferner Cernigov, wo im August 1698 die dort zwangsverpflichteten Bauern und Soldaten gegen die ungewöhnlich harten Arbeitsbedingungen revoltierten und mit Gewalt zur Wiederaufnahme der Arbeit veranlaSt wurden; in Nordrußland entstanden Werften in Olonec am Ladogasee, am Volchov und an der Luga. Bis zum Jahre 1704 liefen 7 Fregatten, 5 Zweimaster, 28 Galeeren sowie etwa 15 Transportboote vom Stapel. Ab 1706 nahmen dann die großen Werften in St. Petersburg ihre Tätigkeit auf. Im Jahre 1717 dienten in der russischen Flotte circa 14 000 Mann Besatzung. Teilweise wurden auch Landsoldaten zu Übungen auf dem Meer herangezogen, damit sie notfalls als Reserve eingesetzt werden konnten. Bis zum Ende der Regierungszeit Peters I. verdoppelte sich die Flottenbesatzung auf 28 000 Personen. Im Jahre 1725 verfügte Rußland über 48 Linienschiffe mit jeweils bis zu 90 Kanonen an Bord sowie 800 Galeeren und kleinere Seefahrzeuge. 618 Insgesamt war damit eine bedeutende Aufbauleistung vollbracht worden. Die benötigten Rohstoffe wie Holz, Eisen und Hanf für Taue entstammten der einheimischen Produktion. Auch das Segeltuch wurde im Lande selbst hergestellt. Als Vorlagen für die Konstruktion der Schiffe dienten holländische Muster, weil der Zar ja dort gelernt hatte. Die innere Ordnung der Marine wurde durch das Seestatut (Morskoj ustav) vom 13.1.1720 geregelt. Rudimentäre Vorarbeiten dazu hatten schon seit 1696 begonnen, wobei überwiegend strafrechtliche Bestimmungen zum Tragen kamen, aber auch in taktischer Hinsicht das Zusammenbleiben der Flotte während der Kampfhandlungen befohlen wurde. Ab 1715 ließ der Zar die Flottengesetze aus England, Frankreich, Holland und Dänemark sammeln und auswerten und arbeitete dann selbst bei der Abfassung des russischen Marine617 618

Kreksin, Kratkoe opisanie blaiennych deI, S. 67ff, 122f. PSZ V, S. 515; Spiridonova, Ekonomiceskaja politika., S. 151ff, 213.

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rechts mit. 619 Im Unterschied zum Heeresreglement von 1716 war das Seestatut vom Januar 1720 klarer gegliedert, indem es nach Rängen abgestuft die Rechte und Pflichten der einzelnen Besatzungsmitglieder vom Generaladmiral über die Schiffskapitäne, die sonstigen Offiziere bis hinunter zu den einfachen Matrosen abhandelte. Der strafrechtliche Teil stand überwiegend zusammenhängend am Ende des Reglements in den Abschnitten IV und V. Der leichteren Überschaubarkeit diente ferner, daß jeder der rund 500 Artikel des Gesetzes mit einer zusammenfassenden Überschrift versehen war. Insoweit als die Sanktionen bei religiösen Vergehen nicht mehr gesondert vorab aufgeführt wurden, sondern im Strafrechtsteil integriert erschienen, zeigte sich eine Tendenz zur Verweltlichung. Ähnlich wie im Heer wurden auch sämtliche Angehörigen der Kriegsmarine darauf verpflichtet, "das Interesse ihres Herrschers und des Staates mit aller Sorgfalt und allem Eifer zu bewahren" und jederzeit treu "den Dienst an Herrscher und Vaterland zu leisten"; wiederum wurde also der Wille des Regenten mit dem Staatswohl gleichgesetzt. Als weitere Parallele zum Heeresustav erfuhren auch die Matrosen und Offiziere zur See, Gott habe ihren gegenwärtigen Zustand so bestimmt,620 womit der Zar tendenziell von der Verantwortung entlastet war. Zur Durchsetzung der Disziplin dienten ähnlich harte Maßnahmen wie bei den Landstreitkräften: auf Ungehorsam stand prinzipiell die Todesstrafe. Bei Meuterei der Matrosen sollte ihre Hinrichtung zu Zwecken der Abschreckung rasch gleich auf dem Schiff vollzogen werden; sofern Offiziere am Widerstand beteiligt waren, wurden sie milder behandelt, nämlich zunächst in Ketten gelegt und dann dem Marinegericht im nächsten Hafen überantwortet. Um Meutereien der Mannschaft möglichst zu verhindern, durfte beim Anle~en an Land höchstens die Hälfte der Offiziere gleichzeitig von Bord gehen. 21 Die Bucht vor dem Feind sowie der Versuch des Überlaufens zum Gegner wurden Dit dem Tod durch Erhängen geahndet. Auf Feindkontakt in Form von Geheimnisverrat stand als härteste Strafe Rädern oder Vierteilung; analog waren bereits die Absicht des Verrats strafbar und ebenso das Wissen um eine verräterische Absicht anderer, ohne daß man sie anzeigte. Wer den Degen gegen seinen Vorgesetzten entblößte, sollte erschossen werden. Wer den Kapitän umbrachte, wurde gerädert. Auf Lästerung des Zaren stand die Todesstrafe, auf Attentatspläne gegen ihn die Vierteilung. 622 Als Aufrührer, der ohne Gnade zu bestrafen sei, galt bereits, wer laut in Gegenwart seiner Kameraden rückständigen Sold einforderte oder besseres Essen verlangte. Bei kollektiven Petitionen winkte der Galgen, individuelle Gesuche hingegen waren erlaubt. Allerdings durfte niemand ohne triftigen Grund - etwa eine unheilbare Krankheit - um die eigene Entlassung nachsuchen; Zuwiderhandelnde wurden mit Spießruten geschlagen. Üblichere Körperstrafen waren das Auspeitschen am Mast, das Schleifen über Deck oder das dreimalige Überbordwerfen, die z. B. für Gotteslästerung, für Kritik an Befehlen der 6\9

620 62\ 622

Sofrenko, Parnjatniki russkogo prava, S. 282ff. Ebd., S. 467f, 485. Ebd., S. 468, 475, 488f. Ebd., S. 480, 489f, 495, 506, 509f, 518.

12 Helmen

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x:n. Heer und Flotte

Kommandeure, für Trunkenheit oder Einschlafen bei der Wache drohten, ebenso für das Wegwerfen des Gewehrs, für das Vortäuschen von Krankheit oder für Selbstverstümmelung. Wenn ein Offizier seinen Untergebenen bei der Arbeit so brutal zusammenschlug, daß der Matrose starb, galt das nicht als Mord, sondern lediglich als Unfall; für den Täter hatte es nur eine Geldstrafe zur Folge, oder er mußte vorübergehend als Gemeiner dienen. Für private Dienstleistungen durften die Offiziere ihre Mannschaften nicht benutzen. Falls der Kapitän sein Schiff auf Grund laufen ließ oder es durch einen Brand Schaden nahm, wurde er in Arrest genommen und vor Gericht gestellt. 623 Insgesamt zeigte das Flottenreglement viele Parallelen zum Heeresstatut, sowohl was die Härte der Strafen anging als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Strafmaße für Offiziere und einfache Mannschaft. Im wesentlichen begründete nur der Platzmangel auf den Schiffen einige Abweichungen im Disziplinarrecht: anstelle des im Landheer weit verbreiteten Spießrutenlaufens kamen auf See überwiegend die mehrschwänzige Peitsche mit eingeflochtenen Metallstücken, die sogenannte "Katze", zur Anwendung oder das Schleifen über Deck, das aus dem Strafkatalog der englischen Kriegsmarine übernommen worden war. Im Grundsatz wurde die Disziplin im Heer wie in der Flotte mit Gewalt aufrecht erhalten. Es scheint, als hätten zahlreiche bäuerliche Rekruten den Dienst auf dem unbekannten Element der See noch stärker gefürchtet und abgelehnt als die Verwendung im Landheer; als Indikator dient dabei die hohe Anzahl der Selbstverstümmelungen innerhalb der Marine. 624 Von gelungenen Desertationen aus der Flotte ist in den uns zugänglichen Quellen nichts überliefert. Die breite Zustimmung der Bevölkerung blieb dem Zaren bei seiner Flottenpolitik versagt. Eher wurde die Marine wie viele andere Reformen auch als überflüssige westliche Neuerung, lästig und Opfer fordernd, empfunden. Unbeeindruckt von der Stimmung der Massen, verfolgte der Zar seine Militärpolitik ohne Konzessionen nach außen wie nach innen. Er schien ihm durchaus bewußt zu sein, daß die Streitkräfte sein wichtigstes Machtinstrument darstellten. Hier investierte er das meiste Geld, hier engagierte er sich persönlich am stärksten in der Gesetzgebung, hier lag der inhaltliche Schwerpunkt seiner Briefe. Per Edikt vom 9.5.1719 verordnete Peter, Heer und Flotte sollten ihren Sold vorrangig vor den zivilen Staatsbediensteten erhalten, d. h. er wollte die Loyalität des Militärs nicht aufs Spiel setzen und stufte es für die Sicherung seiner Herrschaft höher ein als sonstige staatliche Bereiche. Eine ähnliche Gewichtung zeigte sich noch einmal im Dezember 1724, als das Dekret erging, Kollegienrnitarbeiter seien halb so hoch zu bezahlen wie Armeeoffiziere. Im übrigen kam es trotz der besseren Absichten des Zaren in der Praxis doch häufig zu verspäteter oder unvollständiger Soldausgabe, weshalb mancher Ausländer erzürnt und resigniert den russischen Dienst quittierte. 625 Auf die strenge Einhaltung des Disziplinarrechts und die tatsächliche Verhän623 624

625

Ebd., S. 474, 485, 493, 50Uf, 512, 517. PSZ V, S. 49.

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 230, 267, 582.

Xll. Heer und Flotte

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gung der vorgesehenen Strafen drang der Zar in Briefen an seine Generäle mehrfach, insbesondere zwischen 1705 und 1708 vor dem russischen Sieg über die Schweden bei Poltava, der die Wende im Kriegsverlauf brachte. 626 An seine großen Vorbilder Alexander und Cäsar reichte Peter I. letzten Endes nicht heran, erstens, weil er sein Reich nicht in demselben gewaltigen Umfang erweitern konnte wie diese antiken Feldherrn, und zweitens, weil er persönlich nicht immer denselben Mut aufbrachte wie sie. Statt dessen machte er sich in der Anfangsphase des Nordischen Krieges im November 1700 kurz vor der Schlacht bei Narva sehr unrühmlich in einer Art Panikreaktion vor den anrückenden Schweden aus dem russischen Lager davon und delegierte den Oberbefehl an den Herzog Karl Eugen von Croy, der überhaupt nicht russisch sprach. Die Schweden unter Karl XII. griffen das gegnerische Lager überraschend bei dichtem Nebel an, worauf die russischen Truppen bis auf wenige Ausnahmen flohen, obwohl sie dem Feind zahlenmäßig mehr als dreimal überlegen waren (34 000 Russen gegen 11 000 Schweden).627 Wenn N. I. Pavlenko in einer der jüngsten Gesamtdarstellungen zu Peter I. über die Vorgänge vor Narva schreibt: "Die Deutschen hatten tatsächlich Verrat geübt",628 weil sich nämlich von Croy angesichts dieser Situation schnell den Schweden ergab, so erscheint diese Interpretation zwar von vaterländischem Prestigedenken getragen, jedoch insofern ungerecht, als sie den persönlichen Anteil des Zaren am russischen Debakel herunterspielt. Meines Erachtens hätte ein Verbleiben Peters I. bei seinem Heer durchaus einen Sieg der Russen wahrscheinlich gemacht, einerseits wegen ihrer gewaltigen numerischen Übermacht und andererseits, weil der Zar damals 28 Jahre alt war und schon über einige Kriegspraxis verfügte, während sein Gegner Karl XII. mit gerade 18 Jahren noch wenig kampferprobt war. Daß Rußland damals nicht zum Objekt schwedischer Eroberung herabsank, verdankte es wesentlich seiner Armut, denn die schwedischen Generäle rieten ihrem Herrscher, statt in Richtung Moskau weiterzuziehen lieber in Polen einzufallen, da dort mehr zu holen sei, und Karl folgte ihrer Meinung. Gemessen an seinen eigenen Maßstäben hätte Zar Peter I. vor Narva wegen Desertierens und Flucht vor dem Feind eigentlich die Todesstrafe verdient. Da diese Art von Gerechtigkeit aber in einem absolutistischen Staat illusorisch ist, schleppte sich der Krieg mit wechselndem Verlauf noch über 21 weitere Jahre hin, und statt des Zaren starben viele Zehntausende von Soldaten und Offizieren. In späteren Jahren äußerte sich der russische Monarch zum Tod auf dem Schlachtfeld eher zynisch nach dem Motto: "Krieg ist Krieg, und mit Gottes Hilfe gehen alle mutigen Leute dorthin, um sich zu prügeln. ,,629 Aus dieser Sentenz sprechen sowohl eine gewisse Menschenverachtung als auch ein unangebrachter Fatalismus, denn in Wahrheit ist der Krieg keineswegs ein un626 Pib III, S. 525; Pib VTI, S. 103f; Pib VIII, S. 28, 58, 345. 627 C. Duffy, Russia's Military Way to the West. Origins and Nature of Russian Mili~ Power 1700 - 1800. London / Boston 1981, S. 15f. 628 Pavlenko, Petr Velikij, S. 145; zum Gesamtablauf der Schlacht ebd., S. 142ff. 629 Pib VII, S. 28. 12*

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xn. Heer und Flotte

abwendbares Schicksal, sondern wird von Menschen gemacht. Peter I. führte ausschließlich Angriffskriege, über deren Beginn er selbst entschied. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir sehr problematisch, daß Reinhard Wittram das zweite Hauptkapitel seiner großen Biographie über Peter I. "Der Krieg als Schicksal" benannte,630 denn auf diese Weise verschleiert der Autor meines Erachtens die Verantwortlichkeit des Zaren für die Leidensgeschichte und den Tod vieler Menschen. Gerade im Absolutismus verfügte der Regent über einen so weiten Machtspielraum, etwas zu tun oder zu lassen, wie es sonst bei keiner anderen Staatsform gegeben war. Insofern wirkt es unangebracht, das politische Handeln und damit die Rechenschaftspflicht nebulösen Schicksalskräften zuzuordnen. Der Historiker sollte stets die wirklich Agierenden benennen, damit er nicht der Mythenbildung Vorschub leistet, statt der Wahrheitsfindung zu dienen. Abstrahiert auf den Staatsbegriff bezogen, belegten die hohe Aufmerksamkeit sowie die außerordentlichen Finanzzuwendungen, mit denen Peter I. Heer und Flotte bedachte, daß er sich den Staat seiner Zeit nicht ohne Gewaltmittel vorstellen konnte, sondern in ihnen das unverzichtbare Hauptinstrument zur Durchsetzung seines Willens erblickte. Gerade die sehr ungleiche und ungerechte Verteilung der Einflußchancen zwischen Volk und Regent schufen im Endeffekt so labile Verhältnisse, daß die Herrschaft des Zaren ohne starke Streitkräfte zusammengebrochen wäre. Dies wußte der Regent, und entsprechend verhielt er sich. Zugespitzt könnte man den russischen Absolutismus unter Peter I. als eine spezifische Form der Militärdiktatur bezeichnen.

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Wittram, Peter 1., Bd. I, S. 189.

XID. Die neue Hauptstadt Nachdem die Russen Narva zunächst nicht hatten erobern können und auch das Heer Augusts des Starken von Sachsen und Polen, der mit Peter I. im Nordischen Krieg verbÜDdet war, bei Riga den Schweden unterlegen war, wählte der Zar im MÜDdungsdelta der Neva einen Ersatzort, der die russischen Herrschaftsanspruche und Handelsinteressen an der Ostsee zur Geltung bringen sollte. Das Gebiet war öde, sumpfig, partiell von niedrigen Gehölzen durchzogen, eignete sich kaum zum Ackerbau und wies keine nennenswerten Bodenschätze auf. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts hatte es dort lediglich einige bescheidene finnischen Siedlungen, ein Jagdhaus und das Gut eines schwedischen Majors gegeben. 631 In dieser kargen Gegend plante der Zar ursprünglich nur die Einrichtung einer Marinebasis, um die NevamÜDdung samt ihrem Hinterland gegen potentielle Angriffe der Schweden zu schützen; 632 doch bald entwickelte sich aus den ersten Anfängen denk der unbeugsamen Zielstrebigkeit des Regenten eine neue Hauptstadt mit ganz eigenem Gepräge und von beträchtlicher Ausstrahlung, für die er keinen Aufwand scheute und mit der er sich selbst gleichsam ein großdimensioniertes Denkmal setzte. Psychologisch gesehen fühlte sich Peter I. in Moskau vermutlich zu sehr an die traumatischen Ereignisse seiner Kindheit erinnert, wo er als Zehnjähriger im Kreml beim Strelitzenaufstand von 1682 hatte mitansehen müssen, wie viele ihm nahestehende Personen brutal abgeschlachtet worden waren und wo sich 1689 und 1698 weitere Revolten ereignet hatten, die sich gegen seine Herrschaft richteten. Mit Hilfe der nach seinen Vorstellungen gestalteten neuen Hauptstadt distanzierte sich der Zar räumlich von diesen Schreckenserinnerungen und gewann innerlich an Sicherheit. Außerdem war die Nevametropole über die Ostsee enger mit Westeuropa verbunden, das für Peter I. in vielen Bezügen als Vorbild fungierte. Umfangreiche von den Monarchen initiierte Bautätigkeiten bildeten auch andernorts ein Kennzeichen des Absolutismus, wenn man etwa an die prächtigen Anlagen von Versailles oder das Stadtbild von Karlsruhe denkt oder daran, daß der französische Kanzler Kardinal Richelieu eine eigene, nach ihm benannte Stadt errichten ließ. 633 Der russische Zar schuf in dieser Hinsicht einen Superlativ, für den es in der Geschichte als Parallelfall fast nur noch Konstantinopel gibt, die Neuschöpfung des Kaisers

Wittram, Peter I., Bd. 11, S. 59. K. Zernack, Zu den regionalgeschichtlichen Voraussetzungen der Anfänge Petersburgs, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 25. Berlin 1978, s. 390, 398. 633 Burckhardt, Richelieu, Bd. 3, Abbildung vor S. 433. 631

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XIII. Die neue Hauptstadt

Konstantin aus dem Jahre 324 nach ChristuS. 634 Auch Konstantinopel lag an der Peripherie des Reiches. Zum offiziellen Gründungsdatum der neuen Stadt im Norden Rußlands wurde der 16. (27.) Mai 1703, als man mit dem Bau einer Festung auf der Haseninsel, einer der Inseln im Müodungsdelta der Neva, begann. Anderthalb Monate später, am 29. Juni 1703, wurde ebendort zum Namenstag des Zaren und zum Gedenktag des Apostels Petrus im Sinne geistlicher Weihe der Grundstein für eine Kirche gelegt. Damals erhielt die Stadt den Namen St. Petersburg mit dem doppelten Bezug sowohl auf den Heiligen als auch auf ihren weltliche Gründer, so daß religiöse und säkulare Belange ineinanderflossen. 635 Die holländisch beeinflußte Kurzform lautete "Piter". Mit der Festung als topographischem Zentrum entwickelte sich die neue Metropole zu beiden Seiten der breit und majestätisch dahinfließenden Neva. Am linken Ufer entstand ab 1704 die Admiralität mit zugehöriger Werft, deren weithin sichtbarer spitzer Turm einen deutlich anderen, westeuropäisch geprägten Akzent setzte als die bis dahin üblichen zwiebelförrnigen Kirchenkuppeln Altrußlands. Rechtwinklig zur Neva erstreckte sich zwischen Admiralität und Aleksandr-Nevskij-KIoster als Prachtallee der Nevskij Prospekt, dessen großzügige Konzeption die Zeitgenossen beeindruckte. Dort lagen der Sommergarten mit seinen zahlreichen Statuen, der auch für das normale Publikum geöffnet war, ferner die Paläste vieler Adliger, unter denen derjenige Mensikovs am prunkvollsten gestaltet war. In der Nähe der Admiralität, gleichfalls am Flußufer, wurde der erste Winterpalast des Zaren errichtet, während seine Sommerresidenz Peterhof etwas außerhalb direkt am Meer lag und von einem Park mit üppigen Wasserspielen nach holländischem Muster umrahmt war. Von Peterhof aus konnte man bei gutem Wetter die Festung Kronslot sehen, weIche die Stadt von der Seeseite her militärisch abschirmte. Am rechten Nevaufer auf der Vasilij-Insel gegenüber dem Winterpalast waren nur Steinbauten zugelassen. Dort entstand, gewissermaßen symbolisch dem kontrollierenden Blick des Herrschers ausgesetzt, das Gebäude für die zwölf Kollegien. Nicht weit davon wurde die Kunstkarnmer als eine Art Museum errichtet, und an der Südwestspitze der Insel zur Festung hin konzentrierte sich eine SchiffsanIegestelle mit Packhaus und Börse. Als Architekten konnten so bedeutende Westeuropäer wie Domenico Trezzini, Giovanni Fontana, Gottfried Schädel, Andreas Schlüter und Jean Baptiste Leblond sowie der Gartenarchitekt Andre Lenötre gewonnen werden. Sie verliehen der Stadt ein im wesentlichen einheitliches barockklassizistisches Aussehen, das später unter Katharina 11. von ihrem großen Architekten Carlo Bartolomeo Rastrelli vervollkommnet wurde. Trezzini als leitender Baumeister unter Peter I. entwarf im Jahre 1714 Typenpläne für 634 A. Ducellier, Byzanz. Das Reich und die Stadt. Frankfurt / New York / Paris 1990, S. 40. 635 K. Meyer, Kaiserliche Residenz und sozialistische Großstadt. Typologische Überlegungen zur Geschichte der Stadt St. Petersburg - Petrograd - Leningrad, in: Ostmitteleuropa 1981, S. 64.

XIII. Die neue Hauptstadt

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Wohnhäuser getrennt nach Adel, Bürgertum und einfacher Bevölkerung, worin sich ein schichtenspezifisches Denken, aber auch fmanzpraktische Erwägungen äußerten. 636 Zur verkehrstechnischen Anbindung St. Petersburgs entstanden eine Straße über den Vo1chov und weiter nach Moskau, ferner in den Jahren 1703 bis 1709 der Kanal zwischen Neva und Wolga sowie ab 1718 der Kanal hin zum Ladogasee. 637 Da der Zar ein gewaltiges Potential an Arbeitskräften und Finanzmitteln einsetzte, wuchs die neue Metropole rasch. 1725 zählte sie bereits 70 000 Einwohner oder ein Fünftel der russischen Stadtbevölkerung. 638 Eine der Vorbedingungen dazu waren der russische Sieg bei Poltava im Jahre 1709 sowie die anschließende Eroberung der Ostseeprovinzen, denn sie gestatteten, die Zukunft Petersburgs als gesichert anzusehen. Die früher auftretenden schwedischen Störrnanöver gegen die Konkurrenzgründung an der Neva entfielen seitdem. Entsprechend wurden in den Jahren 171211713 mit der Residenznahme des Hofes und der Verlegung des Senats von Moskau nach Petersburg die Weichen für die Übernahme der Hauptstadtfunktion gestellt. Ab 1713 befahl der Zar dann in mehreren Peuplierungsedikten reichen Adligen, wohlhabenden Kaufleuten und Handwerksmeistern, sich in der neuen Stadt anzusiedeln und dort zügig repräsentative Häuser zu bauen. Anders als es seinerzeit der byzantinische Kaiser Konstantin bei der Verlegung der Hauptstadt getan hatte, lockte Peter I. nicht mit Steuererleichterungen für Umsiedler, sondern verließ sich allein auf den Zwang als Mittel der Peuplierung. 639 Zusätzlich rekrutierte sich die Bevölkerung St. Petersburgs aus einfachen Handwerkern sowie einigen tausend ausländischen Spezialisten samt ihren Farnilien. 640 Im Durchschnitt verfügten die Bewohner der neuen Hauptstadt über ein höheres Einkommen als die übrigen Einwohner des Reiches; nur deshalb waren sie in der Lage, die dreimal teuereren Lebenshaltungskosten in der Nevametropole aufzubringen, die u. a. durch weite Transportwege zustandekamen. Möglicherweise könnte man die Entscheidung des Zaren, vor allem wohlhabende Leute nach St. Petersburg zu beordern, dahingehend interpretieren, daß er unbewußt die Armut seines Landes zu verdrängen suchte, die ihm ein Ärgernis sein mußte, insofern als sie seinen Reforrnbestrebungen Grenzen setzte. Was die speziell zusammengesetzte Bevölkerung Petersburgs betraf, so entwickelte sie im Laufe der Zeit eine Art von Elitebewußtsein, d. h. viele Bewohner der Stadt fühlten sich gebildeter, europäischer und bedeutender als ihre Landsleute. So beeindruckend schön St. Petersburg um 1725 dastand, so dunkel erscheint die Kehrseite seiner Gründung: die Fundamente der Stadt ruhen auf den Leichen einiger zehntausend Zwangsarbeiter, die zum Aufbau der neuen Metropole verpflichtet wurden und dabei ums Leben kamen. Im Sommer 636 637 638 639

640

P. Hoffmann, Rußland im Zeitalter des Absolutismus. Vaduz 1988, S. 134. PSZ VI, S. 696, 716f; PSZ vn, S. 20. Spiridonova., Ekonomiceskaja politika, S. 216. H. Doerries, Konstantin der Große. Stuttgart 1958, S. 59. PSZ V, S. 74, 80, 90f, l1lf, 462, 519.

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1705 erließ der Zar ein Edikt, daß freiwillig zurückgekehrte Deserteure aus der Annee zunächst geknutet und anschließend zu Bauarbeiten nach Petersburg geschickt werden sollten. Ähnlich wurden zwischen 1710 und 1719 immer wieder Bauern, Städter und Soldaten, darunter auch Angehörige der nichtrussischen Völkerschaften des Reiches, ergänzt durch schwedische Kriegsgefangene, zur Zwangsarbeit in die neue Stadt beordert, bis zu 40 000 Personen pro Jahr. In der Regel trafen sie in zwei Schüben ein, jeweils im Frühling und im Herbst. Die Rekrutierung erfolgte überwiegend nach Höfen, z. B. mußten 1710 je 35 Höfe einen Arbeiter abstellen; nach Art und Umfang folgte sie dem Muster der Komplektierung des Heeres; in beiden Bereichen gab es Deserteure. Die Zwangsarbeiter kamen den Staat billiger als frei angeworbene Kräfte. Vermutlich hätten sich auf freiwilliger Basis zu wenig Arbeiter eingefunden, so daß der Zar die Gewalt bevorzugte. Die Kosten für Baumaterialien und Verpflegung wurden auf die Gouvernements des Reiches umgelegt. 641 Die Sterberate unter den Arbeitern, die Petersburg erbauten, indem sie zunächst Pfähle und Steine in den weichen Untergrund rammten und darauf die Gebäude errichteten, war extrem hoch. Das feuchte Klima, dünne Schilfhütten als anfängliche Behausungen, minderwertiges Essen, strapaziöse Leistungsanforderungen, Typhus, Ruhr, Skorbut und Malaria wirkten hier zerstörerisch zusammen. Zwar entstanden in Petersburg ab 1705 zwei Hospitäler und eine Apotheke, doch waren Arzneien teuer, und Ärzte gab es wenig, so daß viele Erkrankte nicht gerettet wurden. 642 Periodische Flutwellen bei Sturm sowie die Wölfe der Umgebung forderten zusätzliche Opfer. Allein im Jahre 1703 wurden zeitgenössischen Berichten zufolge zweitausend Kranke und Verwundete ins Meer gespült, und noch 1714 fraßen Wölfe eine ganze Schildwache. Weitere Tote gab es, weil der Zar sich in den Kopf gesetzt hatte, den Russen unbedingt das Segeln beizubringen; deshalb verbot er anfangs den Bau von Brücken und den Gebrauch von Rudern in der neuen Stadt; erst nachdem zahlreiche Leute in der Strömung ertrunken waren, darunter ein polnischer Gesandter, ein General und ein Arzt des Zaren, lenkte Peter ein. 643 Insgesamt bezifferten der Hofmeister des Zaren, Baron Heinrich Huyssen, und darauf fußend der hannoversche Resident Friedrich Christi an Weber die Anzahl der Todesopfer aus den ersten Jahren der Entstehung St. Petersburgs auf über 100 000 Menschen. Die moderne Forschung setzt dagegen niedrigere Zahlen an, ohne bisher über exakte Daten zu verfügen. 644 Seine Neuschöpfung an der Neva bot dem Zaren in stärkerer Weise Gelegenheit, gewissermaßen auf einer tabula rasa die eigenen Vorstellungen von einer mustergültigen und repräsentativen Stadt zu verwirklichen als es in den spontaner gewachsenen, traditionsgebundenen Siedlungszentren Rußlands möglich gewesen wäre. Entsprechend der Idee des regulierten Staates formte 641 642

643 644

PSZ IV, S. 311,466,527,530,546,752,869; PSZ V, S. 688. Wittrarn, Peter 1., Bd. 11, S. 61. Massie, Peter der Große, S. 519; Donnert, Peter der Große, S. 243f. Weber, Das veränderte Rußland, Bd. 11, S. 175; Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 61.

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er eine regulierte Stadt und schrieb detailliert ihre äußere Fassade sowie die Nonnen ihrer inneren Ordnung vor. Am Anfang stand die Festung zum Schutz gegen innere und äußere Feinde. Von diesem Zentrum ausgehend, bestimmten drei Radialen den Grundriß des Straßennetzes. Unter ihnen wurde der Nevskij Prospekt am bekanntesten. Diese breite Prachtstraße war mit Steinen gepflastert, wurde jeden Samstag von schwedischen Kriegsgefangenen gefegt und erhielt 1723 nach westlichem Vorbild eine Laternenbeleuchtung, die für Rußland damals eine Novität darstellte. 645 Dort, wo der Nevskij Prospekt auf die breit dahinfließende Neva stieß, ließ Peter I. die Admiralität errichten. Sie dominierte zu seiner Zeit das Stadtbild. Ein Erlaß vom 16.11.1715 machte deutlich, daß der Zar über viele Einzelheiten der Anlage von Straßen, Brücken, Kanälen und Kirchen persönlich entschied. Für die Ansiedlung jeweils derselben Handwerksart waren zusammenhängende Terrains festgesetzt, worin sich ein bestimmtes Ordnungsdenken manifestierte. hn April 1714 erging ein Edikt, das entlang der Hauptstraßen Petersburgs die Errichtung von Holzbauten verbot; die Dächer mußten aus Ziegeln oder Rasenplatten, jedenfalls nicht aus Schindeln oder Brettern bestehen, um die Brandgefahr zu vermindern. Die Häuser sollten den schichtenspezifischen Entwürfen Trezzinis entsprechen, damit das Stadtbild gepflegt und harmonisch wirkte. Speziell die Fassaden auf der Vasilij-Insel wurden noch detaillierter vorgegeben. Ab Oktober 1714 untersagte der Zar die Errichtung von Steinhäusern im übrigen Rußland außerhalb der Nevametropole, um alle Steinrnetze auf die neue Hauptstadt zu konzentrieren und den dortigen Aufbau zu beschleunigen. Sämtliche Fuhren, die nach Petersburg unterwegs waren, hatten zusätzlich Steine zu laden. Weitere Erlasse regelten, daß jeder Petersburger Hausbesitzer, der am fluß wohnte, das Ufer an seinem Grundstück selbst befestigen mußte. Außerdem sollten alle Bürger die Straßen vor ihren Häusern sauberhalten und dort zur Verschönerung des Stadtbildes Linden anpflanzen. Pferdeställe und Scheunen durften nicht an der Straßenfront stehen. Ebenso sollte das Vieh nicht auf den Straßen herumlaufen, sondern es wurde auf separate Weiden getrieben und dort von Hirten bewacht. Der Betrieb der häuslichen Dampfbäder war nur samstags gestattet, vielleicht aus Sparsarnkeitserwägungen heraus. 646 Schwerpunktrnäßig im Jahre 1718 ergingen verschiedene Ordnungsbestimmungen zum moralischen Verhalten der Bürger: Prügeleien auf der Straße wurden verboten; ebenso durfte es keine Prostitution und kein Kartenspiel um Geld geben; wer nachts betrunken in der Öffentlichkeit randalierte oder laut sang, mußte damit rechnen, daß ihn die Polizei aufgriff und bestrafte; Privatleuten war auf ihren Höfen oder im Freien der Gebrauch von Schußwaffen untersagt, möglicherweise auch, um den Zaren vor Attentaten zu schützen. Jeder häusliche Fieberkranke mußte der Polizei gemeldet werden, damit sich Seuchen nicht so leicht ausbreiten konnten. Im Unterschied zu den sonst vom Staat wenig kontrollierten Standards des Handwerks wurden in Petersburg 645 646

Wittrarn, Peter 1., Bd. II, S. 70. PSZ V, S. 95,126,128, 182f, 465, 587, 715, 718; PSZ VI, S. 193f.

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Maße und Gewichte periodisch überprüft, auch durfte niemand verdorbenes Fleisch verkaufen. Im Januar 1720 erging ein Edikt zur Abwehr von Räuberbanden; am Ende der Straßen Petersburgs sollten Schlagbäume errichtet werden, und die Bürger mußten dort nachts abwechselnd Wachen aufstellen. 647 Der Zar kümmerte sich partiell sogar um die Flora und Fauna der Umgebung, so sollten die Wälder entlang der Neva vor weiterer Abholzung bewahrt werden, die Forstbestände nahe der Hauptstadt wurden katalogisiert und teilweise aus Privatbesitz in Staatseigentum überführt; ein Gardesoldat erhielt den Auftrag, aus Südrußland besondere Gänse, Kraniche und andere VOAelarten nach Petersburg zu bringen, damit sie im Norden heimisch würden. 8 Insgesamt hatte Peter I. als Vorbilder für seine neue Hauptstadt sowohl Amsterdam als auch. was die Gartenanlagen betraf, Versailles vor Augen. 649 Das interne Stadtreglement zeigte Parallelen zu den landesherrlichen Polizeiordnungen Westeuropas, wie sie dort nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zur besseren Gewährleistung von Ruhe und Ordnung entstanden waren. Der Zar strebte für seine neue Hauptstadt eine blühende Wirtschaft an. Zu diesem Zweck vergab er Staatsaufträge an die Petersburger Werften und Waffenfabriken, förderte die Einrichtung von Manufakturen und erließ zahlreiche Privilegien zugunsten von Handel und Handwerk der Metropole an der Neva. Im Oktober und im November 1713 verfügten Zar und Senat, daß Hanf, Rindsleder, Kaviar, Leim, Pottasche, Teer und Borsten fortan nicht mehr über Archangel'sk, sondern nur noch über St. Petersburg zu exportieren seien; lediglich der stärker platzfordernde Getreidehandel durfte über beide Häfen abgewickelt werden. Ende April 1714 entstanden besonders enge Handelskontakte zwischen Hamburg und Petersburg: gegen die Zahlung von 200 000 Talern, fällig in drei Raten, erhielt die Hansestadt ein Freihandelsprivileg für den russischen Ostseeraum. Ab November desselben Jahres wurden die in Petersburg ansässigen Handwerksmeister von der RekrutensteIlung sowie von Geldzahlungen an die Armee befreit. Ähnlich erfuhren alle nach Petersburg abkommandierten Handelsleute seit Juli 1715 Steuererleichterungen. Im Dezember 17 16 wurde verfügt, ein Sechstel des russischen Gesamtexports müsse über den Petersburger Hafen abgewickelt werden; gut zwei Jahre später wurde diese Rate bereits auf ein Drittel erhöht. 650 Seit l724 schließlich traten neue Zolltarife in Kraft, gemäß derer die Abgaben auf Import- und Exportwaren in Petersburg nur ein Viertel der in Archangel'sk analog dafür geforderten Gelder betrugen. 651 Noch zu Lebzeiten des Zaren zeigten diese Förderungsmaßnahmen zugunsten der neuen Hauptstadt Erfolg, der sich exemplarisch am Umschlagvolumen des Petersburger Hafens ablesen ließ: dort legten im Laufe des Jahres 1722 immerhin schon 116 ausländische Handelsschiffe an, 1724 PSZ V. S. 576f, 581, 60lf; PSZ VI, S. 121. PSZ V, S. 555, 680f; PSZ VI, S. 169ff. 649 Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 156. 650 PSZ V, S. 66, lOlf, 129. 161,481.607. 651 Lebedev. Reformy Petra I, S. 355; Wittram setzt hier fälschlich ein Verhältnis von I: 1.25 an. vermutlich aufgrund eines Übersetzungsfehlers, vgl. Wittram, Peter 1.. Bd. 11. S. 77. 647 648

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betrug ihre Zahl 240, ein Jahr darauf sogar 914. 652 Damit hatte die neue Metropole gegen Ende der Regierungszeit ihres Gründers eine Vorrangstellung als ökonomisches Zentrum des russischen Nordens erlangt. Ihr Aufstieg verlief nicht nur zu Lasten von Archangel'sk, sondern auch von Novgorod, das sich unter Peter I. von einer Handelsstadt in Richtung auf einen Garnisonsmittelpunkt wandelte. 653 In bezug auf das unfreiwillig aus seiner Hauptstadtfunktion verdrängte Moskau entwickelte sich eine Rivalität insbesondere zwischen den Intellektuellen der beiden Städte, die bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte und z. T. sehr emotional ausgetragen wurde. Moskau blieb allerdings nach wie vor der Krönungsort für die russischen Herrscher,654 denn die neue Hauptstadt als säkulare Gründung, die überwiegend militärische, wirtschaftliche und administrative Funktionen in sich konzentrierte, konnte in religiöser Hinsicht niemals dieselbe Aura und Autorität erwerben, wie sie die altrussische Hauptstadt Kiev mit ihren zahlreichen Kirchen und dem berühmten Höhlenkloster ausgezeichnet hatte und wie sie in der mittleren Periode der russischen Geschichte Moskau mit seinen goldschimmernden Kathedralen und seiner tief empfundenen Ikonenkunst eigen gewesen war. Werner Philipp charakterisierte St. Petersburg in diesem Zusammenhang pointiert als "Hort ... des neuen aus dem Westen übernommenen Glaubens an das Heil der natürlichen Vernunft", wobei die religiösen Traditionen preisgegeben worden seien. 655 Tatsächlich prägte ein rationales Kalkül in Form des Strebens nach der Ostseeherrschaft, nach Zurückdrängung des schwedischen Einflusses, des Bemühens um einen eisfreien Hafen sowie der Erwartung wirtschaftlichen Zugewinns die Gründung und den nachfolgenden Ausbau der Stadt. Doch sollten daneben auch die eher irrationalen, stärker emotional bestimmten Elemente der Entscheidung für die Nevametropole nicht vergessen werden, nämlich die Vorliebe des Zaren für die Seefahrt, seine Absicht, dem düsteren Moskau und damit seinen eigenen belastenden Kindheitserinnerungen zu entfliehen, sowie sein Wunsch, der eigenen Größe ein bleibendes Denkmal zu setzen. Insofern gingen Verstand und Gefühl des Regenten in der neuen Hauptstadt eine Symbiose ein. Wie sehr der Monarch an seiner Gründung hing, erhellt daraus, daß er diesen Ort als sein "Paradies" bezeichnete,656 wo er entspannt, sorgenfrei und glücklich zu verweilen hoffte. Das russische Volk hingegen, das ja gezwungenermaßen gewaltige Opfer an Geld, Arbeit und Leben für den Aufbau der Stadt hatte bringen müssen, verhielt sich deutlich ablehnend, indem es die

Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 217. Perry, The State of Russia, S. 169. 654 K. Meyer, St. Petersburg: Die Metropole an der Peripherie. Ein Versuch, in: U. Hinrichs u. a. (Hrsg.), Sprache in der Slavia und auf dem Balkan. Norbert Reiter zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1993, S. 163ff. 655 W. Philipp, Die religiöse Begründung der altrussischen Hauptstadt, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 33. Berlin 1983, S. 238. 656 Donnert, Peter der Große, S. 249. 652 653

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Prophezeihung verbreitete, Petersburg werde in Kürze wieder wüst werden. 657 Hier zeigte sich noch einmal die spannungsgeladene Diskrepanz zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen, die geradezu ein Wesensmerkrnal des praktizierten Absolutismus - entgegen der ihn stützenden Theorie - ausmachte. Während der Zar mit eiserner Energie den Aufbau der neuen Hauptstadt durchsetzte, orientierte er sich nicht am Wohl und Wehe des einzelnen Untertanen, sondern am erwarteten Nutzen für den Gesamtstaat. Um sein Ziel eines größeren Rußland zu erreichen, war Peter I. bereit, über Leichen zu gehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Volk diente auch hier lediglich als Manövriermasse zur Umsetzung der Pläne des Herrschers, darin bestand in der Praxis ein Wesenskern der absolutistischen Staatslenkung. Wirtschaftspolitisch und machtpolitisch betrachtet, bedeutete St. Petersburg zweifellos einen Gewinn für Rußland, denn es eröffnete den strategisch und handelsmäßig wichtigen Zugang zur Ostsee und blockierte die langjährige Vorherrschaft Schwedens in diesem Raum. Daneben setzte die Nevametropole im eher unterentwickelten Russischen Reich städtebaulich neue Maßstäbe. In welthistorischer Perspektive demonstriert das "Venedig des Nordens" heute noch eindrucksvoll, wie viel der entschlossene Wille einer einzelnen machtvollen Persönlichkeit unter entsprechenden Zeitumständen zu bewirken vermag. Gerade in der Epoche des Barock machte sich auch anderenorts bei Menschen mit herausragender gesellschaftlicher Stellung das Bestreben bemerkbar, die eigene Größe zur Schau zu stellen, ja möglichst noch über den Tod hinaus in der Erinnerung der Nachwelt weiterzuleben. In diesem Zusammenhang nahm etwa die Portraitmalerei einen Aufschwung; profane Prachtbauten mit luxuriöser Innenausstattung entstanden, umgeben von sorgfältig geplanten Gärten; die Männerkleidung wurde üppiger und bunter anstelle der früher stilbildenden spanischen Mode, die in Schwarz gehalten gewesen war und das Individuum eher hatte zurücktreten lassen; der Adel legte jetzt Wert auf Prunkkarossen; als neue Musikform entstand das Oratorium, das kraftvoll viele Stimmen zusammenführte und ihren Gesamtausdruck gewaltig steigerte. In all diesen Details äußerte sich eine erhöhte Diesseitigkeit des Lebensgefühls. Auch das Handeln des russischen Zaren wurzelte im Hier und Jetzt bzw. in einer weltlich verstandenen Zukunft.

657 X. Gasiorowska, The Image of Peter tbe Great in Russian Fiction. Madison / Wisconsin 1979, S. 172.

XIV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen Die neue Hauptstadt wurde zum Sitz neuer zentraler Vetwaltungseinrichtungen. Hier bestand unter Peter I. insofern ein erheblicher Handlungsbedarf, als das alte Regierungssystem, das im wesentlichen unter Ivan IV. eingerichtet und über mehr als zwei Jahrhunderte tradiert worden war, eine Zersplitterung und unklare Zuordnung von Kompetenzen aufwies sowie in der Praxis nur schleppend und korruptionsbeladen agierte. Der überkommene sehr unübersichtliche Vetwaltungsapparat gliederte sich bis in die siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts in über fünfzig Zentralämter, die sogenannten Prikaze. Sie waren sämtlich in Moskau gelegen. Von ihrer AufgabensteIlung her folgten sie teils regionalen Prinzipien - so gab es getrennte Ämter für Sibirien, den Novgoroder Raum, die Ukraine oder Weißrußland - , teils waren ihnen quer dazu bestimmte Sachaufgaben anvertraut, z. B. oblag dem Raztjad die Vergabe hoher Ämter, die Botschaftskanzlei beschäftigte sich mit Fragen des diplomatischen Verkehrs, die Prikaze für das Militärwesen allgemein, für die Artillerie, die Reiterei, die Waffenbeschaffung, den Proviant sollten Probleme der Heeresorganisation bearbeiten, eine Kanzlei war für die Dienstgüter zuständig, eine andere für die Leibeigenen, eine weitere für gerichtliche Untersuchungen, wieder andere für die Klöster oder die Belange des Patriarchen, in der Privatkanzlei des Zaren wurden auch dessen Güter vetwaltet, kleinere Prikaze entstanden für das Apothekenwesen oder für den staatlichen Druckereibedarf usw. Übetwiegend herrschte das Gewohnheitsrecht anstelle fixierter Gesetze, was der Willkür der Beamten einen weiten Spielraum eröffnete. Die Aufgaben von Justiz und Vetwaltung waren nicht getrennt, so daß eine wirksame Kontrolle gegen Mißbräuche fehlte. Die Beschlußfassung erfolgte in der Regel mündlich, was gleichfalls einer Kontrolle entgegenstand. Eine vorausschauende Finanzplanung in Form jährlicher staatlicher Budgets fehlte. Das Archivwesen befand sich in chaotischem Zustand. Urkunden enthielten teilweise nicht einmal den vollständigen Namen der Betroffenen. Die Angehörigen der Vetwaltung erfuhren keine spezielle Ausbildung, infolgedessen war von ihnen keine hohe Qualität ihrer Arbeit zu etwarten. In der ersten Phase seiner Regierungstätigkeit versuchte Zar Peter 1., die Prikaze durch Zusammenlegung etwas übersichtlicher zu gestalten und die Kompetenzüberschneidungen zwischen ihnen zu verringern. Als Ergebnis dieser Bemühungen gab es 1699 in der russischen Zentralvetwaltung noch 44 Ämter, und bis zum Jahre 1704 war ihre Anzahl auf 33 zurückgegangen. 658 Eine wirkliche Gesundschrumpfung war damit jedoch noch nicht erreicht.

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XIV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen

Neben den Zentral ämtern, die für die Durchführung der VeIWaltung zuständig waren, übernahm Peter I. als historisches Erbe, das bis in die Kiever Zeit zurückreichte, die Duma als beratende Körperschaft aus der Oberschicht. Ende des 17. Jahrhunderts gehörten ihr Bojaren und Dienstleute nach acht Rangstufen gegliedert an. Die Duma tagte ohne feste rechtliche Kompetenzen, wurde vom Herrscher einberufen und war stets auf sein Wohlwollen angewiesen. Soweit Beschlüsse gefaSt wurden, sollte eine Exekutivkammer (Raspravnaja palata) deren Umsetzung übeIWachen. Nach seiner Rückkehr von der großen Auslandsreise im Jahre 1698 und der anschließenden Abrechnung mit den aufständischen Strelitzen regierte der Zar zunächst weitgehend allein. Informell beriet er sich mit der "Nahen Kanzlei" (Bliznjaja kanceljarija), einer lockeren Gruppierung seiner Freunde und Mitarbeiter, die sich dreimal pro Woche montags, mittwochs und freitags bei ihm einfanden. Dieses Gremium erinnert an die halbprivaten Kabinette westlicher Regenten. Es war überschaubarer und intimer als die Duma. Außerdem konnte der Zar hinzuziehen oder hinauswerfen, wen er wollte, d. h. sein Handlungsspielraum eIWeiterte sich. Parallel zur Einschaltung der Nahen Kanzlei in die Staatsgeschäfte verringerte sich der Einfluß der Duma, entsprechend sank ihre Mitgliederzahl von 182 Personen im Jahre 1692 auf 86 Männer im Jahre 1702. Ab 1698 übertrug der Zar seinem engen Mitarbeiter, dem Fürsten Fedor Jurevic Romodanovskij, der sich bereits einen Namen als Hauptinquisitor der Geheimpolizei gemacht hatte und allgemein gefürchtet war, die Leitung des nur noch rudimentär existierenden Gremiums, das damit weitgehend lahmgelegt war. 659 An die ansatzweise demokratische Einrichtung der Reichsversammlungen (Sobor bzw. Vsja zemlja), wie sie im frühen 17. Jahrhundert zur UbeIWindung der Smuta, der Zeit der Wirren, während einer Schwächephase der russischen Zentralgewalt entstanden war, knüpfte Peter I. überhaupt nicht an. Es handelte sich dabei um periodische Zusammenkünfte von mehreren hundert Delegierten aus unterschiedlichen sozialen Schichten, im einzelnen von Geistlichen, Bojaren, Dienstleuten aus Heer und VeIWaltung sowie gewählten Vertretern der Städte, die gemeinsam im Jahre 1613 den ersten Romanov-Zaren zum Herrscher erhoben und auch später noch bis zur Mitte des Jahrhunderts häufiger zusammentraten, um über Friedensschlüsse, Petitionen, Steuerfragen, gerechtes Gericht oder Probleme des Handels zu beraten. Auch das Gesetzbuch von 1649 wurde von einer Reichsversammlung bestätigt, zu der Peters Vater, der Zar Aleksej Michajlovic, geladen hatte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden Kaufleute und Dienstadel meist nur noch getrennt zu Beratungen bestellt. Die letzte, der Zusammensetzung nach bereits unvollständige Versammlung fand 1684 statt, fünf Jahre vor Peters Regierungsantritt. 66o

658 PSZ IV, S. 181; Pib III, S. 182ff; Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 4, 76,502; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 540. 659 PSZ IV, S. 402; Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 4f, 7. 660 H.-J. Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 119ff, 269ff.

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Im Grunde stellten die Sobory eine Fonn der Volksbeteiligung an der gesamtstaatlichen Entscheidungsfmdung dar, allerdings mit der wichtigen Einschränkung, daß die Bauern nicht vertreten waren. Im Westen Europas entsprachen ihnen hinsichtlich der Funktion und der sozialen Struktur die Reichstage oder Generalstände, deren Rechtsstellung jedoch besser abgesichert war als die der Sobory. Zar Peter I. berief nie eine Reichsversammlung ein, da er jede Machteinbuße prinzipiell ablehnte. Damit folgte er einem allgemeinen Trend des Absolutismus, denn auch in Westeuropa wurden die Generalstände und Landstände zugunsten der alleinigen Entscheidung des Fürsten weitgehend ausgeschaltet. In stärkerem Maße wandte sich Peter I. einer Neuordnung der Zentral verwaltung erst im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu, nachdem der russische Sieg über die Schweden bei Poltava im Sommer 1709 eine militärische Atempause gebracht hatte und dem Regenten mehr Zeit für zivile Aufgabenfelder ließ. Eine erste tiefgreifende Neuerung bildete die Schaffung des Regierenden Senats (pravitel'stvujuscij senat). Er wurde durch einen namentlichen Erlaß des Zaren am 22.2.1711 etabliert und diente ursprünglich eher provisorisch der Vertretung des Herrschers "während unserer Abwesenheit" (dlja otlucek naSich), die bald infolge eines erneuten Feldzuges gegen die Türken eintrat. Dem Senat gehörten anfangs folgende neun vom Zaren ernannte Mitglieder an: der Leiter des Klosteramtes Graf Ivan Alekseevic MusinPuskin, der Bojar Tichon Nikitic Stresnev als Gouverneur von Moskau, Fürst Petr Alekseevic Golicyn als Gouverneur von Archangel'sk, Fürst Michail Vladimirovic Dolgorukij als Vertreter eines der angesehensten Adelsgeschlechter Rußlands mit zahlreichen Verwandten in hohen Ämtern, der Bojar und frühere Dumaangehörige Grigorij Andreevic Plemjannikov, der Fürst und Generalmajor Grigorij Semenovic Volkonskij, der Generalzahlmeister für die Annee Michail Michajlovic Samarin, der Generalquartienneister Vasilij Andreevic Opuchtin sowie der Beamte Nazarij Petrovic Mel'nickij. Für die technische Abwicklung der Senatsangelegenheiten war der Obersekretär Anisim Scukin zuständig. Um einer Ämterhäufung und einer damit verbundenen evtl. gefährlichen Zusammenballung von Einflußchancen vorzubeugen, mußten Stresnev und Golicyn ihre Gouverneursposten an die neu ernannten Vizegouverneure Vasilij Ersov für Moskau bzw. Aleksej Aleksandrovic Kurbatov für Archangel'sk abtreten. An der Zusammensetzung des Senats fällt auf, daß es sich sämtlich um Adlige handelte, die bereits Verwaltungserfahrungen vorweisen konnten, und ferner, daß mit Volkonskij, Samarin und Opuchtin die Belange des Heeres eine besondere Berücksichtigung fanden. Das Kollegialprinzip im Senat konnte den Zaren vor einem zu großen Einfluß einzelner Senatoren schützen. Anstelle des früheren Razrjad wurde eine Kanzlei zur Ämtervergabe beim Senat eingerichtet. Die Verbindung zur mittleren Verwaltungsebene sollte durch je zwei Kommissare pro Gouvernement hergestellt werden, die den Anordn~en des Senats Folge zu leisten hatten und Anfragen an ihn richten durften. 1 661

PSZ IV. S. 643f; Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 107f.

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In einern weiteren namentlichen Ukaz vorn 2.3.1711 urnriß der Zar die Aufgaben des Senats genauer. Es waren a) die Gewährleistung eines gerechten Gerichts durch eigene höchstinstanzliche Rechtsprechung des Senats sowie gegebenenfalls durch die Bestrafung voreingenommener Richter, b) die Kontrolle über die Staatsausgaben gemäß der Richtlinie, möglichst sparsam zu wirtschaften, damit genug Finanzmittel für die Streitkräfte bereitstünden; in diesem Zusammenhang fiel der bekannte Ausspruch "Gelder soweit als möglich einsparen, denn sie sind die Arterie des Krieges", c) junge Adlige und eintausend gebildete Diener der Bojaren sollten der Armee als Offiziersnachwuchs zugeführt werden, d) der Senat sollte die staatlichen Wechsel gesammelt an einer Stelle verwahren, mit denen manche Ausgaben so z. B. für das Heer bargeldlos getätigt wurden, e) dem Senat oblag die Kontrolle über die Verpachtung von Staatsmonopoien an Privatleute insbesondere beim Salz, daneben sollte er die Einkünfte aus dem Handel mit China und Persien erhöhen. Andeutungsweise wurde die Einrichtung von Fiskalen anvisiert, jedoch noch ohne Einzelheiten. 662 Insgesamt sollte der Senat also für grundlegende juristische, personelle und fmanzielle Belange der internen Staatsverwaltung geradestehen, während die Außenpolitik, die Diplomatie und die Kriegsführung dem Zaren selbst vorbehalten blieben. Da der Senat in seiner Gesamtheit keinen Zugriff auf die Streitkräfte hatte, konnte er der Machtposition des Monarchen nicht wirklich Konkurrenz bieten; insofern zeigte Peter I. bei der Kompetenzzuweisung an das neue Gremium staatsmännische Klugheit und Vorsicht. Als ausländisches Muster für den Senat diente der schwedische Reichsrat, der König Karl Xß. während dessen Feldzügen vertrat und für ihn die Regierungsgeschäfte weiterführte. 663 Ob bei der Namensgebung das antike Rom eine Rolle spielte, läßt sich mangels Quellen nicht mit Sicherheit ermitteln; denkbar wäre es schon, daß Zar Peter 1., da er Cäsar verehrte, wie dieser über einen Senat gebieten wollte.

Am 5.3.1711 ergingen einige Detailbestirnrnungen zur Geschäftsordnung des Senats sowie zur Arbeitsweise der Fiskale. Die Senatoren erhielten eine feste Sitzordnung, vermutlich um Rangstreitigkeiten vorzubeugen. Beschlüsse mußten einstimmig und schriftlich gefaßt werden; sofern jemand widersprach, waren seine Bedenken gleichfalls ins Protokoll aufzunehmen. Die schriftliche Form der Beschlußfassung erleichterte dem Zaren die Kontrolle über den Senat. Die Einstimmigkeit der Entscheidungen wurde am 4.4.1714 zugunsten des Mehrheitsprinzips revidiert, sicherlich aus Gründen der höheren Effizienz, damit sich der Senat nicht selbst lahrnlegte. Nach französischem und preußischem Vorbild richtete Peter I. durch dasselbe Edikt vorn 5.3.1711 das System der Fiskalität ein. Es diente der Aufdekkung von Rechtsverstößen, insbesondere sollten die Fiskale den häufigen Unterschlagungen zu Lasten der Staatskasse auf die Spur kommen. Da sie gePSZ IV, S. 652. E. v. Puttkammer, Einflüsse des schwedischen Rechts auf die Reformen Peters des Großen, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 19/1958, S. 369ff. 662 663

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heim ennittelten, konnte bereits ihre bloße Existenz auf pflichtvergessene Beamte verunsichernd wirken. Das Fiskalsystem bestand aus einem Oberfiskal, der vom Senat gewählt wurde und einem beliebigen gesellschaftlichen Rang angehören durfte; darunter gab es ein Netz von Provinzfiskalen und Fiskalen in den Städten, insgesamt etwa 500 Personen. Wenn der Oberfiskal genug Indizien gegen einen Delinquenten gesammelt hatte, sollte er ihn vor dem Senat anzeigen. Entpuppte sich die Beschuldigung als ungerechtfertigt, so ging der Oberfiskal trotzdem straffrei aus; wurde der Beschuldigte überführt, so erhielt der Oberfiskal die Hälfte der über den Delinquenten verhängten Geldstrafe, die andere Hälfte floß in die Staatskasse. Peter I. setzte also bei der Fiskalität geschickt auf das Prinzip der materiellen Interessiertheit bei den Ennittlern. 664 Der erste vier Jahre tätige Oberfiskal war Michail Vasil'evic Zeljabuzskij. Ihm folgte ab 1715 Aleksej Nesterov, der 1724 selbst nach einem Skandalprozeß wegen massiver Bestechlichkeit hingerichtet wurde. Generell kam der sowjetische Forscher G. N. Anpilogov zu dem Schluß, daß es um die Fiskale in moralischer Hinsicht nicht besser stand als bei den übrigen Verwaltungsbeamten der petrinischen Epoche, d. h. die Annahme von Bestechungsgeldern, Falschmeldungen oder das bewußte Zurückhalten von Informationen kamen häufig vor. 665 In der Praxis traten auch Spannungen zwischen Fiskalität und Senat auf, z. B. beschwerten sich einige Fiskale am 8.4.1712 beim Zaren, sie seien von den Senatoren als "Straßenrichter", "Antichristen" und "Halunken" beschimpft worden, was auf eine extensive und partiell ungerechtfertigte Anklageerhebung seitens der Fiskale hindeutet. Ein Dekret des Zaren vom 17.4.1714 schränkte den Handlungsspielraum seiner Finanzwächter insofern wieder ein, als bewußt falsche Anzeigen "aus Leidenschaft oder Bosheit" nun doch zur Bestrafung der Fiskale führen sollten, und zwar unter Anwendung desseibe Strafmaßes, wie es den Beschuldigten getroffen hätte. Analoges galt, falls die Fiskale von Delikten Kenntnis erhielten und schwiegen. Ferner wurden die Fiskale ermahnt, sich bei ihrer Arbeit ehrenrühriger Ausdrücke zu enthalten. 666 Insgesamt kann man aus der dichten zeitlichen Abfolge der drei anfänglichen Erlasse zum Senat und der ihm zuarbeitenden Fiskalität innerhalb von nur anderthalb Wochen schließen, daß der Zar gewissermaßen Nägel mit Köpfen machen wollte, um sich selbst von den zivilen Staatsgeschäften zu entlasten und wiederum mit ganzer Kraft Krieg führen zu können. Verglichen mit der früheren Duma, war der neue Senat schon wegen seiner geringen Mitgliederzahl auf mehr Effizienz hin angelegt. Gemessen an der informell tätigen Engen Kanzlei, erhielten die Senatoren eine erhöhte Verantwortlichkeit und waren zudem der Bevölkerung gegenüber leichter als Entscheidungsgehilfen des Herrschers identifizierbar. Aufgrund dieser Gesichtspunkte könnte man die Einrichtung des Senats als staatspolitischen Fortschritt werten. Negativ er664 PSZ IV, S. 653f; Sofrenko, Parnjatniki russkogo prava, S. 47; Massie, Peter der Große, S. 651. 665 G. N. Anpilogov, Fiskalitet pri Petre I, in: Vestnik Moskovskogo universiteta. Istorija, Bd. 511956, S. 63ff; Wittrarn, Peter 1., Bd. 11, S. 109f. 66 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 331, 333, 334 (Zitat).

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scheint dagegen, daß die Aufgaben des Senats offenbar rasch extemporiert wurden, eher unvollständig wirkten und eine stärkere Systematik vermissen ließen. Der Zar als absoluter Monarch konnte Beschlüsse des Senats jederzeit wieder rückgängig machen, so daß letzen Endes keine ernsthaften Machteinbußen des Herrschers auftraten und das absolutistische System nicht durchbrochen wurde. In der weiteren Geschichte des Senats zu Lebzeiten Peters I. kann man drei Phasen unterscheiden: Von 1711 bis 1718 entwickelte sich der Senat in Stellvertretung des Zaren zu einem Organ mit breiten Vollmachten und einem ausdifferenzierten Unterbau. Der Senat unterstellte sich selbst u. a. den früheren Dienstgüterprikaz, da die Senatoren in diesem Bereich eigene Interessen hatten. Um den Einfluß des Senats nicht ausufern zu lassen, schuf Peter I. im Jahre 1715 das Amt des Generalrevisors, der während aller Senatssitzungen anwesend sein mußte und auf die Wahrung der monarchischen Interessen zu achten hatte. Diese Vertrauensposition vergab der Zar an Vasilij Nikitic Zotov, den Sohn seines früheren Lehrers. V. N. Zotov berichtete 1718 über die letzten drei Jahre der Amtsführung der Senatoren, es seien viele Mängel zu verzeichnen, z. B. habe der Senat während des dreijährigen Beobachtungszeitraums nur drei Gerichtsprozesse tatsächlich entschieden, vielfach sei die Anwesensheitspflicht von den Senatoren nicht eingehalten worden, aus den Gouvernements fehlten die Rechenschaftsberichte, einen wirklichen Überblick über die Finanzen habe sich der Senat nicht verschaffen können, ein großer Teil der Steuergelder und Strafabgaben sei in der Zentrale nie eingetroffen, um den Fehlbetrag zu decken, habe der Senat willkürlich Güter konfisziert und z. B. aus dem reichen Kazan' doppelte Abgaben erhoben. Obwohl von den Senatoren eigentlich ein würdevolles Benehmen erwartet wurde, sei es gelegentlich zu wüsten Beschimpfungen zwischen ihnen gekommen. Kurz, die oberste Zentralbehörde steckte gewissermaßen noch in den Kinderschuhen. 667 Eine zweite Phase brach an, als sich mit der Schaffung der Kollegien, einer Art von Ministerien, auch der Charakter des Senats wandelte. Er wurde personell und sachlich umorganisiert und bildete nun im wesentlichen eine Versammlung aller Kollegiumspräsidenten. Da diese jedoch überwiegend in ihren neu eingerichteten Behörden gebraucht wurden, tagte der Senat jetzt seltener. Als wesentlichste Funktionen verblieben ihm die Vergabe hoher Ämter sowie letztinstanzliehe Gerichtsentscheidungen, ferner die Entgegennahme von Berichten aus den Gouvernements. Daneben sollte er sich mit Angelegenheiten befassen, die nicht in den Arbeitsbereich der Kollegien paßten. Ein namentlicher Erlaß des Zaren vom Dezember 1718 setzte weiterhin im Senat als Entscheidungsmodus die Stimmenmehrheit fest, verpflichtete die Senatoren zu streng sachorientierter Amtsführung ohne Scherze oder Gespräche über Nebensächlichkeiten und erhöhte die Bedeutung der Protokollführung. Als Generalregel wurde dem Senat eingeschärft, er müsse ,jede Sorgsamkeit und Vorsicht walten lassen, um das Interesse seines Monarchen in keiner Weise zu 667

PSZ V, S. 72; Solev'ev, Istorija Rossii, Bd. VllI, S. 449ff.

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schädigen", d. h. auch in bezug auf die Zentralverwaltung wurden ähnlich wie in Heer und Flotte das Wohl des Staates und des Herrschers in eins gesetzt. 668 Der letzte Abschnitt in der Entwicklung des Senats unter Peter I. begann am 27.4. 1722, als das Gremium per Dekret des Zaren von den Kollegien unabhängiger gemacht wurde. Die Kollegiumspräsidenten sollten nun nicht mehr alle ständig an den Senatssitzungen teilnehmen, sondern sich statt dessen intensiver um ihre Behörden kümmern. Vielleicht befürchtete der Zar, aus der Ämterhäufung Senator plus Kollegiumspräsident könnten sich für seine eigene Person nachteilige Machtzusammenballungen ergeben. Der Senat bestand fortan aus vom Zaren ernannten Wirklichen Geheimräten und Geheimräten, einem Generalprokuror und einem Oberprokuror, einem Obersekretär, einem Sekretär und einem Protokollführer; hinzu kamen eine Revisionsabteilung, ein Exekutor für wirtschaftliche Aufgaben, ein Ansprechpartner für Gesuche aus der Bevölkerung (reketmejster) sowie ein Heroldmeister als Aufsicht über die Angelegenheiten des Adels. Der Senat sollte dort entscheiden, wo die Kollegien überfordert waren. Außerdem vergab er nach wie vor die hohen Beamtenstellen. Zum letzten Punkt wurde im April 1722 einschränkend und konservativer als früher festgelegt, die Posten von Generälen, Kollegiumspräsidenten, Gouverneuren, Voevoden, Kommandanten und Richtern an den Hofgerichten seien ausschließlich dem Adel vorbehalten. Um die Rückmeldung aus der mittleren Verwaltungsebene an den Senat zu beschleunigen, setzte der Zar einen Katalog von Strafgeldern, gestaffelt nach der Verzugszeit, in Kraft; im Extremfall drohte den zögerlich arbeitenden Beamten Zwangsarbeit. Eine Sanduhr sollte im Senat die Redezeit beschränken und ihn zu einer effizienteren Arbeitsweise zwingen. Neben der Protokollführung wurde neu auch die Anlage eines Registers der behandelten Tagesordnungspunkte verlangt. Am Ende hieß es wiederum als bereits bekannter Topos zum ideologischen Hintergrund, der Senat habe darauf zu achten, "daß Unser Interesse durch nichts geschädigt wird".669 Zusammengefaßt zeigte sich in der Abfolge der Gesetze zum Senat eine zunehmende Reglementierung seiner Arbeit sowie eine stärkere Ausdifferenzierung zwischen den Tätigkeiten seiner einzelnen Mitglieder. Im Endeffekt wurde damit seine Professionalisierung erhöht. Der Senat war personell nicht in der Lage, alle Bereiche der tradierten russischen Zentralämter abzudecken. Deshalb suchte der Zar nach geeigneten Formen, mit denen er die Verwaltungsspitze ergänzend umstrukturieren konnte, und fand sie im Ressortprinzip, das in Westeuropa bereits seit der Zeit Karls des Großen lange und erfolgreich angewandt worden war. Verschiedene Ausländer schlugen dem russischen Herrscher schon frühzeitig vor, zur Reform seiner Zentralverwaltung sogenannte Kollegien, eine Art Fachrninisterien, einzurichten. Der Engländer Francis Lee überreichte Peter I. 1698 eine entsprechende Denkschrift in London, der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz beeinflußte den Zaren in derselben Richtung und vergaß dabei auch ein Kollegium für Bildung und Wissenschaft nicht, im Jahre 1711 legte 668 669

13"

PSZ V, S. 605f. PSZ VI, S. 660f, 662 (Zitat); Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 174f.

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der Sachse Johann Friedrich Blüher dem russischen Monarchen die Gründung eines Bergkollegiums zur Förderung des Erzabbaus nahe. In den Jahren 1712 und 1715 beschäftigte sich Zar Peter jeweils kurzfristig mit der Einrichtung von Kollegien und veranlaßte seine Diplomaten, die entsprechenden Verhältnisse in Schweden, Dänemark und Deutschland zu erkunden (notfalls auch heimlich, da Rußland mit Schweden Krieg führte) und einzuschätzen. Letztlich wurde dann wieder das schwedische Beispiel prägend, was umso sinnvoller erscheint, als die Kollegien ja den bereits bestehenden Senat ergänzen sollten, der analog zum schwedischen Reichsrat gebildet worden war. Peter entschloß sich damit zur Übernahme des fcesamten Systems der schwedischen Zentralverwaltung, die gut funktionierte. 6 0 In zwei persönlichen Edikten vom 11. und 12.12.1717 folgte der Zar sogar weitgehend der schwedischen Namensgebung, indem er verfügte, es sollten auch in Rußland sukzessive ein Kriegskollegium, ein Admiralitätskollegium, ein Kammerkollegium für die staatlichen Einkünfte, ein Staatskontor für die staatlichen Ausgaben, ein Revisionskollegium zur Rechnungsprüfung in beiden Bereichen, ein Kommerzkollegium zur Förderung des Handels sowie ein Berg- und Manufakturkollegium eingerichtet werden. Hinzu kam mit russischer Beze~chnung das Kollegium für die auswärtigen Angelegenheiten als Weiterführung der alten Botschaftskanzlei; hier liefen die Fäden von etwa zwanzig ständigen diplomatischen Vertretungen Rußlands im Ausland zusammen - eine Neueinrichtung Peters -, und hier wurden die ausländischen Diplomaten betreut. Das Justizkollegium schließlich entsprach dem schwedischen Hofgericht. Im Jahre 1721 entstanden noch drei weitere Kollegien, nämlich der Hauptrnagistrat als Oberaufsicht über die Stadtverwaltungen, das Geistliche Kollegium zur Verwaltung der Kirche sowie das Erbgüterkollegium, das Streitigkeiten zwischen weltlichen Grundherm schlichten sollte. Insgesamt entstanden zwölf Kollegien. Als Grundausstattung erhielt jedes von ihnen einen Präsidenten, einen Vizepräsidenten, der im Unterschied zum Präsidenten auch Ausländer sein durfte, vier Kollegienräte, vier Kollegienassessoren, einen Sekretär, einen Notar, einen Aktuarius für den Posteingang, einen Registrator zur Aufbewahrung der Akten, einen Übersetzer sowie Schriftführer in drei Abstufungsgraden. Die Gouverneure und der ihnen unterstellte Apparat wurden den Kollegien gegenüber zum Gehorsam verpflichtet, damit die Beschlüsse der obersten Verwaltungsebene nicht nur auf dem Papier standen. Klugerweise gewährte der sonst oft ungeduldige Zar für die einschneidende Veränderung seiner Zentralverwaltung diesmal eine längere Umstellungfrist: die designierten Präsidenten der neuen Kollegien sollten sich zunächst im Laufe des Jahres 1718 durch die regelmäßige Teilnahme an den Senatssitzungen sachkundig machen, und erst danach ab 1719/1720 sollten die neuen Behörden in voller Funktion tätig werden. 671

Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 10, 12. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 55ff; Dukes, The Making of Russian Absolutism, S. 70. 670 671

XlV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen

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Am 15.12.1717 legte der Zar folgende Namensliste für die Leiter der Kollegien fest: Der Kanzler Gavriil Ivanovic Golovkin als erfahrener Staatmann und Senator sollte das Kollegium für auswärtige Angelegenheiten übernehmen, unterstützt wurde er von Baron Petr Pavlovic Safirov als Vizepräsidenten, der über umfangreiche ausländische Sprachkenntnisse verfügte; an die Spitze des Kammerkollegiums trat Fürst Dmitrij Michajlovic Golicyn, der als Senator und Gouverneur von Kiev Verwaltungspraxis vorweisen konnte; das Justizkollegium übernahm Graf Andrej Artamonovic Matveev, ein gebildeter Mann mit langjähriger Auslandserfahrung als russischer Diplomat in Holland, zur Hilfe beigegeben wurde ihm der Deutsche Hermann v. Brevern; der Senator Fürst Jakov Fedorovic Dolgorukij, der als Kriegsgefangener in Schweden einige Jahre die dortige Verwaltung kennengelernt hatte, war für die Leitung des Revisionskollegiums vorgesehen; an die Spitze des Kriegskollegiums setzte der Zar seinen Favoriten Aleksandr Danilovic Mensikov, der es inzwischen zum Feldmarschall gebracht hatte, zu dessen Stellvertreter wurde der General Adam Weyde berufen; die Oberaufsicht über das Adrniralitätskollegium erhielt der Generaladrniral Graf Fedor Matveevic Apraksin, wie Mensikov ein langjähriger Vertrauter des Zaren; an die Spitze des Kommerzkollegiums trat der frühere russische Gesandte an der Pforte Petr Andreevic Tolstoj mit einem Deutschstämmigen namens Schmidt als Vizepräsidenten; der Senator Graf Ivan Alekseevic Musin-PuSkin war als Präsident des Staatskontors vorgesehen, als Leiter des Klosteramtes hatte er zudem einen Überblick über den Kirchenbesitz, auf den der Staat zur Defizitdeckung zurückgreifen konnte; der Generalfeldzeugmeister Jakob Bruce, ein Schotte, sollte das Berg- und Manufakturkollegium organisieren, nachdem er vorher erfolgreich am Aufbau der russischen Artillerie beteiligt gewesen war und den Bedarf der Armee an Geschützen, Munition, Uniformen etc. einschätzen konnte. 672 Insgesamt trat die Absicht des Zaren hervor, erfahrene und zuverlässige Personen mit der Leitung der neuen Behörden zu betrauen. Ideologisch bemerkenswert erscheint, daß Peter I. in einem Erlaß vom 22.12.1718 die Pflichten der Kollegien als "für das Volk wichtige Angelegenheit" bezeichnete, während es am 28.2.1720 hieß, "die öffentlichen Staatsangelegenheiten, welche die Interessen Seiner Zarischen Hoheit betreffen", seien von den Kollegien vorrangig zu behandeln. Erneut zeigte sich also analog zum Heeresstatut, zum Flottenreglement und zum Senat die Tendenz, Volkswohl, Staatswohl und Herrscherwohl als einheitliches Ganzes darzustellen, obwohl faktisch die Interessen des Volkes und diejenigen des absolutistischen Regenten weit auseinanderklafften. 673 Die Geschäftsordnung für die Kollegien, das sogenannte Generalreglement, ließ der Zar besonders sorgfältig ausarbeiten. Es erfuhr zwölf Redaktionen, bevor es am 28.2.1720 in der Endfassung vorlag. Innerhalb der Vollständigen Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches nahm das Kollegienreglement zwanzig großformatige Seiten ein und stellte damit das am detailliertesten ge672 673

PSZ V, S. 527f. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 63, 76.

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faßte Statut für den zivilen Bereich dar. Es fiel weit umfangreicher aus als die entsprechenden Regelungen für den Senat, der ja zunächst nur als Provisorium gedacht gewesen war und zudem weniger Mitarbeiter aufwies. Auch bei der internen Ordnung für die Kollegien, die im übrigen von Heinrich Fick ausgearbeitet wurde, orientierte sich der Zar an einem schwedischen Modell, und zwar an der Kanzleiordnung vom September 1661. 674 In ihrer endgültigen Fassung bestand die Geschäftsordnung für die russischen Kollegien aus 56 Artikeln. Als Leitlinie der Darstellung traten nacheinander folgende Hauptaspekte auf: Zweck der Kollegien; Treueschwur auf den Zaren; Fragen der Geschäftsordnung im engeren Sinne wie Tagungszeiten, Berichterstattung, Modus der Stimmabgabe, Umgang mit der Korrespondenz und dem Siegel; Behandlung von Gesuchen; Respektierung von Privilegien bestimmter Provinzen (Baltikum); Charakteristik der Tätigkeitsprofile der verschiedenen Beamtenränge innerhalb der Kollegien vom Präsidenten bis herunter zum Wachtrneister; Finanzfragen; Strafbestimmungen bei Dienstvergehen. Analog zum Flottenreglement, das aus demselben Jahr stammte, dienten Überschriften über den einzelnen Artikeln der rascheren Orientierung des Lesers. Im zweiten Kapitel des Reglements wurde als tragende Grundkonzeption der Zentralverwaltung deutlich, daß sich Senat und Kollegien gegenseitig kontrollieren sollten, damit auf diese Weise eine Machtbalance letztlich zugunsten des Zaren entstand. Zwar hatte der Senat das Recht, den Kollegien Anweisungen zu erteilen, doch sobald seine Beschlüsse gegen die Interessen des Herrschers gerichtet waren, hatten die betroffenen Kollegien schriftlich Einspruch zu erheben, andernfalls drohten Strafen. Der Senat mußte auf diese Bedenken seinerseits schriftlich antworten, so daß der Monarch die Erwägungen pro und contra zur Kenntnis nehmen und am Ende selbst entscheiden konnte. Mündliche Anweisungen aller Art waren strikt verboten, damit nichts Wesentliches hinter dem Rücken des Zaren geschah. Für die Beamten in den Kollegien waren feste Arbeitszeiten von täglich mindestens sechs Stunden vorgesehen; damit reduzierte der Zar die Anwesenheitspflicht in den früheren Moskauer Zentralämtern, wie sie ab 1680 bestanden hatte, um vier Stunden pro Tag, vermutlich weil die lange Dienstzeit ohnehin nicht eingehalten worden war. Jetzt aber stützten Sanktionsmittel den Dienstgedanken: um Fleiß und Effizienz zu erzwingen, sollte bereits ein unentschuldigter Fehltag den Verlust eines Monatsgehalts nach sich ziehen, und für eine einzige Fehlstunde sollte ein Wochengehalt einbehalten werden. Als Regelfrist für die Bearbeitung von Akten verlangte der Zar, alle anfallenden Entscheidungen innerhalb von einer Woche zu treffen, was sicherlich illusorisch war. Ein Verzeichnis der unerledigten Aufgaben mußte ständig auf dem Tisch liegen, einerseits den Beamten zur Mahnung, andererseits um dem Monarchen oder einem von ihm Beauftragten jederzeit einen Einblick in den Stand der Dinge zu ermöglichen. Beschlüsse sollten durch Mehrheit zustande kommen, wobei es ausdrücklich hieß, jeder Beamte solle unabhängig von der Höhe seines Ranges die eigene 674

PSZ VI, S. 14lff; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 417.

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Meinung gemäß seinem Verstand und seinem Gewissen frei äußern. Konkret bedeutete dieser Passus, die Subordination dürfe nicht zu Lasten des Staatswohls gehen. Niemand durfte behördliche Briefe zu Hause aufbewahren oder sonst Amtsgeschäfte außerhalb des Dienstgebäudes abwickeln; auf diese Weise hoffte der Zar, Mauscheleien oder Intrigen gegen seine Person zu unterbinden und mehr Transparenz zu schaffen. Damit Gesuche nicht einfach unterschlagen wurden, durften sie nur vor Zeugen abgegeben werden. Um Besucher zu beeindrucken und gewissermaßen die hoheitliche Würde des Staates und seiner zentralen Einrichtungen zu betonen, sollten die Audienzzimmer der Kollegien mit guten Teppichen, Stühlen, einem Tisch in der Mitte des Raumes mit ordentlicher Tischdecke darauf sowie einem Baldachin darüber ausstaffiert werden. Diese Art der genauen Reglementierung drückte aus, wie wenig der Regent von der eigenverantwortlichen Gestaltungskraft seiner Beamten hielt. Symbolisch als Mahnung zu effektvollem Handeln sollte eine Uhr an der Wand des Audienzzimers hängen. Selbst die Tintenfasser für jeden Beamten wurden speziell erwähnt. Sobald der Kollegiumspräsident eintrat, mußten alle sonstigen Anwesenden als Zeichen der Ehrerbietung aufstehen. Über sämtliche Vorgänge im Dienst bestand Geheimhaltungspflicht, vermutlich um äußeren oder inneren Feinden eine Beeinträchtigung der russischen Staatsgeschäfte zu erschweren. 675 Wenn man die unterschiedlichen Redaktionen des Kollegiumsgesetzes miteinander vergleicht, fallt stilistisch eine Bevorzugung von Nominalgefügen auf, z. B. wurde die Wendung "Und dann kümmert sich (staraetsja) der Staatssekretär ... um die Versendung der Edikte" ersetzt durch "Und dann trägt der Staatssekretär Sorge (staranie imeet) um die Weiterexpedierung der folgenden Resolutionen"; an anderer Stelle hatte die ursprüngliche Formulierung gelautet "deshalb jedoch befiehlt Seine Majestät sehr gnädig und namentlich", während in der Endfassung stand "deshalb jedoch ist es das Belieben und die Absicht Seiner Majestät", (Bittsteller in den Kollegien vorzulassen).676 Dieser Nominalstil sollte wohl beeindruckend klingen. An inhaltlichen Verschiebungen zwischen den einzelnen Fassungen des Kollegiengesetzes ergab sich, daß die Arbeitszeiten, die anfanglich starr auf die Spanne zwischen 9 und 12 Uhr sowie zwischen 15 und 18 Uhr festgelegt waren, in der Endfassung flexibler der jahreszeitlichen Saison angepaßt wurden, indem die Beamten im Sommer zwei Stunden später erscheinen durften als im Winter. Zum Modus der Stimmabgabe wurden wesentliche Details hinzugefügt, daß nämlich abweichende Meinungen auf Wunsch derer, die sie äußerten, ins Protokoll einzutragen seien und daß bei gravierenden Differenzen innerhalb des Kollegiums beim Senat rückgefragt werden mußte. Die Pflichten des Kollegiumspräsidenten und seines Stellvertreters in bezug auf die 675 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 484f, 487, 492f, 495, 502; zur Dienstzeit im Jahre 1680 vgl. H.-J. Torke, Gab es im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts eine Bürokratie?, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 38. Berlin 1986, S. 286. 676 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 417, 427.

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XIV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen

Kontrolle der Arbeitsleistung ihrer Untergebenen erweiterten sich beträchtlich und reichten in der Endfassung des Gesetzes von mahnenden oder ermunternden Worten bis zur Anzeige eines unfähigen Mitarbeiters beim Senat. Ferner enthielt die Schlußredaktion zusätzlich einen Passus zur Verhinderung der Vetternwirtschaft bei der Stellenbesetzung. Statt der anfangs spürbaren Betonung des formalen Ranges verschob sich die Einschätzung der Beamten mehr in Richtung auf ihre charakterlichen Werte und ihr konkretes Benehmen. Dazu hieß es prograrrunatisch: "Und obwohl die Hauptsache darin besteht, daß jeder sein Aufgabengebiet kennt und es treu und fleißig verwaltet, gehört es sich doch auch, daß die höheren Beamten auf das Verhalten und den Umgang ihrer Untergebenen achten und alle zur Tugend und zu einem lobenswerten Ehrgeiz ermuntern, damit sie kein gottloses Leben führen und sich des Trunks und des Kartenspiels enthalten und damit sie sich sauber kleiden und im Umgang beständig und ohne Anmaßung auftreten." Hier zeigte sich als Idealvorstellung der musterhafte Staatsdiener, der auch für andere Untertanen ein Vorbild sein konnte. Zugleich wurde die Tendenz des Herrschers deutlich, in das Privatleben der Beamten reglementierend einzugreifen, wie es typisch für einen Polizeistaat ist. Im Sinne extrinsischer Motivation zur Hebung der Beamtentugend war in der Endfassung des Kollegiengesetzes kurz und unspezifisch von Belohnungen die Rede, während der Strafkatalog verglichen mit den Anfangsredaktionen erheblich erweitert wurde. Er reichte von Geldstrafen über Ächtung und Zwangsarbeit bis zur Todesstrafe, die z. B. für eine bewußte mündliche Fehlinformation oder für die Fälschung von Dokumenten verhängt werden konnte. Verglichen mit den Reglements für die Streitkräfte, wurde den Strafmaßnahmen im zivilen Bereich des Herrschaftsapparats allerdings keine so überragende Position eingeräumt, denn der Staat brauchte hier weniger zu drohen, weil der Anteil der freiwillig Tätigen in der Zivil verwaltung ungleich höher lag als im Heer oder in der Flotte. Gegen Ende des Gesetzes appellierte der Zar an den Ehrbegriff seiner Beamten im Sinne eines Ansporns zu guten Leistungen, ähnlich wie in den Militärstatuten manchmal auf die Ehre der Soldaten und Offiziere rekurriert wurde. Was die Bevölkerung betraf, so waren ihr Schimpfworte gegen die Behörden verboten. Insgesamt spielte der Ehrbegriff im petrinischen Verwaltungsapparat keine heraus677 ragende Rolle. Zusätzlich zum Generalreglement vom 28.2.1720 existierten kürzere spezifische Geschäftsordnungen für das Kollegium der auswärtigen Angelegenheiten sowie für das Karrunerkollegium und für das Staatskontor. Hier waren die Namen der Beschäftigten sowie die Feineinteilung der Ressorts genauer fixiert. Daneben ging es um wirtschaftliche Details wie eine exakte Rechnungsführung oder die Verpachtung von Staatsmonopolen an Privatleute. Schließlich wurde ansatzweise eine Zusarrunenarbeit zwischen den einzelnen im Wirtschaftsbereich tätigen Kollegien skizziert, beispielsweise sollten sich das Karruner- und das Kommerzkollegium in der Verwaltung der Zölle ab677

507ft".

Vgl. chd., S. 419 mit 485,420 mit 487,422 mit 488, 490, 430 mit 496 (Zitat),

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stimmen, und zwischen dem Kammerkollegium und dem Staatskontor war der ., A ustausch von F'manzdaten vorgesehen. 678 gegenseitige Was die praktische Tätigkeit betraf, so schien unter allen Kollegien das Justizkollegium vor den größten Anfangsschwierigkeiten zu stehen, zumal es als erste der neuen Behörden die Arbeit aufnahm und sich seine Kompetenzen partiell mit denen des Preobrafenskij prikaz, der politischen Polizei, überlappten. Vom Präsidenten des Justizkollegiums Graf Matveev ist ein undatierter Brief erhalten, in dem er dem Zaren ziemlich verzweifelt mitteilt, der Justizbehörde sei eine "untragbare Last" (nesnosnoe bremja) aufgebürdet worden, sie leide unter Personalmangel, ersticke an der Vielzahl der unerledigten und an sie ab.reschobenen Fälle, zudem habe sie offen oder versteckt zahlreiche Feinde. 67 Der Zar reagierte unterstützend. Per Dekret vom 22.12.1718 wurden Schreiber aus verschiedenen alten Zentral ämtern abgezogen und dem Justizkollegium zugeführt. Am 8.4.1719 erging die Verfügung, in Moskau sei ein Hofgericht zu etablieren, das einen Teil der juristischen Probleme auf zweithöchster Ebene erledigen sollte. Am 15.7.1719 ordnete das Justizkollegium selbst die strikte Einhaltung des Instanzenweges bei der Prozeßführung an, um der eigenen Überlastung vorzubeugen. Später richtete der Zar noch weitere Hofgerichte in den übrigen Gouvernements ein und bestimmte persönlich, wer sie leiten sollte. 68o Mit der Schaffung eines selbständigen Justizkollegiums und der Hofgerichte in den Gouvernements setzte Peter I. insofern einen für Rußland sehr bedeutsamen neuen Akzent, als sich nun endlich Ansätze zu einer separaten dritten Gewalt herausbildeten, während vorher Exekutive und Judikative unkontrollierbar miteinander vermengt gewesen waren. Erstaunlicherweise blieb es also gerade dem Absolutismus vorbehalten, das Russische Reich in dieser Hinsicht auf den Weg zum Rechtsstaat zu lenken. Als letzte wichtige Einrichtung der Zentralverwaltung unter Peter I. entstand die Prokuratur, die zum Vorläufer der modemen Staatsanwaltschaft wurde. Der Zar orientierte sich dabei, was die Namensgebung und die Funktion dieser Behörde betraf, am Beispiel Frankreichs unter Ludwig XIV., der Prokurore z. B. in der Marine einsetzte, aber auch sonst mit dem System der Intendanten analoge Kontrollfunktionen verband. 681 Durch insgesamt sechs Redaktionen, wobei die Endfassung am 27.4.1722 vorlag, wurde das russische Gesetz über die Prokuratur ähnlich wie das über die Kollegien gründlich vorbereitet. Der Generalprokuror und der Oberprokuror als sein Stellvertreter fungierten als höchste Beamte des Staates. Sie unterstanden allein dem Zaren und sollten "Unser Auge und der Sachwalter der staatlichen Angelegenheiten" sein; also auch hier waren die Belange des Herrschers und des Staates gleichgesetzt. In organisatorischer Hinsicht waren der Generalprokuror und der Oberprokuror dem Senat zugeordnet. Sie mußten an jeder seiner Sitzungen Ebd., S. 530ff, 539f[, 559ff, 589ff, 594. Ebd., S. 380, 382f. 680 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 66, 68, 70f; Voskresenskij, Zakonodatel'n~e akty, S. 253. 6 I Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 324f. 678 679

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teilnehmen und ihn in allen Einzelbeschlüssen daraufhin kontrollieren, ob er seine Pflichten stets gesetzeskonfonn und im Einklang mit den Interessen des Zaren erfüllte. Außerdem hatten sie dafür zu sorgen, daß die Entscheidungen des Senats oder des Herrschers nicht nur auf dem Papier standen, sondern rasch in die Praxis umgesetzt wurden. Zu diesem Zweck konnten sich die beiden höchsten Prokurore der Senatskanzlei mit allen dortigen Mitarbeitern bedienen. Sobald dem Generalprokuror Gesetzesübertretungen bekannt wurden, hatte er dem Zaren innerhalb von einer Woche darüber zu berichten, doch sollte er sich vor ungerechtfertigten Anschuldigungen hüten. Für Fehlinformationen, die er dem Herrscher aus Gründen privater Antipathien zutrug, konnte er von diesem bestraft werden. In jedem Kollegium sowie in jedem Hofgericht saß ebenfalls ein Prokuror in analogen Funktionen. Ferner übernahm die Prokuratur das gesamte System der Fiskale, die ihr zuarbeiten mußten. 682 Im Unterschied zu den Fiskalen ermittelten die Prokurore offen, so daß ihre Tätigkeit seriöser und offizieller wirkte.

Im Laufe der verschiedenen Redaktionen zum Gesetz über die Prokuratur legte der Zar vor allem Wert darauf, die Arbeit der neuen Einrichtung effizient zu gestalten. Deshalb ergänzte er im Reglement, bei der Übermittlung besonders wichtiger Edikte sowie bei gravierenden Anschuldigungen gegen Angehörige der Verwaltung dürfe nicht der gewöhnliche Postweg benutzt werden, statt dessen habe sich die Prokuratur eigener Boten zu bedienen, die stets nur mit einer schriftlichen Antwort der Betroffenen zurückkehren sollten. Nach einem ähnlichen Modus mußten die Präsidenten der Kollegien Berichte aus dem Senat sofort gegenzeichnen und parallel dazu in einem Buch eintragen, innerhalb welcher Frist sie den jeweiligen Handlungsanweisungen würden nachkommen können. 683 Die obersten Prokurore ernannte der Zar persönlich, da es sich um wirkliche Vertrauensstellungen handelte. Zum Generalprokuror machte er den Generalmajor und früheren Generaladjutanten Pavel Ivanovic Jagufinskij, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgedient hatte und gerade deshalb dem Leistungsgedanken wohl besonders nahestand. Zum Oberprokuror wurde Grigorij Grigorevic Skornjakov-Pisarev bestellt, der gleichfalls vorher im Militärbereich tätig gewesen war. Im April 1722 entwarf der Zar ferner eine Kandidatenliste für die Prokuraturposten in den Kollegien und Hofgerichten, wobei auffallt, daß mit Ausnahme des Fürsten Jurij Gagarin sonst überwiegend Mänoer durchschnittlicher Herkunft favorisiert wurden. Von ihnen erwartete sich Peter I. vennutlich eine besonders engagierte Arbeitsweise, da sie nicht auf Farnilienprestige oder ererbten Besitz zurückgreifen konnten, sondern allein durch ihre Leistung imstande waren, sich Namen und Vennögen zu schaffen. Als Ergänzung zum Reglement für die Prokuratur verfügte der Zar am 30.1.1723, daß der Oberprokuror den Generalprokuror zu überwachen habe und daß die Obersekretäre in den Kollegien auf die dort tätigen Prokurore

682 683

Ebd., S. 308ff; Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 152. Vgl. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 303 mit 310.

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aufzupassen hätten. 684 Mit anderen Worten, der Herrscher hegte sogar noch gegen das höchste staatliche Kontrollorgan ein gewissen Mißtrauen und war bestrebt, das System der gegenseitigen Überwachung zu perfektionieren, um damit die eigene Machtposition optimal abzusichern. Was die Praxis der Prokuratur betraf, so zeigte ein unvollständig datierter Brief Jaguiinskijs an den Obersekretär des Senats, daß sich der Generalprokuror z. B. in Bauvorhaben auf der Vasilij-Insel, in die Registratur der in St. Petersburg vorhandenen Höfe sowie in Fragen des Klosterbesitzes einmischte und die Senatoren zu einer schnellen Unterzeichnung der Protokolle mahnte. Jaguzinskij versuchte also, seine Befugnisse extensiv auszulegen und die Inhalte der Beschlußfassung mitzubestimmen, obwohl er eigentlich nur auf ihre Gesetzeskonformität hätte achten sollen. Im Januar 1723 äußerte sich der Zar zu einem harten Zusammenstoß zwischen dem Oberprokuror SkornjakovPisarev und dem Vizekanzler Saf'rrov im Senat, bei dem es zu wechselseitigen heftigen Beschuldigungen und Verletzungen der Amtswürde gekommen war, und verfügte, beide bis zu einer gerichtlichen Untersuchung vorläufig aus ihren Ämtern zu entfernen. Saf'rrov wurde bald darauf wegen dieser Vorkommnisse und, weil er seinem Bruder illegal Gelder aus der Staatskasse hatte zukommen lassen, von einem Gericht aus Senatoren und Offizieren zum Tode verurteilt, anschließend jedoch unter Berücksichtigung seiner früher erworbenen Verdienste vom Zaren nur nach Novgorod verbannt. Im September 1722 beschwerte sich der Vizeadmiral Cornelius Cruys bei Peter I. über das herrische Auftreten des Prokurors Kozlov, der im Admiralitätskollegium als Zeichen seiner Gewalt mit einem Hammer herumlaufe, der sich aufspiele, "als hätte er die höchste Macht im Kollegium", und der sich in viele Belange ungerechtfertigt einmische, statt nur schweigend den Sitzungen beizuwohnen und auf ihren gesetzmäßigen Ablauf zu achten. 685 Insgesamt zeichneten sich also Rivalitäten zwischen den Angehörigen der Behörden und den Prokuroren ab, die zu ihrer Kontrolle eingesetzt waren. Als Spätfolge der Einrichtung der Prokuratur wurde die Fiskalität im Jalrre 1729 abgeschafft, nachdem sie bereits 1722 dem Generalprokuror unterstellt worden war. Bei der Neugestaltung der russischen Zentral verwaltung bewies der Zar im großen und ganzen eine glückliche Hand. Das Ressortprinzip in den Kollegien entsprach den Erfordernissen einer modemen Behördenorganisation sehr viel besser als das Wirrwarr der Zuständigkeiten in den alten Prikazen. Kompetenzüberschneidungen traten fortan nur noch selten auf. Regionale Strukturelemente in einem Teil der früheren Ämter entfielen zugunsten einer stärkeren Zentralisierung. Der Zar achtete besonders auf eine sorgfältige Ausbalancierung der Macht innerhalb und zwischen den einzelnen Institutionen: Senat und Kollegien sollten sich gegenseitig kontrollieren, beide Behörden wurden von den Fiskalen und seit 1722 zusätzlich von der Prokuratur überwacht, ebenso konnten die höchsten Prokurore bei Pflichtverletzungen gegeneinander einschreiten. Innerhalb der Behörden durfte das Subordinationsprinzip notfalls 684 685

Ebd., S. 253, 313. Ebd., S. 312, 318, 326f; Wittram, Peter 1., Bd. II, S. 494f.

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XIV. Zentrale Verwaltungseinrichtungen

zugunsten des Staatswohls durchbrochen werden, indem untere Beamte Vergehen ihrer Vorgesetzten anzuzeigen hatten. Am Ende der Überwachungskette stand das Volk, das auf Wunsch des Zaren eklatante Fälle von Machtmißbrauch melden sollte, wie bereits im Kapitel über die staatstragenden Werte dargestellt wurde. Trotz dieser Aufsplitterung von Einflußmöglicbkeiten handelte es sich um keine echte Gewaltenteilung, da an der Spitze des Staates der Zar als absoluter Herrscher thronte und Befehle erteilen konnte, wie er wollte. Nur er verfügte auch über einen Erzwingungsstab in Gestalt der Armee. Das ausgeklügelte System des "divide et impera" unterhalb des Regenten steigerte letztlich dessen eigene Macht, indem es das Aufkommen einer einzelnen konkurrierenden Führungspersönlicbkeit erschwerte. Analog zu eben diesem Denkmodell war im Jahre 1718 der Thronfolger Aleksej Petrovic beseitigt worden. Als ein gravierender Mangel in den Edikten zur Zentralverwaltung ist zu nennen, daß die Kollegienordnung Details über die Verzahnung und Zusammenarbeit mit den nachgeordeten Instanzen der Verwaltung in den einzelnen Territorien vermissen ließ, so daß hier erhebliche Reibungsverluste und Unsicherheiten auftraten. Diese Auslassung erscheint umso erstaunlicher, als es dem Zaren bei der Neugestaltung der zentralen Behörden eigentlich vorrangig auf deren Effizienzsteigerung ankam. Eine zweite wesentliche Lücke klaffte insofern, als nirgendwo eine geregelte Ausbildung der Beamten anvisiert wurde. Damit waren sie in der Praxis immer wieder auf Improvisationen angewiesen.

xv. Lokale Verwaltungseinrichtungen Um die mittlere und untere Ebene der Reichsverwaltung kümmerte sich Peter I. relativ wenig, obwohl gerade dort die Bevölkerung den Staat am intensivsten eIfuhr. Anscheinend beanspruchten das Militärwesen, die neue Metropole an der Neva sowie die Personen und Institutionen seiner unmittelbaren Umgebung den Zaren derart, daß ihm für sonstige Aufgabenfelder kaum noch Zeit blieb. Sibirien besuchte er während seiner gesamten sechsunddreißigjährigen Regierungszeit niemals. In den Süden und Westen des Reiches gelangte er hauptsächlich im Rahmen der Kriegsführung und konnte dabei Details der Verwaltung kaum wahrnehmen. Möglicherweise hatte der Herrscher aufgrund mangelnder Anschauung überhaupt nur verschwommene Vorstellungen von den Sorgen und Nöten eines durchschnittlichen russischen Dorfes oder einer Kleinstadt und ging entsprechend unzureichend auf diese Probleme ein. Der russische Absolutismus war wesentlich hauptstadtorientiert. Den weiten Landstrichen außerhalb der Metropole kam kaum ein politisches Eigengewicht zu; statt dessen dienten sie fremdbestimmt der Erfüllung von Zwecken, die in der Zentrale defIniert wurden. Die Territorialverwaltung des Russischen Reiches gliederte sich im 16. und 17. Jahrhundert in Kreise (uezdy) mit einer Stadt als Mittelpunkt, in der Gericht gehalten wurde und die Abgaben zusammentrafen. Als nächsttiefere Ebene gab es die Bezirke (stany bzw. volosti), darunter wiederum die einzelnen Dörfer. Die Kreise waren historisch gewachsen und wiesen infolgedessen eine sehr unterschiedliche Größe auf. Maximal umfaßten sie ein ganzes früheres Teilfürstentum, nachdem es von Moskau inkorporiert worden war. An der Spitze der Kreise standen Statthalter, die zunächst namestniki hießen, bevor sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als die Städte während der Smuta häufIger verteidigt werden mußten, von den Voevoden und ihrem Mitarbeiterstab abgelöst wurden. Die Voevoden entstammten im allgemeinen den mittleren Rängen des Dienstadels und wurden von den Zentralämtern ernannt. Als örtliche Stellvertreter des Zaren verfügten sie in ihrem jeweiligen Hoheitsbereich über umfassende militärische, fInanzielle, gerichtliche und polizeiliche Befugnisse. Unter anderem verwahrten sie den Schlüssel für die städtische Festung, beaufsichtigten die Garnison, überwachten die Steuereintreibung und leiteten Gerichtssitzungen überwiegend bei Strafsachen. Ihre Amtszeit betrug in der Regel nur drei Jahre, damit sie die Bevölkerung nicht zu sehr ausplünderten. Dies konnte leicht geschehen, weil das Gehalt der Voevoden nicht fIxiert war, sondern aus dem sogenannten korrnlenie (wörtlich "Ernährung") bestand, einem gemischten Abgabensystem aus Geld und Naturalien, dessen Höhe sich nach dem Bedarf des Statthalters richtete. Zugespitzt formuliert lud das Voevodenamt seinen Inhaber also zu einer Art Selbstbedienung ein. Im einzelnen

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xv. Lokale VelWaltungseinrichtungen

gehörten zu diesem Entlohnungssystem "freiwillige" Gaben der Bevölkerung, feste Lieferungen zu hohen kirchlichen Feiertagen, Teile der Zolleinnahmen und Gerichtsgebühren sowie Hochzeitsgelder. Die unteren Steuereintreiber, die celoval'niki (eigentlich "Kreuzküsser" wegen der spezifischen Form ihrer Verpflichtung auf eine gerechte Amtsführung) sowie die lokale juristische Instanz der Gerichtsältesten (gubnye starosti) wurden bis zum Jahre 1702 gewählt; danach ginJäen deren Funktionen an den Voevoden bzw. dessen ernannten Apparat über. 6 Problematisch erscheint an dieser tradierten Organisation der russischen Territorialverwaltung vor allem das Fehlen einer unabhängigen Justiz, die Machtfülle und geringe Kontrollierbarkeit der Voevoden, ferner die willkürlich hochschraubbare fmanzielle Belastung der Bevölkerung ohne die gleichzeitige Gewährleistung, daß der Staat insgesamt angemessen von den Einnahmen profitierte und nicht nur der Statthalter persönlich. Die Regelamtszeit der Voevoden von drei Jahren konnte die Bevölkerung nicht wirklich entlasten, da sie anschließend von seinem Nachfolger älmlich bedrängt wurde. Der Kontinuität und Qualität der Verwaltung dürfte der häufige Wechsel der Voevoden eher geschadet haben, indem gerade eingearbeitete Amtsinhaber schon bald wieder abtreten mußten. Eine Koordination der Tätigkeit zwischen den einzelnen Voevoden fehlte. Abgesehen von der Städtereform Ende Januar 1699, die vor allem auf eine Erhöhung des Steueraufkommens zugunsten der Zentralgewalt abzielte, griff Zar Peter I. in den ersten zwanzig Jahren seiner Regierung kaum in die mittlere und untere Ebene der Verwaltung ein, obwohl hier durchaus ein Handlungsbedarf bestand. Von Zeit zu Zeit ergingen Edikte, daß noch anhängige Gerichtsprozesse gegen Personen, die zum Dienst in die Streitkräfte eingezogen wurden, verkürzt werden sollten. 687 Daneben war es üblich, einzelnen Voevoden, wenn sie ihr Amt gerade antraten, ausführliche Instruktionen an die Hand zu geben. Aus diesem Quellentypus lassen sich einige Aufschlüsse über die Verwaltungspraxis in den Kreisen etwa bis zum Jahre 1700 gewinnen. Im Februar 1696 erging an den neuen Voevoden von Cernigov in der Ukraine folgender Befehl: in militärischer Hinsicht sollte er das vor Ort stationierte Heer mustern, die Festung inspizieren, die Wachen kontrollieren, größere und hygienisch einwandfreie Unterkünfte für die Truppen bereitstellen, die Versorgung der Streitkräfte mit Getreide und Feuerholz gewährleisten sowie die Betreuung von Verwunqeten organisieren. Finanziell hatte der Voevode die Einziehung der Steuern und Zölle zu kontrollieren, die diesbezügliche Buchführung zu überprüfen und gegen Diebstähle aus der Staatskasse vorzugehen. Letztere kamen anscheinend so häufig vor, daß sie bereits offiziell einkalkuliert wurden. Detailvorschriften zur Rechtsprechungspraxis des Voevoden enthielt die Instruktion nicht. An polizeilichen Befugnissen oblag 686 Filippov, Istorija russkago prava, S.484ff, 490ff, 497; Arnburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 47. 687 PSZ III, S. 142.

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es dem Statthalter beispielsweise, die Durchreisenden aus Polen und Litauen nach Moskau zu registrieren, flüchtige Bauern zurückzuschicken sowie Einheimische ohne Reiseerlaubnis aufzugreifen und ihre Namen nach Moskau zu melden, damit kein Russe heimlich ins Ausland verschwinden konnte. Als Generalregel erhielt der Voevode die Anweisung, in seiner Amtsführung stets "den Zugewinn für den großen Herrscher", d. h. für den Zaren, zu suchen. Über ausgeführte Befehle hatte er nach Moskau zu berichten, und zwar in das Zentralamt für Kleinrußland. 688 Aus derselben Zeit ist eine Instruktion für den Voevoden von Nercinsk in Ostsibirien unweit der chinesischen Grenze erhalten. In ihr hieß es zusätzlich zu den bereits erwähnten Aufgaben, der Statthalter solle der örtlichen Bevölkerung bei seinem Amtsantritt ein Gnadenwort (milostivoe slovo) des Zaren übermitteln, in dem dieser die Bereitschaft zur Fürsorge kundtat. Andererseits sollte der Voevode aber auch Aufstände unterdrücken, die anscheinend befürchtet wurden, so daß man auf Unzufriedenheit unter der Bevölkerung TÜckschließen kann. Zu den Aufgaben des Voevoden gehörte ferner, die staatlichen Zobel vorräte zu inspizieren, die in Sibirien einen Teil der Steuern ausmachten. Selbst durfte der Statthalter keinen Pelzhandel betreiben, damit er nicht in Versuchung geriet, die eigenen Geschäfte und die Einkünfte der Staatskasse unzulässig zu vermengen. Falls lokale Steuereintreiber zu hohe Abgaben erpreßten, um sich selbst zu bereichern, sollten sie geknutet werden. Für den Handel mit China waren feste Routen vorgeschrieben, damit dem Staat keine Zolleinnahmen durch Schwarzhandel verlorengingen. Auch für die Erschließung und Bewirtschaftung von Neuland hatte der Voevode zu sorgen. Schließlich sollte er gegen das illegale Brennen von Schnaps einschreiten, da in diesem Bereich ein Staatsmonopol bestand. Die Angehörigen des Militärs mußten angehalten werden, ihren Sold nicht zu versaufen oder zu verspielen, d. h. die Trunksucht war weit verbreitet. 689 Ende März 1697 erhielt der neue Voevode von Kazan' am Mittellauf der Wolga neben den gewohnten Befugnissen militärischer und fmanzieller Art noch die Anweisung, gegen mutmaßliche Hochverräter Gerichtsprozesse einzuleiten und Geständnisse mittels der Folter zu erpressen. Da von Seiten der ortsansässigen CuvaSen und Ceremissen Widerstand gegen die russische Herrschaft befürchtet wurde, durfte an sie kein Kriegsgerät verkauft werden. Auch hier gärte es offenbar. Ferner sollte der Kazaner Voevode in die lokalen Wirtschaftsabläufe eingreifen, indem er die Kupferbergwerke der Umgebung beaufsichtigte und dort mehr Leute einstellte. 690 Ähnliche Instruktionen ergingen zwischen Mai und September 1697 an drei weitere Statthalter in Terek nahe des Kaspischen Meeres sowie in Tobolsk und Verchotur in Sibirien. Am 30.9.1697 rügte die Moskauer Zentrale allgemein, viele sibirische Voevoden würden der Staatskasse keine Rechenschaft über die eingegangenen Steuern ablegen, sondern, wenn sie die entsprechenden Daten vorlegen sollten, 688 689 690

PSZ m, S. 226ff, 230 (Zitat). Ebd., S. 235ff. Ebd., S. 284ff.

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Krankheiten vortäuschen oder fliehen. 691 Hier zeigte sich konkret, welche Schwierigkeiten die weiten Entfernungen innerhalb des Landes mit sich brachten. Besonders die Funktionsträger in den abgelegensten Reichsteilen entzogen sich einer effektiven Kontrolle und wirtschafteten in die eigene Tasche. Aus dem Begleitschreiben vom 16.1.1699 für den Voevoden von Tjumen' in Westsibirien läßt sich das Streben der Zentralgewalt erkennen, die örtliche Bevölkerung nicht über die Maßen mit Abgaben zu belasten, damit sie dem Zaren umso williger diene und gegen seine Feinde kämpfe. In diesem Zusammenhang hieß es zu den Belangen der Einwohner, der Voevode habe dafür zu sorgen, "daß ihnen von niemandem und in keiner Weise Not, Bedrängnis, Kränkungen, ungerechte Verkäufe oder illegale Besteuerung widerfahre und daß die Dienstleute und die Menschen aller Ränge dank der erbarmenden Aufsicht und der Gnade des Zaren in Ruhe und Frieden leben ohne jede Not". Der Voevode sollte also eine Vermittlerrolle zwischen den Interessen des Staates und dem Wohl der Bevölkerung einnehmen. Zwar stellte sich der Zar der Theorie nach als fürsorglich dar, in Wahrheit jedoch erpreßten viele seiner Stellvertreter ungehindert zu hohe Abgaben, stahlen der Bevölkerung bei der Steuereintreibung die privaten Vorräte an Wein oder Tabak, randalierten betrunken, verlangten Bestechungsgelder und unterschlugen wertvolle Pelze aus der Naturalsteuer. Alle diese Mißbräuche kamen in der Instruktion zur Sprache in dem Sinne, daß der neue Voevode gegen sie einschreiten solle. Ferner mußte er auskundschaften lassen, ob die Kalmücken und Tataren der Umgebung Überf3.lle planten, und die Wachen gegen sie sollten verstärkt werden. Auch hier deuteten sich ethnische Konflikte zwischen Russen und Nichtrussen an. Offenbar saßen damals in Tjumen' ziemlich viele Männer als Feinde der Staatsrnacht im Gefängnis. Sie sollten gegen die Fluchtgefahr paarweise zusammengekettet werden und so in Steinbrüchen, Ziegeleien oder beim Festungsbau Zwangsarbeit leisten. Aus dem Detail, daß es Dienstleuten verboten war, ihre Kleidung und ihr Gewehr zu vertrinken, erhellt indirekt, welche Schwächen die Kampfmoral der lokalen Schutztruppen aufwies. 692 Zusammengefaßt können diese Instruktionen für die Voevoden einen Eindruck davon vermitteln, wie wenig professionell die zweithöchste Verwaltungsebene im Russischen Reich während der ersten Jahrzehnte der Regierungstätigkeit Peters I. organisiert war. Die Zentrale lag weit entfernt. Sie konnte zwar Befehle erteilen, nicht jedoch deren korrekte Ausführung erzwingen. Nur ein geringer Prozentsatz der Voevoden erhielt überhaupt genauere Anweisungen. Die Tätigkeit des Statthalters galt in erster Linie als Dienst am Zaren, nicht an der Bevölkerung, wie aus der Formulierung hervorging, ein Voevode, der sein Amt mißbrauche, sei ein "meineidiger Verbrecher, weil er beim Küssen des Kreuzes mit seiner Seele versprochen habe, seinem großen Herrscher treu und rechtschaffen zu dienen und Gutes zu wo 1-

691 692

Ebd., S. 307ff, 335f[, 375ff, 402. Ebd., S. 532f[' Zitat S. 533.

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len".693 In der Praxis fruchtete jeder Versuch, die Voevoden religiös und moralisch zu binden, wenig. Die Korruption blühte sowohl bei den Statthaltern selbst als auch innerhalb des Verwaltungsapparats, der ihnen unterstellt war. Bestechungen, Unterschlagungen, schleppende Amtsführung, Mißwirtschaft, gezinkte oder fehlende Daten der Buchführung waren gang und gäbe. Der Bevölkerung wurden harte fmanzielle Opfer auferlegt, wobei ein großer Teil der Abgaben in den Taschen der örtlichen Beamten verschwand und nie bis zur Zentrale gelangte. Den einfachen Leuten mußte die so erfahrene Obrigkeit als gieriger und ungerechter Moloch vorkommen. Gegen ihn verblieben nur kleine Schlupflöcher, etwa daß man privat Branntwein destillierte und damit kurzfristig die Sinne betäubte, um auf diese Weise dem unerfreulichen Alltag zu entfliehen. Am 10.3.1702 unternahm der Zar den Versuch, die Amtsführung der Voevoden gerechter und effizienter zu gestalten, indem er ihnen je nach der Größe der von ihnen verwalteten Stadt und des zugehörigen Umlandes zwei bis vier Vertreter aus dem ortsansässigen Adel zuordnete. Diese sollten ursprünglich durch die Honoratioren der Stadt und die ländlichen Grundbesitzer gewählt werden, doch bereits ab dem Jahre 1705 konnten sich die Voevoden ihre adligen Beigeordneten selbst aussuchen. Möglicherweise wurde die Wahl in diesem Fall durch die Kooptation ersetzt, weil die Resonanz unter den Wahlberechtigten zu gering ausfiel, denn in der Regel wollte der Adel am liebsten von staatlichen Aufgaben unbehelligt bleiben. 694 Mit der Idee, die Einzelgewalt des Statthalters durch ein mehrköpfiges Gremium in Schranken zu halten, deutete sich bereits das Kollegialprinzip an, das der Zar später auch bei der Einrichtung des Senats und bei der Schaffung der höchsten geistlichen Aufsichtsbehörde bevorzugte. Es begünstigte vor allem eine gegenseitige Kontrolle der Amtsinhaber und konnte tendenziell eine Aufteilung der Geschäfte nach Ressorts fördern. Eine Neuerung auf der mittleren Verwaltungsebene stellten unter Peter I. die Gouvernements dar. Der Begriff Gouverneur (gubernator) trat in Rußland offiziell erstmals 1693 auf, als Fedor Matveevic Apraksin dieses Amt für den Raum Archangel'sk übertragen erhielt. Auch im Werbemanifest vom April 1702 für westeuropäische Arbeitskräfte erschien der Ausdruck "Gouverneur" parallel zu "Statthalter" (namestnik) und "Kommandeur" und bezeichnete hier relativ unspezifisch eine höhere administrative Funktion. Etwa seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert wurden Voevoden und Gouverneure häufig weitgehend austauschbar in einem Atemzug genannt, was auf Ahnlichkeiten in ihren Ämtern hindeutet. Ab dem Jahre 1704, als der Zar seinen Favoriten Aleksandr Danilovic Mensikov zum Generalgouverneur der Ostseeprovinzen (Ingermanland, Karelien und Estland) ernannte, wurde es üblich, die höchsten

693 694

Ebd., S. 551. Vladimirskij-Budanov, Istorija russkago prava, S. 254.

14 He1mert

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Verwaltungspositionen in den Grenzgebieten des Russischen Reiches mit diesem Titel zu belegen. 695 Den Anstoß für die Bildung von Gouvernements gab Peter I. persönlich, indem er in einem lakonisch formulierten Edikt vom 18.12.1707 befahl: "Die Städte mit Ausnahme derer, die hundert Werst von Moskau entfernt liegen, sind zu verzeichnen und Kiev, Smolensk, Azov, Kazan' und Archangel'sk zuzuteilen.,,696 Da der kampfesfreie sibirische Raum ausgespart blieb, sonst aber alle Himmelsrichtungen um Moskau herum berücksichtigt wurden und außerdem die militärische Hauptentscheidung gegen Karl xn. von Schweden noch bevorstand, könnte man vermuten, daß die genannten Orte als Sammelpunkte für die russischen Truppen und als Nachschubbasen für die Armee vorgesehen waren. Sofrenko stellte einen Zusammenhang mit der Aufstandsbewegung unter Kondratij Bulavin her, die im Oktober 1707 begann, und nahm an, der Zar habe die Staatsrnacht vor Ort festigen wollen. Geographische Erwägungen sprechen allerdings eher gegen eine solche Auffassung, denn die Erhebung am Don hätte nicht notwendigerweise organisatorische Veränderungen im weit entfernten nördlichen Archangel' sk nach sich ziehen müssen. Wittram nannte als Hauptmotiv für die Schaffung der Gouvernements fiskalische Interessen und begründete dies mit entsprechenden ersten Handlungsanweisungen an die Gouverneure. Mit der Ausführung des Befehls vom Dezember 1707 beschäftigte sich dann die Nahe Kanzlei des Zaren, zusätzlich wurden die Voevoden von Kiev und Kazan' beratend hinzugezogen. 697 Der Erlaß über die Einrichtung der Gouvernements erging endgültig nach dem 18.2.1709. In seiner kurzen Einleitung hieß es floskel artig, die Neuorganisation erfolge "zum Nutzen des ganzen Volkes", wobei jede Erläuterung fehlte. Als Aufgaben der Gouverneure wurden knapp umrissen die Aufsicht über die im Gouvernement stationierten Truppen, die Kontrolle über die Steuereintreibung "und über alle Dinge" sowie die Berichterstattung an den Zaren, sobald dieser es wünsche. Wegen der Oberflächlichkeit dieser Angaben gewinnt man den Eindruck, das Edikt sei unter Zeitnot ergangen. Dann folgte die Aufteilung des ganzen Landes in acht Gouvernements, denen insgesamt über dreihundert Städte namentlich zugeordnet wurden. Um Voronez herum entstand zusätzlich ein gesonderter Werftbezirk. Hinsichtlich ihrer Fläche und Bevölkerungszahl gerieten die neuen Gouvernements sehr unterschiedlich groß: während die Gebiete um Smolensk, Archangel' sk, Azov und St. Petersburg mit 17, 20, 25 und 29 Städten noch einigermaßen regierbar ausfielen, war die Lage im Gouvernement Moskau mit 39 Städten bereits kritisch. Sibirien umfaßte zwar nur 30 Städte, ließ sich aber wegen seines riesenhaften Territoriums schwer von nur einem Ort aus verwalten. Auch die Gouvernements Kiev und Kazan' mit 56 bzw. 71 Städten gestatteten kaum einen Über695 PSZ IV, S. 193; Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. vrn, S.459; Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 48, 369. 696 PSZ IV, S. 397. 697 Sofrenko. Pamjatniki russkogo prava, S. 41; Wittram, Peter I., Bd. n, S.lOl,I04.

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blick. An den beiden letztgenannten Zahlen erkennt man das Bestreben der amtierenden Voevoden von Kiev und Kazan', die ja an der Gouvernementseinteilung mitgearbeitet hatten, den eigenen Hoheitsbereich möglichst weit auszudehnen. Sonst war für die Zuordnung der einzelnen Städte zu diesem oder jenem Gouvernement die Entfernung zu dessen Hauptort ausschlaggebend, vermutlich damit im Bedarfsfall die Truppen schneller zusammengezogen werden konnten. 698 Aus dem umfangreichsten Konglomerat Kazan' sonderte der Zar per Edikt vom 29.5.1719 die Gebiete um Nifnij Novgorod und Astrachan' wieder aus und erklärte sie zu separaten Gouvernements. Gleichzeitig wurden die Gouvernements Riga und Reval neu eingerichtet und das Smolensker Gouvernement aufgelöst, so daß es am Ende von Peters Regierungszeit elf Gouvernements im Russischen Reich gab. 699 Ihrer sozialen Herkunft nach entstammten die ersten russischen Gouverneure mit Ausnahme Mensikovs dem Hochadel. Ihr Jahresgehalt belief sich um 1715 auf stolze 1 200 Rubel, während ein Schreiber zur selben Zeit nur 20 Rubel erhielt. 700 Mit der Bildung der Gouvernements verbanden sich gravierende Mängel. Noch bevor die 1699 eingeleitete partielle Selbstverwaltung der Städte Früchte tragen konnte, fiel sie bereits wieder der Gouvernementsreform zum Opfer. Ein Teil der neugeschaffenen Verwaltungseinheiten war zu groß, um eine effektive Kontrolle zu gestatten. Da die Gouverneure oft gleichzeitig hohe Funktionen im Heer oder in der Flotte bekleideten, waren sie häufig anderweitig beschäftigt und konnten auch von daher ihren Verwaltungsaufgaben nicht voll gerecht werden. Äußerst bedenklich erscheint, daß die Kompetenzen der Gouverneure nirgendwo schriftlich im Detail fixiert waren, so daß die neuen Amtsinhaber faktisch weitgehend im rechtsfreien Raum operierten. Wie extensiv einige von ihnen ihre Befugnisse auslegten, zeigte sich exemplarisch daran, daß der Kazaner Gouverneur Petr Matveevic Apraksin, ein Bruder des Generaladrnirals, dem Zaren innerhalb von drei Jahren 120 000 zusätzlich von der Bevölkerung erpreßte Rubel als Geschenk überreichte und daß sein Amtskollege Drnitrij Michajlovic Golicyn aus Kiev dem Herrscher insgesamt sogar 500 000 Extrarubel verschaffte mit der Folge, daß Tausende von Bauernhöfen, aus denen diese Gelder stammten, anschließend verödeten. 701 Noch skrupelloser ging Mensikov vor, der sich auf Kosten der ihm anvertrauten Gebiete an der Ostsee privat maßlos und gewaltsam bereicherte. Da der Entscheidungsspielraum der Gouverneure ungeklärt blieb, kam es ferner zu Reibereien zwischen ihnen und den Voevoden auf der nächsttieferen Ebene etwa in der Art, daß der Voevode bestimmte Unterbeamte entließ, der Gouverneur aber ihre Verträge verlängerte. Bogoslovskij sprach in diesem Zusammenhang von einem "vollständigen Chaos in der lokalen Verwaltung". Vladimirskij-Budanov kritisierte, das ländliche Element sei bei der Schaffung 698 699 700 701

14*

PSZ IV, S. 436ff; Wittram, Peter I., Bd. 11, S. 102ff, 530f. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 41. PSZ V, S. 139. Miljukov. Gosudarstvennoe chozjajstvo Rossii. S. 355.

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der Gouvernements vergessen worden. 702 Vermutlich lag jedoch kein Vergessen vor, sondern Absicht, indem der Zar bewußt darauf verzichtete, die traditionellen Machtbefugnisse des Adels auf den Dörfern einzuschränken, da er andernfalls starken Unmut bei der sozialen Elite provoziert hätte. Für die Bevölkerung bedeutete die Einrichtung der neuen administrativen Instanz der Gouvernements vor allem erhöhte fmanzielle Opfer, ohne daß damit ein Zugewinn an Rechtssicherheit erreicht worden wäre. Die Qualität der mittleren Administration bemaß sich auch nach der Art ihrer Zusammenarbeit mit den Institutionen der Hauptstadt. Auch hier traten erhebliche Defizite auf. Statt die eingetriebenen Steuern korrekt an die Zentrale abzuführen, unterschlugen die Gouverneure und ihre Mitarbeiter einen Teil der Gelder und legten dem Senat und später dem Kammerkollegium die Abrechnungen über die Einnahmen und Ausgaben des jeweiligen Gouvernements z. T. erst nach jahrelanger Verzögerung oder gar nicht vor. So sah sich der Senat am 22.2.1714 genötigt, die Haushaltszahlen aus den Gouvernements bis zum Jahr 1701 zurückreichend anzumalmen, was schon einem Skandal gleichkommt. Vier Tage später erging ein Edikt, daß den Gouverneuren und Vizegouverneuren für eine ganz vorschriftsmäßige Rechnungsführung jeweils 1 200 bzw. 600 Rubel als Belohnung ausgezahlt werden sollten, während ihnen umgekehrt bei fmanziellen Unkorrektheiten der Verlust des Amtes sowie Geldstrafen drohten. Dennoch änderte sich an der Praxis des illegalen Umgangs mit den Steuergeldern wenig, denn das alte Prinzip des korrnlenie ließ sich nicht so schnell ausrotten. 703 Ganz allgemein trafen aus den Gouvernements zu selten Rückmeldungen über die lokale Umsetzung der in der Zentrale gefaßten Beschlüsse ein. Ferner kamen die Gouverneure ihrer Verpflichtung nicht nach, zweimal pro Jahr über den Zustand der Staatsfabriken zu berichten. Auf vielen Akten fehlte das genaue Datum des Eingangs oder Ausgangs, was die Übersicht über die behördlichen Vorgänge zusätzlich erschwerte. 704 Angesichts all dieser Unvollkommenheiten entschloß sich der Zar Anfang 1719 zu einer weiteren Änderung der Gebietsverwaltung, indem er das ganze Reich unterhalb der Gouvernementsebene, die allerdings bestehen blieb, in 47 Provinzen aufteilte. Die Leiter der Provinzen übernahmen den alten Voevodentitel. Ihre Funktionen und auch diejenigen ihrer wichtigsten Unterbeamten wurden detailliert aufgelistet, so daß nun endlich eine schriftlich gefaßte Rechtsgrundlage vorlag und Beamte, die gegen sie verstießen, begründeter zur Verantwortung gezogen werden konnten. Außerdem existierten fortan landeseinheitliche Instruktionen für jeweils denselben Beamtentypus, während vorher die Handlungsanweisungen für die Voevoden regionale Unterschiede gezeigt hatten. Mit den einheitlichen Instruktionen verstärkte sich der zentra702 Bogoslovskij, Oblastnaja reforrna Petra Velikago, S. 75; Vladirnirskij-Budanov, Istori)a russkago prava, S. 254. 70 PSZ V, S. 82,85, 49lf; PSZ VI, S. 121, 129, 240f; PSZ VII, S. 78; Pososkov, Kn~ 0 skudosti i bogatstve, S. 77. PSZ V, S. 489; PSZ VII, S. 64,117.

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listische Dirigismus im Lande. Zur Neuorientierung in der Territorialvetwaltung gerade zu diesem Zeitpunkt trug sicher die parallel anvisierte Umstellung der zentralen Administration auf die Kollegien bei, da sie für eine erfolgreiche Tätigkeit einen soliden Unterbau benötigten. Wie bei der Einrichtung des Senats und der Kollegien wurde auch bei der Gebietsreform des Jahres 1719 das schwedische Beispiel zu Hilfe genommen. Dies zeigte sich bereits in der Namensgebung, denn der Provinzaufseher für die Steuereintreibung hieß wie sein schwedischer Kollege "Kamerier" . Der Funktion nach entsprachen der russische Landkommissar (zemskij kommisar) dem schwedischen Häradsvogt, der russische Voevode dem schwedischen Landshövding. 705 Die Instruktion für die Voevoden als leitende Beamte in den russischen Provinzen vom Januar 1719 umfaßte 46 Einzelabschnitte und fiel damit recht detailliert aus. Sie verpflichtete die Voevoden per Amtseid auf den Herrscher und dessen Familie und gleichzeitig auf das Wohl des Staates, indem es hieß, der Voevode müsse "in allem das Interesse der Zarischen Hoheit und den staatlichen Nutzen sorgfältig bewahren". Wiederum erschienen also beide Elemente, Regent und Staat, ideologisch eng miteinander verknüpft, wie es analog aus den Statuten für die Streitkräfte und für die Zentralvetwaltung bekannt ist. Als Neuerung fällt auf, daß der Voevode gemäß einer späteren Stelle des Textes auch "den Untertanen Ihrer Zarischen Hoheit Nutzen bringen" sollte,706 während sie in anderen Edikten oft ungenannt blieben. Mit dieser Formulierung berücksichtigte der Gesetzgeber vermutlich die Tatsache, daß die Leiter der Provinzen in engerem Kontakt zur Bevölkerung standen, als dies der Zentralgewalt möglich war. Aus dem traditionellen Aufgabenkatalog der Voevoden nannte die Verordnung vom Januar 1719 die Instandhaltung der Festungen, die Bereitstellung von Quartieren und Verpflegung für das Heer, die Aufsicht über die Steuere intreibung und ferner die Rechtsprechung. Hinzu kamen im wirtschaftlichen Bereich die Kontrolle über die staatlichen Fabriken, über Bergwerke und Wälder, deren Holzvorräte insbesondere im Schiffsbau Vetwendung fanden. Die polizeilichen Befugnisse des Voevoden etweiterten sich, indem er etwa Falschmünzer aufspüren oder Bettler und Landstreicher von der Straße holen und einer geregelten Arbeit zuführen sollte. Etwaige Zusammenkünfte, die sich gegen die orthodoxe Kirche richteten, mußten dem Bischof gemeldet werden. Auch sollte der Voevode gegen Spione vorgehen, falls diese im Interesse des Feindes versuchen würden, die Bevölkerung gegen den Zaren aufzuwiegeln. Daß Proteste seitens der Untertanen durch die Politik der eigenen Regierung verursacht sein könnten, wurde damit indirekt ausgeschlossen. Der Voevode sollte ferner kontrollieren, ob die Höfe der Gutsbesitzer entsprechend dem Einerbengesetz von 1714 tatsächlich ungeteilt weitergegeben wurden. Die damals anstehende Volkszählung war auf ihren regelmäßigen Ablauf hin zu überprüfen. Neu wurde die Bestimmung aufgenommen, daß Wege und Brücken in Ordnung zu halten seien; bis dahin war dies ein vernachlässigter 705 Amburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 8. 706 PSZ V, S. 624, 632.

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Bereich der Infrastruktur gewesen. Zu den sozialen Aufgaben des Voevoden gehörte die Sorge um die örtlichen Hospitäler, Waisenhäuser und eventuell vorhandene Bildungseinrichtungen. Den Untertanen mußten wichtige Verordnungen des Zaren mindestens dreimal pro Jahr bekanntgegeben werden, was durch Vorlesen der Edikte in der Kirche an hohen Feiertagen geschah. Einmal pro Woche, also relativ oft, sollte der Voevode Gesuche aus der Bevölkerung entgegennehmen. Bei Unklarheiten in wichtigen Fragen seiner Amtsführung hatte er sich an den Senat oder an die Kollegien um Auskunft zu wenden. Lediglich in zwei Fällen war eine Zusammenarbeit der Voevoden untereinander vorgesehen, falls nämlich feindliche Aufmärsche drohten, sollten sie sich gegenseitig so früh wie möglich informieren, und bei Durchzügen des eigenen Heeres sollten die Kosten zwischen den einzelnen Provinzen gleichmäßig aufgeteilt werden, um zu hohe Schäden an einem Ort zu vermeiden. Ein Voevode, der seine Amtspflichten ernst nahm, hatte insgesamt reichlich zu tun. Hinsichtlich einer Befristung der Amtsperiode enthielt das Edikt keine Angaben, so daß tendenziell die Kontinuität in der Leitungstätigkeit zunehmen konnte. 707 Zur Unterstützung der Voevoden und Gouverneure wurde jedem von ihnen per Erlaß vom Januar 1719 ein ländlicher Kamerier oder Aufseher über die Steuereintreibung unterstellt. Auch dieser Funktionsträger leistete den Treueid auf den Zaren und wurde daneben, wenn auch etwas versteckt, auf das Wohl der Bevölkerung verpflichtet, indem es hieß, er müsse sein Amt so versehen, daß er "darüber vor Gott, vor Ihrer Zarischen Hoheit und vor jedem ehrlichen Menschen Rechenschaft ablegen" könne. Entsprechend den Anweisungen aus dem Karnmerkollegium sollte der Kamerier vor Ort die Eintreibung der geforderten Steuersumme beaufsichtigen. Dazu hatte er ein genaues Verzeichnis anzulegen, wie viele Gelder von den jeweiligen Dörfern, Höfen und EinzeIpersonen im Laufe des Jahres gezahlt worden waren, und diese Aufstellung dem Karnmerkollegium zu übersenden. Zur Eindämmung der Korruption sollte der Kamerier Veruntreuungen von Staatsvermögen seitens der ihm untergeordneten lokalen Steuereintreiber aufdecken oder auch Bestechungsversuche seitens der Steuerpflichtigen anzeigen. Über den aktuellen Stand der Einkünfte war dem Staatskontor allmonatlich zu berichten, zusätzlich wurde eine Jahresabrechnung verlangt. Falls die Daten zu spät in der Zentrale eintrafen, drohten dem Kamerier für jeden Verzugstag drei Rubel Strafe aus der eigenen Tasche. So wollte der Gesetzgeber Druck erzeugen. Neben der Kontrolle und Buchführung über die Steuereinnahmen oblag dem Kamerier die Aufsicht über weitere staatliche Finanzquellen wie Zölle, Verkäufe aus staatlichen Manufakturen oder Erlöse aus der Verpachtung von Dörfern, Teichen und Mühlen, die dem Staat gehörten, an Privatleute. Vor jeder Veränderung dieser Pachtverträge mußte erst das Karnmerkollegium zustimmen, wobei als wettbewerbswirtschaftlicher Grundsatz galt, dem höchsten Bieter den Zuschlag zu erteilen. Auf der Ausgabenseite hatte der Kame707

Ebd .. S. 624fl".

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rier die Rechnungen für den Straßen- und Brückenbau, für die Errichtung öffentlicher Gebäude sowie die Ausgaben für Krankenhäuser, Witwen- und Waisenheime und Bildungseinrichtungen zu überprüfen. Ferner mußte er alle Gehaltsauszahlungen an die Staatsbediensteten seines Aufsichtsbereichs vorher gegenzeichnen. So sollte der Selbstbedienungsmentalität Einhalt geboten werden. Sämtliche Daten über Einnahmen und Ausgaben der Provinz bzw. des Gouvernements mußten schließlich noch dem Revisionskollegium in der Hauptstadt vorgelegt werden. Die tägliche Anwesenheitszeit des Kameriers in seiner Behörde betrug sechs Stunden. 708 Insgesamt versuchte der Zar mit diesem Edikt, durch die dreifache detaillierte Rückmeldungspflicht des Kameriers gegenüber dem Kammerkollegium, dem Staatskontor und dem Revisionskollegium Mindereinnahmen der Zentrale aus Steuern oder sonstigen staatlichen Finanzquellen möglichst vorzubeugen, da er die Gelder dringend in voller Höhe benötigte. Die Entscheidung für die Einführung der Kopfsteuer war damals gerade gefallen. Mit Hilfe der neuen Institution der Kameriere sollte ihre erfolgreiche Eintreibung sichergestellt werden. Den unmittelbar praktischen Teil der Steuereintreibung in den Provinzen übernahmen seit Januar 1719 sogenannte ländliche Kommissare. Sie waren dem Kamerier unterstellt und erhielten genaue Vorschriften aus dem Kammerkollegium. In erster Linie wurden vom Steuereintreibungskommissar ganz exakte Abrechnungen erwartet. Deren Form bestand in einem Buch, in dem links die von den einzelnen Dörfern zu zahlenden Steuersummen aufgeführt waren und in dem rechts der ländliche Kommissar jede Einnahme mit Datum und Geldgeber zu fixieren hatte. Alle eingetriebenen Abgaben mußte der Kommissar umgehend bei der örtlichen Staatskasse abliefern. Für eventuelle Mindereinnahmen haftete er in doppelter Höhe, so daß von daher eine starke Motivation geschaffen wurde, Fehlbeträge zu vermeiden. Bei Unterschlagung mußte er zusätzlich mit einem Strafverfahren rechnen. Sämtliche Daten der Steuerabrechnung sollte der ländliche Kommissar monatlich und jährlich über den Kamerier letztlich dem Kammerkollegium und dem Revisionskollegium unterbreiten. Falls die Abrechnungen verspätet eintrafen, drohten zwei Rubel Geldstrafe pro Verzugstag, ein Rubel weniger als beim Kamerier. Neben diesen Funktionen im Bereich der Steuereintreibung versahen die ländlichen Kommissare partiell auch polizeiliche Überwachungsaufgaben, vermutlich aus praktischen Erwägungen heraus, weil sie viel im Lande herumkamen. So sollten sie Privatleute, die ohne eine entsprechende Urkunde staatlichen Besitz an Ländereien, Wäldern oder Mühlen nutzten, beim Voevoden bzw. beim Gouverneur anzeigen. Ferner mußten die Kommissare alle ortsfremden Personen, flüchtige Bauern, Deserteure aus der Armee, Vagabunden oder Räuber melden, falls sie von ihrem Aufenthaltsort erfuhren. Die Kommissare wirkten auch kontrollierend bei der Rekrutenaushebung mit. Beim Durchzug des Heeres oder bei Einquartierungen der Truppen hatten sie darauf zu achten, daß die anfallenden Lasten gleichmäßig auf alle Dörfer des Kreises verteilt wurden. Schließlich übertrug man ihnen baupolizeiliehe Hilfs708

Ebd., S. 638 (Zitat), 639ff.

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funktionen, indem sie dem Voevoden über den Zustand der Wege, Brücken und Gasthöfe des Kreises berichten sollten. Zur Erledigung ihrer vielfältigen Aufgaben unterstellte man den ländlichen Kommissaren mehrere einfache Steuereintreiber, einen Brückenaufseher sowie drei Hilfspolizisten zum Einfangen oder zur Bewachung verdächtiger Personen. Allgemein wurde der ländliche Kommissar aufgefordert, stets rechtzeiti~ mitzuteilen, wo er gegebenfalls das Interesse des Zaren beeinträchtigt sah. 09 Er war derjenige unter den zarischen Beamten, mit dem die Bevölkerung am häufigsten direkt zu tun hatte. Als viertes genauer definiertes Amt gab es in den Gouvernements und Provinzen die Funktion des Schatzmeisters (kaznacej oder zemskij rentmejster), dessen Aufgaben am 12.2.1719 präzisiert wurden. Er war dem Kamerier und dem Voevoden bzw. Gouverneur unterstellt und bewachte die eingetriebenen Steuergelder, bevor sie ans Kammerkollegium weitergeleitet wurden. Alle Einnahmen samt ihrer Herkunft sowie alle Ausgaben samt ihrem Verwendungszweck hatte er nach Posten getrennt genau zu registrieren und auf jeder Seite seines Rechnungsbuches unten zusätzlich den jeweils aktuellen Kontostand zu notieren. Ein Schreiber und ein Gehilfe unterstützten ihn dabei. Monatlich und jährlich waren Zwischenberichte zu erstellen und über den Voevoden oder Gouverneur an das Kammerkollegium und das Staatskontor weiterzuleiten. Traf diese Rechnungslegung verspätet ein, so waren wiederum zwei Rubel Geldstrafe pro Verzugstag fällig. Jeweils im Dezember eines jeden Jahres wurde der Schatzmeister selbst kontrolliert. Etwaige Fehlbeträge mußte er in doppelter Höhe aus dem eigenen Vermögen erstatten, zusätzlich drohte ihm ein Strafverfahren. Falls er bestimmte ländliche Kommissare der Unterschlagung verdächtigte, sollte er dies dem Voevoden oder Gouverneur vortragen; reagierten sie darauf nicht, so sollte sich der Schatzmeister mit seinem Verdacht bis an die mit den Finanzen befaßten Kollegien wenden. Aufschlußreich erscheint die Art, wie der Staatsschatz gesichert wurde. Wachposten umgaben ihn. Er lag in festen Koffern, mit Siegeln und drei Schlössern versehen, deren jeweilige Schlüssel der Schatzmeister, der Kamerier und der Voevode bzw. Gouverneur getrennt verwahrten. Wollte man an das Geld herankommen, so mußten alle drei Amtsträger gemeinsam tätig werden und kontrollierten sich auf diese Weise gegenseitig. Offenbar war schon viel Staatsvermögen verlorengegangen, wenn der Gesetzgeber so starke Sicherheitsvorkehrungen gegen die eigenen Beamten für notwendig hielt. Außer den staatlichen Geldvorräten bewachte der Schatzmeister im Bedarfsfall kleinere Magazine mit Lebensmitteln, die überwiegend der Versorgung der Streitkräfte dienten, später aber auch bei Mißernten an die Bevölkerung verteilt wurden. Größere Vorratslager dieser Art sowie alle Waffendepots und Uniform bestände verwaltete die Armee selbst. 710 Ebenfalls im Jahre 1719 erhielten die örtlichen Fiskale aktualisierte Instruktionen. Allgemein oblag ihnen die umfassende Kontrolle über alle Beam709 710

Ebd., S. 632ff. Ebd., S. 660ft".

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ten der jeweiligen Provinz sowie über die Bevölkerung. Einige Funktionen der Fiskale überschnitten sich mit den Polizeiaufgaben der ländlichen Kommissare. Im einzelnen sollten die Fiskale die Veruntreuung von Staatsgeldern, Bestechungsfälle, falsche Maße und Gewichte oder Falschmünzerei aufspüren, Gotteslästerer, Spione, Räuber oder Landstreicher melden, bei Kapitalverbrechen ohne Kläger hilfsweise Anzeige erstatten, über verödete Dörfer oder schlechte Wege berichten und generell möglichst präsent sein im Sinne einer Einschüchterung potentieller Straftäter. Ferner durften die Fiskale unangemeldet an Gerichtsverhandlungen teilnehmen. Über alle von ihnen entdeckten Mängel hatten sie zunächst den Voevoden zu informieren. Ließ sich dieser selbst etwas zuschulden kommen, und sei es auch nur durch Untätigkeit, so sollte der Fiskal das Kammerkollegium einschalten. Um die Fiskale zu eifrigen Nachforschungen anzuhalten, bestimmte der Zar, sie dürften ein Drittel der Strafgelder privat behalten, die aufgrund ihrer Arbeit verhängt werden würden. Andererseits sollten sich die Fiskale vor ungerechtfertigten Beschuldigungen hüten; in solchen Fällen mußten sie mit derselben Strafe rechnen, wie sie den jeweiligen Angeklagten getroffen hätte. Am Ende des Ediktes hieß es, das Amt des ländlichen Fiskals sei schwierig und sein Träger verhaßt (nenaviden), deshalb stehe er unter dem besonderen Schutz des Herrschers. 71 I Mit dieser fünfteiligen Serie von Erlassen zur Gebietsverwaltung aus dem Jahre 1719 wurde das tradierte Gewohnheitsrecht zugunsten des geschriebenen Rechts zurückgedrängt. Eine verstärkte Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Amtsträgern zeichnete sich ab, Kompetenzen wurden genauer fixiert, die Zusammenarbeit zwischen der mittleren und der höchsten Ebene der Administration wurde wenigstens andeutungsweise skizziert. Schwerpunktmäßig konzentrierten sich die Instruktionen auf Fragen der Finanzverwaltung, weil mit dem Steueraufkommen auch die Reformprojekte des Zaren standen oder fielen. Zuungunsten der Bevölkerung fehlte jede Festlegung darüber, welcher Prozentsatz der Steuergelder an der Basis verbleiben durfte. Faktisch folgte daraus ein chronischer gravierender Finanzmangel in den Kommunen, an dem die russische Lokalverwaltung bis heute leidet. Als zweiter Schwerpunkt deutete sich die Tendenz an, daß die Polizeiaufgaben zunahmen. Sie wurden in den Erlassen von 1719 auf den Voevoden, die ländlichen Kommissare und die Fiskale verteilt. Zusätzlich entwickelte sich gegen Ende der Regierungszeit Peters I. in den größeren Ballungszentren das Amt des Oberpolizeimeisters mit weitreichenden Befugnissen. So war etwa gemäß einem Edikt vom 9.7.1722. vorgesehen, daß die Moskauer Polizei Bauprojekte überwachen, Brände verhüten, Preise, Maße und Gewichte auf dem Markt kontrollieren sowie für Sauberkeit und Ordnung sorgen sollte. Ferner hatte sie Diebe und Landstreicher aufzugreifen, die Gefängnisse zu verwalten und straffällig gewordene Frauen in Spinnhäusern zur Arbeit anzuhalten. Auch gegen Gotteslästerung oder Volkszusammenrottungen aller Art mußte die Polizei einschreiten. 7J2 Sie bildete gewissermaßen den verlängerten, kra711 712

Ebd., S. 776ff. PSZ VI, S. 726ff; ähnlich ebd., S. 796ff.

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kenähnlich aufgespaltenen Arm des Zaren und sicherte die Macht des Herrschers vor Ort. Auch in anderen europäischen Staaten brachte der Absolutismus einen verstärkten Zugriff auf den Besitz der Bevölkerung sowie eine zunehmende Reglementierung des Alltagslebens mit sich. Während die Neuordnung der zentralen Verwaltungseinrichtungen unter Peter I. mit den vier Bestandteilen Senat, Kollegien, Fiskalität und Prokuratur als einheitliche Idee das Prinzip der Machtbalance und gegenseitigen Überwachung erkennen läßt, vermißt man bei der Gebietsreform ähnlich tragfähige Grundsätze. Die Entscheidungen wirken hier eher voluntaristisch. Sie ergingen spät und wurden nur oberflächlich vorbereitet. Den Gouvernements und Provinzen fehlte der Bezug zu den historisch gewachsenen Einheiten, sie wurden einfach vom grünen Tisch aus dekretiert. Speziell die Bildung der Gouvernements in den Jahren 1709/1710 war eigentlich überflüssig, da die neu geschaffenen Gebiete zu groß und insofern kaum regierbar waren. Hauptsächlich dienten sie wohl dem Zweck, einigen Günstlingen des Zaren auf Kosten der Bevölkerung zusätzliche einträgliche Pfründen zu verschaffen. Insbesondere das Ausbeutungsverhalten Mensikovs war schikanös und skandalös, jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Indem der Zar moralisch skrupellose Personen mit hohen Verwaltungsposten betraute, verspielte er tendenziell das Vertrauen des Volkes. Die Bemühungen aus dem Jahre 1719, als einige Amtsfunktionen auf der Ebene der Provinz genauer defIniert wurden, brachten insofern einen Fortschritt, als mit der Arbeitsteilung auch die Verantwortlichkeit des einzelnen Beamten für seinen jeweiligen Aufgabenbereich stieg und er für Schäden leichter haftbar gemacht werden konnte. Inhaltlich dominierten bei der Gebietsreform die fmanziellen Interessen des Fiskus, indem überwiegend Probleme der Requirierung, Buchführung, Aufbewahrung und Weiterleitung des Staatsschatzes geregelt wurden. Nur in diesem fIskalischen Bereich erfolgte wenigstens ansatzweise eine Verzahnung zwischen den Gouvernements und den Kollegien. Sonst blieben die Details der Zusammenarbeit zwischen der mittleren und der oberen Ebene der Verwaltung vom Gesetzgeber weitgehend ausgespart, was zu Verhaltensunsicherheiten führen mußte. In die Verwaltung der Dörfer mischte sich der Zar überhaupt nicht ein. Das materielle Wohl der Bevölkerung schien für die Gestaltung der Administration keine Rolle zu spielen. Zusammengefaßt könnte man die russische Provinz- und Lokalverwaltung unter Peter I. als ein vom Zaren eher vernachlässigtes Feld bezeichnen. Hier zeigte sich in der Praxis, daß der absolutistische Herrscher, besonders bei gewaltigen Territorien, überfordert war, wenn er sich darum bemühte, alle Bereiche der staatlichen Administration seiner Kontrolle zu unterwerfen. Das russische Gerichtswesen war beim Regierungsantritt Peters I. noch nicht von der Verwaltung getrennt. Gelernte Juristen fehlten. Viele Prozesse zogen sich über Jahre hin. Bestechungen und Fehlentscheidungen kamen häufIg vor, wie etwa der Mönch A vraamij in seiner Denkschrift an den Zaren rügte. Peter I. zeigte hinsichtlich der Prozeßführung bereits früh ein entwikkeltes Problembewußtsein, indem er im September 1689 seinem Halbbruder

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und Mitregenten Ivan V. vorschlug, beide sollten "zur Beruhigung des Volkes in den Ämtern gerechte Richter einsetzen und unanständige auswechseln, damit auf diese Weise unser Staat bald beruhigt und erfreut werde".713 Die Gewährleistung eines gerechten Gerichts gehörte nach allgemeinem Verständnis zu den wichtigsten Staatszwecken im Sinne des Gemeinwohls, auch das Volk erwartete dies von seinem Regenten. Einige Zeit vor der Abreise nach Westeuropa revidierte der Zar am 21.2.1697 die bis dahin übliche Prozeßordnung. Er wandte sich gegen das Verfahren der Gegenüberstellung von Kläger und Beklagtem (ocnye stavki), bei dem jede Seite den Richter wortreich für sich zu gewinnen suchte, da es "viel Unwahrheit und Hinterlist" mit sich bringe, indem unter Hintanstellung der Gottesfurcht Lügen vorgetragen würden und reiche Prozeßbeteiligte zudem bestochene Zeugen zu Falschaussagen verleiteten. Negativ seien auch die Verschleppung von Prozessen sowie die vielen Fehlurteile zu Lasten ärmerer Leute. Statt dessen sollten nun die Richter aktiver auftreten, nicht nur in erster Linie zuhören, sondern selbst die Befragung von Kläger und Beklagtem in die Hand nehmen. Diese Vorgehensweise hieß Untersuchung (rozysk). Sie sollte auf Wunsch des Geschädigten erfolgen und war im einzelnen für Fälle von Beleidigung, Handgreiflichkeiten, Kränkungen aller Art, Flucht von Leibeigenen oder Vermögensschädigung vorgesehen, d. h. die formale Unterscheidung von Zivilsachen und Strafsachen wurde noch nicht getroffen. Anders als im Gesetzbuch von 1649 vorgesehen, demzufolge ausnahmslos jeder Zeuge vernommen werden mußte, durften neuerdings befangene Zeugen abgelehnt werden, mit denen z. B. ein gleichzeitiger Rechtsstreit vorlag. Um Kläger und Beklagte stärker auf die Wahrheit zu verpflichten, sollten sie vor Prozeßbeginn in der Kirche in Anwesenheit eines Geistlichen den Eid auf das Evangelium leisten, daß sie vor Gericht nicht lügen würden. Taten sie es dennoch und wurden überführt, so drohte ihnen die Todesstrafe. Analoges galt für falsche Zeugenaussagen. Der Zar wollte vor Gericht also radikal der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen. Gleichzeitig nutzte der Herrscher die Gelegenheit, um die Staatskasse aufzufüllen, denn die Untersuchung vor Gericht in ihrer neuen Form kostete Gebühren, während die frühere Gegenüberstellung der streiten. kostenfr' den P artelen el gewesen war. 714 In einem weiteren Erlaß vom 19.7.1700 bemühte sich der Zar, die Prozeßführung zu straffen, indem er befahl, die Kläger müßten sich bei ihren Gesuchen auf die wichtigsten Punkte konzentrieren, und auch die Richter sollten die Verhandlungen zügig und ohne Abschweifungen führen. Andererseits waren aber doch wieder Verzögerungen erlaubt, wenn etwa noch die Bauern des Beklagten befragt werden sollten. Insgesamt dürfte dieses Edikt wegen seines widersprüchlichen Inhalts faktisch wenig verändert haben. 715 Im Zusammenhang mit dem Heeresreglement vom 30.3.1716 gab der Zar eine Darstellung zum Prozeßrecht heraus, die dann in Rußland auch außerhalb 7J3 714 715

Pib I, S. 14. Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 571 (Zitat), 572ff. Ebd., S. 232f.

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der Militärgerichte Gültigkeit erlangte. Dort hieß es, die Richter sollten ehrliche Männer sein und ohne Ansehen der Person richten, womit theoretisch ein wichtiger Grundsatz des Rechtsstaates formuliert war. Bei gewichtigen Strafsachen sollten sieben Richter urteilen, um einer einseitigen Betrachtung vorzubeugen. Die Richter waren zur Geheimhaltung der Prozeßangelegenheiten verpflichtet. Erstmals durften auch befangene Richter, nicht nur befangene Zeugen, vom Kläger oder Beklagten abgelehnt werden. Alle Richter mußten jeweils vor Prozeßbeginn einen Eid vor Gott leisten, daß sie nicht aus persönlicher Sympathie oder Antipathie oder aufgrund von Bestechung entscheiden würden, sondern genau dem Gesetz folgen wollten. Beeindruckende und damit eventuell von der Sache ablenkende Rhetorik sollte nach Meinung des Gesetzgebers entfallen. Diese Bestimmungen deuteten an, daß sich der Zar intensiver mit den QualifIkationsmerkmalen der Richter auseinandergesetzt hatte und hier energischer gegen DefIzite vorzugehen beabsichtigte. Der eigentliche Prozeß gliederte sich in die Verlesung der Anklage, die Befragung des Beklagten, die Heranziehung von Zeugen und Indizien sowie in die Urteilsverkündung. Jedes Urteil der unteren Instanzen konnte angefochten werden sowohl aus formalen Gründen, wenn z. B. der Beklagte nicht ausreichend zu Wort gekommen war oder wenn die Richter die Vereidigung der Prozeßgegner vergessen hatten, als auch aus inhaltlichen Gründen wie etwa Widersprüchlichkeit in sich oder bei klarem Verstoß gegen das Rechtsempfmden. Zog sich der Prozeß länger hin, so durften sich der Kläger und der Beklagte circa ab der Mitte der Verhandlung durch Advokaten vertreten lassen, die aber nie gleichzeitig mit ihren Mandanten anwesend waren. Der problematischste Punkt der Prozeßordnung war die Zulassung der Folter, falls die Richter sie für angebracht hielten. Wenn ein Verdächtiger nicht gestand oder ein Zeuge sich in Widersprüche verwickelte, durfte bis zu dreimal gefoltert werden; bis dahin war sogar eine sechsfache Tortur erlaubt gewesen, d. h. der Zar griff hier schon mildernd ein. Adlige, hochrangige Beamte, alte Leute über siebzig Jahre, Schwangere und MindeIjährige unterlagen der Folter in der Regel nicht außer bei Mordprozessen oder Hochverrat. Das unter der Folter emreßte Geständnis galt erst, wenn es vor den Richtern wiederholt worden war. 76 Auch in anderen europäischen Ländern wurde die Folter damals angewandt. Sie bewirkte zahlreiche Fehlurteile, da auch Unschuldige gestanden, wenn sie die Qualen nicht länger aushielten. Ein letztes Edikt Peters I. zum Prozeßrecht erging am 5.11.1723 und trug den Titel "Über die Form des Gerichts". Es trat ab Januar 1724 in Kraft. Hauptzweck des Erlasses war wiederum wie schon im Sommer 1700 die Beschleunigung der Prozeßführuog, "denn in den Gerichten läßt man viele überflüssige Reden zu und schreibt viel Unnützes, was strikt verboten ist". Um den Ablauf der Verhandlungen zu straffen, mußte bereits das Gesuch des Klägers in Einzelpunkte untergliedert und frei von Wiederholungen sein. Entsprechend diesen Punkten hatte der Richter zu ermitteln. Die Form der Protokollführung wurde jetzt erstmals genauer vorgeschrieben: auf jeweils gegenüber716

Ebd., S. 579ff.

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liegenden Seiten waren die Einlassungen des Klägers und die Entlastungsantworten des Beklagten parallel und ebenfalls nach Punkten geordnet zu vermerken. Dabei sollten aus Rationalisierungsgründen längst nicht alle mündlichen Äußerungen der Betroffenen im Protokoll festgehalten werden. Neu war auch die Einführung einer festen Ladungsfrist von nur einer Woche. Die Ladung mußte der Beklagte bei Erhalt gegenzeichnen, damit er sich nicht mit Unkenntnis herausreden konnte. Falls jemand zum Prozeßtag nicht erschien und sein Fernbleiben mit Krankheit entschuldigte, sollte der Richter drei Personen zur Kontrolle ins Haus des Fortgebliebenen schicken. Die Hinzuziehung von Advokaten wurde gegenüber dem Stand von 1716 erweitert. Fortan durften sie ihre Mandanten schon von Beginn des Prozesses an vertreten, doch hatten sie eine schriftliche Bestätigung vorzulegen, daß ihre Auftraggeber das Urteil annehmen würden. So sollte eine doppelte Prozeßführung vermieden werden. Im Interesse einer beschleunigten Abwicklung mußte der Kläger gleich zu Anfang alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel bereithalten. Dem Beklagten wurde ein Aufschub der Verhandlung nur dann zugestanden, wenn er schriftliches Material zu seiner Entlastung beschaffen wollte, nicht aber, wenn er Zeit zum Nachdenken verlangte. Das Urteil mußte auf alle Anklagepunkte separat eingehen. Standen gleichzeitig mehrere Prozesse gegen dieselbe Person an, so hatten die Belange des Zaren, etwa bei Hochverrat, Vorrang. Am Ende des Edikts stand als feste Formel für das schriftliche Begehren des Klägers die Wendung: "Ich bitte Eure Majestät, über dieses mein Gesuch eine Entscheidung herbeizuführen." Damit wurde deutlich, daß alle Gerichte in Vertretung des Zaren handelten. 717 Mit nur drei Redaktionen wurde das Gesetz zur russischen Prozeßordnung vom November 1723 nicht sehr gründlich ausgearbeitet. Die Ergänzungen, die Peter I. persönlich vornahm, betrafen erstens Richter, die von dieser Ordnung abwichen: ihnen drohten Strafen ohne weitere Detailsbestimmungen. Zweitens fügte der Zar ein, falls der Beklagte ein erheblich geringeres Vermögen besitze als der Kläger, müsse er vor Prozeßbeginn durch die Stellung von Bürgen einen Ausgleich schaffen. Drittens wurden auf Betreiben des Herrschers noch Strafandrohungen gegen jene aufgenommen, die einen Beklagten auf seinem Weg zum Gericht aufhielten oder ihn versteckten. 718 Insgesamt wurde das russische Prozeßrecht erst unter Peter I. in stärkerem Maße reglementiert. Die Edikte in diesem Bereich lassen die Tendenz zu fester Formgebung und Vereinheitlichung erkennen, was die Klageschrift, die Ladefrist, die Protokollführung und die Urteilsbegründung betraf. Wie man Richter wurde und aufgrund welcher Kriterien, blieb allerdings ungeregelt, obwohl es sich um ein gesellschaftspolitisch wichtiges Amt handelte. Theoretisch wäre es möglich gewesen, die Wählbarkeit der Richter auszubauen, wie sie modellhaft bereits bei den Gerichtsältesten (gubnye starosti) vorlag. Der Zar jedoch schaffte die Wahl für diese Funktion ab und führte sie auch sonst nirgendwo im lustizbereich ein, vermutlich weil er fand, gewählte Richter 717 718

Ebd., S. 632 (Zitat), 633ff, 636 (Zitat). Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 390f, 393f.

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stünden seinem eigenen Hoheitsanspruch entgegen. Die Aufstockung der Gerichtsgebühren unter Peter I. bildete das Pendant zur Steuererhöhung während seiner Regierungszeit und sollte den chronischen Ge1dmangel der Staatskasse mindern. Die damals geschaffene Form des Prozeßrechts hatte lange Bestand.

XVI. Staatskirchentum Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts bildete die russisch-orthodoxe Kirche die einzige Institution im Lande, die der Macht des Zaren Konkurrenz bieten konnte. Die Kirche war über lange Zeit hin ein Hort der Stabilität gewesen. In der Teilfürstenära stand sie über den politischen Auseinandersetzungen; von den Mongolen wurde ihre geistliche Autorität respektiert; da die Renaissance in Rußland fehlte, blieb das von der Kirche vermittelte Weltbild unerschüttert; auch Glaubenskämpfe fanden in Rußland nicht mit derselben Härte statt wie in Westeuropa, vor allem endeten sie mit keiner offiziell anerkannten organisatorischen Separation der sich befehdenden Richtungen. Die Altgläubigen erlangten kaum mehr als den Status einer Sekte. Was das geistige Anspruchsniveau der Glaubensauseinandersetzungen im Russischen Reich betraf, so konnten sich die Konflikte um die Bekreuzigung mit zwei oder drei Fingern sowie ein Streit um gesäuertes oder ungesäuertes Brot bei weitem nicht mit Luthers Rechtfertigungslehre "sola fide" und Calvins Wertung des wirtschaftlichen Erfolgs als Indikator der Heilsgewißheit messen. 719 Da Universitäten in Rußland fehlten und es entsprechend keine Tradition komplizierter scholastischer Dispute gab, herrschte eine einfache Volksfrömrnigkeit vor, die sich über Jahrhunderte hin dem Führungsanspruch des Klerus bereitwillig unterordnete. Im Jahre 1589 löste sich die russisch-orthodoxe Kirche aus der Oberhoheit Konstantinopels, indem sie in Moskau ein autokephales Patriarchat etablierte. Seitdem verfügte sie in geistlichen Belangen über autonome Entscheidungskompetenzen, was die kirchliche Gesetzgebung, Verwaltung und Jurisdiktion betraf. Insbesondere Probleme des Glaubens, der Liturgie und der Moral bis ins tägliche Leben hinein wurden von ihr normiert. Dank des reichen Klosterbesitzes und zahlloser wertvoller Kunstschätze in den Kirchen war sie fmanzieH solide ausgestattet und agierte unabhängig von staatlichen Zuschüssen. Auf die Bevölkerung übte die russisch-orthodoxe Kirche großen Einfluß aus, da die im Glauben vermittelte Jenseitshoffung für viele einfache Menschen die einzige Perspektive einer glücklicheren Zukunft bildete, an die sie sich verständlicherweise klammerten.

Was das Verhältnis zwischen dem Patriarchen und dem Zaren, zwischen Kirche und Staat anging, so galt hier offiziell nach byzantinischem Vorbild die Leitidee der "symphonia",72o d. h. des einträchtigen harmonischen Zusammenwirkens. Konkrete Rechtsnormen zur wechselseitigen Beziehung zwi719 720

Weber, Die protestantische Ethik, passim. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 20.

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schen der weltlichen und der geistlichen Gewalt fehlten. Begünstigt durch diese Gesetzeslücke, versuchten die Patriarchen Filaret und Nikon während des 17. Jahrhunderts, die eigene Macht aufzuwerten, indem sie den Zaren bei Regierungsgeschäften vertraten und sich selbst mit "großer Herrscher" (velikij gosudar') titulieren ließen. Der Patriarch Nikon verlangte sogar eine Generation vor Peter I. von dessen Vater Aleksej Michajlovic, der Zar möge die Oberhoheit der Kirche über den Staat anerkennen, ähnlich wie es in Westeuropa einst die Päpste Gregor vn. und Bonifaz vm. proklamiert hatten. Gegen diese hochgeschraubten Machtansprüche Nikons berief Aleksej Michajlovic eine Synode ein, die sich auf die Seite des Zaren stellte und den eigenwilligen Patriarchen im Jahre 1666 absetzte und verbannte. Damit erhielten Nikons ehrgeizige Suprematsforderungen lediglich den Stellenwert einer Episode. Dem Zaren Peter I. aber dürften sie im Sinne einer Bedrohung der eigenen Herrschergewalt noch durchaus bewußt gewesen sein. Von 1674 bis 1690 stand der Patriarch Ioakim an der Spitze der russischorthodoxen Kirche. Der junge Zar erlebte ihn unterschiedlich: einerseits unternahm der Patriarch nichts gegen die Strelitzenaufstände von 1682 und 1689 sowie gegen die Machtübernahme Sofjas, andererseits wirkte Ioakim jedoch als Wortführel zugunsten des damals knapp zehnjährigen Peters, indem er den geistlichen und weltlichen Würdenträgern des Reiches dessen Ausrufung zum Zaren vorschlug und sie auch durchsetzte, wobei er auf die Geisteskrankheit Ivans V. anspielte. 721 Während der Krönungszeremonie segnete der Patriarch die Zaren Ivan und Peter und besprengte sie mit Weihwasser, worin sich eine gewisse Abhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Gewalt andeutete. Eine ähnliche Dominanz der höchsten kirchlichen über die höchste weltliche Macht wurde dem Volk beim Umzug anläßlich des Dreikönigstages vor Augen geführt, indem der Zar dem Patriarchen in den Sattel half und sein Roß führte; auch Peter I. unterwarf sich anfangs noch diesem alten Brauch. 722 Kurz vor seinem Tode kritisierte der Patriarch Ioakim noch einmal umfassend die an Westeuropa orientierten Neuerungen des Monarchen und verfiel dabei in die Diktion eines väterlichen Ratgebers,723 was Peter sicherlich ärgerte. Zum Nachfolger Ioakims wurde 1690 der Patriarch Adrian gewählt, ein Wunschkandidat von Peters Mutter Natalja Kirillovna. Hier mußte der junge Zar als eine seltene Ausnahme erleben, daß seine eigenen Vorstellungen unberücksichtigt blieben - er hatte nämlich den prowestlich gesonnenen Metropoliten MarkeIl aus Pskov favorisiert. Bei der feierlichen Inthronisierung Adrians im August desselben Jahres waren die Sitze für den Patriarchen sowie für die Zaren Ivan und Peter in gleicher Höhe angeordnet und mit demselben roten Samtstoff bedeckt. Der höchste geistliche Würdenträger wurde als "Vater und Hirte" der Zaren und des ganzen Reiches angesprochen, also verbal den säkularen Staatslenkern übergeordnet. Ivan und Peter erhoben sich als Zeichen der Ehrerbietung von ihren Plätzen, während der Patriarch die Weihe 721 722 723

Kreksin, Kratkoe opisanie blaiennych deI, S. 26ff. PSZIII, S. 79; Weber, Das veränderte Rußland, Bd. TI, S. 55. Vgl. diese Arbeit, S. 104.

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empfing. 724 Alle diese Details wiesen darauf hin, daß es neben der staatlichen Würde etwa gleichrangig, partiell sogar mit höherem Anspruch das konkurrierende geistliche Bezugssystem gab. In seiner Funktion als Patriarch rügte auch Adrian wie schon sein Vorgänger einige Verhaltensweisen des Zaren, z. B. die Einführung der westlichen kurzen Kleidung, das Gebot des Bartscherens und die Verbannung Evdokija Lopuchinas in ein Kloster, die einfach nur geschehen war, weil ihr Mann sie loswerden wollte. 725 Erst mit dem Tode Adrians Mitte Oktober 1700 setzte die antikirchliche Politik Peters I. voll ein, bis dahin hatte er die Besitzrechte des Patriarchen und die kirchliche Sondergerichtsbarkeit bestätigt. Noch im Dezember 1697 konnte der Patriarch selbständig umfassende Instruktionen in 85 Einzelpunkten über die Regeln des Gottesdienstes, die Sauberkeit der Kirchengebäude, die Einhaltung des Fastens sowie über gerichtliche Vorgehensweisen erlassen und übte damit in seinem Bereich eine Macht aus, wie sie sonst das Privileg des Zaren war. 726 Offenbar hielt Peter I. den Patriarchen für eine relativ starke politische Figur, denn sonst hätte er schon zu dessen Lebzeiten die Rechte der Kirche zurückstutzen können. Einen Monat nach dem Ableben des Patriarchen Adrian handelte sich das russische Heer vor Narva die schimpfliche Niederlage gegen die Schweden ein. In dieser Situation akuter außenpolitischer Bedrängnis erschien es dem Zaren opportun, nicht noch zusätzlich einen innenpolitischen Konkurrenten und potentiellen Kritiker neben sich hochkommen zu lassen. Deshalb und ferner, weil das Selbstverständnis des Herrschers ohnehin auf eine Zusammenballung aller Macht bei der eigenen Person hinauslief, entschloß sich Peter 1., den Patriarchenstuhl vakant zu lassen. Ersatzweise bestimmte er am 16. Dezember 1700 den Ukrainer und bisherigen Metropoliten von Rjazan' Stefan Javorskij zum "Administrator und Verweser des PatriarchenstuWs". Als ehemaliger Dozent an der Kiever Geistlichen Akademie vertrat Javorskij eine prowestliche latinisierende Richtung, die unter den großrussischen Kirchenoberen auf Ablehnung stieß. Von daher bestand für den Monarchen keine Gefahr, daß der Patriarchatsverweser zu mächtig werden könnte. Parallel zur Ernennung des neuen Exarchen löste der Zar gleichfalls am 16.12.1700 die bisherige Hauptverwaltung des Patriarchen (patriarsej razrjad) auf. Anstehende gerichtliche Probleme der Kirchenleute sollten in Zukunft weitgehend von weltlichen Ämtern entschieden werden, z. B. war für Eigentumsfragen an kirchlichen Leibeigenen fortan der Dienstgüterprikaz zuständig. Der Kirche selbst verblieb im wesentlichen die Beschlußfassung über Glaubensfragen im engeren Sinne. Als sich der Metropolit Isaj von NiZnij Novgorod im Juli 1701 weigerte, bestimmte Gerichtsakten aus dem Nachlaß der Hauptverwaltung des Patriarchen an den Staat abzutreten, wurde er mit Gewalt dazu gezwungen. 727

724 725 726 727

PSZ III, S. 75ff. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 62f. PSZ III. S. 126,145, 234f, 413ff. PSZ IV, S. 87f, 17l; Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 64f.

15 Helmer!

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Einen zweiten Schlag gegen die Autonomie der russisch-orthodoxen Kirche unternahm der Zar am 24. und am 31.1.1701, als er das Klosteramt wieder einrichtete (Monastyrskij prikaz), und zwar als rein weltliche Behörde, die sämtliche Einkünfte aus den Gütern des Patriarchen, der Erzbischöfe, Bischöfe und Klöster verwaltete. Sie unterhielt Agenturen vor Ort und war dem Einfluß des Patriarchatsverwesers entzogen. Zum Leiter des Klosteramtes ernannte Peter I. seinen engen Mitarbeiter, den Grafen Ivan Alekseevic MusinPuskin, der als früherer Statthalter von Astrachan' bereits über Verwaltungserfahrung verfügte und zudem im Saufkonzil des Zaren auf die Mißachtung kirchlicher Interessen eingestimmt worden war. Aus der Kasse des Klosteramtes bediente sich der Staat reichlich, um den Nordischen Krieg zu fmanzieren, kaufte Pulver, bezahlte Kanonen und ließ Befestigungen instandsetzen. Daneben flossen dem Kirchengut entnommene Gelder in den Kanalbau sowie in die Versorgung von Invaliden und Veteranen. Den Mönchen verblieb nur ein spärlicher Unterhaltssatz von zehn Rubeln pro Person und Jahr, ansonsten sollten sie sich von ihrer Hände Arbeit ernähren. Um Protesten seitens des hohen Klerus zuvorzukommen, wurden einige Metropoliten und Erzbischöfe mit jährlichen Gehaltszahlungen von I 000 bis I 500 Rubeln gewissermaßen bestochen. Insgesamt führte das Klosteramt dem Staat innerhalb von zehn Jahren die gewaltige Summe von mehr als einer Million Rubel zu. 728 Der Zar zeigte hier zugunsten weltlicher Zwecke ein ähnliches kormlenie-Verhalten, wie er es sonst bei seinen Beamten verabscheute. Indem er mit der Einrichtung des Klosteramtes an eine gleichnamige ältere Institution anknüpfte, die bereits ab 1649 bestanden hatte und 1677 während einer Schwächephase des Zartums unter Fedor Alekseevic wieder aufgehoben worden war, verlieh er der Säkularisierung des Kirchenbesitzes einen Anstrich von Legalität, obwohl das frühere Klosteramt längst nicht so raffgierig vorgegangen war. Als im Jahre 1711 der Senat geschaffen wurde, übernahm er einige Aufsichtsfunktionen im kirchlichen Bereich. Das Klosteramt wurde ihm unterstellt und war ihm periodisch rechenschaftspflichtig. Ferner mußten die Kandidaten für das Amt eines Bischofs oder Erzbischofs zunächst vom Senat akzeptiert werden, bevor sie die kirchliche Weihe erhielten. Der Senat war es auch, der dem Exarchen Stefan Javorskij für fast drei Jahre das Predigen verbot, nachdem der Patriarchatsverweser öffentlich Anspielungen auf das unmoralische Privatleben des Monarchen vorgetragen hatte. 729 Am 4.4.1713 legte der Senat fest, eine Konfiszierung von Gütern des Patriarchen, der Erzbischöfe und Klöster bedürfe der vorherigen Mitteilung an die Kanzlei des Senats, d. h. er wollte auf dem laufenden gehalten werden und sich ein Mitspracherecht sichern. 730

728 PSZ IV, S. 133,139; Pib m, S.9, 743, 779, 798f, 813f; Smirnov, Cerkov' v istorii Rossii, S. 164ff. 729 Smimov, Cerkov' v istorii Rossii, S. 164; M. Florinsky, Russia. A History and an Interpretation. New York 1963, 8. Aufl., Bd. I, S. 41Of. 730 Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 245.

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Per Edikt vom 7.11.1701 vervollständigte Peter I. den Zugriff auf das Kirchengut und die Aushöhlung der klerikalen Jurisdiktion, indem er befahl, fortan seien Eheverträge sowie Testamentsverfügungen und erblose Vermögen, von denen bis dahin die Kirche ~rofitiert hatte, dem Moskauer Gerichtsprikaz zur Entscheidung zuzuleiten. 31 Damit wurde ein weiterer Besitzzuwachs der Kirche infolge privater Schenkungen blockiert. Gleichzeitig schuf der Zar eine kirchenfreie Sphäre bürgerlichen Rechts in bezug auf Familien- und Erbangelegenheiten, während diese Rechtsfragen zuvor seit der Zeit des Kiever Großfürsten Vladimir über sieben Jahrhunderte hinweg eine Domäne der kirchlichen Jurisdiktion gewesen waren. Aus einem formal sehr spröden Brief des Zaren vom 17.1.1714 an den Exarchen Javorskij, in dem jegliche Segenswünsche fehlten, geht hervor, daß Peter I. mehrere gegen die Häresie gerichtete Schriften des Patriarchatsverwesers persönlich zensiert hatte und nun Änderungen befahl, wobei er den Grundsatz aufstellte, "auf diese Weise Unsere Erniedrigung durch Unsere Gegner zu beseitigen". Der Handlungsspielraum des Exarchen war also bereits stark eingeschränkt. Er hatte sich weniger an den Interessen der Kirche als an denen des Monarchen zu orientieren. Etwa zur seIhen Zeit beklagte sich Javorskij bitter beim Zaren, daß weltliche Fiskale in die geistliche Rechtspre. 'f" 732 Chung elDgn len. Auch das Tätigkeitsfeld der russischen Bischöfe erfuhr gravierenden Einschränkungen, indem der Zar am 22.1.1716 eine Neufassung ihres Amtseides verfügte. Fortan mußte jeder Bischof schwören, daß er Demut zeigen und keinen Streit beginnen werde, was praktisch auf die Akzeptanz der weltlichen Oberhoheit hinauslief. Ferner durfte der Bischof keine Genehmigung für überflüssige Kirchenbauten erteilen, er mußte gegen das Luxusleben von Geistlichen einschreiten und die Klöster entsprechend beaufsichtigen, d. h. ihm wurde Sparsamkeit verordnet. Was Glaubensinhalte betraf, so durfte der Bischof keine Wundertätigkeit von Ikonen behaupten. Er sollte gegen die weitere Ausbreitung des Raskol auftreten und auffaIlige Asketen (Barfüßer) beim Gericht anzeigen. Als Kernaussage zum Verhältnis von geistlicher und säkularer Gewalt hieß es im Amtseid der Bischöfe: "In weltliche Angelegenheiten und Sitten dürfen sie nicht eingreifen, es sei denn, es zeige sich offenkundiges Unrecht." Im letztgenannten Fall mußte der Bischof umgehend den Zaren informieren, quasi als Zuträger bei Aufruhrtendenzen etc. Grundsätzlich galt aber die Abstinenz gegenüber staatlichen Belangen. In einem Erlaß vom 10.1] .1721 wurde festgelegt, daß alle Geistlichen auch den allgemeinen Treueschwur auf den Zaren zu leisten hatten und daß dieser Eid bei jeder Beförderung wiederholt werden mußte. 733 In organisatorischer Hinsicht blieben von den ursprünglich dreizehn Metropolien am Ende von Peters Regierungszeit nur noch drei bestehen, nämlich 731 PSZ IV, S. 176; K. Appel, Die Auseinandersetzung um die kirchliche Gerichtsbarkeit im Moskauer Rußland 1649 - 1701. Diss. Berlin 1966, S. 8If. 732 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 39 (Zitat), 329. 733 PSZ V, S. 193, 194 (Zitat); PSZ VI, S. 452. 15*

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in den Außenbereichen Sibirien, Kiev und Smolensk. Der Rest wurde zwischen 1709 und 1724 in Bistümer umgewandelt. 734 Mit diesem Abbau höchster kirchlicher Funktionen folgte der Zar demselben Handlungsmuster, das er bereits im Jahre 1700 bei der Nichtbesetzung des Patriarchenstuhls angewandt hatte. Beim Hochverratsprozeß gegen den Zarevic Aleksej im Sommer 1718 mußte Peter I. erfahren, daß sein Sohn eine breite Anhängerschaft unter der konservativen Geistlichkeit besaß, die sich vom Thronfolger eine Rücknahme der westlich orientierten Reformen erhoffte. Diese Gegnerschaft zu seiner eigenen Person bestätigte den Monarchen in der Absicht, das russische Patriarchat endgültig zu beseitigen und durch ein Kollegialorgan zu ersetzen, das der Macht des Zaren weniger gefährlich werden konnte, da sich die einzelnen Mitglieder des Leitungsgremiums gegenseitig kontrollieren und bis zu einem gewissen Grade auch blockieren würden. Mit der Ausarbeitung und Begründung eines entsprechenden Gesetzes beauftragte Peter I. den wortgewandten Feofan Prokopovic, 735 der sich ihm gerade wieder dadurch als treuer Diener empfohlen hatte, daß er in einer Predigt vom 6.4.1718 über die Macht und Ehre des Zaren eindeutig den Primat des Staates über die Kirche verkündet hatte. In dieser Predigt vertrat Prokopovic ganz im Interesse der Staatsräson und der staatlichen Einheit die Auffassung: " ... die Geistlichkeit ist eine Sache, ein Rang im Volk, aber nicht ein besonderer Staat". Der Klerus solle stets "dem Befehl der weltlichen Mächte gehorsam sein" und sich im übrigen auf rein seelsorgerische Aufgaben beschränken. Überschreite er diesen Rahmen seiner Tätigkeit, so verdiene er Bestrafung seitens des Herrschers. Zur Absicherung seiner Thesen führte Prokopovic zahlreiche Beispiele aus der Bibel und der Kirchengeschichte an: schon unter David und Salomon sei die Geistlichkeit den israelitischen Königen "in allem unterworfen" gewesen; analog hätten die Apostel Petrus und Paulus verlangt, jedermann solle dem Kaiser untertan sein, dabei hätten sie für Kleriker keine Ausnahme zugelassen; ferner hätten viele byzantinische Herrscher Konzilien einberufen und ihnen weltliche Richter zugeteilt. Angesichts diser bindenden Verhaltensvorgaben sei jeder Widerstand gegen den russischen Zaren sündhaft und werde sowohl dessen Zorn als auch die Rache Gottes nach sich ziehen. 736 Gerade den Bischof Prokopovic mit der Ausarbeitung des Reglements für das neue kollegiale Leitungsorgan der russisch-orthodoxen Kirche zu beauftragen, war von Seiten des Zaren insofern geschickt, als er die Einschränkung der kirchlichen Macht auf diese Weise durch eine Person aus den eigenen Reihen des hohen Klerus vornehmen ließ und damit etwaigen theologisch begründeten Widersprüchen anderer geistlicher Würdenträger tendenziell die Spitze abbrach. Das Manifest über die Einrichtung des Geistlichen Kollegiums erging am 25.1.1721. Der Zar selbst hatte den Text redigiert. Damit es so aussah, als sei das Manifest von einer breiten Zustimmung innerhalb der russischen Geist734 735 736

UstIjalov, Istorija carstvovanija Petra Velikago, Bd. IV, S. 551. A. Bulygin, Cerkovnaja reforma Petra I, in: Voprosy istorii 5/1974, S. 80. Prokopovic, Socinenija, S. 88 (Zitate), 89, 93.

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lichkeit getragen, wurde ein Oberstleutnant schon vor dem Inkrafttreten des Gesetzes beauftragt, im Lande herumzureisen und alle Bischöfe und Äbte des Reiches zur Unterschrift unter die Neuregelung zu veranlassen. Zwei Bischöfe weigerten sich zunächst, doch schwenkten auch sie rasch auf die verlangte Linie ein, als ihnen ein Prozeß in Petersburg angedroht wurde. 737 Zu Beginn des Reglements über das Geistliche Kollegium verschleierte der Zar seine Machtrnotive und äußerte statt dessen, es sei seine Pflicht vor Gott und vor dem eigenen Gewissen, die Mängel innerhalb der russischen Geistlichkeit abzustellen, nachdem er bereits das Militär und die Zivilverwaltung erfolgreich reformiert habe. So klang es, als wolle der Zar allen Teilgebieten der Verwaltung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Als Vorbilder seines Eingreifens nannte er Beispiele aus dem Alten und Neuen Testament, jedoch ohne Details. Dann folgten breit ausgeführte Begründungen, weshalb eine kollegiale Kirchenleitung der Lenkung durch einen einzelnen Patriarchen vorzuziehen sei. Es hieß, so könne man die negativen Leidenschaften der Einzelperson im Zaum halten, viele würden mehr leisten als einer und könnten auch die Wahrheit leichter erkennen und sich gegenseitig kontrollieren, das Fehlen einzelner infolge von Krankheit falle bei einem Kollegialorgan weniger ins Gewicht, das Geistliche Kollegium diene der Einübung in die Verwaltung, einem von mehreren Personen gefaßten Beschluß komme größeres Gewicht zu als der Entscheidung eines einzelnen usw. Das Hauptmotiv erschien etwa versteckt unter Punkt 7 der Argumente und lautete: "Bedeutsam ist auch, daß dem Vaterland von einer synodalen Regierung kein Aufruhr und keine Empörung droht, wie dies bei einem einzigen geistlichen Regenten geschehen kann. Denn das einfache Volk weiß nicht, wie sich die geistliche Macht von der des Selbstherrschers unterscheidet; beeindruckt von der großen Ehre und dem Ruhm des höchsten Hirten meint es, dieser sei der Regent, ein zweiter Herrscher, dem Selbstherrscher gleichgestellt oder größer als er, und daß der geistliche Rang ein zweiter und besserer Staat sei, hat sich das Volk selbst angewöhnt zu denken." Im Klartext bedeutete das, der Zar wollte jede mögliche Konkurrrenz zu seiner eigenen herrscherlichen Gewalt ausschalten. Die früheren Erfahrungen Peters, als das Volk bei feierlichen Zeremonien dem Patriarchen und dem Zaren etwa in gleicher Weise zugejubelt hatte, fanden hier ihren Niederschlag. Tatsächlich war der Pomp des orthodoxen Klerus mit seinen prachtvollen Gewändern, seinen enormen Kunstschätzen, den tiefen Gesängen, den langsamen und würdevollen Bewegungen beeindruckend. Zudem wies die Kirche den Weg zur ewigen Seligkeit, und nicht der weltliche Herrscher. Um hier ein für allemal die Unterordnungsverhältnisse klarzustellen, enthielt das Manifest vom 25.1.1721 die Bestimmung, sämtliche Beschlüsse des Geistlichen Kollegiums bedürften der Zustimmung des Monarchen. 738 Von der personellen Zusammensetzung her bestand das Geistliche Kollegium, das sich auf eigenen Wunsch ab Februar 1721 "Heiligster Dirigierender 737 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 83; Smirnov, Cerkov' v istorii Rossii, S.I77. 738 PSZ VI, S. 314ff, Zitat S.317.

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Synod" nannte, aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten sowie je vier Räten und Assessoren. Erster Präsident wurde der bisherige Patriarchatsverweser Stefan Javorskij, zu Vizepräsidenten bestellte der Zar Feofan Prokopovic und Feodosij Janovskij, die übrigen Vertreter im Synod waren meist Äbte bedeutender Klöster. Insgesamt überwog das ukrainische Element unter den Synodalen. 1724 waren unter den elf Mitgliedern des Synods fünf Ukrainer, drei Großrussen, zwei Griechen und ein Serbe vertreten. Anscheinend mißtraute der Zar dem großrussischen Klerus, sonst hätte er ihn stärker beteiligt. Alle Mitglieder der höchsten Kirchenbehörde mußten den Amtseid auf den Zaren ablegen und zusätzlich schwören, daß sie sich nur von der Wahrheitssuche und der Gottesfurcht leiten lassen wollten, nicht jedoch von Widerborstigkeit, Feindschaft und Neid, d. h. sie durften keine negativen Emotionen gegen den Monarchen hegen. 739 Die Aufgaben des Heiligen Synods waren so strukturiert, daß er schwerlich regierungsfeindliche Aktivitäten entfalten konnte. Sie bestanden in der Auswahl von Gebeten und Gesängen, in der Überprüfung der Heiligenviten auf etwaige Fehler in der Überlieferung, in der Aussonderung unpassender Elemente aus den kirchlichen Riten, ferner sollte der Synod eine Art Katechismus über Sünden und gottwohlgefällige Werke zusammenstellen und dabei auf die Pflichten jeder gesellschaftlichen Schicht eingehen. Daneben oblag ihm die Aufsicht über die Bischöfe und Klöster im Lande. Gegen die Häresie, die im wesentlichen auf einen Bildungsmangel innerhalb der Kirche zurückgeführt wurde, sollte der Synod zum Nutzen des Vaterlandes und der Gläubigen höhere Schulen einrichten, in denen Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Logik, Griechisch und Latein gelehrt werden sollten. In diesen Schulen sollten auch Bücher ausländischer Autoren übersetzt werden. Ferner waren dort Bibliotheken einzurichten. Der Zar empfahl in diesem Zusammenhang als einzigen speziell genannten Buchtitel die kurzgefaßte Staatsethik Pufendorfs, die ihm selbst sehr gefiel, da sie die Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber dem Re740 genten betonte. Eigene Finanzmittel für den Synod sah das Edikt vom 25.1.1721 nicht vor, doch hatte Peter I. den Mitgliedern des neu zu schaffenden Gremiums bereits am 18.1.1721 gewissermaßen als Ersatz hohe Gehaltszahlungen aus der Staatskasse in Aussicht gestellt. Dem Präsidenten wurde die fürstliche Summe von 3 000 Rubeln jährlich versprochen, den Vizepräsidenten je 2 500 Rubel, den Räten je I 000 Rubel, den Assessoren je 600 Rube1. 741 Man erkennt unschwer die Bestechungsabsicht seitens des Monarchen. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht, denn das Geistliche Kollegium nahm sein eigenes Reglement widerspruchslos an, obwohl es ihm wenig Gestaltungsfreiheit ließ. Nachdem die Weichen erst einmal im Interesse der weltlichen Macht gestellt worden waren, revidierte der Zar die ursprünglich üppige Entlohnung der Synodsmitglieder im Januar 1724 dahingehend, daß nur noch diejenigen unter ihnen Gelder er739

740 741

Ebd., S. 315, 358; Cracraft, The Church Reform, S. 166f, 173f. PSZ VI, S. 319f[' 333f. Ebd.,S.312.

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halten sollten, denen kein Gehalt aus ihrer Tätigkeit als Abt oder Bischof zustand. 742 Analog zur Vorgehensweise im Senat und bei den weltlichen Kollegien richtete Peter I. am 1l.5.1722 das Amt eines Oberprokurors für den Heiligen Synod ein, um auch diese Behörde einer ständigen Kontrolle zu unterwerfen. Ein renitentes Verhalten der Synodalen hatte der Oberprokuror sofort dem Zaren zu melden. Für die Wahl des Oberprokurors war der Senat zuständig, als Kandidaten kamen nur Offiziere in Frage. 743 Hier zeigte sich einmal mehr, daß Peter I. bevorzugt Angehörige des Militärs mit Kontrollaufgaben in der Verwaltung betraute, vermutlich weil er sich von Militärpersonen einen besonderen Einschüchterungseffekt erwartete. Der Synod selbst schuf Ende 1721 nach dem Muster der Fiskale ein Überwachungssystem aus sogenannten Inquisitoren in den einzelnen Provinzen, die vor Ort die Amtsführung der Bischöfe und Äbte, der 'Priester und Mönche auf Staatstreue und Einhaltung der geistlichen Vorschriften zu kontrollieren hatten. Damit wurde die kirchliche Verwaltung der weltlichen Administration noch ähnlicher.

In der ersten Zeit ihrer Tätigkeit erlaubten sich der Synod bzw. dessen Präsident Javorskij noch Eigenmächtigkeiten gegenüber dem Zaren. In einer Denkschrift vom Juni 1721 bestand Javorskij darauf, daß in den kirchlichen Gebeten ausdrücklich nicht nur des Zaren, sondern der Tradition entsprechend auch des Patriarchen zu gedenken sei. Damit wäre die Erinnerung an eine annähernd gleichberechtigte Stellung des weltlichen und des geistlichen Oberhauptes wachgehalten worden. Wegen dieser konservativen Forderung mußte Javorskij einen harten schriftlichen Verweis hinnehmen. Als er Ende 1722 starb, ernannte der Zar keinen Nachfolgepräsidenten. Eine zweite Unbotmäßigkeit, diesmal des ganzen Synods, trat auf, als das Gremium im April 1722 Ergänzungen zum Geistlichen Reglement ohne die vorherige Genehmigung des Monarchen drucken ließ. Empört lieB Peter I. die Auflage einziehen und gestattete die erneute Drucklegung der Ergänzungen erst, nachdem er sie persönlich korrigiert hatte. 744 In der Folgezeit verhielt sich der Synod gefügig und fällte seine Entscheidungen im Einklang mit den Interessen des weltlichen Herrschers. So wies die oberste Kirchenbehörde z. B. die Popen an, sie sollten die staatlichen Polizeiorgane bei der erneuten Volkszählung für die Kopfsteuer unterstützen. Die Anzahl der Lazarette in den Klöstern wurde erhöht, die Finanzmittel für Krankenhäuser und Veteranenversorgung wurden aufgestockt. Auf Befehl des Zaren lieB der Synod alte Münzen und wertvolle Steine aus dem Klosterbesitz zusammentragen und verkaufte sie zu einem günstigen Preis an den Fiskus. Mit dem Neubau von Kirchen hielt sich der Synod entsprechend dem Wunsch des Zaren zurück. Nachdem die Synodalen einen moralischen Leitfaden "Über die Seligkeiten" verfaßt hatten, mußten sie hinnehmen, daß Peter I. den Inhalt kontrollierte und einen Vorspann verfaßte, in dem es hieß, man erlange das 742 743 744

Solov'ev, Istorija Rossii, Bd. IX, S. 500f. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 109. Smolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 121f, 125.

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Heil nicht durch viele Verneigungen vor Ikonen, nicht durch häufige Gottesdienstbesuche oder durch die Weltflucht als Mönch, sondern durch die Erfüllung seiner Pflichten in Haus und Beruf. Hier versuchte der Zar also, dem säkularen Dienstgedanken bis in den Bereich des Glaubens hinein Geltung zu verschaffen. Vermutlich gegen seine eigene Überzeugung mußte der Synod den römisch-katholischen, den lutherischen und den calvinistischen Katechismus ins Russische übersetzen lassen, desgleichen Schriften über den mohammedanischen Glauben sowie über das antike Heidentum. Auch ein deutsches universalhistorisches Lexikon sollte ins Russische übertragen werden. Die friihere abwehrende Haltung der russisch-orthodoxen Kirche gegenüber fremden Konfessionen wurde so auf Betreiben des Zaren durchbrochen. Der Synod fungierte als Ansprechorgan auch für die Belange der Protestanten, Katholiken und Juden im Russischen Reich, bestätigte deren Klerus und genehmigte in bescheidenem Umfang fremdkonfessionelle Schulgründungen und Kirchenbauten. 745 Aus all diesen Punkten ergibt sich der Eindruck, daß die Tätigkeit der kollegialen russischen Kirchenleitung ab 1722 weitgehend fremdbestirnmt erfolgte. Auch der pompöse Titel "Heiligster Dirigierender Synod" konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die orthodoxe Kirche, verglichen mit der Patriarchatsverfassung, erheblich an Macht eingebüßt hatte, sowohl hinsichtlich ihrer Befugnisse als auch hinsichtlich ihrer Finanzen. Insofern kam der anspruchsvollen Benennung eher eine Ersatz- und Verschleierungsfunktion zu. Die Etablierung des Staatskirchentums in Rußland durch Peter I. folgte dem Prinzip der Eskalation, indem der staatliche Druck auf die Autonomie der Kirche immer mehr anwuchs. Als junger Mann hatte der Zar den Patriarchen auf Prozessionen vor den Augen des Volkes fast wie ein Stallbursche begleitet. Parallel dazu ließ der Monarch jedoch den eigenen antikirchlichen Ressentiments in den Gelagen und Umzügen der Saufsynode bereits freien Lauf. Nachdem er mehrfach und störend die Kritik des Patriarchen an der zarischen Politik sowie an seiner privaten Moral erfahren hatte, ließ Peter I. seit dem Jahre 1700 den Patriarchenstuhl vakant, was einen harten Bruch mit der Tradition bedeutete. Kurz darauf begann mit der Wiedererrichtung des Klosterprikazes die systematische Ausbeutung der kirchlichen Finanzschätze für weltliche Zwecke, insbesondere für den Bedarf der Armee, deren Angehörige im Gegenzug fallweise zur Einschüchterung widerspenstiger Kleriker herangezogen wurden. Als nächster Schritt erfolgte die Einschränkung der kirchlichen Jurisdiktion. Am Ende ersetzte der Zar das Provisorium des Patriarchatsverwesers durch die dauerhafte Einrichtung des Heiligen Synods etwa im Range eines der übrigen Kollegien, wobei sich der Monarch von dieser kollektiven Kirchenleitung eine geringere Konkurrenz zu seinen eigenen Herrschaftsansprüchen versprach. Zusätzlich wurde der Synod der Aufsicht eines weltlichen Oberprokurors unterworfen. In manchen Fällen mußte der Synod mit dem Senat zusammenarbeiten, was den säkularen Einfluß weiter verstärk745 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 100, 103, 108ff, 119, 122, 126, 128; Smo!itsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 125, 132.

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te. Ab 1721 gehörte die frühere weltlich-geistliche Doppelherrschaft endgültig der Vergangenheit an, und Peter I. konnte seine Vorstellungen auch im geistlichen Bereich durchsetzen. Als Leitmotiv seines kirchenpolitischen Handelns diente dem Zaren - ganz der absolutistischen Doktrin entsprechend - der feste Wille, keine zweite unabhängige Macht neben sich zu dulden, sondern alle Gewalt in den eigenen Händen zu konzentrieren. Skrupel etwa in der Art, daß er sich womöglich an einer heiligen Institution vergreife, schienen ihn nicht zu plagen. Vermutlich handelte er in dem Bewußtsein, in Rußland legitimerweise nur das nachzuholen, was in Westeuropa längst geschehen war: in England hatte bereits Heinrich Vlli. das Staatskirchentum geschaffen, den deutschen protestantischen Landesherren war im Augsburger Religionsfrieden und im Westfälischen Frieden die Oberhoheit über die Kirchenprovinzen ihres Herrschaftsbereichs zugestanden worden, Frankreich folgte 1682 mit den "Gallikanischen Freiheiten", in Schweden etablierte Karl XI. eine protestantische Nationalkirche. Als die Russen im Verlauf des Nordischen Krieges das Baltikum eroberten, wurde der Zar mit der Konsistorialverfassung der dortigen protestantischen Kirchenorganisation bekannt und nutzte sie als strukturelle Vorlage für den Synod. 746 Im Grunde folgte Peter I. also nur dem Zeitgeist, wenn er auch in kirchenpolitischer Hinsicht das russische Mittelalter beendete. Konservativer und vorsichtiger als der russische Zar verhielten sich die Habsburger, die mit Ausnahme Josephs U. kirchliche Rechte nicht antasteten, sondern sich um eine harmonische Zusammenarbeit mit dem Klerus bemühten, zumal der Katholizismus eine unverzichtbare ideologische Klammer ihres Vielvölkerstaates darstellte. Ahnlich strebten in Frankreich die Kardinäle Richelieu und Mazarin während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch ein Gleichgewicht zwischen der religiös-kirchlichen und der königlich-staatlichen Gewalt an, wobei Richelieu vorschlug, in Konfliktfällen die Theologen der Sorbonne als Schlichtungsinstanz anzuerkennen; 747 hier bestimmte die geistliche Ausbildung der beiden Kanzler ihre kirchenfreundliche Haltung auch im Staatsdienst, gewissermaßen als Sonderfall. In bezug auf den Klerus im Russischen Reich rächte sich damals, daß er über Jahrhunderte hinweg den Mythos von der angeblichen Einsetzung des weltlichen Herrschers durch Gott mitgetragen und entsprechend Gehorsam gegenüber dem Zaren gepredigt hatte. Gegen den Beauftragten Gottes ließ sich schlecht agitieren, zumal wenn die Armee hinter ihm stand, die ja in Form von Waffenkäufen, Lazaretten und Veteranenversorgung so stark von der petrinischen Kirchenreform profitierte wie keine andere staatliche Institution sonst. Das Ausspielen der geistlichen Belange gegen die Interessen der Streitkräfte war schon ein geschickter Schachzug. Fortan wurde die Kirche in die politischen Randbereiche Bildung und Wohlfahrt abgedrängt, doch auch hier durfte sie nur unter der Oberaufsicht des Zaren tätig werden. Die GeSmolitsch, Geschichte der russischen Kirche, S. 119. S. SkaI weit, Richelieus Staats idee, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 2. Jahrgang. Offenburg 1951, S. 723f. 746

747

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samtheit der Gläubigen gegen die staatlichen Übergriffe zu mobilisieren, wagte die KirchenJeitung nicht, denn erstens fehlte ihr das historische Vorbild, zweitens wäre es Hochverrat gewesen, und drittens standen einem solchen Unterfangen in dem riesigen Land organisatorische Hindernisse entgegen.

XVll. Finanzwesen Abgesehen von der Einführung der Kopfsteuer sowie von Erhöhungen der Binnenzölle war die Etablierung des Staatskirchenturns unter Peter I. eine der wenigen Reformen, die dem Fiskus zusätzliches Geld brachte. Sonst verhielt es sich im allgemeinen umgekehrt, daß nämlich die ehrgeizigen politischen Projekte des Zaren ein beträchtliches Ansteigen des staatlichen Finanzbedarfs sowie mit der Zeit Deckungslücken im Etat zur Folge hatten. Dies galt für den Ausbau des Heeres, für die Schaffung der Flotte, für die Errichtung St. !>etersburgs, für die Umgestaltung der zentralen und lokalen Verwaltung, für die staatliche Wirtschaftsförderung, für die Aufstockung der Polizei und des diplomatischen Dienstes, ja in bescheidenem Maße selbst noch für das Bildungswesen. Peter I. war sich durchaus darüber im klaren darüber, daß er zur Verwirklichung seiner politischen Pläne eine solide Finanzbasis benötigte, wie beispielhaft aus seiner Anweisung an den Senat vom 2.3.1711 hervorgeht: "So viel Geld wie möglich sammeln, denn das Geld ist die Arterie des Krieges.,,748 Gleichzeitig brachte der Zar in diesem Satz prägnant zum Ausdruck, daß er den Hauptteil der fiskalischen Mittel für die Streitkräfte auszugeben beabsichtigte. Als Peter I. den TIrron bestieg, fand er ein stark zersplittertes Finanzwesen vor. Es gab keine oberste Behörde, bei der die Aufsicht über alle staatlichen Einnahmen und Ausgaben konzentriert gewesen wäre. Statt dessen nahm fast jeder Prikaz auch fmanzielle Funktionen wahr. Der sogenannte Große Schatz (prikaz Bol'Sogo prichoda) verwaltete den größten Teil der Zölle, die Einkünfte aus der staatlichen Industrie und dem staatlichen Handel sowie das Münzregal; die Schenkenabgaben gingen an das Amt des Neuen Viertels (Prikaz Novoj cetverti); das staatliche Salzmonopol war dem Dienstgüterprikaz zugeordnet; der Razrjad und der Strelitzenprikaz trieben die Hauptmasse der direkten Steuern ein; daneben wurden Staatseinnahmen auch dezentral vom Amt für Sibirien, vom Kazaner Hofamt und von anderen Prikazen mit territorialen Kompetenzen erhoben. An Budgetaufstellungen gab es zunächst nur solche für einzelne Regionen oder einzelne Zentralämter. Ein gesamtstaatlicher Etat wurde erstmals 1679/80 vorgelegt. Er belief sich zu jener Zeit auf 1, 5 Millionen Rubel, wobei etwa die Hälfte der Ausgaben dem Heer zufloß und die Gelder für die Staatsverwaltung nur rund ein Drittel deIjenigen Summe betrugen, die für den Bedarf des Zarenhofes angesetzt war. Der niedrig angesetzte Haushaltstitel für die Bürokratie erklärt sich daraus, daß sich die russischen Beamten weitgehend nach dem kormlenie-Prinzip versorgten, welches nicht in die offizielle Statistik einging. 748

PSZ IV, S. 635.

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XVll. Finanzwesen

Den größten Posten auf der Einnahmeseite machte die direkte Besteuerung der Landbevölkerung aus. Hier galt bis 1678 die bebaute Ackerfläche als Basis für die Bemessung des Steuerbetrages. Im Jahre 1679 wurde die Gesamtsteuersumme erhöht und aus den einzelnen Höfen eingetrieben mit der Folge, daß die Belastung pro Hof stieg und Verwandte zusammenzogen, um Steuern zu sparen. 749 Daneben gab es in Sibirien und bei den Baskiren den Jasak, eine Naturalsteuer aus Zobeln und Fuchsfellen, die im Laufe der Zeit partiell durch Geld, Getreide- und Viehlieferungen ersetzt werden mußte, als der Pelztierbestand infolge eines zerstörerischen Jagdverhaltens zurückgegangen war. Zölle, Schenkenabgaben, Fuhrgelder, eine Salzsteuer, Kanzleiabgaben für Gesuche, Gerichtsprozesse und Hochzeiten, Pachtabgaben für die Nutzung von staatlichen Wäldern, Wiesen, Mühlen und Fischbeständen, ferner zahlreiche Bagatellsteuern auf Essig, Kvas, Wachs, Kerzen, Seife, Leder etc. vervollständigten die Einnahmen. 75o Von einer durchrationalisierten Struktur des russischen Finanzwesens konnte gegen Ende des 17. Jahrhunderts keine Rede sein. Ein großer Teil der Steuern ging zudem durch Unterschlagung verloren. F. C. Weber bezog sich auf einen in diesen Dingen erfahrenen Russen und teilte mit, von einhundert eingetriebenen Rubeln würden nur etwa dreißig tatsächlich in die Staatskasse gelangen. Selbst wenn man diese Zahlen lediglich als Annäherungswerte akzeptiert, so verdeutlichen sie doch die Problematik. Da die Steuerzahler keine Quittungen erhielten, konnte es vorkommen, daß sie in manchen Jahren von besonders raffgierigen Steuereintreibern 751 doppelt zur Kasse gebeten wurden. Während der ersten vierzehn Jahre seiner Regierung griff Peter I. nicht in die traditionelle Finanzorganisation des russischen Staates ein, vermutlich weil ihm in dieser komplizierten Materie tragfähige Alternativvorstellungen noch fehlten. Im Februar 1694 erging der Erlaß, daß alle Zentralämter dem Zaren eine genaue Aufstellung über ihre jeweiligen Mindereinnahmen aus den letzten achtzehn Jahren vorzulegen hätten, d. h. der Monarch war darauf bedacht, die realen Staatseinkünfte zu erhöhen und wollte sich als ersten Schritt dazu einen Uberblick über die einzelnen Finanztitel verschaffen. 752 Seit dem Jahre 1696 wurde auf den russischen Silberkopeken das Datum ihrer Prägung eingedruckt; möglicherweise erwog der Zar damals schon eine Münzverschlechterung und wollte für den Fiskus den tatsächlichen Metallgehalt des Geldes leichter erkennbar machen. Zur einfacheren Abwicklung des Außenhandels, der sich unter Peter I. zwischen 1690 und 1725 verfünffachte, wurde 1698 der russische Silberrubel vom Gewicht her dem deutschen Taler als dem gängigsten Zahlungsmittel im damaligen europäischen Warenaustausch angeglichen und wies nun einen Silbergehalt von 25 bis 26 Gramm auf bei einem Gesamtgewicht von 28 Gramm, wohingegen die ältere Version des Sil749 s. Knjaz'kov, Ocerki iz istorii Petra Velikogo i ego vremeni. SPb 1914, 2. Aufl., S. 269; S. M. Troickij, Finansovaja politika russkogo absoljutizma v xvrn veke. Moskva 1966, S. 17f, 160. 750 Troickij, Finansovaja politika, S. 144f, 192. 751 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. n, S. 51. 752 PSZ rn, S. 175.

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berrubels ab 1691 noch 35,5 Gramm des Edelmetalls enthalten hatte. 753 Auf diese einfache Weise gelangte der russische Staat zugleich in den Besitz von mehr Finanzmitteln, allerdings ohne eine entsprechende Deckung durch erhöhte Produktionsleistungen. Ein Jahr später wurde den ausländischen Kaufleuten untersagt, minderwertige Kupfermünzen gegen älteres russisches Silbergeld zu tauschen, da dieses Wechselgeschäft für die einheimischen Händler und für den russischen Staat einen Wertverlust bedeutet hätte. 754 Russische Exportgüter sollten vom Ausland in der Regel mit Gold oder Silber statt bargeldlos mit anderen Waren bezahlt werden; die Ausfuhr von Gold und Silber aus Rußland sowohl in Münzen als auch in Kunstgegenständen war streng verboten; wenn russische Kaufleute nach Westeuropa reisten, mußten sie sogar ihre Verpflegung aus der Heimat mitnehmen, um die Bargeldreserven des eigenen Landes zu schonen; ferner existierte ein Staatsmonopol für den Aufkauf von Edelmetallen. 755 Alle diese Maßnahmen zielten darauf ab, im Einklang mit der merkantilistischen Wirtschaftstheorie den Bestand an hochwertigen Metallen im eigenen Lande nicht zu schmälern, sondern eher zu erhöhen und so Reserven für die Münzprägung zu gewinnen. Ein Export von Gold und Silber ins westliche Ausland hätte sich für Rußland auch deshalb nicht gelohnt, weil die Preise für diese Edelmetalle in Westeuropa gegen Ende des 17. Jahrhunderts siebenmal niedriger lagen als im Russischen Reich. Zur Erklärung dieser starken Diskrepanz läßt sich anführen, daß im Gefolge der Kolonialpolitik die westeuropäischen Atlantikanrainerstaaten gewaltige Schätze an Edelmetallen aus Amerika entwendeten, während Rußland an dieser Entwicklung nicht teilhatte und seine eigenen Edelmetallvorräte vergleichsweise spät ausbeutete: der russische Silberbergbau setzte auf Veranlassung des Zaren in größerem Umfang ab 1704 ein, die einheimische Goldförderung begann erst 1745. 756 Seit dem Jahre 1698 nutzte Peter I. extensiv das herrscherliche Münzregal,

um die Einnahmen des Fiskus kräftig zu steigern. Dazu vermerkte der öster-

reichische Legationssekretär Johann Korb: "Ein Erlaß verbot, harte Taler in Zahlung zu nehmen, befahl vielmehr, solche zur Münze zu bringen, um sie gegen Kopeken, das russische Geld, einzuwechseln. Davon zieht der Zar großen Gewinn, da aus einem harten Taler, den er gegen 55 Kopeken eintauscht, bis zu 110 Kopeken geschlagen werden, wie wir während unseres Aufenthaltes unmittelbar erfahren mußten.,,757 Der Staat profitierte hier also vom Umtausch mit 45 Prozent sowie von der Umprägung nochmals mit zehn Prozent. Als weitere Maßnahme ließ Peter I. ab März 1700 kleine Kupfermünzen prägen, und zwar im Wert von je einer halben Kopeke, einer Viertelkopeke und einer Achtelkopeke. Damit entsprach er dem Bedarf der Bevölkerung an 753 I. G. Spasskij, Russkaja monetnaja sistema. Istoriko-nurnismaticeskij ocerk. Leningrad 1962, S. 129; B. I. Mironov, Chlebnye ceny v Rossii za dva stoletija (XVIll - XIX vv.). Leningrad 1985, S. 36, 111. 754 PSZ m, S. 618. 755 PSZ V, S. 95f, 744f; PSZ VII, S. 46,152; Korb, Tagebuch, S. 177. 756 Mironov, Chlebnye ceny, S. 111, 116. 757 Korb, Tagebuch, S. 91.

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Wechselgeld. Vorher waren ersatzweise Kopeken in zwei bis drei Teile gesägt worden, oder man hatte hilfsweise viereckige Lederplättchen als Kleingeld benutzt. 758 Problematisch für das Volk war der erzwungene Geldumtausch, den der Zar per Edikt vom 18.5.1701 verordnete. Jede Privatperson mußte damals alle Silberrubel, die sie besaß, zum staatlichen Münzhof bringen und erhielt dort nur ein Zehntel als Gegenwert, also zehn Kopeken pro abgeliefertem Rubel. Das Ziel dieser Aktion war der Profit des Fiskus, "der offenkundige Zugewinn im Amt des GroBen Schatzes", wie es im Erlaß hieß. 759 Immerhin füllte sich die Staatskasse hier ausnahmsweise einmal überproportional auf Kosten wohlhabender Leute, während sonst die Steuerschraube am härtesten bei der armen Landbevölkerung angesetzt wurde. Daneben zeigte diese Maßnahme, wie skrupellos der Zar zum Zweck der Bereicherung des Staates mit dem Besitz seiner Untertanen umging, als wäre es sein eigener; damit verstieß er eklatant gegen die Postulate des Staatstheoretikers Jurij Krizanic, der umgekehrt die Förderung des Wohlstandes der Untertanen zum Hauptkriterium einer guten Herrschaft erklärt hatte. Die Praxis der Münzverschlechterung, von der bereits Korb berichtete, setzte sich dann in den ersten beiden Dekaden des 18. Jahrhunderts fort. Um das Jahr 1700 waren in Rußland aus einem Pud Kupfer Münzen im Wert von 12,8 Rubeln geschlagen worden, 1702 ergab dieselbe Rohstoffmenge Münzen im Wert von 15,4 Rubeln, 1704 betrug der Gegenwert 20 Rubel und 1718 sogar 40 Rubel. 760 Am 24.4.1713 befahl der Zar, bis zum Ende desselben Jahres 500 000 neue Silberrubel zu prägen, wobei der Edelmetallgehalt um ein Sechstel abnahm. 761 Durch die Umprägung von Kupfer- und Silbermünzen zusammengenommen strich die Staatskasse in den Jahren 1701 und 1702 den grandiosen Gewinn von 717 744 bzw. 764 939 Rubeln ein, 1703 waren es noch 470 730 Rubel, 1708 nur noch 41 441 Rubel. 762 Endlos ließ sich diese Praxis nicht durchhalten, da allmählich das Rohmaterial ausging. Als Nebeneffekt nahm die Falschmünzerei im Lande zu, denn je geringer der Edelmetallgehalt war, desto leichter ließ sich das Geld illegal prägen. Am 5.2.1723 wurde als rabiate Strafe für dieses Delikt verfügt, den Falschmünzern flüssiges Metall in die Kehle zu fieBen. Starben sie davon nicht gleich, so wurde ihnen der Kopf abgehackt. 76 Die extensiv gehandhabte Münzprägung hatte eine Inflation zur Folge, denn es vergrößerte sich nur der Geldumlauf, nicht jedoch in entsprechendem Maße die Warenproduktion. Walter Leitsch setzte für die letzten dreißig Jahre der Regierungszeit Peters I. eine Inflation von fünfzig Prozent an; ähnliche Angaben machte schon E. V. Spiridonova. 764 Für die Bevölkerung am graviePSZ IV, S. 19; Spasskij, Russkaja monetnaja sistema, S. 127, 130. PSZ IV, S. 168. 760 Spasskij, Russkaja monetnaja sistema, S. 13l. 761 PSZ V, S. 26; Mironov, Chlebnye ceny, S. 36. 762 Knjaz'kov, Ocerki, S. 274. 763 PSZ VII S 20 764 Spirido~o~a, Ekonomiceskaja politika, S.274f; W. Leitsch, Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Tragfähigkeit Rußlands, S. 344. 758

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rendsten war dabei der Anstieg der Getreidepreise, da Brot das wichtigste Nahrungsmittel bildete. Zwischen 1701 und 1720 erhöhten sich die Kosten für Roggen, Hafer und Gerste allein schon um die Hälfte, was eine Preissteigerung noch über der allgemeinen Inflationsrate bedeutete. 765 Als weiteres negatives Ergebnis erschwerte die Münzverschlechterung den Kleinhandel, weil sich viele Kaufleute und Handwerker weigerten, überhaupt Waren gegen Kupfergeld zu verkaufen und lediglich Silbermünzen akzeptieren wollten. 766 Entsprechend sah sich der französische Marinekommissar Sieur de La Vie veranlaßt, seinem König in bezug auf den russischen Staat von einer "Unordnung seiner Finanzen und der Dekadenz seines Handels im allgemeinen" zu berichten und zu klagen, selbst die notwendigsten Dinge könne sich der Kunde nur schwer beschaffen. 767 Neben der Münzverschlechterung diente dem Zaren die Erhöhung der Binnenzölle als Mittel zur Steigerung der Staatseinnahmen. Per Edikt vom 1.3.1704 wurden Zölle dieser Art auf fast alle Eßwaren und ferner auf Rohleder, Wachs, Leinen, Seide, Eisen etc. erhoben. Da es sich weitgehend um Güter des täglichen Bedarfs handelte, verschlechterte sich damit die Versorgungslage der Bevölkerung noch einmal. Während bis dahin Binnenzölle nur bei einem tatsächlichen Transport der Waren über Land anfielen, mußten neuerdings entsprechende Abgaben selbst dann entrichtet werden, wenn Produktion und Verkauf innerhalb desselben Ortes erfolgten. Für den Warentransport zu Märkten und Jahrmärkten fielen nun ebenfalls Gebühren an. Ende des Jahres 1710 wurden Binnenzölle für den Transport von Brennholz, Bauholz und Stroh nach Moskau eingeführt. 768 Die Politik der extensiven Münzprägung sowie der Erhöhung der Inlandszölle belegte eine gewisse Kurzsichtigkeit des Zaren in wirtschaftlichen Fragen: zwar konnte er auf diese Weise zunächst die Staatseinnahmen erhöhen, doch erkaufte er diesen Zugewinn mit wachsender Armut unter der Bevölkerung einerseits sowie mit einer empfmdlichen Beeinträchtigung des Handels andererseits, so daß er auf längere Sicht die Basis für die Besteuerung selbst schmälerte. In emotionaler Hinsicht mußte eine derartige Schädigung der wirtschaftlichen Interessen der Massen die Unzufriedenheit im Lande erhöhen und war von daher politisch unklug. Als weitere Einnahmequelle schuf der Zar zusätzlich zu den bereits bestehenden Staatsmonopoien auf den Verkauf von Spirituosen, Salz und Tabak neue Monopole für Spielkarten, Schachspiele, Damespiele, Tabakspfeifen und Eichensärge, wobei sich die Preise für letztere, die als Luxus galten, vervierfachten. Zur Sicherung des Brannntweinmonopols erging am 20.8.1708 die Verfügung, überall wo illegal Schnaps hergestellt wurde, die dafür nötigen Kupfer- und Eisenkessel gegen eine Geldentschädigung zu beschlagnahmen. 769 Mehrfach erschienen Edikte, daß die staatlichen Zolleinnahmen, Ge765 766 767 768 769

Mironov, Chlebnye ceny, S. 46, 51. Troickij, Finansovaja politika, S. 198. SBIRIO, Bd. 34, S. 273. PSZ IV, S. 248f, 588. PSZ IV, S. 282; PSZ V, S. 416; Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 264.

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tränkeabgaben und die Salzsteuer an den Meistbietenden zu verpachten seien. Die entsprechenden Einkünfte sollten in versiegelten Säcken in die Hauptstadt gebracht werden, um Diebstähle möglichst zu venneiden. 77o Das Aktionsfeld privater Steuerpächter erweiterte sich zwischen 1704 und 1712 und erstreckte sich nun auch auf die öffentlichen Bäder, auf Fischfangrechte, Mühlen, Brükken, Transportleistungen usw. Am 11.5.1722 wurde die Dauer der Pachtverträge auf maximal vier Jahre begrenzt, um dem Fiskus Gelegenheit zu geben, periodisch immer wieder günstigere Bedingungen herauszuhandeln, und vielleicht auch, damit die Steuerpächter die Bevölkerung nicht unbegrenzt schröpfen konnten. 771 Als vierten Hebel zur Erhöhung der Staatseinnahmen neben der Münzverschlechterung, der Ausweitung der Binnenzölle und dem Ausbau der Staatsmonopoie nutzte der Zar Umstrukturierungen im eigentlichen Steuerwesen. Anfangs beschränkte er sich dabei auf Maßnahmen mit relativ bescheidenem Wirkungsgrad, indem er etwa am 9.2.1704 verordnete, eine Steuer auf häusliche Dampfbäder einzuführen, die elf Monate später für arme Leute wieder gesenkt wurde, oder indem er per Dekret vom 16.1.1705 eine nach Einkommensklassen gestaffelte Bartsteuer erhob. Großkaufleute mußten fortan für ihren Bart hundert Rubel pro Jahr zahlen, Adlige und Städter sechzig Rubel; Bauern durften ihren Bart im heimischen Dorf umsonst behalten, nur wenn sie unrasiert in der Stadt erschienen, verlangte der Staat von ihnen zwei Kopeken. 772 Was die nichtrussischen Völkerschaften betraf, so mußten Mordvinen, Cerernissen, Tataren und andere Nichtchristen Sonderabgaben entrichten, wenn sie Geburten, Hochzeiten oder Todesfälle nach ihren einheimischen Bräuchen begingen. Besonders hart waren die Baskiren von neuen Steuern betroffen, sie sollten sogar für ihre Augenfarbe bezahlen, nämlich jährlich zwei Altyn für schwarze Augen und acht Altyn für graue Augen. 773 Derartige Exzesse wurden von den Betroffenen als ungerecht empfunden und führten wiederholt zu Aufständen, welche die Verweigerung der Steuerzahlungen einschlossen. Numerisch gesehen blieb der Ertrag dieser Sonderabgaben gering, doch schufen sie bei den Betroffenen so viel böses Blut, daß ihre Einführung psychologisch als sehr ungeschickt gewertet werden muß. Hier zeigte sich einmal mehr, daß Zar Peter I. die Volksmeinung geringschätzte und selbstherrlich über sie hinwegging. Als im Jahre 1723 gleichzeitig der Feldzug nach Persien sowie die Versorgung weiter Teile der Bevölkerung während einer Hungersnot anstanden, verfügte der Zar, in derartigen Notzeiten müsse jeder Beamte einen Rubel Zusatzsteuer erbringen bzw. ein Viertel des Gehalts sollte einbehalten werden, und die Verpflegungsrationen der Offiziere seien zu halbieren. Diese Maßnahmen stellten jedoch nur ein vorübergehendes Notopfer dar. 774 Als Prinzip 770 771 772

773 774

PSZ IV, S. 172, 545, 666. Ebd., S. 230ff, 240ff, 258, 269, 442, 782; PSZ VI, S. 676. PSZ IV, S. 247, 28lff; PSZ V, S. 410. Spiridonova, Ekonomicekaja politika, S. 267. PSZ vrr, S. 22, 48f.

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lag ihnen der Gedanke zugrunde, relativ gut abgesicherte soziale Gruppen hätten in Krisensituationen die schwächeren Schichten der Bevölkerung mitzutragen. Im Kern war dies bereits die Idee der Solidargemeinschaft, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in großem Stil zunächst in Deutschland aufkam. Den ertragreichsten staatlichen Zugewinn bewirkte die Umstellung von der Hofsteuer auf die Kopfsteuer im Jahre 1724. Obwohl die Kopfsteuer damals infolge von Mißernten nur unvollständig eingetrieben werden konnte, machte sie doch im Etat von 1724 55,3 Prozent der Gesamteinnahmen aus, in absoluten Zahlen über vier Millionen Rubel. Mit der Einführung der Kopfsteuer verringerten sich die regionalen Unterschiede bei der Besteuerung. Noch 1723 waren die sibirischen Bauern etwa dop~lt so hoch veranlagt worden wie die Bauern in den russischen Kerngebieten. 75 Nachdem der Fiskus erstmals ganz erheblich von der Kopfsteuer profitiert hatte, schaffte der Zar am 6.11.1724 mit Wirkung zum Folgejahr einige Bagatellsteuern wieder ab, z. B. auf Bienenkörbe, auf bäuerliche Dampfbäder, auf Stiefelleim sowie eine Abgabe der Popen zum Kauf von Dragonerpferden für die Armee. 776 Damit bekundete er einerseits eine Tendenz zur Rationalisierung, andererseits wollte er dem Volk vielleicht eine Gefälligkeit erweisen etwa in der Art, wie man einem Kind einen Bonbon schenkt. Insgesamt bewegte sich der russische Absolutismus unter Peter I. mit der Anhebung der Staatseinnahmen im allgemein üblichen Verhaltensmuster, wie es auch sonst bei den europäischen Monarchien im 17. und 18. Jahrhundert auftrat, als der Verwaltungsapparat ausgebaut wurde und das stehende Heer große Geldsummen erforderte. In Frankreich und Österreich verdoppelte sich die Pro-Kopf-Besteuerung zwischen 1700 und 1718; im ärmeren Preußen stieg sie langsamer, nämlich zwischen 1688 und 1740 um etwa vierzig Prozent. 777 Rußland gehörte um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit zur Spitzengruppe der europäischen Lander, was die Erhöhung des Staatshaushalts betraf. Insgesamt stieg der russische Etat zwischen dem Beginn und dem Ende der Regierungstätigkeit Peters I. inflationsbereinigt grob gerechnet auf das Dreifache an; in absoluten Zahlen belief sich das Budget um 1690 auf 1,75 Millionen Rubel, 1701 waren es knapp 3 Millionen Rubel, 1710 bereits 3,8 Millionen Rubel und 1724 schließlich 8,5 Millionen Rubel bei einer Geldentwertung von fünfzig Prozent über den gesamten Zeitraum hinweg. 778 In diesen anspruchsvollen Etats drückte sich das Bestreben des Zaren aus, den Vorsprung der westeuropäischen Länder in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht möglichst aufzuholen. Für dieses Ziel war er bereit, einen erheblichen Konsumruckgang der einheimischen Bevölkerung in Kauf zu nehmen, Druzinin, Absoljutizm v Rossii, S. 303. PSZ VII S 358 777 De Buhr: Die E~tstehung des modemen Staates, s. 25f. 778 Waliszewski, Peter der Große, Bd. 11, S. 179f; Spiridonova, Ekonorniceskaja politika, S. 274f. 775

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womit er zwangsläufig Interessenskonflikte zwischen der Staatsspitze und den Massen provozierte, umso mehr, als er dem Volk nur selten die Zwecke seiner Regierung erläuterte, denn er hielt das Volk für dumm. Nachdem im ersten Jahrzehnt nach der Thronbesteigung des jungen Zaren noch kaum gesamtstaatliche Budgets erstellt worden waren, übernahm es die Nahe Kanzlei zwischen 1700 und 1710, einen Überblick über die Gesamtheit der staatlichen Einnahmen und Ausgaben zu gewinnen, wobei allerdings die Daten nur unvollständig zur Verfügung standen. 779 Aus dieser Zeitspanne liegen detaillierte Haushaltsabrechnungen für das Jahr 1704 vor. Damals wurden die Einnahmen mit 3,06 Millionen Rubel beziffert, wobei die direkten Steuern gut 1,3 Millionen Rubel ausmachten, während die indirekten Steuern, etwa Zölle auf Getreide, Schinken, Speck oder Tabak, Einkünfte aus der Verpachtung staatlicher Mühlen oder Fischfangrechte, ferner Abgaben auf Wappenpapier, dessen Benutzung für Gesuche vorgeschrieben war, 616 000 Rubel betrugen. Aus der Umprägung von Münzen gewann der Staat die hohe Summe von 974 000 Rubeln, allerdings stellte dies keine echte Wertschöpfung dar und begünstigte die Inflation. Aus Wechseln standen dem Fiskus 160 000 Rubel zu, diese bargeldlose Zahlungsweise war also auch schon bis nach Rußland vorgedrungen. Die Ausgabenseite des Etats belief sich im Jahre 1704 insgesamt auf 3,5 Millionen Rubel, doch trat damals noch kein Haushaltsdefizit auf, weil der Staat aus früheren Jahren über Rücklagen in Höhe von 3,26 Millionen Rubel verfügte. Ein Prozent des Etats von 1704, also eher wenig, kam der Zarenfamilie direkt zugute; dieser Haushaltsposten war als erster vermerkt, wohl um zu verdeutlichen, daß die Ansprüche des Herrschers Vorrang genossen. Für die Hofhaltung des Zaren, d. h. für Bewirtung, Gebäudeunterhaltung, Pferde usw., wurden weitere 116000 Rubel ausgegeben oder 3,3 Prozent des Gesamtetats. Aus den spärlich bemessenen Zuwendungen an die russischorthodoxe Kirche in Höhe von insgesamt 27 000 Rubeln ging die Hälfte an Wohlfahrtseinrichtungen wie Armenhäuser, Spitäler etc.; ein Viertel durften Kirchen und Klöster verbrauchen; das restliche Viertel oder 0,17 Prozent des Etats verblieb dem Patriarchatsverweser, so daß sich seine gesunkene Machtstellung auch finanziell sehr deutlich ausdrückte. Der Patriarch von Jerusalern hingegen erhielt etwa dreimal so viel Geld aus Rußland wie der russische Exarch; diese Mittel dienten quasi als Bestechung, damit der Zar im Bedarfsfall mit der Unterstützung seiner Politik aus Jerusalem rechnen konnte. Der weitaus größte Posten der Haushaltsmittel, nämlich rund 2,2 Millionen Rubel, wurde für die Streitkräften reserviert; dabei entfielen etwa neun Zehntel auf das Heer und ein Zehntel auf die Flotte. Ganz präzise lassen sich die Relationen hier nicht benennen, weil die Offiziersgehälter für alle Waffengattungen zusammengefaßt aufgeführt waren. Zusätzlich unterstützte der Zar seinen Bündnispartner Polen mit Subsidien in Höhe von 366 000 Rubeln, so daß insgesamt 2,566 Millionen Rubel oder gut siebzig Prozent des Etats militärischen Zwecken zugeführt wurden. August der Starke von Polen bat Peter I. in einem 779

Troickij, Finansovaja politika, S. 19.

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Memorial vom 11.11.1705 darum, die Hilfsgelder bar auszuzahlen statt sie in Wechseln anzuweisen, "weil der Verlust bei Wechseln hoch ist"; die russischen Wechsel waren also nur teilweise gedeckt, da ihnen ein entsprechender Gegenwert an Waren fehlte. 780 Innerhalb des russischen Militärhaushalts von 1704 belief sich der Posten für Gehaltszahlungen an ausländische Offiziere nur auf circa ein Prozent; von daher sollte ihr quantitativer Beitrag zur russischen Armee nicht überschätzt werden. Unter den zivilen Einzeletats erhielt der diplomatische Dienst im Jahre 1704 75 ()()() Rubel. Zur die Förderung der einheimischen Wirtschaft waren 59 ()()() Rubel oder 1,7 Prozent veranschlagt, also eine eher geringe Summe. Für monetäre Operationen wurden 307 ()()() Rubel verbraucht, wobei der Aufkauf von Silber am teuersten kam. Den Zentralämtern flossen lediglich 12 ()()() Rubel zu. 11 ()()() Rubel kosteten Arzneien. Im Bildungsbereich wurde der Spottbetrag von 3 786 Rubeln ausgegeben, also rund 0,1 Prozent des Gesamtetats. Darunter lagen nur noch die Mittel für die Post, die 2 267 Rubel betrugen. Men'sikov erhielt für die Verwaltung Ingermanlands 35 ()()() Rubel, also etwa genauso viel, wie für den Privatetat der Zarenfamilie veranschlagt war. Ferner vergab der Staat Darlehen, z. B. an die Verkäufer von Wappenpapier, in Höhe von 100 ()()() Rubeln. Sonstige Etatposten beliefen sich auf 22 600 Rubel, darunter fielen unter anderem die Kosten für die ErrichtunJj eines Triumphbogens sowie für die Schaffung einer Komödie am Hofe. 7 Bei der Revision des Staatshaushalts für das Jahr 1710 ergab sich, daß die Einnahmeseite 3,33 Millionen Rubel erbracht hatte, während die Ausgabenseite um rund 500 ()()() Rubel höher lag. Damals traten bereits Defizite im Etat auf, denn die Rücklagen aus früheren Zeiten waren verbraucht worden, in erster Linie zum Zwecke der Kriegsführung. Von den 3,83 Millionen Rubeln an Staatsausgaben für 1710 entfielen drei Millionen Rubel auf die Streitkräfte, im einzelnen 2 566 ()()() Rubel auf das Heer und 434 ()()() Rubel auf die Flotte. 782 Damit war der Militäretat auf 78 Prozent des Gesamtetats angewachsen. Offenbar wollte der Zar nach den Siegen über die Schweden bei Lesnaja und Poltava die gerade gewonnene Position der Stärke ausbauen und keine Rückschläge riskieren. Was die Relation der Finanzmittel zwischen Heer und Flotte betraf, so hatten die Seestreitkräfte mit einem Anteil von 14,4 Prozent am militärischen Etat des Jahres 1710 gegenüber zehn Prozent im Jahre 1704 ihre Position verbessern können. Das Budget aus dem letzten Jahr der Herrschaft Peters I. wies auf der Einnahmeseite bereits 8,5 Millionen Rubel aus. Den weitaus größten Posten bildeten dabei die direkten Steuern, nämlich Kopfsteuer plus Jasak mit einem Ertrag von 4,7 Millionen Rubeln oder 55,3 Prozent der Einkünfte. Unter den indirekten Steuern erbrachten die Binnenzölle 1,2 Millionen Rubel oder 13,5 Prozent der Einnahmen, während aus dem staatlichen Branntwein- und Salzmonopol 900 ()()() bzw. 700 ()()() Rubel erwirtschaftet wurden, d. h. 11,4 bzw. 780 781 782 16*

Pib III, S. 484. Lebedev, Refonny Petra I, S. 59ff. Knjaz'kov, Ocerki, S. 278; Duffy, Russia's Military Way, S. 36.

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8,2 Prozent der Einnahmen. Verglichen mit dem Stand von 1704 hatte sich somit der Anteil der direkten Steuern am Gesamtsteuerautkommen um circa 15 Prozent erhöht; der Fiskus bereicherte sich also rationeller und weniger umständlich, was als finanzpolitischer Fortschritt gewertet werden kann. Ein weiteres Positivum bestand darin, daß sich die Gewinne aus dem Münzregal im Jahre 1724 mit 217 000 Rubeln oder 2,7 Prozent der Einkünfte im Rahmen hielten, da die inflationsträchtige Münzumprägung zurückgegangen war. Aus der Verpachtung von Staatseigentum wurden 220 000 Rubel eingenommen. Durch die Außenhandelszölle gewann der Fiskus 150 000 Rubel. Einnahmen aus Wechseln waren im letzten Budget unter Peter I. im Unterschied zum Jahre 1704 nicht mehr verzeichnet, so daß sich insofern ein seriöseres Wirtschaften abzeichnete. 783 Unter den Staatsausgaben des Jahres 1725, auf die hier zurückgegriffen wird, weil sie vollständiger vorliegen als die Daten für 1724, nahmen die Kosten für die Streitkräfte wiederum den ersten Rang ein. Bei einem Budget von insgesamt 9,1 Millionen Rubeln ließ der Fiskus 5,1 Millionen Rubel dem Heer und 1,4 Millionen Rubel der Flotte zukommen. Damit belief sich der Militäretat auf 71 Prozent des Gesamthaushalts und war verglichen mit dem Jahre 1710 anteilmäßig um sieben Prozent gesunken. Diese Entwicklung wurde möglich, weil der Zar seine Eroberungspolitik inzwischen beendet hatte. Die finanziellen Proportionen innerhalb der Streitkräfte hatten sich noch einmal zugunsten der Flotte verschoben, der jetzt über 20 Prozent des Militärbudgets zuflossen gegenüber 14,4 Prozent im Jahre 1710. Bemerkenswert erscheint, daß innerhalb der Kosten für das Heer 245 000 Rubel allein schon der Leibgarde des Zaren vorbehalten waren; sie wurde also aus Sicherheitsgründen überproportional bedacht. Die Leibgarde zeigte sich dem Herrscherhaus gegenüber für diese Bevorzugung erkenntlich, indem sie nach dem Tode des Zaren den Machtwechsel zu Peters Frau Katharina I. unterstützte. Einen relativ hohen Etatposten erhielt das Kollegium für auswärtige Angelegenheiten mit 743000 Rubeln. Diese Summe lag anteilmäßig am Gesamtetat etwa zehnmal höher als noch 1704, denn inzwischen unterhielt Rußland ständige diplomatische Vertretungen in allen wichtigeren europäischen Staaten. Die Ausgaben für die übrige Zentralverwaltung sowie für die Administration auf Gouvernementsebene beliefen sich auf 675 000 Rubel, wo 1704 für die Prikaze lediglich 12 000 Rubel veranschlagt worden waren. Dieser beträchtliche Finanzzuwachs für Verwaltungszwecke war das auffälligste Merkmal im Etat von 1725. Für den Synod wurden keine eigenen Mittel festgesetzt, um seinen Handlungsspielraum einzuengen. Die Klöster und Bistümer erhielten 109 000 Rubel. Ausgaben für die Wohlfahrt erschienen nicht mehr separat, sondern waren anscheinend in dieser Summe bereits enthalten. Für den Bedarf des Zarenhofes wurden rund 350 000 Rubel angewiesen, also nominell etwa zehnmal mehr als im Jahre 1704, dabei erschienen neuerdings die Mittel für die Herrscherfamilie nicht mehr getrennt von den Kosten der sonstigen Hofhaltung, so daß sich der Zarin größere Dispositionsfreiheiten für ihre privaten 783

Troickij, Finansovaja politika, S. 214.

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Belange eröffneten. Die staatliche Wirtschaftsförderung belief sich im Jahre 1725 auf rund 700 000 Rubel, dabei waren unter anderem Gelder für den Walfang im Nördlichen Eismeer sowie für den Bau staatlicher Manufakturen vorgesehen. Für medizinische Zwecke standen damals 25 000 Rubel zur Verfügung; hauptsächlich profitierten davon die Streitkräfte. Im Bildungsbereich gingen 25 000 Rubel an die Akademie der Wissenschaften und 22 500 Rubel an die Meeresakademie; zusammengenommen waren das etwa 0,5 Prozent des Budgets, also wiederum ein Minimalbetrag. 784 Insgesamt wurde das Militärwesen in der Finanzpolitik des russischen Absolutismus unter Peter I. mit maximal fast vier Fünfteln aller Steuergelder sehr reichlich bedacht, während für soziale Zwecke wie Gesundheit, Armenfürsorge und Volksbildung fast nichts übrigblieb. Auch die Mittelzuteilungen an die russisch-orthodoxe Kirche wurden bewußt knapp gehalten im Sinne der Ausschaltung einer unliebsamen Konkurrenz. Auf die staatliche Wirtschaftsförderung entfielen am Ende der Herrschaft Peters I. immerhin schon fast acht Prozent des Budgets, darin kam der Wille des Herrschers zur Modernisierung im ökonomischen Bereich klar zum Ausdruck. Ebenso erhöhten sich die Ausgaben für die Zentral verwaltung einschließlich der Diplomatie. Daß Peter I. überhaupt gesamtstaatliche Haushalte aufstellen ließ, bedeutete bereits einen Fortschritt, da auf diese Weise Übersicht und Planung verbessert werden konnten und die Finanzpolitik rationalere Züge erhielt. Rationalisierungstendenzen zeigten sich während der Regierungstätigkeit Peters I. auch bei der Umgestaltung der Finanzbehörden. Einen ersten positiven Schritt brachte hier die Städtereform vom Januar 1699, als die fiskalischen Kompetenzen von dreizehn Zentralämtern in den Händen der Bürgermeister und des ihnen unterstellten Beamtenapparats zusammengefaßt wurden. 785 Was die Gouvemementsebene der Finanzverwaltung betraf, so erfolgte die Steuereintreibung dort teilweise chaotisch. Viele Abrechnungen fehlten oder waren gezinkt, und es kam häufig zu Unterschlagungen. Klarere Verhältnisse schufen dann ab 1719 die detaillierten Instruktionen für den Kamerier, den ländlichen Kommissar und den Schatzmeister, von denen bereits die Rede war. Mit der Einrichtung der Kollegien im Jahre 1718 hätte sich dem Zaren theoretisch die Möglichkeit geboten, eine einheitliche Zentralbehörde für die Finanzangelegenheiten des Reiches zu schaffen, so wie es etwa in Österreich die Hofkammer oder in Preußen ab 1722 das Generaldirektorium darstellten. Wenn sich Peter I. trotzdem nur zu einer halbherzigen Zentralisierung entschloß, indem er zwar einerseits die Zersplitterung der fmanziellen Kompetenzen auf die rund dreißig bis dahin noch existierenden Prikaze beendete, andererseits jedoch drei getrennte Finanzverwaltungen neu einrichtete, nämlich das Kammerkollegium für die Einkünfte, das Staatskontor für die Ausgaben und das Revisionskollegium für die Überprüfung in bei den Bereichen, so wirkte sich hier vermutlich sein begründetes Mißtrauen gegenüber der Beamtenschaft aus. Die vielen Korruptionsaffären veranlaßten den Zaren, 784 785

Ebd., S. 224. Ebd., S. 18.

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eine Dreiteilung mit gegenseitigen Kontrollmöglichkeiten im Finanzwesen vorzuziehen. Gleichzeitig wollte er wohl auch verhindern, daß ein einzelnes Kollegium eine beherrschende und zu Mißbräuchen verlockende Stellung erhielt, gerade weil er sich dessen bewußt war, welche tragende Rolle dem Geld in der Politik zukommt. Mit der Einführung der Kopfsteuer wurde dieser größte Etatposten direkt dem Kriegskollegium zugeteilt, das aus der neuen Einnahmequelle den Bedarf der Armee an Sold, Proviant, Waffen, Befestigungsbauten etc. zu decken hatte. Analog dazu ging ein Teil der Zolleinnahmen, Schenkengelder und Kanzleiabgaben unmittelbar an die Admiralität, die damit Schiffe baute und unterhielt sowie die Mannschaften bezahlte. 786 In diesem Verhalten des Zaren spiegelte sich die Absicht wider, die Streitkräfte als Haupthebel seiner Macht in jedem Fall ausreichend zu versorgen. Das staatliche Münzregal wurde praktischerweise vom BergkolleA;ium mitverwaltet, da dort auch die Rohstoffe für die Münzprägung anfielen. 7 Insgesamt müßte man also für die Schlußphase der Regierung Peters I. von einer Sechsteilung der Kompetenzen im Finanzbereich auf gesamtstaatlicher Ebene sprechen. Negativ an dieser Aufspaltung erscheinen die so verursachten höheren Personalkosten; positiv könnte man verrnu:en, daß sich die einzelnen mit Finanzproblemen befaßten Behörden in ihrem Bereich jeweils leichter einen Überblick verschaffen konnten als dies einer Marnmutinstitution möglich gewesen wäre. Es scheint, als sei es den russischen Beamten leichter gefallen, die Ausgaben zu projektieren als die Einnahmen tatsächlich zusarnmenzubekommen. Entsprechend erging zunächst am 12.2.1719 das Reglement für das Staatskontor. Es bestand personell aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten, zwei Staatskommissaren, zwei Sekretären, zwei Kamerieren und einer Reihe von Unterbeamten. Jeder von ihnen leistete den Teueid auf den Zaren und wurde zudem noch einmal ausdrücklich darauf verpflichtet, niemandem unbefugt Gelder zu überlassen und sich nicht privat zu bereichern. Statt dessen durften sämtliche Ausgaben nur gemäß einem unterschriebenen Etatplan oder auf schriftlichen Einzelbefehl des Zaren getätigt werden, soweit es sich um Sonderzahlungen handelte. Als Hauptaufgabe sollte das Staatskontor getrennte Haushaltstitel für folgende vierzehn Einzeletats aufstellen: Hofstaat, Kollegien, Gerichtswesen, Leibgarde, Reiterei, Artillerie, Festungsbau, Generalstab, Admiralität, Gouvernements aufgeteilt nach Provinzen, Kirche einschließlich Bildung und Wohlfahrt, Staatsbauten, Medizin und Diplomatie. Wieviel Geld der Zar für sich persönlich aus dem Haushalt abzweigte, blieb ihm selbst überlassen und wurde zum Staatsgeheimnis erklärt: "Dabei entscheidet Seine Majestät selbst, wieviel Seine Majestät für Seine privaten Ausgaben zu nehmen beliebt. Und da es sich für niemanden ziemt, die geheimen Kabinettsausgaben Seiner Majestät zu kennen, deshalb gelangen diese Gelder nicht in die Hofkasse, sondern werden einem Diener übergeben, dem Seine Majestät zu vertrauen beliebt, und dann erhält allein Seine Majestät Rechenschaft über 786 787

Ebd., S. 23. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 570.

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diese Gelder." Peter I. beanspruchte für sich keinen besonderen Luxus; dennoch blieb die Aufforderung zur Selbstbedienung des Monarchen aus der Staatskasse problematisch, wenn sie auch dem absolutistischen Denken entsprach, daß nämlich der Herrscher niemandem Rechenschaft schulde. Im übrigen fällt auf, daß die meisten Haushaltstitel wiederum den Streitkräften zugute kamen. Die Etatrnittel der einzelnen Provinzen durften gegeneinander verschoben werden, so daß reichere Regionen ärmere partiell mitfmanzierten. Damit b0ten sich zwar bessere Möglichkeiten für eine gezielte staatliche Wirtschaftsförderung, doch sank der Anreiz für die einzelne Provinz, möglichst hohe Einnahmen zu erzielen, da sie dann einiges davon wieder abgeben mußte. Zur Vorlage im Senat und für den Zaren sollte das Staatskontor jährlich einen Generalextrakt des Haushaltsplans erstellen, wo auf jeweils einer Seite die Einnahmen und Ausgaben übersichtlich verzeichnet standen. Die Verzalmung mit den Gouvernements und Provinzen erfolgte in der Weise, daß den Gouverneuren und Voevoden jeweils bis Ende Januar eines jeden Jahres aus dem Staatskontor die zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel zur Kenntnis gegeben wurden, damit vor Ort entsprechend disponiert werden konnte. Umgekehrt sollten die Gouverneure fmanzielle Wünsche und Veränderungen aus ihrem Verwaltungsbereich dem Staatkontor bis zum 1. Oktober eines jeden Jahres zur Berücksichtigung zuleiten. Die Zahlungsanweisungen aus dem Staatskontor erfolgten großenteils unbar per Wechsel (veksel', assignacija); ihre Dekkung wies Lücken auf, wie es auch im bereits erwähnten Memorial Augusts des Starken vom November 1705 deutlich wurde. Im Notfall durften Kammerkollegium und Staatskontor gemeinsam dem Zaren die Aufnahme von Staatsanleihen vorschlagen, um einen defizitären Haushalt zu decken. 788 Anscheinend kannte B. H. Sumner diesen Passus aus der Gesetzgebunit Peters I. nicht, als er irrtümlich schrieb: "... no internalloans were floated". 7 Die Instruktion für das Karnrnerkollegium wurde zehn Monate später erlassen, am 11.12.1719. Da vom pünktlichen und vollständigen Eingang der Steuergeider und sonstigen Einkünfte viel abhing, war das Karnrnerkollegium vom Personalbestand her reichhaltiger ausgestattet als das Staatskontor. Zusätzlich zum Leitungsstab aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, Räten und Assessoren verfügte das Karnrnerkollegium noch über einen Inspektor für das Archivwesen, mehrere Vermessungsbeamte sowie Kommissare für die Lieferung von Proviant, Getreide und Tuchen an den Staat. An die Beamtentugend der im Karnrnerkollegium Beschäftigten wurden besonders hohe Anforderungen gestellt: als Mitarbeiter kamen dem Instruktionstext nach nur "kunstfertige, integere und würdige Personen" in Betracht, sie sollten bereits Erfahrungen im Rechnungswesen aufweisen und "einen guten Verstand" besitzen, ferner sollten sie "sich immer untadelig, fleißig, nüchtern und ehrlich verhalten". Der spezielle Hinweis auf die Nüchternheit läßt den Rückschluß

788 789

Ebd., S. 589f, 591 (Zitat), 592ff. Sumner, Peter the Great, S. 141.

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zu, daß sich auch ein Teil der VelWaltungsbeamten dem Trunk ergeben hatte, ähnlich wie der Alkoholismus in den Streitkräften weit verbreitet war. Das Kammerkollegium war für die Eintreibung der fixen und variablen Steuern zuständig. Ihm oblag die Auswahl bzw. Bestätigung der regionalen Kameriere, Landvennesser und ländlichen Kommissare. Es übelWachte die Verpachtung der Einkünfte aus den Staatmonopolen und bewahrte gut gesichert die Insignien des Reiches auf. Von sich aus durfte das Kammerkollegium keine Steuererhöhungen vornehmen, sondern hatte gegebenenfalls dem Senat entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Die Binnenzölle wurden vom Kammerkollegium velWaltet, während das Kommerzkollegium die Import- und Exportzölle eintrieb; beide Behörden sollten sich periodisch absprechen. Daneben war eine Zusammenarbeit mit dem Staatskontor vorgesehen, damit das Kammerkollegium stets auch über die Ausgabenseite des Etats informiert war, Deckungslücken rechtzeitig erkannte und soweit wie möglich Einsparungshinweise geben konnte. Die Kooperation mit dem Revisionskollegium sah so aus, daß, falls das Kammerkollegium den Verdacht hegte, bestimmte Steuerabrechnungen aus der mittleren VelWaltungsebene seien gefälscht, es dies der Revisionsbehörde umgehend mitteilen sollte. Die praktische Hauptarbeit des Kammerkollegiums bestand im Briefwechsel mit den Gouverneuren und Voevoden. Dabei sollte es den unteren Finanzorganen gen aue und einheitliche Muster für die Steuerabrechnung an die Hand geben, Berichte entgegennehmen oder notfalls anfordern, beratend tätig werden, wie die Provinzstatthalter das regionale Steueraufkommen z. B. durch Wiederbesiedlung verödeter Landflächen erhöhen könnten, auf die Respektierung lokaler Privilegien insbesondere im Baltikum achten sowie auf die Schonung der Waldbestände dringen, damit genügend Bäume mit festem Holz für den Schiffsbau zur Verfügung standen. Die Eintreibung der Steuern vor Ort erfolgte gemäß den Daten aus sogenannten Registrierungsbüchern (perepisnye knigi), wobei jedes Gouvernement, jede Provinz, jeder Kreis und jedes Dienstgut einzeln aufgeführt werden mußten. Ein Exemplar dieser SteuersollAufzeichnungen befand sich bei den örtlichen Finanzbehörden, während die Kopie dem Kammerkollegium vorlag, das dann die eingegangenen Summen auf Vollständigkeit zu kontrollieren hatte. Falls Gelder fehlten, mußten die lokalen Steuereintreiber das Defizit aus ihrer eigenen Tasche ersetzen. Bei Veruntreuung von Staatsvennögen drohte außerdem lebenslange Zwangsarbeit. 790 Insgesamt übernahm das Kammerkollegium eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit. Sein erster Präsident, Fürst Drnitrij Michajlovic Golicyn, fühlte sich zunächst überfordert und bat den Zaren, dieser möge dem Kollegium gestatten, die Arbeit gemäß dem neuen Reglement erst ab Beginn des Jahres 1721 und nicht, wie ursprünglich vorgesehen war, bereits ab 1720 aufzunehmen. Zur Begründung führte Golicyn an, es fehlten noch zahlreiche Daten zu den Einnahmen und Ausgaben und auch der Personal bestand seiner Behörde sei noch unvollständig. Abschließend schlug Golicyn vor, Offiziere der Garde 790

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 559ff, 567 (Zitat), 568f.

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sollten zu den Gouverneuren reisen, "damit sie den Anweisungen aus dem Kammerkollegium Gehorsam leisten und unverfälscht schicken, was gefordert werden wird, und die Offiziere sollen die Gouverneure dabei zu einer raschen Erledigung antreiben".791 Im Klartext hieß das, ohne den Druck von Seiten der Armee erschien eine geordnete Finanzverwaltung nicht gewährleistet, denn die Bereitschaft zur Kooperation mit der Zentrale war bei den mittleren und unteren Instanzen gering. Punkt 8 des Reglements zum Kammerkollegium vom 11.12.1719 enthielt einige Ausführungen zur Steuergerechtigkeit, einem heiklen Problem, das sonst in den fmanzpolitischen Edikten Peters I. kaum zur Sprache kam. Wörtlich hieß es: "Da jeder Staat auf der Welt die auferlegte Belastung nur dann tragen kann, wenn Wahrhaftigkeit, Gleichheit und Angemessenheit in den Abgaben und Ausgaben berücksichtigt werden, so soll das Kammerkollegium dies bei allen Steuereintreibungen wohl bedenken und mit großem fleiß und Sorgfalt darauf achten, daß 1) alle fIXen ländlichen Steuern entsprechend den Naturbedingungen der Provinz bestimmt werden im Einklang mit dem Verkaufserlös der Feldfrüchte und der übrigen Waren und gemäß anderen notwendigen Erwägungen und den gegebenen Umständen; 2) zwischen den Hohen und den Niedrigen, den Armen und den Reichen muß man die gebührende Proportion wahren, so daß niemand ungebührlich gegenüber dem anderen befreit oder beschwert wird. Denn wenn dies geschieht, verlassen die bedrückten Bedürftigen ihre Höfe und Äcker, und die staatlichen Einkünfte verringern sich mit der Zeit sehr, und die Klage der Armen lenkt den Zorn Gottes auf den ganzen Staat und besonders auf die Verursacher dieser Ungerechtigkeiten, die außerdem Seiner Majestät dem Zaren wegen so einer schlechten Haushaltung und dem daraus entstehenden Schaden Rechenschaft schulden; 3) auf die Speisen und Eßwaren darf keine überflüssige Steuer erhoben werden, damit die Ernährung für die Menschen nicht zu teuer wird und der Handel, die Manufakturen und das Kleingewerbe nicht abnehmen.,,792 Unter Steuergerechtigkeit wurde also verstanden, daß die Abgaben den unterschiedlichen Fruchtbarkeitsbedingungen verschiedener Gegenden entsprechen sollten, daß die ärmere Bevölkerung nicht ruiniert würde und daß die tägliche Nahrung erschwinglich blieb. Bei diesen Forderungen vermischten sich humanitäre Motive mit religiösen Aspekten sowie mit Erwägungen der Staatsräson, letzteres insofern, als dem Staat an einer florierenden Wirtschaft gelegen sein mußte, damit er nicht selbst längerfristig die Basis seiner Einkünfte schmälerte. In der Theorie hörten sich diese Absichten gut an. In der Praxis jedoch existierte keine gerechte, den jeweiligen Besitz- und Einkommensverhältnissen der unterschiedlichen sozialen Gruppierungen angepaßte Besteuerung, vielmehr wurde die bäuerliche und städtische Unterschicht ganz überproportional belastet, während der Adel sein altes Privileg der Steuerfreiheit bewahren konnte. Dem anonym eingegangenen Vorschlag, auch den Adel einer Besteuerung zu unterwerfen, und zwar in Höhe von zehn Prozent seiner 791 792

Ebd., S. 570. Ebd., S. 562.

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jährlichen Einkünfte, folgte Peter I. nicht. Vennutlich erschien es dem Zaren zu riskant, diese noch am ehesten staatstragende Schicht weiter zu brüskieren, nachdem er ihr schon die Dienstpflicht auferlegt hatte. Auch die Variante Pososkovs, eine Besteuerung entsprechend der bebauten Landfläche vorzunehmen, ähnlich wie es in Rußland bis 1678 geschehen war, kam nicht zum Tragen, obwohl dabei ännere Leute geschont worden wären. 793 Gegen dieses Verfahren sprach, daß es zahlreiche Detailkontrollen erfordert hätte und die Gesamtheit der Staatseinnahmen im Vorfeld schwerer abschätzbar geworden wäre. Infolge der harten steuerlichen Belastung und der hohen Abgaben an den Grundherm während der Regierungszeit Peters I. verließen eben doch viele Leibeigene ihre Höfe und flohen in eine ungewisse Zukunft, was aller Theorie zum Trotz auf eine faktische Überbeanspruchung der Unterschicht hindeutete. Zu Hungersnöten kam es ebenfalls, vor allem in den Jahren 1722 bis 1725, als die Ernten gering ausfielen. 794 So klafften Theorie und Praxis in der petrinisehen Finanzpolitik auseinander. Die richtigen Einsichten waren zwar vorhanden, doch erwies sich das Bestreben, dem Fiskus möglichst viel Geld zuzuführen, stärker als die Vernunft. Nur selten mahnte der Zar, die Staatseinkünfte seien "Volksgelder" (narodnye den'gi), beispielsweise in einem Edikt vom 7.3.1721 gegen korrupte Beamte; überwiegend hingegen suchte er die Ideologie durchzusetzen, als gehöre der Staat ihm und als wären die Steuereinnahmen das Eigentum des Herrschers, wie die stereotype Wendung "die Einkünfte Seiner Majestät" vielfach belegte. 795 Tieferreichende Skrupel bei der steuerlichen Ausbeutung des kleinen Mannes beunruhigten Peter I. nicht, denn er verdrängte sie nach dem Motto: "man kann auch ohne große Belastung der Bevölkerung Gelder eintreiben". 796 Den praktischen Beweis für diese These blieb der Zar allerdings schuldig. Überblicksartig lassen sich die Ergebnisse der petrinischen Finanzpolitik folgendermaßen zusammenfassen: Etwa seit dem Jahre 1700 veranlaßte der Zar die Aufstellung eines gesamtstaatlichen Etats. Damit verbesserten sich die Voraussetzungen für eine planmäßige Lenkung von Staat und Wirtschaft, das frühere "von-der-Hand-in-den-Mund-Leben" entfiel. Auf der Einnahmeseite herrschte insofern keine Steuergerechtigkeit, als die wenig begüterten Massen ganz überproportional stark belastet wurden, während die adlige Oberschicht der Tradition entsprechend steuerfrei blieb. Die Staatsausgaben orientierten sich kaum an den Bedürfnissen der Bevölkerung, sondern an den Präferenzen des Zaren, der die Steuermittel fast selbstverständlich als sein eigenes Geld betrachtete oder zumindest als etwas, über das er allein disponieren dürfe. Auf die Bereiche Bildung und Wohlfahrt entfiel zusammen nur etwa ein Prozent des Etats, also ein Kleckerbetrag. Der Löwenanteil der Gelder, in Spitzenzeiten bis zu 78 Prozent des Gesamthaushalts, kam dem Heer und der Flotte zu793 794 795 796

Ebd., S. 583; Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 20. Troickij, Finansovaja politika, S. 37. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 240, 559, 561, 563f, 565, 568. PSZ V, S. 493.

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gute; damit übertraf Rußland bei weitem die Militärausgaben in Frankreich unter Ludwig XlV., die rund die Hälfte des Etats ausmachten, sowie die preußischen Heeresausgaben, die unter Friedrich Wilhelm I. maximal auf zwei Drittel des Staatshaushalts anwuchsen. 797 Aus der Höhe der Rüstungsausgaben läßt sich ermessen, wie entschieden Zar Peter I. seinem Land eine Vormachtstellung in Europa erkämpfen wollte. Dieses Ziel war ihm wichtiger als das aktuelle Wohlergehen der Massen. Was die Organisation der Finanzbehörden betraf, so beschritt der russische Monarch hier einen Mittelweg zwischen der Zusammenfassung von ehemals stark zersplitterten Kompetenzen einerseits und einer vollständigen Zentralisierung andererseits. Gegen die BÜDdelung aller Finanzaufgaben in einer einzigen Institution sprach die langjährige Erfahrung mit Beamten, die Staatsgelder veruntreut hatten. Deshalb bevorzugte Peter I. eine Aufteilung der Kompetenzen im Bereich der Staatseinnahmen und -ausgaben auf sechs Kollegien, die sich in ihrer Amtsführung gegenseitig kontrollieren sollten. Ein analoges Strukturprinzip zeigte bereits die Gesamtheit der oberen Verwaltungsbehörden des Russischen Reiches, wo eine Machtbalance zwischen Senat, Kollegien und Prokuratur bestand. Innerhalb der Finanzverwaltung sollte insbesondere das Kammerkollegium eine erweiterte Transparenz bei der Übersicht über die Steuereinnahmen erzielen, indem es den unteren Instanzen genaue und standardisierte Muster für die Rechnungslegung vorschrieb. Der Prozeß der Steuereintreibung wurde rationalisiert, indem einige Bagatellabgaben wegfielen und der Anteil der direkten Steuern stieg. Eine weitere Rationalisierung bestand darin, daß früher vorhandene Unterschiede in der Besteuerung der einzelnen Gouvernements - etwa zwischen Sibirien und den zentralrussischen Regionen - einem stärker vereinheitlichten Steuersatz Platz machten. Ferner wurden ab 1724 die Hintersassen und Cholopen in derselben Höhe zur Kopfsteuer veranlagt wie das Gros der leibeigenen Bauern, was sowohl die Besteuerung vereinfachte als auch die Staatseinnahmen erneut anschwellen ließ. Als merkantilistischer Wesenszug in der russischen Finanzpolitik unter Peter I. zeigte sich das Bestreben, den Export von Edelmetallen in jedem Fall zu verhindern, um den eigenen Staatsschatz im internationalen Vergleich nicht zu schmälern. Für die einheimische Bevölkerung brachte die Finanzpolitik Peters I. erheblich steigende Lasten mit sich, indem sowohl das Steueraufkommen als auch die Binnenzölle erhöht wurden und die intensiv betriebene staatliche Münzverschlechterung zur Inflation führte. Die unteren Volksschichten litten dabei besonders durch den Anstieg der Brotpreise. Nur etwa ein Prozent des Staatshaushalts kamen der Bevölkerung direkt wieder zugute in Form von Ausgaben für Bildung, Medizin und Wohlfahrt; zusätzlich profiterten von den acht Prozent der Etatmittel, die zuletzt in die Wirtschaftsförderung flossen, noch einige Unternehmer und partiell ihre Arbeiter. Das Gros der Gelder wurde für das Militär verbraucht, für Kriege, die außer dem Zaren kaum jemand wollte. Diese Hintansetzung der Interessen des Volkes, wie sie sicb in der 797

Kunisch, Absolutismus, S. 84f.

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Gestaltung der Staatsfmanzen unter Peter I. äußerte, mußte die Entfremdung zwischen dem Monarchen und den Massen noch vertiefen. Der Lebensstandard des Durchschnittsrussen sank zu jener Zeit, eine Tatsache, die von der Sowjetforschung gern verschwiegen wurde.

XVIII. Staatliche Wirtschaftsförderung Unter den Vorgängern Peters I. griff der russische Staat wenig in die Wirtschaft ein. Wegen der Immobilität großer Teile der Bevölkerung durch die Schollenbindung, wegen des schlechten Zustandes der Straßen und der weiten Entfernungen zwischen den einzelnen Siedlungen war die Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Regionen des Landes bis ins 17. Jahrhundert hinein noch wenig entwickelt. Statt dessen dominierte die Selbstversorgung; die Bauern betätigten sich oft zugleich auch handwerklich, und die städtische Mittelschicht betrieb in der Regel nebenbei eine eigene kleine Landwirtschaft mit Gartenbau und Viehzucht für den häuslichen Bedarf. Der russische Bergbau war unterentwickelt. Technologische Übernahmen aus dem Westen erfolgten hauptsächlich im Bereich der Kriegswaffen und insbesondere der Artillerie, da die russische Regierung hier den Anschluß halten mußte, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, militärisch zu unterliegen. Die ökonomische Lenkungstätigkeit des Staates beschränkte sich auf einige Vorgaben für den Handel. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurden Export und Import zum Staatsmonopol erklärt. Am 22.4.1667 erging ein "Neues Handelsstatut" , das die einheimischen Kaufleute entsprechend deren kollektiv eingereichten Bittschriften gegen die ausländische Konkurrenz schützen sollte. Den Unternehmern aus England, Holland und Deutschland wurde der Handel im Inneren Rußlands sowie jeglicher Kleinhandel verboten; sie mußten ihre Geschäftsbeziehungen auf die Grenzstädte beschränken und waren zeitlich an Jabnnärkte gebunden. Die Zolltarife wurden für ganz Rußland vereinheitlicht und betrugen meistens fünf Kopeken pro Rubel Warenwert, bei Salz das Doppelte, für Pelze und Fisch galten Sondertarife. Ferner kündigte die russische Regierung im Neuen Handelsstatut an, sie wolle einen eigenen Prikaz für Angelegenheiten der Kaufmannschaft einrichten; allerdings wurde dieses Projekt nicht verwirklicht. Fünf Jahre später schaffte der Zar Aleksej Michajlovic ebenfalls im Interesse der einheimischen Kaufleute alle Zoll- und Handelsprivilegien der Kirche ab, weitere fünf Jahre danach strich sein Sohn Zar Fedor Alekseevic bis dahin bestehende Handelsvorteile des Adels. 798 Während der ersten zehn Jahre seiner Herrschaft zielten die wirtschaftspolitischen Maßnahmen Peters I. stärker darauf ab, die Staatseinnahmen zu erhöhen als die einheimische Produktion und den Handel zu fördern. Relativ einfallslos belegte der Zar immer neue Warenkategorien mit Binnenzöllen: im Oktober 1689 zunächst den russischen Eisenhandei, der bis dahin abgabenfrei gewesen war; ebenso wurde ab Juni 1690 für den Holzhandel im Lande Zoll 798 H.-J. Torke, Das Moskauer Reich im 17. Jahrhundert, in: Zemack (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 11, S. l00f, 154.

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XVllI. Staatliche Wirtschafts fOrderung

verlangt; im Juli und im November 1691 stieg der Zoll für Salz und Fische; seit November und Dezember 1691 mußten Abgaben auf den Handel mit Getreide und Vieh gezahlt werden; seit Mai 1693 wurde Zoll auf Wachs erhoben, und ferner unterlagen nun alle Güter, die von oder nach Sibirien transportiert wurden, der Besteuerung, sofern ihr Warenwert fünfzig Rubel überstieg. 799 Über die Zolleinnahmen sollte genau Buch geführt werden. Bei Schwarzhandel drohte die Konfiszierung der Waren. Die Handelsrouten von Sibirien nach Moskau waren fest vorgegeben, damit dem Fiskus keine Einnahmen verlorengingen. 800 Alle diese Maßnahmen waren nicht geeignet, die Wirtschaft anzukurbeln, sondern behinderten sie kurzsichtig zugunsten aktueller Finanzinteressen des Staates. Zudem verteuerten sie verbraucherfeindlich wichtige Güter des täglichen Bedarfs für die Konsumenten. Positiv hingegen konnten sich auf Produktion und Handel einige andere Entscheidungen des Zaren aus der Frühphase seiner Herrschaft auswirken, obwohl sie zunächst allerdings nur punktuell ergingen. So ließ Peter I. im Sommer 1693 einen Postweg von Moskau nach Archangel'sk einrichten, nachdem vorher bereits eine regelmäßige Postverbindung zwischen Moskau und Vilnius bestanden hatte. Die Eisenwerke in Tula erhielten seit Januar 1692 Staatsa~fträge zur Versorgung der Armee und konnten mit gesichterten Abnahmemengen zu Festpreisen rechnen. Im Januar 1694 wurde russischen Großhändlern der Vorkauf und Weiterverkauf im Detail zu überhöhten Preisen auf den Moskauer Märkten verboten, wovon die Endverbraucher profitierten. SOl In defizitären Wirtschaftsbereichen durften Ausländer tätig werden, so erhielten etwa einzelne Unternehmer die Konzession zum Betrieb einer Sägemühle, durften Holz und Tabak aus Rußland exportieren oder nach Erzen schürfen und sie schmelzen. Konzessionen dieser Art waren in der Regel auf fünf, sieben oder zehn Jahre befristet, damit der Staat nach einiger Zeit entweder mit dem alten Lizenznehmer günstigere Bedingungen aushandeln oder einheimische Bewerber bevorzugen konnte. s02 Teilweise standen diese Privilegien für Ausländer im Kontrast zu den Interessen der russischen Wirtschaft, z. B. wenn zwei Holländer im Januar 1699 die Erlaubnis erhielten, gegen die übliche Zoll zahlung zwölf Jahre lang Schafswolle aus Rußland zu exportieren, während gleichzeitig Wolltuche teuer importiert wurden. Russische Schuldner waren zudem per Gesetz gehalten, zunächst ihre Außenstände bei ihren Gläubigem aus Westeuropa zu begleichen, bevor sie Einheimische auszahlten. S03 Diese Verfügung belegt, daß die ausländischen Kaufleute um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eine relativ starke Position auf dem russischen Markt innehatten, da sie beliebte Luxuswaren wie Seide, feine Wollstoffe, Spirituosen und Zucker ins Land brachten. PosoSkovs Agitation gegen die Bereicherungsmethoden westeuropäischer Händler wies in dieselbe Richtung. 799

PSZ III, S. 4, 69, 98, 111, 120, 157, 161, 186.

SOl

Ebd., S. 124, 158, 17l. Ebd., S. 112, 204, 268, 447ff, 452f. Ebd., S. 92, 595.

soo Ebd., S. 123, 156f, 206, 267.

S02 803

XVIll. Staatliche Wirtschafts förderung

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Obwohl Rußland ein Agrarstaat war, kümmerte sich Peter I. kaum um die Entwicklung der Landwirtschaft. Dies äußerte sich unter anderem darin, daß er kein Kollegium für den Agrarsektor einrichtete und die dörfliche Verwaltung unangetastet ließ. Vermutlich scheute sich der Zar, dirigistisch in die Domäne des russischen Adels vorzudringen und damit zusätzlichen Ärger zu provozieren. Soweit Peter I. doch bemüht war, etwa den Anbau bis dahin vernachlässigter Kulturen wie Leinen, Hanf oder Tabak auszuweiten, blieb den entsprechenden Verordnungen die Breitenwirksarnkeit versagt. Einen gewissen Fortschritt brachten dagegen die Förderung der Schafzucht sowie die produktivitätssteigernde Umstellung der Erntetechnik von Sicheln auf Sensen, wobei der Zar im zweiten Fall den Bauern ein eigenes Urteilsvermögen absprach und herablassend meinte, sie müßten aufgrund ihrer Starrköpfigkeit zu allen nützlichen Neuerungen gezwungen werden. Viel stärker als die Landwirtschaft förderte der Zar die einheimische Industrie. Er erkannte richtig, daß Rußland über bedeutende Rohstoffreserven verfügte, und bemühte sich um deren Erschließung. Was den Bergbau betraf, so verfügte Peter I. bereits am 10.6.1697, in der Umgebung der sibirischen Orte Tobolsk und Verchotur sei es jedermann gestattet, nach Erzen zu schürfen. Im August 1700 wurde ein Zentralamt für Bergwerke gegründet. Drei Monate später erging ein Edikt, daß jeder, der Erze fand, Proben davon nach Moskau in den Bergwerksprikaz zu senden hatte, damit sie dort auf ihre Qualität überprüft würden; gleichzeitig wurde die Verheimlichung neu entdeckter Erzvorkommen unter Strafe gestellt. 804 Die "Vedomosti", die erste gedruckte russische Zeitschrift, enthielten für den Februar 1703 die Mitteilung, im Gebiet von Oloneck am Ostufer des Ladogasees sei man auf reiche Kupfervorkommen gestoßen und nördöstlich des Urals würden Schwefel, Vitriol und Alaun abgebaut. Im August desselben Jahres meldete die Zeitschrift: "Auf Befehl Seiner Majestät des Zaren werden hier alle möglichen Dinge erfolgreich durchgeführt, nämlich die Metalle und Mineralien, die im Staatsgebiet vorkommen, wurden für ganz ausgezeichnet befunden, und es entstanden viele ergiebige Gruben, weshalb befohlen wurde, ausländische Bergwerksmeister ins Land zu rufen, und man stellt auch Angehörige der russischen Nation ein, die sich darauf verstehen.,,805 Ferner wurden während der Regierungszeit Peters I. am Ural ergiebige Eisen- und Silbervorkommen erschlossen sowie am Dnepr, am Don und bei Voronez Steinkohle gefördert. 806 Ein anschauliches Bild davon, wie Zar Peter I. den Bergbau und das Hüttenwesen in Rußland ankurbelte, vermittelt das sogenannte Bergprivileg, das im Reglement des Bergkollegiums vom 10.12.1719 enthalten war. Dort hieß es einleitend: "Unser russischer Staat verfügt vor vielen anderen Ländern reichlich über nützliche Metalle und Mineralien und ist mit ihnen gesegnet, ohne daß sie bis jetzt fleißig gefördert wurden; umso weniger werden sie genutzt, wie es sich gehört, so daß der große Gewinn, den Wir und Unsere Un804 PSZ m, S. 325; PSZ IV, S. 75, 79f. 805 Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 38f. 806 PSZ VI, S. 796; Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 80, 148.

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XVID. Staatliche Wirtschaftsförderung

tertanen davon ziehen könnten, mißachtet wird." Diese Lage sollte sich ändern, indem grundsätzlich allen Einwohnern Rußlands unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Rang erlaubt wurde, nach Metallen und Mineralien zu schürfen. Dies durften sie sowohl auf ihrem eigenen Besitz tun als auch auf dem Grund und Boden anderer Leute sowie auf Staatsland. Im einzelnen wurden folgende Bodenschätze zum Abbau freigegeben: Gold, Silber, Kupfer, Blei, Zinn, Eisen, Schwefel, Salpeter, Vitriol, Alaun und Färbemittel. Entdeckte jemand Funde dieser Art, so mußte er eine Probe davon ans Bergkollegium schicken. Stellte sich die Probe als ergiebig heraus, erhielt der Finder eine Fläche von je 532,5 Metern in der Länge und Breite zu eigen und durfte dort schürfen. Ein Zehntel des Gewinns ging dabei an die Staatskasse; weitere 32 Prozent standen dem ursprünglichen Eigentümer des Bodens zu, sofern auf Privatland gegraben wurde. Ein wichtiger Anreiz zur Förderung der Bodenschätze bestand noch darin, daß die Bergwerksmeister vom Heeresdienst und von den normalerweise anfallenden Steuerzahlungen befreit waren, da sie dem Staat bereits auf andere Weise Vorteile einbrachten. So sollte "der Gottessegen nicht unnütz unter der Erde bleiben". Im übrigen behielt sich der Staat ein Vorkaufsrecht auf alle privat geförderten Bodenschätze vor, ohne sich auf feste Preise einzulassen, doch "werden Unsere treuen Untertanen einen direkten und ausreichenden Gewinn haben". Als weiteres Kriterium der Preisbildung hieß es dann, die staatlichen Aufkaufstellen sollten das Geschäft "ohne Verlust" tätigen, so daß den Staatsorganen auf jeden Fall ein Hintertürchen offenblieb, um vom Fleiß der Schürfer zu profitieren. 807 Am 23.1.1720 erweiterte der Zar die Geltung des Bergprivilegs auf Ausländer aller Nationen, wobei die Abführung eines Zehntels vom Gewinn an den Fiskus sowie das staatliche Vorkaufsrecht für die geförderten Erze analog gehandhabt wurd en. 808 Diese attraktiven Privilegien erzielten die erhoffte Wirkung: der russische Bergbau gelangte zu einer ersten Blüte, und insbesondere die Eisenproduktion stieg beträchtlich. Während Rußland gegen Ende des 17. Jahrhunderts noch von schwedischen Eisenirnporten abhing, deckte es seinen diesbezüglichen Bedarf zu Anfang des 18. Jahrhunderts bereits aus einheimischer Förderung. Diese Autarkie war auch dringend nötig geworden, seit man auf schwedische Lieferungen wegen der Gegnerschaft im Nordischen Krieg nicht mehr rechnen konnte. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts erhöhte sich die russische Roheisenherstellung auf das Fünffache bis Sechsfache, nämlich von 150 000 Pud (2 458 Tonnen) im Jahre 1700 auf 815000 Pud (13 350 Tonnen) im Jahre 1725, wobei anfangs Staatsbetriebe vorherrschten, am Ende aber mehr als sechzig Prozent der Hüttenwerke Privatleuten gehörten. Hier zeigte sich ein Trend, der auch sonst in der Industriepolitik Peters I. zum Ausdruck kam: der Staat gab die Initialzündung, doch sobald ein Unternehmen oder ein Wirtschaftszweig florierte, wurden die Betriebe nach Möglichkeit privaten Besitzern übereignet, um den Staat zu entlasten. Der durchschnittliche Jahresaus807 808

PSZ V, S. 760 (Zitat); 76lf (Zitate). Lebedev, Reformy Petra I, S. 31.

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stoß pro Hüttenwerk der russischen Eisenindustrie blieb im selben Zeitraum mit etwa 1 ()()(} Pud (16,38 Tonnen) Roheisen im wesentlichen konstant. Dies läßt darauf schließen, daß die einmal eingeführte Technologie kaum weiter verbessert wurde. 809 Hinter diesen Erfolgsziffern verbargen sich auch manche Schwierigkeiten. So berichtete der russische Wissenschaftler Vasilij Nikitic Tatiscev, den Peter I. von 1720 bis 1723 mit der Leitung der Eisenindustrie im Ural betraute, an das Bergkollegium, der Bedarf an Wasser und Kohle für die Verhüttung sei teilweise kaum zu decken, die Produktion erfolge unregelmäßig, die zwangs verpflichteten Arbeitskräfte zeigten Widerwillen, es komme zu Überfällen seitens der nichtrussischen Völkerschaften, wobei Hochöfen beschädigt worden seien, ausgetrocknete oder zugefrorene Aüsse machten den Transport zum Problem und die Binnenzölle verteuerten ihn. 810 Vom verstärkten Abbau der Bodenschätze profitierte das russische Müozwesen insofern, als es auf erweiterte Vorräte an Silber und Kupfer zurückgreifen konnte. Daneben kam die Förderung von Eisen, Blei, Schwefel und Salpeter dem Waffenbedarf der Armee zugute. Die größten Waffen- und Munitionsfabriken des Landes waren das Petersburger Arsenal, ferner Werke in Sestroreck, Tula und der Umgebung von Moskau. Auch bei der Entwicklung der russischen Leichtindustrie erwies sich die Versorgung von Heer und Aotte vielfach als treibende Kraft. So entstanden zur Belieferung der Streitkräfte mit den unter Peter I. als Neuerung eingeführten Uniformen während des Nordischen Krieges insgesamt vierzig Textilmanufakturen, von denen sich die meisten in Moskau befanden. Der Schiffsbau florierte auf den staatlichen Werften von St. Petersburg, Voronez, Taranrog und Archangel'sk. In Moskau wurde eine große Segeltuchfabrik gegründet, die dem Adrniralitätskollegium unterstand. Die Herstellung von Schiffstauen nahm zu. Die Lederverarbeitung produzierte für den Bedarf der Armee Sättel, Zaumzeug und Soldatenstiefel. Für den Absatz im zivilen Sektor entstanden in geringerem Umfang Glaswerke, Papiermühlen, Zuckerfabriken, Apotheken sowie Hut-, Strurnpf-, Seiden- und Gobelinmanufakturen. 811 Ähnlich wie bei der Schwerindustrie war der Zar auch im Konsumgüterbereich bestrebt, ursprünglich staatliche Betriebe an Privatleute abzugeben, beispielsweise wurde am 20.2.1711 ein Leinen-, Tischtuch- und Serviettenwerk, das früher dem Botschaftsprikaz unterstand, zu dessen Entlastung an einheimische Unternehmer verkauft. Sie mußten dafür 6 ()()(} Rubel bezahlen, die der Staat bereits in diese Manufaktur investiert hatte. Ferner erhielten sie die Auflage, die Produktion zu vermehren, andernfalls sollte jeder der neuen Eigentümer 1 ()()(} Rubel Strafe zahlen. Die Preisbildung beim Verkauf der Leinenwaren konnten die Betreiber der Manufaktur selbst bestimmen. 812 Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 44. Grau, Tatiscev, S. 31, 34. 811 PSZ IV, S. 177; PSZ V, S. 545, 554; PSZ VI, S. 124, 196f, 369f, 380, 412; P. G. Ljubomirov, Ocerki po istorii russkoj promyslennosti xvn, xvm i nacala XIX veka. Moskva 1947, S. 26ff; Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 8. 812 Lebedev, Reformy Petra I, S. 2lf. 809

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17 Helmert

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Insgesamt entstanden unter Peter I. rund 200 neue Manufakturen, darunter 86 Staatsbetriebe. Soweit es sich um Privatbetriebe handelte, gehörten sie in erster Linie Kaufleuten, in zweiter Linie Adligen. 813 Indem sich der russische Adel nicht stärker industriell engagierte, bewies er eine überwiegend konservative Grundhaltung. Unter den neu eingerichteten Großbetrieben dominierte die Rüstungsproduktion in Form von Werften, metallverarbeitenden Betrieben, Pulverfabriken etc. Bl4 Die russische Regierung förderte das Manufakturwesen mit einer Reihe attraktiver Privilegien. Ein Edikt vom 17.1.1721 stellte Fabrikbesitzer generell vom Militärdienst frei, für ihre wichtigsten Mitarbeiter verschob sich die Dienstpflicht um anderthalb Jahre seit Betriebsgründung. Am folgenden Tag wurde allen Eigentümern größerer Werke der Zukauf von nahe gelegenen Dörfern gestattet, damit sie auf diese Weise den Bedarf an Arbeitskräften decken konnten. Bl5 Das Reglement für das Manufakturkollegium vom 3.12.1723 übertrug dieser Behörde die Oberaufsicht über alle Industriebetriebe des Landes. Der Präsident des Kollegiums oder von ihm Beauftragte sollten die Manufakturen zwei- bis dreimal jährlich besichtigen und die Behebung eventuell vorhandener Mängel veranlassen. Auf Befehl des Zaren war das Manufakturkollegium gehalten, "zum Nutzen des Allgemeinwohls und des Bedarfs der Untertanen ... verschiedene Manufakturen und Fabriken einzurichten, wie sie in anderen Staaten vorhanden sind ... und besonders solche, für die man die Rohstoffe im Russischen Reich fmden oder ohne Verlust importieren und hier verbreiten kann". In dieser Anweisung zeigte sich einerseits das Bestreben, es den übrigen europäischen Ländern hinsichtlich der Vielfalt der Produktion gleichzutun, was nicht zuletzt als Prestigefrage erschien, indem es hieß, "die Produkte könnten den russischen Manufakturen und Fabriken Ruhm einbringen"; andererseits äußerte sich hier praktisches ökonomisches Denken, da die einheimischen Rohstoffe nicht ungenutzt bleiben sollten. Dem ganzen Volk war bekanntzugeben, daß prinzipiell jeder, unabhängig von seinem gesellschaftlichen Rang, eine Manufaktur gründen dürfe; einschränkend wurde dann aber hinzugefügt, das Kollegium habe die eingereichten Projekte zu prüfen und dabei "das Vermögen und die Würde" des Bewerbers zu berücksichtigen, so daß faktisch ärmere Interessenten nur in Ausnahmef:illen zum Zuge kamen. Zwischen den Unternehmen sollte freie Konkurrenz herrschen. Die Preisbildung war ins Belieben der Betreiber gestellt. Hinsichtlich der Privilegien wurden die Bestimmungen vom Januar 1721 dahingehend erweitert, daß Fabrikbesitzer samt ihren Söhnen und sonstigen engen Mitarbeitern keinen Militärdienst ableisten mußten. Außerdem genossen sie in der Aufbauphase des Betriebes Steuerfreiheit und waren für einige Jahre beim Kauf der benötigten Rohstoffe sowie beim Verkauf ihrer eigenen FertigproSpiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 86, 111. A. Fenster, Adel und Ökonomie im· vorindustriellen Rußland. Die untemehmerische Betätigung der Gutsbesitzer in der großgewerblichen Wirtschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1983, S. 31. B15 PSZ VI, S. 31lf. 813

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dukte von Zollzahlungen ausgenommen. Soweit für die Gründung eines Betriebes ein höherer Kapitalaufwand erforderlich war, sollten Kompagnien aus mehreren Eigentümern gebildet werden. Notfalls durfte auch das Manufakturkollegium mit Krediten aushelfen, jedoch nur mit Wissen des Senats. Staatsbetriebe, die sich in gutem Zustand befanden, sollten privatisiert werden. Mit Genehmigung des Manufakturkollegiums war es den Manukfakturbesitzern wiederum gestattet, zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs Dörfer zu kaufen, die dann allerdings nicht mehr getrennt vom Werk weiterverkauft werden durften, um Spekulationen zu unterbinden. Ausländische Meister sollten in größerem Umfang angeworben werden, wobei günstige Bedingungen lockten: freie Eimeise, freie Ausreise samt dem erworbenen Vermögen, zollfreier Import von Werkzeugen, zollfreier Verkauf der hergestellten Produkte für einige Jahre, Steuerfreiheit, die Stellung einer Wohnung, gegebenenfalls staatliche Darlehen. Als Gegenleistung hatten die ausländischen Meister Russen bis zur Perfektion auszubilden. 816 Diese Weitreichenden Privilegien für Ausländer verdeutlichten indirekt, daß der petrinische Staat in manchen Produktionszweigen notwendig auf westliches technologisches Wissen angewiesen war. Was die Arbeitsbedingungen innerhalb der Bergwerke und Manufakturen betraf, so waren sie sehr anstrengend und dabei so dürftig bezahlt, daß überwiegend auf Zwangsarbeiter zurückgegriffen werden mußte, nämlich auf die Leibeigenen aus den zugekauften Dörfern, auf Strafgefangene, Soldaten oder aufgegriffene Vagabunden. Frei ausgehandelte Beschäftigungsverhältnisse waren selten. Im Unterschied zu den Besitzern der Industriebetriebe genossen die Fabrikbauern keinerlei Steuervorteile. Wenn sie nebenbei ihre Äcker pflügen wollten, um ihre Familie und sich selbst besser zu ernähren und das Geld für die Steuer aufzubringen, liefen sie Gefahr, daß die Fabrikaufseher sie umbarmherzig auspeitschten, wie entsprechende Beschwerden beim Bergkollegium zeigten. Der Zar griff nur selten zugunsten der Arbeiter in diese belastenden Verhältnisse ein. Per Edikt vom 5.2.1720 verbot er lediglich den Abschluß kurzfristiger Arbeitsverträge von unter einem Jahr, damit die Produktion durch den häufigen Wechsel der Beschäftigten keinen Schaden nehme. 817 Es kam dem Herrscher also mehr auf die Fertigungsergebnisse an als auf die Lebensbedingungen der Produzenten; die Menschen waren ihm utilitaristisch nur Mittel zum Zweck. In den größten russischen Fabriken aus dem Bereich der Tuch- und Waffenherstellung arbeiteten damals bis zu 1 150 Personen pro Werk, doch in der Regel waren die Betriebe kleiner.8\8 Den russischen Handel förderte Peter I. weniger als die Industrie. Wie bereits dargestellt wurde, behinderte er ihn teilweise durch die Einführung zusätzlicher Binnenzölle. Positiv entstanden vereinzelt neue Jahrmärkte, z. B. in der Ukraine, wo Händler aus ganz Rußland ihre Waren gegen die Zahlung ei-

PSZ VII, S. 167, 168f (Zitate), 169ff. PSZ VI. S. 126; Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 41, 118f. 818 I. M. Tugan-Baranovskij, Russkaja fabrika v pros10m i v nastojascem. SPb 1900, Bd. I. S. 11. 816

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nes fünfprozentigen Zolls anbieten konnten. 819 Bemerkenswert erscheint, daß der Staat hier nur eine gemäßigte Abgabe verlangte. Auch das Reglement für den Hauptmagistrat vom 16.1.1721 enthielt die Bestimmung, die oberste Instanz der Stadtverwaltung solle gemeinsam mit dem Kammer- und Kommerzkollegium für die Vermehrung der Jahrmärkte sorgen. Zur Anknüpfung weiterer Geschäftskontakte zugunsten von Produktion und Handel wurde durch dasselbe Edikt verfügt, in den Hafenstädten und sonstigen großen Handelsknotenpunkten seien nach ausländischem Vorbild Börsen (birZi) einzurichten, bei denen Nachrichten über Warenströme zusammentrafen und Wechselgeschäfte getätigt wurden. Die Leitung dieser Börsen übertrug der Staat sogenannten Handelsmaklern aus den Reihen der russischen Kaufmannschaft, die von den örtlichen Magistraten bestellt wurden. 820 Soweit es um Wechselgeschäfte ging, zeichneten sich also bereits Vorformen des Bankwesens ab; doch fehlte noch eine russische Staatsbank, analog etwa zur Bank von England, die 1694 gegründet worden war. Entsprechend dem Vorbild anderer absolutistischer Herrscher seiner Zeit verbesserte Peter I. die Infrastruktur des Reiches durch den systematischen Ausbau des Postwesens seit dem Jahre 1701 821 sowie durch die Anlage des neuen Hafens von St. Petersburg und den Bau von Kanälen. Die Erweiterung und Reparatur des Straßennetzes hingegen wurde weniger intensiv betrieben, vermutlich weil die Finanzrnittel nicht unbegrenzt zur Verfügung standen und weil dem Zaren die Notwendigkeit, hier verbessernd einzugreifen, erst spät bewußt wurde. Im Januar 1711 erging ein Edikt, daß Poststationen zwischen Moskau und St. Petersburg einzurichten seien. Am 12.9.1712 hieß es ausdrücklich, die Post diene nicht nur privaten und wirtschaftlichen Zwecken, sondern müsse auch aus Gründen der Kriegsführung erweitert werden, damit die militärischen Anweisungen des Zaren seine Generäle rascher erreichten. Gegen Ende der Herrschaft Peters I. war das gesamte russische Postnetz auf die beiden Zentralorte Moskau und St. Petersburg hin ausgerichtet. 822 Dank gezielter Fördermaßnahmen wie Handelsgebote, Verbote anderenorts und günstiger Zolltarife entwickelte sich der Petersburger Hafen zum Hauptumschlagplatz des russischen Exports und Imports. 823 Die ehrgeizigen Kanalbauprojekte des Zaren ließen sich zu seinen Lebzeiten nur teilweise verwirklichen. Ihre Bevorzugung gegenüber dem Straßenbau lag darin begründet, daß der Transport zu Wasser damals bequemer, schneller und billiger zu bewerkstelligen war als der Transport über Land. Zunächst wurde 1698 mit der Aushebung eines Kanals zwischen Don und Wolga in der Nähe von Caricyn begonnen, doch beendete der Nordische Krieg das Unternehmen, weil die Arbeitskräfte an der Front benötigt wurden. Fertiggestellt dagegen wurde im Jahre 1709 die wichtige Kanalverbindung zwischen der 819 820

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Lebedev, Reformy Petra I, S. 32f. PSZ VI, S. 300f. PSZ IV, S. 179, 185, 187. Ebd., S. 588, 864f; PSZ VI, S. 273. Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 60.

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Ostsee und dem Kaspischen Meer über die Teilstrecken Neva - Ladogasee Vo1chov - Ilmensee - Msta - Tverca - Wolga. Von diesem Wasserweg konnte insbesondere die Wirtschaft St. Petersburgs profitieren, indem sie einen günstigen Anschluß an Zentralrußland erhielt. Einige Abschnitte des neuen Kanals mußten nachgebessert werden, da sie sonst zu sehr versandet wären. Ab 1719 setzten die Arbeiten für ein weiteres Kanalbauprojekt zur Umgehung des stürmischen Ladogasees ein, das erst nach dem Tod des Zaren vollendet wurde. 824 Neben der Errichtung der neuen Hauptstadt stellte der Zar besonders bei diesen Kanalbauten einprägsam seine Macht und seinen Veränderungswillen unter Beweis, indem er wiederholt Zehntausende von Arbeitskräften gleichzeitig aufbot. Viele von ihnen starben überanstrengt und entkräftet an Epidemien, die sich umso leichter ausbreiten konnten, als Unterkünfte fehlten und an der Versorgung mit Nahrung und Medikamenten gespart wurde. Auch in diesem Fall setzte sich der Monarch zynisch über die Lebensbedürfnisse seiner Untertanen hinweg, für ihn zählte nur das Ergebnis ihrer erzwungenen Plackerei. Die außenwirtschaftlichen Beziehungen Rußlands entwickelten sich unter Peter I. günstig, da sie sich mengenmäßig vervierfachten und in eine aktive Handelsbilanz mündeten. 82S Ungefähr im Jahre 1721 oder 1722 vermerkte der Zar in seinem Notizbuch "unbearbeitete Dinge nicht exportieren",826 d. h. die einheimischen Rohstoffe sollten möglichst in Rußland selbst verarbeitet werden, da der Erlös für ausgeführte Rohmaterialien weit unter den Preisen für Fertigwaren lag. Einige Maßnahmen des Zaren zielten auf wirtschaftliche Autarkie ab, nämlich die verstärkte Förderung und Verarbeitung einheimischer Bodenschätze sowie die Importverbote für Strümpfe bzw. Zucker, die in den Jahren 1718 bzw. 1721 verhängt wurden, um die einheimische Fabrikation dieser Artikel, die sich gerade erst im Aufbau befand, protektionistisch gegen die ausländische Konkurrenz abzuschirmen. Analog sollte die Einfuhr von Leinentüchern gestoppt werden, sobald die einheimische Industrie die Binnennachfrage würde befriedigen können. Für defizitäre Luxuswaren wie Seide, Spiegel und Kristallgeschirr wurden in Rußland eigene Manufakturen geschaffen, um auch bei diesen Gütern von Importen unabhängiger zu werden und die vorhandenen Geldmittel im Inland zu behalten. 827 Protektionistische Tendenzen zeigten sich ebenfalls bei der Festsetzung neuer Außenhandelstarife durch das Kommerzkollegium und das Manufakturkollegium, die am 11.11.1723 verkündet wurden und ab Januar 1724 in Kraft traten. Besonders hoch wurden mit 37,5 Prozent diejenigen Importgüter verzollt, die in Rußland selbst bereits ausreichend vorhanden waren, um die Konsumenten zu veranlassen, die billigeren einheimischen Waren zu kaufen. Dies galt für Wachs, Kerzen, Nadeln, Stärke, Segeltuch, Servietten und gestreifte Wolltuche. Daneben wurden auch bestimmte Luxusprodukte wie SeidenstofSpiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 202ff. Surnner, Peter the Great, S. 150. 826 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 119. 827 PSZ V, S. 545ff; PSZ VI, S. 124,380. 824 825

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XVIll. Staatliche Wirtschafts förderung

fe, Brokate, Taft oder Litzen mit einer Abgabe von 37,5 Prozent belegt, einerseits im Sinne eines Schutzzolls, um die inländische Produktion während ihrer. Anfangsphase zu stärken, andererseits weil die Käufer derartiger Waren in der Regel wohlhabend genug waren, um etwas mehr zahlen zu können. Mittelhohe Zölle zwischen 20 und 12,5 Prozent des Warenwertes wurden für Hüte, Tüll, Stickgarn, weiche Baumwollstoffe, Papier und Pergament verlangt, weil der Produktionsausstoß des eigenen Landes den Bedarf in diesen Bereichen noch nicht decken konnte. Niedrige Zölle zwischen fünf und zwei Prozent galten für einfaches Ton- und Zinngeschirr, dessen Import nicht unnötig verteuert werden sollte, da es sich um notwendige Gebrauchsgüter handelte, ferner für Mützen sowie für bestimmte Knöpfe aus Messing oder Stoff, die es in Rußland nicht gab. Insgesamt fallt auf, wie sehr Textilwaren gehobener Qualität den russischen Import dominierten. Was die Exportzölle betraf, so erschienen in der Liste für 1724 fast nur Häute und Lederwaren, die unbearbeitet mit 37,5 Prozent Zoll belegt wurden, weiterverarbeitet jedoch lediglich geringe Abgaben zwischen fünf und zwei Prozent verursachten, so daß für die russischen Produzenten ein Anreiz bestand, die Häute im eigenen Land zu veredeln, um so Zölle zu sparen und höhere Preise zu erzielen. Auch auf Garne aller Art wurde der hohe Exportzoll von 37,5 Prozent erhoben, weil sie in den einheimischen Manufakturen gebraucht wurden. 828 Die Gestaltung der Außenwirtschaftsabgaben belegte, daß die vom Zaren ausgegebene Devise, Rohstoffe im eigenen Land zu verarbeiten, in der Praxis ernst genommen wurde. Gegen Ende der Regierungszeit Peters I. wurden rund 60 Prozent des russischen Außenhandels über St. Petersburg abgewickelt, das im Nordischen Krieg eroberte Riga folgte mit 35 Prozent, während Archangel'sk mit nur fünf Prozent das Schlußlicht darstellte. Der Import erreichte im Jahre 1726 einen Wert von 2, I Millionen Rubel, wobei Wollstoffe, feines Leinen und Seide den Hauptanteil ausmachten, gefolgt von Färbemitteln, Spirituosen, Zucker und Papier. Gleichzeitig lag der Wert des Exports mit 4,2 Millionen Rubeln doppelt so hoch wie der Import. Dabei gelangten neben Rohprodukten wie Hanf, Flachs und Eisen auch Fertigwaren außer Landes, vor allem Leinengewebe und Segeltuch. 829 Rußland wies also damals eine aktive Handelsbilanz auf, und zwar nicht nur knapp, sondern satt. Insofern zeitigte die Wirtschaftspolitik des Zaren einen guten Erfolg. Insgesamt hinterließ Peter I. seinem Land eine in mancher Hinsicht durch Staatseingriffe veränderte Wirtschaft. Für den Agrarsektor galt das weniger, wohl aber für den Bergbau und das Manufakturwesen, die beide erst unter der Herrschaft dieses Zaren einen größeren Aufschwung erlebten. Als wichtigster Nachfragefaktor und Motor der Produktion fungierten die Streitkräfte mit ihrem Bedarf an Waffen, Uniformen, Lederzeug und Schiffen, während der zivile Konsum erst an zweiter Stelle rangierte. Als bleibende Fortschritte im Infrastrukturbereich etablierte der Zar ein funktionierendes Postwesen und 828 829

Lcbcdev, Reforrny Petra I, S. 47ff. Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 60.

XVIII. Staatliche Wirtschaftsrorderung

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schuf mit der Kanalverbindung zwischen der Ostsee und dem Kaspischen Meer einen neuen, kühn konzipierten Transportweg quer durch das Land, der auch dem Handel mit Persien und Indien zugute kommen konnte. Was die technische Abwicklung des Wirtschaftsgeschehens anging, so stellten die Börsen hier eine wichtige Innovation dar, die den Anschluß an die Neuzeit erleichterten. Die ökomomische Diversifizierung nahm zu, regionale Schwerpunkte der Produktion bildeten sich heraus. Mit dem Bestreben, die einheimischen Rohstoffe möglichst im Lande selbst zu verarbeiten, ferner mit der Tendenz, bisher fehlende Produktionszweige zu ergänzen bis hin zur Autarkie als Idealvorstellung, mit protektionistischen Maßnahmen bei gleichzeitiger Übernahme modemen technischen Wissens aus dem Ausland, mit der Erweiterung der Verkehrswege und schließlich mit der Erzielung einer aktiven Handelsbilanz folgte der Zar den merkantilistischen Ideen Westeuropas, wie sie zeitgleich auch in anderen absolutistischen Staaten zum Tragen karnen. Wenn sich E. V. Spiridonova gegen Ende der Stalinära bemühte, diese Parallelen und Übernahmen zugunsten einer angeblich ganz eigenständigen russischen Politik herunterzuspielen, ohne dies jedoch faktenmäßig wirklich belegen zu können, so paßte sie sich damit nur opportunistisch dem stalinistischen Zeitgeist an, in dessen Rahmen seit Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts der Sowjetpatriotismus propagiert wurde. 830 Zu dieser neuen Denkrichtung, die den vorher proklamierten sozialistischen Internationalismus ablöste, gehörte es eben auch, die Besonderheiten Rußlands herauszustreichen. Das ökonomische Hauptanliegen Peters I. bestand darin, Rußland wirtschaftlich zur Großmacht umzugestalten und den vorgefundenen Entwicklungsrückstand der eigenen Nation aus einem patriotischen Antrieb heraus zu beseitigen. So waren auch die von ihm begonnenen Kriege wesentlich ökonomisch motiviert, indem sie Rußland den ersehnten Zugang zu eisfreien Häfen bringen sollten, sei es arn Schwarzen Meer im Hoheitsgebiet der Türken, sei es an der Ostsee, wo bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die Schweden eine Vormachtstellung innehatten. Für diesen Machtzuwachs des Vaterlandes vernachlässigte der Zar in seiner Wirtschaftspolitik eklatant die aktuellen Lebensbedürfnisse zahlreicher Menschen, nämlich der Bergleute, Manufakturarbeiter, Schiffs- und Kanalbauer sowie der Zwangsarbeiter bei der Errichtung St. Petersburgs, die er skrupellos für einen Hungerlohn hart schuften ließ und von denen er Tausende durch Unterversorgung in den Tod trieb. Analog verhielt es sich im Militärwesen, wo der einzelne ebenfalls zugunsten übergeordneter strategischer Zielsetzungen geopfert wurde. Zur Rechtfertigung hieß es dabei, die Absichten des Zaren würden dem "Ruhm" Rußlands, dem Allgemeinwohl oder dem staatlichen Nutzen dienen, wobei diese Zielwerte schwammige Begriffe darstellten und die Situation der Opfer dieser Politik um keinen Deut verbesserten.

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Spiridonova, Ekonomiceskaja politika, S. 6ff.

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xvm. Staatliche Wirtschafts fOrderung

Theoretisch hätte Zar Peter I. seine Wirtschaftspolitik - etwa im Sinne lurij Krizanics - eingängiger damit begründen können, daß er ein höheres Konsurnniveau und mehr Reichtum für die Bevölkerung anstrebe. Da diese Argumente nur sehr selten vorgetragen wurden - offiziell lediglich in der kurzen Dankrede des Zaren vom Oktober 1721 anläßlich der Verleihung des Imperatortitels -, muß man schlußfolgern, daß es dem russischen Monarchen auf eine Erhöhung des Lebensstandards seiner Untertanen kaum ankam. Statt dessen sah er sie instrumentalistisch als Dispositionsmasse zur VeIWirklichung herrscherlicher Verfügungen und erkannte ihnen den Eigenwert als Subjekte ab. Im Wertgefüge des Herrschers rangierte der Staat wieder einmal weit vor den Interessen der im Staat versammelten Menschen. Einige wesentliche Parallelen sprechen dafür, Peter I. in ökonomischer Hinsicht als Zieh vater losef Stalins aufzufassen, der seinerseits den Zaren hochschätzte und sich an ihm orientierte. Beide Politiker wollten den stärker entwickelten Westen einholen und nach Möglichkeit überholen, beide strebten für Rußland eine Vormachtstellung unter den Völkern an, beide förderten insbesondere die Schwerindustrie, beide hegten eine Vorliebe für Mammutprojekte, beide orientierten sich an der westlichen Technologie, beide muteten der Bevölkerung gewaltige Arbeitsleistungen bei spärlichem Konsum zu. Unterschiedlich war allerdings der Grad des Terrors in ihren Regierungsperioden, denn das 20. Jahrhundert bot hier technisch sehr viel mehr Möglichkeiten.

XIX. Bildung und Wissenschaft Das durchschnittliche Bildungsniveau der russischen Bevölkerung war vor und auch während der Epoche Peters I. denkbar gering, was die Modernisierungsbestrebungen des Zaren ernsthaft behinderte. Aus diesem Grund mußte der Staat bei der Neuordnung von Wirtschaft, Militär und Verwaltung häufig auf ausländische Fachkräfte zurückgreifen. Die Weitergabe des Wissens erfolgte überwiegend im Rahmen der Familie. So lernten die russischen Jungen von ihren Vätern einige landwirtschaftliche und handwerkliche Fertigkeiten, wie sie schon seit Generationen üblich waren, während die russischen Mädchen hauswirtschaftliche Handgriffe von ihren Müttern übernahmen. Technische Neuerungen hatten unter diesen Bedingungen nur sehr geringe Chancen, sich allgemein durchzusetzen. Für die weltanschauliche Formung war in erster Linie die orthodoxe Kirche zuständig. Konservativ-patriarchalische Geisteshaltungen herrschten vor. Die Welt erschien als von Gott geschaffen und so gewollt. Kinder schuldeten ihren Eltern Gehorsam, die Frau ihrem Ehemann, der Leibeigene seinem Grundherm, der Soldat dem Offizier, und alle Untertanen hatten die Anweisungen der Obrigkeit zu befolgen. Das hoch entwickelte Bildungsgut der Antike, das dem Individuum einen besonderen Stellenwert eingeräumt hatte und die Diesseitigkeit des Lebens bejaht hatte, war nicht bis nach Rußland vorgedrungen. Selbst die einheimischen Klöster entwickelten sich im Unterschied zu Westeuropa nicht so sehr zu Stätten der Kulturpflege als vielmehr zu Orten weitab gewandter Askese oder degenerierten zu Versorgungseinrichtungen, wo man relativ bequem überleben konnte. Schulen und Bibliotheken gab es wenige, Universitäten fehlten ganz. Entsprechend mangelte es an juristischem und medizinischem Wissen, und auch in technischer und philologischer Hinsicht klaffte eine breite Lücke zu den Verhältnissen in den westeuropäischen Ländern, wo Renaissance und Humanismus zu einem Aufschwung der Bildung geführt hatten und das Ausgreifen nach Übersee den Horizont erweitert hatte. Soziologisch wirkte sich hier die Schwäche des russischen Bürgertums aus, also deIjenigen Gesellschaftsschicht, die im wesentlichen den neuzeitlichen Bildungsprozeß in Westeuropa trug. Da auch Peter I. selbst nur über unsystematische Kenntnisse verfügte mit gravierenden Defiziten besonders im geistigen und sittlichen Horizont, fehlten dem Zaren die inneren Maßstäbe, nach denen er die Bildungssituation im Lande breitenwirksam zum Positiven hin hätte umgestalten können. So blieb sein bildungspolitisches Eingreifen zögerlich und beschränkte sich auf punktuelle Aktionen. Als Geste der Anpassung an die westeuropäischen Verhältnisse ordnete der Zar per Dekret vom 20.12.1699 zur Jahrhundertwende eine Kalenderreform

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XIX. Bildung und Wissenschaft

an, gemäß der die Jahre nicht mehr seit Anbeginn der Welt, sondern ab Christi Geburt gezählt wurden. Parallel dazu verschob sich der Neujahrstag vom 1. September auf den 1. Januar. Das Neujahrsfest 1700 sollte mit Freudenfeuern auf dem Roten Platz, mit Kanonenschüssen sowie mit Tannen- und Fichtenschmuck an den Haustüren begangen werden. Vermutlich als Konzession an die russisch-orthodoxe Kirche wurde die julianische Zeitrechnung beibehalten, so daß sich ein Rückstand von elf Tagen gegenüber dem Westen ergab. Die russische Geistlichkeit konnte - anders als beim Befehl zum Abschneiden der Bärte - gegen die Kalenderreform kaum protestieren, ohne in Gefahr zu geraten, die Stellung des Erlösers Jesus Christus zu schmälern, was ihr natürlich fernlag. Zudem begründete der Zar die Neuerung sorgfaItig unter anderem damit, daß der fortan geltende Stil der Zeitrechnung ebenso bei den orthodoxen Glaubensgenossen auf dem Balkan gebräuchlich sei, und beugte damit geschickt eventuellen Widerständen seitens des Klerus VOr. 831 Am 16.12.1702 erging ein Erlaß zur Herausgabe der ersten gedruckten russischen Zeitschrift, der "Vedomosti", deren voller Titel lautete: "Nachrichten über militärische und andere Geschehnisse, die sich im Moskauer Staat und in den umliegenden Ländern ereigneten und die der Kenntnisnahme und der Erinnerung wert sind". Zunächst erschien diese Zeitschrift in Moskau, später wurde St. Petersburg der Verlagsort. Die Erstausgabe datierte vom 2. Januar 1703. Ihrer Haupttendenz nach fungierten die "Vedomosti" als Sprachrohr der Regierung, indem sie deren militärische und wirtschaftliche Erfolge verkündeten, z. B. Siegesmeldungen von der Front brachten, für die russische Seite positive Ergebnisse diplomatischer Unterhandlungen meldeten, von der Ankunft ausländischer Handelsschiffe berichteten oder den Bau neuer Fabriken, Bergwerke und Kanäle mitteilten. Die Siegesnachricht von der Schlacht bei Poltava wurde sogar in demselben Wortlaut abgedruckt, den der Zar gewählt hatte, womit sich die Abhängigkeit der Zeitschrift vom Herrscher besonders deutlich manifestierte. Da hieß es: "Ich verkünde euch den sehr bedeutenden und ungewöhnlichen Sieg, den Gott der Herr Uns durch die unbeschreibliche Tapferkeit Unserer Soldaten zu schenken beliebte, wobei Unsere Truppen wenig Verluste zu beklagen hatten .... ", d. h. Gott, Zar und Volk wurden systemstabilisierend als Einheit dargestellt. Regierungskritische Äußerungen fehlten in den "Vedomosti" völlig. Der russisch-orthodoxen Kirche waren keinerlei Meldungen gewidmet, ein Zeichen dafür, daß der Zar sie als Konkurrenz zu seiner eigenen Macht empfand und deshalb ihre Artikulationsmöglichkeiten eindämmte. Kulturelle Nachrichten beschränkten sich auf die vereinzelte Nennung von Schülerzahlen sowie auf die Mitteilung, welche Bücher auf Befehl des Zaren gedruckt werden sollten. Für das Jahr 1710 waren dies Muster zum Verfassen von Briefen für verschiedene Gelegenheiten, was man als staatlichen Dirigismus auffassen kann, ferner einige westeuropäische Werke über Mathematik, Geographie, Architektur, Festungsbau, Erstürmungstaktik und Artilleriewesen, Geschichtsbücher über Alexander den Großen sowie den Trojanischen Krieg, Kalender und Manifeste der Verbündeten 831

Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 205f.

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im Nordischen Krieg. 832 Der Zar ließ also drucken, was seinen eigenen Interessensgebieten entsprach, wobei militärische Belange dominierten. Der weltliche Charakter der solcherart bevorzugten Literatur wurde durch die Einführung eines neuen, weniger verschnörkelten Schrifttyps im Januar 1710 unterstrichen. Seitdem erschien nur noch die religiöse Literatur in den herkömmlichen altkirchenslavischen Buchstaben. 833 Was die schulische Bildung betraf, so maß Peter I. ihr keinerlei Eigenwert im Sinne einer humanistisch verstandenen Bereicherung der Persönlichkeit zu, sondern sah sie utilitaristisch lediglich als Hilfsmittel zur Beschleunigung des ökonomischen und militärischen Aufschwungs im Lande. Die Staatsräson rangierte also auch hier analog zur Wirtschaftsförderung vor den Interessen des Individuums. An einem hohen Bildungsgrad zahlreicher Untertanen konnte dem Monarchen schon deshalb nicht gelegen sein, weil sie dann vermutlich aufgrund ihres Wissens Selbstbestimmungskompetenzen gefordert hätten. Deutlicher als alle anderen Indikatoren bezeugte die Finanzpolitik des Zaren, wie vorsichtig und zurückhaltend er bei der Höherqualifizierung seiner Untertanen verfuhr, denn er stellte nur ein Promille (1704) bzw. ein halbes Prozent (1725) des Gesamtetats für Bildungszwecke zur Verfügung, also lächerlich geringe Summen. Dem instrumentalistischen Charakter der Bildungspolitik Peters I. entsprach es, daß der Zar zunächst technische Spezial schulen mit sehr begrenzten Profilen einrichten ließ. So entstanden 1698 in Moskau eine Navigationsschule und eine Kriegsschule, ein Jahr später wurde dort eine Artillerieschule eröffnet. Im Januar 1701 gründete der Zar wiederum in Moskau eine weitere Artillerieschule sowie eine Mathematik- und Navigationsschule, wobei an der letztgenannten vornehmlich Lehrkräfte aus Schottland unterrichteten. Zeitgleich wurde beim Botschaftsprikaz eine Schule für Fremdsprachen geschaffen, um den gestiegenen Bedarf an Übersetzern zu decken. Es folgten 1707 eine erste medizinische Lehranstalt, die einem Moskauer Krankenhaus angeschlossen war, 1709 eine Ingenieurschule, 1712 noch eine Artillerieschule, 1715 die Marineakademie in St. Petersburg, 1716 ein Bergbauinstitut in 010neck, 1719 eine zweite Ingenieurschule in Petersburg, 1721 ein zweites Bergbauinstitut am Ural sowie erneut eine Artillerieschule. Gut die Hälfte der Lehranstalten diente also militärischen Zwecken. In allen technischen Schulen wurden Grundlagen der Arithmetik und Geometrie, technisches Zeichnen und zusätzlich die jeweiligen Spezialkenntnisse vermittelt. Die Schülerkontingente variierten zwischen rund zwanzig bis dreihundert Personen. Das Gros der Schüler entstammte dem Adel, der ja auch die meisten Offiziere stellte, doch wurden daneben auch Angehörige anderer Gesellschaftsschichten zugelassen.

832 Lebedev, Reforrny Petra I, S. 331, 332 (Zitat); Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 202ff. 833 Pib X, S. 27.

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Da sich nicht genug Freiwillige zum Unterricht meldeten, verfügte der Senat, weitere Schüler wie Rekruten zwangsweise auszuheben. 834 Der Zar begriff das Lernen an diesen höheren Fachschulen als eine Form des Staatsdienstes, dem sich die Schüler keinesfalls entziehen durften. Der Unterricht dauerte, von einer einstündigen Mittagspause unterbrochen, fast den ganzen Tag. Es herrschte militärische Disziplin nach dem Vorbild der Armee. Schon frühzeitig wurde im Jahre 1707 ein Strafsystem etabliert, demzufolge Schüler bei größeren Vergehen auf dem Schulhof von Soldaten vor den Augen ihrer Kameraden verprügelt werden sollten. Für einen unentschuldigten Fehltag mußte der Schüler fünf Rubel Strafe zahlen, für den zweiten Fehltag zehn Rubel, für den dritten und jeden weiteren versäumten Tag fünfzehn Rubel. Bis das Geld eingetrieben war, wurden Cholopen des Zöglings täglich am Schuldpranger mit Stockhieben auf die Beine traktiert oder auch der Schüler selbst, falls er keine Sklaven besaß. Die stellvertretende Züchtigung der Cholopen für das Fehlverhalten ihrer Herren war moralisch unvertretbar und belegte mit erschreckender Deutlichkeit den Sachcharakter, der dieser untersten Gesellschaftsschicht zugemessen wurde. Falls jemand aus der Navigationsschule entfloh, drohte ihm die Todesstrafe. Sofern Eltern beim Zaren um die Herausnahme ihres Sohnes aus der Schule nachsuchten, mußten sie mit ihrer Verurteilung zu Zwangsarbeit rechnen. In der Marineakademie stand während des Unterrichts in jeder Klasse ein Soldat, der unaufmerksame oder störende Schüler mit einer Reitpeitsche züchtigte, und zwar auch Jugendliche adliger Herkunft, damit Ruhe und Gehorsam einkehrten. Die materiellen Bedingungen an den Schulen lagen oft im Argen, z. B. fehlten Heizungen für den Winter, und nicht jeder Zögling besaß Schuhe. Für den Unterhalt der Lehrkräfte und die Verpflegung der Schüler kam der Staat auf. Ein freudiges Lernen war in diesen Anstalten kaum möglich. 835 Neben den eben beschriebenen höheren staatlichen Bildungseinrichtungen bestanden die Geistlichen Akademien von Kiev und Moskau weiter, die gegen Ende der Herrschaftsperiode Peters I. jeweils rund 500 Theologiestudenten ausbildeten. 836 Ferner existierte von 1703 bis 1711 ein Privatgymnasium für Söhne des Adels in Moskau, das der livländische Pastor Ernst Glück leitete, der ehemalige Ziehvater von Peters zweiter Frau Katharina. Diese Bildungsanstalt absolvierten insgesamt rund 240 Schüler, wobei der Unterricht in Deutsch und Latein im Vordergrund stand. Weitere Fächer waren Mathematik, Physik, Geographie, Reiten und Tanzen einschließlich der Unterweisung . B hmen. 837 10 gutem ene Zu einem kultivierten Verhalten zählten damals gemäß einem im Adel weit verbreiteten "Ehrenkodex für die Jugend" (Junosti cestnoe zercalo) folgende Details: der Heranwachsende sollte sich seinen Eltern gegenüber stets ehrer834 PSZ V, S. 70, 609; Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 210; Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 195f. 835 Knjaz'kov, Ocerki, S. 479, 484, 486f. 836 Cracraft, The Church Reform, S. 273. 837 Wittram., Peter 1., Bd. 11, S. 197.

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bietig zeigen, den Hut vor ihnen ziehen, sich erst nach ihnen hinsetzen, schnell auf ihr Rufen reagieren sowie Vater und Mutter mit "Herr" (gosudar') bzw. "Herrin" (gosudarynja) anreden und sie siezen, wobei sich strenge Überund Unterordnungs verhältnisse innerhalb der Familie andeuteten; eine weitere geforderte Tugend war die Höflichkeit, wie sie sich im Abnehmen des Hutes, im respektvollen Grüßen sowie in einer gemäßigten Wortwahl auszudrücken hatte; untereinander sollten die jungen Adligen häufig in einer Fremdsprache parlieren, um sich darin zu üben und um sich von der Dienerschaft abzugrenzen; ausspucken durfte man höchstens möglichst dezent zur Seite; in der Nase zu bohren war verpönt; die Hände sollten sauber, die Fingernägel kurz sein; zu einer gepflegten Eßkultur rechneten der Gebrauch von Messer und Gabel sowie von Servietten, Zurückhaltung beim Trinken, das Weiterreichen der Speisen, nachdem man sich selbst versorgt hatte, gerades Sitzen bei Tisch, schließlich das Vermeiden von Schmatzen und gierigem Herunterschlingen. Diese Sittenlehre war eine Zusammenstellung verschiedener Autorenbeiträge aus Westeuropa und zeugte von dem Bemühen der russischen Oberschicht, es den Ausländern an gutem Benehmen gleichzutun, damit man sich nicht blamierte. 838 Außerdem konnte sich der Adel auf diese Weise durch verfeinerte Sitten von den Unterschichten abheben. Solange die russischen gehobenen Bildungseinrichtungen noch im Aufbau begriffen waren, entsandte der Zar mehrfach - schwerpunktrnäßig 1697 und 1716 - Kontingente von jungen Adligen zum Studium ins westeuropäische Ausland nach Italien, Frankreich, Holland und England. Unter den zum Studium ausersehenen Personen befanden sich besonders viele Angehörige fürstlicher Familien, sozusagen die Elite der Nation. Als Bildungsinhalte bestimmte Peter I. neben der jeweiligen Landessprache Navigation und Schiffsbau, also für Rußland ganz defizitäre Wissensgebiete; vereinzelt gab es auch Medizinstudenten. Die Ausbildung erstreckte sich über mehrere Jahre. Ihre Reisekosten beglichen die Adligen in der Regel selbst, während der russische Staat für den dürftigen Unterhalt am Studienort aufkam. Ein Erlaß vom 7.9.1710 verbot den Eltern ausdrücklich, ihren im Ausland lebenden Söhnen Geldanweisungen zukommen zu lassen, erstens, um die russischen Finanzen zu schonen, und zweitens, damit die betreffenden Kinder nicht "in Freiheit leben und bummeln und wenig studieren". 839 Freiheit war für den Zaren also gleichbedeutend mit Nichtstun, er glaubte an die Antriebskraft des Zwanges. Einige der jungen Russen taten sich schwer in der Fremde. So schrieb Fürst Michail Golicyn im April 1711 aus Amsterdam, er lebe in großer Armut und bewältige die fremde Sprache nicht. Zudem habe er Probleme mit den lateinischen Fachausdrücken. Im praktischen Teil der Navigation sei seine Ausbildung auch nicht erfolgreich gewesen. Nun fürchte er "den schrecklichen Zorn" des Zaren. Der Adlige Ivan Ivanovic Nepljuev berichtete in seinen Erinnerungen ebenfalls von fmanziellen Engpässen. Ferner schilderte er, daß von den zwanzig Personen, die 1716 zum Auslandsstudium abkommandiert 838 839

Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 215f. Pib I, S. 117f; PSZ IV, S. 550 (Zitat), PSZ V, S. 201.

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worden waren, einer in dänische Dienste entwich, ein anderer im Kloster auf dem Berg Athos Zuflucht fand und ein dritter in Spanien durchdrehte, wo man ihn als Verrückten einsperrte. Die Kosten seines eigenen Studiums im Westen, das vier Jahre dauerte, bezifferte Nepljuev auf 1 000 Rubel, von denen 600 der Staat und 400 er selbst getragen habe. 840 Nepljuev wurde später russischer Botschafter in Konstantinopel, und auch für andere Männer aus dem Adel oder Hochadel zahlte sich die Ausbildungszeit in der Fremde aus, da sie hohe Posten in der Inlandsverwaltung oder im diplomatischen Dienst erhielten. 841 Das Auslandsstudium war gewissermaßen eine Luxusinvestition, die sich der Zar ja auch für seine eigene Person geleistet hatte. Die Praxis lehrte, daß der Unterricht in den gehobenen technischen Bildungseinrichtungen, die unter Peter I. entstanden, insofern auf Schwierigkeiten stieß, als den Schülern häufig elementare Grundkenntnisse fehlten. Um hier Abhilfe zu schaffen, bemühte sich der Zar nicht sehr energisch, aber doch wiederholt um die Einrichtung sogenannter Ziffernschulen für die Elementarbildung. Das erste Edikt zugunsten dieses Schultyps erging am 20.1.1714. Es wirkte flüchtig formuliert und lautete mit vollständigem Text: "In alle Gouvernements sollen einige Leute aus den Mathematikschulen geschickt werden, um die Kinder von Adligen aus den Zentralämtem, mit Ausnahme der Einhöfer, in Rechnen und Geometrie zu unterrichten, wobei als Strafe eingeführt wird, daß niemand heiraten darf, der nicht ausgelernt hat. Und deshalb werden die Erzbischöfe angewiesen, keine Trauzeugnisse ohne die Erlaubnis der Schulleiter auszustellen.,,842 Der Hauptzweck dieses Erlasses bestand darin, im Sinne einer Art Weitervererbung der Ämter von den Vätern auf die Söhne letztere besser für den Verwaltungsdienst zu qualifizieren. Mit Einhöfern waren die wenigen noch vorhandenen freien Bauern gemeint, die sozial eine Zwischenstellung zwischen Adel und Leibeigenen einnahmen; aus ihren Reihen sollte offenbar kein Beamtennachwuchs rekrutiert werden, vielleicht weil sie für einen Wohnungswechsel zu arm waren. Die Sanktionsdrohung mit dem Eheverbot belegt indirekt, daß der Zar mit Unlust und Widerstand seitens der Schüler rechnete. Die Kürze und die mangelnde Exaktheit des anfänglichen Erlasses machten Ausführungsbestimmungen erforderlich, die am 28.2.1714 ergingen. Nun wurde das Alter der Schüler auf zehn bis fünfzehn Jahre festgelegt. Neben Söhnen aus dem Adel ließ der Zar auch männliche Nachkommen von Sekretären und Untersekretären zum Schulbesuch zu und erweiterte damit die soziale Rekrutierungsbasis für die Grundschulbildung. Die Schulräume sollten in den Häusern der Erzbischöfe und in Klostergebäuden zur Verfügung gestellt werden, so daß die Kosten für Neubauten entfielen. Als Gehalt für die Lehrer waren täglich zehn Kopeken aus der Gouvermenentskasse vorgesehen oder rund 36 Rubel pro Jahr; das entsprach dem Einkommen eines Unterschreibers und 840 Lebedev, Reformy Petra I, S. 318 (Zitat); Zapiski Ivana Ivanovica Nepljueva, S. 5ff, 12, 17,77,94. 841 Pavlenko, Petr Velikij, S. 109f. 842 PSZ V, S. 78.

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belegte die geringe gesellschaftliche Wertigkeit des Lehrerberufs im damaligen Rußland. Von den Zöglingen der Ziffernschulen wurde kein Schulgeld verlangt, nur das Abschlußzeugnis, das sie zur Eheschließung berechtigte, kostete sie einen Rubel. Zu den Unterrichtsinhalten hieß es lakonisch, den Kindern sollten "Zahlen und ein gewisser Teil der Geometrie" beigebracht werden. Methodische Anweisungen fehlten völlig. 843 Zwei weitere Edikte vom 28.12.1715 bzw. vom 18.1.1716 bestimmten die Anzahl der Lehrkräfte genauer. In jedes Gouvernement sollten lediglich zwei Absolventen der sogenannten Admiralitätsschulen, die seit 1703 an wichtigen Häfen und Werftorten bestanden, entsandt werden. Angesichts des Bildungsdefizits im Lande war das ein Tropfen auf den heißen Stein. Als neuer Unterrichtsgegenstand wurde die Geographie erwähnt. Hinsichtlich der sozialen Herkunft der Schüler enthielten diese Verordnungen widersprüchliche Aussagen, indem es zunächst hieß, Kinder aus allen Ständen seien in die Schulen aufzunehmen, während dann wieder die Söhne Adliger vom Schulbesuch befreit waren. In den nachfolgenden Erlassen vom März und November 1719, vom April 1720 sowie vom Januar 1721 wiederholte Peter I.. partiell gemeinsam mit dem Senat die früheren Anweisungen und führte ergänzend eine Art Schulaufsicht auf Gouvernementsebene ein. Als neue Zielgruppe für die Beschulung erschienen Kinder der städtischen Handwerker und Kaufleute. Jedoch beschwerten sich deren Eltern kollektiv, daß ihre Söhne einen zu weiten Schulweg teilweise in andere Städte hätten, daß sie dort kasernenartig interniert würden und keine Gelegenheit mehr fänden, wie früher bei ihrem Vater die kaufmännische Tätigkeit zu erlernen, weshalb der Handel Schaden nehmen werde. Daraufhin entschloß sich der Zar, dieser Personengruppe den Schulbesuch ebenfalls freizustellen. Der Vorgang insgesamt beschreibt einen der wenigen Erfolge von Kollektivbittschriften unter Peter 1.; für das Militär hatte er derartige Sammeleingaben ausdrücklich verboten und unter Strafe 844 gestellt. Am 10.11.1721 wurde die Einrichtung einer Schule speziell für Unterdjaken verfügt, in der Rechnen, Tabellenführung und gewandter Briefstil geübt werden sollten. Zwei Dekrete vom Oktober und November 1722 bestimmten Kinder von Popen zum Schulbesuch bei den Amtssitzen der Erzbischöfe und nannten besonders die Arithmetik als Unterrichtsfach. Am 1.9.1723 wurde die zwangsweise Beschulung von fähigen Söhnen sonstiger Kirchenbediensteter verfügt. Anderthalb Monate später ordnete der Zar die Zusammenlegung der weltlichen Ziffernschule in Novgorod mit derjenigen im Haus des Erzbischofs an, wobei die Schule Interessenten aus allen Schichten offenstehen sollte. Aus dieser Rationalisierungsmaßnahme geht einmal mehr hervor, daß die Offerte des Schulbesuchs auf wenig Gegenliebe stieß, andersfalls hätten sich in Novgorod zwei Elementarschulen halten können. Interessanterweise wurde nun auch verboten, über fünfzehn Jahre alte Schüler aufzunehmen, damit sich

843 844

Ebd., S. 86; zur GehaItseinstufung vgl. Pib m, S. 184ff. PSZ V, S. 681, 751; PSZ VI, S. 187f, 289f.

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keine Ausweichmöglichkeit vor dem Militärdienst bot. 845 Gegen Ende der Regierungszeit Peters I. zeigte sich das magere Ergebnis der halbherzig betriebenen Schulpolitik: im riesigen Russischen Reich besuchten nur 2 000 Schüler weltliche Grundschulen, und weitere 2 500 Schüler wurden an den Diözesanschulen unterrichtet. Dies entsprach addiert einem Anteil von 0,03 Prozent an der Gesamtbevölkerung. 846 Was die inneren Verhältnissen in den russischen Elementarschulen betraf, so war der Lehrer bezeichnenderweise zur Aufrechterhaltung der Disziplin mit einer Peitsche ausgestattet. 847 Außerer Zwang sollte den Mangel an intrinsischer Motivation ersetzen, in der Schule ebenso wie im Staatswesen insgesamt. In einem solchen Klima der Angst konnte man mit guten Lernergebnissen nicht rechnen, doch derartige didaktische Überlegungen wurden im damaligen Rußland nicht angestellt. Interessante Einblicke in die staatlicherseits angestrebte geistig-sittliche Prägung der Schüler gestattet ein Primariesebuch mit dem Titel "Erster Unterricht für Jugendliche mit Buchstaben und Silben. Ebenso: kurze Auslegung der zehn Gebote, des Vaterunsers, der Symbole des Glaubens und der neun Seligkeiten". Feofan Prokopovic verfaßte es auf Wunsch des Zaren im Jahre 1720. Das Buch erreichte noch zu Lebzeiten Peters I. eine Auflagenstärke von 16000 Exemplaren, was für jene Zeit sehr viel war. Im Vorwort zu dieser Schrift, die sich formal an die protestantischen Katechismen anlehnte, schrieb Prokopovic, das moralische Verhalten eines Menschen hänge wesentlich von der Erziehung in seiner Jugend ab; deshalb müsse man den Kindern eine gute Ausbildung mit Leitlinien des Verhaltens vermitteln. Ganz parallel zu den Ansichten des Zaren trug der Autor dann die Auffassung vor, wahre Frömmigkeit zeige sich nicht im Fasten oder übertrieben häufigen Beten, sondern im Glauben an Gott sowie in einer gesetzestreuen Lebensführung. Im Hauptteil des Buches bestand der längste Abschnitt aus Kommentaren zum Vaterunser und zu den zehn Geboten. Dort hieß es zu der Bitte "Unser täglich Brot gib uns heute": "Gib uns, gnädiger Vater, alles, was wir für unseren Lebensunterhalt brauchen: heilsame Luft, Überfluß an Früchten der Erde und Deinen Segen für unsere Arbeit. Segne die Regierung. Schenke unserem hochgesegneten Herrscher Peter dem Großen, dem Kaiser und Selbstherrscher von ganz Rußland, seinem ganzen Hof und seiner Armee Gesundheit und ein langes Leben. Gib, daß die Bojaren treu ergeben sind. Erhalte alle höheren und niederen Beamten in Liebe und Eintracht.. .. ". Bemerkenswert erscheint hier die Akzentuierung der privaten Arbeitstätigkeit als Voraussetzung für das tägliche Brot. Ziemlich unvermittelt folgte dann die Darstellung des Zaren als des Gesegneten Gottes, wodurch Loyalität erzeugt werden sollte. Ganz offiziell ließ sich dieser Zar bereits zu Lebzeiten "der Große" nennen, den Beinamen erfand nicht etwa erst die Nachwelt. Den Kindern wurde als Ideal das PSZ VI, S. 451f, 781, 792f; PSZ VII, S. 105f, 133f. J. L. Black, Citizens for the Fatherland. Education, Educators, and Pedagogic Ideals in Eighteenth Century Russia. New York 1979, S. 35. 847 Ebd., S. 25. 845

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harmonistische Bild eines Staates vorgegaukelt, in dem die wichtigsten Machtorgane, nämlich Armee und Beamtenschaft, ferner die soziale Oberschicht bis hin zum kleinen Schüler selbst, der ja für den Zaren betete, geschlossen und treu hinter dem Regenten standen. Die tatsächlich vorhandenen sozialen Spannungen im Lande sollten so aus dem Bewußtsein verdrängt werden. In ähnlich herrschaftsstabilisierender Weise wurde das Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren" dahingehend interpretiert, daß Gott auch Gehorsam gegenüber allen sonstigen Autoritätspersonen verlange, in erster Linie gegenüber dem Zaren, den Gott selbst in die höchste Machtposition berufen habe. Prokopovic fuhr fort: "Es ist die Pflicht der Könige, ihre Untertanen zu schützen und zu erkunden, was für sie in religiösen und weltlichen Dingen das Beste ist. Deshalb müssen sie über alle kirchlichen, militärischen und zivilen Amtspersonen wachen, die ihnen unterstellt sind, und bewußt darauf achten, daß diese ihre jeweiligen Pflichten erfüllen. Nach Gott ist das die höchste väterliche Autorität; und die Untertanen müssen den Zaren wie gute Söhne ehren." Dieses Zitat enthielt gewissermaßen ein Kurzprogramm der absolutistischen Staatstheorie: der Zar thronte als Beauftragter und Stellvertreter Gottes hoch über den Untertanen und war mit allen nur denkbaren Kompetenzen ausgestattet, die bewußtseinstrübend nicht als Rechte, sondern als Pflichten deklariert wurden. Wie ein Vater sollte der Zar für die Untertanen sorgen. Sie wiederum schuldeten ihm Ehrerbietung mit derselben innerlichen Anteilnahme, wie sie Söhne üblicherweise ihrem Vater entgegenbringen. Über den äußerlichen Gehorsam hinaus wurde also eine seelische Bindung an den Herrscher propagiert, ähnlich wie Prokopovic in seinen Predigten den verinnerlichten Gehorsam aus Gewissensgründen verlangt hatte .. Ausdrücklich erschien der russische Monarch auch als Oberherr der Kirche; damit unterstützte Prokopovic die machtrnäßige Rückstufung des hohen Klerus, wie sie sich unter Peter I. vollzog.

Als weitere Gedankenakrobatik im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Elternliebe hörten die Schüler, sie seien auch allen kirchlichen Hirten, Senatoren, Richtern und sonstigen militärischen und zivilen Funktionsträgern zum Gehorsam verpflichtet; dasselbe gelte für Leibeigene in bezug auf ihren Grundherrn. Allerdings stünden die Eltern in der Ranghierarchie unter den Vertretern des Staates, da letztere "für das allgemeine Wohl verantwortlich sind und deshalb eine höhere Würde beanspruchen können". Im Konfliktfall müsse das Kind daher die Anweisungen der Beamten unter Umständen auch gegen den Willen der Eltern befolgen. So wurde paradoxerweise gerade das Gebot der Achtung von Vater und Mutter dazu benutzt, die Autorität der Eltern zu untergraben, soweit ihre Wünsche nicht staatskonform erschienen. Der spezielle Verweis auf die Leibeigenschaft sollte das wichtigste Grundverhältnis der russischen Sozialstruktur zementieren. Der Begriff des Allgemeinwohls ließ konkrete Inhalte vermissen und sank zu einer Worthülse herab, die je nach Bedarf zum Zweck der Herrschaftsstabilisierung gefüllt werden konnte.

18 Helmert

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Über das Gebot "Du sollst nicht töten", das in der Bibel ohne jede Einschränkung fonnuliert steht, lernten die Schüler Folgendes: Todesurteile durch Gerichtsbeschluß seien zulässig, "denn Richter wenden nur die Macht an, die ihnen von Gott anvertraut wurde. Auch Soldaten übertreten dieses Gebot nicht, wenn sie den Feind töten; denn sie tun nur ihre Pflicht, wenn sie zur Verteidigung des Landes und im Gehorsam gegenüber ihrem Herrscher den Feind töten. Es ist die Pflicht der Könige zu entscheiden, was aus gerechten und wichtigen Gründen unternommen wird." Damit wurde das Tötungverbot aus der Heiligen Schrift zugunsten des Tötungsgebots durch den Monarchen entkräftet. Eventuelle Gewissensbisse der Soldaten beim Umbringen des Gegners sollten durch den Pflichtgedanken unterdrückt werden, damit die Annee als wichtigstes Machtinstrurnent des Zaren reibungslos funktionierte. Jeder Hinweis darauf, daß Rußland unter Peter I. ausschließlich Angriffskriege führte, entfiel zugunsten der Version der Landesverteidigung. Die Beschwörung des äußeren Feindes diente als Kitt nach innen, wie es auch sonst häufig in der Geschichte ~assierte. Wer als Feind zu gelten hatte, entschied allein der absolute Monarch. 48 Das Gebot "Du sollst nicht stehlen" schließlich wurde ausführlich dahingehend interpretiert, daß niemand Staatsgut entwenden dürfe. 849 Auch hier zeigte sich also eine systemstabilisierende Tendenz. Der Zar selbst hätte sich keine affmnativeren politischen Inhalte des Elementarunterrichts ausdenken können, als es Prokopovic für ihn erledigte. Aufgrund ihrer Jugend und Unerfahrenheit konnten die Schüler diesen Prägeabsichten vennutlich nur wenige kontrastierende und relativierende eigene Einschätzungen entgegensetzen, so daß sie kaum bemerkt haben dürften, wie sie zum Zwecke ihrer leichteren Beherrschbarkeit manipuliert wurden. Eigentlich beabsichtigte Peter 1., die Grundschüler, nachdem sie das Alphabet erlernt hatten, auch noch mit historischen Ereignissen bis hin zur Gegenwart bekannt zu machen; er vennerkte dies in einer undatierten Notiz etwa aus dem Jahre 1718 oder 1719. Ein entsprechendes kindgerechtes Unterrichtsmaterial wurde jedoch zu seinen Lebzeiten nicht mehr erstellt. Statt dessen arbeitete die Kanzlei des Zaren an einer - unvollendet gebliebenen - Darstellung der Regierungstätigkeit Peters I. für Erwachsene, wobei der Monarch selbst die Themen vorgab und Wert darauf legte, daß sein unennüdlicher fleiß in der Erledigung der Staatsgeschäfte Berücksichtigung fand. 850 Im außerschulischen Bildungsbereich legte der Zar im. Jahre 1714 den Grundstein für die sogenannte Kunstkamrner in St. Petersburg, eine Mischung aus Museum und Bibliothek. Ab 1719 war der Bevölkerung ihre kostenlose Besichtigung und Benutzung gestattet; für die Bewirtung von Besuchergruppen wurde ein jährlicher Etat von 400 Rubeln veranschlagt. Zu den Exponaten zählten - eigenartig genug - Monster, die der Zar aufkaufen ließ, z. B. ein Cracraft, The Church Reform, S. 280ff, 283f (Zitate). J. Tetzner, Theophan Prokopovic und die russische Frühaufklärung, in: Zeitschrift für Slawistik 311958, S. 359. 850 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 69, 115. 848 849

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Kalb mit zwei Köpfen, zusammengewachsene Föten und Mißgeburten mit drei Füßen oder zu vielen Fingern; daneben waren ausgestopfte Tiere, seltene Steine und Fossilien, alte Münzen und historische Waffen zu sehen. Aus den russischen Klöstern ließ der Zar ab 1720 zugunsten des Museums historische Urkunden und Geschichtsdarstellungen zusammentra~en, später auch Münzen und wertvolle Steine mit altertümlichen Fassungen. 8 Um das Jahr 1725 war der Buchbestand in der Bibliothek der Kunstkammer auf circa 11 000 Bände angewachsen und stellte damit die reichhaltigste Sammlung im Lande dar. Der Zar selbst besaß am Ende seines Lebens 1 163 Bücher, die er teilweise von seinem Vater bzw. weiteren Verwandten geerbt hatte, die er persönlich erworben hatte oder die ihm geschenkt worden waren. Entsprechend den Interessensgebieten des Herrschers überwogen Darstellungen zur Meereskunde, zum Schiffsbau und zur Militärtechnik, gefolgt von Schriften zur Geschichte, zur Architektur und zur Gestaltung von Parkanlagen. Größere private Bibliotheken befanden sich außerdem im Besitz des Schotten Jakob Bruce, des Fürsten Drnitrij Michajlovic Golicyn und des Theologen Feofan Prokopovic. 852 Der französische Gesandte in Moskau Huyssen de Wigland berichtete Ludwig XIV. bereits im Jahre 1702 über geplante Reformprojekte des Zaren und erwähn:e dabei, der russische Monarch beabsichtige, "Unterrricht und Übungen an Universitäten, Akademien und guten Schulen einzuführen".853 Zu einer Universitätsgrundung in Rußland kam es unter Peter I. nicht, vielleicht weil er sich scheute, in stärkerem Umfang und institutionell abgesichert Leute heranzuziehen, die sich als klüger entpuppen könnten, als er selbst es war. Autonome Geister mußte er tendenziell als Gefahr für seinen eigenen Machtanspruch empfinden. Wohl aber nahm der Zar per Dekret vom 28.1.1724 die Einrichtung einer "Akademie oder Sozietät der Künste und Wissenschaften" mit Sitz in St. Petersburg in Angriff, was ihm mehrfach Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Eigenschaft als auswärtiger Berater des Zaren empfohlen hatte. 854 Als erstes wurde die Finanzfrage geklärt: die neue Bildungseinrichtung erhielt einen Teil der Zolleinnahmen aus vier kleineren Handelsstädten im Ostseeraum, insgesamt 24 912 Rubel. In einem zweiten Schritt definierte der Zar die Akademie als Forschungsstätte im Unterschied zur Universität, die er hauptsächlich als Ort des Lehrens auffaßte und mit dem Argument ablehnte, es fehle in Rußland an einem entsprechenden gymnasialen Unterbau. Die neue Akademie sollte "zum Ruhm dieses Staates" beitragen, d. h. sie diente dem nationalen Prestige; ferner hieß es floskelartig, sie werde "im Volk Nutzen" bringen, wobei Details ausgespart blieben. Nach dem Vorbild der Französischen Akademie der Wissenschaften, die Peter I. im Sommer 1717 in Paris besichtigt hatte und die ihn einige Monate später zu ihrem Ehrenmitglied erklärt hatte, war vorgesehen, auch im russischen Pendant drei Abteilungen zu 851 PSZ V; S. 542; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 86f, 108; Beskrovnyj I Kafengauz, Chrestomatija, S. 218ff. 852 Pavlenko, Petr Velikij, S. 532f. 853 SBIRIO Bd. 34, S. 2l. 854 P. P. Pekarskij, Vvedenie v istoriju prosvescenija v Rossii xvm stoletija. SPb 1862, Neudruck Carnbridge 1972, Bd. I, S. 26,33; Wittrarn, Peter 1., Bd. n, S. 206. 18"

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etablieren, und zwar a) "alle mathematischen Disziplinen und was von ihnen abhängt", b) "alle Bereiche der Physik" sowie c) "die Humaniora, Geschichte und Jura". Analog zur Einrichtung der gehobenen Spezialschulen in Rußland unter Peter I. zeigte sich bei dieser Fächerwahl wiederum, daß es dem Zaren besonders auf die praxisorientierte technische Verwertbarkeit von Wissen ankam, denn Mathematik und Naturwissenschaften rangierten vor den Geisteswissenschaften. Eine theologische Abteilung fehlte, ebenso der musische Bereich. Die Akademiemitglieder sollten öffentliche Vorträge halten und einige jüngere Leute heranbilden, womit sich doch eine gewisse Affinität zur Universität ergab, allerdings nicht hinsichtlich der in Westeuropa üblichen Breite der Fakultäten. Da die ersten Akademieprofessoren sämtlich Ausländer waren, wurden auch Übersetzer beschäftigt. Insgesamt wirkt das Akademieprojekt eher laienhaft entworfen. 855 Die Eröffnungssitzung der Akademie fand erst nach dem Ableben Peters I. statt. Unter den anfänglich verpflichteten Professoren gab es vier Franzosen für den mathematischen, geographischen und medizinischen Bereich sowie dreizehn Deutsche für die Aufgabenfelder Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Rhetorik plus Kirchengeschichte, Philosophie und Jurisprudenz. Das Fach Kirchengeschichte konnte dabei die fehlende Theologie partiell ersetzen sowie in bescheidenem Umfang den bis dahin auf die Orthodoxie beschränkten religiösen Horizont in Rußland vorsichtig erweitern. Von den Professoren der ersten Generation blieben einige bis zu ihrem Tode; andere hingegen verweilten nur fünf bis sechs Jahre auf diesem Posten und bevorzugten anschließend den Status eines ausländischen Ehrenmitgliedes, was auf relativ unattraktive Arbeitsbedin~gen in der Anlaufphase der Akademie in St. Petersburg schließen läßt. 85 Die gesellschaftliche Resonanz der Bildungsstätte blieb zunächst gering. In den ersten fünf Jahren ihrer Existenz erfaßte sie im Jahresdurchschnitt lediglich sechzig bis siebzig Zuhörer. 857 Später allerdings gelangte sie zu hoher Blüte und hielt sich als eine der wenigen unter Peter I. geschaffenen Einrichtungen über die Revolution von 1917 hinaus bis heute, wenn sie auch in den letzten Jahren erhebliche fmanzielle Einbußen hinnehmen mußte. Gemessen am gesamten Bildungsbedarf des Russischen Reiches, erwiesen sich die schulpolitischen und sonstigen kulturfördernden Maßnahmen Peters I. als dürftig. Quantitativerfaßten die Bildungseinrichtungen nur einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bevölkerung. Im Unterschied zur Militär- und Verwaltungsreform wurden die Schulerlasse nicht gründlich vorbereitet, sondern eher spontan hingeschüttelt. Sie entbehrten einer einheitlichen Gesamtkonzeption, z. B. entstanden gehobene technische Bildungsstätten, bevor ein entsprechender Elementarunterricht stattfand. Die Lehrer waren schlecht bezahlt, die Schulräume oft kalt, die Didaktik unterentwickelt. Die PSZ VII, S. 220ff. G. K. Slajabin (Hrsg.), Akademija Nauk SSSR - 250 let. Personal'nyj sostav. Moskva 1974, Bd. I. 1724 - 1917, S. 2. 857 Wittram, Peter 1., Bd. 11, S. 211. 855

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Schülerpopulation wurde sprunghaft bald aus dieser, bald aus jener Gesellschaftsschicht beordert und dann wieder von der Schulpflicht befreit, wenn die Eltern massiv genug Einwände erhoben. Um eine bessere Qualifizierung der Bauernkinder ging es nie. Ebenso blieben Mädchen unberücksichtigt. Adligen und Kaufleuten gelang es wiederholt, ihre Söhne vom Schulbesuch zu entbinden, so daß am ehesten noch Kinder aus den Familien der unteren Beamtenschaft und der Popen die Schulbank drückten. Die Unterrichtsinhalte zielten einerseits auf technisch verwertbares Wissen ab, andererseits sollten die Schüler geistig und moralisch im Sinne einer Stabilisierung des bestehenden Herrschaftssystems hingebogen werden. Folgten sie nicht freiwillig, so halfen die Rute oder die Peitsche nach. Auch die Abordnung zum Auslandsstudium, solange die Heimat zu wenig an Wissensvermittlung bot, stellte für die meisten Betroffenen eine Belastung dar. Systemsprengende Elemente ließ der Zar in seiner Bildungspolitik gar nicht erst aufkommen. Psychologisch gesehen bedeutete es eine schwere Hypothek für die Zukunft, daß sich den Zöglingen der petrinischen Anstalten die eigene Bildung durch die üblen Begleitumstände ihrer Vermittlung im wesentlichen als etwas Negatives präsentierte und so tragfähige Motivationen im Keim erstickt wurden. Letztlich versagte die damalige Schulpolitik quantitativ wie qualitativ. Als Triebkräfte der Bildungspolitik Peters I. wirkten ökonomische Interessen und militärische Zucht, nicht jedoch humane oder humanistische Motive. Der Zar wollte wohl die äußerlich sichtbaren Errungenschaften des Westens kopieren, doch verstand er nicht, daß ihnen auch bestimmte Denktraditionen etwa die Respektierung des Individuums, die Achtung des autonomen Geistes, die Freude am Kenntniserwerb, scharfe Begriffsbestimmungen und wissenschaftliche Debatten - zugrundelagen. Die einzige russische Zeitschrift der Epoche befolgte die Linie strikter Regierungstreue. Eine entwickelte Kulturszene mit Theateraufführungen, Opern, Konzerten oder einer vielfältigen Belletristik gab es in Rußland noch nicht. Wollte man sich amüsieren, so geschah das am häufigsten durch den Griff zur Wodkaflasche. Zwischen dem hohen Alkoholkonsum im Lande und seiner kulturellen Misere dürfte ein enger Zusammenhang bestanden haben.

XX. Aspekte des Rechtsstaates Nachdem bisher die geographischen und bevölkerungsmäßigen Voraussetzungen der petrinischen Herrschaft, ihre Legitimationsgrundlagen, die offiziellen Staatszwecke und das sie tragende Wertsystem aufgefächert wurden und ferner aus der Darstellung der konkreten Politik einige immanente Herrschaftsziele bzw. Vermeidungsstrategien hervortraten, geht es in den folgenden Schlußkapiteln darum, die Quersumme aus den zahlreichen Einzelbefunden zu ziehen, indem zusammenfassend nach rechtsstaatlichen und wohlfahrtsstaatlichen Aspekten, nach den Einflüssen des Auslands auf die Entwicklung im Russischen Reich, nach den Besonderheiten des Absolutismus im damaligen Rußland sowie nach den Auswirkungen der politischen Weichenstellung unter Peter I. bis hinein ins 20. Jahrhundert gefragt wird. Als Wesensmerkmale eines Rechtsstaates sollen die praktische Respektierung der Menschenrechte, eine wirksame, gegen Machtrnißbrauch schützende Gewaltenteilung sowie die Einhaltung der gesetzlichen Normen durch Justiz und Administration von der Staatsspitze die ganze Hierarchie hinunter bis in die untersten Ämter gelten. Im petrinischen Rußland wurde die Menschenwürde vielfach verletzt. Davon zeugte die Armut großer Teile der Bevölkerung, insbesondere der leibeigenen Bauern und Cholopen, die in engen Wohnverhältnissen, dürltig bekleidet, unzureichend ernährt, häufig alkoholisiert, ohne Schulbildung und weitgehend ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft dahinvegetierten. Laut Pososkov waren viele Bauern derartig mittellos, daß sie sich nicht einmal das lebensnotwendige Salz kaufen konnten und deshalb sogar starben. 858 Die breiten Massen mußten hart arbeiten, um ihren Verpflichtungen gegenüber den Grundherm nachzukommen sowie die steigende Steuerlast für den Staat zu begleichen; jedoch erhielten sie kein angemessenes Äquivalent für diese Plakkerei, das ihnen gestattet hätte, ihren Lebensstandard zu erhöhen und ihre Angehörigen besser zu versorgen. Manche Leibeigenen wurden wie Vieh verkauft ohne Rücksicht auf den Zusammenhalt von Familien, wogegen der Zar zwar verbal eintrat, doch änderte sich an den tatsächlichen Verhältnissen kaum etwas. Einen Gipfel an Inhumanität bedeutete es, als im Hungerjahr 1723 sogar Eltern ihre eigenen Kinder auf dem Markt verkauften, um ihnen und sich selbst bessere Überlebenschancen zu sichern. 859 Menschenunwürdig waren die Leibeigenen und Cholopen auf Gedeih und Verderb der Willkür ihrer jeweiligen Besitzer oder deren Verwaltern ausgeliefert. Vielfach regierte 858 859

Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 212f. Weber, Das veränderte Rußland, Bd. 11, S. 84.

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auf den Gutshöfen die Peitsche. Funktionsfähige gerichtliche Appellationsinstanzen an der Basis der Gesellschaft fehlten. In noch schlimmeren Verhältnissen lebten die Zwangsarbeiter zu Anfang der Errichtung von St. Petersburg und beim Kanalbau. Sie mußten auf dem feuchten Erdboden übernachten, erhielten unzureichende Essensrationen und starben zu Zehntausenden infolge von Entkräftung und erhöhter Seuchenanfälligkeit. Zwangsarbeit unter harten Bedingungen herrschte ebenfalls in den Bergwerken und Manufakturen vor. So nutzten der Zar und die gesellschaftliche Oberschicht eine große Anzahl der Untertanen in zynischer Weise einfach nur als Lastesei, ohne auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Anders formuliert, das Volk wurde im wesentlichen auf eine Objektrolle reduziert, statt daß die Staatsführung jeden einzelnen Menschen als Subjekt anerkannt hätte. Wenn sich die solcherart benachteiligten und unterdrückten Massen kollektiv empörten, etwa im Bauernaufstand unter Kondratij Bulavin oder bei der Erhebung in Astrachan', reagierte der russische Monarch mit erbarmungsloser Härte, da er seine Herrschaft in Gefahr sah. Wie vor allem ausländische Diplomaten bezeugten, gelang es Peter I. im Interesse der Aufrechterhaltung seiner Macht, ständig ein Klima der Furcht um sich zu verbreiten. Im Volksmund hieß es dazu: "Dem Zaren nah, dem Tode nah." Ein solches angstbesetztes Fluidum im Staat ließ sich mit der Menschenwürde ebenfalls nicht vereinbaren. Lediglich im Eherecht setzte der Zar einen Fortschritt an menschlicher Selbstbestimmung durch, indem er am 5.6.1724 verfugte, zukünftige Eheleute sollten sich freiwillig gemäß der eigenen Wahl zusarnmenfmden und nicht länger von ihren Eltern wie Sklaven zur Heirat gezwungen werden. 860 Was das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit betraf, so sah es in dieser Beziehung in Rußland besonders düster aus. Die meisten Frauen wurden von ihren Ehemännern unbarmherzig geschlagen, einige starben daran. 861 Kinder und Jugendliche wurden in der Familie und in der Schule verprügelt. Die Männer wiederum erfuhren die Peitsche der Gutsverwalter oder der Aufseher in den Bergwerken. Laut PosoSkov saßen zur Zeit Peters I. viele Unschuldige teilweise jahrelang im Gefängnis, weil ihre Prozeß verschleppt wurde, und manche starben während der Haft vor Hunger. 862 Bei Gerichtsprozessen war es üblich, zur Erpressung von Geständnissen die Folter anzuwenden, und zwar extensiv, bis zu sechsmal. Besonders grausam gefoltert wurden die Strelitzen nach ihrem erneuten Aufstandsversuch von 1698, da sie es gewagt hatten, die Herrschaft des Monarchen bedrohlich in Frage zu stellen. Mehr als zwanzig Jahre später, per Dekret vom 4.4.1722, schaffte Peter I. die Folter für kleinere Delikte ab und machte ihre Anwendung zu einer Ermessenssache der Richter, wobei allerdings Detailbestimmungen fehlten und eine Rechtssicherheit wiederum nicht erreicht wurde. Als kleinen Fortschritt PSZ VII, S. 197f. Perry. The State of Russia, S.201; Weber, Das veränderte Rußland, Bd. I, S. 151. 862 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 56, 58. 860 861

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könnte man werten, daß am 6.4.1722 die Stockschläge am Schuldpranger durch eine befristete ZwanJsarbeit ersetzt wurden, bis der Delinquent seine Schulden abbezahlt hatte. 8 Somit ergaben sich lediglich einige zögerliche Schritte hin zu mehr Humanität. Andererseits verprügelte Peter I. höchstpersönlich und wiederholt höhere und niedere Beamte, mit denen er unzufrieden war, in seinem Arbeitszimmer,864 ähnlich wie Friedrich Wilhelrn I. von Preußen gern mit seinem Stock herumfuhrwerkte. Seinen Sohn und potentiellen Nachfolger Aleksej ließ Peter I. unter fadenscheinigen Begründungen im Sommer 1718 zu Tode foltern, während Friedrich ll. von Preußen den Konflikt mit seinem Vater wenigstens überlebte. Am lebensfeidlichsten waren die Zustände in der russischen Armee. Etwa jeder zweite Soldat verblutete auf dem Schlachtfeld. Diejenigen, die heil aus dem Kampf hervorgingen, unterlagen täglich einer rigiden Disziplin. Gemäß dem Militärstatut vorn 30. März 1716 drohte die Todesstrafe für jedes einzelne von insgesamt 122 Vergehen; darunter befanden sich so grausame Hinrichtungsarten wie die Vierteilung bei Majestätsbeleidigung oder das Rädern. 865 Auch das Spießrutenlaufen, das gegen die unteren Dienstgrade schon bei geringen Delikten in Anwendung kam, stellte häufig eine verkappte Form der Todesstrafe dar. Insgesamt verschärften sich die Strafmaßnahmen in den russischen Streitkräften zu Beginn des 18. Jahrhunderts beträchtlich, weil der Zar auf diese Weise Gehorsam und Loyalität erzwingen wollte. Der brutale Umgang mit Menschen und schlimmste körperliche Mißhandlungen bildeten im damaligen Rußland eine so alltägliche Erscheinung, daß viele Leute nur noch mit Absturnpfung reagieren konnten. So stellte der englische Zeitzeuge John Perry verwundert fest, die Russen fänden an der Prügelstrafe schon nichts Ehrenrühriges mehr, sie betrachteten die Sklaverei als ihr Erbteil und fürchteten angesichts ihrer bedrückenden Lebensumstände selbst den Tod nicht, sondern sähen ihm gelassen entgegen als einer Art Erlösung. 866 Hier deutete sich infolge der sehr drückenden Lebensbedingungen eine depressive Grundstirnrnung an, wie sie sich auch in zahlreichen russischen Volksliedern widerspiegelt, die von unerfüllten Hoffnungen oder vorn Tod handeln und häufig in moll gehalten sind, so etwa "Cto stois' kacajas"', "Step' da step' krugom", "Lucina", "Kalinka", "Vecernij zvon" usw. Gleichberechtigung und Chancengleichheit hatten unter Peter I. nur einen geringen Stellenwert. An eine Emanzipation der Frau war überhaupt nicht zu denken, allerdings fehlten die Vorbilder dazu auch im Westen. Üblicherweise ergriffen die Söhne dieselben Berufe wie ihre Väter. In diese statische Ausgangssituation kam etwas Bewegung, als der Zar die Rangtabelle auch für untere Schichten öffnete und zur Ankurbelung der Wirtschaft jedem erlaubte, nach Erzen zu schürfen. Die am höchsten dotierten Stellen in Armee und Verwaltung wurden allerdings der Tradition folgend weiterhin fast nur mit 863 864

865 866

PSZ VI, S. 624, 644. Dmitriev / Neckina, Chrestomatija, S. 106. Le Donne, Absolutism and Ruling Class, S. 212. Perry, The State of Russia, S. 260, 275f.

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Adligen besetzt. Ebenso erhielten übelWiegend Angehörige des Adels die Chance zu einer Höherqualifizierung in Westeuropa, aus der sich gleichfalls berufliche Spitzenpositionen ableiteten. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz fehlte teils schon in der Theorie, teils in der Praxis. Der Favorit des Zaren etwa, Aleksandr Danilovic Mensikov, wurde für seine dreisten Übergriffe auf das Vermögen anderer Leute bzw. auf das Staatsvermögen lange Zeit gar nicht und dann nur milde mit einer Geldbuße bestraft, während der Gouverneur von Sibirien, Matvej Petrovic Gagarin, für vergleichbare Missetaten am Galgen endete. Die Zeugenaussagen von Adligen und Geistlichen zählten vor Gericht höher als diejenigen von Durchschnittsbürgern. In bezug auf die Streitkräfte sah das Gesetz für dieselben Vergehen unterschiedliche Strafmaße für Offiziere bzw. Mannschaften vor, wobei die Offiziere mit leichteren Urteilen davonkamen und im Unterschied zu den einfachen Soldaten und Matrosen in jedem Fall einen ordentlichen Prozeß elWarten konnten. Unterschiedliche Bestrafungen gab es sogar innerhalb derselben sozialen Gruppe; so sollte laut Erlaß vom 19.1.1705 nur einer von jeweils drei gefaßten Deserteuren per Losentscheid hingerichtet werden, die beiden übrigen ließ man aus Opportunitätsgründen am Leben, da ihre Arbeitskraft gebraucht wurde. 867 Auch zwischen den verschiedenen Nationalitäten im Reich existierte keine Rechtsgleichheit. Während der Zar den neu eroberten, höher entwickelten baltischen Provinzen ab 1710 ihre traditionellen Privilegien bestätigte, nämlich städtische SelbstvelWaltung, Besitzgarantien, unbehinderten Handel und die Beibehaltung des protestantischen Glaubens, und ähnlich im Jahre 1712 den Kosaken ihren alten Sitten, Eigenturnsverhältnisse und Abgaberegeln bestätigte, mußten Völker mit islamischem Bekenntnis oder Anhänger von Naturreligionen vielfältige Repressalien ertragen bis hin zur Besteuerung der Augenfarbe. Dem inneren Zusammenhalt des Reiches schadete Peter I. mit dieser Ungleichbehandlung beträchtlich. Schon zu seinen Lebzeiten kam es wiederholt zu lokalen Aufständen der BasKiren, Tataren sowie einiger kleinerer Völkerschaften Sibiriens, und auch unter dem Deckmantel oberflächlicher Befriedung gärte der Unmut der zurückgesetzten Nationalitäten vielerorts weiter. Schließlich existierte noch eine gravierende Ungerechtigkeit im steuerlichen Bereich: gerade der Adel als reichste Gesellschaftsschicht blieb frei von Abgaben, wohingegen die einfache Bevölkerung unter der steigenden Last der Steuern fast zusammenbrach. Gegenläufig dazu machten sich in der petrinischen Politik doch einige Tendenzen juristischer Angleichung bemerkbar, und zwar bezüglich der Oberschicht, indem der Zar die Bojarenduma als etablierte Elitegruppe entmachtete und ferner, indem er durch das Einerbengesetz Erbgüter und Dienstgüter rechtlich auf dieselbe Stufe stellte. Im Hinblick auf die bäuerliche Unterschicht wurde die frühere Differenzierung in Leibeigene, Hintersassen und Cholopen irrelevant, seitdem alle diese Gruppen in gleicher Weise der Kopfsteuer unterlagen. Insofern bestätigt sich die hauptsächlich für Westeuropa getroffene Behauptung der historischen Wissenschaft, daß der Absolutismus 867

PSZ IV, S. 284.

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eine gewisse Nivellierung der vom Monarchen abhängigen Bevölkerung bewirkt habe, partiell auch für Rußland. Dabei ging es weniger um die Gleichbehandlung als ethischen Grundsatz, sondern um die Vorteile einer leichteren Handhabbarkeit etwa bei der Steuereintreibung. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit wurde im Russischen Reich unter Peter I. im großen und ganzen respektiert, jedoch nicht so sehr aus Gewissensgründen heraus, als vielmehr, weil der Fiskus davon profitierte. Entgegen der überwiegend intoleranten Haltung in den Reihen der konservativen russisch-orthodoxen Geistlichkeit beließ der Zar den Altgläubigen ihre abweichenden Anschauungen, doch mußten sie als Gegenleistung doppelt so hohe Steuern entrichten. Die heidnischen Völkerschaften im Lande wurden nicht mit Gewalt bekehrt, sondern geschickt relativ friedlich mit Taufgeschenken oder Steuererleichterungen gelockt. Den Ausländern, die der russische Monarch zu Hunderten aus Westeuropa für den Bedarf der einheimischen Wirtschaft. der Verwaltung und des Militärs anwarb, versprach er freie Religionsausübung, denn andersfalls hätten sie sich kaum zur Übersiedlung entschlossen. Hinsichtlich der religiösen Toleranz erinnern die russischen Verhältnisse an Preußen, das zur selben Zeit ebenfalls gut ausgebildete Kräfte aus dem Ausland. vor allem Hugenotten, aufnahm. In Frankreich hingegen hatte Ludwig XIV. die unter Heinrich IV. eingeleitete Toleranzpolitik fallengelassen und dadurch viele Protestanten zur Flucht veranlaßt, wodurch die Wirtschaft des Landes Schaden nahm. In manche Details des Glaubens mischte sich Zar Peter I. doch ein, zumal er sich auch als Herr über die Kirche verstand. So lehnte er das Fasten und häufige Beten als Äußerlichkeiten ab und sprach sich gegen den Rückzug aus der Welt durch ein Leben im Kloster aus. Statt dessen proklamierte er im Sinne der Staatsräson die tätige Pflichterfüllung im Alltag als gottwohlgefällig, weil er die Arbeitskraft seiner Untertanen zur Verwirklichung seiner Reformpläne dringend benötigte. Dem eigenen Machterhalt diente es, wenn der Zar von den Popen die Verletzung des Beichtgeheimnisses in Hochverratsfällen verlangte und damit tendenziell das Vertrauen der Gläubigen in den Klerus untergrub. Die organisatorische Selbständigkeit der Kirche zerstörte Peter I. radikal, um zu verhindern, daß aus dem mit Prunk und Würde ausgestatteten Patriarchenamt eine Konkurrenz zu seiner eigenen Vorrangstellung erwuchs. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Rußland schloß nicht das Recht auf Wehrdienstverweigerung ein, das erst im 20. Jahrhundert in einigen europäischen Staaten nach den verheerenden Erfahrungen zweier Weltkriege aufkam. Ein derartiges Recht war im Absolutismus undenkbar, denn es hätte an den Grundlagen der herrscherlichen Macht gerüttelt. Die derzeit gültige Verfassung Rußlands enthält erstmals das Recht auf Ersatzdienst.

Die Meinungsfreiheit in weltlichen Belangen war in Rußland unter Peter. I. nicht gewährleistet. In Form des Preobraienskij prikaz existierte eine politische Polizei, die kritische Äußerungen hart verfolgte und Verdächtige folterte. Insbesondere schriftlich abgefaßte Verbesserungsvorschläge zur Organisation des Staates erwiesen sich für die Autoren als gefährlicher Bumerang. So wur-

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de der Moskauer Mönch Avraamij im Jahre 1697 in ein abgelegenes Kloster verbannt, weil er den Zaren maßvoll und in bester Absicht z. B. um die Durchsetzung eines gerechten Gerichts sowie um eine volksfreundliche Ausgabenpolitik gebeten hatte. Ähnlich trug das sorgfältig begründete und respektvoll formulierte Buch Ivan PosoSkovs vom Jahre 1724 mit fundierten Vorschlägen, wie das Staatswesen zu Reichtum und Blüte gelangen könne, dem Verfasser auf Befehl des Regenten statt Anerkennung Gefängnishaft ein, und Pososkov starb in der Zelle. 8 8 Nachdem der Patriarchatsverweser Stefan Javorskij 1712 im Gottesdienst andeutungsweise das unmoralische Privatleben des Zaren kritisiert und den Thronfolger Aleksej als Hoffnungsträger bezeichnet hatte, bestrafte ihn der Senat mit einem mehrjährigen Predigtverbot. Das einzige inländische Presseorgan aus der Zeit Peters I ., die "Vedomosti", waren keineswegs ein Ausdruck freier Journalistik, sondern lagen strikt auf Regierungskurs. Unter den Voraussetzungen für eine qualifizierte Meinungsäußerung fehlte in Rußland das allgemeine Recht auf Bildung, die hier eingesetzten Finanzmittel blieben beschämend gering. Die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit galt erst recht nicht, denn die Bevölkerung sollte keine Gelegenheit erhalten, auf breiterer Basis ihre Interessen zu artikulieren und womöglich Widerstand zu leisten. Im Gegenteil belohnte der Zar einen Handwerker mit 300 Rubeln und einem lebenslangen Freihandelsprivileg sehr reichlich, als dieser im Jahre 1722 einen spontan entstandenen Volksauflauf in Penza umgehend bei der Behörde angezeigt hatte. Auch kollektiv vorgetragene Petitionen, die in Rußland seit dem ersten Romanov-Zaren eine legale Form der Meinungsäußerung dargestellt hatten und ein wichtiger Bestandteil der politischen Kultur gewesen waren, verbot Peter I. rigide, zumindest innerhalb der Streitkräfte. Das Grundrecht der Freizügigkeit existierte unter Peter I. ebenfalls nicht. Die männlichen Adligen mußten sich dort aufhalten, wo sie ihrer Dienstpflicht genügten. Die Bauern unterlagen der Schollenbindung. Konkret bedeutete das, sie durften sich nur im näheren Umkreis des Dorfes bis zu einer Entfernung von 32 Kilome~ern (30 Werst) ungehindert bewegen und benötigten für die Erledigung größerer Strecken die schriftliche Genehmigung des Grundherm, des ländlichen Kommissars sowie einen Stempel des örtlichen Militärbefehlshabers. Dem freien Warenaustausch zwischen Stadt und Land taten diese Einschränkungen nicht gut. Selbst der Fernhandel unterlag Reglementierungen, indem z. B. für den Warentransport von Sibirien nach Moskau und umgekehrt bestimmte Routen festgelegt waren, von denen sich der Kaufmann nicht entfernen durfte, damit dem Staat keine Zolleinnahrnen verlorengingen. Eine ähnlich vorgeschriebene Streckenführung gab es für den Chinahandel. Die Voevoden in den Grenzgebieten waren angewiesen, alle Personen, die ins Ausland fliehen wollten, zu knuten und in ihren ursprünglichen Wohnort zurückzuschicken. Zum legalen Reisen benötigte man einen Paß (podoroznaja, propusk); entsprechende Edikte ergingen im November 1701, im September 1710, im Dezember 1713 und im Juni 1724. Bei der 868

Pavlenko, Petr Velikij, S. 63f; Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 78.

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Praxis der PaBvergabe für Auslandsreisen verhielt sich z. B. Nikita Moiseevic Zotov, der frühere Erzieher des Zaren, sehr zurückhaltend, weil er befürchtete, der PaBinhaber werde die Gelegenheit zur Flucht nutzen. 869 Vagabunden ohne festen Wohnsitz wurden von den Behörden aufgegriffen und zur Zwangsarbeit beordert oder in die Armee eingegliedert. Während so einerseits die freie Bewegung im Lande verboten war, verfügte der Zar andererseits in vielen Fällen Ortswechsel, die den Betroffenen unangenehm waren, so bei der Rekrutenaushebung, bei staatlichen Großbauprojekten, bei der befohlenen Umsiedlung nach St. Petersburg und bei der Abkommandierung zum Auslandsstudium. Somit waren die Grundrechte des Individuums in Rußland zur Zeit Peters I. also keineswegs gewährleistet, ja aus den Reihen der eingeschüchterten Bevölkerung erhob sich noch nicht einmal die Forderung nach ihnen als Idee. Die Theologen und wenigen Philosophen des Landes schwiegen beharrlich zu diesem Problemfeld. Der Gesichtskreis des Durchschnittsmenschen blieb zeitlebens eng begrenzt, so daß sich MaBstäbe des Vergleichs mit eventuell günstigeren Lebensumständen an anderen Orten kaum entwickeln konnten. Der Zar selbst war sich aufgrund längerer Auslandsaufenthalte der Rückständigkeit in seiner Heimat bewußt, doch bezogen sich seine Modernisierungsbestrebungen in erster Linie auf das Militär und die Verwaltung, mit denen er den eigenen Einfluß abzusichern sowie Rußland Weltgeltung zu schaffen gedachte. Um die Lebensqualität des Volkes kümmerte er sich kaum, sie verschlechterte sich unter seiner Herrschaft. Bezüglich der Staatsorgane herrschte keine Gewaltenteilung, denn Rußland stellte spätestens seit Ivan IV. eine festgefügte Autokratie dar, und der Übergang zur absoluten Monarchie vollzog sich auf dieser Basis reibungslos, wobei alle Kompetenzen der Gesetzgebung, der Verwaltungsaufsicht, der letztinstanzlichen Rechtsprechung sowie der militärische Oberbefehl in den Händen des Zaren konzentriert waren. Auch die Konkurrenzgewalt der Kirche war beseitigt worden zugunsten eines Staatskirchenturns, nicht einmal moralische Appelle des hohen Klerus an den Herrscher (das frühere pravo pecalovanija) wurden geduldet. Um seine eigene Macht zu erhalten, praktizierte Peter I. unterhalb des Zartums eine gewisse Aufsplitterung von Einflüssen, indem er zwischen den Institutionen Senat - Kollegien - Prokuratur eine Balancesituation mit gegenseitiger Kontrolle herbeiführte. Der Prokuratur wurden auch die Fiskale als zusätzliche, geheim ermittelnde Kontrollinstanz unterstellt. Innerhalb der höchsten weltlichen und geistlichen Gremien, nämlich im Senat und im Synod, etablierte der Zar das Kollegialprinzip, damit keine Einzelperson die Oberhoheit des Monarchen eventuell in Frage stellen konnte. Schwächere Anklänge an das Kollegialsystem zeigten sich ferner, als der Zar den Voevoden für die mittlere Verwaltungsebene Beigeordnete aus dem Adel zuteilte. Ebenso bestanden die städtischen Magistrate aus mehreren Amtspersonen. Nur in der dörflichen Verwaltung gab es keine echte Aufspaltung von Macht869

S.39.

PSZ IV, S. 176, 552; PSZ VII, S. 315; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty,

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positionen, hier herrschte der jeweilige Gutsherr. Insgesamt ergab sich also die Tendenz, daß der Zar urnso mehr auf Gewaltenteilung unterhalb seiner eigenen Person setzte, je näher die administrative Ebene zur Staatsspitze lag. Auf diese Weise gelang es ihm, seine eigene herrscherliche Stellung organisatorisch optimal abzusichern. Noch stabiler wäre seine Position allerdings gewesen, wenn er bei den Untertanen eine innere Akzeptanz seiner Politik hervorgerufen hätte. Darauf kam es ihm jedoch wenig an, vielmehr hielt er weite Teile der Bevölkerung für dumm und legte auf ihre Zustimmung keinen besonderen Wert. Der hannoversche Gesandte Friedrich Christian Weber berichtete in diesem Zusammenhang, der Zar kümmere sich nicht darum, ob er als "Tyrann" gelte, sondern habe erklärt, es sei ihm "gnug, wenn ich meinen guten Endzweck erreiche".87o Anscheinend fühlte sich der russische Herrscher als eine Art Missionar im eigenen Lande. Seine Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Volk waren nicht frei von Arroganz. Problematisch erscheint dabei ferner, daß sich der Zar anscheinend gar nicht darüber im klaren war, was der Endzweck seiner Herrschaft, so etwa das oft beschworene "allgemeine Wohl", im Detail wirklich bedeuten sollte; andernfalls hätte er nicht den Senat beauftragen müssen, diesen Begriff zu definieren, womit auch der Senat überfordert war. So beschränkte sich der Zar im wesentlichen auf die jeweilige Erledigung der Tagesgeschäfte, womit er schon reichlich zu tun hatte, ohne über ein klar durchdachtes Gesamtkonzept seiner Politik zu verfügen. Modem ausgedrückt war er ein Manager, ein Machertyp, dem die Ellbogen mehr galten als die Moral. Im Bereich der Justiz und Verwaltung bestand unter Peter I. ein Defizit an Rechtssicherheit insofern, als es trotz entsprechender Absichten des Zaren und trotz mehrfacher Ansätze, deren erster aus dem Jahre 1700 datierte, nicht zur Kodifikation eines einheitlichen Gesetzbuches kam; statt dessen lagen zu manchen Problemfeldern doppelte und einander widersprechende junstische Bestimmungen VOr. 871 Zwar gab der Zar ersatzweise am 6.11.1723 die Anweisung heraus, es dürfe keine zwei Edikte für dieselbe Sache geben; doch fehlten Detailbestimmungen, welcher Ukaz nun für welche Angelegenheit gelten solle oder nicht. 872 PosoSkovs demokratisch orientierter Vorschlag, ein neues allgemeines Gesetzbuch durch gewählte Vertreter aus allen gesellschaftlichen Schichten, nämlich Adel, Geistlichkeit, Kaufmannschaft, Verwaltungsbeamten, Soldaten und Bauern, erstellen zu lassen, hatte keinerlei Chance auf Verwirklichung. In bezug auf die fehlende einheitliche RechtskodifIkation bedeutete die Politik Peters I. einen gravierenden Rückschritt gegenüber den Verhältnissen, wie sie sein Vater, der Zar Aleksej Michajlovic, begünstigt hatte, als er im Jahre 1649 den zusammenfassenden Kodex des "Ulozenie" von einer Reichsversammlung aus Adligen, Klerikern, Dienstleuten und Vertretern der Kaufmannschaft abstimmen ließ. An dieses Vorbild 870 Weber, Das veränderte Rußland, Bd. n, S. 22.

871 PSZ V, S. 759; PSZ vrr, S. 248; A. Stanislavskij, 0 chode zakonovedenija v Rossii. Kazan' 1853, S. 24f. 872 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 133.

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wollte wohl auch Pososkov anknüpfen und zusätzlich die Bauern einbeziehen, da es dort ebenfalls" verständige Leute" gebe. 873 Zum Scheitern des einheitlichen Gesetzbuches unter Peter I. dürfte beigetragen haben, daß Juristen fehlten und daß die Materie infolge der raschen Herausgabe neuer Edikte gerade für Laien immer unübersichtlicher wurde. Außerdem war der Buchdruck noch sehr kostspielig, so daß vermutlich längst nicht jeder unteren Behörde alle Gesetze zum Nachschlagen zur Verfügung standen. Erstaunlich erscheint in diesem Zusammenhang, daß der Zar nur ganz vereinzelt junge Russen zum Studium der Jurisprudenz ins Ausland schickte, obwohl der Bedarf enorm war. 874 Auch diese Unterlassung schadete der Rechtsstaatlichkeit. Neben den Mängeln, die aus dem Fehlen eines einheitlichen Gesetzbuches sowie der niedrigen Qualifikation der Richter und Verwaltungsbeamten herrührten, war in der Praxis der russischen Staatsorgane unter Peter I. die Korruption gang und gäbe. Sie hing mit dem traditionellen kormlenie-Gedanken zusammen, demzufolge sich der Amtsinhaber berechtigt fühlte, nach seinem eigenen Gutdünken aus der verliehenen Pfründe privaten Nutzen zu ziehen. Die Korruption in Rußland war vielfach belegt. Ivan Pososkov z. B., der sich stets um eine wahrheitsgetreue Darstellung der Verhältnisse bemühte, schrieb von zahllosen ungerechten Gerichtsurteilen sowie von der Gewohnheit, daß Justizsekretäre die Zeugen vor ihrer Vernehmung instruierten, was sie aussagen sollten. Viele Prozesse wurden auch verschleppt, so daß die Angeklagten bis zu sechs Jahren im Gefängnis saßen und warten mußten. PosoSkov meinte dazu: "Und damit bringen sie das Russische Reich in Verruf, daß es in keinem Staat eine so hohe Anzahl von Inhaftierten gibt wie bei unS.,,875 Auf dasselbe Faktum zahlreicher Gefangener verwies ein Edikt des Zaren, mit dem er bereits am 26.2.1702 die Reparatur und den Neubau von Gefängnissen angeordnet hatte. 876 In der Praxis kam der Absolutismus also nicht ohne einen starken Repressionsapparat aus, denn er beteiligte die Bevölkerung nicht an den politischen Entscheidungen und mußte den angestauten Unmut systemkonform abfangen. Einen gesetzmäßig fundierten Schutz vor willkürlicher Verhaftung, wie ihn in England seit 1679 die Habeas-corpus-Akte bot und wie er noch früher in Polen und Un~am gesetzlich abgesichert worden war, kannte Rußland unter Peter I. nicht. 77 Der österreichische Legationssekretär Johann Georg Korb stellte den russischen Gerichten und Verwaltungsämtern um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ein sehr negatives Zeugnis aus, indem er schrieb: "Wer zuerst das Ohr des Richters mit der Klage in Anspruch nimmt, ist meist Sieger; denn die Partei des Beklagten fmdet keinerlei Begünstigung. Angeklagt sein ist fast so 873 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 84f; Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 194 ff. 874 Stanislavskij, 0 chode zakonovedenija, S. 25. 875 Pososkov, Kniga 0 skudosti i bogatstve, S. 17 (Zitat), 56f[' 64, 73. 876 PSZ IV, S. 187. 877 E. v. Puttkarner, ,,Menschenrechte" und ,,Bürgerrechte" in der Verfassungsentwicklung Oste uropas bis zum XVI. Jahrhundert in: Rußland-Studien. Gedenkschrift für Otto Hoetzsch. Stuttgart 1957, S. 83.

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viel wie verurteilt sein. Was der Angeklagte auch zu seiner Verteidigung vorbringen mag, er wird schwerlich Glauben oder taube Ohren fmden. Seine Klage pflegt man durch Zeugen zu beweisen, die man um billiges Geld kaufen kann. Wer an Zahl der Zeugen seinem Gegner über ist, von dem glaubt man auch, daß er die bessere Sache habe. Sogar Geschenke, Gaben, Spenden leisten ihrer Sache starken Vorschub. Nichts wird in den Prikazen behandelt, wenn nicht zuvor Sekretäre und Schreiber mit Gold und Silber zufriedengestellt sind. Sie sind weit raubgieriger als die Harpyien .... ". Im Klartext begünstigte die Justiz also die Reichen, weil sie Zeugen und Richter üppiger bestechen konnten. Mit Rechtsstaatlichkeit hatte dieser Usus nicht das Geringste zu tun. Daneben berichtete Korb von einer besonderen Art der Sippenhaftung, daß nämlich auch alle Frauen der aufständischen Strelitzen nach 1698 gezwungen wurden, Moskau zu verlassen, obwohl sich eigentlich nur ihre Männer schuldig gemacht hatten. 878 Ähnlich wie PosoSkov und Korb notierte der Engländer John Perry, die Bestechung der Richter sei in Rußland allgemein üblich und spezifizierte: "Money is known to be taken on both Sides; and generally he who bidst highest carries the Cause, whilst the Sufferer has no remedy but to be content. " Perry fügte hinzu, die Richter täten nur so, als bezögen sie sich auf das Gesetz, in Wahrheit würden sie willkürlich entscheiden. Außerdem würden es viele Leidtragende aus ungerechten Urteilen nicht wagen, dem Zaren eine Petition einzureichen, weil sie damit ihr Leben riskierten, denn falls der Herrscher das Gesuch für unan~ebracht halte, drohe ihnen wegen Belästigung der Majestät die Todesstrafe. 87 Peter I. wußte von der Korruption im Lande und bemühte sich immer wieder, den Gesetzen Geltung zu verschaffen, indem er harte Strafen für Verfehlungen der Beamten einführte, die Fiskale und später die Prokuratur als Überwachungsinstanzen schuf, die Bevölkerung zur Anzeige von Korruptionsfällen aufforderte und in manchen Edikten sogar die problematische Bestimmung anfügte, daß schweigende Mitwisser dieselbe Strafe treffen sollte wie die eigentlichen Delinquenten, um so die Meldung von Vergehen zu erzwingen. Am 4.4.1722 etablierte der Zar eine Rechtsaufsicht über die Gouverneure und Provinzstatthalter. Einmal pro Jahr sollten sie von einem Vertreter des Senats sowie von Mitarbeitern aus jedem Kollegium visitiert werden, "damit in allen Dingen Wahrhaftigkeit herrsche". Dreizehn Tage später übermittelte Peter I. dem Senat folgende grundSätzliche Einschätzung: "Da nichts zur Lenkung des Staates so notwendig ist wie die feste Einhaltung der bürgerlichen Rechte und weil es nutzlos ist, Gesetze zu erlassen, wenn sie nicht beachtet werden oder wenn mit ihnen wie mit Karten gespielt wird, indem man Farbe auf Farbe legt, was nirgendwo auf der Welt so häufig passierte wie bei uns und auch jetzt noch geschieht und weil sich viele bemühen, alle möglichen Minen unter die Festung der Wahrheit zu legen, deshalb werden mit diesem Edikt wie mit einem Siegel alle Erlasse und Reglements noch einmal bestätigt, damit sich 878 879

Korb, Tagebuch, S. 164, 189 (Zitat). Perry, The State of Russia, S. 142f, 190 (Zitat).

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niemand erdreistet, Dinge anders zu erledigen und gegen die Vorschriften zu handeln ... " Insbesondere verlangte der Zar dann die Befolgung des Einerbengesetzes. Die große Menge der Ukaze - die er selbst zu verantworten hatte erleichtere "das Fischen im trüben Wasser" . Bei unklaren Regelungen sollten die Behörden im Senat anfragen und nichts auf eigene Faust entscheiden. 880 Im Grunde verbarg sich hinter diesem Wortschwall eher eine Art Hilflosigkeit des Monarchen, der seine Augen und Ohren nicht überall haben konnte. Fast selbstverständlich wurde der Wille des Regenten als "Wahrheit" deklariert. Die Gesetzestreue der Beamten stellte sich auch nach diesem Appell nicht ein. Am 25.10.1723 betonte der Zar, jede Missetat müsse unbedingt bestraft werden. damit sich im Lande keine "Furchtlosigkeit" (besstrasie) breitrnache, damit die Staatsrnacht nicht "endgültig zu Fall komme" und "die Menschen im Staat ruiniert" würden. Interessant erscheint hier wiederum das Bemühen des Regenten, die Interessen von Bevölkerung und Staatsrnacht identisch zu setzen. Daß gerade auch staatliche Edikte die Bevölkerung ruinieren konnten, wurde mit Stillschweigen übergangen. In einem Erlaß vom 22.1.1724 verlangte der Monarch, alle Staatsbeamten im Senat, im Synod, in den Kollegien, Kanzleien und Gerichten müßten die Gesetze kennen, "weil davon die rechtmäßige und untadelige Verwaltung aller Angelegenheiten abhängt".881 Indem dieses Edikt eine gegenläufige Praxis voraussetzte, warf es noch einmal ein negatives Licht auf die russische Administration und Rechtsprechung. Insgesamt gelang es dem Zaren trotz aufwendiger Bemühungen nicht, in diesen Bereichen rechtsstaatliche Verhältnisse durchzusetzen. Insofern offenbarte sich hier ein Stück Machtlosigkeit des vordergründig so starken Herrschers. Bildlich gesprochen: wenn der Kater wegguckt, tanzen die Mäuse herum, wie es ihnen Spaß macht.

Sobald er in Wut geriet, gab der Zar übrigens selbst ein schlechtes Beispiel für rechtsstaatliches Verhalten ab; beispielsweise ließ er etwa die Hälfte aller Strelitzen, die am Aufstand von 1698 beteiligt waren, kurzerhand ohne vorherige gerichtliche Untersuchung umbringen und hackte einigen von ihnen persönlich den Kopf ab. 882 Ähnlich brutal und schwer berechenbar konnte sich der Zar in betrunkenem Zustand verhalten. Indem der Regent selbst die Gesetze nicht immer einhielt, sank seine Glaubwürdigkeit, wenn er vom Behördenapparat Gesetzestreue verlangte. Die Defizite an Rechtsstaatlichkeit im damaligen Rußland könnte man daraus erklären. daß auf seinem Territorium die in Westeuropa über Jahrhunderte hin bewährte Tradition des römischen Rechts fehlte, daß es dementsprechend zu wenig geschulte Juristen gab und daß sich keine starke Ständevertretung entwickelt hatte, die dem Staatslenker eine Respektierung ihrer Interessen hätte abtrotzen können. Im Unterschied zu Westeuropa hatte es in Rußland niemals über längere Zeit hin wirksame Wahlkapitulationen gegeben, die den 880 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 101, 107. 881 Ebd., S. 131; PSZ vrr, S. 216. 882 Pavlenko, Rossija v period reionn Petra I, S. 93.

xx. Aspekte des Rechtsstaates

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Herrscher banden, wie etwa die Magna charta libertatum in England, das Statutum in favorem principum und die Goldene Bulle in Deutschland oder die verbrieften Rechte der polnischen Magnaten und Szlachtizen. Im Gegenteil hatten die Russen im Mittelalter die Tyrannei der mongolischen Eroberer erfahren, an die später die einheimischen autokratischen Herrscher nahtlos anknüpfen konnten. Auch die Stadt als gesonderter, weitgehend eigenbestimmter Rechtsbezirk konnte sich in Rußland nicht weiter entfalten, nachdem Ivan In. gegen Ende des 15. Jahrhunderts Novgorod und Pskov unterworfen und alle dortigen Selbstbestimmungsansätze beseitigt hatte. Trotz dieser insgesamt negativen Bilanz erreichte Peter I. dennoch einiges Positive auf dem mühsamen Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Vor allem bedeutete die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung durch die Einrichtung eines selbständigen Justizkollegiums ab 1718 mit dem zugehörigen Unterbau der Hofgerichte einen Fortschritt gegenüber der früheren Situation, als die Beklagten innerhalb der Verwaltung perfiderweise zugleich ihre eigenen Richter waren. Ebenso entsprach die Möglichkeit zur Ablehnung befangener Richter den Grundsätzen einer ordentlichen Rechtsprechung. Begrüßenswert war ferner die Initiative des Zaren, daß die Fiskale diejenigen Personen vertreten sollten, deren Interessen sonst nicht berücksichtigt worden wären, etwa ermordete Reisende oder Vermögenssachen, bei denen das Testament und die Erben fehlten. 883 Hinter der absolutistischen Staatstheorie allerdings, derzufolge das Volk dem Herrscher angeblich alle Macht unwiderruflich übertragen hatte, damit er für eine gerechte Ordnung und den Schutz der Schwachen sorge, blieben die Ergebnisse der Praxis weit zurück. Insofern entpuppte sich diese Theorie als fehlerhafte Beschreibung der Wirklichkeit sowie als einseitig auf die Interessen des Monarchen zugeschnitten.

883

Sofrenko, Pamjatniki russkogo prava, S. 51.

19 Helmerl

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates In der absolutistischen Herrschaftslehre, wie sie im Russischen Reich zur Zeit Peters I. am prononciertesten von Feofan Prokopovic vertreten wurde, erschien die Persönlichkeit des Regenten mit einer doppelten Akzentuierung: einerseits galt er sozusagen als Übennensch, der weit über das Volk hinausragte, als Auserwählter und Gesegneter Gottes, erfüllt von politischer Klugheit und militärischer Tapferkeit - diese Variante betonte den Abstand zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen; andererseits gab es, wenn auch seltener, die Darstellung des Zaren als einer treusorgenden Vaterfigur - auf diese Weise sollte eine vertiefte emotionale Bindung der Massen an den Regenten erreicht werden. Im Sinne dieser zweiten Variante fonnulierte Prokopovic z. B. in seiner Lobrede auf die Macht und Ehre des Zaren vom April 1718: "Wenn es denn aber so ist, daß die Christen auch gewaltsamen und untreuen Machthabern Unterwerfung schulden, um wieviel mehr sind sie den rechtgläubigen und gerechten Herrschern verpflichtet! Dieser und überhaupt alle Selbstherrscher sind Väter. In welchem Gebot käme unsere Schuldigkeit, die Macht aus der Seele und aus dem Gewissen heraus zu ehren, stärker zum Ausdruck als darin: Ehre deinen Vater!,,884 Hier sollten die Untertanen gewissennaßen erleichtert aufatmen, daß ihnen kein gewalttätigerer Herrscher zuteil geworden war. Zugleich wurden sie zu einem verinnerlichten Gehorsam aufgerufen. Analog legte Prokopovic im Jahre 1720 in seinem Lesebuch für die russischen Elementarschüler das Gebot der Elternliebe als Verpflichtung zur innerlichen und äußerlichen Ehrerbietung gegenüber dem Zaren aus, wie bereits dargestellt wurde. Anläßlich einer Gedenkrede auf Peter I. nach dessen Tod stellte Prokopovic den Verblichenen als "sehr wohlbehütenden Vater" (blagoutrebnejsago otca) dar, der seine "direkte zarische und väterliche Sorge" um das Volk zuletzt noch dadurch bewiesen habe, daß er seiner Frau Katharina als "seinem zweiten Selbst" die Herrschaft hinterließ. Für all die zahlreichen Wohltaten, die es erfahren habe, sei das Volk dem verstorbenen Regenten zu Lob und Dank verpflichtet. 885 Auch der Senat kennzeichnete den Zaren in doppelter Weise, nämlich als stark und mildtätig zugleich, indem er dem Herrscher im Oktober 1721 die zwei Titel "Allrussischer Imperator" sowie "Vater des Vaterlandes" verlieh. Ausdrücklich begründeten die Senatoren diese Ehrung des Zaren mit "seiner hohen Gnade und väterlichen Sorge und Mühe, die er während der gesamten Zeit seiner äußerst ruhmreichen Herrschaft ... zu bekunden beliebte ... ".886 884 885 886

Prokopovic, Socinenija, S. 87. Ebd., S. 140, 145. PSZ VI, S. 444.

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates

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Von der politischen Funktion her wurde der Monarch allgemein in der absolutistischen Staatstheorie gern als gnadenreich dargestellt, um das Vertrauen der Bevölkerung in ihn zu steigern. Parallel dazu sollten die Untertanen möglichst noch andächtig staunen, daß sich ein so hoher Herr ihrer erbarme. Dieser zweiten - väterlichen - Variante aus dem offiziell gezeichneten Bild des russischen Regenten entsprachen einige wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen, die Peter I. einführte. Dabei soll unter Wohlfahrtsstaat eine Ordnung verstanden werden, bei der aufgrund staatlicher Vorsorge und Fürsorge prinzipiell jedem Menschen ein Existenzminimum gewährleistet wird, falls er unverschuldet in Not gerät, etwa durch schwere Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, frühen Tod der Eltern etc. Von der persönlichen Anstrengung entbindet der Wohlfahrtsstaat den einzelnen im Grundsatz nicht, doch hält er eine Art Auffangnetz für krisenhafte Situationen bereit. Zielgruppen der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen Peters I. waren verwundete oder aus Altersgründen ausgemusterte Soldaten, Arme, Kranke und Gebrechliche, uneheliche Kinder und Waisen. In den HungeIjahren zwischen 1721 und 1724 ging es ferner um die Existenzsicherung breiterer Kreise der Bevölkerung. Nicht mit staatlicher Hilfe bedacht wurden die kulturell rückständigen Völkerschaften des Reiches, vermutlich aus Einsparungsgründen oder weil der Zar die russische Dominanz nicht gefährden wollte. Auch mißhandelten Frauen bot der Staat keine Zuflucht; so weit dachte man damals noch nicht, und der Andrang wäre auch schwer zu bewältigen gewesen. Mit der neuzeitlichen Wohlfahrtspolitik übernahm der Staat eine Rolle, die im Mittelalter in erster Linie von der Kirche wahrgenommen worden war, so hatte sich beispielsweise gegen Ende des 15. Jahrhunderts das russische Kloster Volokolamsk zu einem Zentrum sozialer Fürsorge für Arme und Kranke entwickelt. 887 Das Neue an den wohlfahrtstaatlichen Einrichtungen des Absolutismus bestand darin, daß die Regierung nun auch für diesen Bereich federführend wurde und die Hauptverantwortung übernahm, während die Kirche in die abhängige Rolle eines nur ausführenden Organs hinabgedrängt wurde.

In den ersten anderthalb Jahrzehnten seiner Regierung kümmerte sich Zar Peter I. nicht ernsthaft um wohlfahrtsstaatliche Belange, sondern engagierte sich vorrangig für den militärischen und wirtschaftlichen Zugewinn seines Landes. Aus dieser Schwerpunktsetzung ergibt sich bereits, daß der Wohlfahrt keine zentrale Stellung in der Politik des russischen Regenten zukam, ähnlich wie sie auch von den westeuropäischen Monarchen nw' nebenbei betrieben wurde. Als erste bedeutende Aktion im sozialen Aufgabenfeld gründete der Zar im Jahre 1706 in Moskau ein großes öffentliches Hospital, für das damalige Rußland eine Novität. Bald wurden an diesem Krankenhaus einheimische Ärzte ausgebildet, so daß man auf diese Weise ein Stück mehr Unabhängigkeit vom Ausland erreichte. 888 Apotheken, die überwiegend von Deutschen betrieben wurden. lieferten die Medikamente. Für die einfache Bevölkerung 887 888

19*

Raeff. Joseph of Volokolamsk, S. 179. Massie, Peter der Große, S. 334.

292

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates

allerdings blieben speziellere Arzneien wegen ihrer hohen Preise unerschwinglich. Auch bei den Seuchen, die im Gefolge der Großbauprojekte auftraten, geizte der Staat mit Medikamenten und ließ die Infizierten sterben. Der Zar selbst nahm für sich persönlich die medizinische Hilfe ausländischer Experten in Anspruch; sein erster Leibarzt war der Schotte Robert Areskine, nach dessen Tod folgte ihm ab 1719 der deutschstämmige Dr. Laurentius Blumentrost der Jüngere auf diesem Posten nach. 889 Die russischen Klöster wurden unter Peter I. in breitem Umfang zur Krankenpflege herangezogen, weil der Zar einen Müßiggang der Mönche und Nonnen nicht dulden wollte und mit der Krankenbetreuung gewissermaßen eine ersatzweise Dienstpflicht für diesen Personenkreis schuf. Bis zur Hälfte der Klostereinkünfte sollten für Hospitalzwecke verwendet werden. 890 Ein gewisser Zwang zu dieser Entwicklung ergab sich vor allem aus der steigenden Zahl verwundeter Soldaten, denn die Kriegshandlungen dauerten viele Jahre. Im Juni 1714 erging ein Edikt, daß die Hochzeitsgebühren zu verdoppeln seien, damit die Kirche zusätzliche Lazarette einrichten und bestehende ausbauen konnte. Im Mai 1715 hieß es, jeder neu ernannte Schreiber habe einhundert Rubel an ein Lazarett zu zahlen. Ähnlich wurde kurz darauf ein Notopfer von jährlich einer Kopeke von allen Beamtengehältern zugunsten von Hospitälern abgezweigt. Am 12.4.1722 wurden Senat und Synod verpflichtet, zusätzliche Mittel für Krankenhäuser bereitzustellen, da die vorhandenen Gelder nicht ausreichten. Weitere Dekrete vom Oktober 1723 bzw. vom Januar 1724 enthielten die Bestimmung, daß ein Teil der Gerichtsgebühren aus ungerechtfertigten Gesuchen oder aus Strafgeldern, die wegen Beschimpfung des Richters anfielen, den Hospitälern zukommen sollten. 891 Insgesamt wurden also die Finanzmittel für die Versorgung der Kranken und Verwundeten relativ mühsam aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammengekratzt, statt daß von vornherein für diese Zwecke ein ordentlicher Etatposten im Staatshaushalt angesetzt worden wäre. Insofern zeigte sich hier noch einmal die Nachrangigkeit des sozialen Aufgabenfeldes unter Peter I. Andererseits brachten das Auftreten von Ärzten und der Ausbau von Lazaretten doch einen gewissen Fortschritt gegenüber den Verhältnissen in den Jahrhunderten vor Peters Herrschaft, als es in Rußland üblich gewesen war, Verwundete unversorgt "der göttlichen Gnade" oder den beschränkten Künsten der Volksmedizin zu überlassen. 892 Der materiellen Absicherung dienstunfähig gewordener Offiziere sowie ihrer Hinterbliebenen widmete der Zar erhöhte Aufmerksamkeit. Dies erforderte schon die Staatsräson, damit die Loyalität im Führungskorps der Armee als dem wichtigsten Machtinstrurnent des absolutistischen Herrschers keinen Wittram, Peter 1., Bd. n, S. 208. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 100, 118, 120, 146f. 891 PSZ V; S. 114, 158; PSZ VI, S.466; Voskresenskij, Zakonodate1'nye akty, S.103,130,317. 892 Ju. eh. Kope1evic, Osnovanie Peterburgskoj Akademii Nauk. Leningrad 1977, S.16. 889

890

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates

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Schaden nahm. Entsprechend verfügte der Zar am 15.12.1707, daß schwer verwundete und deshalb ausgemusterte Generäle, Oberste und sonstige Angehörige des militärischen Führrungsstabes eine staatliche Pension erhalten sollten und ebenso ihre Witwen und Kinder, falls die Familie kein Erbgut oder Dienstgut besaß, aus dem sie ausreichend Einkünfte bezog. Am 9.2.1710 hieß es aus Sparsamkeitsgründen, die Tauglichsten unter den alten und verwundeten Offizieren sollten in den Gouvernements zur Rekrutenausbildung herangezogen werden; die übrigen brachte man in staatlich inspizierten Hospizen unter, sofern sie keine Angehörigen hatten, von denen sie gepflegt werden konnten. Was die invalide gewordenen einfachen Soldaten betraf, so sah der Staat vor, sie auf ihren eigenen Wunsch hin in Klöstern unterzubringen, wo ihnen eine Essensration analog zu derjenigen der Mönche zustand. 893 Zur Versorgung obdachloser Kinder, die von ihren Müttern als unehelich Geborene ausgesetzt wurden, da sie als Schande galten, oder auch für Waisenkinder, die beide Eltern sowie weitere Verwandte verloren hatten, ließ Peter I. verstärkt ab 1712 bei einigen Kirchen in jeder Stadt oder auch in Klöstern Pflegeheime einrichten. Dort sollten die Jungen Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, damit sie sich später selbst würden ernähren können; den Mädchen sollten Handarbeiten sowie bei entsprechender Begabung eine Fremdsprache beigebracht werden. Die Aufsicht über diese Waisenhäuser oblag den Voevoden. Als Vorbilder für solche Kinderheime nannte der Zar Einrichtungen in der Erzdiözese Novgorod sowie in den baltischen Provinzen. 894 Anscheinend fanden nicht alle unversorgten Kinder in derartigen Häusern Platz; deshalb bestimmte Peter I. am 23.10.1723, Waisen unter zehn Jahren seien zur Adoption freizugeben; ältere Jungen sollten der Marine zugeführt werden, so daß der Staat von ihrer Not noch profitierte. Im selben Edikt hieß es ferner, Blinde und sehr alte Leute, die bei der Volkszählung auffielen, sollten in Hospitälern untergebracht werden. 895 Im übrigen blieb die Versorgung betagter Menschen im wesentlichen eine Aufgabe ihrer Familien, wie es seit Jahrhunderten Brauch gewesen war. Eine Kehrseite der petrinischen Sozialpolitik bestand darin, daß privates Betteln streng verboten war, gleichsam als wollte der Zar die weit verbreitete Armut nicht zur Kenntnis nehmen. So hieß es bereits am 21.3.1708, das Herumstreunen von Bettlern solle unterbunden werden, indem man sie in Armenhäuser (bogodel'ni) einweise, oder ihre Grundherren sollten sie durchfüttern. Wer dennoch ohne festen Wohnsitz angetroffen werde, den müsse die Polizei einfangen und bestrafen, denn unter den Vagabunden gebe es auch viele Diebe. Hier reichte also schon die bloße Vermutung eines Straftatsbestandes für die vorbeugende Inhaftnahme. Ähnlich enthielt das Reglement für die Voevoden vom Januar 1719 den Passus: "Es ist nicht erlaubt, auf den Höfen um AI-

894

PSZ IV, S. 397, 476; PSZ VI, S. 188. PSZ IV, S. 791; PSZ V; S. 181, 628; Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty,

895

PSZ Vll, S. 139.

893

S.98.

294

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates

mosen zu bitten".896 Ob der Zar das Betteln verbot, weil ihn der Anblick der vielen heruntergekommenen Gestalten störte, die ja nicht gerade vom Ruhm des Staates zeugten, oder ob es ihm darum ging, keine Ausnahme vom Verbot der Freizügigkeit zuzulassen, in jedem Fall nahm die staatliche Reglementierung auf Kosten des freien Spiels der Kräfte zu. Bis dahin war es dem Gewissen des einzelnen überlassen geblieben, ob er Bedürftige unterstützte oder nicht; jetzt mußte ein Almosengeber sogar mit einer Geldstrafe rechnen, falls seine Spende von einem Behördenangehörigen beobachtet wurde oder ihn sonst jemand anzeigte. Unversorgte arme Frauen wurden zwangsweise in staatlichen Spinnhäusern unter~ebracht, damit sie von der Straße wegkamen und nützliche Arbeit leisteten. 89 Eine undatierte Eintragung des Zaren in seinem Notizbuch belegt, daß er erwog, den Armen im Lande Fußbekleidungen 898 aus Leder anstelle bloßer Lappen zukommen zu lassen; ob das Vorhaben verwirklicht wurde, darüber schweigen unsere Quellen. Als Ergebnis der Armenfürsorge unter Peter I. existierten in Rußland zwischen 1721 und 1725 insgesamt 93 Almosenhäuser mit rund 4 400 Klienten, für die der Staat jährlich 13 000 Rubel aufbrachte, also drei Rubel pro Person, was dem absoluten Existenzminimum entsprach. 899 Das war nicht gerade viel, aber doch besser als nichts und setzte auf staatlicher Ebene die Tradition der christlichen Nächstenliebe fort. Eine stärkere Belastungsprobe für die russische Sozialpolitik ergab sich in den Jahren 1721 bis 1724, als infolge von Mißernten langandauernde Hungersnöte auftraten und eine breite Masse der Bevölkerung der Fürsorge bedurfte. Zwar hatte der Zar für einen derartigen Fall nicht vorausschauend vorgesorgt - die staatliche Vorratswirtschaft erstreckte sich nur auf die Armee - , doch meisterte er die Situation noch ganz gut, als sie auftrat. Zunächst beauftragte er das Karnmerkollegium am 27.4.1722, es solle Höchstpreise für Getreide festsetzen, um ein Wucherverhalten von Händlern zu unterbinden; gleichzeitig erging an die Polizeimeister die Order, beim Verkauf von Eßwaren die Preisgestaltung zu überwachen, damit die Höchstpreise in der Praxis vor Ort eingehalten wurden. 9°O Als die Notlage länger anhielt, ließ der Monarch per Dekret vom 16.2.1723 bei Wohlhabenden Getreide konfiszieren, sofern es nicht deren Eigenbedarf diente. Das beschlagnahmte Kom sollte während der nächsten ein bis anderthalb Jahre an Bedürftige verteilt werden, die es den Gebern allerdings später zurückerstatten mußten. Parallel dazu wurde der zulässige Höchstgewinn für Getreidehändler auf zehn Prozent des Verkaufserlöses begrenzt, was der regionalen Differenzierung der Getreidepreise besser Rechnung trug als die vorige Höchstpreisverordnung. Anfang Mai 1722 erteilte Peter I. den Befehl, beim Karnmerkollegium ein spezielles Kontor einzurichten, das die Ernteerträge in den verschiedenen Provinzen registrieren sollte, die Bauern und Gutsverwalter zu verstärkter Aussaat anzuhalten hatte 896 PSZ IV, S. 409; PSZ V, S. 628. 897 Beskrovnyj / Kafengauz, Chrestomatija, S. 155. 898 899 900

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 56. Cracraft, The' Church Reform, S. 215. Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 108.

XXI. Aspekte des Wohlfahrtsstaates

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sowie Pläne entwickeln mußte, wie die Ernährung der Bevölkerung auch in Krisenzeiten gesichert werden konnte. Erst zu Anfang des Jahres 1724 zog der Senat nach, indem er die Höchstpreisverordnung bezüglich Getreide, Mehl und Grütze für alle russischen Städte erneuerte und die Polizei anwies, gegen Spekulanten einzuschreiten, die Eßwaren in großen Mengen aufkauften und dann überteuert weitergaben und so skrupellos aus der Not der Bevölkerung Kapital schlugen. 901 Am 13.1.1724 wurden die Zolltarife für Importgetreide für das laufende Jahr um die Hälfte gesenkt, um mehr Kom kostengünstig ins Land zu bekommen. Eine Woche später schließlich verfügte der Zar, vorbeugend gegen Mißernten staatliche Getreidevorräte anzulegen, was besser schon früher geschehen wäre. Derartige Komspeicher waren für St. Petersburg, Riga, Smolensk, Astrachan' sowie für die Gebiete an Don und Dnepr geplant, so daß der westliche Teil des Russischen Reiches flächendeckend erfaßt wurde; das dünn besiedelte Sibirien konnte wohl allein klarkommen. 902 Insgesamt wies Rußland während der zweiten Hälfte der Regierungszeit Peters I. schon erstaunlich breit gefächerte Ansätze eines Wohlfahrtsstaates auf, wenn auch die dabei zur Verfügung gestellten Finanzrnittel eher bescheiden ausfielen. Vermutlich wäre der Zar bei der Bevölkerung wesentlich beliebter geworden, falls er sich entschlossen hätte, einen Teil der gewaltigen Ausgaben für das Militärwesen alternativ sozialen Zwecken zuzuführen. Unter den Motiven der petrinischen Wohlfahrtspolitik vermischten sich Herrscherverantwortung, patriarchalische Fürsorge, christliche Nächstenliebe, ein Hang zum Reglementieren sowie die partielle Umfunktionierung der Kirche in ein Instrument staatlich verordneter Absicherung von Bedürftigen. Im Rahmen dieser staatlichen Sozialfürsorge wurde auch die Klostergeistlichkeit zum Dienst für das Allgemeinwohl herangezogen, analog zur Nützlichkeitspflicht der anderen Gesellschaftsschichten, was für das Gerechtigkeitsempfmden des Zaren sprach. Im übrigen fällt auf, daß Peter I. sogar noch auf die ärmsten Klienten seiner Wohlfahrtspolitik nach Möglichkeit den Dienstgedanken anwandte, indem er alte Offiziere zur Rekrutenausbildung beorderte, unversorgte Frauen in Spinnbäusern arbeiten ließ und Waisenjungen im Alter ab zehn Jahren zur Marine einzog. So wollte er offenbar verhindern, daß die Sozialpolitik einem Faulenzertum Vorschub leistete. Möglicherweise war sein soziales Engagement partiell geeignet, dem sonst oft so harten Regenten in den Augen der Bevölkerung sympathischere Züge zu verleihen. Die guten sozialstaatlichen Leistungen der Sowjetperiode, beispielsweise die kostenlose Krankenversicherung, haben eine ihrer Wurzeln in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts.

901 902

PSZ vn, S. 24f, 27, 402ff. Ebd., S. 201, 204f.

XXß. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa Schon früh in der russischen Geschichte traten fremdländische Einwirkungen auf, zu einer Zeit, als Rußland noch kein gefestigtes Wertsystem und keine stabile Sozialstruktur mit selbstbewußten Trägem ausgebildet hatte. Nachdem der Kiever Fürst Vladimir im Jahre 988 den byzantinischen Kaiser Basileios 11. auf dessen Ersuchen hin militärisch gegen innenpolitische Widersacher unterstützt hatte und als hohe Auszeichnung für diese Hilfe die purpurgeborene Prinzessin Anna, eine Schwester des Kaisers, zur Frau erhielt, ließ er sich selbst und sein Volk im Sinne einer göttlichen Weihe der eigenen Herrschaft taufen und öffnete Rußland der griechisch-orthodoxen Mission. Damit ergab sich, vermittelt durch die religiöse Gemeinsamkeit, eine Jahrhunderte währende friedliche Beeinflussung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens im russischen Raum durch die überlegene oströmische Zivilisation, deren wirtschaftliche Blüte varägische Kaufleute bereits einige Jahrzehnte zuvor in ersten Handelsbeziehungen mit Byzanz kennen und schätzen gelernt hatten. Bis hin zur Epoche Peters 1., der in der politischen Orientierung eine Akzentverlagerung in Richtung auf Westeuropa einleitete, dominierten byzantinische Traditionslinien auch das russische Staatswesen. Eine wesentliche Parallele zwischen dem russischen und dem byzantinischen Raum bestand darin, daß es sich jeweils um einen Vielvölkerstaat handelte, dessen einigendes Band und wesentlichste Herrschaftsstütze im Sinne einer ideologischen Klammer das Christentum darstellte. Zahlreiche Völkerschaften wurden auf diese Weise unter demselben staatlichen Dach zusammengehalten. Die Kirche predigte, die Herrschaft des Kaisers bzw. des Zaren entspreche dem unumstößlichen Willen Gottes, und so schützte sie die Machthaber vor Kritik. Das orthodoxe Christentum byzantinischer Prägung mit seiner starken Jenseitsbezogenheit, dem das irdische Leben als Jammertal galt, in dem sich ein stärkeres Engagement angeblich nicht lohne, das vielmehr den Rückzug aus der Welt, Gebet, Demut und Askese als hohe Werte proklamierte, konnte in bei den Staaten die Massen von einem aktiven Eingreifen in die Politik abhalten und erwies sich insofern als zuverlässige Herrschaftsstütze für die Machthaber. 903 Beide Staatssysteme waren ihrer politischen Grundstruktur nach durch einen autokratischen Absolutismus gekennzeichnet. Folgerichtig bildete der russische Ausdruck "samodeciec", wie er unter Ivan IV. üblich wurde, eine 903 W. Philipp, Altrußland bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: PropyläenWeltgeschichte Bd. V. Frankfurt I Berlin 1991, S. 240.

XXll. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa

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Lehnübersetzung des griechischen Begriffs "Autokrator" = Alleinherrscher. Der Kaiser bzw. der Zar galten als Stellvertreter Gottes auf Erden, ihr Wirken als gottgewollt und jeder Widerstand gegen sie als Sünde. Im einzelnen vereinigten sie als oberste Repräsentanten der Macht sämtliche hohen politischen Funktionen in ihrer Person: sie waren Oberbefehlshaber der Armee, höchster Richter, Oberhaupt der Verwaltung, Hüter des Glaubens und Kontrolleur über die Kirche. In dieser letztgenannten Eigenschaft beriefen die Kaiser Synoden ein, konnten Bistumsgrenzen verändern, bestätigten die wichtigsten kirchlichen Würdenträger und hielten an hohen Feiertagen mitunter selbst theologische Reden. Ein streng und starr konzipiertes Hofzeremoniell, das den Herrscher von den Massen absonderte und ihn mit kostbarem Prunk umgab, sollte seine Würde unterstreichen, indem es ihn weit über den Alltag erhob. Jeder Untertan hatte sich dem Kaiser gegenüber als "Sklaven" zu bezeichnen, von dieser Selbsterniedrigung waren auch Adlige nicht ausgenommen. 904 Dieselbe Tradition der demütigen Herabsetzung der eigenen Person gegenüber dem Autokrator drückte sich zur Zeit Peters I. darin aus, daß jedes Gesuch an den Zaren regelmäßig mit der Wendung "dein Sklave" plus Name des Unterzeichners schloß. Sobald die Untertanen den byzantinischen Kaiser bzw. den russischen Zaren erblickten, mußten sie sich als Zeichen der Ehrerbietung auf die Knie niederwerfen und mit dem Kopf den Boden berühren. Diese Sitte der Proskynese wurde in Rußland allerdings von Peter I. abgeschafft, da es ihm weniger auf äußere Demutsgesten des Volkes ankam, als vielmehr darauf, daß es stets fleißig arbeitete und die Politik des Regenten praktisch unterstützte. In bei den Ländern war es üblich, daß die Gläubigen in der Kirche bei jedem Gottesdienst für das Wohl des Herrschers und seiner Angehörigen beteten. 905 Juristisch galt sowohl für den byzantinischen Kaiser als auch für den russischen Zaren der Grundsatz "princeps legibus solutus est", der ein typisches Kennzeichen des Absolutismus war und bis auf die Digesten Justinians zurückreichte. 906 Auch in zahlreichen Symbolbildern der Herrschaft sowie in symbolträchtigen Handlungen hielt sich Rußland an byzantinische Vorbilder, als etwa die Legende aufkam, eine Kopfbedeckung der russischen Zaren, die sogenannte "Sapka Monomachova" , sei das Geschenk Kaiser Konstantins IX. an Vladirnir Monomach aus Anlaß von dessen Krönung gewesen, oder wenn Ivan IV. nach seiner Heirat mit Zoe Palaiolog, der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, den byzantinischen Doppeladler in das russische Staatswappen übernahm oder wenn noch Zar Aleksej Michajlovic Reichskleinodien und den Zarenornat bei Juwelieren in Byzanz in Auftrag gab sowie den russischen Thronsessel nach byzantinischem Muster umgestalten ließ. Auch das Krönungszeremoniell 904 G. Alef, Byzantine and Russian Autocracy: A Comparison, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 50. Berlin 1995, S. 26. 90S G. Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates. München 1963, S. 25f, 195, 202; H.-G. Beck, Nomos, Kanon und Staatsraison in Byzanz. Wien 1981, S. 18f, 55. 906 Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, S.405; Beck, Nomos, S.13.

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XXII. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa

der russischen Zaren ahmte byzantinische Gepflogenheiten nach. 907 Gemäß einer Interpretation des 17. Jahrhunderts sollte der Doppeladler die zweifache Oberhoheit des Autokrators sowohl im weltlichen als auch im geistlichen Bereich bildhaft darstellen. 908 Die tragende Staatsideologie des Moskauer Reiches knüpfte gleichfalls an Byzanz an, denn rund sechzig Jahre, nachdem Konstantinopel von den Türken erobert worden war, erhob Moskau Anspruch auf die imperiale Nachfolge des oströmischen Reiches, als sich die These des Pskover Mönchs Filofej durchsetzte, der russische Zar, als von Gott auserwählt und begnadet, sei nunmehr das einzige legitime Oberhaupt der Christenheit, Moskau verkörpere das dritte Rom, und ein viertes werde es nicht geben. 909 Auf diese Weise wurde die Herrschaft des Zaren gedanklich grandios überhöht, indem man sie in ein Kontinuum der Weltgeschichte einordnete und gewissermaßen zum Gipfelpunkt des göttlichen Heilsplans erklärte; implizit wurde damit jeder politische Widerstand sinnlos, ja sogar verbrecherisch. Diese Deutung des russischen Machtanspruchs als einziger legitimen Fortführung der byzantinischen Tradition belegte noch einmal den Vorbildcharakter des oströmischen Reiches für die Konsolidierung des Moskauer Staates. Mit der Behauptung, ein viertes Rom werde es nicht geben, setzte sich mit anderer Wortwahl, aber analogem Inhalt die antike Sichtweise fort, daß Rom bzw. Konstantinopel als "ewige Stadt" zu gelten hätten. 910 Letztlich handelte es sich dabei um Wunschdenken und nicht um echte Gewißheit, da die Zukunft niemals genau aus der Gegenwart abgeleitet werden kann, sofern es um komplexe politische Beziehungsgeflechte geht. Die Übernahme byzantinischer Herrschaftsvorstellungen und Herrschaftstechniken bis hin zur Nachahmung von Machtsymbolen wurde dadurch erleichtert, daß im byzantinischen Raum wie in Rußland in mancher Hinsicht vergleichbare Sozialstrukturen vorlagen. In beiden Ländern bestand die Oberschicht aus alteingesessenen adligen Großgrundbesitzern, denen über Jahrhunderte hin eine beratende politische Funktion zukam in Gestalt des Senats von Konstantinopel einerseits bzw. der russischen Bojarenduma andererseits. Später kam auf beiden Territorien ein neuer, an Besitz schwächer gestellter Dienstadel hinzu, dessen Beziehungen zum Herrscher sich besonders eng gestalteten, indem ihn dieser gegen die Vewflichtung zum Heeresdienst mit Land ausstattete (pronoia bzw. pomest'e).91 In beiden Gesellschaftssystemen errang der Adel nie als Korporation verbriefte Recht politischer Mitbestimmung,912 was einen wesentlichen Unterschied zu den Verhältnissen in Westeuropa begründete. Auch bildeten weder Byzanz noch Rußland jemals ein 907 Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, S. 195f, 569. 908 V. S. Solov'ev, Die nationale Frage in Rußland, in: ders., Deutsche Gesamtaus-

gabe der Werke von Wladirnir Solowjew, L. Müller u. a. (Hrsg.), Bd. IV. Münchenl Freiburg 1972, S. 207. 909 Stökl, Russische Geschichte, S. 227. 910 Doerries, Konstantin der Große, S. 60. 911 Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, S. 273, 306. 912 H.-G. Beck, Das byzantinische Jahrtausend. München 1994,2. Aufl., S. 253.

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Lehnswesen aus, das dem einzelnen Adligen in höherer oder niedrigerer Position einen festen Stand innerhalb des Sozialgefüges garantiert hätte, dessen er nicht verlustig gehen konnte, es sei denn, er hätte die Treuepflicht gegenüber seinem Lehnsherrn verletzt. Hinsichtlich der Stadtbevölkerung existierten größere Unterschiede im oströmischen und russischen Raum, denn die byzantinischen Städte wiesen eine viel ältere Tradition auf, waren zahlreicher, dichter bevölkert und wohlhabender, produzierten auch Luxuswaren, und die Lebensmittelversorgung dort stand vorbeugend gegen Unruhen unter staatlichem Schutz, indem Höchstpreise festgesetzt wurden und eine gezielte Vorratshaltung zur Abwendung von Notsituationen üblich war. Die Beamtenschaft beider Reiche war sich im Negativen sehr ähnlich, denn hier wie dort herrschte eine weit verbreitete Korruption. Ohne Bestechung konnte der Bürger fast nichts erreichen. Die Finanzbeamten trieben überhöhte Steuern ein, von denen sie einen Teil für sich privat behielten. hn Kampf gegen die Korruption setzten die byzantinischen Kaiser sogenannte "curiosi", d. h. geheime Boten und Zuträger ein;913 diese Einrichtung erinnert an die russischen Fiskale unter Peter 1., die ebenfalls verdeckt ermittelten. Die stärksten sozialen Parallelen traten bei der Landbevölkerung auf. Übermäßige Verschuldung hatte die bäuerliche Unterschicht hier wie dort ganz überwiegend auf den Status von Hörigen herab gedrückt. Die Bauern unterlagen der Schollenbindung sowie der Gerichtsbarkeit ihrer Grundherm. Daneben gab es in beiden Reichen Sklaven. Der Mangel an landwirtschaftlichen Produzenten bewirkte eine umso härtere Ausbeutung der vorhandenen Arbeitskräfte. Da die landwirtschaftlichen Produktionstechniken über lange Zeit stagnierten und diesbezüglicher Fortschritt kaum aufkam, blieb die Arbeitsproduktivität gering. In beiden Ländern setzte sich eine steuerliche Gesamthaftung der Dorfgemeinde durch, wobei wohlhabendere Bauern für ihre insolventen Nachbarn mit aufkommen mußten, um so dem Fiskus die Eintreibung der Abgaben in gesicherter Höhe zu erleichtern. 914 Eine intensive Beeinflussung von Byzanz aus erfolgte ferner im Bereich der Kirche. Bis 1589 unterstand die russische Kirche dem Patriarchen von Konstantinopel, erst danach wurde sie autokephal. Während der ersten Jahrhunderte nach der Christianisierung waren die russischen Metropoliten sowie auch einige Bischöfe der Herkunft nach Griechen. Sie zogen nicht allein nach Rußland, sondern brachten jeweils ein zahlreiches Gefolge griechischer Baumeister, Maler, Schreiber, Übersetzer und Kirchensänger mit, so daß sich der personelle Bestand des Griechentums in der russischen Diaspora im Umfeld der höchsten geistlichen Würdenträger verbreiterte. 915 Die gesamte Kirchen913 Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, S. 27, 30f. 914 Ebd., S. 33,44, 114f, 218ff. 915 M. V. Levcenko, Ocerki po istorii russko-vizantijskich otnosenij. Moskva

1956, S. 4; E. Hösch, Probleme der russisch-griechischen (balkanischen) Beziehungen im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäisehen Geschichte, Bd. 38. Berlin 1986, S. 258.

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verwaltung Rußlands und die kirchliche Rechtsprechung bis hin zum Ehe- und Erbrecht ahmte das kanonische Recht nach, wie es in Byzanz ausgebildet worden war. 916 Daneben wurden in Rußland nach byzantinischem Vorbild Kirchen erbaut, Ikonen gemalt, die Liturgie und die geistliche Musik gestaltet, Heiligenviten und theologische Traktate verbreitet und die christlichen Feiertage begangen. Auch die russische Schrift entstand erst im Zusammenhang mit der Missionsarbeit. Ebenso konnte sich im russischen Raum nach oströrnischem Muster ein hochgeachtetes Mönchtum entwickeln, dessen Weltflucht vielen Zeitgenossen als vorbildlich galt. Zur Reinerhaltung der eigenen Religion kam in bei den Ländern eine Abwehrhaltung gegen andersgläubige Fremde aue 17 Im oströmischen wie im russischen Herrschaftsbereich strebte die Kirche kaum nach weltlicher Macht, sondern beugte sich in der Regel demütig der Oberhoheit des Kaisers bzw. des Zaren. Als letzte Parallele zwischen Byzanz und Rußland läßt sich anführen, daß die Hauptstädte beider Reiche jeweils als bewußte Neugründungen durch die Entscheidung bedeutender Herrscher entstanden. Konstantinopel wurde im Jahre 324 von Kaiser Konstantin zur Residenz bestimmt und nach umfangreichen Bautätigkeiten sechs Jahre später bezogen. 918 Peter I. gründete St. Petersburg im Jahre 1703, wobei allerdings keine Zeugnisse dafür vorliegen, daß er mit dieser Tat bewußt an die Handlung Konstantins anknüpfen wollte. Beide Hauptstädte trugen die Namen ihrer Gründer. Beide lagen an der Peripherie der dazugehörigen Reiche, was eigentlich die Verwaltungswege unzweckmäßig verlängerte; jedoch wurde dieser Nachteil in beiden Fällen durch günstige strategische und handelspolitische Bedingungen aufgewogen. Während die Errichtung St. Petersburgs aber einen gezielten Affront gegen Schweden bedeutete, da auf diese Weise die Vorherrschaftsinteressen des nördlichen Nachbam in bezug auf die Ostsee empfmdlich tangiert wurden, rief die Bestimmung Konstantinopels zur neuen Hauptstadt keine spezielle Ablehnung durch die Anrainer hervor. Die Politik beider Reiche war eindeutig hauptstadtzentriert, den Regionen blieb wenig Gestaltungsfreiheit. Angesichts dieser zahlreichen Ubereinstimmungen zwischen dem russischen und dem oströrnischen Staatswesen erscheint es unzutreffend und von geringer Detailkenntnis getragen, wenn Gerhard Simon noch vor kurzem behauptete: "Die byzantinische Tradition hat weder realpolitisch noch ideologisch das Moskauer Zartum geformt.,,919 Das Gegenteil ist der Fall, denn soziologische, weltanschauliche und herrschaftstechnische Komponenten waren in beiden Reichen sehr ähnlich.

916 M. Helimann, Staat und Recht in Altrußland, in: ders., Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze. Amsterdam 1988, S. 58. 917 J. M. Hussey, Die byzantinische Welt. Stuttgart 1958, S. 33; Ducellier, Byzanz, S. 57, 313, 315. 918 Duceliier, Byzanz, S. 40. 919 G. Simon, Zukunft aus der Vergangenheit. Elemente der politischen Kultur in Rußland, in: üsteuropa 511995, S. 460.

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Der große Erfolg der byzantinischen Einflußnahme in Rußland beruhte wesentlich auf den friedlichen Begleitumständen in der kulturellen Durchdringung. Da Zwang und Gewalt fehlten, bildete sich bei den Russen kein nennenswerter Widerstand als abwehrende Schranke heraus. Vielmehr öffneten die Kiever Fürsten ihr Land freiwillig der überlegenen oströmischen Zivilisation, die auf einer jahrhundertealten Tradition fußte, da sie von der Ausstrahlung dieser Zivilisation beeindruckt waren und hofften, mit Hilfe des Christentums eine vertiefte Legitimation für ihre eigene Herrschaft zu gewinnen. Byzanz seinerseits verband mit seinen Beziehungen zu Rußland keine ausbeuterischen Absichten oder eine bewußt geplante politische Fremdbestimmung. Ganz anders verhielt es sich mit der Einflußnahme im Zuge der mongolisch-tatarischen Eroberung, die Rußland nach dem Fall Kievs im Jahre 1240 bis zur Abschüttelung der Fremdherrschaft im Jahre 1480 bedrückte. Indem die Mongolen von vornherein als Feinde auftraten, hohe Tributzahlungen forderten und jeden Widerstand der unterworfenen Bevölkerung mit ungewöhnlicher Grausamkeit ahndeten, verspielten sie die Chancen eines friedlichen Nebeneinanders und schufen eine radikal andere psychologische Grundlage für die Beziehungen zwischen den beiden Völkern, die bei den Russen eine Abwehr mongolischer Kultureiernente bewirken mußte. Wenn es dennoch auf russischem Terrain zu einzelnen dauerhaften Übernahmen aus dem asiatischen Kulturkreis kam, so hauptsächlich deshalb, weil sich die mongolische Vorherrschaft in Rußland über die lange Zeit von fast zweieinhalb Jahrhunderten hinzog. Insgesamt waren die mongolischen Einflüsse auf das russische Staatswesen quantitativ geringer als diejenigen aus Byzanz. Sie traten vor allem in wesentlichen Details der Herrschaftssicherung auf. Deren Nachahmung empfahl sich aus Gründen des Erfolgs. In erster Linie ist hier zu nennen, daß den Russen im Zuge des Mongolensturms erstmals die Überlegenheit eines stehenden Heeres schmerzhaft bewußt wurde. Entsprechend versuchten die Moskauer Großfürsten nach der Befreiung vom Tatarenjoch, in Gestalt der Strelitzen als neuen Grundstocks des russischen Heeres, die in ständiger Bereitschaft standen und in gemeinsamen Wohnquartieren lebten, die Organisation der Kerntruppe in den mongolischen Streitkräfte zu kopieren. Ferner übernahmen die Russen von den Mongolen das Dezimalsystem als Prinzip der Heeresgliederung sowie den Ringelpanzer zum verstärkten Schutz der Krieger. 920 Da die Mongolen ausdauernde Reiter waren und sich das von ihnen beherrschte Territorium über ungewöhnlich weite Räume erstreckte, entwickelten sie ein gut funktionierendes Postwesen mit Reiterkurieren, die sich abwechselten und Nachrichten für die damaligen Umstände rasch überbrachten. Auch diese Einrichtung wurde später von den Großfürsten weitergeführt, wie die ursprünglich tatarischen Bezeichnungen ,jam" für Poststation und ,jamscik" für Kutscher andeuten. 921 Steuertechnisch datierten aus der Mongo920 B. Spuler, Die Goldene Horde. Die Mongolen in Rußland 1223 - 1502. Leipzig 1943, S. 380f. 921 Ebd., S. 412.

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lenzeit die ersten großangelegten BevÖlkerungszählungen in Rußland zum Zwecke der Festsetzung und genauen Verteilung der geforderten Tributleistungen; derartige Volkszählungen, die bei den Betroffenen Empörung hervorriefen, dienten ferner als Grundlage für die Soldatenaushebung. Noch zur Zeit Peters I. hielt sich der ursprünglich tatarische Begriff "kaznacej" für die 922 untergeordneten Steuerbeamten. Bereits im Kiever Reich waren Verwaltung und Rechtsprechung nicht voneinander getrennt f,ewesen. Dieses Faktum setzte sich unter der mongolischen Herrschaft fort 9 und bestimmte noch die Moskauer Periode der russischen Geschichte, bis Peter I. durch die Einrichtung eines selbständigen Justizkollegiums mit dem Unterbau von Hofgerichten in den größten Städten des Reiches gegensteuerte, um eine gerechtere und von der Verwaltung unabhängige Rechtsprechung zu gewährleisten. Auf das russische Strafrecht wirkte sich die Mongolenherrschaft vergröbernd aus im Sinne einer Zunahme der Folter sowie einer Ausweitung der schweren Prügelstrafe, die im Unterschied zur Kiever Zeit nun nicht mehr ausschließlich Sklaven, sondern auch Freie traf. 924 Schließlich übernahm die russische Diplomatie beim Empfang von Gesandtschaften aus östlichen Ländern das mongolische Protokoll, während im Umgang mit westlichen Diplomaten die Etikette des Habsburgerreiches stilbildend wurde. 925 Was die Rolle des Herrschers anging, so verstärkte die Mongolenepoche in der russischen Geschichte noch die bereits aus Byzanz bekannten autokratischen Tendenzen, denn auch die Mongolenkhane regierten - angeblich mit göttlichem Segen - als Alleinherrscher mit unumschränkter Gewalt. Wenn die russischen Fürsten vom Mongolenkhan die Bestätigung ihrer Machtfunktionen erlangen wollten, so mußten sie als demütige Bittsteller nach Sarai, der Hauptstadt der Goldenen Horde, pilgern. In ideologischer Hinsicht wurden zusätzlich das Prinzip der Dienstpflicht aller Stände gegenüber dem Regenten betont sowie die Vorstellung von alleinigen Verfügungsrecht des Herrschers über Grund und Boden des Reiches vertieft, das eine Parallele zum votcinaDenken der Kiever und Moskauer Staatslenker darstellte. 926 Die Ansätze zu einer eingeschränkten Mitbestimmungsfunktion des Volkes, wie sie im altrussischen vece, der städtischen Bürgerversammlung, bestanden hatten, wurden unter den Mongolen gekappt und auch später, nach der Abschüttelung der Fremdherrschaft, nicht wieder zum Leben erweckt, da sie den Herrschaftsambitionen der Moskauer Großfürsten und später der Zaren entgegenstanden. Als einzige große gesellschaftliche Institution konnte die russischorthodoxe Kirche von der Mongolenepoche profitieren, insofern als ihre reli922

Ebd., S. 338; G. Vemadsky I M. Karpovic, A History of Russia. Bd. ill. The 215.

Mon~ols and Russia. New Haven 1953, S. 92 Spuler, Die Goldene Horde, S. 315.

Vemadsky I Karpovic, The Mongois and Russia, S. 355f. Alef, Byzantine and Russian Autocracy, S. 24. 926 G. v. Rauch, Volk und Staat in der russischen Geschichte. Zum Problem der Autokratie in Rußland, in: Europa-Archiv. Frankfurt I M. 1952, S. 5114. 924

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giöse Verkündigung keinerlei Einschränkungen erfuhr, als ihr der umfangreiche Grundbesitz garantiert wurde, als sie keinerlei Steuern zahlen mußte und die Kirchenleute von der RekrutensteIlung ausgenommen waren. Die Anzahl der russischen Klöster nahm während der Mongolenzeit noch zu, da sich hier Rückzugsmöglichkeiten und eine gesicherte Existenz in relativem Frieden boten. In einem Umfeld von Not und Verwüstung gelangte die russische Kirche also zu weiterer Blüte und konnte ihre Machtstellung festigen. Im Gegenzug für diese Begünstigungen boten die Kirchenoberen Gebete für den Khan an und hielten das Volk ruhig, indem sie ihm weismachten, die neuen härteren Lebensumstände wären eine Strafe Gottes für begangene SÜDden. 927 Durch diese opportunistische Kooperation mit dem Sieger fiel die russisch-orthodoxe Kirche als Kristallisationskern für einen möglichen politischen Widerstand gegen die Besatzungsmacht aus. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeuteten die rund zweieinhalb Jahrhunderte tatarischer Oberhoheit für Rußland einen schweren Rückschlag. In den geplünderten Dörfern machte sich eine Tendenz zur Selbstversorgung breit, denn die Bauern beschränkten sich auf die Herstellung lediglich des Allernotwendigsten in der Erwartung, daß ihnen Überflußprodukte doch nur weggenommen wlrden. Aus den Städten siedelten die mongolischen Eroberer gerade die fahigsten russischen Handwerker zwangsweise nach Sarai um, damit sie dort für den Khan und seinen Hof produzierten. Der Warenaustausch zwischen Stadt und Land verringerte sich beträchtlich. Viel Geld wurde dem einheimischen Wirtschaftskreislauf entzogen, da es als Tributzahlungen verlorenging. Der Lebensstandard sank rapide. Von der nomadischen Viehzucht, mit der sich die fremdländischen Okkupanten ursprünglich ernährt hatten, ließen sich keine Impulse zur Förderung des russischen Wirtschaftslebens erwarten. Was die geistigen Folgen der Mongolenherrschaft betraf, so wirkte sich die damalige verstärkte Abkapselung von Westeuropa für Rußland insofern besonders negativ aus, als es nun an den zentral wichtigen Epochen von Renaissance und Humanismus keinen Anteil nehmen konnte. Gerade diese Strömungen aber stellten in Westeuropa unter Rückgriff auf die Antike das Individuum mit seinen Wünschen und Ansprüchen in den Mittelpunkt des Denkens und erstrebten die Loslösung des Einzelmenschen aus allen unnötigen Bevormundungen mit dem Ziel einer möglichst vielfältigen und harmonischen Entfaltung der menschlichen Anlagen, die dann wiederum auch der Gesellschaft zugute kommen konnten. Derartige optimistische und revolutionäre, auf Befreiung gerichtete Denkmuster fehlten für Rußland und machten die dortige Bevölkerung eher disponibel für uneingeschränkte Machtansprüche staatlicher Herrschaft einerseits sowie für die Willkür der lokalen Grundherrn andererseits. Ein theoretisch fundiertes Widerstandsdenken gegen die ausgeprägte Bevormundung in Staat und Gesellschaft konnte sich unter diesen Bedingungen im russischen Raum schwerlich entwickeln. Ausgerechnet eine der 927 R. O. Crummey, The Fonnation of Moscovy 1304 - 1613. London I New York 1987, S. 31.

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emanzipatorischsten Epochen der westeuropäischen Geistesgeschichte gelangte also in Rußland infolge der mongolischen Okkupation nicht zur Entfaltung. Darin könnte man ein tragisches Moment der welthistorischen Entwicklung sehen. Die religiösen und kirchenorganisatorischen Übernahmen aus Byzanz sowie die politischen Anleihen aus dem byzantinischen und mongolischen Kulturkreis verfestigten sich in Rußland erst im Laufe von Jahrhunderten. Insofern vollzogen sie sich letztlich unspektakulär. Nach der Sammlung der russischen Erde durch die Moskauer Großfürsten sowie nach der endgültigen Niederringung der Tataren setzte dann unter Ivan N. gewissermaßen als Gegengewicht gegen die erfahrene Fremdherrschaft eine Epoche stärkeren Nationalstolzes ein, der sich unter anderem darin äußerte, daß Auslandsreisen als 928 Hochverrat galten und schwer bestraft wurden. Als schließlich Zar Peter I. um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert daranging, sein Land in einem einzigen gewaltigen und in den Mitteln zum Teil gewaltsamen Entwicklungsschub an die damalige westliche Modeme anzugleichen, wobei er ohne Rücksicht auf das Empfmden der Bevölkerung oder auf die vorhandenen Traditionslinien Änderungen in zahlreichen Segmenten des politischen Lebens gleichzeitig projektierte, mußte dies wie ein Donnerschlag wirken. Daß er damit die IdentifIkation der Untertanen mit dem eigenen Staatswesen und dessen oberstem Repräsentanten empfmdlich erschwerte, schien dem Zaren entweder nicht in den Sinn zu kommen, oder er wertete diese Problematik nicht als Hinderungsgrund. Als Hauptrnotiv für die solcherart in einsamer Entscheidung konzipierten Umwälzungsabsichten des russischen Regenten diente dem Zaren das Streben, für Rußland eine Großmachtstellung zu erkämpfen, nach außen hin konkretisiert durch militärische Eroberungen, nach innen gewandt vor allem durch einschneidende Verwaltungsreformen, durch den Ausbau der Streitkräfte sowie durch eine Ankurbelung der Wirtschaft. Was die außenpolitische Expansion betraf, so orientierte sich der Zar dabei an seinen historischen Vorbildern Alexander von Makedonien und Cäsar. Einheimische Vorbilder nannte er nicht; zwar hätte er sich bei seinem Kampf um den Zugang zur Ostsee als Nachfolger Ivans N. ausgeben können. doch wäre dies wegen der innenpolitischen Schreckensherrschaft jenes Zaren wenig opportun gewesen. Auch wenn die Ambitionen, Rußland zur Vormacht in Europa und Asien zu erheben, in den Einzeledikten der petrinischen Epoche nicht ausdrücklich genannt wurden, so zeigte sich das Gesamtziel Peters I. doch mit hinreichender Deutlichkeit in seiner Rede anläßlich einer Schiffstaufe im Jahre 1714, als er das Konzept alternierender Vormachtstellungen der Völker im Laufe der Geschichte vortrug und die Erwartung ausssprach, für die nächsten Jahrhunderte werde Rußland diese höchste Herrschaftsposition einnehmen. Im Grunde übertrug er so seinen persönlichen Ehrgeiz auf das gesamte Staatswesen; die Bevölkerung hingegen verspürte keinen speziellen Wunsch nach Größe, son928

Waliszewski, Peter der Große, Bd. I, S. 81.

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dem vielmehr nach Ruhe und Verringerung ihrer Lasten. Unschwer läßt sich in den Überlegungen des Zaren eine Fortsetzung der Denktradition von Moskau als drittem Rom ausmachen, insofern als es um die Durchsetzung eines imperialen Machtanspruchs ging, doch konzentrierte Peter I. das Streben nach Hegemonie vorrangig auf die weltliche Sphäre, um eine religiöse Vorherrschaft ging es ihm nicht. Daß sich Peter I. in seinen politischen Zielsetzungen überwiegend an Westeuropa ausrichtete, läßt sich aus einigen biographischen Hintergründen ableiten. Der Zar genoß keine sorgfältige Erziehung, die ihm einheimische Werte hätte nahebringen können; sein Vater starb so frühzeitig, nämlich als Peter vier Jahre alt war, daß der Sohn hier kein Handlungsvorbild mehr erlebte, sondern wesentlich auf sich allein gestellt blieb; die blutigen Machtkämpfe im Moskauer Kreml während Peters Kindheit waren ebenfalls nicht dazu angetan, ihm ein vorbildliches Herrscherverhalten vor Augen zu führen. In diese Bildungslücke traten dann ersatzweise als positiv erlebte Eindrücke aus der Moskauer Ausländervorstadt, die Peter in jungen Jahren aus eigenem Antrieb häufig besuchte. Dort imponierten ihm das höhere handwerklich-technische Können, der Gewerbefleiß, ein daraus resultierender relativer Wohlstand sowie vielleicht noch die im Vergleich zu russischen Gegebenheiten gelockerten Umgangsformen zwischen den Geschlechtern. Offenbar bildete sich damals beim zukünftigen Zaren im Keim die Auffassung heraus, daß der Westen Rußland überlegen sei und daß es dortige Kulturtechniken übernehmen müsse, um mithalten zu können. Folgerichtig unternahm Peter I. dann als junger Zar mit zahlreicher Begleitung in den Jahren 1697/1698 eine mehrmonatige Reise ins westliche Ausland, um dort aus eigener Anschaung vertiefte Anregungen für die Gestaltung der russischen Politik zu gewinnen. Vor allem in den wirtschaftlich blühendsten Ländern Holland und England verweilte er länger; im Jahre 1717 folgte noch ein Frankreich-Aufenthalt, da die prägende Vormacht des europäischen Absolutismus natürlich eine besondere Anziehungskraft ausübte. Bei seinen Besuchen im Ausland interessierte sich Peter I. vor allem für technische Einrichtungen wie handwerkliche Geräte, Manufakturen, Bergwerke, Glasbläsereien, Sägewerke, Papiermühlen oder Werften und war dabei stets auf der Suche nach effizienten, praktischen Dingen, die er für sein Land übernehmen konnte. Daneben besuchte er anatomische Demonstrationen und Apotheken, da die Medizin in Rußland damals noch ein ganz defizitärer Bereich war und er auch hier Verbesserungen anstrebte. Einen dritten Schwerpunkt seines Interesses bildeten militärische Einrichtungen, wobei er sich Modelle von Festungbauten zeigen ließ, Gießereien und Artilleriehöfe aufsuchte sowie Exerzitien der Garde und Flottenmanövern beiwohnte. Anregungen empfmg er ferner in der Gartenarchitektur, als man ihn durch Lustgärten mit Fontänen führte; Ähnliches ließ er später gegen Ende seiner Regierungszeit in seinem Sommersitz Peterhof nachbauen. Eine gewisse geistige Aufgeschlossenheit bewies der Zar, indem er mit Vertretern abweichender christlicher Konfessionen wie Quäkern, Kapuzinern und Jesuiten zusammentraf und diskutierte und auch ein jüdisches Gotteshaus besuchte. 929 Über den neuen Sacheindrücken 20 Helmer!

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vernachlässigte der Zar den personellen Aspekt nicht. Am Ende seiner ersten Auslandsreise hatten er selbst oder seine Agenten rund 800 ausländische Fachkräfte, meist Holländer oder Engländer, für die Tätigkeit in Rußland angeworben, wobei das Schwergewicht auf dem Flottenbau lag, da es für diesen Bereich überhaupt keine qualifizierten russischen Arbeitskräfte gab. 93o Nach seiner Rückkehr in die Heimat ergriff der Zar eine für das Volk einschneidende und ungewöhnliche Maßnahme, mit der er offenbar demonstrieren wollte, wer der Herr im Hause sei. Anstelle der längeren altrussischen Tracht, die zwar warm, aber beim Arbeiten eher hinderlich war, wurde den russischen Männern fortan die kürzere Kleidung nach westeuropäischem Muster aufgezwungen, außerdem durften der Adel und das Bürgertum keine Bärte mehr tragen. Vordergründig wirkte diese Verordnung lediglich als überflüssige Provokation. Hintergründig jedoch kam ihr durchaus ein Symbol gehalt zu, indem jeder Russe merken sollte, nun beginne eine neue Zeit, eine Kehrtwende in der Politik. Bei der Masse der Bevölkerung verscherzte sich der Zar auf diese Weise ihre Sympathie, ohne etwas anderes Wertvolles zu gewinnen, so daß er letzten Endes bei der gewaltsamen Umstellung der Kleider- und Barttracht staatsmännisch unklug handelte. Im weiteren Verlauf der Regierungszeit Peters I. kam es noch zu zahlreichen anderen Übernahmen aus Westeuropa, die einzeln wie insgesamt darauf abzielten, die Stärke des Reiches und seines Regenten zu erhöhen. Die Quintessenz seines Selbstverständnisses als absoluter Herrscher ließ Peter I. UIDstandslos fast wörtlich aus einem schwedischen Reichstagsbeschluß von 1693 kopieren und 1716 ins russische Militärstatut übernehmen. Es handelte sich um die bereits zitierte Formulierung: "Denn Seine Hoheit ist ein selbstherrschender Monarch, der niemandem auf der Welt für seine Handlungen Rechenschaft schuldet; er hat aber die Kraft und die Macht, seine Staaten und Länder als christlicher Regent nach seinem eigenen Willen und Gutdünken zu regieren." Die Abweichungen vom schwedischen Urtext bestanden lediglich in dem eher rhetorischen Zusatz "Gutdünken" sowie in der Variation "Seine Hoheit ist ein selbstherrschender Monarch" anstelle von "der König ist ein selbstherrscherlich über alle befehlender souveräner König,,;931 vermutlich vermied Peter I. den Begriff "souverän", weil das Volk damit noch nichts hätte anfangen können, und daß der Zar sämtlichen Untertanen übergeordnet sei, war in Rußland ohnehin selbstverständlich. Die drei Kernmomente der absolutistischen Herrschergewalt aber, nämlich die Gestaltungsfreiheit des Regenten, das Fehlen jedweder Rechenschaftslegung gegenüber den Men-

929 Lebedev, Reforrny Petra I, S.287ff; W. Griep / F. Krahe, Übersee-Museum Bremen, Peter der Große in Westeuropa. Die Große Gesandtschaft 1697/1698. Bremen 1991, S. 30f, 33. 930 Massie, Peter der Große, S. 205. 931 Miljukov, Gosudarstvennoe chozjajstvo v Rossii, S. 673; V. N. Latkin, Ucebnik istorii russkago prava perioda imperii (XVIll i XIX st.). SPb 1909, S. 244f.

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sehen und schließlich als Gegengewicht eine Bindung an die Grundsätze christlicher Ethik, blieben ungeschmälert erhalten. Nach dem Vorbild Frankreichs unter Ludwig XIV., das in der Epoche des Absolutismus über das zahlenmäßig bedeutendste Landheer Europas verfügte, ferner analog zu den Vorgängen in Preußen unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. sowie allgemein den Modernisierungstendenzen in diesem Bereich entsprechend stellte der Zar die militärische Organisation Rußlands auf ein stehendes Heer um, über das er jederzeit im Sinne des innenpolitischen Machterhalts verfügen konnte. In der Außenpolitik setzte er es fast durchgängig ein, zunächst gegen die Türken, dann - nachdem ihm Kaiser Leopold I. die Mithilfe bei dem von Peter angestrebten kreuzzugsartigen Feldzug gegen die Osmanen versagt hatte - gegen die Schweden und zuletzt noch gegen Persien. Als wichtigstes Ergebnis der langandauernden Kriegführung unter Peter 1., die den Staatshaushalt und das Volk schwer belastete, stand am Ende der Gewinn des Zugangs zur Ostsee. Dieses Ziel hatte bereits Ivan IV. im Kampf gegen Litauen angestrebt, damals noch ohne dauerhaften Erfolg. Tatsächlich entsprach diese Eroberung mit ihren strategischen und handelspolitischen Vorteilen den hegemonialen Absichten, die Zar Peter I. für Rußland verfolgte; ohne einen ständigen Zugang zum Meer hätte dem Russischen Reich etwas Wesentliches zur Großmachtstellung gefehlt. Auch die Details der Heeresorganisation zeigten Parallelen zu Westeuropa. So wurden die Namen für die einzelnen Waffengattungen Infanterie, Kavallerie und Artillerie und ebenso die Gefechtssignale aus dem Französischen übernommen; die militärische Ranghierarchie mit ihren einzelnen Dienstgraden kopierte man aus Frankreich und Preußen; der Schnitt und das Material der Uniformen, die unter Peter I. als Neuheit eingeführt wurden, ahmten ebenfalls das preußische Vorbild nach, doch wurde als abweichende Farbe Grün statt Blau gewählt. 932 Mit der Gründung St. Petersburgs, das auch von der Seeseite her verteidigt werden mußte, und ferner mit der Eroberung der baltischen Provinzen ergab sich für Rußland die Notwendigkeit, eine eigene Flotte zu schaffen. Der Zar ließ sie unter Zuhilfenahme ausländischer Fachkräfte aus dem Nichts entstehen und legte so den Grundstein für eine zukunftsträchtige Entwicklung. Um die Kräfte seines Landes nicht zu zersplittern, beschränkte er sich während seiner Regierungszeit auf den Bau einer Kriegsmarine, während der Seehandel weiterhin mit Hilfe ausländischer Schiffe abgewickelt wurde. 933 Dies bot zudem den Vorteil, daß die traditionellen russischen Handelspartner nicht brüskiert wurden. Erst Jahrzehnte später entstand dann auch eine eigene russische Handelsmarine. Zur Vorbereitung des Marinereglements von 1720 ließ der Zar die Flottengesetze aus England, Frankreich und Dänemark ins Russische übersetzen. Die Offiziers- und Mannschaftsgrade, die Ausbildung sowie das Bestrafungssystem bei Insubordination wurden in Rußland entsprechend 932

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 53, 55, 84; Lebedev, Reforrny Petra I,

933

Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 56.

S.76. 20·

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den westlichen Vorbildern gestaltet. 934 Der russische Schiffsbau orientierte sich überwiegend an holländischen Modellen, da von dort die meisten Arbeitskräfte dieses Fachgebiets nach Rußland gekommen waren; außerdem hatte sich der Zar selbst in Holland als Schiffszimmermann ausbilden lassen und damit seine Präferenzen deutlich gemacht. Zum Studium der Navigation wurden junge russische Adlige nach Holland, Italien und Frankreich geschickt. Die umfangreichste Sammlung von Material aus Westeuropa ließ der Zar durchführen, bevor er die Reorganisation der russischen Zentralverwaltung in Angriff nahm. Insbesondere interessierten hier die straff geordneten, absolutistischen Strukturen in Dänemark und Schweden, während England wegen seines Parlamentarismus als Vorbild nicht in Betracht kam. Was Schweden betraf, mit dem sich Rußland ja im Kriegszustand befand, so mußten die Recherchen geheim und unter Zuhilfenahme von Bestechungsmitteln (pelzen) erfolgen. Am Ende entschied sich der Zar mit der Einrichtung der Kollegien ab 1718 für das schwedische Modell und folgte ihm sowohl in der Namensgebung für die obersten Behörden als auch hinsichtlich ihres internen Verwaltungsreglements. Per Edikt vom 9.5.1718 wurde insbesondere für das Justizkollegium noch einmal separat betont, daß es sich eng an das schwedische Vorbild zu halten habe. Da es sich bei dieser Behörde für Rußland um eine völlige Neuschöpfung handelte, befürchtete der Zar offenbar ein Fiasko und wollte dem durch die enge Anlehnung an die schwedische Justizorganisation vorbeugen. Im Jahre 1722 legte Peter I. für die Bezahlung der russischen Beamten schwedische Gehaltslisten zugrunde. 935 Da Rußland selbst ohne Universitäten war und entsprechend keine qualifizierten Juristen ausbildete, wurden zur Deckung des anfänglichen Personal bedarfs für die Zentralverwaltung auch Ausländer eingestellt. Bereits im Jahre 1715 hatte der Zar versucht, aus Wien mittlere Verwaltungsbeamte abzuwerben, die eine slavische Sprache beherrschten; später erging das Angebot an qualifizierte schwedische Kriegsgefangene, in den russischen Kollegien tätig zu werden. 936 Es erstaunt, daß der Zar in bezug auf die besiegten Schweden so ohne weiteres ein loyales Verhalten voraussetzte; andererseits waren die Leiter der Behörden jedoch regelmäßig Einheimische und konnten Überwachungsfunktionen wahrnehmen. Wie bei den zentralen Behörden erfolgte auch die Verwaltungsreform in den russischen Gouvernements und Voevodschaften nach schwedischem Vorbild, indem der Unterbau der Administration mit ihren einzelnen Rängen und den jeweils abzudeckenden Aufgabengebieten nachgeahmt wurde. Im Sinne der Logik erscheint es durchaus angemessen, daß sich der Zar im Verwaltungswesen durchgängig an Schweden als dem Hauptrnodell orientierte, statt kleckerweise von überallher kleinere Elemente zu übernehmen, die dann insgesamt keine einheitliche Struktur ergeben hätten. In bezug auf die Magistratsverfassung wurde einmal pauschal und ohne Nennung von Details vorge934 935 936

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 43f, 54. Ebd., S. 60f, 252, 368, 529. PSZ V, S. 186, 506f, 602f.

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schla~en, alle russischen Städte am Vorbild von Riga und Reval auszurichten,93 doch geschah dies praktisch nicht, vielleicht weil der Zar der russischen Stadtbevölkerung keine stärkeren Selbstverwaltungsrechte einräumen wollte, nachdem sie in der Steuereintreibung für den Staat enttäuschenderweise weiterhin nur Defizite erbracht hatte. Zur Wahmehmung hoheitlicher Aufgaben entstand als Neuerung in den größten Städten des Reiches, St. Petersburg und Moskau, unter Peter I. eine Polizei großenteils nach preußischem Vorbild, die für Ruhe und Ordnung sorgen sowie das Marktwesen kontrollieren sollte. Damals fanden Ausdrücke wie "Zuchthaus" als Verwahranstalt für straffällig gewordene Männer und "Spinnhaus" als entsprechende Besserungsanstalt für straffällig gewordene Frauen Eingang ins Russische. Für den ländlichen Raum bezeugt der Begriff "val'dmejster" den Beginn einer staatlichen Forstverwaltung, die vor allem die Holzbestände für den Schiffsbau sichern sollte. 938 Ende Oktober 1723 verfügte der Zar, in Rußland müsse nach schwedischem Vorbild eine Behörde für den Straßenbau eingerichtet werden sowie nach holländischem Vorbild ein Amt für Kanäle und Schleusen; praktisch tat sich jedoch zu Peters Lebzeiten in dieser Richtung wenig. 939

Die russische Kirchenverwaltung schließlich wurde im Jahre 1721 entsprechend den Gegebenheiten in den westeuropäischen protestantischen Landeskirchen auf das Synodalprinzip umgestellt, wie es von Rußland aus am unmittelbarsten in den eroberten baltischen Ländern studiert werden konnte. Der Hauptsinn dieser Maßnahme bestand darin, keine zweite wichtige Einzelfigur neben dem weltlichen Herrscher aufkommen zu lassen, damit dieser beim Volk konkurrenzlos als ausschließlicher Machthaber wahrgenommen wurde und dem Volk nicht die Möglichkeit zu Gebote stand, seine Sympathie wahlweise zwischen zwei Personen zu verteilen. In sozialer Hinsicht könnte man eine Parallele zwischen Rußland und Preußen sehen, was das Prinzip der Dienstpflicht aller Stände gegenüber dem Staat und dem Regenten betraf. Das Einerbengesetz von 1714, demzufolge die Landgüter des russischen Adels ungeteilt nur an einen Nachkommen weitergegeben werden sollten, um die wirtschaftliche Basis dieser Gesellschaftsschicht intakt zu halten, griff eine Anregung aus England aue40 Die Institution eines Heroldmeisters, der Register und Wappen des Adels verwaltete, entsprach den Zuständen in Preußen, England und Frankreich. 941 Als Konzession an die Stadtbewohner wurde die holländische und schwedische Sitte übernommen, daß sie sich durch Geldzahlungen vom Militärdienst freikaufen konnten. 942 Das einheimische Handwerk erfuhr Bereicherungen durch holländische Tuchmeister und Schiffsbauer, durch brandenburgische Strumpf937 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 61, 223.

938 F. Kaiser, Der europäische Anteil an der russischen Rechtsterrninologie der petrinischen Zeit. Forschungen zur osteuropäischen Geschichte Bd. 10/2. Berlin 1965, S. 154,235. 939 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 129. 940 Massie, Peter der Große, S. 646. 941 Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 358. 942 Ebd., S. 104.

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XXII. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa

weber, durch sächsische Bergleute, durch schlesische Schäfer und französische Spiegelfabrikanten. Erste Wechselgeschäfte nach westeuropäischem Vorbild erleichterten den Zahlungsverkehr und brachten für Rußland die Anfänge des Bankwesens. Für die breite Masse der Bauern hingegen geschah unter Peter I. nichts Innovatives, obwohl hier ein gewaltiger Handlungsbedarf vorlag. In der Wirtschaftstheorie zeigte sich Peter I. auf der Höhe seiner Zeit, da er den zunächst in Frankreich entwickelte Merkantilismus auch für Rußland aufgriff und in die politische Praxis umsetzte. Im einzelnen traten merkantilistische Denkansätze auf, indem Rußland nach einer aktiven Handelsbilanz strebte, indem es die Edelmetalle, die den Merkantilisten als wichtigster Indikator des Reichtums galten, im Lande selbst zurückhielt, indem die wirtschaftliche Infrastruktur durch den staatlich gelenkten Bau von Häfen und Kanälen verbessert wurde und indem der Staat das Manufakturwesen und den Bergbau durch Privilegien förderte. Alle diese Maßnahmen zielten letztendlich auf eine Erhöhung der Staatseinkünfte ab, wie es die chronischen Defizite des Fiskus nahelegten. Auf dem Feld der Wissenschaft gab Peter I. den Anstoß zur Nachahmung der Akademie, wie er sie in Frankreich gesehen hatte. Diese Einrichtung galt ihm daneben auch als nationales Prestigeobjekt. Ebenfalls wichtig für die kulturelle Orientierung wurde die Übersetzung von rund 400 westlichen Fachbüchern vorrangig aus den Gebieten Mathematik, Medizin, Architektur und Festungsbau, die der Zar bis zum Ende seiner Herrschaft veranlaßte. Auch ein deutsches universalhistorisches Lexikon wurde damals ins Russische übertragen. Daneben ließ der Zar weitere englische und deutsche Enzyklopädien im Hinblick auf Artikel zur Jurisprudenz und zu handwerklichen Fertigkeiten auswerten. 943 Man sieht wiederum, wie der Aspekt der praktischen Verwertbarkeit westlicher Kenntnisse dominierte; philosophische Literatur fand demgegenüber eine viel geringere Verbreitung in Rußland, lediglich Pufendorfs Ansichten über die Pflichten des Staatsbürgers wurden ein wenig innerhalb der Oberschicht propagiert. Wenn der Zar offenbar meinte, bereits durch die reine Übersetzung von Fachbüchern könne er den westlichen Wissensvorsprung für sein Land nutzbar machen, so entging ihm dabei die Bedeutung einer systematischen Ausbildung seiner Untertanen, an der er es fehlen ließ. Da in Rußland durch den Veränderungswillen Peters I. ein erheblicher, zunächst ungedeckter Bedarf an ausländischem Fachpersonal bestand, setzte der Zar die Auswahlkriterien für Umsiedlungswillige sehr niedrig an und gab teilweise auch dubiosen Existenzen eine Chance, ähnlich wie Spanien während seiner Kolonialherrschaft nicht gerade die Elite der Nation nach Lateinamerika exportierte. J. G. Vockerodt schrieb zu diesem Problemkreis, nach Rußland seien nicht die besten Leute emigriert, "weil Rußland damals noch als ganz barbarisch galt und niemand zum Dienst dorthin ging, der sein Brot anderswo erwerben konnte". Indem sie die Mangelsituation im Zarenreich 943

Ebd., S. 47f, 128, 139; Surnner, Peter the Great, S. 179.

XXll. Ausländische Einflüsse: Byzanz, Mongolen, Westeuropa

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ausnutzten, gelang dort auch Westeuropäern mit niedriger QualifIkation ein rascher Aufstieg, so brachte es der Schweizer Franz Lefort in kurzer Zeit vom bankrotten Kaufmann zum Admiral der russischen Flotte, und der entlaufene Apothekenschüler Adam Weyde wurde General und Vizepräsident des Kriegskollegiums. Bei anderen Männern hingegen, etwa dem Feldmarschall Georg Ogilvy, handelte es sich tatsächlich um f3.hige Personen, die bereits in Westeuropa einen guten Ruf genossen hatten. 944 Wenn Einheimische die Ausländer in russischen Diensten ungewöhnlich schnell aufsteigen sahen und von ihrer besseren Bezahlung erluhren, konnten sich auf dieser Basis leicht Ressentiments bilden, d. h. das Gefühl der Überfremdung, das unter den Russen zur Zeit Peters I. weit verbreitet war, hatte neben einem sachlichen zusätzlich einen personellen Aspekt. Gemessen an der traditionellen Fremdenfeindlichkeit der russisch-orthodoxen Kirche oder auch an den Verhältnissen zur Zeit Ivans IV., erwies sich Peter I. als ungewöhnlich weltoffen. Ohne nationale Scheuklappen übernahm er zahlreiche militärische, verwaltungstechnische, wirtschaftliche, wissenschaftliche und soziale Elemente aus Westeuropa, wobei es ihm auf deren EffIzienz im Sinne einer erhöhten Gestaltungskraft des Staates ankam. Mit der Summe all dieser Entlehnungen aber scheint er sein Volk insofern überfordert zu haben, als es den Eindruck gewinnen mußte, selbst nur dumm und hilflos zu sein. Die Basis für die IdentifIkation des russischen Durchschnittsmenschen mit dem eigenen Staatswesen und dem eigenen Regenten wurde im Prinzip umso schmaler, je mehr von außen kam, zumal die Übernahmen von keiner erklärenden staatlichen Propaganda begleitet waren; diese gefährlich explosive Nebenwirkung des Anpassungsvorgangs an Westeuropa scheint dem Zaren entgangen zu sein. Das Volk deutete die Vorliebe des Zaren für westliche Ordnungsmuster auf seine Art dahingehend, daß Peter I. in Wahrheit der untergeschobene Sohn eines Ausländers sei und sprach damit dem Herrscher jegliche Legitimität ab. Insgesamt könnte man sagen, daß die vielen Anleihen aus Westeuropa die Kluft zwischen dem Regenten und seinen Untertanen vertieften und insofern dem sozialen Frieden schadeten. Andererseits handelte der Zar durchaus rational und im Interesse der Staatsräson, wenn er bei den anstehenden Umgestaltungen das EffIzienkriterium der Herkunftsfrage vorordnete, dies entsprach auch dem philosophischen Rationalismus seiner Zeit. An der Nachahmung westlicher Staatsstrukturen durch Peter I. entzündete sich später die Kritik konservativer russischer Historiker aus der Zeit vor der Revolution von 1917.

944

Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom. S. 42 (Zitat). 43. 45.

XXIII. Spezifika des russischen Absolutismus unter Peter I. Eine Besonderheit des russischen Absolutismus bestand in der ungeheueren Weite des Raumes, den die Staatsmacht zu umfassen und zu gestalten suchte. Kein anderer europäischer Staat war dermaßen großflächig. Insofern erscheint es problematisch, daß Peter I. westeuropäische Verwaltungsmodelle auf Rußland übertrug, ohne die Unterschiede in der Ausdehnung des Territoriums zu berücksichtigen. Unter den damaligen Bedingungen fehlender Kommunikationseinrichtungen wie Eisenbahn, Flugzeug, Telefon oder Fax:geräte ließen sich die abgelegenen Gebiete des Reiches von der Zentrale aus nur ungenügend kontrollieren. Erschwerend kam hinzu, daß der Zar Sibirien überhaupt nicht aus konkreter Anschauung kannte, da er es nie bereist hatte. Diese Unkenntnis der lokalen Situation sowie der Mangel an Überwachungsmöglichkeiten von der Hauptstadt aus ließen an vielen Orten der Peripherie des Reiches ein Machtvakuum entstehen, in dem sich ersatzweise die Korruption der Beamtenschaft und die Willkür der Gutsherren umso ungestörter ausbreiten konnten. Zwar bemühte sich Zar Peter I. wiederholt darum, die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten, sei es durch moralische Appelle an die Amtsträger, sei es durch die Schaffung von Kontrollsystemen wie Fiskalität und Prokuratur, ferner noch durch mehrere Aufrufe an die Bevölkerung, sie möge Gesetzesbrüche von Beamten anzeigen; letzten Endes jedoch standen dem Zaren keine wirklich effektiven Zwangsmittel zur Verfügung, mit denen er die Befolgung der staatlichen Vorgaben auf dem riesigen Territorium des Reiches bis in den entferntesten Winkel hinein hätte durchsetzen können. Die Bevölkerung arbeitete vermutlich deshalb nur selten mit dem Zaren gegen korrupte Beamte zusammen, weil sie Racheakte der Angezeigten befürchtete, die ihr räumlich allemal näher waren als der Monarch. Fiskale und Prokurore erwiesen sich großenteils selbst wieder als bestechlich und waren auch zahlenmäßig überfordert, wenn sie als nur einige hundert Personen das gesamte Verwaltungsgebaren inspizieren sollten. Die moralischen Appelle verpufften wirkungslos. Im Kampf gegen die Korruption griff der Zar vereinzelt zu drastischen Strafmaßnahmen, so etwa, als er den Gouverneur von Sibirien, den Fürsten Matvej Petrovic Gagarin, im Jahre 1721 wegen fortgesetzter Ausplünderung der Bevölkerung sowie Unterschlagung von Staatsvermögen auf dem Senatsplatz in Petersburg aufknüpfen und die Leiche noch monatelang im Wind schaukeln ließ, doch blieb selbst hier der langfristige Abschreckungseffekt gering. In anderen Fällen, z. B. gegen seinen hochgradig geldgierigen und machthungrigen Favoriten Aleksandr Danilovic Mensikov, trat der Zar nur zögernd und viel zu milde auf.

XXIll. Spezifika des russischen Absolutismus unter Peter I.

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Es fehlte der russischen Beamtenschaft jener Zeit sowohl an einer juristischen Ausbildung einschließlich selektierender Prüfungsmaßnahmen, die Ungeeignete vom Dienst ferngehalten hätte, als auch an einer inneren Bindung an verpflichtende ethische Grundsätze. Das traditionelle russische kormlenieDenken, demzufolge ein Amt als tendenziell unbeschränkt ausbeutbare Versorgungsquelle für dessen Inhaber aufgefaßt wurde, stand der Ausbildung einer auf Loyalität ausgerichteten Beamtenethik gleichfalls entgegen. Bei der Verwaltungsreform des Jahres 1709 geriet ein Teil der Gouvernements viel zu groß, als daß die lokale Administration wirksam hätte überwacht werden können. Erst gegen Ende seiner Regierungszeit, im Jahre 1719, unternahm der Zar mit der Untergliederung der Gouvernements in 47 Provinzen einen Schritt in die richtige Richtung. Ebenso war es von Vorteil, daß die Befugnisse der einzelnen Amtsinhaber im selben Jahr erstmals genauer definiert wurden. Zu einer Aufspaltung des Reiches in noch kleinere Einheiten sowie zu einer Verlagerung hoheitlicher Aufgaben nach unten im Sinne einer weitgehenden Selbstverwaltung einschließlich der Wahl und Abwahl von Beamten und Richtern, wodurch die weit verbreitete Korruption wohl noch am ehesten hätte eingedämmt werden können, entschloß sich der Zar nicht, da eine derartige stärkere Beteiligung der Bevölkerung am Regierungsgeschehen der absolutistischen Herrschaftsauffassung grundsätzlich widersprach und die Machtposition des Regenten in Frage gestellt hätte. So scheiterte der russische Absolutismus partiell an der Weiträumigkeit des eigenen Territoriums.

In ethnischer Hinsicht hatte die Größe des Herrschaftsraumes im russischen Absolutismus zur Folge, daß auf dem Boden des Reiches eine Vielzahl von Nationalitäten existierte, insgesamt waren es weit über hundert. Sie bekannten sich zu unterschiedlichen Religionen, nämlich zum Christentum, zum Islam, zum Buddhismus oder zum Schamanenglauben, und entwickelten in der räumlichen Distanz voneinander abweichende Wirtschaftsweisen, Wohnformen und kulturelle Bräuche. Da die Besiedlung insgesamt dünn war, ergab sich keine Notwendigkeit zur Abwanderung und damit zur Durchrnischung dieser verschiedenen ethnischen Gruppen. Am ehesten noch fanden sie in Heer und Flotte zusammen oder auch bei der Rekrutierung zu Zwangsarbeiten für den Kanalbau und die Errichtung von St. Petersburg, doch überlebten zahlreiche Menschen diese Zwangssituationen nicht und konnten deshalb ihre neuen Erfahrungen nicht an die Landsleute zu Hause weitergeben. Der Charakter des Russischen Reiches als Vielvölkerstaat erschwerte die Herausbildung eines einheitlichen Nationalbewußtseins. Es hätte ein durchgängig akzeptiertes Wertempfmden vorausgesetzt sowie ein entwickeltes Schulwesen zur Vermittlung einer gemeinsamen kulturellen Identität; beides war in Rußland zu jener Zeit nur in schwachen Ansätzen vorhanden. Die Interessen des Zaren richteten sich viel stärker auf technisch-praktische Ziele als auf geistige Schöpfungen, so daß ihm die Notwendigkeit, eine einheitliche ideologische Grundlage für sein Reich zu schaffen, entging. Ein wenig in diese Richtung wirkte Feofan Prokopovic mit seiner spezifischen Auslegung der zehn Gebote, die auf Herrschaftsstabilisierung abzielte, doch erreichte er lediglich einen Bruchteil der Bevölkerung. Die Herauskehrung der großrussi-

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XXill. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

schen Übermacht vor allem in Form einer willkürlichen Besteuerung, wenn etwa nationale Minderheiten für ihre abweichende Augenfarbe oder für besondere, im nationalen Brauchtum wurzelnde Feste zahlen mußten, erzeugte bei den Betroffenen nur Feindschaft bis hin zum Wunsch nach Separation. Insofern wurde das Aufkommen eines einheitlichen Nationalgefühls im Russischen Reich auch durch solche Ungerechtigkeiten der konkreten Politik erschwert. Wenn selbst die Staatsspitze in Urkunden und Siegeln häufig nach alter Sitte die einzelnen Hoheitsgebiete des Zaren im Detail aufzählte, statt die Sarnmelbezeichnung "Vserossijskaja Imperija" zu benutzen, so zeigte sich hier exemplarisch, daß der Gemeinschaftsgedanke auch in der Zentralverwaltung zur Zeit Peters I. noch nicht tief verwurzelt war. Während die ungewöhnliche Weiträurnigkeit des Reiches sowie der multiethnische Charakter der Bevölkerung die Durchsetzung des Absolutismus in Rußland eher erschwerten, konnte er von einem anderen Faktum erheblich profitieren. Es bot sich ihm nämlich die bequeme Möglichkeit einer Legitimation durch die Tradition, indem er nahtlos an die Periode der Moskauer Autokratie anknüpfte. Die Rolle des Regenten mußte nicht extra umdefmiert werden, er galt nach wie vor als Stellvertreter Gottes auf Erden und vereinigte sämtliche obersten Entscheidungsbefugnisse in der eigenen Person. Das Fehlen von Ständen mit juristisch fixiertem Einflußbereich gestattete den russischen Zaren eine weitgehend ungestörte Machtausübung. Versuche der Kirchenleitung, sich über den weltlichen Regenten zu stellen, waren seit dem Scheitern des Patriarchen Nikon nicht mehr vorgekommen. Der russische Adel verfügte über keine großflächigen Territorien im Sinne einer eigenen Hausmacht, im Gegensatz etwa zu den Herzogtümern und Grafschaften in Westeuropa. Die russischen Städte bildeten keine herausgehobenen Rechtsbezirke mehr, nachdem Ivan m. gegen Ende des 15. Jahrhunderts Novgorod und Pskov unterworfen hatte und deren relativ freiheitliche Verfassungen einschließlich der Volksversammlung (vece) liquidiert hatte. Die Reichsversammlungen (sobory) als erweiterte Beratungsorgane für den Zaren wurden schon kurz vor dem Regierungsantritt Peters I. nicht mehr einberufen, ohnehin waren ihre Empfehlungen für den Herrscher niemals verpflichtend gewesen. 945 Politische Vertretungsorgane für die Bauern fehlten völlig. Im Unterschied zu Rußland stieß der Absolutismus in Westeuropa auf stärkere Gegenwehr. Es kam wiederholt zu Adelsaufständen, lokale Raubritter kämpften gegen die Staatsgewalt, und die Parlamente verteidigten zäh ihr Recht der Steuerbewilligung. Ein - auch als Folge der Renaissance - selbstbewußteres Bürgertum konnte die verbrieften Sonderrechte der Städte bewahren. Wenn sich die absolutistische Staatsrnacht im Westen dennoch durchsetzte, so profitierte sie dabei vor allem von dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erschöpfungszustand am Ende des Dreißigjährigen Krieges, als der Wunsch nach Frieden derart dominierte, daß die Bevölkerung bereit war, auch rigidere Herrschaftsformen zu tolerieren, sofern sie nur Ruhe und Ordnung gewährleisteten. 945

Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft, S. 275.

XXli. Spezifika des russischen Absolutismus unter Peter I.

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Da die absolutistische Doktrin zentral auf die Figur des Regenten zugeschnitten war, kam dessen Bildungsgrad eine erhöhte Bedeutung zu. Er benötigte einen breiten Überblick, insbesondere in Fragen der Theorie, um von dort die Leitlinien seiner Herrschaft zu defmieren, geeignete Mitarbeiter auszuwählen, das Volk zur Mitarbeit zu motivieren und eine ziel gerichtete Regierungstätigkeit zu entfalten. Ungünstigerweise wies die Bildung Peters I. in dieser Hinsicht erhebliche Defizite auf. Während in Westeuropa die Prinzen von Geblüt und insbesondere die Thronfolger in der Regel eine sorgfältige Unterweisung durch ausgesuchte Erzieher erfuhren, brach die systematische Schulung des späteren Zaren Peters I. bereits ab, als er zehn Jahre alt war und seine Mutter mit ihm aus dem Kreml fliehen mußte. Vermutlich wurde die Bildung des Zarevic auch deshalb nur halbherzig betrieben, weil anfangs noch nicht absehbar war, daß er überhaupt den russischen Thron besteigen würde. Nach dem Tode seines Vaters Aleksej Michajlovic im Jahre 1676 herrschte zunächst bis 1682 Peters älterer Stiefbruder Fedor Alekseevic, anschließend folgte seine Halbschwester Sofja; erst im Kampf gegen letztere konnte Peter ab 1689 seine eigenen Herrschaftsinteressen mit Hilfe des Heeres und der Fürsprache des Patriarchen durchsetzen, wobei er bis 1696 formal gemeinsam mit seinem geistesschwachen Halbbruder Ivan V. regierte. Weder Fedor noch Sofja war daran gelegen, sich in Gestalt ihres Halbbruders Peter einen politischen Konkurrenten heranzuziehen, so unterließen sie gezielte Fördermaßnahmen. Als Heranwachsender bemühte sich Peter zwar autodidaktisch um eine Verringerung seiner Bildungslücken, doch geschah dies fast nur im technischen Bereich, indem er sich die Grundkenntnisse von 14 Handwerksberufen aneignete; zur Staatslenkung indessen qualifizierte ihn dieses Wissen noch lange nicht. Bedingt durch den eigenen Theoriemangel blieb das ideologische Werben des Zaren um die einheimische Bevölkerung während seiner gesamten Regierungszeit stets schwach. Er konnte keine mitreißenden Ideale anbieten, da sie ihm selbst nicht geläufig waren. Ersatzweise schloß er diese Lücke mit zahlreichen überwiegend technisch-administrativen Übernahmen aus dem Westen, doch wurde seine Politik im Volk, da entsprechende Erläuterungen fehlten, als Überfremdung empfunden, und es entstand keine Basis für die Identifikation der Massen mit dem sie umgebenden Staatswesen. Ohnehin neigte die absolutistische Staatstheorie dazu, die Zustimmung des Volkes zu den Maßnahmen des Herrschers als unwichtig einzustufen. Es scheint, als habe Peter I. niemals das Werk des Staatstheoretikers Jurij Krizanic kennengelemt, das um 1666 auf russischem Boden entstanden war. Vermutlich wagte kein engerer Mitarbeiter des Zaren, ihm Krizanics wichtigstes Buch "Politik oder Gespräche über die Regierung" vorzulegen, da der Autor als persona non grata galt. Diese Unterlassung erscheint tragisch, denn von Krizanic her hätte Peter I. durchaus ein massenwirksames politisches Konzept gewinnen können, und zwar in Form der Idee, daß der Herrscher den Reichtum aller Untertanen anstreben solle durch die gezielte Förderung von Wirtschaft und Bildung, durch eine Überflußproduktion und durch die Gewährleistung niedriger Preise. Eine solche Zielvorstellung hätte allerdings er-

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XXIII. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

fordert, anstelle der Zwangsarbeit dem Prinzip der materiellen Interessiertheit im Produktionsprozeß zum Durchbruch zu verhelfen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß jeder Produzent von den Früchten der eigenen Arbeit selbst hätte profitieren können. Damit aber wäre implizit an den Grundpfeilern der Leibeigenschaft gerüttelt worden, wovor der Zar zurückschreckte, da er die Folgen eines solchen radikalen gesellschaftlichen Umbruchs nicht absehen konnte. Außerdem stand die extensive Ausgabenpolitik des petrinischen Staates, wie sie sich vor allem bei der Erweiterung des Heeres, der Schaffung einer Flotte und dem Bau St. Petersburgs konkretisierte, einer gleichzeitigen Mehrung des Wohlstandes der Untertanen entgegen. Vor allem die lange Kriegsführung verschlang Unsummen von Mitteln, die damit der inneren Wohlfahrt entzogen wurden. Letztlich war dem Zaren aber doch klar, daß breite Bevölkerungsschichten dringend auf eine Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse warteten. So schloß er seine kurze Rede anläßlich der Verleihung der Ehrentitel "Allrussischer Imperator" und "Vater des Vaterlandes" durch den Senat am 22.10.1721 mit den Worten: "Man muß sich um den Nutzen und den allgemeinen Zugewinn bemühen, den Gott uns nach innen wie nach außen vor Augen führt, wodurch das Volk Erleichterung fmden wird. ,,946 Bemerkenswert erscheint dabei, daß günstigere Umstände lediglich für die Zukunft versprochen wurden und daß ihr konkreter Inhalt offenblieb. Als Zwischenergebnis kann man festbalten, daß die Regierungstätigkeit Peters I. nur von einer schwachen ideologischen Ausstrahlung begleitet war, die wesentlich aus dem Bildungsmangel des Regenten herrührte. Statt auf eine innere Motivation seiner Untertanen zu setzen, stützte der Zar seine Herrschaft kompensatorisch auf Zwangsmittel wie die Armee, die Politische Polizei oder eigene eruptive Zornesausbrüche bei geringfügigen Anlässen, mit denen er eine große Furcht verbreitete, um auf dieser Basis von Angst etwaige Widerstände gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der preußische Legationssekretär Johann Gotthilf Vockerodt schilderte den Charakter des Zaren als ausgesprochen rücksichtslos und gewalttätig, fast schon sadistisch. Er schrieb über Peter 1.: "Es ist nur gewiß, daß er die Leiden und Seufzer der Untertanen wenig oder überhaupt nicht berücksichtigte, sondern daß er fast alle Leute so betrachtete, als wären sie zu seinem Vergnügen geschaffen; so erlaubte er sich viele Handlungen, für die man keine andere Erklärung fmden kann als die, daß es ihm Spaß machte, andere Menschen zu kränken, beispielsweise zwang er seine höchsten und ergebensten Diener ohne Rücksicht auf ihre Krankheiten, sich zu amüsieren, d. h. ein Narrenkleid anzuziehen und ohne Kopfbedeckung auf langen Fahrzeugen in Regen und Schneegestöber herumzufahren, oder die Höflinge mußten sich tödlich betrinken und nicht nur diejenigen, die selbst nichts gegen das Trinken einzuwenden hatten oder die sich irgendwie vergangen hatten, sondern auch sehr junge, zarte Mädchen, und er verpaßte ihnen noch Ohrfeigen, wenn sie sich aus einer natürlichen Abneigung heraus

946

Voskresenskij, Zakonodatel'nye akty, S. 156.

xxm. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

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hartnäckig weigerten zu trinken.,,947 Vermutlich hatte der Zar selbst zu viel Alkohol konsumiert, als er die Fremdbestimmung seiner Untertanen solcherart zum Exzeß trieb. Vordergründig könnte man bei diesen Handlungen den politischen Sinn vermissen und sie, wie Vockerodt es tat, lediglich als wilde Launen des Regenten einstufen; hintergründig allerdings vermittelten sie durchaus eine politische Botschaft, indem sie zweifelsfrei klarstellten, daß der Wille des Zaren Gesetz war und ohne Räsonnieren oder Widerrede erfüllt werden mußte. Durch sein gewalttätiges Temperament sowie durch einen drängenden Veränderungswillen, der immer wieder bedeutende fmanzielle Opfer und sogar Menschenleben forderte, dessen Zwecke aber dem Durchschnittsrussen unklar blieben, stellte sich der Zar in Gegensatz zu sämtlichen Schichten der Bevölkerung. Den hohen Adel verprellte er mit der Entmachtung der Bojarenduma, die immerhin eine ehrwürdige, jahrhundertealte Institution gewesen war. Fast alle Adligen lehnten das Einerbengesetz von 1714 ab, das als ungerecht und bedrohlich empfunden wurde, weil es nicht mehr jedem adligen Nachkommen automatisch eine materielle Versorgung garantierte. Das hartnäckige Festhalten des Zaren an der allgemeinen Dienstpflicht für den Adel griff ganz empfindlich in die bisherigen Lebensumstände der Oberschicht ein, indem es dem weitgehend unbehelligten Genießerdasein auf den ererbten Gütern ein Ende setzte. Auch die staatlich verfügte Zwangsumsiedlung zahlreicher Adelsfamilien in die neue Hauptstadt erzeugte bei den Betroffenen inneren Groll, zumal sich die Lebenshaltung in St. Petersburg wesentlich teurer gestaltete als gewohnt und der Verkaufswert der Adelsgüter in der Nähe Moskaus, bedingt durch den befohlenen Exodus, auf die Hälfte sank. Sofern einzelne Adelssöhne gegen ihren Willen zum Studium ins Ausland geschickt wurden und ihre Familien sie nicht einmal materiell unterstützen durften, schuf dies zusätzliche Aversionen gegen den Regenten. Daß dem Adel weiterhin gestattet blieb, die Leibeigenen auszubeuten, und daß der Staat hier jeglichen regulierenden Eingriff unterließ, erschien hingegen traditionsbedingt als ein so selbstverständliches Privileg, daß es die Bindung zwischen dem Herrscher und der Oberschicht nicht speziell verstärkte. Zum Wertehorizont des russischen Adels berichtete Vockerodt erstaunt, daß sich hier niemand für den westeuropäischen Ehrbegriff begeistere, demzufolge militärische Tapferkeit und militärisches Können hohe Tugenden darstellten, sondern daß der Adel des Zarenreiches statt dessen den ungestörten Lebensgenuß auf seinen Gütern vorziehe. In diesem Sinne werde der Nordische Krieg als unnötige und schädliche Aktion abgetan, da der Landwirtschaft nun Arbeitskräfte fehlten und die Verwalter ohne die Aufsicht der im Feld befmdlichen Gutsherm schlecht wirtschafteten. Als Ursache für diesen Krieg galt dem russischen Adel gemäß der Darstellung Vockerodts die überflüssige "Eitelkeit" (samoljubie) des Herrschers sowie einiger ihm nahestehender Berater; viel klüger sei es doch, die Besiedlung brachliegender Territorien und den einheimischen Ackerbau zu fördern, das vorhandene 947 Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 94f.

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XXIll. Spezifika des russischen Absolutismus unter Peter I.

Reichsgebiet genüge bei weitem. 948 Hier zeigte sich also im Kern eine pazifistische Grundhaltung der russischen sozialen Elite. Gerade aus diesen Kreisen die überwiegende Anzahl der Offiziere für Heer und Flotte zu rekrutieren, hieß eigentlich, sich auf eine ideologische Brüchigkeit im wichtigsten Herrschaftsinstrument des Absolutismus einzulassen. Im Unterschied zu seinem Zeitgenossen Ludwig XIV. versuchte Peter I. nicht, den einheimischen Adel durch eine luxuriöse und genußvolle Hofhaltung an sich zu binden und ihm auf diese Weise einen neuen Lebenssinn zu vermitteln, der für verlorengegangene politische Machtpositionen entschädigen konnte. Im Gegenteil verabscheute der Zar Prunk und Etikette, da sie ihn einengten, und bot seinem Gefolge nur selten identifikationsstiftende rauschende Feste. Allenfalls der Zarin Katharina I. und deren Hofstaat gestattete er in dieser Hinsicht etwas Gestaltungsfreiheit. Auch unterließ es der Zar, sein eigenes Leben als Kult zu inszenieren und ausgesuchte Gäste an seinem Aufstehen, den Mahlzeiten und dem Zubettgehen teilnehmen zu lassen, wie es Ludwig XIV. praktizierte. Peter I. hingegen beanspruchte für sich ein etwas stärker abgeschirmtes Privatleben, da er offenbar für seine Rekreation einige Freiräume brauchte. Stärker noch als der Adel hatte die russische Geistlichkeit Anlaß, die Politik des Zaren als Affront zu erleben. Bereits in jungen Jahren verunglimpfte er die kirchlichen Würdenträger durch die herabsetzenden Parodien seines Saufsynods, wobei auch groteske Umzüge vor den Augen der Bevölkerung veranstaltet wurden, um den Spott öffentlichkeitswirksam zu machen und die Autorität der Kirche zu untergraben. Die Abschiebung seiner ersten Ehefrau Evdokija Fedorovna Lopuchina ins Kloster, obwohl sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, sowie das jahrelange Zusammenleben mit einer früheren livländischen Magd in wilder Ehe mußten, gemessen an den sittenstrengen Maßstäben der Orthodoxie, als Sünde erscheinen. Erst recht wirkte die zum Tod führende Folterung des Thronfolgers brüskierend, von dem sich gerade zahlreiche Geistliche eine Restauration der alten Verhältnisse erwartet hatten und den sie partiell mit ihrem Rat unterstützt hatten. Die Konfiszierung eines erheblichen Teils des Klostervermögens ab 1696 überwiegend für militärische Zwecke, die Rekrutierung auch von Kirchenleuten, die Besteuerung des kirchlichen Besitzes zur Versorgung der Armee, ferner die Vergabe ehemaliger Güter des Patriarchen an Parteigänger des Zaren tangierten die materiellen Interessen des Klerus empfmdlich. Die staatlich befohlene drastische Senkung des Eigenverbrauchs in den Klöstern, der neu etablierte Arbeitszwang für Mönche und Nonnen, das Schreibverbot in den Zellen zur Unterdrückung von Widerstand stellten bis dahin unbekannte Eingriffe in einen vorher weitgehend staatsfreien Raum dar und betrafen jeden einzelnen Klostergeistlichen. Das Gebot des Zaren, die Popen müßten das Beichtgeheimnis verletzen und Beichtende mit rebellischen Tendenzen anzeigen, rüttelte an den Grundpfeilern des Vertrauensverhältnisses zwischen den Weltgeistlichen und ihren Gemeinden. Der 1718 verfügte Stop für Neuzugänge im Popenamt 948

Ebd., S. 106ff, Zitat S. 108.

XXIll. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

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zielte auf eine quantitative Schwächung der Kirche ab. Die relative Toleranz des Monarchen gegenüber den Altgläubigen, sofern sie nur doppelte Steuern zahlten, konnte strengen Anhängern der Orthodoxie nicht recht sein, ebensowenig die politische Orientierung des Regenten am häretischen Westen. Den Gipfel der staatlichen Übergriffe auf die Kirche bildete die Abschaffung des Patriarchats im Jahre 1721 und seine Ersetzung durch einen politisch kraftlosen Synod. Mit diesem Schachzug verdrängte der Zar die Kirche zugleich aus ihrer angestammten Rolle, das Gewissen Rußlands zu sein,949 indem er das Beschwerderecht (pravo pecalovanija) ihres obersten Repräsentanten gegenüber dem weltlichen Herrscher gleich mit liquidierte. Insgesamt verspielte der Zar durch diese lange Kette kirchenfeindlicher Eingriffe die Chance, den russischen Klerus als Sprachrohr für die Propagierung der offiziellen Politik gegenüber der Bevölkerung zu gewinnen. Somit blieb die zweifellos vorhandene Autorität der Kirche für die petrinische Reformpolitik unfruchtbar, was sicherlich ein schwerwiegendes Versäumnis darstellte. Da die wegen ihrer Korruption verhaßte Beamtenschaft für staatliche Werbezwecke ausschied und es Bildungseinrichtungen kaum gab, blieb letztlich überhaupt keine Trägergruppe übrig, die dem Volk die Absichten des Monarchen nahegebracht hätte. Es scheint, als habe Peter I. diese Lücke in seiner Politik nicht wahrgenommen. Unter allen Gesellschaftsschichten des Russischen Reiches hatte die Stadtbevölkerung am wenigsten unter dem petrinischen Absolutismus zu leiden. Da sie jedoch mit nur drei Prozent zur Gesamteinwohnerzahl des Landes beitrug, konnte der Zar hier von den quantitativen Bedingungen her keine solide Basis für seine Politik gewinnen. Im Unterschied zum Adel und zur Bauernschaft genossen die männlichen Stadtbewohner das Privileg, sich durch Geldzahlungen vom Dienst in den Streitkräften loskaufen zu dürfen, was ihre Lebensumstände beträchtlich erleichterte, auch wenn die Freikaufsumme mit hundert Rubeln pro Person und Jahr hoch bemessen war. Einigen staatlichen Zwang erfuhren allerdings auch die Städter, so waren sie neben dem Adel vom Verbot des Barttragens betroffen und mußten sich nach westeuropäischem Vorbild kleiden. Ein Teil der reicheren Kaufmannschaft sowie gutsituierte Handwerker wurden mit ihren Familien zur Umsiedlung nach St. Petersburg gezwungen. Ähnlich wurden Kaufleute gelegentlich auch gegen ihren Willen zu Handelskompagnien zusammengeführt. Einige Kaufleute waren gezwungen, ihre Handelsrouten zu verlegen, um von den geringeren Zöllen in der neuen Hauptstadt zu profitieren, deren Wirtschaft protektionistisch gefördert wurde. Die städtischen Unterschichten litten unter beträchtlichen Preissteigerungen insbesondere bei den Grundnahrungsmitteln. Die gesamte Stadtbevölkerung hatte zunehmende Steuerlasten zu tragen, wobei das Geld in erster Linie zur Kriegsführung benutzt wurde.

949 L. Schumacher, Die Stadt im Feuer. Nachdenken über Rußland. Stein am Rhein 1989, S. 44.

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XXli. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

Anders als in Frankreich, Preußen und England zu jener Zeit950 gab es in Rußland keine Ämterkäuflichkeit, durch die wohlhabende Vertreter des Bürgertums in den Adel hätten aufsteigen können, doch schuf der Zar mit der Rangtabelle vom Januar 1722 insofern ein Äquivalent, als mit den obersten acht Stufen der Tabelle automatisch die erbliche Nobilitierung verbunden war. 951 Als Kriterium für den Aufstieg innerhalb der Ranghierarchie sollte die persönliche Leistung gelten. Auf diese Weise konnten zwar theoretisch auch Angehörige niederer Schichten bei entsprechenden Verdiensten geadelt werden, doch in der Realität blieb ein solcher Aufstieg auf wenige Ausnahmen beschränkt, dafür sorgten schon die Schollenbindung bzw. die Verpflichtung zum Verweilen in derjenigen Stadt, wo man als Steuerzahler registriert war. Da in Rußland bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein ein ausgebildeter Juristenstand fehlte, ergab sich für Peter I. keine Möglichkeit der Zusammenarbeit mit dieser Berufsgruppe, um die eigenen Machtansprüche abzusichern, wie es vor allem die französischen Könige mit Hilfe der bürgerlichen Legisten schon seit Jahrhunderten erfolgreich praktiziert hatten. 952 So griff der Zar zur Rechtfertigung seiner Herrschaft ersatzweise auf Theologen zurück, insbesondere auf Feofan Prokopovic, der unter anderem die Thronfolgeordnung gemäß den Wünschen des Regenten verfaßte. Die Lage der russischen Bauern während der petrinischen Epoche war dermaßen hart und hoffnungslos, daß von ihnen keine innere Akzeptanz der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu erwarten war; sie beugten sich lediglich dem äußeren Druck. Im Unterschied zu dem negativen Bild, das sich der Zar von Gros seiner Untertanen machte, indem er sie pauschal als dumm einstufte, beschrieb der preußische Beobachter J. G. Vockerodt den Durchschnittsrussen durchaus als geschickt: der einfache Mann in Rußland könne sich gut ausdrücken, handele zielstrebig, wisse Nützliches von Schädlichem zu unterscheiden und habe den eigenen Vorteil im Sinn. Gegenüber den Ausländern in russischen Diensten benutze der Bauer häufig die Taktik, sich als betont einfältig darzustellen, um die eigenen Interessen hinter der Maske des angeblich Unwissenden besser wahren zu können, beispielsweise um weniger arbeiten zu müssen. In dieser Verstellungskunst zeigte sich die russische Variante der Bauernschläue. Vorsichtshalber hielten die meisten Gesprächspartner zunächst ihre wahre Meinung über den Zaren zurück und äußerten ihren Unmut erst dann, wenn sie ihrem Gegenüber tatsächlich vertrauten. Ausdrücklich bescheinigte Vockerodt den Durchschnittsrussen einen gesunden Menschenverstand. Daß der Zar gar nichts zur Bildung der Bauern unternehme, wertete Vockerodt als Versäurnnis. 953 Tatsächlich war es im Gesamtzusammenhang des Absolutismus sicherlich Absicht, die geistige Quali950 K. Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit. Marburg 1994, S. 47ff, 64ff, 378. 951 Lebedev, Reformy Petra I, S. 78. 952 C. J. Burckhardt, Richelieu, Bd. n, Behauptung der Macht und kalter Krieg. München 1965, S. 13lff. 953 Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 3f, 105.

XXIII. Speziflka des russischen Absolutismus unter Peter I.

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fizierung der Massen brach liegen zu lassen, damit sie nicht nach Selbstbestimmung und politischer Mitsprache drängten. Die russischen Bauern waren die Lastesei der Nation. Sie lebten überwiegend im Status rechtloser Leibeigener und konnten wie Vieh verkauft werden. Ihre Wohnverhältnisse waren bedrückend, da sie zusammengepfercht in viel zu engen, spärlich möblierten Hütten hausten. Vielfach litten sie an Hunger und Kälte. Die erreichbare Nahrung war einseitig und ungesund. Bei Arbeitsverweigerung oder sonstigen Anzeichen von Widerstand wurden die Bauern rücksichtslos verprügelt. Sie unterlagen dem Richterspruch ihrer Grundherm und konnten gegen deren Urteile keine Berufung einlegen, somit waren sie vielfach der Willkür preisgegeben. Für die Frondienste sowie für die Geldund Naturalabgaben an die Grundherm legte der Staat keinerlei Höchstgrenzen fest, was in der Praxis vielerorts zu schrankenloser Ausbeutung führte. Mit der Umstellung von der Hofsteuer auf die Kopfsteuer stiegen außerdem die Zahlungen an den Staat, und nun wurden auch die ärmsten Bauern, nämlich Cholopen und Hintersassen, in gleicher Weise zur Steuer veranlagt wie die Masse der Leibeigenen. In den bäuerlichen Alltag griff der Zar nur insofern ein, als er die Getreideernte mit Sicheln verbot und statt dessen nach baltischem Vorbild den Gebrauch von Sensen verlangte; damit wurde dem einzelnen Bauern eine anstrengendere Arbeitsleistung abgefordert. Diese Maßnahme trug ebensowenig zur Beliebtheit des Monarchen bei wie die häufig stattfmdenden Rekrutierungen für die Armee oder die Abstellung zur Zwangsarbeit in Bergwerken, Manufakturen, zum Kanalbau bzw. zur Errichtung St. Petersburgs. Angesichts dieser vielfachen Belastungsmomente im Leben des russischen Durchschnittsmenschen wird man UstIjalovs emphatische These, daß Zar Peter stets den Nutzen des Volkes bezweckt habe, ablehnen müssen. Viele Bauern versuchten, im Trunk Vergessen zu fmden. Zehntausende flohen im Rahmen der sogenannten Läuflingsbewegung. Wieder andere beantworteten Gewalt mit Gegengewalt, indem sie sich zu Räuberbanden zusammenschlossen und Reisende oder auch Stadtbewohner ausplünderten; dies kam in Russischen Reich viel häufiger vor als in den westeuropäischen oder muslimischen Ländern. Entsprechend überfüllt waren die russischen Gefängnisse. Im Konflikt zwischen dem Zaren und seinem Sohn sympathisierten zahlreiche Bauern mit dem Zarevic, von dem sie sich umealistischerweise erhofften, er werde den Adel in die Schranken weisen und das Los der einfachen Bevölkerung erleichtern. 954 So entwickelte die bäuerliche Unterschicht zwar verschiedene Ausweichstrategien, überwiegend auf individueller Basis, doch zu einer erfolgreichen Massemevolte kam es nicht, da die dünne Besiedlung des Landes sowie die Schollenbindung die Kommunikation zwischen den unterdrückten Massen erschwerten, die einem gemeinsamen Handeln hätte vorausgehen müssen. Ebenso fehlten damals noch die technischen Mittel eines raschen Informationsaustausches.

954

M. M. Gromyko, Mirrusskoj derevni. Moskva 1991, S. 210.

21 Helmert

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XXIII. SpezifIka des russischen Absolutismus unter Peter I.

Zusammengefaßt gab es unter Peter I. keine Gesellschaftsschicht in Rußland, die innerlich mit echter Überzeugung auf der Seite des Zaren gestanden hätte. Insofern lag ein wesentlicher Unterschied zu Westeuropa vor, wo es den Monarchen partiell gelang, relevante Teile des Bürgertums ideologisch für sich zu gewinnen und damit die eigene Machtbasis soziologisch zu verbreitern. Einem ähnlichen Denkmuster folgend stützte Katharina ll. ihre Herrschaft bewußt auf den russischen Adel, dessen Privilegien sie vor allem in der großen Gnadenurkunde von 1785 bestätigte und erweiterte. Zar Peter I. hingegen verprellte sätntliche Bevölkerungsgruppen durch erhöhte Finanzforderungen, durch gängelnde Eingriffe in altgewohnte Bräuche, durch die Verpflichtung zum Heeresdienst oder zur Zwangsarbeit, durch Reglementierungen in der Wirtschaftsweise, durch mangelnden Respekt vor der Kirche, durch die Bevorzugung westeuropäischer Ordnungsrnuster, durch die höhere Bezahlung von Ausländern etc. Infolge seines raschen und eigenwilligen Vorpreschens stürzte der Zar das Land in eine allgemeine Modernisierungskrise. Ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen konnte sich auf diese Weise nicht bilden, und zwar war es wechselseitig gestört: die einzelnen sozialen Gruppen fanden sich in der Politik des Zaren nicht wieder, sondern sahen sich durch ihn in ihren Interessen erheblich und immer wieder verletzt; Peter I. seinerseits blickte arrogant auf das russische Volk herab, hielt es für dumm, uneinsichtig, "eine Heerde unvernünfftiger Thiere" gemäß der Wiedergabe F. C. Webers, kurzum das Volk brauchte nach der Meinung des Regenten angeblich die Zuchtrute, da es selbst zu nichts fähig wäre. Zu einer wohlwollenderen Einschätzung der Massen konnte sich der Zar vermutlich deshalb nicht durchringen, weil er damit implizit seinen eigenen Herrschaftsanspruch in Frage gestellt hätte, denn intelligenten Menschen hätte er aus moralischen Erwägungen sowie aus Gründen der Effizienz eigentlich politische Mitgestaltungsmöglichkeiten einräumen müssen. Indem er sich ungeschickterweise die Feindschaft aller Gesellschaftsschichten zuzog, manövrierte sich Peter I. selbst in die Rolle eines Einzelkämpfers, der durch Gewalt ersetzen mußte, was ihm an Überzeugungskraft fehlte. Sein politisches Engagement galt letztlich weniger dem Volk, zumindest kümmerte er sich nicht um günstigere Lebensbedingungen für die Massen, sondern vielmehr der Größe und dem Ruhm Rußlands, d. h. einem nebulösen Abstraktum, hinter dem er den eigenen brennenden Ehrgeiz versteckte. Letztendlich erwies sich der absolutistische Staat sogar für seinen Regenten als Moloch, der die Arbeitskraft des Herrschers aufzehrte und ihn je länger, desto mehr überforderte, worauf der Zar wiederum mit Flucht in den Alkohol reagierte. In globalökonomischerer Hinsicht waren die Voraussetzungen der petrinischen Herrschaft ungünstiger als die Ausgangsbedingungen für den westeuropäischen Absolutismus. Während die wohlhabendsten Staaten Westeuropas erheblich von der Wirtschaftskraft ihrer Kolonien profitierten, diese skrupellos ausbeuteten und damit den Lebensstandard der einheimischen Bevölkerung anheben konnten, mußte in Rußland ein Aufschwung allein aus eigener Kraft erfolgen. Sibirien, das man als Kolonie vor der Haustür ansehen könnte, brachte damals wegen seiner spärlichen Besiedlung und seiner noch weitge-

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hend unerschlossenen Bodenschätze wenig ein; die Erschließung der reichen dortigen Goldvorkommen etwa begann erst eine Generation nach Peters Regierungszeit. Er selbst setzte seine Präferenzen beim Aufbau von Heer und Flotte sowie bei der Errichtung St. Petersburgs jeweils zu Lasten des Konsumsektors. Von daher gesehen war es für ihn weit schwieriger als für die westeuropäischen Regenten mit ihren Kolonien im Hintergrund, gleichzeitig die Massen materiell zufrieden zu stimmen. Als letztes Spezifikum der Machtausübung Peters I. wäre noch die Auseinandersetzung zwischen dem Zaren und dem Thronfolger Aleksej Petrovic anzuführen, die nach intensiven Folterungen des Zarensohnes mit dessen Tod im Kerker endete, wobei ihm der Vater zu Umecht und mit einem Anflug von Paranoia vorzeitige Herrschaftsgelüste unterstellt hatte. Ähnlich brutal war im 16. Jahrhundert bereits der Sohn Ivans IV. umgekommen. In Westeuropa kam es nicht zu derartigen Exzessen, da sie zu sehr gegen die Staatsräson verstoßen hätten, so ließ etwa Friedrich Wilhelm I. von Preußen im Prozeß gegen den späteren Friedrich 11. im Interesse der Regierungskontinuität gegenüber seinem Sohn letztlich doch Milde walten. Peter I. dagegen beraubte sich und das Russische Reich durch sein gewaltsames Vorgehen staatspolitisch völlig unklug und lediglich von Ressentiments geleitet des legitimen Nachfolgers, der das begonnene Werk hätte fortsetzen sollen. Die Übertragung der Macht an die ehemalige Magd Katharina I. nach Peters Tod im Jahre 1725 bedeutete einen aus der Not geborenen Kompromiß, und ohne die Garde hätte sich die neue Herrscherin nicht halten können. Nach ihr regierte Peters Nichte Anna Ivanovna, anschließend seine Tochter Elisabeth. Diese lange andauernde Frauenherrschaft, die später noch von Katharina 11. fortgesetzt wurde, entsprach eigentlich nicht der russischen Tradition. Wenn sich das Frauemegiment in Rußland zwischen 1725 und 1796 dennoch über rund siebzig Jahre halten konnte, so geschah dies vielleicht deshalb, weil die Bevölkerung unter Peter I. so viel an Lenkung und Drangsalierung erfahren hatte, daß sie anschließend ein erhöhtes Bedürfnis nach Ruhe entwickelte und weibliche Regentinnen gewähren ließ, weil sie von ihnen erwartete, sie würden nicht so hart durchgreifen. Tatsächlich ließ etwa die Zarin Elisabeth während ihrer zwanzigjährigen Herrschaft von 1741 bis 1761 kein einziges Todesurteil vollstrecken und folgte damit einem Gelübde, das sie anläßlich ihrer Thronbesteigung abgelegt hatte. 955

955

21'

Aeischhacker, Mit Feder und Zepter, S. 50.

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung Strukturell betrachtet stellte der russische Absolutismus unter Peter I. weder in diachroner noch in synchroner Hinsicht eine singuläre Erscheinung dar. Was den diachronen Aspekt betrifft, so läßt sich die Epoche Peters I. in ein langes Kontinuum autokratischer Staatsorganisation einordnen, die sich in Rußland von byzantinischen Einflüssen auf den Glauben und die Kirche, auf das Herrschaftssystem und die Machtsymbole über das Beispiel der allein regierenden Mongolenkhane bis hin zur Moskauer Autokratie über viele Jahrhunderte geltend gemacht hatte. Auch nach der Regierungszeit Peters I. setzte sich der Absolutismus im Russischen Reich noch fast zweihundert Jahre ungebrochen fort, bis er infolge der Revolution von 1905/06 durch die Doppelherrschaft von Zar und Duma abgelöst wurde,956 wobei allerdings der Monarch dem Parlament übergeordnet war, da dessen Beschlüsse ohne die Unterschrift des Herrschers Makulatur blieben. Trotz anfänglicher basisdemokratischer Parolen wie "Alle Macht den Räten" brachte auch die Revolution von 1917 keine dauerhafte Einbindung der Massen in den politischen Entscheidungsprozeß, sondern mündete nach kurzer Zeit in die Diktatur Stalins, dessen Herrschaft man als eine Art Auferstehung des Zarentums unter pseudosozialistischem Vorzeichen auffassen könnte. Diese erneute Entmündigung des Volkes wurde ideologisch durch Lenins Einschätzung vorbereitet, daß die Arbeiter von sich aus lediglich ein trade-unionistisches Bewußtsein entwickelten, sprich sich nur für materielle Verbesserungen interessieren würden, so daß sie der politischen Lenkung durch eine Partei von Berufsrevolutionären bedürften. Im Grunde lag hier eine analoge These zur Meinung Peters I. vor, der die russische Bevölkerung pauschal für geistig beschränkt erklärt hatte, um daraus die Quasi-Legitimation für seine eigene Machtfülle zu gewinnen. Wenn Rußland heute eine Präsidialdemokratie mit weitreichenden Vollmachten des Präsidenten aufweist, so könnte man diese Staatsform, insofern als sie auf einen Entscheidungsträger hin zugespitzt ist, als abgeschwächte Fortführung einer über Jahrhunderte hinweg praktizierten autoritären Machtstruktur interpretieren. In der zeitlich synchronen Perspektive fallt eine weitreichende Parallelität zwischen dem russischen Absolutismus und den in Westeuropa bevorzugten Staatsformen des beginnenden 18. Jahrhunderts ins Auge, wobei unter den Großmächten nur England mit seinem parlamentarischen System eine Ausnahme bildete. Zwar unterschied sich die Herrschaft Peters I. von den französischen Bedingungen durch die religiöse Toleranz des russischen Monarchen, die unverzichtbar war, wenn er andersgläubige Ausländer ins Land holen 956 Torke, Autokratie und Absolutismus, S. 48.

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

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wollte, und abweichend von Preußen unter Friedrich Wilhelm I. verfolgte Peter I. keinen strikten Sparkurs, da seine intensive Kriegsführung hohe Finanzmittel erforderte. Hinsichtlich des Strukturrahmens jedoch übernahm das Russische Reich unter Peter I. sämtliche für den Absolutismus wesentlichen Elemente zur Effizienzsteigerung in der Herrschaftsorganisation, insbesondere das stehende Heer, eine Flotte, eine straffer durchkonzipierte Zentralverwaltung, die Kopfsteuer und das merkantilistische Instrumentarium staatlicher Wirtschaftsförderung. Ebenso kam es damals zu ideologischen Anleihen bei der absolutistischen Staatstheorie des Westens, was etwa die Lehre vom Gesellschaftsvertrag oder den Begriff des Allgemeinwohls betraf. In personeller Hinsicht sollten Hunderte von westeuropäischen Fachkräften die russische Wirtschaft und Technik, das Militärwesen und die Bürokratie auf einen moderneren Stand heben. So wurde die traditionelle Moskauer Autokratie zeitgemäß herausgeputzt, die Zarenmacht gefestigt. Der Absolutismus in Rußland hielt sich sehr lange und erstreckte sich über einen weiten Raum hin. Als Hauptursache für den ungewöhnlichen Erfolg dieser Staatsform könnte man ihre unkomplizierte gedankliche Grundstruktur vermuten: der Herrscher befiehlt, alle anderen führen aus, d. h. die gesellschaftlichen Rollen sind klar und unmißverständlich verteilt, niemand kann sich herausreden, er verstehe nicht, was von ihm erwartet werde, Konflikte darf es der Theorie nach nicht geben, da der Wille des Monarchen automatisch Gesetz ist. Stützend kam noch hinzu, daß auch sonstige soziale Beziehungen, nämlich die zwischen dem Grundherm und seinen Leibeigenen, dem Kaufmann und seinen Gehilfen, dem Bürovorsteher und den einfachen Schreibern, dem Offizier und der Mannschaft, dem Vater und dem Rest der Familie, analog konstruiert waren, so daß sich ein durchgängiges Verhaltensmuster von Befehl und Gehorsam allein schon durch Gewohnheit, tausendfältige Übung und das prägende Beispiel der Umgebung einschliff. Kam es dennoch zu Widersetzlichkeiten, so sorgten die Knute bei individueller Empörung bzw. der Einsatz der Armee gegen kollektive Rebellen für den Erhalt der alten Zustände, d. h. der Absolutismus überlebte dank ständiger latenter Gewaltandrohung bzw. Gewaltausübung. Günstig für den Fortbestand des Absolutismus wirkte sich ferner aus, daß es in Rußland nur wenige Organe der Diskussion und der politischen Mitbestimmung gegeben hatte: die Bojarenduma seit der Kiever Zeit, die Bürgerversammlungen in den Städten (vece) seit dem Mittelalter sowie die Reichsversammlungen (sobory) des 17. Jahrhunderts. Die Kompetenzen all dieser Einrichtungen waren nirgendwo gesetzlich fixiert. Sie tagten nicht permanent, sondern traten lediglich von Fall zu Fall zusammen, und auch das nur nach der Einberufung durch den Zaren bzw. durch das Stadtoberhaupt. So hatten sie bereits von ihren organisatorischen Voraussetzungen her einen schweren Stand gegenüber der ununterbrochen tätigen Selbstherrschaft, die zudem die Exekutive kontrollierte und über das Heer als Machtrnittel verfügte. Zur Zeit Peters I. waren vece und sobory politisch bereits liquidiert, die Bojarenduma ließ der Zar auf diesem Wege folgen, da er allein entscheiden wollte.

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XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

Das ideologische Fundament des russischen Absolutismus um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert war eher schmal. Da Zar Peter I. ganz entschieden eine Transzendierung der vorgefundenen Verhältnisse in Militär, Wirtschaft, Verwaltung und Lebensweise anstrebte, konnte er sich des überkommenen Legitimationstopos, daß seine Herrschaft auf der Tradition (starina) beruhe und diese fortsetze, nicht mehr unbekümmert bedienen, ohne in die Gefahr zu geraten, sich in Widersprüche zu verwickeln. Folgerichtig ließ er dieses Rechtfertigungsmuster hinter anderen Argumenten zurücktreten, während sich noch seine Vorgängerin Sofja im Auftreten gegen die revoltierenden Strelitzen mit Erfolg auf die alte Ordnung berufen hatte. Wenn man versucht, Max Webers Klassifizierung von Herrschaft auf die petrinische Epoche anzuwenden, so stellt man fest, daß damals aus der Praxis heraus der traditionale Herrschaftstypus durch das rationale Modell ergänzt wurde, wie es nahelag in einem Zeitalter, zu dessen philosophischen Hauptwerten die Vernunft zählte. Obwohl der Zar selbst das modeme Wort "Rationalisierung" nicht benutzte, so umschrieb es doch ein zentrales Anliegen seiner Verwaltungs- und Heeresreformen, wobei als Bezugspunkt der "ratio" die Machtkonzentration in der Hand des Regenten sowie der "Ruhm Rußlands", hier identisch gesetzt mit der Stärke des Staates nach innen und außen, dienten. Von einer charismatischen Herrschaft dagegen sollte man im Zusammenhang mit Peter I. nicht reden, da er weder die Masse des Volkes noch die soziale Elite mehrheitlich für die eigene Politik gewann. Die Rede vom "Ruhm Rußlands" könnte als staatstragender Mythos im Sinne Kolakowskis aufgefaßt werden. Im Westen entsprach diesem Zielwert die pathetische Orientierung an der Größe der Nation oder auch, sachlicher präsentiert, an der sogenannten "Staatsräson". Unter den vier Staatskategorien, wie sie earl Schmitt entwickelte, treffen die Begriffe "Regierungsstaat" mit stark autoritärer Führung sowie "Verwaltungsstaat" auf das petrinische Rußland zu; dabei wirkten diese beiden Kräfte häufig nicht zusammen, sondern es traten insofern Spannungen und Reibungsverluste auf, als die Absichten der Staatsspitze durch die Tätigkeit der ihr untergeordneten Behörden häufig konterkariert wurden. Als ein Hauptpfeiler der Legitimierung blieb dem Zaren Peter I. die Behauptung, er sei von Gott als dessen irdischer Stellvertreter berufen, seine Machtfülle sei Gottes Wille. Diese These wurde mit dem Bibelwort aus Römer 13, Vers I belegt: "Es ist keine Macht, es sei denn von Gott." Im Volk allerdings, das Anlaß zur Unzufriedenheit mit seinem Regenten hatte, verbreitete sich das Gerücht, es handele sich bei Peter I. in Wahrheit um einen Usurpator der Regierungsgewalt, da er kein legitimer Nachkomme des Zaren Aleksej Michajlovic sei, sondern lediglich ein untergeschobener Ausländer, deshalb verfolge er auch eine prowestliche Politik. Wenn Teile der Geistlichkeit weinende Ikonen gegen Peter auftreten ließen, so äußerten sich hier ebenfalls. symbolisch verbrämt, Zweifel an der Gottgewolltheit seiner Herrschaft. Unter diesen Bedingungen einer bereits stark durchlöcherten Akzeptanz in der Bevölkerung erscheinen die kirchenfeindlichen Aktionen des Zaren umso riskanter. denn er geriet damit tendenziell in die Gefahr, die Unterstützung des

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

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Klerus zu verlieren, der ja über den christlichen Glauben Wesentliches zur Pazifizierung der Bevölkerung beitrug. Als ergänzendes, für Rußland neues Gedankengut zum Zweck der Herrschaftsstabilisierung fungierte unter Peter I. die Idee vom Allgemeinwohl, zu dem er sich verbal häufig bekannte. Allerdings fehlten dabei verbindliche Kriterien, an denen man hätte ablesen können, ob eine Maßnahme dem Allgemeinwohl diene oder nicht. Indem der Zar den Senat beauftragte, die Einzelinhalte des Allgemeinwohls zu definieren, gab er indirekt zu erkennen, daß der Begriff für ihn selbst unklar war; übrigens zeigte sich auch der Senat mit dieser Definitionsaufgabe überfordert. So kam es in der Praxis dazu, daß der Zar bzw. sein Chefideologe Feofan Prokopovic der Einfachheit halber sämtliche Einzelinhalte der Regierungspolitik als Beitrag zum Allgemeinwohl ausgaben. Beim Volk stießen sie jedoch mit dieser Behauptung auf wenig Resonanz, denn es empfand die allgemeine Korruption, den schleppenden Gang der Verwaltung und Rechtsprechung, das Räuberunwesen, die steigenden Steuern sowie die häufigen Rekrutierungen für die Armee oder zu Zwangsarbeiten bei staatlichen Großbauprojekten mit Recht als harte Belastungen. Auf diese Weise kontrastierte die Behauptung, die Herrschaft des Zaren fördere das Allgemeinwohl, eklatant mit der Realität und blieb von daher in weiten Bereichen lediglich eine Worthülse. Diese Diskrepanz zwischen der angeblichen Arbeit der Regierung für das Gemeinwohl und der tatsächlichen Verschlechterung der Situation der Massen stellte einen der neuralgischsten Punkte in der petrinischen Politik dar. Außerdem konnte der theoretische Anspruch, daß man die Qualität von Regierungsentscheidungen an ihrem jeweiligen Beitrag zum Allgemeinwohl messen müsse, bei seiner .Nichteinlösung leicht die Unzufriedenheit der Bevölkerung und insbesondere der Intellektuellen mit dem Status quo vertiefen. Faktisch äußerte sich ein entsprechender Unmut in Aleksandr Nikolaevic Radiscevs bitterer Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit im Zarenreich, ferner im Offiziersputsch der adligen Dekabristen von 1825 sowie in den Aktionen der Narodniki und der revolutionären Terrorgruppen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Insofern barg die Propagierung des Gemeinwohls als des obersten Staatszwecks auf längere Sicht etwas Subversives in sich. Die von Hobbes entwickelte Lehre vom Gesellschaftsvertrag als Rechtfertigung monarchischer Herrschaft griff Prokopovic nicht in der Originalversion auf, derzufolge die Bürger untereinander übereingekommen seien, ein gemeinsames Oberhaupt anzuerkennen und diesem die Macht zu übertragen, sondern Prokopovic konstruierte analog zur Nestorchronik eine russische Vertragsvariante, daß sich nämlich das Volk auf ewig der Regierungsgewalt eines Monarchen unterstellt habe. In den offiziellen Staatsdokumenten aus der Zeit Peters I. fmdet man diese Theorie überhaupt nicht wieder, da es vermutlich schon gefährlich erschien, der Bevölkerung überhaupt zu suggerieren, sie habe früher einmal ihre Staatsform frei gewählt, denn dies hätte eventuell die Forderung nach einer Wiederholung des Wahlaktes aufkommen lassen können. Ganz intensiv dagegen beschwor Prokopovic den verinnerlichten Gehorsam als politische Haupttugend der Untertanen, sie sollten alle Gebote des Za-

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ren "aus dem Gewissen heraus" (iz sovesti) erfüllen. In der Praxis allerdings zeigten sich die Massen weniger aus Überzeugung gehorsam, sondern beugten sich eher zähneknirschend der Überlegenheit der Staatsrnacht oder folgten ihr aus Angst vor Bestrafung. Zu einer echten inneren Akzeptanz des russischen Absolutismus konnten die von ihm betroffenen Menschen kaum bewogen werden, denn eine Theorie, die alle Macht bei einer Person zusammenballte und den Rest der Bevölkerung zu politischen Nullen degradierte, mußte per se unattraktiv wirken. Ebensowenig waren die staatstragenden Werte wie allgemeine Dienstpflicht, Gehorsam, Fleiß, Treue zum Regenten, Denunziation von Gegnern des Regimes sowie die Forderung nach roboterartigen Beamtentugenden geeignet, intrinsische Motivationen aufzubauen. Bezeichnenderweise fehlte in der russischen Herrschaftsauffassung des Absolutismus jeder Hinweis auf ein Widerstandsrecht der Bevölkerung gegen ungerechte Monarchen, wie es Bodin und Grotius zweifelsfrei zugelalisen hatten. Prokopovic meinte statt dessen, das Volk müsse sich auch starrköpfigen (stroptivym) Regenten gegenüber stets willfährig zeigen, da auch diese von Gott gegeben seien. Wo Bodin großen Wert auf eine am Recht orientierte Regierungsgewalt gelegt hatte, unterdrückte Prokopovic diese Idee vorsichtshalber und verpflichtete den Monarchen auch sonst in keiner Weise, gemäß dem aus Rom und Byzanz übernommenen Grundsatz "princeps legibus solutus est". Ebensowenig griff Prokopovic die Ansicht Bodins auf, daß der Herrscher zunächst lernen müsse, sich selbst zu beherrschen, bevor er nach außen wirke, denn angesichts der ungezügelten Temperamentsausbrüche Peters I. hätte eine derartige Forderung denjenigen, der sie äußerte, leicht den Kopf oder zumindest die Stellung kosten können. Die fortschrittliche Idee des Naturrechts bei Grotius, das den einzelnen vor staatlicher Willkür schützen sollte und das im 18. Jahrhundert durch die Menschenrechte konkretisiert wurde, deutete Prokopovic herrschaftsstabilisierend um, indem er behauptete, das wichtigste Naturgesetz sei die Existenz einer obersten Macht über das Volk; anders gesagt, Prokopovic übernahm hier zwar den Begriff, füllte ihn jedoch mit einem abweichenden Inhalt. Insgesamt ging der Chefideologe Peters I. bei der Übernahme westlichen Gedankenguts also in der Weise selektiv vor, daß er alle Elemente wegließ, die den Unwillen des Zaren hätten erregen können, d. h. Prokopovic verhielt sich kraß opportunistisch und hatte dabei vorrangig keineswegs das Allgemeinwohl im Sinn, sondern sein persönliches Fortkommen. Da von der Staatstheorie des russischen Absolutismus wenig bis gar keine Anziehungskraft ausging, mußte der Zar zur Durchsetzung seiner Machtansprüche auf wirksamere Mittel zurückgreifen. In diesem Zusammenhang entschied er sich für das Militärwesen als Hauptstütze seiner Herrschaft. Die Dominanz des Militärischen zeigte sich unter Peter I. in vielen Details: Wo sein Vater Aleksej Michajlovic noch weitgehend aus dem Gottesdienst heraus regiert hatte, extemporierte Peter Alekseevic seine Verordnungen großenteils auf Feldzügen, wobei ihm vermutlich oft gar nicht alle erforderlichen Unterlagen zur Verfügung standen. Bereits als Jugendlicher begeisterte sich der spätere Zar für militärische Übungen, die er mit den Gefahrten aus seinen

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

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Spielregimentern regelmäßig unternahm. Aus dem Kreis dieser Leute rekrutierte sich später die Leibgarde des Zaren, das Preobraienskij-Regiment und das Semenovskij-Regiment. Dank einer guten Besoldung und einer einflußreichen gesellschaftlichen Stellung war die Garde dem Zaren treu ergeben und gehörte 1725 zu dem zahlenmäßig geringen Teil der Bevölkerung, der den Tod Peters I. bedauerte. 957 Als historische Vorbilder wählte sich der Zar die militärischen Genies Alexander den Großen und Cäsar, deren Expansionspolitik er nachzuahmen suchte, indem er während der letzten 25 Jahre seiner Herrschaft fast ununterbrochen Krieg führte ohne Rücksicht auf die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung. Die Gründung St. Petersburgs verfolgte neben dem wirtschaftlichen Aspekt auch strategische Ziele, indem die neue Hauptstadt den Zugang zur Ostsee sichern und Schweden aus der Vormachtstellung in diesem Raum verdrängen sollte. Der Flottenbau unter Peter I. diente ausschließlich Kriegszwecken, während der Export mangels einheimischer Tonnagekapazitäten weiterhin auf westeuropäischen Handelsschiffen abgewickelt wurde. Bei der Entstehung der neuen Manufakturen dominierten Großbetriebe für die Rüstungsproduktion, und auch die Tuchfabriken sowie die Lederindustrie aus dem Konsumgüterbereich arbeiteten überwiegend für den Bedarf der Streitkräfte. Den deutlichsten Indikator für das Übergewicht des Militärischen im Gesamtzusammenhang der petrinischen Politik lieferte die Finanzpolitik; hier wurden bis zu 78 Prozent der Staatseinnahmen für das Heer und die Flotte verbraucht, während etwa für die Meliorisierung der Landwirtschaft, also den ganz überwiegenden Erwerbszweig im damaligen Rußland, überhaupt kein Etatposten vorgesehen war. Ferner bestand ein auffälliges zahlenmäßiges Mißverhältnis zwischen den Streitkräften und der Beamtenschaft. Während Peter I. das russische Heer von 130 000 Mann zu Beginn seiner Regierungszeit auf 210 000 Personen gegen Ende seiner Herrschaft aufstockte und neu eine Flotte von 28 000 Mann entstehen ließ, gab es zeitgleich im Russischen Reich nur etwa 12 000 Behördenrnitarbeiter oder einen Beamten auf 1 250 Angehörige der Bevölkerung, also ein eher geringes Kontingent. Vermutlich wäre die russische Bürokratie mit mehr Beamten, die sich gegenseitig hätten kontrollieren können, weniger korrupt gewesen, ferner hätte der Verwaltungsablauf beschleunigt werden können. So aber erfolgte der Ausbau der Militärkraft unter Vernachlässigung der Zivilverwaltung. Entsprechend rangierten in der Rangtabelle von 1722 die militärischen Dienstgrade vor den zivilen Ämtern, und hinsichtlich der Bezahlung der Staatsdiener verfügte der Zar, daß bei Geldknappheit des Fiskus die Angehörigen der Streitkräfte vorrangig vor den Vertretern des zivilen Sektors zu versorgen seien. Selbst bis in das Bildungswesen hinein wirkten militärische Interessen, so wenn die "Vedornosti" über russische Kriegserfolge berichteten, wenn Bücher zum Festungsbau übersetzt wurden oder wenn den Grundschülern das fünfte Gebot in der Weise nahegebracht wurde, daß es hieß, die Tötung des Gegners im Krieg sei erlaubt.

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Vockerodt, Rossija pri Petre Velikom, S. 105.

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XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

Bei seiner Bevorzugung des Militärischen erfuhr Peter I. nur wenig Widerstand, lediglich der Senator Fürst Jakov Fedorovic Dolgorukij wagte es, den Zaren darauf hinzuweisen, daß er sich stärker dem Zivilbereich widmen müsse, wenn er die Herrschergröße seines Vaters erreichen wolle. Tatsächlich erwies sich das Heer für die Sicherung der Herrschaft des Zaren als unentbehrlich, indem es sowohl die Aufständischen in Astrachan' als auch die BauernrebelIion unter Kondratij Bulavin als auch mehrere kleinere Revolten der BaSkiren niederschlug; ferner diente es als Druckmittel bei der Steuereintreibung. Peter I. betrieb also mit dem forcierten Ausbau des Militärs insofern eine realistische Politik, als die ideologischen Stützen seiner Herrschaft allein nicht ausgereicht hätten, um seiner Macht Dauer zu verleihen. Damit agierte er analog zu den westeuropäischen absolutistischen Herrschern, die sich ebenfalls auf starke Armeen stützten, um die Bevölkerung im Zaum zu halten. Um zu erreichen, daß die Streitkräfte wirklich ein gefügiges Instrument in den Händen des Regenten blieben und sich nicht verselbständigten, unterwarf der Zar die Soldaten, Matrosen und Offiziere einer strengen Disziplin und verhängte harte Strafen bei den kleinsten Vergehen. Zusätzlich schüchterte er den Oberkommandierenden des Heeres, den Feldmarschall Boris Petrovic Seremetev, durch häufige Gängelei im Detail sowie durch harsche Anweisungen bis hin zu Todesdrohungen im Falle des Abweichens vom zarischen Befehl dermaßen ein, daß der Feldmarschall ängstlich kuschte. Von der Seite der Untertanen her betrachtet fällt auf, daß sich keine Schicht der Bevölkerung wirklich mit der petrinischen Politik identifizierte. Zahlreiche Einzelursachen dafür wurden bereits genannt. Materiell entscheidend war, daß die bäuerlichen Massen, die 94 Prozent der Gesamtpopulation stellten, vielfach lediglich am Existenzminimum dahinvegetierten, in ärmlichen Behausungen lebten, zerlumpt gekleidet gingen und Hunger litten. Ihre ohnehin harten Ausgangsbedingungen verschlechterten sich unter Peter I. noch weiter infolge erhöhter Steuerlasten sowie einer verstärkten Heranziehung zum Militärdienst bzw. zu den staatlichen Großbauvorhaben. Ideologisch konnte der Zar die Massen nicht wirkungsvoll prägen, zumal er sich auch die Geistlichkeit als potentielle Verrnittlungsinstanz zwischen Herrscher und Volk zum Feind gemacht hatte. Aber selbst wenn die Inhalte der absolutistischen Staatstheorie an der gesellschaftlichen Basis bekannter gewesen wären, hätten sie dort keine Begeisterung ausgelöst, denn sie boten im Wesenskern nur Fremdbestimmung an. Schließlich sank die IdentifIkation der Bevölkerung mit dem Regenten noch dadurch, daß Peter I. selbst den alten Mythos vom angeblich wohlwollenden Zaren demontierte, indem er widersprüchlich und verwirrend auftrat, nämlich einerseits volksnah und andererseits völlig autoritär und unberechenbar. "Dem Zaren nah, dem Tode nah" - krasser als in diesem, damals gängigen russischen Sprichwort läßt sich die Ablehnung des Herrschers kaum ausdrücken. In Puskins Poem "Der eherne Reiter" erscheint die Formulierung, Peter I. habe "das Fenster nach Europa aufgehackt" (prirodoj zdes' nam cuideno v Evropu prorubit' okno), womit der Dichter zunächst die Gründung von St. Petersburg umschrieb. In einem weiteren Sinne könnte man diese Wendung

XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

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allgemein als Leitmotiv der petrinischen Politik auffassen, zumal in dem Verb "prorubit'" = aufhacken die gewaltsame Komponente in der Aktion des Zaren zum Ausdruck kommt. Peter I. betrieb die Öffnung seines Landes zum Westen im großen und ganzen als Einzelkämpfer gegen die traditionelle Fremdenfeindlichkeit der russisch-orthodoxen Kirche und gegen die Abwehrhaltung breiter Teile des Volkes, dessen Meinung im Absolutismus allerdings generell nicht zählte. Dabei bestand die Zielvorstellung des Zaren darin, die Rückständigkeit Rußlands gegenüber Westeuropa zu überwinden, den Ruhm und die Stärke des Reiches zu erhöhen und es letzten Endes zu einer Vorrangstellung unter den Großmächten zu führen. Mit der Verwirklichung dieses Anspruchs hätte Rußland machtmäßig endlich den hohen Rang eingenommen, der seiner territorialen Weiträurnigkeit entsprach. Im Grunde erstrebte Peter I. für Rußland von Osteuropa aus dasselbe, was zeitgleich Ludwig XIV. zugunsten Frankreichs in Westeuropa erkämpfen wollte, nämlich die Hegemonie über die Nachbarstaaten. Die Zwecke der zarischen Politik waren also wesentlich außengeleitet. Im Innern des Landes wirkte sich die erzwungene Anspannung aller Kräfte dahingehend aus, daß die Bevölkerung ihre letzten Reserven mobilisieren mußte und erheblich litt. Das Individuum zählte fast nichts, der Staat alles. Ganz ähnliche Tendenzen wiederholten sich im 20. Jahrhundert unter Stalin, der die Parole ausgab "Den Westen einholen und überholen" und der für dieses Ziel einer imperialen Geltung Rußlands vom Volk ebenfalls massive Opfer forderte. Die Arbeitslager des Gulag setzten in erweitertem Maßstab die Zwangsarbeit aus der Zeit Peters I. fort, wobei lediglich der jeweilige Herrscher über die Zielrichtung der geforderten Anstrengungen bestimmte. Da von der russischen Bevölkerung über Jahrhunderte hin hohe Arbeitsleistungen bei geringem persönlichem Nutzen verlangt wurden, kam es verständlicherweise zu einer mißtrauischen Haltung gegenüber staatlichen Institutionen. Dieselbe Skepsis gegenüber der Obrigkeit ist auch heute noch in Rußland weit verbreitet; die Massen sind mit der Regierungspolitik unzufrieden, überwiegend, weil es ihnen materiell schlecht geht.

Die dauerhafteste Wirkung Peters I. könnte man darin sehen, daß sich die von ihm akzentuiert betriebene Öffnung für westeuropäische Einflüsse fortan als ein unurnkehrbares Element der russischen Politik erwies, insofern als die Standards für Heer, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Technik, Wertvorstellungen und Lebensweise an westlichen Vorbildern ausgerichtet wurden. Was die personelle Verflechtung betraf, so bekleideten zahlreiche Westeuropäer in Rußland einflußreiche politische Positionen, insbesondere während des 18. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert erlangte, gestützt auf die Oktoberrevolution, die westliche Philosophie des Marxismus eine gestaltende Kraft für die russische Geschichte und bestimmte die Geschicke vieler Menschen, wenn auch teilweise in pervertierter Form. In jüngster Zeit sollte die "Perestrojka"Periode unter Gorbacev ab 1985 den politischen und ökonomischen Anschluß des Landes an die westlichen Demokratien durch die Nachahmung des Parlamentarismus sowie des marktwirtschaftlichen Systems sicherstellen. Man gewinnt den Eindruck, daß sich die Beeinflussung aus Westeuropa in Rußland

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XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

nicht als stets gleichmäßige Flut, sondern als wellenfönnig an- und abschwellende Bewegung geltend machte. Während also eine prowestliche Grundausrichtung in der russischen Politik bis heute fortwirkt, war längst nicht allen Einzelmaßnahmen aus der Regierungstätigkeit Peters I. Langlebigkeit beschieden. Manche Weichenstellungen aus seiner Politik hingegen blieben bis zum Ende des Zaremeiches bestehen. Bereits im Dezember 1729 wurden unter der Regentin Anna Ivanovna die Fiskale wieder abgeschafft, die als eine Art geheim ennittelnder Finanzpolizei bei der übrigen Bürokratie sehr unbeliebt waren und die partiell selbst wieder Bestechungsgelder angenommen hatten. Der schwache Zar Peter m. beseitigte im Jahre 1762 die Dienstpflicht des Adels, und auch Katharina 11. erließ 1785 einen umfangreichen Gnadenbrief zugunsten dieser Gesellschaftsschicht, um die Oberklasse durch Privilegien an sich zu binden und damit die Basis für die eigene Herrschaft zu verbreitern. Mit dieser Vorsichtsmaßnahme zur sozialen Absicherung ihrer Macht, indem sie sich Bündnisgenossen suchte, bewies Katharina 11. eine höhere Sensibilität für die Angreifbarkeit sogar autokratischer Herrschaftspositionen, während Peter I. in dieser Hinsicht sorgloser vorgegangen war und naiver auf seine eigenen Kräfte vertraut hatte. Im Zuge einer umfangreichen Verwaltungsreform unter Alexander I. gingen die unter Peter I. geschaffenen Kollegien ab 1802 in Ministerien auf, die gleichfalls nach westeuropäischem Muster eingerichtet wurden. Der Senat hingegen bestand bis zur Revolution von 1917 fort, allerdings beschränkt auf die Funktion einer obersten Justizkontrollbehörde. Ebenso amtierte der Synod als kollektive Kirchenleitung bis 1917, dann wurde er im Zuge einer allgemein antiklerikalen Politik der Bol'Seviki aufgelöst. Die Prokuratur als die Vorstufe zur Staatsanwaltschaft hielt sich gleichfalls bis 1917. An der Rangtabelle wurden einige Veränderungen vorgenommen, doch blieb sie der grundlegende Organisationsrahmen für die russische Beamtenhierarchie bis zum Zusammenbruch des Zaremeiches. Die unter Peter I. neu eingerichtete Polizei hielt sich bis heute, ebenso das stehende Heer und die Flotte. Die politische Polizei als Sonderinstitution zur Bekämpfung regierungsfeindlicher Aktivitäten existierte unter verschiedenen Bezeichnungen fort vom Preobraienskij prikaz über die Dritte Abteilung, die unter Nikolaus I. entstand,958 bis hin zum KGB der Sowjetperiode, wobei der Einfluß dieser Überwachungsorgane mit den wachsenden Möglichkeiten der Technik zunahm. Unter den von Peter I. gegründeten Bildungsinstitutionen arbeitet die Akademie der Wissenschaften erfolgreich bis zur Gegenwart, doch leidet sie in den letzten Jahren unter erheblichen Kürzungen ihres Etats. Zu den größten Errungenschaften aus der Zeit Peters I. gehörte das Aufkommen einer von der Verwaltung getrennten Justiz, die allerdings im 20. Jahrhundert infolge des Seilschaftsprinzips, wie es innerhalb der KPdSU praktiziert wurde, häufig nicht wirklich unabhängig agierte. Nach der Revolution von 1917 verlegten die Bol'Seviki den Sitz der Hauptstadt von Petrograd zurück nach Moskau, da die958 Arnburger, Geschichte der Behördenorganisation, S. 71, 277, 118f, 74, 112,57, 55, 145f.

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ser Ort zentraler lag, leichter zu verteidigen war und die Bevölkerung dort ein weniger kritisches Potential bildete als in der eher westlich-intellektuell geprägten Ostseemetropole. Die Fläche des Reiches verkleinerte sich seit 1988, als die fünfzehn ehemaligen Unionsrepubliken der UdSSR nach und nach eigene Staaten bildeten, wobei das relativ reiche Baltikum die Separationsbewegung begann. Damit wurde der multiethnische Charakter des Herrschaftsraumes zugunsten von Nationalstaaten zurückgedrängt, jedoch nicht völlig aufgegeben, da auch in jedem der neuen Länder ethnische Minderheiten leben. Der Zerfall der UdSSR in separate Republiken belegt ein über Jahrhunderte hin tradiertes Versäumnis, das sich auch in der Politik Peters I. bemerkbar machte, daß nämlich keine Verschmelzung der verschiedenen Nationalitäten zu einem einheitlichen Staatsvolk stattfand, sondern das Problem des multiethnischen Charakters der Bevölkerung heruntergespielt bzw. verdrängt wurde. Partiell ungerechte Behandlungen ethnischer Minderheiten sowie eine Bevorzugung der Russen bei der Vergabe von Leitungsfunktionen taten ein übriges. In sozialpsychologischer Hinsicht stellt nach wie vor die Trunksucht in Rußland ein erhebliches Problem dar, das auch durch die Anti-AlkoholKampagnen unter Andropov und Gorbacev nicht effektiv bekämpft werden konnte; der jetzige Präsident Rußlands spricht in ähnlicher Weise dem Alkohol zu, wie es seinerzeit Peter I. tat. Zum Räuberunwesen der petrinischen Epoche bildet heutzutage die Mafia ein Pendant, allerdings verfügt sie im Unterschied zu den damaligen Gesetzesbrechern über einflußreiche Mittelsmänner in offiziellen Kreisen und wird damit umso schwerer angreifbar. Die russische Unterschicht war über Jahrhunderte hin arm, ohne Schulbildung und gläubig; heute ist sie weiterhin wenig begütert, im übrigen jedoch gebildeter und mehrheitlich atheistisch. Dieser Rückgang des Glaubens bei gestiegenen Kenntnissen erhöht die Erwartungshaltung gegenüber den Politikern und dürfte die Beherrschbarkeit der Massen erschweren. Von seiner Gesamtwirkung her gehört Peter I. zweifellos zu den ausgeprägtesten und selbst prägendsten Herrscherpersönlichkeiten der russischen Geschichte. Seine Regierungszeit war eine dynamische Epoche. Er initiierte eine Art Revolution von oben, mit der er seinem Land den Anschluß an die Modeme sichern wollte, um es letztlich über andere Staaten zu erheben. In ähnlicher Weise einschneidend wirkten nach ihm noch Alexander 11. mit der Aufhebung der Leibeigenschaft, die Bol'seviki mit ihrem weitgefacherten Programm der Verstaatlichung sowie Gorbacev, indem er eine erneute Anpassung der Sowjetunion an die politischen und wirtschaftlichen Standards des Westens in Gang setzte. Uberwiegend erfolgten diese Umwälzungen im Sinne einer Erziehungsdiktatur ohne ausreichende Rücksichtnahme auf den Bewußtseinsstand der Massen, insofern besteht in Rußland eine lange Tradition autoritärer Herrschaftspraxis. Wegen der mangelnden Erfahrung in Sachen Selbstverwaltung werden wohl auch die in jüngster Zeit eingerichteten demokratischen Institutionen des Landes erst allmählich in ihre bislang ungewohnte Rolle hineinwachsen.

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XXIV. Zusammenfassende Einschätzung

Bei seinen Übernahmen aus Westeuropa ließ Zar Peter I. ein tieferes Verständnis für den kulturellen Hintergund dieses Raumes vermissen, so etwa für die seit der Renaissance gestiegene Bedeutung des Individuums, für korporative Organisationsformen mit verbrieften Rechten, für die protestantische Arbeitsethik, derzufolge man bereits im Diesseits die Gnade Gottes erkennen kann, und zwar am eigenen wirtschaftlichen Erfolg, für den Anspruch, daß der einzelne die Früchte seiner Arbeit auch genießen können muß, wenn die Motivation zur Tätigkeit nicht erlahmen soll, für das Streben nach gesellschaftlichen Freiräumen, in denen Wissenschaft und Kunst erst gedeihen können, oder auch für die Bedeutung des Parlamentarismus als Institution zur Kanalisierung gesellschaftlicher Konflikte. Da der Zar selbst westeuropäische Lebensumstände nur eingeschränkt rezipierte, wobei er sich vor allem vom höheren Standard der Wirtschaft, Verwaltung und Technik blenden ließ, philosophische und soziale Werte hingegen kaum wahrnahm, blieb die von ihm eingeleitete Europäisierung Rußlands in geistiger Hinsicht unvollständig. Dieser rudimentäre Anpassungsvorgang rächte sich insofern, als die russische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit kein Verständnis für das Reformwerk des Zaren aufbrachte, da ihr der geistige Horizont des Westens unerschlossen blieb. Als Motivationshebel bei der Umstrukturierung des Staates benutzte der Zar im wesentlichen äußeren Zwang, doch damit konnte er die Masse des Volkes nicht zu erhöhtem Gewerbefleiß bewegen. Rußland blieb arm, seine Wirtschaftsproduktivität verharrte auf einem geringen Niveau, insbesondere in der Landwirtschaft, und auf dieser Basis waren auch der Tätigkeit der Staatsspitze enge Grenzen gesetzt. Wirklich mobilisierend hätte wohl nur eine allgemeine Bauernbefreiung in Form der Aufhebung der Leibeigenschaft wirken können, und so wäre es endlich auch zu einer IdentifIkation breiter Bevölkerungsschichten mit dem Regenten gekommen; doch wagte Peter I. diesen Schritt nicht, vermutlich weil er befürchtete, die gesellschaftlichen Kräfte, die er auf diese Weise freigesetzt hätte, würden unbeherrschbar werden. insofern als es der Zar trotz seiner Machtfülle versäumte, günstigere Lebensbedingungen für die Massen zu schaffen, sondern sie im Gegenteil noch stärker belastete als es vor seiner Herrschaft üblich gewesen war, erscheint mir der Beiname "der Große" bezogen auf Peter I. problematisch. Seiner Staatsauffassung fehlte es an Humanität.

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Penonenregister Adomeit, K., Rechtshistoriker 21 Adomo, T. W. 12 Adrian, Metropolit 63, 117, 224f Aleksandr Nevskij, Großfürst 79, 82, 162 Aleksej Michajlovic, Zar 55, 58, 83, 105,119, 190,224,253,297,315, 326,328 Aleksej Petrovic, Zarevic, Sohn Peters I. 70, 87, 117f, 204, 228, 280, 283,318,321 Alexander 1., Zar 332 Alexander n., Zar 333 Alexander der Große 54f, 82, 162f, 179,304,329 Anna, byzantinische Prinzessin 296 Anna Ivanovna, Nichte Peters I. 105, 114,323,332

Blüher, J. F., sächsischer Bergbaufachmann 196 Blumentrost. L., Leibarzt Peters I., 292 Bodin, J. 21, 46ff, 50, 53, 56, 67, 74, 76f,328 Bogoslovskij, M. M., Historiker 24, 211 Bonifaz vm., Papst 224 Bossuet, J.-B. 21, 51, 53, 58, 72f, 76 Brevem, H. v., Vizepräsident des Justizkollegiums 197 Bruce, J., Präsident des Berg- und Manufakturkollegiums 197,275 Buganov, V. 1., Historiker 27 Bulavin, K. A., Bauernführer 74, 145~ 161,210,279,330 Burckhardt, J., Historiker 13, 17

Anpilogov, G. N., Historiker 193 Apraksin, F. M., Generaladmiral 84, 100, 105, 197,209 Aquin, Thomas v. 46 Areskine, R., Leibarzt Peters I. 292 Aristoteles 46, 48 August der Starke, König von Sachsen und Polen 21, 181, 247 Augustus, römischer Kaiser 54 Baluze, J. C. de, französischer Diplomat 23

Cäsar, J., römischer Imperator 43, 82, 162,164,179,192,304,329 Calvin, J. 79, 224 Christian V., dänischer König 106 Cracraft, J., Historiker 29 Croy, K. E. v., russischer Feldmarschall 179 Cruys, C., Vizepräsident des Adrniralitätskollegiums 203

Basileios 11., byzantinischer Kaiser 296

Dekabristen 327

Bismarck, O. v. 66

Descartes, R. 20

Demidov, N. A., Waffenschmied 144

348

Personenregister

Dolgorukij, J. F., Senator, Präsident des Revisionskollegiwns 105, 197, 330 Dolgorukij, J. V., Oberst 130, 145 Dolgorukij, M. V., Senator 191 Donnert, E., Historiker 27, 11 Donskoj, D., Fürst 162

Golovin, F. A., Kanzler 87 Golovkin, G. 1., Kanzler 90, 101, 197 Gorbacev, M. S., Präsident UdSSR 27,331,333

der

Gordon, P., General 22 Gregor Vll., Papst 224

Dosifej, Bischof 118

Grotius, H. 21, 45, 48f, 52f, 66, 77, 328

Dukes, P., Historiker 28

Guardini, R., Thoeloge 17

El'cin, B. N., Präsident der russischen Föderation 7, 333

Habermas, J. 12

Elisabeth I., Zarin, Tochter Peters I. 61, 323

Heinrich vm., englischer König 233

Ersov, V. S., Vizegouverneur 101 Evdokija F. Lopuchina, erste Frau Peters I. 117f, 225, 318 Fedor Alekseevic, Zar 55, 58f, 63, 103, 133, 163, 226, 253, 315

Heinrich IV., französischer König 282 Hittle, J. M., Historiker 29, 37 Hobbes, T. 15f, 21, 45, 49ff, 62, 72, 77,115,327 Hoffmann, P., Historiker 27 Huyssen, H., Hofmeister Peters I. 184

Filaret, Patriarch 224

Indova, E. 1., Historikerin 26

Fontana, G., Architekt 182

Ioakim, Patriarch 116f, 224

Friedrich ll., preußischer König 21f, 67,164,280,323

Isaj, Metropolit 225

Friedrich IV., dänischer König 106 Friedrich Wilhelrn 1., preußischer König 81, 169,251,280,307,323 Gagarin, M. P., Gouverneur von Sibirien 100,281, 312 Geiss, 1., Historiker 36 Glück, E., livländischer Pastor 268 Goloj, N., BauernItihrer 145 Golicyn, D. M., Gouverneur von Kiev, Präsident des Karnrnerkollegiums 100, 197,211,248,275 Golicyn, M. M., Generalleutnant 269 Golicyn, P. A., Gouverneur von Archangel'sk, Senator 191

Ivan ill., Zar 54, 56, 120, 132, 289, 314 Ivan IV., Zar 56, 87f, 94f, 120, 129, 132, 189,284, 296f, 304, 307, 311, 323 Jaguzinskij, P. 1., Generalprokuror 81,202 Janovskij, F., Vizepräsident des Synods 118,230 Jaroslav der Weise, Großfürst 82 Javorskij, S., Patriarchatsverweser 84,118, 225ff, 230f, 283 Josef von Volokolamsk, Abt 55, 76 Joseph ll., deutscher Kaiser 34, 113f Justinian, byzantinischer Kaiser 297

Personenregister Karamzin, N. M., Historiker 25 Karl XI., schwedischer König 233 Karl XII., schwedischer König 82, 161, 179, 192,210

349

Ludwig XIV., französischer König 20f, 34, 51, 67, 71, 81, 91, 157, 164, 169, 201, 251, 275, 282, 307, 318,331

Katharina I., zweite Frau Peters 1., Zarin 52f, 62, 70, 80, 84, 88,102, 174,244,268,288,290,318,323

Malettke, K., Historiker 20

Katharina ll., Zarin 103, 182, 323, 332

Maria Theresia, deutsche Kaiserin 34, 71

Kelsen, H., Jurist 14, 16

MarkelI, Metropolit 224

Kljucevskij, V. 0., Historiker 25, 54, 103,143,173

Machiavelli, N. 15, 21, 45f, 53, 156

Massie, R., Historiker 29

Kolakowski, L. 14,326

Matveev, A. A., Präsident des Justizkollegiums 6Of, 159, 197

Konstantin der Große, byzantinischer Kaiser 18lf

Mazarin, J., französischer Staatsmann 233

Konstantin IX., byzantinischer Kaiser 297

Medvedev, S., Theologe 60

Korb, J. G., kaiserlicher Diplomat 23, 80, 86, 237f, 286f Kreksin, P. N., Biograph Peters I. 61, 162 Krizanic, J., Staatstheoretiker 58f, 74ff, 238, 263, 315 Kurbatov, A. A., Vizegouverneur 101, 157, 191 La Vie, Sieur de, französischer Diplomat 23, 92, 239 Leblond, J. B., Architekt 182

Meehan- Waters, B., Historikerin 103 Meinecke, F., Historiker 15, 20 Mel'nickij, M. P., Senatsbeamter 191 Mensikov, A. D., Favorit Peters I., Präsident des Kriegskollegiurns 81, 90, l00ff, 168,170,197,209,211, 243,281,312 Michail Fedorovic, Zar 55, 163 Miljükov, P. N., Historiker 137 Montesquieu, eh. de 16 Musin-Puskin, I. A., Präsident des Staatskontors 191,197,226

Le Donne, J., Historiker 29 Lefort, F., Admiral 311

Narodniki 327

Leibniz, G. W. 196,275

Natalja Kirillovna, Mutter Peters I. 82,224

Leitsch, W., Historiker 238 Lenin, V. I. 324 Lenötre, A., Gartenarchitekt 182 Leopold I., deutscher Kaiser 60, 65, 307 Lomonosov, M. V., Universalgelehrter 61 Luther, M. 50, 89, 108, 118,223

Nikolaus I., Zar 332 Nikon, Patriarch 56, 114,224 Nepljuev, I. 1., Diplomat 82, 86, 269 Nesterov, A., Oberfiskal 100, 142, 193 Ogilvy, G., Feldmarschall 311

350

Personenregister

Ol'ga, Fürstin von Kiev 60

Radiscev, A. N., Schriftsteller 327

Ol'minskij, M., Historiker 26

Raeff, M., Historiker 28f, 40f, 146

Opuchtin, V. A., Senator 191

Rastrelli, C. B., Architekt 182

Parsons, T., Soziologe 17 Pavlenko, N. I., Historiker 26, 30, 179 Perry, J., englischer Ingenieur 23, 62, 92, 136, 280, 287 Peter 1., Zar - Außeres 80 - Bildung 8lf, 315 - Charakter 80f, 88 - Religiosität 89f - Selbstverständnis als Regent 63ff, 82f Peter 11., Zarevic 70 Peter III., Zar 103, 332 Philipp, W., Historiker 187 Platonov, S. F., Historiker 25 Plemjannikov, G. A., Senator 191 Pleyer, 0., kaiserlicher Diplomat 23, 36, 169 Pokrovskij, M. N., Historiker 26 Polockij, S., Lehrer des Zaren Fedor A1ekseevic 63 Polybios, Historiker Popper, K. R. 13 Pososkov, I. T., Kaufmann und Schriftsteller 23, 55, 92, 99, 107, 110, 123f, 134, 139, 142, 278, 283, 285f Preobraienskij, A. A., Historiker 26 Prokopovic, F., Erzbischof und Chefideologe Peters I. 21, 45, 7lff, 112, 115, 228, 230, 272ff, 290, 313,327f

Richelieu, A. J., französischer Staatsmann 21, 181, 233 Romodanovskij, F. J., Leiter der Politischen Polizei 85, 90 Rüsen, J., Historiker 13 Samarin, M. M., Senator 191 Schädel, G., Architekt 182 Schlüter, A, Architekt 182 Schmitt, C., Staatsrechtier 14f, 326 Skornjakov-Pisarev, G. G., Oberprokuror 202 Skoropadskij, I. I., ukrainischer Hetman 43 Sofja A1ekseevna, Regentin, Halbschwester Peters I. 55, 59f, 65, 82, 87,97,161,224,315,326 Sofrenko, K. A, Historiker 210 Sokovnin, A. P., Rebell 156 Solov'ev, S. M., Historiker 25 Solov'ev, V. S., Philosoph 58 Spiridonova, E. V., Historikerin 26, 238,263 Stalin, J. V. 26, 263f, 324, 331 Stresnev, T. N., Gouverneur von Moskau, Senator 191 Stroganov, G. D., Unternehmer 122, 176 Stupperich, R., Historiker 29 Syromjatnikov, V. 1., Historiker 26f, 30 Safirov, P. P., Vizekanzler 66, 100, 197,203

Pufendorf, S. v. 21, 45, 51ff, 72

Scerbatov, M. M., Historiker 24, 77, 105

Puskin, A S. 330

Scukin, A., Senatssekretär 191

Personenregister Seremetev, B. P., Generalfeldmarschall 85, 87, 105, 130, 168f, 330

351

Vockerodt, J. G., preußischer Diplomat 23, 136, 165, 310, 316f, 320 Volkonskij, G. S., Senator 191

Talickij, G., Mönch 156

Weber, F. c., hannoverscher Diplomat 23, 92, 129, 136ff, 184, 236, 285,322

Tatiscev, V. N., Historiker 35,257 Tichonov, Ju. A., Historiker 26 Tolstoj, P. A., Diplomat, Präsident des Kommerzkollegiums 101, 197 Torke H.-J., Historiker 28

Weyde, A., Vizepräsident des Kriegskollegiums 197, 311 Whitworth, Ch., englischer Diplomat 23,88

Toynbee, A. J., Historiker 13 Trezzini, D., Architekt 182 Trubeckoj, J. J., Präsident Hauptmagistrats 127, 131

Weber, M. 17f, 326

des

UstIjalov, N. G., Historiker 24, 321

Vierhaus, R., Historiker 20 Vladirnir Monomach, Fürst von Kiev 297 Vladimir Svjatoslavic, Fürst von Kiev 296

Wittram, R., Historiker 27, 180,210 Wolff, C., Philosoph 53 Zickler, I., Rebell 156 Zoe Palaiolog, byzantinische Prinzessin 297 Zotov, N. M., Lehrer Peters 1., 162, 175,284 Zotov, V. N., Generalrevisor, 1 Zosima, Metropolit 57 Zeljabuzskij, M. V., Oberfiskal193

Sachregister Abgaben an den Grundherm (obrok) 133,321 Absolutismus 11, 18ff, 76, 155, 171, 180f, 188, 191, 201, 28lf, 289, 291, 296f, 312ff, 319, 322, 324ff Absolutismus, theokratischer 51, Adel 57, 94ff, 142, 168, 191, 209, 212, 220, 249, 253, 258, 267ff, 277,281,283,314,317f Advokaten 220f Amterkäuflichkeit 320 Arzte 184, 29lf Akademie der Wissenschaften 245, 275f, 310, 332 Alkoholismus 11, 27, 88f, 111, 137, 171, 207, 248, 277f, 288, 316f, 321f,333 Allgemeinwohl 30, 5lff, 58f, 62ff, 66, 69f, 73f, 76f, 150, 155, 258, 263, 273,285,295,327

Auslandsstudium 100, 174, 269f, 277, 317 Autarkie 38, 174f, 256, 261, 263 Autokratie 56f, 71, 76, 284, 289, 296f, 314, 324f Bankwesen 260,310 Bartscheren 104, 117, 129, 225, 306, 319 Beamte 36f, 40, 152ff, 189ff, 197ff, 312f, 329, 332 Bergbau 255ff, 259, 279,310 Besiedlung 39, 313, 32lf Betteleiverbot 145, 293f Bibliotheken 128, 275 Bildung 99f, 110, 146, 160, 243, 245, 250, 265ff, 329 Bischöfe 227ff, 230 Bodenschätze 35f, 255f, 262, 323

Altgläubige (Raskolniki) 87, 114f, 223,227,282,319

Börsen 260

Antike 37, 46, 48, 265

Bojaren 94f, 97, 103f, 144, 190,272

Apotheken 184,257, 291f, 305

Bojarenduma 97, 106, 190,281, 298, 317,325

Armenhäuser 293 Assembleen 128f

Bol'Seviki 332f Bürgenneister 126f, 245

Aufstände 42, 129f, 145f, 156, 161, 279, 330

Bürgertum 120ff, 265

Ausländer 124f, 161, 166, 243, 253ff, 308, 310~ 320, 331

Bürgerversammlung (vece) 120, 302, 314, 325

Ausländerfeindlichkeit 59, 331

Byzanz 21, 56f, 223, 296ff, 324

Ausländervorstadt in Moskau 82, 305 Auslandsreise des Zaren 82, 305f, 334

Cäsaropapismus 56

353

Sachregister China 32, 192,207,283

Folter 220, 279, 323

Cholopen 135f, 143, 251, 268, 278, 321

Frankreich 34, 39, 97, 100, 106, 131, 133, 136, 142, 177193,201,233, 241, 251, 307, 309~ 324 Frauen 136f, 291, 294f, 316f

Dänemark 102, 106, 196, 307

Frauenemanzipation 129,280

Deserteure 167,178,281 Deutschland 40, 196, 233, 253, 289 Dienstadel 95, 205, 298

Frauenregiment 323 Freizügigkeit 283f, 294 Frondienste (barscina) 133f, 143, 321

Dienstgedanke 84f, 150, 295 Dienstpflicht 98f, 106, 283, 302, 309, 317,332

Gebete für den Zaren 100f, 272f

Diplomatie 189, 196, 243f, 270, 302

Gefängnisse 217, 279, 286, 321

Disziplin 175, 177f, 268, 272, 280, 330

Gehorsam 71, 75f, 152, 196, 233, 280, 327f

Dorfgemeinde 132f, 299

Geistlichkeit 107ff, 266, 268, 281, 318f,326

Eherecht 137, 279

Generalreglement der Kollegien 69, 198ff

Ehrbegriff 66, 95, 170, 200, 268f, 280,317

Gerechtes Gericht 60, 68, 70, 117, 190,192,219

Einerbengesetz 96, 103f, 281, 288, 309,317

Gerichtswesen 8f, 134f, 192, 194, 205,218ff

England 40, 56, 71, 115, 131, 177, 233, 253, 260, 269, 286, 288, 307ff,324

Gerichtswesen, kirchliches 223, 225, 227, 232, 299f

Epanagoge 62

Gesellschaftsvertrag 50, 52f, 72f, 77, 327

Erziehungsdiktatur 333

Gesetzgebungsumfang 23

Export 236f, 251, 26lf

Gilden 124, 128 Glaubensfreiheit 42, 28lf

Fernhandelskaufleute 125

(gosti)

122f,

Gottes Wille 49, 55f, 58ff, 70, 72f, 148f, 296,326

Finanzwesen 180,230, 235ff

Gouvernements 138, 194,

Fiskalität 37, 158f, 193, 204, 216f, 231,187,287,289,299,312,332

Gouverneure 36f, 96, 126, 130, 139, 158, 191, 195f, 209, 245, 247ff

fleiß 74, 154, 198

Grenzen 3lff, 42

Flotte 40, 69, 175ff, 242ff, 250, 293, 295,323,325,329

Großbauprojekte 144, 151,284,327

Flottenreglement 176ff

23 Helmen

209f~

246

Großmachtstreben 11, 33, 68f, 16lff, 251, 263~ 304, 307, 33

354

Sachregister

Handel 108, 122ff, 187, 190, 239, 253f, 259f, 271, 307, 319

Klöster 107, II1ff, 230, 265, 291ff, 300,303,318

Handelsbilanz 261

Kollegialprinzip 191,209,229,284

Handwerk 123f, 271, 303, 309f

Kollegien 100, 178, 182, 194ff, 246ff, 287f, 308, 332

Hauptmagistrat 127, 196,262 Heer 40, 143, 161ff, 242ff, 301, 307, 321,329 HeeresregIement 169ff, 219, 280, 306 Heroldmeister 99, 195,309 Herrschaft 15f, 18 Hintersassen 135,251,321 Höchstpreise 294f Hofgerichte 202f, 289 Hofsteuer 142, 241

Kollektivbittschriften 172, 177, 253, 271, 283 Kommissar, ländlicher 215f, 245 Konfessionen, nichtchristliche 115f, 232f, 313

41,

Kopfsteuer 142f, 231, 235, 241, 243, 246 Kormlenie-Denken (Selbstversorgung aus dem Amt) 157, 205, 212, 226, 235, 286, 313

Hofzeremoniell 297f

Korruption 7, 11, 37, 98ff, 126, 157f, 209, 214,245,286~299, 312, 319

Humanismus 38, 303, 334

Krankenhäuser 291 f

Hungersnot 147, 149,240,250,294

Kreditwesen 120, 124,259 Krönungszeremoniell 297f

Indien 161,263

Kultur 128, 276f

Individuum 71, 104, 108, 169, 267, 331,334

Kunstkammerl82,274f

Industrie 9, 144, 174, 186, 254ff Inflation lOf, 238f, 241, 244, 251

Läuflingsbewegung 139ff, 145, 167, 321

Italien 46, 269

Landvermessung 34f

Jasak (Natural steuer in Sibirien) 236, 243

Landwirtschaft 9f, 137f, 255, 329, 334 Lebensstandard 10, 252 Lehnswesen 19, 298f

Kaisertitel33, 290, 316

Lehrkräfte 267f, 271f

Kalenderreform 265f

Leibeigenschaft 59, 64, 132ff, 137ff, 278,316,321,334

Kamerier 213ff, 245 Kanalbau 183, 260f, 263, 309 Kaufleute 122ff, 237, 253f, 258, 260, 271,277

Leibgarde 162, 171, 173f, 244, 329 Lineartaktik 164 Lokalverwaltung 7, 205ff

Kleiderordnung 92, 104, 123f, 306 Klima 31

Macht 16ff

Sachregister Machtbalance 198, 203f, 218, 251, 284 Mafia 9,333 Manufakturen 144f, 186, 257ff, 310, 329 Menschenwürde 155, 278f Merkantilismus 35, 237, 263, 310 Modemisierung 38, 68, 245, 265, 333 Mongolen (Tataren) 32, 37f, 57, 120, 129, 164,223,289, 30lff, 324

355

Patriarchats verweser 225, 283 Patronagenetzwerk 97 Perestrojka 331 Persien 138, 161, 192,240,263,307 Petersburg 36, 104, 131, 144, 181f[, 300,307,321,329 Peuplierung 183 Polen 32, 34, 59, 104, 121, 136, 138, 207,242,286,289

Moskau als drittes Rom 125,298,305

Politische Polizei 156f, 190, 201, 282, 316,332

Münzwesen 33, 112, 231, 236ff, 251, 257

Polizeistaat 111,113, 127ff, 154,185, 200,215, 217f, 309

Mythos 14, 180

Poltava 66f, 73, 85, 183, 191, 243, 266 Popen 109ff, 241, 271

Narva 179,181,225

Post 260, 301

Nationalbewußtsein 313 Nationalitäten 40ff, 155, 166, 240, 281,313f Nationalstaaten 7, 56, 333 Naturrecht 48, 53f, 59, 62, 72f, 328 Nestorchronik 54, 327 Niederlande 115, 134, 177,253,269, 305,308 Nivellierungstendenzen 154,281f

103,

113,

Nordischer Krieg 65f, 161, 164, 226, 233,262,267 Normannen 32

Preußen 65, 71, 102, 115, 131, 164, 174,241,280,282,307,309,325 Privilegien 95f, 107, 122f, 186, 249, 258f, 317, 332 Prokuratur 37, 20Uf, 218, 231, 284, 287, 312 Protektionismus 261ff Provinzen 212,218,247, 313 Räuberbanden 145,321,333 Rangplatzordnung (mestnicestvo) 59 Rangtabelle 102f, 280, 320, 329, 332 Rationalismus 20, 115, 326

Österreich 34, 241, 245, 302

Rechtsstaat 201, 220, 278ff

Offiziere 96, 166f[, 170ff, 177f, 231, 241,249,281,292[,295,318

Reichsversammlung 314, 325

Orthodoxie 21, 108ff, 115, 296, 318f

Rekrutierung 165

(sobor)

Renaissance 38, 45, 303, 314 Parlamentarismus 8, 324, 334

Requestenmeister 195

Paßsystem 64, 140f, 172, 283f

Ressortprinzip 203

Patriarch 56, 63, 114, 116f, 224f, 299

Revolution von 1905/06 324

23*

190f,

356

Sachregister

Revolution von 1917 324

Staatsmonopole 235, 239f, 248, 253

Rollenspiel des Zaren 85f, 168

Staatsräson 45, 67, 228, 267, 282, 292,323,326

Ruhm Rußlands 67, 69, 150, 258, 263,322,326,331

Staatssiegel 32 Staatswappen 297f

Säkularisierung 70f, 84, 118

Staatszwecke 46ff, 285

Saufsynode 89, 111,232, 318

Städte 57, 120ff, 289, 299f, 303, 309, 314,319

Schatzmeister 216,245 Schollenbindung 38, 120, 134, 253, 283,299,321 Schreibverbot in Klosterzellen 113, 318 Schriftlichkeit von Verwaltungsakten 160 Schuldpranger 111, 129, 280 Schulen 267f, 270ff Schweden 65, 73, 82, 84, 102, 161f, 167, 174, 181, 183, 187f, 191f, 196ff, 210, 213, 225, 233, 243, 263, 300, 306f~ 329

Stände 57, 79, 288, 302, 309, 314 Steuerflucht 98, 129f, 167 Steuerfreiheit 96, 112 Steuergerechtigkeit 249f Steuern 36,114,117, 122f, 125f, 129, 132f, 151, 206ff, 212ff, 235f, 240f Steuerpacht 122f, 151,240 Strafrecht 169ff, 177f, 279f, 302 Straßen 36, 182, 185,253,260,309 Strelitzen 55, 63, 86, 130, 163f, 172, 181,224,288

Selbstmorde 166f

Subsistenzwirtschaft 39, 253

Senat 67, 85, 100, 183, 191ff, 212, 226, 231, 247, 259, 268, 283ff, 292, 332

Symphonia (Eintracht zwischen Staat und Kirche) 223

Sibirien 32, 34ff, 205, 207f, 235, 281, 295,312,322 Souverän 50, 75, 79ff, 87 Souveränität 47, 74, 306 Sozialfürsorge 112f, 116, 291ff Spielregimenter 162 Sprichwörter 147ff Staatsanleihen 247 Staats bauern 132

Synod 109, 115, 118, 228ff, 244, 284, 288,292,309,332 Territorium 31ff, 60, 312f Thronfolgeordnung 21, 72, 74f, 161 Todesstrafe 170ff, 177, 200, 280 Tradition 35, 54f, 60, 231, 314, 326 Treueschwur 152f, 213, 227 Türken 61, 65, 67, 73f, 161, 163f, 191,263,307

Staatsbegriff allgemein I1ff, 57 Staatsformen 12f

Ukraine 43

Staatshaushalt 241ff, 250f

Ulozenie (Gesetzbuch von 1649) 97, 134,170,285

Staatskirchentum 118, 225ff, 235, 282,284 Staat als Maschine 20, 150, 160

Ungarn 286 Unterrichts inhalte 270, 272ff

Sachregister Untertanen 42, 46ff, 50ff, 54ff, 63f, 69ff, 73, 75f, 188, 261, 264, 282, 290,322

357

Wirtschaftsfdrderung 245, 247, 253ff, 267, 325 Wirtschaftsproduktivität 334 Wohlfahrt 52, 151,242,244, 29lff

Vater des Vaterlandes 70, 290, 316 Vaterland 67, 70, 73, 82, 156, 229, 263 Verschleppung von Prozessen 159, 219

Wohlstand 14, 58, 63f, 67, 70, 120, 125, 128, 155, 238, 315f Zarenmythos 93, 330

Vielvölkerstaat 40ff, 155, 313

Zeitschrift "Vedomosti" 255, 266, 329

Voevoden 100, 125ff, 140f, 158, 205ff, 212ff, 293

Zentralämter (prikazy) der Moskauer Epoche 189f, 195,203,235

Volkslieder 280

Zentral verwaltung 189ff, 308, 314, 325

Volkszählung 39f, 94, 120, 30lf Vorkaufsrecht des Staates 256 Vorratswirtschaft 294f

Zölle 122ff, 151, 186,201, 214, 235f, 239f, 243, 251, 253f, 259ff, 319 Zünfte 124

Waisenhäuser 293

Zwangsarbeit 183f, 208, 259, 263, 279,313,316,327,331

Werften 257

Zwangsheirat 137

Widerstandsrecht 48f, 53, 56, 328

Zwangsumsiedlung 183, 319