Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance [1 ed.] 9783428587940, 9783428187942

In diesem Buch werden unterschiedliche Wirtschaftsformen der griechischen und römischen Antike, des Mittelalters, des Fe

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Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance [1 ed.]
 9783428587940, 9783428187942

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 108

HUBERT KIESEWETTER

Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance

Duncker & Humblot · Berlin

HUBERT KIESEWETTER

Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 108

Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance Von

Hubert Kiesewetter

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-18794-2 (Print) ISBN 978-3-428-58794-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Der Kapitalismus bildet eine ebenso vorübergehende Phase der Entwickelung der menschlichen Wirtschaft wie jene Wirtschaftsformen, die dem Kapitalismus vorausgegangen sind, jetzt aber schon der Geschichte angehören.“ M. von Tugan-Baranowsky, 1901

Vorwort Der Kapitalismus als ein globales Wirtschaftssystem, das aus egoistischen Profitmotiven mehr und mehr produziert und auf der ständigen Suche nach neuen, absetzbaren Produkten im weltweiten Maßstab ist, bestimmt unser aller Leben im 21. Jahrhundert, selbst wenn wir uns mit seinen negativen Folgen nur ungerne beschäftigen wollen. Was uns in den letzten 250 Jahren, zuerst in England, dann in einigen europäischen Staaten und schließlich in den USA, Japan sowie seit etwa drei Jahrzehnten in China wie eine alle tieferliegenden Schichten zerstörende Dampfwalze überrollt hat, bedeutet einen solchen dramatischen Einschnitt in der jahrtausendealten Weltgeschichte, dass die vorhergehenden historischen Epochen wie wirtschaftliche Zwerge gegenüber einem kapitalistischen Goliath erscheinen. Die meisten Europäer und Amerikaner haben sich allerdings bereits an ein so hohes, durch den internationalen Kapitalismus erzeugtes, Wohlstandsniveau gewöhnt, dass sie nicht gründlich hinterfragen, ob Millionen Menschen in dem langen Zeitraum von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit wegen regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöten, menschenvernichtenden Seuchen und verheerenden Kriegen ständig mit einem heute unvorstellbaren, unkalkulierbaren Lebensrisiko leben mussten, mit dem sie unvermeidbar konfrontiert wurden, ohne irgendeine Abwehr- oder Ausweichmöglichkeit. Die Industrielle Revolution seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt für die meisten, heute lebenden Menschen zu lange zurück, um sich eine realistische Vorstellung von den revolutionären ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüchen machen zu können, die sich seit dieser Zeit ereigneten und die die vorherige Weltgeschichte von ihren überwiegend agrarischen Beinen auf einen tragenden ökonomischen Kopf gestellt haben. Diese industrielle Epoche in einen Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus zu unterteilen, wie man es üblicherweise in der ökonomischen und wirtschaftshistorischen Literatur vorfindet, oder sogar in einen ,Halb-, Mittel-, Tiefkapitalismus‘ (Ernst Wagemann), kann uns nur ein sehr unvollständiges Bild von den eigentlichen Faktoren der entsprechenden Zeitperioden vermitteln.

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Vorwort

Das politische und existentielle Verschwinden des fast die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmenden Gegensatzes zwischen amerikanischem Kapitalismus und sowjetischem Kommunismus wirft erneut eine alte Frage auf, nämlich ob der Kapitalismus ein überholtes Wirtschaftssystem darstellt, das nicht nur die natürliche Umwelt zerstört oder unterentwickelte Staaten in einer durch die ökonomische Globalisierung erzeugten wirtschaftlichen Abhängigkeit hält und belässt, sondern ob er überhaupt noch dazu fähig ist, die gravierenden Probleme, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, zu bewältigen und angemessene Lösungen dafür umzusetzen. In dieser kleinen Schrift möchte ich einigen, seit der beginnenden Industrialisierung aufgeworfenen Fragen nachgehen, was Kapitalismus überhaupt bedeutet und ob er genügend Wandlungsbereitschaft oder -willen aufbringen konnte und kann, um die weltweiten Ungleichgewichte beim materiellen Wohlstand, wenn nicht zu beseitigen, dann doch wenigstens zu reduzieren. Die komplizierte ökonomische Theoriensprache habe ich zu vermeiden versucht, um auch dem interessierten Laien einen überblicksartigen Eindruck davon zu vermitteln, welche außerordentlichen Schwierigkeiten darin bestehen, die historische Entwicklung des heute in vielen Staaten dominierenden Wirtschaftssystems, des Kapitalismus, angemessen zu erfassen und erklären zu können. Der seit dem frühen 19. Jahrhundert anhaltenden Debatte über die menschlichen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus, die von seinen Kritikern mit harten Bandagen geführt wurde, möchte ich einige positive Facetten gegenüberstellen und interpretatorische Überlegungen vortragen, was ein politisch gezügelter Kapitalismus für ein wohlstandsgesättigtes Leben zu erreichen in der Lage war und ist. Ob der moderne Kapitalismus in einer dienstleistungsdominierten Welt von Computern, Internet und Künstlicher Intelligenz überleben kann, hängt m. E. nicht von seiner ausgewiesenen Fähigkeit ab, selbst eine Massennachfrage nach nützlichen und unnützen Produkten in unseren Freizeitgesellschaften zu befriedigen, sondern von einer weltweiten liberalen Politik, die wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen muss, um die schlimmsten Auswirkungen eines ungezügelten und korrupten Kapitalismus zu kontrollieren und eventuell einzudämmen oder zu beseitigen. Kapitalistische Staaten in einer globalisierten Welt sind eigentlich ein überholtes Paradox, denn Nationalismus ist mit einem weltweit agierenden Wirtschaftssystem unverträglich. Die nationale Betrachtungsweise führt häufig zu eigenartigen Interpretationen, womit der Kapitalismus

Vorwort

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alles in Verbindung gebracht wird, ohne darüber zu reflektieren, ob sich dahinter nationale Besonderheiten verbergen, die mit ,Kapitalismus‘ eigentlich nichts zu tun haben. Ganz abgesehen von dem hier nicht intensiv diskutierten Problem, ob Regionen die eigentlichen Triebkräfte industriellen Wachstums waren, die eine ökonomische Konkurrenz anstachelten. Auch ein städtischer ,Kapitalismus‘ vermag die vielfältigen Beziehungen, die zwischen Produktion, Technik oder Außenhandel bestanden und bestehen, nicht adäquat zu erfassen, denn Städte sind als kapitalistisches ,Territorium‘ zu klein, um einen modernen Kapitalismus auszuformen. Wenn wir nur die westeuropäischen Staaten in ihrem heutigen Zustand betrachten, die alle als kapitalistisch angesehen werden können und so bezeichnet werden, so werden wir leicht erkennen, dass sie sich sowohl in ihrer politischen wie in ihrer ökonomischen Verfassung erheblich unterscheiden und nicht über einen einheitlichen kapitalistischen Kamm zu scheren sind. Ob z. B. der Atomkraft zur Stromerzeugung Vorrang eingeräumt wird oder der Wind- und Wasserenergie, kann heftige Debatten über den richtigen kapitalistischen Weg auslösen, ohne dass der ,Kapitalismus‘ davon tangiert wäre, auch wenn viel Kapital dabei umgesetzt oder investiert wird. Viele Lebensbereiche, die für Menschen von zentraler Bedeutung sind, wie die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, das Pflegen einer guten Nachbarschaft und Freundschaft oder die intensive Betätigung in einem Sportverein, sind menschliche Aktivitäten, die nicht an einen ökonomischen oder politischen ,Kapitalismus‘ gekoppelt sind, sondern in anderen Gesellschaftsformen ebenfalls ausgeübt werden können, ohne dass der Produktionsprozess dadurch gestört oder in Mitleidenschaft gezogen würde. Wenn wir die wesentlichen Inhalte und Formen des Kapitalismus erfassen oder beschreiben wollen, dann müssen wir uns in einem historischen Rückblick bewusst werden, auf welche Weise ein industrielles Produktionssystem auf außerökonomische Bereiche einwirkte und wie diese eventuell dadurch verändert bzw. aufgelöst werden, sobald das kapitalistische System sich durchsetzt. Um nur ein spektakuläres und aktuelles Beispiel hier anzuführen, das häufig kontrovers diskutiert wird: Die Millionengehälter begabter Fußballspieler, die durch industrielle Sponsoren oder Zuschauereinnahmen finanziert werden, können zwar nicht mit ihrer produktiven Leistung erklärt werden, doch wenn sie ihre fußballerischen ,Gewinne‘ dazu benutzen, in produktive Sparten zu investieren, dann tragen sie etwas zur kapitalistischen Produktion und zum

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Vorwort

wirtschaftlichen Umsatz bei. Kapitalisten im traditionellen, industriebestimmten Sinn sind die fußballerischen Stars trotzdem nicht, wenn sie nicht Unternehmer werden und sich der ökonomischen Konkurrenz stellen. Wir können darüber hinaus festhalten, dass der Kapitalismus, neben den Produktions-, Handels- und Dienstleistungsbereichen, ein umfassendes Gebäude von Gesetzen, Handlungen oder Anordnungen vor allem wirtschaftlicher Art darstellt, die auf bestimmte Weise das unternehmerische Leben der in ihm aktiven Personen oder Bevölkerungsgruppen regeln und strukturieren. Wenn diese interaktiven Verbindungen aus irgendwelchen Gründen gestört oder außer Kraft gesetzt würden, dann können wir eventuell nicht verhindern, in eine regellose oder anarchistische Gesellschaft abzugleiten, wo jeder tun und lassen kann, was er will. Was ,Kapitalismus‘ früher, heute oder zukünftig bedeutete und bedeutet, kann allerdings nicht ein für alle Mal festgelegt werden, sondern richtet sich nach den jeweiligen historischen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Umständen, die im ständigen Wandel begriffen sind. Der Kapitalismus in den USA z. B. kann und wird sich nicht so verändern können wie der gegenwärtige in Russland oder in China, selbst wenn man im Washingtoner Kapitol Donald Trump diktatorische Vollmachten verliehen hätte, um ihn zügellos durchregieren zu lassen. Kurz gesagt: Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus, weshalb es historisch betrachtet eine schwierige Aufgabe darstellt, diejenigen Elemente herauszufinden und dingfest zu machen, die als typisch für ihn angesehen werden können. Weder eine theoretische Ökonomie- noch eine empirisch gesättigte Wirtschaftsgeschichte des modernen, europäischen Kapitalismus möchte ich hier präsentieren, sondern an einigen ausgewählten Fragestellungen erörtern, welche unterschiedlichen Vorstellungen in den letzten 200 Jahren über den ,Kapitalismus‘ oder seine historischen Varianten aus sehr verschiedenen Blickwinkeln vertreten wurden. Um einen überblicksartigen Eindruck davon zu vermitteln, welche positiven und negativen Facetten mit diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verbunden wurden und werden, habe ich öfter die entsprechenden Autoren zitiert und kurz meine davon abweichenden Interpretationen dargelegt, auch um Lesern und Leserinnen die vielfältigen Ansätze vorzustellen, die mit ,Kapitalismus‘ verknüpft worden sind und noch werden. Es kam mir dabei weniger auf eine literarische Vollständigkeit an als vielmehr auf eine kritische Übersicht zu ausgewählten Themen, die m. E. wirtschaftshistorisch besonders interessant sind, wenn auch nicht unproblematisch. Wer sich

Vorwort

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genauer über die europäische Wirtschaftsgeschichte und ihren tatsächlichen Verlauf informieren möchte, findet in der angegebenen Literatur reiches empirisches und statistisches Material von der Antike bis heute. Meine Absicht war es ebenfalls nicht, thematisch erschöpfend zu sein, sondern für einige ausgewählte Probleme einen analytischen Blick auf eine politische wie ökonomische Entwicklung seit der Antike zu werfen, die unser Leben tiefgehend verändert hat und auch in Dienstleistungsgesellschaften verändern wird. Der religiösen Überzeugung, dass es einen göttlichen Plan gab, wie die Erde uns untertan gemacht werden soll oder kann, wird eine von unbeabsichtigten Zufällen und bewussten Entscheidungen abgelaufene Geschichte gegenübergestellt, die sowohl von schicksalhaftem Versagen als auch von bewundernswerten Erfolgen geprägt war. Die kapitalistische Wirtschaft zu zerstören, wurde nicht nur von Marxisten und Kommunisten oft propagiert, sondern auch der Nationalsozialismus wollte das kapitalistische System überwinden, doch offenbar besitzt der moderne Kapitalismus einen derart ausgeprägten Überlebenswillen, dass er scheinbar selbstzerstörerische Krisen überstehen konnte und kann. Eichstätt, im September 2022

Hubert Kiesewetter

Inhaltsverzeichnis A. Kapitalistische Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Definitionen des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Kapital und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 III. Unternehmen und kapitalistischer Profit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 IV. Entstehungsbedingungen des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘ – ein begrifflicher Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Jüdischer oder ägyptischer ,Kapitalismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 II. Griechischer ,Kapitalismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 III. Römischer ,Kapitalismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IV. Militärischer oder kolonialer ,Kapitalismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. Die mittelalterliche Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem . . . . . . . 61 I. Merkantilistische Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Geld- und Goldreichtum als Staatsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 III. Geregelte Bevölkerungszunahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 IV. Französischer Merkantilismus als Vorbild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 V. Kapitalistische Mängel des Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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Inhaltsverzeichnis

D. Der protestantisch-ethische ,Geist‘ und die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 I. Religiöses Gefühl oder kapitalistischer Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 II. Max Webers Protestantische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 III. Werner Sombarts Wirtschaftsgesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Eine Kritik an der calvinistischen These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 E. Die europäische Industrialisierung als revolutionärer Durchbruch eines ökonomischen und gesellschaftlichen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I. Großbritannien als kapitalistischer Vorreiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Bevölkerungszunahme als Bedrohung oder Wachstumsgenerator . . . 131 III. Die Bedeutung von Privatunternehmern ist überschätzt worden . . . . 136 IV. Natürliche Ressourcen und andere Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V. Industrielle Produktion und Wandel der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 143 F. Der revolutionäre Marxismus als weltweite Untergangstheorie des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Marxismus und Kommunismus als Kapitalismusgegner . . . . . . . . . . 150 II. Friedrich Engels als erster theoretischer Kapitalismuszertrümmerer . . 154 III. Karl Marx, der kapitalismuszerstörende Revolutionär und Wladimir Lenin als sein politisch-realistischer Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 IV. Rudolf Hilferdings Finanzkapitaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 V. Der Erste Weltkrieg als revolutionäres Sprungbrett zum MarxismusLeninismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Inhaltsverzeichnis

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G. Hat der Kapitalismus im 21. Jahrhundert eine realistische Überlebenschance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise als Auslöser eines kapitalistischen Umdenkungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Die ,Fortschrittsfeinde‘ des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 III. Utopische Vorstellungen von einem alternativen Wirtschaftssystem . 194 H. „Prosperity! Fortschritt! ohne Ende, ohne Ende!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I. Hat der Fortschrittsoptimismus abgewirtschaftet? . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Der globale Kapitalismus und seine Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Die Zukunftsaussichten des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 IV. Der moderne Kapitalismus wird überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

A. Kapitalistische Varianten I. Definitionen des Kapitalismus Die vorhandenen Definitionen von ,Kapitalismus‘ sind so vielfältig und unterschiedlich, dass es eine wenig erkenntnisbereichernde Vorgehensweise wäre, sie auch nur aufzulisten und ihre Varianten darzustellen, um begriffliche Klarheit zu erlangen, was mir äußerst wichtig erscheint, um Missverständnisse zu vermeiden. Darauf werde ich später noch etwas eingehen, doch hier mag es erst einmal genügen, einige wenige Definitionen anzuführen, um zu verdeutlichen, dass wir das komplexe Gebilde ,Kapitalismus‘ nicht einfangen und bestimmen können, wenn wir verschiedene begriffliche Definitionen aneinanderreihen, die jeweils ihnen wichtige Aspekte in den theoretischen Vordergrund rücken, während andere vernachlässigt werden. Dieser sachliche Einwand ist schon deswegen relevant, weil in einer Definition keineswegs alle Faktoren angesprochen oder berücksichtigt werden können, die für die betreffenden Eigenschaften, hier des Kapitalismus, bedeutsam sind und ihn erfassen können. Zwar ist in der historischen wie ökonomischen Literatur oft gefordert worden: „Klarheit über die Begriffe, mit denen die Kennzeichnung der Zustände in der Regel und hauptsächlich zu erfolgen pflegt“ (Zwiedineck-Südenhorst, 1931, S. 226 f.), sei anzustreben, doch wenn wir Dutzende von Kapitalismusbegriffen aneinanderreihten, ergäbe sich daraus eher ein diabolisches Verwirrspiel als inhaltliche Klarheit, weswegen ich aus methodischen Gründen weitgehend darauf verzichte, obwohl inhaltlich über den (modernen) Kapitalismus Klarheit erlangt werden soll. Ich kann mich deshalb nicht der pessimistischen Meinung eines bedeutenden deutschen Ökonomen, Ludwig Pohle (1869 – 1926), anschließen, der 1911 schrieb: „Die Bezeichnungen ,Kapitalismus‘ und ,kapitalistisch‘ sind von ihren Urhebern aber auch wohl weniger eingeführt worden, um unsere Einsicht in das moderne Wirtschaftsleben zu fördern, als vielmehr, um im Hörer oder Leser eine ganze Skala von rein gefühlsmäßig bestimmten Werturteilen über die geltende Wirtschaftsordnung hervorzu-

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A. Kapitalistische Varianten

rufen.“ (Pohle, 1911, S. 51). Denn obwohl ganz unterschiedliche und sich oft widersprechende Begriffsbestimmungen in der entsprechenden Literatur vorhanden sind und benutzt werden, können wir den Autoren zugestehen, dass sie sich um eine nachvollziehbare Kennzeichnung bemüht haben, selbst wenn es ihnen nicht durchgängig gelungen ist.1 Es mag für unsere Zwecke genügen, auf wenige Beispiele kurz hinzuweisen, um ohne gründliche Behandlung verschiedener Varianten zu verdeutlichen, dass eine universal akzeptierte Begriffsdefinition nicht zu erreichen ist und nicht einmal angestrebt werden sollte, wenn wir sachliche Gründe, d. h. eine problemerklärende Vorgehensweise, einer begrifflichen Eindeutigkeit vorziehen. Sprachliche Klarheit kann nicht durch einen hochkomplexen Begriffsapparat erreicht werden, sondern durch logische Stringenz und problembewusster Differenzierung. Begriffe sind eben lediglich handliche, praktische Abkürzungen für meistens komplizierte Zusammenhänge, wie Demokratie, Wirtschaft oder Politik, deren unterschiedlichen Inhalte nicht dadurch klarer werden, dass wir eine Definition an die andere anreihen und ausführlich beschreiben oder ausschmücken. Wenn wir etwa wie der Philosoph Max Scheler (1874 – 1928) behaupten: „Der Kapitalismus ist an erster Stelle kein ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes Lebens- und Kultursystem“ (Scheler, 1955, S. 382. Hervorhebungen im Original), dann sollen wir wohl daran zweifeln, dass Kapital in ihm überhaupt bedeutend war und ihn durch eine Lebensphilosophie ersetzen. Für Kenner der Kapitalismusliteratur möchte ich hier hinzufügen, dass ich keineswegs die eindimensionale Ansicht von Immanuel Wallerstein teilen kann, es könne keine unterschiedlichen oder mehrfachen Kapitalismen geben, „because capitalism is a singular structure“ (Wallerstein, 2016, S. 188). Werner Sombart z. B. verstand unter ,Kapitalismus‘ ein modernes Wirtschaftssystem, das sich auf folgende Weise kennzeichnen ließe: „Es ist 1 Wie widersprüchlich auch neuere Autoren argumentieren, kann etwa bei Branko Milanovic´: Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht, Bonn 2021, verdeutlicht werden. Milanovic´ unterscheidet, S. 17 f., 1. einen westlichen, liberal meritokratischen Kapitalismus und 2. einen staatlich gelenkten, politischen oder autoritären Kapitalismus, von denen er annimmt, dass sich weder der eine noch der andere Kapitalismus „rund um den Erdball durchsetzen wird“. Wenige Seiten vorher hatte er geschrieben, der Kapitalismus hätte sich seit Adam Smith verwandelt „nicht nur in das herrschende, sondern in das einzige sozialökonomische System der Welt“ (S. 14. Hervorhebung im Original).

I. Definitionen des Kapitalismus

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eine verkehrswirtschaftliche Organisation, bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen: die Inhaber der Produktionsmittel, die gleichzeitig die Leitung haben, Wirtschaftssubjekte sind und besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte), durch den Markt verbunden, zusammenwirken, und die von dem Erwerbsprinzip und dem ökonomischen Rationalismus beherrscht wird.“ (Sombart, 1916. I. Bd./1, S. 319. Im Original ganz hervorgehoben). Abgesehen davon, dass hier von dem vereinfachten und unrealistischen marxistischen Dualismus Kapital (Unternehmer) und Proletariat (Arbeiter) ausgegangen wird, der nur einzelne Teilbereiche einer Wirtschaft erfasst, kann man außerdem bemängeln, dass entscheidende Faktoren, die ein kapitalistisches System kennzeichnen, gar nicht erwähnt oder als wichtig erachtet werden. Dazu zählen z. B. der Handel, das private Eigentum, das Transportwesen, die eingesetzten Maschinen, die rechtlichen Institutionen, das Finanzwesen oder Steuern und Zölle sowie vieles andere mehr, ohne die der ,ökonomische Rationalismus‘ als höchst irrational angesehen werden müsste, wenn er auf wirtschaftliche Ausprägungen wie Kapital und Arbeit reduziert würde. Ein komplexes Wirtschaftssystem auf Kapitalverwertung oder eine verkehrswirtschaftliche Organisation einzuschränken, fordert tatsächlich eine kritische bzw. eine auf andere Verwertungsbedingungen gerichtete Stellungnahme heraus: „Bei Sombart erscheint der Unternehmer als der selbstherrliche; das Verwertungsstreben des Kapitals bestimmt das ganze Wirtschaftsleben.“ (Pohle, 1911, S. 52). Unter einer ,verkehrswirtschaftlichen Organisation‘ kann man sich ganz unterschiedliche Dinge in einer Volkswirtschaft vorstellen, die nicht unbedingt auf ein kapitalistisches Wirtschaftssystem beschränkt zu bleiben brauchen, denn einen organisierten Handel hat es schon Jahrhunderte vor dem modernen Kapitalismus gegeben, ohne dass daraus eine Industrie entstanden wäre. Eine planmäßige und zweckmäßige Wirtschaftsführung, die den organisatorischen Ablauf der Produktion berechnet und steuert, kann auch von einer kommunistischen Planwirtschaft, im Gegensatz zu einer freihändlerischen Konkurrenzwirtschaft, durchgeführt werden und wäre deshalb kein Spezifikum des Kapitalismus; ebenso wenig wie der „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff, 2018) etwas mit einer kapitalistischen Produktion in unserem Sinn zu tun hat. Zweifellos benötigte ein entstehendes kapitalistisches Wirtschaftssystem zweckrationale Einrichtungen, um den industriellen Produktionsprozess möglichst effizient zu organisieren, selbst wenn es sich um Dinge handelte, die Jahrhunderte

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A. Kapitalistische Varianten

vorher entwickelt oder entdeckt wurden, worauf in der wirtschaftshistorischen Literatur öfter hingewiesen worden ist: „Der Bürgergeist [worunter wir auch kapitalistische Unternehmer rechnen können, H.K.] ist rational, zweckbedacht, die Rationalisierung der Wirtschaft tritt in der Rechenhaftigkeit aller Vorgänge auf, in der doppelten Buchhaltung [die von Luca Pacioli zuerst 1494 niedergeschrieben wurde, H.K.], welche über Erfolg und Nichterfolg jeder einzelnen Maßnahme rechnerischen Aufschluß gewährt, die Mängel, die dem Geschäftsbetrieb anhaften, entdeckt und dadurch eine fortschreitende Verbesserung derselben ermöglicht, überhaupt erst Planmäßigkeit der Unternehmung verbürgt.“ (Kulischer, 1965, S. 407).2 Der Ökonom und Soziologe Max Weber ging bei seiner Definition von ,Kapitalismus‘ ebenfalls von einer Form des modernen Wirtschaftssystems, den produzierenden Unternehmen, aus, die eben im ökonomischen Unterschied zur handwerklichen oder bäuerlichen Bedarfsdeckung kapitalistisch wirtschaften: „Kapitalismus ist da vorhanden, wo die erwerbwirtschaftliche Bedarfsdeckung einer Menschengruppe auf dem Wege der Unternehmung stattfindet, gleichviel um welchen Bedarf es sich handelt, und speziell rationaler kapitalistischer Betrieb ist ein Betrieb mit Kapitalrechnung, d. h. ein Erwerbsbetrieb, der seine Rentabilität rechnerisch durch das Mittel der modernen Buchführung und die (zuerst von dem holländischen Theoretiker Simon Stevin im Jahre 1608 verlangte) Aufstellung der Bilanz kontrolliert.“ (Weber, 1981, S. 238. Hervorhebungen im Original). Selbst wenn Weber einräumte, dass die einzelwirtschaftliche Bedarfsdeckung sowohl kapitalistisch (Industrie) als auch nicht kapitalistisch (Handwerk oder Landwirtschaft) durch Aktien- oder Handelsgesellschaften organisiert worden ist und werden kann, so wird damit dennoch nicht die hier im analytischen Mittelpunkt stehende Frage gelöst, ob eine solche Definition den ,Kapitalismus‘ oder die kapitalistische Wirtschaft auch nur halbwegs angemessen erfassen und erklären kann. Der Kapitalismusforscher Weber hätte sich allerdings wohl kaum vorstellen können, dass man eine angeblich erkenntnisbereichernde Wissenschaft des Kapitalismus mit dem nichtssagenden Ausdruck „Kapitalistik“ (Fül2 Jane Gleeson-White: Soll und Haben. Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus, Stuttgart 2015, S. 18, vertritt die unhaltbare, weil viel zu weitgehende Ansicht, dass „die doppelte Buchführung das Aufkommen des Kapitalismus ermöglichte und insofern die Wirtschaftsformen auf der ganzen Welt für immer veränderte“.

II. Kapital und Reichtum

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berth, 2015, S. 7) bezeichnen würde und damit den nicht einlösbaren Anspruch verbindet, eine politologische, soziologische, ökonomische, historische, juristische, geographische, ethnologische, natur- und technikwissenschaftliche Querschnittsdisziplin zu erstellen.

II. Kapital und Reichtum Vor über hundert Jahren schrieb ein angesehener ,Kathedersozialist‘ im Deutschen Kaiserreich, der Ökonom und Sozialpolitiker (Ludwig Josef ) Lujo Brentano (1844 – 1931), Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik und ein bedeutender Vertreter einer sozialpolitisch ausgerichteten Nationalökonomie: „Wir leben heute im Zeitalter des Kapitalismus. Für viele ist das Wort Kapitalismus ein Greuel.“ (Brentano, 1916, S. 7). Schon damals waren die Vor- und Nachteile der kapitalistischen Produktion höchst umstritten, weil man in ihm ein System erkannte, welches die natürlichen Grundlagen der Menschen zerstören wollte. Zwei Jahre vor ihm, im Januar 1914, wurde berichtet, dass Publizisten von Zeit zu Zeit „den unmittelbar bevorstehenden Bankerott des kapitalistischen Systems“ (Calwer, 1914, S. 237) angekündigt haben, d. h. der Kapitalismus stand bei Ökonomen oder Kulturkritikern in keinem guten Ruf. Diese negativen Kennzeichnungen eines gewinnträchtigen Wirtschaftssystems waren in dem Jahrhundert davor und danach ein weitverbreiteter Topos, auch wenn der heute universale Begriff ,Kapitalismus‘ erst während des Bürgerkönigtums Louis Philipps durch den französischen Ökonomen und Sozialisten Jean Joseph Louis Blanc (1811 – 1882) eingeführt wurde. Dieser sozialistische Demokrat, der die erkennbaren Mängel der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch staatlich geförderte Arbeiterproduktionsgenossenschaften überwinden wollte, argumentierte um 1839: „Diese Sophistik besteht darin, beständig die Nützlichkeit des Kapitals mit dem zu vermengen, was ich Kapitalismus nennen will, das heisst, die Aneignung des Kapitals durch die Einen, unter Ausschluss der Anderen. Als ob die Nützlichkeit einer Sache aus seiner Besitzergreifung folgte!“ (Blanc, 1899, S. 210. Hervorhebungen im Original). Die Ungleichheit von Kapitalbesitz und Reichtum wurde von erfolgreichen Kapitalisten gegenüber ihren schlechtbezahlten Arbeitern ständig vergrößert, weswegen sozialistische oder kommunistische Parteien Unternehmer in die Wüste schicken wollten, um den Arbeitern ihre Rechte

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A. Kapitalistische Varianten

zurückzugeben. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass Geld oder Kapital für ganz verschiedene Verwendungsarten nützlich oder vorteilhaft sein kann, ohne dass damit etwas Genaueres über den ,Kapitalismus‘ ausgesagt wird, selbst wenn man einräumt, dass privates Eigentum ein wichtiges Element einer kapitalistischen Gesellschaft darstellt. Eigentum an Produktionsmitteln besaßen allerdings in verschiedenen Ausprägungen Bauern oder Industrielle seit dem Mittelalter, selbst wenn es in unterschiedlichen Berufsgruppen ungleich verteilt war. Generationen von Forschern haben die massenhafte Anhäufung von Geld, Kapital oder Profit mit ,Kapitalismus‘ gleichgesetzt, ohne gründlich darüber nachzudenken, dass damit eine präzise Unterscheidbarkeit unterschiedlicher Formen kapitalistischer Systeme eigentlich nicht mehr möglich ist, denn Kapital oder Profite hat es lange vor einer Etablierung des Industriekapitalismus gegeben. Wenn ich hier von ,Kapitalismus‘ spreche, dann geht es mir vorrangig um eine theoretische Erklärung von empirischen Sachverhalten, nicht von unergründlichen, tiefsinnigen Geistesvorstellungen, wie sie etwa der österreichische Volkswirtschaftler Othmar Spann (1878 – 1950) vertreten hat, nach dem ,Kapitalismus‘ folgendermaßen gekennzeichnet werden kann: „Sein tiefster Grundzug ist, daß Geistiges nach außen gelenkt, Innerlichkeit veräußerlicht wird. Daher gilt: Alle individualistischen Zeitalter der Weltgeschichte sind kapitalistische Zeitalter.“ (Spann, 1931, S. 63. Hervorhebung im Original).3 Wirtschaftlicher Individualismus wurde in der geistesgeschichtlichen Literatur oft mit Egoismus gleichgesetzt und weil frühkapitalistische Unternehmerpersönlichkeiten, wenn sie ökonomisch erfolgreich sein 3 Der positive oder negative Begriff ,Kapitalismus‘ wird heute weitgehend undifferenziert verwendet, wenn es sich um angewandte Kapitalformen handelt, die etwas mit Geld oder Gewinn zu tun haben. Er wird dadurch beliebig, weswegen ich ihn auf ein bestimmtes, sich im Zeitablauf wandelndes Wirtschaftssystem beschränken möchte, wie im Folgenden dargelegt. So wird etwa als ,Kapitalismus‘ ein einzelner Industriesektor angesprochen, der ,kapitalistischen‘ Organisationsformen zugeordnet wird: „Der Kapitalismus ist dort [im Baugewerbe, H. K.] aber nicht bei den Kaufleuten, sondern bei den bürgerlichen und kirchlichen Autoritäten [beim Kirchenbau, H.K.] zu suchen. Wenn man hier schon von Kapitalismus sprechen will, dann muß man sich aber darüber klar sein, daß er sehr eigene Züge aufweist.“ (Van der Ven, 1972. Bd. 2, S. 137). Diese ,eigenen Züge‘ haben m. E. mit einem (modernen) Kapitalismus wenig gemeinsam und sollten deswegen anders, sachadäquater bezeichnet werden. Auf eine ausführliche Erörterung des sogenannten ,staatsmonopolistischen Kapitalismus‘ kommunistischer Prägung (vgl. Wirtschaft, 1976) wird hier ganz bewusst verzichtet.

II. Kapital und Reichtum

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wollten, einen ausgeprägten Individualismus entwickelten, ja aus überlebensnotwendigen Konkurrenzgründen entwickeln mussten, wurde der von ihnen praktizierte Kapitalismus als ausbeuterisch und unmenschlich angeprangert, da sie oft große Vermögen anhäuften. Während Karl Marx und Friedrich Engels diesen Begriff ,Kapitalismus‘ nur zögerlich verwandten und eher von kapitalistischer Wirtschaftsweise oder kapitalistischem Wirtschaftssystem sprachen – dieses System sollte durch eine proletarische Revolution zerstört werden –, hat der Ökonom, Finanzwissenschaftler und Soziologe Albert Eberhard Friedrich Schäffle (Schäffle, 1878) den heute vielverwendeten Ausdruck ,Kapitalismus‘ seit 1870 populär gemacht und in die ökonomische Literatur eingeführt, wo er seitdem nicht mehr verdrängt werden konnte. Seit dieser Zeit haben sich ökonomische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen über den Kapitalismus exponentiell vermehrt, sodass bald (1918) gefordert wurde, auf diesen griffigen Begriff ganz zu verzichten, denn er sei „überaus unklar, unbestimmt und vieldeutig“ (Passow, 1927, S. 15. Hervorhebung im Original). Werner Sombarts monumentales Werk (Sombart 1902, 1916/17, 1927) hat eine weltweite Diskussion über die tieferen Ursachen und den eigentlichen Verlauf kapitalistischer Produktion ausgelöst, der hier einige Streiflichter gewidmet werden sollen, um eine andersartige, realistischere Deutung zu skizzieren. Es wäre reizvoll, doch nicht besonders lohnend, die Sombartschen Thesen kritisch zu betrachten, denn er verstrickte sich wegen seiner weitreichenden Betrachtungen in vielfältige Widersprüche, trotz sehr umfangreicher und differenzierter Analysen über die historische Entwicklungsgeschichte des ,Kapitalismus‘. Das kapitalismusbehaftete Themenspektrum dieses über mehrere Jahrzehnte vom Marxismus zum Nationalsozialismus gewechselten Denkers ist jedoch so ausufernd, dass eine kleine Abhandlung nicht ausreichte, um sie zu beschreiben, weswegen ich mich auf wenige Andeutungen und einige kritischen Bemerkungen beschränken werde. Sie sollen ein positives Gegenbild darstellen zu dem angeblichen kapitalistischen Spekulationswahn von Börsenmanagern, durch die im Kapitalismus „ein ganzes Arsenal an Figuren des Monströsen“ (Monster, 2017, S. 9) entstanden seien. Betrachten wir lediglich kurz eine, auf das mit dem Kapitalismus veränderte menschliche Verhalten bezogene, Aussage dieses vielschichtigen Denkers Werner Sombart von 1911, die uns eigentlich und nachträglich erschaudern lassen müsste, wenn sie auf diese rabiate Art und Weise eingetroffen wäre: „Damit der Kapitalismus sich entfalten konnte,

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A. Kapitalistische Varianten

mußten dem naturalen, dem triebhaften Menschen erst alle Knochen im Leibe gebrochen werden, mußte erst ein spezifisch rational gestalteter Seelenmechanismus an die Stelle des urwüchsigen, originalen Lebens gesetzt werden, mußte erst gleichsam eine Umkehrung aller Lebensbewertung und Lebensbedenkung eintreten. Der homo capitalisticus ist das künstliche und kunstvolle Gebilde, das aus dieser Umkehrung schließlich hervorgegangen ist.“ (Sombart, 1928, S. 281; ebenso Sombart, 1988, S. 333 f.). Mit anderen Worten: Der Kapitalismus hat angeblich neue, rational agierende Menschen geschaffen, deren vorheriges Leben in sein Gegenteil verkehrt wurde, samt ihres gesamten Bewegungsapparates. Wir brauchen gar nicht intensiv auf die verflossenen 100 Jahre des Kapitalismus zurückblicken, um festzustellen, dass in fast allen Gesellschaftssystemen, die seit 1911, d. h. etwa seit dem Ersten Weltkrieg, existiert haben, ob Demokratie, Faschismus, Nationalsozialismus oder Kommunismus, trotz ihrer kapitalistischen Elemente triebhafte Orgien stattgefunden haben, die Millionen von Menschen nicht nur die Knochen gebrochen, sondern sie umgebracht oder ihre ,urwüchsigen‘ Bedürfnisse verkehrt haben. Ein ,rationaler Seelenmechanismus‘, was immer wir uns darunter auch vorstellen können oder sollen, hat die urwüchsigen Triebe keineswegs überlagert oder verdrängt, sondern sie sind trotz höchster technischer Rationalität eruptionsartig in einem Blut- und Boden-Mythos hervorgebrochen. Vielleicht können wir eher behaupten, wenn wir die weltweiten Demonstrationen gegen politische Maßnahmen betrachten, dass Menschen vom ,Technologiewahn‘ des Kapitalismus eher abgestoßen werden und gerne zu einem ,urwüchsigen‘ Leben zurückkehrten, wenn sie dadurch keine Wohlstandsverluste erleiden müssten.

III. Unternehmen und kapitalistischer Profit Privatwirtschaftlich organisierte Industrieunternehmen, so wichtig sie für die endgültige Durchsetzung des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert auch waren – selbst wenn sie als Großunternehmen mit Tausenden von Beschäftigten oftmals unkontrollierbar wurden –, sind eben nur ein, wenn auch wichtiges, Element einer rationalen Kapitalrechnung, die ebenso in anderen Branchen durchgeführt werden kann. Diese neuartige Unternehmensform hat Weber möglicherweise dazu bewogen, von einem „nichtrationalen Kapitalismus“ (Weber, 1981, S. 286. Hervorhebung

III. Unternehmen und kapitalistischer Profit

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im Original) im alten China und Indien etwa zum Zwecke der Kriegsfinanzierung zu sprechen, der häufig ein kapitalistisches Gepräge zugeordnet wurde.4 Moderne industrielle Betriebe hätten sich ohne viele andere rechtliche Institutionen und technologische Erfindungen gar nicht entwickeln oder als tragfähige Basis eines Unternehmenskapitalismus existieren können, denn vor einer Unternehmensgründung musste z. B. eine staatliche Gewerbefreiheit oder zumindest eine unternehmerische Duldung durchgesetzt worden sein, um eine selbstbestimmte Produktion durchführen zu können. Die rationale Organisation kapitalistischer Geschäfte ist m. E. als höherrangig für ein reibungsloses Funktionieren der industriellen Produktion anzusehen als rationale oder irrationale Unternehmer, die kürzere oder längere Zeit bestimmend waren, ohne das System grundlegend zu verändern. Und würde es zutreffen: „Kapitalismus heißt im wesentlichen, in Erwartung eines Gewinns Geld in ein Unternehmen zu investieren“ (Fulcher, 2011, S. 7), dann hätten bereits die englischen oder holländischen Handelsgesellschaften des 17. Jahrhunderts den Kapitalismus verwirklicht, denn sie verfügten über erhebliches Kapital und realisierten große Gewinne bei ihren Kolonialgeschäften. Es ist, wie gesagt, in der einschlägigen Literatur häufig Kapital und Profit mit ,Kapitalismus‘ identifiziert worden, ohne genügend zu berücksichtigen, dass der moderne Kapitalismus für seine langfristige Durchsetzung viel mehr Faktoren benötigte als Kapital oder Profit, die durch wirtschaftliche Aktivitäten angehäuft wurden, nämlich ebenso umwälzende Erfindungen oder natürliche Ressourcen etc. Wenn Max Weber zusätzlich einzelne Elemente eines modernen Wirtschaftssystems auflistet, wie freies Eigentum, Maschinen, Technik, Verkehr, freiverkäufliche Arbeitskraft, Recht, Kommerzialisierung etc., dann dienen auch diese Merkmale lediglich einer „Möglichkeit der ausschließlichen Orientierung der Bedarfsdeckung an Marktchancen und an Rentabilität“ (Weber, 1981, S. 240. Hervorhebung im Original). Darin kann sich der moderne Kapitalismus allerdings nicht erschöpfen, wie wir später sehen werden, 4 Dort heißt es ebenfalls in m. E. unberechtigter, zeitlicher Ausdehnung kapitalistischer Entwicklungen: „Rationaler Kapitalismus dagegen ist an Marktchancen orientiert, also wirtschaftlichen Chancen im engeren Sinne des Wortes, und je rationaler er ist, desto mehr an Massenabsatz und Massenversorgungschancen. Diesen Kapitalismus zum System zu erheben, ist der modernen okzidentalen Entwicklung seit dem ausgehenden Mittelalter vorbehalten geblieben.“ (Weber, 1981, S. 286. Hervorhebung im Original).

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A. Kapitalistische Varianten

denn Geld, Aktien oder Profitspekulanten hat es in unterschiedlicher Ausprägung seit der Antike in verschiedenen okzidentalen Wirtschaftsepochen gegeben, ohne moderne kapitalistische Merkmale zu entwickeln oder zu entfalten. Im strengen Sinn können wir auch nicht die auf das arbeitende Proletariat bezogene Ansicht teilen, dass „Kaufen und Verkaufen der Arbeitskraft die differentia specifica des Kapitalismus“ (Sweezy, 1970, S. 75. Hervorhebung im Original) sein sollen, denn dann müssten wir auch den antiken und mittelalterlichen Sklavenhandel als ,Kapitalismus‘ ansehen, der teilweise erheblichen Profit abgeworfen hat, ganz abgesehen davon, dass der rechtliche Status von Sklaven erbärmlich war. Die regelmäßige Beschäftigung eines Millionenheeres von abhängigen Arbeitern erwies sich allerdings als eine dramatische Begleiterscheinung des Industriekapitalismus, die es niemals vorher gegeben hatte und deshalb besonders beachtet, analysiert und kritisiert wurde. Ich möchte hier noch eine Definition anfügen, wie sie üblicherweise im Marxismus-Leninismus benutzt wurde, die sich stark an das irreführende Zweiklassenmodell von Karl Marx anlehnt oder es übernimmt, welches nur eine Kapitalistenklasse kennt, die Arbeiter unterdrückt, entrechtet und ausbeutet. Danach ist Kapitalismus eine „Gesellschaftsformation, die auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln beruht. Es ist eine warenproduzierende Klassengesellschaft, in der die Arbeiterklasse ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen muß und durch die Bourgeoisie im kapitalistischen Produktionsprozeß ausgebeutet wird. Der Kapitalismus ist die historisch letzte Ausbeuterordnung in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft; Ziel des kapitalistischen Produktionsprozesses ist die Erzielung von Profit.“ (Wörterbuch, 1969, S. 234). Man kann sich heute fragen, ob die Autoren oder die marxistischen und kommunistischen Parteifunktionäre einen solchen ökonomischen Widersinn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt noch geglaubt haben, nämlich dass sich die kapitalistischen Widersprüche zum staatsmonopolistischen Kapitalismus (Imperialismus) entwickeln konnten, womit angeblich die letzte Phase des Kapitalismus eingeläutet wurde, ehe er ganz verschwinden sollte. Die wachsenden Ungereimtheiten des gesellschaftlichen Charakters der kapitalistischen Produktion haben sich allerdings nicht so verschärft, dass dessen prognostizierter Untergang zwangsläufig eintreten musste, wie der Marxismus glaubte, sondern selbst fundamentale ökonomische Einbrüche und Rückschläge, wie die Weltwirtschaftskrise nach 1929, konnten

III. Unternehmen und kapitalistischer Profit

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in dem damals am weitesten entwickelten Industriestaat, den USA, überwunden werden. Die marxistische These vom „Verfall der kapitalistischen Ausbeuterordnung“ (ebd., S. 235) ist deshalb eher ein ideologisches Hirngespinst als eine realistische Analyse des kapitalistischen Entwicklungsprozesses im 20. Jahrhundert, der in Europa seit den 1950er Jahren zu Massenkonsumgesellschaften führte. Der marxistische Kommunismus in der UdSSR oder DDR präsentierte die ideologische Prämisse, den Arbeitern im kapitalistischen Westen die revolutionären ,Errungenschaften‘ des Ostens anzupreisen, womit wirtschaftliche Schwächen überdeckt werden konnten.5 Um den ungeheuren Fortschritt in der menschlichen Lebensweise durch den Industriekapitalismus zu verdeutlichen, braucht man nur einen oberflächlichen Blick auf die vorindustrielle Landwirtschaft oder das gewerbliche Leinenhandwerk zu werfen, um zu erkennen, dass die damaligen Kinder, Erwachsenen und älteren Personen durch Kinderarbeit, lange Arbeitszeiten und Altersarmut bis zum frühen Tod in einem unvorstellbaren Ausmaß ,ausgebeutet‘ wurden. Dagegen hebt sich die industrielle Fabrikarbeit wenigstens durch einen regelmäßigen Arbeitseinsatz ab, auch wenn die Bezahlung in den ersten Jahrzehnten miserabel war und eine menschliche Behandlung meistens nicht existierte. Der angeführte Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat in dieser reinen Form nie bestanden, denn z. B. das Handwerk oder die Handwerker haben sich trotz ihrer angeblichen Verdrängung und Ausrottung durch die Industrie, zahlenmäßig konstant behaupten können und viele Unternehmer waren arbeiterfreundlicher als ihnen von marxistischer Seite unterstellt wurde. Diese kommunistischen Behauptungen sind irreales Wunschdenken von gescheiterten Revolutionären, um von der Massenmanipulierung der eigenen Bevölkerung abzulenken, die mit ihrer materiellen Situation unzufrieden waren und von denen viele aus materiellen Gründen ihre Heimat verlassen wollten. Die ,antiimperialistischen‘ Kräfte in den ehemaligen kommunistischen Staaten können nur mit tiefer Wehmut auf 5 Ich spiele hier auf eine sowjetische Marx-Biografie an, in der gegenüber einer apologetischen Auffassung des gegenwärtigen Kapitalismus die kritische Ansicht vertreten wurde: „Die Hirngespinste der bürgerlichen Ideologen werden jedoch von der historischen Entwicklung und den Erkenntnissen der Wissenschaft widerlegt.“ (Karl Marx, 1984, S. 800). Der baldige „Sieg des Sozialismus“ (ebd.) sei unvermeidlich und keine marxistische Prophezeiung mehr, denn der bevorstehende „Untergang der bürgerlichen Ordnung“ (ebd.) zeige sich bereits in den heftigen Klassenkämpfen kapitalistischer Staaten!

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A. Kapitalistische Varianten

eine sozialistische ,Revolution‘ zurückblicken, die nach sieben Jahrzehnten UdSSR ins ewige Nirwana geschleudert wurde.

IV. Entstehungsbedingungen des Kapitalismus Die von der Aufklärung im 18. Jahrhundert propagierte Selbstbestimmung des einzelnen Individuums hat unternehmerische Energien in einer Größenordnung freigesetzt, wie sie vorher unbekannt waren. Politisch durchgesetzte Freiheiten, auf eigenes Risiko ein Unternehmen zu errichten und mit den hergestellten Produkten hohe Profite zu erwirtschaften, hat eine industrielle Dynamik ungekannten Ausmaßes erzeugt. Im 21. Jahrhundert werden wohl nur wenige Wissenschaftler, ob Ökonomen, Historiker oder Soziologen, leugnen, dass der europäische Kapitalismus oder die mit ihm verbundene Industrialisierung unsere Welt grundlegend verändert hat, obwohl die unmittelbare Teilhabe an dessen materiellem Wohlstand recht ungleich verteilt war sowie Reichtum und Armut, selbst in hochentwickelten Staaten, heute immer noch weit auseinanderklaffen. Wenn der zukünftige ,Kapitalismus‘ nicht in der Lage ist, diese gravierenden Wohlstandsunterschiede zu verringern, dann wird das weltweite Heer seiner Kritiker dessen inhärente Schwächen dazu auszunutzen versuchen, um ihn zu beseitigen oder zumindest seine erstaunliche Wohlstandsdynamik zu leugnen oder zu desavouieren. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die kontrafaktische Auffassung vertreten: „Der Kapitalismus macht Miene, in das Rentnerdasein umzuschlagen“ (Schulze-Gaevernitz, 1906, S. 384), obwohl er damals auf seinen Höhepunkt zusteuerte. Der Theaterintendant am Schauspielhaus Bochum (1972 bis 1979) und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg (1985 bis 1989), Peter Zadek (1926 – 2009), hat seine bewundernde Abscheu in dem vielzitierten Satz ausgedrückt: „Der Kapitalismus ist eine kriminelle Vereinigung, von der wir alle ziemlich profitieren.“ In der Gegenwart hat sich durch globalisierte Märkte Wesentliches geändert, z. B.: Es haben die Flüchtlingsströme aus wenig entwickelten Weltregionen in die kapitalistischen Staaten zugenommen und weder Stacheldraht noch Schießanlagen können verzweifelte Menschen davon abhalten, ein angenehmeres und erfüllteres Leben anzustreben und vor dem Elend von Krieg und Vertreibung aus ihren Heimatländern zu flüchten.

IV. Entstehungsbedingungen des Kapitalismus

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Sobald man jedoch bei der Kapitalismusanalyse tiefer zu bohren und herauszufinden versucht, welche inhaltlichen Kriterien diesem wirtschaftlichen System zugrunde lagen und liegen, aufgrund welcher ökonomischen oder technischen Veränderungen es eigentlich mit seinem Siegeszug begann oder worin seine unverwechselbaren Merkmale bestehen, werden wir mit einer fast unübersehbaren Anzahl von Variablen konfrontiert, die kapitalistischen Gesellschaften zugeordnet werden können und zugeordnet worden sind. Wenn man allerdings die Ansicht vertritt, der „moderne Kapitalismus wird durch die Spekulation getrieben“ (Herrmann, 2015, S. 190), dann wird die unübersehbare Zahl von industriellen Erfindungen und technischen Neuerungen, die unser tägliches Leben grundlegend verändert haben, zugunsten eines finanziellen Antriebs verleugnet oder als bedeutungslos angesehen.6 Es gibt nämlich nicht einen oder den Kapitalismus, sondern in den verschiedenen Wirtschaftsepochen haben sich höchst variantenreiche ökonomische Systeme herausgebildet, deren sachliche Hauptmerkmale sich teilweise gravierend unterscheiden und nicht auf eine einzige Ausprägung, wie finanzielle Spekulation, reduziert werden können. Diese fast unübersehbare Vielfalt von ,Kapitalismen‘ kann hier auch nicht ansatzweise dargestellt werden, doch ich möchte mich von einer simplifizierenden Aussage abgrenzen, die einen anderen Aspekt besonders betont, nämlich dass ein wesentlicher Kern des modernen Kapitalismus „in der Verbindung von Erwerbsarbeit und Massenkonsum“ (Plumpe, 2019, S. 265 f.) lag oder liegt, denn darin erschöpft er sich keineswegs. Es scheint mir außerdem eine höchst gewagte, ja eigentlich eine unhaltbare These zu sein, dass der moderne Kapitalismus gesetzmäßig, d. h. wie ein physikalisches Gesetz, oder zufällig, d. h. ohne bewusste Einflüsse, entstanden und aufgetaucht ist oder das ökonomische Licht der Welt erblickte, gleichsam wie ein deus ex machina, denn Hunderttausende von Akteuren haben in gründlicher Detailarbeit an seiner allmählichen Entstehung mitgewirkt. Historisch können und wollen wir seine technolo6 Auch ich sehe es als höchst bedenklich an, dass auf den internationalen Devisenmärkten mit Billionen Dollar spekuliert wird, z. B. mit Bitcoins, die täglich mit Supercomputern um den Erdball gejagt werden und ungeahnte Gewinne abwerfen können. Trotzdem kann ich nicht der Ansicht zustimmen und halte sie für unzutreffend: „Es ist exakt eingetreten, was Keynes theoretisch beschrieben hatte: Der Kapitalismus wird von den Finanzmärkten dominiert – und verwandelt sich in ein globales Kasino.“ (Herrmann, 2017, S. 204. Hervorhebung von mir).

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A. Kapitalistische Varianten

gischen und gesellschaftlichen Anfänge in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts verlegen, denn seit dieser Periode – eine Jahreszahl kann bei einer solchen Festlegung ebenso wenig weiterhelfen wie beim zeitlichen Beginn der Industrialisierung – wurde zumindest in Großbritannien ein neues Wirtschaftssystem begründet, das sich in vielerlei Hinsicht von allen früheren Formen der industriellen Produktion grundlegend unterschied, nicht nur, weil es millionenfache Fabrikarbeit etablierte und sich weltweit ausbreitete. Es gehört deshalb m. E. nicht „zu den Wundern des Kapitalismus, dass er sich durchgesetzt hat, obwohl die meisten Kapitalisten nicht verstehen, wie er funktioniert“ (Herrmann, 2015, S. 11), also diese ,armen‘ Tölpel eigentlich in ihn hineingestolpert sind, ohne seine komplexen Funktionsweisen verstanden zu haben. Ich glaube eher, dass auf verschiedenen Ebenen, der Politik, der Ökonomie, der Sozialstruktur oder den Arbeitsverhältnissen, gezielte Entscheidungen getroffen wurden, selbst von ,unwissenden‘ Kapitalisten, auch wenn man die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen dieser unkalkulierbaren Entwicklungen nicht genau abschätzen konnte, die mit der vergangenen Zeit oder dem vorhergehenden Wirtschaftssystem gebrochen haben. Die entscheidenden Akteure, einschließlich der Kapitalgeber, wussten keineswegs exakt oder im technischen Detail, was aus ihren Initiativen entstehen und umgesetzt werden könnte, denn der industrielle Wandel verlief in einer rapiden Geschwindigkeit, doch sie waren sich weitgehend darüber im Klaren, dass mit ihrem engagierten Einsatz gravierende Veränderungen einhergingen. Jede in der Retrospektive als umwälzende Neuerung angesehene Entscheidung ist ein unkalkulierbares Vabanquespiel, von dem man nicht im Voraus wissen kann, wie es sich entwickelt oder ausgeht; ähnlich wie eine moderne Ehe. Die riskante Entscheidung eines Handwerkers z. B. im frühen 19. Jahrhundert, eine Fabrik zu errichten sowie zu leiten und mit anderen Unternehmern zu konkurrieren, verlangte ein Höchstmaß an Disziplin, Entschlossenheit, Durchsetzungskraft und Risikobereitschaft. Zu glauben oder zu behaupten, die ,meisten Kapitalisten‘ seien von diesen ökonomischen Veränderungen quasi überrascht worden und hätten sie unbeabsichtigt eingeleitet oder nicht geahnt, dass eine neue Zeit anzubrechen beginnt, schätzt den Veränderungswillen von wirtschaftlich und politisch handelnden Menschen ziemlich gering ein und verkennt ihre psychologischen Motive. Erst recht nicht sollte man in die unsachliche Polemik des Nationalökonomen und Agrarpolitikers Johann August Gustav Ruhland (1860 – 1914) verfallen,

IV. Entstehungsbedingungen des Kapitalismus

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der sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, also in der Hochphase des deutschen Kapitalismus, schrieb: „Der heute herrschende Kapitalismus in der Gesellschaft bedeutet ewigen Krieg. Jeder echte Kapitalist strebt, wie einst Cäsar, nach der Weltherrschaft.“ (Ruhland, 1933, S. 297. Hervorhebung im Original). Wir brauchen nur etwas die niedergeschriebenen Ansichten der beiden klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo zu betrachten oder zu beleuchten, dann können wir ohne genauere Analyse ihrer ökonomischen Schriften annehmen, dass sie sich bewusst waren, dass ihre theoretischen Überlegungen und sozialpolitischen Fragestellungen auf ein neues Wirtschaftssystem ausgerichtet waren, das sich erheblich vom europäischen Merkantilismus oder französischen Physiokratismus unterschied. Sie stellten sich der schwierigen Aufgabe, dessen systematischen Grundlagen zu erforschen und zu einer Wachstumstheorie für Nationalstaaten auszubauen. Bei den aktiven Kapitalisten war die Aufgabenstellung wesentlich anders: Der englische Unternehmer Robert Owen z. B., der seit 1790 eine Baumwollspinnerei in Manchester leitete, gründete keineswegs ohne präzise Vorstellungen der von ihm beabsichtigten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ein Jahrzehnt später im schottischen New Lanark eine Baumwollspinnfabrik, wo er mit seinen sozialen Reformen und Arbeitserleichterungen für Arbeiter weitreichende Anstöße zur englischen Industriepolitik gab. Sein ganzes Wirken war weniger auf eine theoretische Analyse ausgerichtet, sondern die empirische Verwirklichung seiner unternehmerischen Ideen stand im industriellen Vordergrund seiner weitreichenden Aktivitäten. Auch James Watt, um nur noch ein Beispiel für einen Empiriker der frühen Industrialisierung anzuführen, bewarb sich nicht ohne funktionale Hintergründe nach seiner Feinmechaniker-Lehre 1757 bei der Instrumentenbauwerkstatt der Universität Glasgow, denn nur dort konnte er technische Geräte benutzen, um die atmosphärische Dampfmaschine von Thomas Newcomen, die dieser seit 1712 entwickelt hatte, zu verbessern und zu einem einsatzfähigen Aggregat zu verändern. Der technologische Durchbruch gelang Watt allerdings erst, als der erfolgreiche Kapitalist und Unternehmer Matthew Boulton eine unternehmerische Gewinnchance witterte, wenn er dem armen Erfinder Kapital bereitstellte, damit dieser in der neugegründeten Dampfmaschinen-Fabrik Boulton & Watt nahe Birmingham seit 1775 die doppeltwirkende Niederdruck-Dampfmaschine als ein bald erfolgreiches Verkaufsprodukt entwickeln konnte. Es könnten unzählige andere Beispiele für diese ge-

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A. Kapitalistische Varianten

zielten Strategien angeführt werden, weswegen es keineswegs rätselhaft erscheint, „warum die Engländer überhaupt auf die Idee kamen, ihre Textilherstellung zu mechanisieren – und mit der Industrialisierung zu beginnen“ (Herrmann, 2015, S. 33). Die historische Entstehung oder die einzelnen Entstehungsbedingungen des modernen Kapitalismus und seine tatsächliche Etablierung in einer bestimmten Periode sollten allerdings systematisch getrennt betrachtet werden, um Verwechselungen zu vermeiden. Einzelne Bedingungen für ein wirtschaftliches Wachstum waren nämlich schon frühzeitig vorhanden, ohne dass ein kapitalistisches System folgte, weil unterschiedliche Faktoren erst zusammengebracht und vereint werden mussten, ehe ein ökonomischer Aufschwung möglich war. Wenn wir Ursachen und Folgen nicht systematisch voneinander trennen, verhakeln wir uns leicht in einen unaufgelösten ethischen und kulturellen Wirrwarr, wodurch die materiellen Faktoren nur noch ungenau zu ermitteln sind, denn individuelle Motive können lange Zeit vorhanden sein, ohne dass sich darauf ein funktionierendes Produktionssystem errichten ließe.7 Unter philosophischen Prämissen geraten wir z. B. schnell in realitätsverleugnende Abgründe, die nicht mehr die tatsächlichen historischen Abläufe mit ihren vielfältigen empirischen Fallstricken im Auge haben, sondern tiefsinnige Geistesblitze bevorzugen, die den industriellen Himmel mit kräftigen Donnerschlägen übertönen oder verdunkeln. Der unmittelbare sowie direkte Bezug oder eine Zusammengehörigkeit von Theorie und Praxis ist deshalb eine unerlässliche Forderung jeder wissenschaftlich gehaltvollen Untersuchung; hier der realen Entstehungsbedingungen des modernen Kapitalismus. Wenn wir nämlich solchen mystischen Vorstellungen nachspüren wollen, wie: „Aus dem tiefen Grunde der europäischen Seele ist der Kapitalismus erwachsen“ (Sombart, 1916. I. Bd./1, S. 327), dann erübrigt sich eine genauere Beschäftigung mit den empirischen Entwicklungen, die höchstens an der psychologischen Oberfläche hängenbleiben und nicht in die tieferen Schichten der menschlichen Psyche eindringen können. Zwar ist einzusehen oder einzuräumen, dass es niemals einen reinen, regellosen ,Kapitalismus‘ gegeben hat, doch daraus lässt sich nicht empirisch ableiten, „daß die kapitalistischen Einbrüche der Geschichte alle in wohlgegliederte, nämlich in körperschaftlich-ständisch ge7 Ich denke dabei vor allem an Max Webers protestantische Ethik und Werner Sombarts kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, deren theoretische Engführungen im Kapitel D. behandelt werden.

V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum

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bundene Wirtschaften erfolgten“ (Spann, 1935, S. 365. Hervorhebung im Original).

V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum Es erscheint mir wichtig, folgende Überlegung zu beachten: Politisch unterschiedlich ausgeprägte Staaten, in denen eine Industrialisierung begonnen werden soll, können nicht in gleicher Weise ihren wirtschaftlichen Aufschwung durchführen, da meistens auch ihre materiellen Voraussetzungen verschieden sind. Die jeweilige politische Herrschaftsform, ob Aristokratie, Monarchie, Totalitarismus oder Demokratie wirkte auf Ausprägungen kapitalistischer Merkmale ebenso ein, wie eine adelige, religiöse oder handwerkliche Dominanz im feudalistischen Zeitalter, wo eine ständisch gebundene Wirtschaft durchgesetzt und über viele Jahrhunderte beibehalten wurde. Allerdings dürfen wir nicht annehmen, dass etwa ein liberales Wirtschaftssystem sich gegenüber einer autoritären oder totalitären Politik einfach durchsetzen konnte, sondern die neuen Wirtschaftsformen mussten sich den politischen Gegebenheiten zumindest teilweise anpassen, wenn sie erfolgreich etabliert werden sollten. Es gab vielfältige Herrschaftssysteme in der europäischen Geschichte, die zwar in ähnlicher Weise an einer Zunahme ihres finanziellen Reichtums interessiert waren, von denen einige jedoch wenige Anstöße für ein modernes Produktionssystem ausüben konnten, weil sie die dynamischen Kräfte einer Industrialisierung gar nicht erkannten oder aufkommen lassen wollten. Die kapitalistische Ansicht des Finanzwissenschaftlers Fritz Söllner, die offensichtliche Geldorientierung des Kapitalismus sei „wesentlich für dessen Dynamik und somit auch für das außerordentlich hohe neuzeitliche Wirtschaftswachstum verantwortlich“ (Söllner, 2001, S. 269), verkürzt das breite Faktorenbündel auf einen finanziellen Aspekt, denn Geld spielte lange vor dem ,Kapitalismus‘ eine dominierende Rolle in vielen vorindustriellen Städten und Staaten. Andererseits kann eine Definition des Kapitalismus auch so umfassend sein, dass ihre empirische Erklärungskraft einer Tautologie ähnelt und uns über die wesentlichen Aspekte gar nicht informiert, wie: „Kapitalismus bezeichnet dann die Gesamtheit der Erscheinungen einer Wirtschaftsordnung, deren Produktion in vorbeschriebener kapitalistischer Weise organisiert ist.“ (Philippovich, 1916, S. 187. Hervorhebung im Original).

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A. Kapitalistische Varianten

Um noch einmal darauf hinzuweisen: Es geht mir in den folgenden Überlegungen nicht darum, den Kapitalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen in europäischen Staaten zu erfassen, sondern lediglich an einigen historischen Beispielen sowie wissenschaftlichen Interpretationen zu verdeutlichen bzw. darzustellen, aufgrund welcher Kriterien kapitalistische Perioden oder Epochen unterschieden werden können und ob, um es einmal salopp zu formulieren, Kapitalismus gleich Kapitalismus ist.8 Die beinahe unüberschaubare Literatur zu diesem brisanten Thema kann und soll nicht danach durchforstet werden, womit ,Kapitalismus‘ in historischen Untersuchungen alles in unmittelbare Verbindung gebracht wurde, denn dann verlören wir uns von der Antike bis heute in zahllose Bindestrich-Kapitalismen, die zwar ihnen eigene wirtschaftliche Schwerpunkte benennen und beschreiben, allerdings ohne über den Kapitalismus etwas Substantielles auszusagen oder ihn gar erklären zu können. Nur zu oft ist Kapitalismus mit seinen kolonialen, imperialistischen, militärischen, technologischen oder klimatischen Auswüchsen identifiziert worden, doch wenn wir seine wesentliche Struktur erfassen wollen, dann erscheinen diese oberflächlichen Zuordnungen peripher und können das kapitalistische Gehäuse weder erfassen, angemessen beschreiben noch erbauen. In dieser länder- und zeitspezifischen Verschiedenartigkeit bestehen wohl auch die eigentlichen Gründe, warum Generationen von Forschern sich darauf beschränkt haben, nicht den gesamten Kapitalismus zu analysieren oder empirisch dingfest zu machen, sondern kapitalistische Teilsysteme, von denen hier einige in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet werden: Agrar-, Banken-, Beute-, Eigentümer-, Export-, Finanz(markt)-, Gemeinde-, Handels-, Industrie-, Kartell-, Kaufmanns-,

8 Wenn neuerdings behauptet wird, die Zuckerrohrplantagen auf Barbados im 17. Jahrhundert seien ein „Versuchsfeld des entstehenden Kapitalismus“ gewesen oder sogar das entscheidende Moment „in der Weltgeschichte des Kapitalismus“ oder Zuckerrohrplantagen „die wohl ersten modernen Industrieproduktionsstätten der Geschichte“ (Beckert, 2021, S. 17), dann können wir daran erkennen, wie weit ein heutiger Wissenschaftler von einer ökonomisch akzeptablen Inhaltsanalyse des modernen Kapitalismus entfernt ist. An anderer Stelle schreibt Sven Beckert, was den auf eine bestimmte historische Ausprägung bezogenen Begriff ,Kapitalismus‘ beliebig verwendbar und deshalb äußerst erklärungsarm macht: „Capitalism allows us to compare across space and time: the structure of businesses, for example, can be compared between Italy and China, or the changing modes of labor mobilization between seventeenth-century Barbados and the twenty-first century United Staates.“ (Beckert, 2016, S. 236).

V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum

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Konkurrenz-, Manager-, Monopol-, Organisations-, Renten-, Sozial-, Staats-, Turbo-, Unternehmer-, Volks- oder Weltkapitalismus.9 Der gleiche Wortstamm von ,Kapital‘ und ,Kapitalismus‘ hat viele Autoren dazu verleitet bzw. animiert, bei ihren ökonomischen oder wirtschaftshistorischen Analysen ein bedeutendes Gewicht auf unterschiedliche Finanzierungsformen zu legen, durch die Kapital generiert werden konnte. Dazu möchte ich bemerken: Wenn eine gewerbliche Verwendung von Kapital sowie der produktive Einsatz von Investitionen, die höchstmögliche Erzielung von Gewinn oder Profit als kapitalistische Motive für wirtschaftliches Handeln angesehen werden, dann erfassen wir zwar bedeutende Ausprägungen des europäischen Kapitalismus, doch sein exakter Beginn oder sein voraussichtliches Ende kann dadurch ebenso wenig bestimmt werden wie seine spezifischen ökonomischen Ausprägungen. Es erscheint mir als eine weitgehend willkürliche Festlegung, die uns nur geringen Erkenntnisgewinn beschert, als „das Entstehungsjahr des modernen Kapitalismus das Jahr 1203“ (Sombart, 1925, S. 26. Hervorhebung von mir) anzunehmen. Ein derart kompliziertes System kann auch nicht im 18., 19. oder 20. Jahrhundert wie ein plötzlicher Schuss aus einer geladenen Pistole in einem bestimmten Jahr entstanden sein, denn es bedurfte mehrere Jahrzehnte, ehe sich die entscheidenden Bedingungen für ein wirtschaftliches Wachstum zusammengefunden und entwickelt hatten. Ganz abgesehen von den materiellen Inhalten, wie Maschinen, Produktionsstätten, Eisen- und Autobahnen, Computer oder Weltraumstationen, die für ihre Erfindung und Durchsetzung viel mehr benötigten als Kapital, nämlich z. B. geistige oder intellektuelle Originalität und ungebremsten Einfallsreichtum über einen längeren Zeitraum. Es ist dennoch in der ökonomischen Literatur üblich geworden – vom Jour9 Die vollständige Erfassung des Kapitalismus wird in diesen unterschiedlichen Ausprägungen nicht beabsichtigt, sondern es werden bestimmte Merkmale ausgewählt, die für eine oder andere Ökonomien charakteristisch waren. Wie Otto von Zwiedineck-Südenhorst zwischen Handels-, Wucher-, Pachtungs-, Heeres- und Militär-, Produktions- und Finanzkapitalismus zu unterscheiden, birgt allerdings die fast unvermeidbare Gefahr, dass darunter alle aufgetretenen Wirtschaftsformen vom antiken bis zum modernen ,Kapitalismus‘ subsumiert werden und dann die begriffliche Aussage korrekt ist: „Auf alle aber trifft die Kennzeichnung zu, die sie durch das Funktionieren des Kapitals im ökonomischen Sinn erhalten.“ (Zwiedineck-Südenhorst, 1931, S. 240). Eine sachliche Unterscheidung von Kapitalismen in verschiedenen Zeitaltern kann damit allerdings nicht getroffen werden und auch kein „festes Fundament für die Stellungnahme zum kapitalistischen Charakter eines Zeitalters“ (ebd.).

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A. Kapitalistische Varianten

nalismus ganz zu schweigen –, von ,Profitmaximierung‘ zu sprechen, doch damit kann höchstens gemeint sein, möglichst viel Gewinn oder Profit zu erwirtschaften, denn wo dessen Maximum liegt, vermag nicht einmal ein ,kapitalistischer‘ Ökonomienobelpreisträger zu errechnen oder zu bestimmen. Worin oder woraus bestehen also die wesentlichen Elemente, die den modernen Kapitalismus ermöglicht haben und ohne deren Vorhandensein es nicht zu einer industriellen Revolution gekommen wäre, wie sie Großbritannien zuerst durchgeführt hat. Geld oder Kapital, der menschliche Trieb zum Warenhandel und zu steigenden Gewinnen, hat es wohl zu allen Zeiten gegeben, seitdem der reine Tauschhandel im Neolithikum durch akzeptiertes Bezahlen mit Edelmetall oder Münzen abgelöst wurde und begehrte Waren über größere Entfernungen transportiert werden konnten. Geld und Kapital ist in älteren Zeiten oft gleichgesetzt worden, doch seit einer modernen Ökonomietheorie werden unter ,Kapital‘ ganz verschiedene Dinge verstanden, wie Produktivkapital, Investitionskapital, Humankapital etc., die nicht mehr unter den reinen Geldbegriff fallen oder ihn begründen.10 Kapitalismus in unserem Verständnis ist jedoch ein kompliziertes Zusammenspiel von ökonomischen, finanziellen, technischen, sozialen, geographischen oder staatlichen Faktoren, die erst auf einem ausdifferenzierten gesellschaftlichen Plateau ineinandergreifen können und sich dadurch gegenseitig stimulieren und vorantreiben. Die okzidentale Bedeutung des Kapitalismus kann deshalb kaum angemessen erfasst oder zumindest durch eine empirisch fundierte Zeitperiode abgegrenzt werden, wenn vorkapitalistische Wirtschaftssysteme mit kapitalistischen Ökonomien verglichen oder gleichgesetzt werden, weil in ihnen Geld oder Kapital eine bedeutende Funktion übernommen haben. 10

Eine ausführliche Begriffsgeschichte des Ausdruckes ,Kapital‘ hat der katholische Theologe Wilhelm Hohoff: Zur Geschichte des Wortes und Begriffes „Kapital“. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, XIV. Bd., Heft 4, 1918, S. 554 – 574 und XV. Bd., Heft 2, 1919, S. 281 – 310, verfasst. Dort heißt es: „Das Wort Capitale entstammt der lateinischen lingua rustica, welche die germanischen Völkerschaften bei ihrer Niederlassung im römischen Reiche zur Zeit der Völkerwanderung vorfanden, und welche bekanntlich die Grundlage der romanischen Sprachen bildet. Deshalb findet sich das Wort außer in Italien schon früh in Frankreich, Spanien und England, zuerst in der Bedeutung von Vieh, Wert, Geld, dann auch in der Bedeutung von Darlehenssumme und Handelskapital.“ (S. 574. Hervorhebung im Original).

V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum

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Eine sachliche Zuordnung wenigstens des modernen Kapitalismus kann deshalb z. B. ohne die vorangegangene Entstehung eines (National-) Staates, ob in Frankreich, Spanien, den Niederlanden oder Großbritannien, mit entsprechenden Rechtsverhältnissen und bürokratischen Organisationsstrukturen nicht durchgeführt oder bestimmt werden. Die wirtschaftlichen Kompetenzen absoluter Staaten seit der Frühen Neuzeit veränderten alle vorherigen Wirtschaftssysteme auf so dramatische Weise, dass Kapital gegenüber Handel, Zöllen oder kriegerischen Eroberungen eine sekundäre Rolle einnahm, obwohl es als Verrechnungseinheit unverzichtbar war. Italienische Städte oder ,Stadtstaaten‘ haben zwar seit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit große finanzielle Reichtümer angehäuft, doch sie sind durch die allmähliche Etablierung von Nationalstaaten verdrängt und entmachtet oder in die neuen Staaten integriert worden. Auf der organisatorischen Grundlage solcher Staaten konnten erst die industriellen Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums heranreifen, was z. B. erklärt, warum Großbritannien zum ersten Industriestaat der Welt aufsteigen konnte. Ohne genauer darauf einzugehen, soll hier noch betont werden, dass die eigentlichen Träger der ökonomischen Dynamik Regionen innerhalb dieser Staaten waren, die die vorhandenen Faktoren für einen autonomen, von der gesamtstaatlichen Entwicklung weitgehend abgekoppelten wirtschaftlichen Aufschwung nutzten, auch wenn die staatliche Politik den ,Ruhm‘ für sich beanspruchte. (Vgl. Kiesewetter, 2000). Die militärische oder politische Errichtung von Nationalstaaten ist also m. E. eine grundlegende Voraussetzung eines modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems, auch wenn damit nicht von vornherein beabsichtigt wurde, eine wie auch immer geartete Industrialisierung einzuleiten oder durchzuführen. Der moderne Kapitalismus hat sich vor etwa 250 Jahren etabliert und wird allmählich durch Dienstleistungsgesellschaften überlagert oder sogar abgelöst, d. h. eine Arbeiterklasse existiert nicht mehr. Mit der weltweiten ,Öko-Katastrophe‘ werden die negativen Stimmen lauter, die glauben: „Der Kapitalismus erscheint wie ein Fluch“ (Herrmann, 2015, S. 246), doch die wachstumsstarken Nationalstaaten hätten genügend Möglichkeiten, diesen ,Fluch‘ in einen ,Segen‘ zu verwandeln, wenn sie sich auf einen gemeinsamen Kampf gegen die wirtschaftlichen Ungleichheiten sowie die Umweltschäden einigen könnten. Wie gesagt, seit dem späten Mittelalter fand z. B. in italienischen Städten, wie Venedig, Genua oder Mailand, eine kapitalistische Entwicklung statt, die zu großen Vermögen bei italienischen oder deutschen

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A. Kapitalistische Varianten

Kaufleuten führte und deshalb nahmen Autoren an, dass dort die Anfänge des modernen Kapitalismus zu suchen seien, weil Handelsimperien aufgebaut wurden, die über erhebliches Kapital verfügten. Doch mit der über mehrere Jahrhunderte verlaufenden Entstehung zentralistischer Staaten ergab sich nicht nur eine geographische Verlagerung führender kapitalistischer Nationen, sondern auch eine technologische Verschiebung der ökonomischen Merkmale industrialisierender Flächenstaaten, die eigentlich unvergleichlich zu vorhergehenden Jahrhunderten waren. Der Flottenbau, einschließlich von Kriegsschiffen, sicherte den Kolonialstaaten für mehrere Jahrhunderte eine wirtschaftliche Dominanz, die, wie im Fall Großbritanniens, auch wirkungsvoll zur Durchsetzung eigener ökonomischer Interessen eingesetzt wurde, die sie im 19. Jahrhundert an Deutschland und die USA abtreten musste. Deswegen entsteht ein schiefes Bild, wenn etwa Karl Marx 1867 glaubte, in „der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion ging’s vielfach zu wie in der Kindheitsperiode des mittelaltrigen Städtewesens“ (Marx, 1962, S. 777 f.), denn die kapitalistischen Merkmale dieser beiden Epochen unterscheiden sich fundamental, sowohl im Wucher- als auch im Kaufmannkapitalismus. Die ökonomischen Klassiker des 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben von einer „prästabilierten Harmonie“ bei Wirtschaftsvorgängen gesprochen, d. h. quasi eine göttliche Ordnung der Wirtschaft, weil sie es als ein fast unerklärliches Phänomen oder Wunder ansahen, dass sich aus einem offensichtlich wirtschaftlichen Durcheinander oder sogar Chaos ein geordnetes und vernünftiges System entwickeln und entstehen konnte, das große Gewinne abwarf. Adam Smith sprach von einer „unsichtbaren Hand“, durch die Millionen Vorgänge in einer hochkomplexen Wirtschaft ,gesteuert‘ werden, ohne dass wir die konkreten Abläufe in einer Nationalökonomie nicht verstehen könnten, selbst wenn wir sie im Detail untersuchen. Ich möchte deshalb noch einen einschränkenden Gedanken hinzufügen: Bei meinen Überlegungen kann es sich lediglich um vorläufige Andeutungen handeln, aufgrund welcher Kriterien oder Faktoren eine exakte Abgrenzung von kapitalistischen Perioden vorgenommen werden kann, die inhaltlich mehr erfasst als eine begriffliche Interpretation unterschiedlicher Wirtschaftsepochen oder -stufen. Die angebotenen Deutungen des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert sind so vielfältig, dass eine wirtschaftshistorische Beschreibung sie kaum erfassen kann, ohne eine radikale Verkürzung und einseitige Kennzeichnung vorzunehmen. Die etwas provokante Zukunftsfrage, ob dem etablierten Kapita-

V. Kapitalismus und wirtschaftliches Wachstum

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lismus durch die Klimakatastrophe oder die Corona-Pandemie selbst seine verpestete Luft ausgeht oder er an seinen ökonomischen Dämpfen erstickt, möge als ein unvollständiger Beitrag zu immunisierungskritischen Realitätsforderungen angesehen und verstanden werden.

B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘ – ein begrifflicher Widerspruch I. Jüdischer oder ägyptischer ,Kapitalismus‘ Der moderne Kapitalismus ist nach meiner Auffassung mit der englischen Industrialisierung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden, als die rational-kapitalistische Organisation der unternehmerischen Produktion sowie der täglichen Lebensweise für immer mehr arbeitende Menschen durch eine fabrikatorische Tätigkeit eingeleitet oder begonnen wurde. Allerdings haben verschiedene Interpreten den beginnenden ,Kapitalismus‘ auf die Anfänge der kulturellen Zivilisation zurückdatiert, weil damals bereits Kapitalformen vorhanden waren und Profit durch Handel angestrebt und verwirklicht wurde. Darauf möchte ich hier nur kurz eingehen, denn der antiken oder mittelalterlichen Wirtschaft fehlten eigentlich alle entscheidenden Merkmale, die den modernen Kapitalismus auszeichnen und ihn zu einer von der Fabrikproduktion dominierten Ökonomie werden ließ. Wenn wir etwa den antiken Handel als frühes kapitalistisches Wirtschaftsgeschehen ansehen, dann gab es bereits einen israelischen ,Kapitalismus‘ während der Prophetenzeit, denn die von der Naturalwirtschaft geprägten alten Sitten und die erdverwurzelte Religiosität seien durch neuere, händlerische Wirtschaftsformen verdrängt worden. So schrieb der katholische Theologe Franz Xaver Walter (1870 – 1950): „Der Kapitalismus etabliert unbeschränkt seine Herrschaft im Judenlande; Luxus und Üppigkeit in den Kreisen der Begüterten, Dürftigkeit und Elend in der breiten Masse des Volkes. Der Mittelstand hat den Kampf um seine Existenz zu führen; er wird allmählich von dem immer mehr um sich greifenden Kapitalismus aufgesogen.“ (Walter, 1900, S. 100. Hervorhebung im Original). Eine moderne Begrifflichkeit des Kapitalismus auf antike Wirtschaftsvorgänge zu übertragen, birgt allerdings die akute Gefahr in sich, dass verfaulte Birnen mit reifen Äpfeln verglichen werden, d. h. dass unvergleichbare Merkmale des modernen Kapitalismus auf antike Verhält-

I. Jüdischer oder ägyptischer ,Kapitalismus‘

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nisse angewandt und ihnen aufgeprägt werden, ohne die gravierenden Unterschiede genügend zu berücksichtigen. Auch der Rechtsgelehrte Levin Goldschmidt (1829 – 1897) sah 1891 im antiken Handelsrecht eine volle Ausbildung des Geld- sowie des geldwirtschaftlichen Kreditverkehrs, obwohl etwa im römischen Wirtschaftsleben eine höchste sittliche Verwilderung des römischen Staates aufgetreten sei, weil „gerade die herrschenden Stände, sich durch schamloseste Ausbeutung der Provinzen bereichernd, der wildesten Speculation und dem rücksichtslosesten Kapitalismus huldigten“ (Goldschmidt, 1973, S. 60). Nach dezidierter Ansicht des Handelsjuristen Goldschmidt wurden die Geld- und Bankgeschäfte der römischen Wirtschaftsagitatoren von einer mächtigen Finanzaristokratie durchgeführt, den societates publicanorum, angeblich ein „die ganze römische Wirthschaft beherrschende(r) kapitalistische(r) Großbetrieb“ (ebd., S. 70), der so zusagen der modernen Fabrik vorausging. Es soll hier nicht ausführlich begründet werden, warum die sachlichen Einseitigkeiten moderner Begriffe für antike Wirtschaftsverhältnisse anhand von empirischen Vergleichen entschlüsselt oder aufgedeckt werden müssten, um gravierende Unterschiede zu verdeutlichen. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass sogar „die raffinierteste Erwerbssucht der Kapitalisten seit Jahrtausenden“ (Ruhland, 1933, S. 60) angeprangert wurde, so als habe es schon in vorchristlicher Zeit einen echten Kapitalismus gegeben.1 Einige Autoren verlegen eine gesellschaftliche Verkehrswirtschaft nach einer überwundenen, geschlossenen Hauswirtschaft für das Zweistromland in die Hammurapi-Zeit oder für Ägypten in die Zeit seit dem 16. Jahrhundert v. Chr. und für die westlichen Provinzen des Perserreiches in die Herrschaft des Königs Dareios I. (550 – 486 v. Chr.) (Otto, 1925, S. 30 ff.). Das Zweistromland Babylon, in dem Leihkapital zirkulierte und eventuell sogar Privatbanken vorhanden waren, kann trotzdem nicht zu den antiken Gebieten gerechnet werden, „die eine Zeit einer kapitalistischen Wirtschaftsform durchgemacht haben“ (ebd., S. 31. 1 Es wäre zu schön, wenn wir den wahren, echten Kapitalisten in der jahrtausendealten Menschheitsgeschichte herauspräparieren könnten – wie es etwa Werner Sombart mit den Juden getan hat –, womit scheinbar alle kapitalistischen Rätsel gelöst und wir von allen analytischen Problemen erlöst wären. Dann hätten wir seine Unmoral festgenagelt und könnten uns damit brüsten, niemals Kapitalisten gewesen zu sein, weil: „Der wahre Kapitalist ist von dem amoralischen Verlangen motiviert, Geld zu akkumulieren, und das treibt einzelne Personen immer wieder dazu, die Regeln zu biegen oder zu brechen.“ (Fulcher, 2011, S. 194).

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

Hervorhebung im Original), weil angeblich die unterscheidenden Merkmale zwischen dieser Wirtschaftsart, „wie sie uns im Altertum begegnet, und der modernen verhältnismäßig geringfügig“ (ebd.) seien. Das Handelsvolk der Phöniker hätten in dem Küstenland und der Tochterstadt Karthago ebenfalls mindestens seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. eine ungewöhnliche Gewerbetätigkeit betrieben, was eindeutig vom Streben nach größtmöglichem Gewinn motiviert worden sei, die als „besonders typisches Kennzeichen einer hochkapitalistischen Wirtschaftsform“ (ebd., S. 47) angesehen werden könne. Noch im 21. Jahrhundert sprechen Autoren von einer fünftausendjährigen kapitalistischen Unterdrückung, die durch reines Bereicherungsstreben von rücksichtslosen Profiteuren ausgelöst worden sei: „Seitdem lebt die Gattung unter der privaten Tyrannei der Produktionsmitteleigner und ihrer repressiven Staatsapparate in hierarchischen und antidemokratischen Klassengesellschaften.“ (Dieterich, 2006, S. 21). Was können wir aus diesen antiken Beispielen für eine genauere Bestimmung von kapitalistischen Merkmalen entnehmen? Wenn man ,Kapitalismus‘ verengt auf einen Geldverkehr, einen Handel oder den menschlichen Trieb nach profitabler Tätigkeit, dann hat es freilich schon seit Jahrtausenden einen ,Kapitalismus‘, auch von Juden oder Ägyptern, gegeben, der jedoch mit dem modernen Kapitalismus nicht verwechselt werden sollte, wenn wir eine wissenschaftliche Trennschärfe anstreben. ,Kapitalismus‘ ist zu einem fast universal verwendbaren Schlagwort geworden, das positiv wie negativ konnotiert wird, um eigene bzw. eigenartige Vorstellungen zu untermauern. Selbst Friedrich List (1789 – 1846), der für die englische Industriegeschichte seit dem 18. Jahrhundert und seinem kapitalistischen Wohlstand außergewöhnliche Lobeshymnen anstimmte, argumentierte gegenüber einem anonymen Kritiker, „alle zivilisierten Völker des Altertums besaßen eine ausgebreitete Industrie, so gut man sie eben zu ihrer Zeit verstand“ (List, 1930, S. 450).2 Deshalb erscheint es mir weder für die ökonomische Wissenschaft noch für die 2 Allerdings lautet der darauffolgende Satz ganz in unserem Verständnis: „Vor allen Dingen aber haben wir darauf aufmerksam zu machen, daß die nationalökonomische Grundlage der alten Völker eine ganz andere gewesen ist als die der neueren, daß daher das Studium derselben in unsern Tagen wenig praktisches [d. h. auf das moderne Industriesystem bezogenes, H.K.] Interesse hat.“ (List, 1930, S. 450). Diese wenig rationale und teilweise widersprüchliche Argumentation durchzieht das ganze, 1841 zuerst erschienene, Werk, Das nationale System der Politischen Ökonomie, von Friedrich List.

II. Griechischer ,Kapitalismus‘

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vorindustrielle Wirtschaftsgeschichte gleichgültig, ob ein historisches Zeitalter wie die Antike „kapitalistisch war oder nicht“ (Zwiedineck-Südenhorst, 1931, S. 222), denn sonst verwischen sich zentrale Unterschiede zwischen verschiedenen Wirtschaftsformen. Wenn man neuerdings die geistige Natur des Kapitalismus in der „Sintflut der Äußerlichkeit“ erkennen zu können glaubt und Individualismus wie Rationalismus als Zivilisation verunglimpft, die mit einer wahren Kultur nicht verwechselt werden dürften, kann man zu der ideellen oder geistigen Auffassung gelangen: „Unser heutiger Kapitalismus (auch der Frühkapitalismus des sechzehnten Jahrhunderts) ist weder aus der Bodenrente, noch dem Steigen der Edelmetallgewinnung, noch aus Luxus, Kriegsgewinn usw. entstanden, wie Sombart will, noch aus Handel, Geldleihe und Kriegswesen, wie Brentano will, noch auch aus einer religiösen Sonderstellung, wie Max Weber will; denn die Kapitalansammlung durch Rente (usw.) setzt den Kapitalismus schon voraus, die Anwendung des religiösen Dogmas im kapitalistischen Sinne ebenso; sondern zuletzt allein aus dem Ideenumschwung seit dem Niedergang der Hochscholastik – dem Nominalismus, dem Naturrecht – aus einem rein geistigen Grund.“ (Spann, 1931, S. 67). Alle kulturellen oder religiösen Erscheinungsformen mit dem modernen Kapitalismus zu verbinden oder ihm anzulasten, dass er sich lange vor unserer Zeitrechnung ausgebreitet habe, verkennt nicht nur die speziellen Eigenarten dieses Wirtschaftssystems, sondern verhindert eine inhaltliche Erklärung. Mit dieser verbreiteten Auffassung werden wir uns noch eingehender beschäftigen, denn geistige und materielle Ursachen sollten konsequent auseinandergehalten werden, wenn wir faktoriellen Ausprägungen von Kapitalismen in verschiedenen Zeitaltern unterscheiden und erfassen wollen.

II. Griechischer ,Kapitalismus‘ Von anderen Autoren wurde etwa behauptet, bei „den Griechen waren Wille und Fähigkeit für den Kapitalismus vorhanden“ (Below, 1926, S. 425), ohne die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung zu untersuchen oder ihre konkrete Arbeitsweise und sachliche Ausprägung darzulegen, denn die antike Arbeit wurde ja wesentlich von Sklaven verrichtet, auch wenn etwa Bergwerksbesitzer dadurch sehr reich oder sogar Multimil-

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

lionäre, wie Krösus, werden konnten.3 Ich möchte mich mit diesen merkwürdigen Interpretationen und falschen Zuordnungen hier nur insofern beschäftigen, um durch eine vergleichende Analyse auf gravierende Unterschiede hinzuweisen, denn es geht mir vorrangig darum, andeutungsweise Periodisierungsvorschläge für einen beginnenden ,Kapitalismus‘ zu präsentieren und ob seine moderne Ausprägung dieses Jahrhundert überleben kann. Der wohl bekannteste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes (1883 – 1946), sah den wesentlichen Charakter des Kapitalismus in der „Abhängigkeit von einem intensiven Appell der gelderzeugenden und geldleihenden Instinkte der Individuen als das Grundmotiv der wirtschaftlichen Maschine“ (Harrod, 1951, S. 356). Diese Kennzeichnung mag durchaus mit antiken und mittelalterlichen Wirtschaftsvorstellungen oder mit modernen lebensweltlichen und psychologischen Deutungen vereinbar sein, obwohl Keynes wahrscheinlich eine solche Assoziation nicht beabsichtigte. Meine sachlichen Einwände auf einen kurzen Nenner gebracht: Wenn wir danach fragen, was wir von einer derart langen zurückreichenden historischen Ansicht, dass es in der ägyptischen, griechischen und römischen Antike bereits einen Kapitalismus gegeben habe, zu halten haben, kann ich dem französischen Kapitalismusforscher Joseph Salvioli teilweise zustimmen: „Der antike Kapitalismus hat nie dieses Embryonalstadium überschritten, … die die Entwicklung der Großindustrie hemmten. Selbst die kleinen industriellen Unternehmungen auf kapitalistischer Basis waren und bleiben Ausnahmen, da sich der Arbeiter, der zu Ersparnissen und Vermögen gekommen war, und der Freigelassene, der sein Pekulium vergrößert hatte, im allgemeinen nicht in einen kapitalistischen Unternehmer verwandelte“ (Salvioli, 1922, S. 174 f.). Die antike Wirtschaft, ob israelitisch, griechisch oder römisch, war abgesehen vom ausgedehnten Handel über teilweise große Distanzen, vor allem mit landwirtschaftlichen Gütern, wesentlich eine geschlossene Hauswirtschaft, selbst wenn häusliches Zubehör, wie Töpfe, Kleider etc. 3 Michail Rostovtzeff: The Social and Economic History of the Roman Empire, Oxford 1926, S. 3, geht sogar so weit, zu behaupten: „Hence the commercial capitalism of the Greek cities of the fourth century attained an ever higher development, which brought the Hellenistic states very near to the stage of industrial capitalism that characterizes the economic history of Europe in the nineteenth and twentieth centuries.“ Worin allerdings die „große Nähe“ des Handelskapitalismus griechischer Städte mit dem industriellen Kapitalismus etwa Englands oder Deutschlands bestand, verrät uns Rostovtzeff nicht.

II. Griechischer ,Kapitalismus‘

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Marktartikel waren, die oft eingekauft und nicht immer selbst hergestellt wurden. Wenn man z. B. akzeptiert, dass es zeitliche Stufen eines ,Kapitalismus‘ gegeben hat, ist die sachliche Unterscheidung zwischen kommerziellem und industriellem Kapitalismus, wie sie Rostovtzeff (1926, S. 482 ff.) vorgenommen hat, nicht ausreichend, um der Antike einen echt kapitalistischen Charakter zu verleihen. Aus heutiger Sicht, nachdem moderne Industriestaaten zwei Jahrhunderte lang die wirtschaftlichen Strukturen in der Produktion, dem Verkehr, der Unternehmenskonkurrenz oder dem Management umgewälzt haben, zu fragen, warum die Antike sich nicht im modernen Sinn entwickeln konnte oder warum eine ,Industrialisierung‘ in der griechischen und römischen Welt steckengeblieben ist, erscheint mir wie die märchenhafte Vorstellung, warum Robinson Crusoe kein steinreicher Kapitalist geworden ist. Der letzte lydische König Kroisos (Krösus, um 560 – 546 v. Chr.) genießt bis heute wegen seines angeblich unermesslichen Reichtums sprichwörtliche Aktualität, doch obwohl das delphische Orakel ihm weissagte, dass, wenn er den Halys überschreite, ein großes Reich zerstören werde, wurde er vom Perserkönig Kyros II. besiegt und kann wohl kaum mit modernen Kapitalisten gleichgesetzt oder als solcher bezeichnet werden. Die konkrete Zuschreibung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise in der Antike ist wie die weitverbreitete Vorstellung von Athen als Wiege der modernen Demokratie ein begeisternder Euphemismus, der allerdings einer exakten Nachprüfung nicht standhält, weil beide, sowohl moderner Kapitalismus wie moderne Demokratie völlig andere Merkmale aufweisen (vgl. Kiesewetter, 2022, S. 36 ff.). Die üblichen Argumente von Altertumsforschern, warum es in der griechischen und römischen Antike einen ,Kapitalismus‘ gegeben habe, werden überwiegend begründet oder zu untermauern versucht mit sozialökonomischen Zuständen und Herrschaftsformen der damaligen Zeit und ihren historischen Nachwirkungen. Denn zweifellos gab es in den Agrarstaaten des Altertums bereits ausgeprägte Formen des Handels, des Austausches von Gütern gegen Geld und eines wirtschaftlichen Marktverhaltens, um den ungefähren Wert der Waren abschätzen und sie verkaufen zu können. In Griechenland können wir Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung ein differenziertes Gewerbeleben beobachten und nachweisen, das von cleveren Geschäftsmännern vorangetrieben wurde, die ihren Wohlstand vergrößern wollten. Gerade der Stadtstaat Athen war durch eine unerwartete Zunahme der Bevölkerung in den vorchristlichen Jahrhunderten dazu gedrängt worden, nicht

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

nur seine gewerblichen Tätigkeiten, die weitgehend von Sklaven verrichtet wurden, auszudehnen, sondern auch den ,internationalen‘ Handelsverkehr zu intensivieren, um die zahlreichen Einwohner mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die in den umliegenden Landesteilen nicht erzeugt werden konnten. Außerdem wurden bereits Jahrhunderte vor Christi Geburt die Gold- und Silberausbeuten der lydischen, kyprischen und spanischen Bergwerke auf dem griechischen Markt dazu verwendet, die Handelsverbindungen auszubauen, wodurch es zu einem regen Warenverkehr zwischen Griechenland und Anrainerstaaten kam. Die m. E. unzulässige Abstraktion und zu weitgehende Interpretation der damals bestehenden, antiken Wirtschaftsverhältnisse besteht darin, dass man ein modernes Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, der sich in seinen wesentlichen Zügen erst durch die Industrieproduktion entfaltet hat, auf die antike Landwirtschaft des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. undifferenziert überträgt, wie es im folgenden Zitat dargestellt wird: „Der kapitalistischen Wirtschaft nähert sich der Gutsbetrieb erst seit der Zeit, in der er für den Verkauf auf dem Markte zu produzieren begann.“ (Pöhlmann, 1925, S. 129). Die moderne kapitalistische Wirtschaft hat jedoch eine strikte Trennung von Landwirtschaft und Industrie angestrebt und durchgeführt, weil auf den Bauernhöfen (noch) keine Produktionsanlagen errichtet werden konnten, d. h. die Landwirtschaft nicht industrialisiert war. Ob tatsächlich in antiken Betrieben solche Mengen von nichtagrarischen Produkten oder Gütern hergestellt werden konnten und wurden, dass dadurch große Einnahmeüberschüsse entstanden, können wir wegen den spärlichen statistischen Überlieferungen wohl niemals mehr exakt herausfinden und überprüfen, auch wenn ein solcher Nachweis begrüßenswert wäre. Der antike Philosoph Aristoteles verwendet in seiner Schrift Politik statt der üblichen Bezeichnung Hauswirtschaft, der oikonomia, wo alle Bedürfnisse für den täglichen Bedarf selbst hergestellt werden, den Ausdruck Chrematistik, d. h. dem Erwerb von und dem Handel mit Gütern durch ein gegenseitiges Tauschgeschäft zwischen den Beteiligten. Damit wird zwar eine Veränderung wirtschaftlicher Aktivitäten angedeutet bzw. vorgeschlagen, doch sie ist noch weit von einer kapitalistischen Wirtschaft mit modernen Produktionsverfahren entfernt. Das argumentative Arsenal für frühe wirtschaftliche, kapitalistische Tätigkeiten ist damit noch keineswegs erschöpft, denn Historiker der Antike fanden und finden angeblich deutliche Hinweise für kapitalistische Entwicklungen im Altertum. Ein weiterer Beleg für einen antiken ,Ka-

III. Römischer ,Kapitalismus‘

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pitalismus‘ bestand z. B. in der Zunahme großer Vermögen oder auch Reichtum sowie Kapital, was fälschlicherweise als ein zentraler Aspekt einer kapitalistischen Wirtschaft angesehen und herangezogen wird. Die Worte Kapital und Kapitalismus haben zwar den gleichen historischen (lateinischen) Ursprung, doch sie sind inhaltlich derart verschieden, dass sie nicht miteinander vermengt werden sollten, sofern wir an einer genauen Abgrenzung des Kapitalismus interessiert sind. Wenn wir einräumen, dass ein aufstrebendes städtisches Bürgertum in der Antike an den binnenländischen und maritimen Handelsgeschäften stark beteiligt war und durch wirtschaftliche Spekulationen sein finanzielles Einkommen und seinen Reichtum vergrößerte, so sollten wir trotzdem nicht daraus ableiten, dieses kaufmännische Verhalten hätte etwas mit „industriellen und kommerziellen Unternehmungen“ (Pöhlmann, 1925, S. 131) zu tun. Die einfache Übertragung moderner Termini auf die antike Welt führt, wie gesagt, zu täuschenden Analogien, wodurch sachliche Erklärungskriterien für unterschiedliche Wirtschaftssysteme entwertet werden und wir auf eine begriffliche Beliebigkeit zusteuern, die wissenschaftliche Exaktheit aushöhlt. Von der Antike bis zur Frühen Neuzeit war das Wirtschaftsgeschehen in überwiegendem Maße dominiert von der Landwirtschaft, die sich technologisch auf einem niedrigen Niveau bewegte und nicht mit Industrie verwechselt werden sollte, was wir so oft in der Literatur antreffen.

III. Römischer ,Kapitalismus‘ Eine Antwort auf die drängende Frage, ob griechische oder römische Landwirte und Adelige, die sich für kriegerische Waffengänge ausrüsten mussten, auch ein modernes „ökonomisches Interesse“ entwickelten, das dem eines kapitalistischen Unternehmers aus dem 19. Jahrhundert auch nur ähnelte, können wir trotz der vielfältigen Aktivitäten von griechischen und römischen Herrscherfamilien nur verneinen. Selbst wenn wir einzuräumen bereit sind, dass die Bodenkultur und die landwirtschaftliche Betriebsweise intensiviert und die Pacht- und Hörigkeitsverhältnisse seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. verschärft worden waren, um die steigende Bevölkerung einigermaßen ernähren zu können, so war die Arbeitsorganisation, ohne technische Geräte und Maschinen, noch wenig differenziert sowie weitgehend Handarbeit. Deshalb ist es widersinnig oder zumindest

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

missverständlich, wenn Robert von Pöhlmann behauptet: „Die Landwirtschaft wird auch in dieser Hinsicht immer mehr industrialisiert“ (ebd., S. 181), denn Industrieprodukte gab es nicht vor der Etablierung von Fabriken. Es erscheint mir etwas weit aus der marxistischen Terminologie hergeholt und auf antike Verhältnisse übertragen, aus den landwirtschaftlichen Veränderungen zu folgern: „Der kapitalistische Individualismus beraubte diese Verhältnisse ihres patriarchalischen Charakters und machte sie zu einem Mittel der Ausbeutung des Nebenmenschen“ (ebd., S. 136). In der weitverbreiteten Sklaverei hat es tatsächlich unmenschliche Ausbeutungsverhältnisse gegeben, doch von der antiken Wirtschaft zu glauben: „Wie ein moderner Landwirt wird in dem Erntebild des Achillesschildes der Gutsherr dargestellt“ (ebd., S. 130. Hervorhebung von mir), verwandelt den antiken Bauern in einem rational agierenden Betriebswirt aus dem 20. Jahrhundert. Um diese unzutreffenden Überlegungen von einer ,industrialisierten‘ Landwirtschaft nicht zu weit auszudehnen, möchte ich hier lediglich noch anmerken, dass es mir als eine grobe Verzerrung erscheint, bei den gewerblichen Tätigkeiten in der Antike davon auszugehen, dass sich „schon hier die für den entwickelten Kapitalismus charakteristische Scheidung zwischen dem Unternehmer und technischen Leiter“ (ebd., S. 171, Anm. 1. Hervorhebungen im Original) ausgeprägt habe. Von einem steckengebliebenen ,Kapitalismus‘ in vorchristlichen Jahrhunderten oder im mittelalterlichen Feudalismus kann man m. E. auch dann nicht sprechen, wenn man die antike Sklaverei oder die Leibeigenen des grundbesitzenden Adels im Mittelalter z. B. mit der in den USA oder in verschiedenen Kolonien vergleicht, auch wenn den versklavten Menschen überall die einfachsten Menschenrechte verweigert und entzogen wurden. Die wesentlichen Unterschiede zwischen antiker und moderner Sklaverei bestehen zum einen darin, dass im späten 18. Jahrhundert bereits staatlich geduldete Antisklaverei-Bewegungen gerade im industriell am weitesten entwickelten Industriestaat England aufgetreten waren und zweitens die amerikanische Sklaverei sich überwiegend auf die Südstaaten bezog, wo im Baumwollanbau Tausende von Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen beschäftigt und ausgebeutet wurden, d. h. keine offizielle Methode war wie im Stadtstaat Athen oder im römischen Reich. In den amerikanischen Nordstaaten dagegen hatte sich bereits seit den 1830er Jahren eine Fabrikindustrie etabliert, die weitgehend ohne Sklaven auskam, weil industrielle Tätigkeiten sich nicht eignen

III. Römischer ,Kapitalismus‘

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für eine sklavenhalterische Gesinnung oder Praxis in einem durchrationalisierten Produktionssystem. Als im zu Ende gehenden amerikanischen Bürgerkrieg der amerikanische Präsident Abraham Lincoln die Sklaverei 1865 für alle Staaten abschaffte, flohen viele Südstaatensklaven nach dem Norden, um in der Armee zu dienen und eventuell eine Arbeit in Fabriken zu finden. Ein weiterer, vergleichender Aspekt soll hier noch angefügt werden, um gravierende Differenzen wenigstens anzudeuten, auf die in den folgenden Kapiteln noch genauer eingegangen wird. Während die antike Sklaverei die gesamte Gesellschaft durchzog – abgesehen von einigen spektakulären Sklavenaufständen –, wurde in Athen, Sparta oder in Rom über mehrere Jahrhunderte als selbstverständlich hingenommen, dass fast jeder bürgerliche Haushalt über Sklaven verfügte, die die tägliche Arbeit verrichten mussten und jederzeit verkauft werden konnten. Auf dem Athener Sklavenmarkt, um nur ein Beispiel anzuführen, wurden angebotene Sklaven von den feilbietenden Händlern auf einem Gerüst ausgestellt und konnten deshalb von den Käufern genau begutachtet und auf ihre Tauglichkeit überprüft werden. Ein Athener Gesetz verlangte, „dass jede verborgene Krankheit, wie z. B. Epilepsie, von dem Verkäufer vorher angegeben werden musste und er strafrechtlich verfolgt werden konnte, falls eine solche Krankheit später auftrat“ (Westermann, The Slave Systems, 1984, S. 12. Meine Übersetzung). Dagegen gab es in den USA eine scharfe Separierung zwischen landwirtschaftlichen und industriellen Regionen, d. h. die Sklaverei war räumlich oder geographisch getrennt und wurde in der amerikanischen Wirtschaft, außerhalb der Baumwollproduktion, so gut wie nicht praktiziert oder angestrebt. Von ,hellenistischer Industrie‘ zu sprechen, die mit den Industriekonglomeraten des Industriezeitalters vergleichbar gewesen wäre, ist deshalb, nicht nur wegen der geringen Durchdringung des antiken Lebens mit gewerblichen Tätigkeiten, unangemessen sowie verzerrend. Die kapitalistische Wirtschaftsform ist eine neuzeitliche Erscheinung, die nicht auf antike Verhältnisse übertragen werden sollte, bloß weil Handel, Verkehr und Kapital von Wechselhändlern eine gewisse Rolle spielten und die Kriegsfinanzierung große Summen Geldes erforderte. Es lässt sich weder für die ägyptische, griechische oder römische Antike statistisch nachweisen, welchen genauen Anteil die durchgeführten Güterbewegungen oder die -umschläge am gesamtwirtschaftlichen Einkommen der entsprechenden Staaten gehabt haben. Die empirische und

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

rechnerische Erstellung eines Bruttosozialprodukts, d. h. aller produzierten Güter und Dienstleistungen in einer Nation, anhand dessen die genauen Anteile der Sektoren der Nationalökonomie an der wirtschaftlichen Gesamtleistung ermittelt und berechnet werden konnten und können, beginnt frühestens Ende des 19. Jahrhunderts. Die Wirtschaftsdaten industrieller Nationen vor diesem Zeitpunkt erfassten nur einzelne Bereiche oder Sektoren, die für die gesamte Produktion wenig aussagekräftig sind, auch wenn sie für eine branchenbezogene, wirtschaftliche Beurteilung der ökonomischen Entwicklung wichtig waren und sind. Zwar können wir für den griechischen oder römischen Handel ermitteln, wieviel Getreide oder Waren von einem Ort zum anderen transportiert wurden, doch schon die annähernd exakte Berechnung des Kapitalumschlags oder der Geldgewinne stößt auf nahezu unüberwindbare statistische Hürden, ganz abgesehen davon, dass die Höhe des dazu verwendeten Kapitals oder der erhaltene Profit nicht ermittelt werden können. Um es auf eine einfache, etwas verkürzende Weise auszudrücken: Das vorhandene Tatsachenmaterial über wirtschaftliche Vorgänge ist zu rudimentär, um daraus ein kapitalistisches Umschlagstableau einer ganzen Altertumswirtschaft erstellen oder errechnen zu können, welches der empirischen Realität entsprechen würde. Wir können zwar von ,kapitalistischen Erwerbswirtschaften‘ in der Antike sprechen, denn zweifellos flossen erhebliche Geldbeträge zwischen den Vertragsparteien hin und her, nicht nur im lukrativen Sklavenhandel, doch die reellen Vergleichsmaßstäbe mit einem modernen Kapitalismus, in dem der kapitalistische Charakter fast alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft durchdrungen hat, sind sehr dürftig und eigentlich nicht existent. Unter Wirtschafts- und Sozialhistorikern waren und sind antike und moderne Vergleiche einer wirtschaftlichen Entwicklung weiterhin beliebt, denn es ist ja interessant, die historischen Wurzeln unserer profitorientierten Gesellschaften freizulegen. Max Weber hat Anfang des 20. Jahrhunderts mit ausdrucksstarken Beispielen darauf hingewiesen, dass eine ungestillte oder unstillbare Sucht nach möglichst hohen Geldgewinnen nicht mit ,Kapitalismus‘ verwechselt werden dürfe, denn sie finde sich „bei Kellnern, Aerzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern“ (Weber, 1988, S. 4). Ihm war bei dieser imposanten Aufzählung wohl bewusst, dass eine hohe Geldsucht nicht nur in unterschiedlicher Stärke in diesem verwirrenden Sammelsurium von Berufstätigkeiten auftrat, son-

IV. Militärischer oder kolonialer ,Kapitalismus‘

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dern dass sie von ihnen nicht gleichermaßen verwirklicht werden konnte. Daraus lässt sich für unsere Fragestellung folgern: Einen antiken Handelsoder Konsumtionskreditkapitalismus dem modernen Produktionskapitalismus gegenüberzustellen und beiden einen kapitalistischen Charakter zuzuerkennen, verwischt nicht nur die ökonomischen Triebkräfte einer landwirtschaftlichen verglichen mit einer industriellen Wirtschaftsweise, sondern auch die einzigartige Bedeutung einer überragenden, massenhaften Sachgüterproduktion. Es gibt allerdings auch andere Zuordnungen: Edgar Salin z. B. hat der griechischen Poliswirtschaft und der Handelspolitik in Hellas merkantilistische Züge zuerkannt (Salin, 1930, S. 401 ff.), doch der Güterverkehr in einem so kleinen Territorium kann nicht auf eine gleiche Stufe gestellt werden mit englischen, holländischen oder spanischen Handelstätigkeiten etwa im 17. Jahrhundert, der Hochblüte des Merkantilismus.

IV. Militärischer oder kolonialer ,Kapitalismus‘ Eine neue, von der Antike getrennte Wirtschaftsperiode, die allerdings ebenfalls nicht mit modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen verwechselt werden darf, beginnt mit den religiösen Kreuzzügen zur militärischen Eroberung Jerusalems oder des Heiligen Landes.4 Für diese langen und beschwerlichen Unternehmen mit tausenden von Kriegern, deren Ausrüstung und Versorgung nicht nur erhebliches Kapital erforderten, sondern den italienischen Stadtstaaten neue Handelswege ins östliche Mittelmeer und nach Byzanz eröffneten, wurden neuartige militärische und organisatorische Strategien benötigt, wie etwa Reiterheere oder veränderte Schlachtordnungen, um sich erfolgreich gegen feindliche Heere durchsetzen zu können. Deswegen wurde folgender wirtschaftlicher Zusammenhang hergestellt: „In den Kreuzzügen und als Folge derselben [entstand, H.K.] eine fortschreitende Verquickung von Kapitalismus und Kriegswesen.“ (Brentano, 1916, S. 41), die zu neuen Finanzierungs- und Produktionsformen führte.5 In der unmittelbaren Nachfolge der Kreuz4

Der 1. Kreuzzug fand zwischen 1096 und 1099 statt, während nach dem 7. Kreuzzug durch den französischen König Ludwig IX. im Jahr 1291 die letzte palästinensische Bastion Akko aufgegeben werden musste. 5 Es ist unbestritten, dass militärische Unternehmen und deren Ausrüstung große Mengen von Kapital erforderten, doch daraus kann nicht gefolgert werden:

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

züge begann sich im 12. und 13. Jahrhundert nach und nach das dem feudalen Grundbesitz widerstreitende Städtewesen mit in einzelnen Zünften organsierten Handwerkern zu etablieren, wodurch nicht nur die Geld- und Kreditwirtschaft ausgedehnt wurde, sondern sich allmählich eine vom grundbesitzenden Landadel emanzipierte kapitalistische Bürgerschicht herausbildete. Der französische Wirtschaftstheoretiker Anne Robert Jacques, Baron de l’Aulne Turgot (1727 – 1781) konnte deshalb rückblickend in seinem Hauptwerk von 1766, Betrachtungen über die Bildung und Verteilung des Reichtums, über den Grundbesitz schreiben: „Jedes Grundstück ist das Äquivalent eines Kapitals, also ist jeder Grundbesitzer ein Kapitalist, aber jeder Kapitalist ist nicht Grundbesitzer.“ (zitiert von Hohoff, 1919, S. 283. Hervorhebung im Original). Der deutsche Agrarpolitiker Johann August Gustav Ruhland (1860 – 1914) schlug dagegen über ein Jahrhundert später vor, verschiedene mittelalterliche Kapitalismusarten zu unterscheiden: „Drei Arten von Kapitalismus waren jetzt in Deutschland zusammengetroffen: der Kapitalismus in der Kirche, der Kapitalismus in der Gesellschaft und der Kapitalismus auf dem Fürstenthrone. Und bei jeder dieser drei Arten haben die römischrechtlichen Theorien fleißig mitgeholfen, zur möglichst großen Macht und zu möglichst großem Reichtum zu gelangen.“ (Ruhland, 1918, S. 116). Mit der ,Entdeckung‘ Amerikas durch Christoph Kolumbus und seit den kolonialen Eroberungen in der Neuen Welt stiegen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch deutsche Handelsunternehmer, wie die Fugger oder Welser, zu vorher unvorstellbarem Reichtum auf und eine neue, wenn auch kleine Bürgerschicht veränderte das Wirtschaftsleben und die wirtschaftlichen Anschauungen über Kapital und kapitalistischen Profit, was nur von einer relativ kleinen Bevölkerungsschicht umfassend wahrgenommen wurde. Zweifellos bedeutete diese kapitalkräftige Handelstätigkeit eine allmähliche Überwindung mittelalterlicher Vorstellungen gewerblicher Tätigkeiten, die sich noch weitgehend an antiken Vorbildern orientiert haben, denn China mit seinen fortschrittlichen Entwicklungen „Der moderne Kapitalismus hat also im Handel, der Geldleihe und dem Kriegswesen seinen Anfang genommen; die auf kapitalistischer Grundlage organisierten Kriegszüge der Kreuzfahrer hatten als Rückwirkung das Eindringen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung auch in das Gewerbe und die Landwirtschaft Italiens und anderer Länder mit aufblühendem Städtewesen.“ (Brentano, 1916, S. 48. Hervorhebung von mir).

IV. Militärischer oder kolonialer ,Kapitalismus‘

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in verschiedenen Sektoren, wie Schiffbau, Porzellan oder Uhrenherstellung, geriet kaum ins Blickfeld. Trotzdem waren diese unternehmerischen Aktivitäten und finanziellen Transaktionen noch weit vom Industriekapitalismus entfernt, auch wenn es ansatzweise zutrifft: „Ein ökonomischer Individualismus rücksichtsloser Gewinnsucht tritt bei den Vermögenden auf; und im Gegensatze zu ihnen bildet sich ein vierter Stand von Handarbeitern, zahlreichen Deklassierten und eines landstreichenden Proletariats“ (Lamprecht, 1920, S, 33) heraus, weil gewerbliche und handwerkliche Tätigkeiten zunahmen. Es ist vermutet worden, dass diese wirtschaftlichen, wenn auch handwerklich geprägten, Entwicklungen einer kapitalistischen Wirtschaft ähnelten, da kapitalkräftige Händlerund Kaufmannsdynastien daraus hervorgingen, weswegen Werner Sombart glaubte, aus diesen handwerklichen Wurzeln „der europäischen Seele ist der Kapitalismus erwachsen“ (Sombart, 1916, S. 327). Wir müssen allerdings stark abstrahieren, wenn wir die gewagte These aufrechterhalten wollen, dass es sich bei den Unternehmungen der Handelskapitalisten der Frühen Neuzeit um einen modernen Kapitalismus gehandelt hat, denn ein ausgeklügeltes Fabriksystem war damals völlig unbekannt und unvorstellbar. Eine solche, kapitalistische These bezieht ihre Überzeugungskraft vor allem aus der statistisch ermittelten Tatsache, dass der bürgerliche Reichtum mit den gewerblichen Strukturwandlungen seit Ende des 18. Jahrhunderts verglichen werden kann. Der damals ungewöhnliche Reichtum, den die Fugger oder Welser u. a. etwa in Augsburg – „der wirtschaftlich bedeutendsten Stadt Deutschlands am Ausgange des Mittelalters“ (Strieder, 1935, S. 210) – von 1467 bis 1540 aufgehäuft haben, wird häufig als eine kapitalismusähnliche Vorgehensweise oder sogar als echter Kapitalismus angesehen und beschrieben. Es ist wirklich beeindruckend, welche großen finanziellen Vermögen einzelne Personen zu dieser Zeit zusammentragen konnten, die Jakob Strieder so zusammenfasst: „Vermögen, wie sie 1467 nur 39 Augsburger Bürger aufweisen konnten, nannten 1498 schon 99 und 1540 gar 278 Bürger ihr eigen, und während im Jahre 1467 die Summe der Vermögen dieser 39 ,Reichen‘ 232.209 – 464.418 Florin [französische Bezeichnung des späteren Guldens, H.K.] betragen hatte, besaßen im Jahre 1498 die 99 ,Reichen‘ ein Gesamtvermögen von 956.168 – 1.912.336 Florin, 1540 die 278 ,Reichen‘ eine solches von 5.110.783 – 10.221.566 Florin.“ (ebd., S. 25). Zweifellos haben die kolonialen Eroberungen dazu geführt, dass südamerikanisches Gold und Silber nach europäischen Kolonialstaaten

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

gebracht wurde, doch es wurde teilweise auch zur Kriegsfinanzierung verschleudert. Verglichen mit den Vermögen von europäischen Großunternehmern im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen diese Kapitalzuwächse von Handelsbaronen allerdings recht bescheiden, doch Kapitalreichtum ist lediglich ein Element kapitalistischen Wirtschaftens. Ein anderer Einwand gegen eine inhaltliche Gleichsetzung von großen Vermögen mit Kapitalismus erscheint mir bedeutender: Große oder auch riesige bürgerliche Kapitalvermögen als genetische Voraussetzung eines modernen Kapitalismus anzusehen, erinnert mich an die apokalyptische Verwechselung einer vom Starkregen verursachten Überschwemmung mit der menschenvernichtenden Sintflut, denn die massenhafte Anhäufung von Kapital hat mit unserer Vorstellung von Kapitalismus so viel oder so wenig zu tun wie Hexenverbrennungen mit dem Christentum. Kapital ist lediglich ein Baustein einer Vielzahl von Faktoren, die zusammenkommen und ineinandergreifen müssen, damit das Haus ,moderner Kapitalismus‘ auf Dauer errichtet werden kann. Der religiöse Reformator Martin Luther (1483 – 1546), der diese Zeit einer neuen Wirtschaftsgesinnung miterlebte, konnte, noch stark mittelalterlichem Denken verhaftet, die ethische oder religiöse Sinnhaftigkeit solcher angehäuften Vermögen nicht nachvollziehen und glaubte, es könne weder christlich noch rechtmäßig zugehen, „wenn in einem Menschenleben so große, königliche Güter zusammengebracht werden“ (Luther, 1990, S. 361), die man höchstens weitervererben könnte. Nach der alttestamentarischen Auffassung Luthers stellte solcher niemals im kurzen Leben auszugebender Reichtum ein verachtenswertes Symbol dafür dar, dass sich die „Welt durch schwere Sünden dem Teufel verkauft“ habe und dafür, spätestens beim Letzten Gericht, büßen oder Rechenschaft darüber ablegen müsse. Unter dieser religiösen, kapitalismuskritischen Prämisse war es nur konsequent, wenn Luther diesen deutschen Handelsgewinnlern die intolerante Ansicht entgegenschleuderte: „Hier müßte man wahrlich auch den Fuggern und ähnlichen Gesellschaften einen Zaum ins Maul legen“ (ebd.). Ich möchte in diesem Zusammenhang noch kurz auf folgende Frage eingehen, um auf gravierende Unterschiede kapitalistischer Formen in der Antike, dem Mittelalter oder der Neuzeit hinzuweisen: Welche sachlichen Argumente können dafürsprechen oder herangezogen werden, dass solche großen bürgerlichen Kapitalvermögen als historische Vorstufe eines ,Kapitalismus‘ angesehen werden können oder ihn ausgelöst haben? Ist es ausreichend, festzustellen, dass in Augsburg und anderen europäischen

IV. Militärischer oder kolonialer ,Kapitalismus‘

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Städten seit Ende des 14. Jahrhunderts „immer tiefer und breiter werdende Geldbäche wie in einem großen Sammelbecken zusammenflossen“ (Strieder, 1935, S. 26), um erste Ansätze eines modernen Kapitalismus daraus abzuleiten? Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine städtische Entwicklung nicht gleichgesetzt werden darf mit einem nationalen Kapitalismus, der sich eben erst nach durchgeführter Nationalstaatsbildung, nicht einmal in allen europäischen Staaten, entwickeln konnte. Darauf möchte ich hier nicht näher eingehen, weil dann die unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten verschiedener Staaten untersucht werden müssten. Nur so viel: Die erfolgreich durchgeführte Gründung eines oder mehrerer kapitalistischer Unternehmen durch Kaufleute oder Händler, auch wenn sie große Summen Geldes erwirtschafteten, sollte m. E. nicht mit einem echten Kapitalismus gleichgesetzt oder nicht einmal in einem gemeinsamen Atemzug genannt werden, wenn wir den erklärenden Anspruch erheben, dieses System in seinen ökonomischen Einzelheiten und seinen gravierenden Folgen erfassen zu wollen. Diese theoretische und praktische Engführung einer beliebigen Kapitalismusdefinition hat Werner Sombart – der sogar den Vermögenszuwachs durch akkumulierte städtische Bodenrenten als grundlegend für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung ansah – in die Kapitalismusdiskussion eingeführt und wortreich verbreitet, obwohl es dazu auch kritische Stimmen gab. Jakob Strieder und viele andere Ökonomen und Wirtschaftshistoriker sind Sombart darin teilweise gefolgt, auch wenn sie andere Akzente setzten. Die Anhäufung riesiger Kapitalvermögen in einer einzigen Hand war ein solch spektakulärer Vorgang in der frühneuzeitlichen Geschichte, dass ein neuer Begriff, eben moderner Kapitalismus, dafür angemessen erschien, um ihn von früheren Wirtschaftsformen abzugrenzen. Durch diese intensiven Forschungen über Handelsunternehmen der frühen Neuzeit ist ein reiches statistisches und historisches Material von akkumuliertem Handelskapital seit dem Mittelalter aus den Archiven erschlossen, doch aufgrund dieser beeindruckenden Daten auch fragwürdige Schlüsse gezogen worden. Es soll gar nicht geleugnet, sondern vielmehr mit großer Hochachtung anerkannt werden, dass zahlreiche Wirtschaftshistoriker damit unsere Kenntnisse der mittelalterlichen und neuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte erheblich bereichert haben, doch der moderne Kapitalismus konnte dadurch weder widerspruchsfrei erfasst noch ,erzeugt‘ werden.

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

Mit diesen wenigen Andeutungen möchte ich es hier erst einmal belassen, denn auf einzelne Elemente, aus denen sich der moderne Kapitalismus zusammensetzt, wird im Kapitel E. näher eingegangen, wo die grundlegenden Faktoren der europäischen Industrialisierung beschrieben werden. Lediglich die weitreichende Folgerung, dass mit diesem angehäuften Handelskapital „die Genesis des Augsburger [oder sogar deutschen, H.K.] Kapitalismus“ (ebd., S. 57) begonnen habe, sollte hier infrage gestellt und bezweifelt werden. Ein städtischer ,Kapitalismus‘ basiert nicht nur auf anderen Elementen und Faktoren als ein nationaler Kapitalismus, nicht nur wegen der geringen Bevölkerungszahl, sondern z. B. auch wegen unzureichenden Transportmöglichkeiten, gering entwickelter Technologie, schwer zu beschaffenden Investitionen oder einem nicht genügend ausgebauten Verkehrssystem, die leichter und schneller nationalstaatlich errichtet oder aufgebracht werden können. Ganz abgesehen von der empirischen Tatsache, dass die Bevölkerungsgröße von Nationalstaaten die von Städten um das Hundert- oder sogar Tausendfache übertreffen kann, was sich auf Produktion und Nachfrage erheblich auszuwirken vermag, wie wir es etwa bei dem heutigen Industriegiganten China beobachten können. Städte verfügen gewöhnlich, zumindest in der Anfangsphase der Industrialisierung, über einen eingeschränkten Aktionsradius sowie über geringere wirtschaftliche Möglichkeiten als Staaten, die Industriesubventionen durchführen konnten und durchgeführt haben. Man denke etwa an den möglichen Anspruch, dass Städte als Teil eines Staates sich anmaßen würden, Handelsverträge mit anderen Staaten abzuschließen und wegen ihres ,Kapitalismus‘ mit dem Nationalstaat auf verschiedenen Bereichen in Konkurrenz treten wollten. Eine solche Interpretation von Städten als treibende Kräfte des Kapitalismus muss notwendigerweise dazu führen, dass wir einer trennscharfen Unterscheidung von Kapitalismus und Kapitalismus verlustig gehen, was viel mehr bedeutet als die theoretische Annahme einer begrifflichen Beliebigkeit oder einer genauen Zuordnung von ökonomischen Sachverhalten.

V. Die mittelalterliche Wirtschaft Die mittelalterliche Wirtschaft hatte zweifellos ihr eigenes Gepräge, das sich von den nachfolgenden Perioden erheblich unterscheidet, weswegen wir ihr auch bei einer historischen Betrachtung kapitalistischer Ent-

V. Die mittelalterliche Wirtschaft

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wicklungen nicht unbedingt die Bezeichnung ,Kapitalismus‘ anheften sollten, wenn wir an einer exakten Zuordnung interessiert sind. Von einer kapitalistischen Gesellschaft auszugehen, wenn die politische Macht durch eine Feudalaristokratie und kirchliche Würdenträger (Fürstbischöfe) ausgeübt wird oder wenn die Lohnarbeit in der Landwirtschaft, wie im späten Mittelalter, ansteigt, verkennt grundlegende Veränderungen der Arbeitswelt und der Produktionsstruktur seit dem Industriezeitalter. Ebenso wenig kann sinnvollerweise von einem Landwirtschaftskapitalismus gesprochen werden, selbst wenn auf den feudalen Grundherrschaften durch neue, modernere Anbaumethoden große Kapitalien erzeugt und Waren auf Verkaufsmärkten gehandelt wurden. Die empirische Tatsache, wie wir später sehen werden, dass der moderne Kapitalismus die meisten ökonomischen, politischen und sozialen Grundlagen oder Elemente der vorhergehenden Geschichte zerstört oder umgewälzt hat, sollte unsere analytische Vorsicht erhöhen, keine historischen Gleichsetzungen von durch lange Zeiträume getrennten Wirtschaftssystemen vorzunehmen, die sich strukturell und organisatorisch erheblich unterscheiden. Es hat nämlich wenig, auf die realen wirtschaftlichen Verhältnisse bezogene, Erklärungskraft, sondern ist lediglich ein wohlklingendes Bonmot: „In und mit dem modernen Reichtum entstand der moderne Kapitalismus; in und mit dem modernen Kapitalismus entstand der moderne Reichtum.“ (Strieder, 1925, S. 219). Der deutsche Wirtschaftshistoriker Jakob Strieder, der intensiv über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte geforscht hat, hat behauptet und als zutreffend angesehen, dass in dem dreiviertel Jahrhundert seit der frühneuzeitlichen Augsburger Handelssuprematie, d. h. mit der „Entstehung jener großen bürgerlichen Kapitalvermögen, die die eine der zwei wichtigsten ,subjektiven Voraussetzungen‘ für die Genesis des modernen Kapitalismus bildeten, an der Hand der denkbar sichersten Quellen als reine Tatsache dargelegt“ (ebd., S. 208 f. Erste Hervorhebung von mir, zweite im Original) worden seien. Wenn diese, weitgehend auf Kapitalanhäufung bezogene Ansicht zuträfe, erübrigte sich eigentlich eine detaillierte Auseinandersetzung darüber, worin sich ,moderner Kapitalismus‘ von vorhergehenden Epochen unterscheidet und warum er gerade nicht auf Kapitalakkumulation reduziert werden sollte. Sofern bürgerliche Kapitalvermögen tatsächlich als grundsätzliche oder grundlegende Elemente für eine kapitalistische Wirtschaftsordnung angesehen werden, müssten wir einräumen, dass der ,Kapitalismus‘ tatsächlich uralt ist. Wir

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

bräuchten uns dann wenig den Kopf darüber zu zerbrechen, welche entscheidenden Faktoren dazu beigetragen haben, dass eine neue Welt seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit revolutionären Veränderungen in der Arbeits- und Produktionssphäre entstehen konnte, die zwar mit Kapital und Vermögen verbunden ist, doch nicht auf sie reduziert werden kann. Vielleicht haben die vorhergehenden Überlegungen und sachlichen Ausführungen etwas verdeutlichen können, dass weder die griechische und römische Antike noch das europäische Mittelalter mit dem ökonomischen Signum moderner Kapitalismus bezeichnet werden sollten, wenn wir vergleichende wirtschaftliche Ursachenforschung betreiben oder die entscheidenden Faktoren für einen industriellen Kapitalismus heraus zu präparieren versuchen. Wir verdanken der griechischen Antike seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. großartige philosophische und naturwissenschaftliche Einsichten, jedoch nicht den Kapitalismus moderner Prägung. Auch das Mittelalter war noch weitgehend eingebettet in eine wenig fortschrittsorientierte feudalistische Ständegesellschaft und die Frühe Neuzeit wurde zwar geprägt von entstehenden, weltweiten Handelsverbindungen und gewerblich-kaufmännischen Unternehmen, doch eine moderne, kapitalistische Produktion war beiden Epochen vollkommen fremd. Zwar wurde von Kaufleuten und Handelsgesellschaften ungewöhnlich viel Kapital akkumuliert sowie Reichtümer angehäuft und nach hohen Gewinnen gestrebt, doch wenn man etwa einen dieser ,Kapitalisten‘ gefragt hätte, ob er mit Dampfmaschinen seinen Reichtum erhöhen zu können glaubte, hätte seine unwillige Antwort wohl in ungläubigem Staunen über eine solche für ihn abwegige Frage bestanden. Bei nüchterner und sachlicher Betrachtung sowie auf dem organisatorischen und institutionellen Hintergrund eines Industriekapitalismus seit dem späten 18. Jahrhundert zuerst in Großbritannien müssen wir allerdings konstatieren, dass diese mittelalterliche Wirtschaftsform ein kapitalistisches Kunstprodukt darstellte, „das Überschäumen einer plötzlich gesteigerten, aber nur kurz dauernden kommerziellen und finanziellen Tätigkeit“ (Salvioli, 1922, S. 274),6 die nicht in eine kapita6 Allerdings formuliert Joseph Salvioli dort in einer etwas übertriebenen Aussage, so als hätte diese mittelalterliche Epoche den Kapitalismus vorausgeahnt und sich vorübergehend einige Elemente von ihm entliehen: „Diese Wirtschaft hat vom Kapitalismus nur den glänzenden Schimmer entlehnt, sie ist ein ebenso schillerndes wie unbeständiges Wölkchen, das sich beim ersten feindlichen Windhauch in ein

V. Die mittelalterliche Wirtschaft

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listische Industrialisierung einmündete oder sie vorbereitete. Der Merkantilismus, der im nächsten Kapitel behandelt wird, hat in meinen Augen ebenfalls nur einen geringfügigen Beitrag zu einem industriedominierten Wirtschaftssystem geleistet und den modernen Kapitalismus weder geschaffen noch vorweggenommen. Der noch weiter zurückreichende Gedanke, dass der moderne Kapitalismus sich maßgeblich auf eine weiterentwickelte römische Rechtsordnung gestützt habe und daraus entstanden sei, ist zwar faszinierend, weil eine liberale staatliche Rechtssetzung eine wesentliche Voraussetzung sich entfaltender industrieller Kräfte darstellt, wie z. B. die unternehmerische Vertragsfreiheit und das Privateigentum an Produktionsmitteln, doch sie ist eben, wie wir später hören werden, nur ein, wenn auch wichtiges, Element des ökonomischen Fundamentes des Kapitalismus. Die ländliche ,Hausindustrie‘, die sich im merkantilistischen Wirtschaftssystem stärker entfaltete und deshalb als Protoindustrialisierung bezeichnet wurde, war gewerbetechnisch noch auf einer so niedrigen Stufe, dass es nicht gerechtfertigt ist, zu glauben, „der moderne Kapitalismus verdankte seinen ursprünglichen Impuls der englischen Textilindustrie“ (Hilton, 1978, S. 209), denn sie war keine Industrie im modernen Sinn. Kommen wir noch kurz auf einen Gedanken zu sprechen, der wegen der reformatorischen Aktivitäten seit der Französischen Revolution entstanden ist und vor allem von Historikern vertreten wurde. Die gelegentlich geäußerte Ansicht, die französische Gewerbefreiheitsakte von 4. August 1789 hätte die traditionellen, im Mittelalter entstandenen Hemmnisse für den Kapitalismus beseitigt und ihm zum europäischen Durchbruch verholfen, legt jedoch zu großes Gewicht auf rechtliche Aspekte, die zweifellos berücksichtigt werden müssen. Ein aufgelöster Zunftzwang bedeutete zwar für ein vorher durch zünftische Vorschriften behindertes Handwerk neue, bisher beschränkte Entfaltungsmöglichkeiten, konnte jedoch nicht die anschließende Entstehung von Industrieunternehmen bewirken oder auslösen, denn eine Fabrikgründung erforderte vielfältigere Faktoren als Gewerbe- oder Zunftfreiheit. Ganz neue Elemente mussten gefunden und andersartige Entwicklungen vorangetrieben werden, ehe das Pflänzchen Industriekapitalismus heranwachsen und sich entfalten konnte. Wir werden später noch genauer darauf einNichts auflöst und dabei wieder die alten widerstandsfähigen, einfachen Formen der Hauswirtschaft und das freie Handwerkertum zum Vorschein kommen läßt.“ (Salvioli, 1922, S. 274).

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B. Antiker oder mittelalterlicher ,Kapitalismus‘

gehen, warum gerade die grande nation Frankreich, die seit der französischen Revolution mit den Schlagworten liberté, égalité und fraternité sowie dem Code Napoléon zu einem vielbewunderten ,Rechtsstaat‘ in vielen europäischen Staaten als vorbildhaft erschien, im 19. Jahrhundert keine der englischen oder deutschen Industrialisierung vergleichbare Entwicklung durchführen konnte. Die westeuropäische, mittelalterliche Grundherrschaft wurde bis zum beginnenden 19. Jahrhundert dominiert vom Landadel und den kirchlichen Besitzungen, wobei die Stadtwirtschaft als produktive Ergänzung und finanzielle Ressource zwar geduldet und teilweise gefördert wurde, weil sie die benötigten Produkte für landwirtschaftliche Betriebe herstellte, doch das hierarchische Feudalsystem mit höheren und niederen Rechten von Herren und Dienern (Landarbeitern) begrenzte die kapitalistische Entfaltung von neuen, industriellen Produktionsformen auf rigorose Weise. Es fehlten deshalb im größeren Maßstab innovative Anreize, kapitalisierte Sachgüter herzustellen oder neue, technologische Produktionsmittel anzuschaffen oder zu entwickeln, weswegen europaweit agierende Kaufleute vor allem handwerkliche Produkte und Textilwaren vertrieben. Zwar waren auch luxuriöse Glas-, Schmiede- oder Seidenwaren auf europäischen Märkten und Messen sehr begehrt, doch selbst diese höherwertigen Produkte schafften (noch) nicht den rettenden Sprung zur Industrieproduktion. Die fehlende Nationalstaatsbildung im europäischen Heiligen Römischen Reich reduzierte den staatlichen Wettbewerb und die wirtschaftliche Konkurrenz um produktive Ressourcen, denn Hunderte von souveränen Grafschaften, Fürstentümern und Kleinstaaten verfolgten andere politische Interessen als ein gemeinsames industrielles Wachstum. Es bildete sich im Römischen Reich vor seiner politischen Auflösung im Jahr 1802 zwar eine effektive Arbeitsteilung und Güterversorgung zwischen Stadt und Land heraus, doch die kapitalistische Durchdringung von kleinen und kleinsten Territorien verharrte auf einem niedrigen Niveau. Darin besteht ein wesentlicher Grund, warum das in kleinste, mittlere und etwas größere Territorien zersplitterte ,Deutschland‘ vor 1850 keine intensive Industrialisierung durchführen oder in Gang setzen konnte.

C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem I. Merkantilistische Wirtschaftspolitik Die europäische Staatsentwicklung sowie die kolonialen Eroberungen überseeischer Territorien seit der ,Indienfahrt‘ von Christoph Kolumbus 1492 und der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch Vasco da Gama 1498 veränderten die antiken und mittelalterlichen Wirtschaftsgesellschaften auf derart gravierende Weise, dass man das merkantilistische Zeitalter als den endgültigen Beginn des modernen Kapitalismus ansah oder mit ihm gleichsetzte. Deshalb möchte ich den industriellen ,Errungenschaften‘ dieses Zeitaltes in diesem Kapitel etwas nachgehen, um ihre angebliche Vorläuferschaft des modernen Kapitalismus zu überprüfen. Die merkantilistische Wirtschaftstheorie übertrug auf die Staatsregierungen größere ökonomische Eingriffe und versuchte sie zu gesellschaftlichen Neuerungen zu bewegen, obwohl der Merkantilismus eigentlich einem „aufgeklärten Despotismus“ (Schmoller, 1918, S. 554) ähnelte. Nicht nur von marxistischen Denkern wurde diese Epoche als kapitalistischer Anfang ausgebeuteter und unterdrückter Arbeiter angesehen, sondern diese neuartige Wirtschaftsweise wurde dem ,ausbeuterischen‘ Kapitalismus gleichgestellt. In Anlehnung an das industrielle 19. Jahrhundert wurde etwa behauptet: „In allen kapitalistischen Ländern kamen damals [im 16. Jahrhundert, H.K.] massenhafte Bettler und Arme auf, ein furchtbares Lumpenproletariat, das dann durch eine grausame Blutgesetzgebung teils ausgerottet teils zur kapitalistischen Brauchbarkeit ,erzogen‘ wurde.“ (Reimes, 1922, S. 165). Können wir deshalb diese Epoche als einen modernen Kapitalismus oder wenigstens als die ökonomische Vorstufe der Industrialisierung ansehen? Einige Beispiele können die inhaltlich-ökonomischen Unterschiede vielleicht verdeutlichen, auch wenn ich auf die unterschiedlichen Ausprägungen des Merkantilismus oder Kameralismus in verschiedenen europäischen Staaten nicht detailliert eingehe. So wurde z. B. die außergewöhnlich lange Zeitspanne

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

zwischen den mittelalterlichen Kreuzzügen und der Französischen Revolution als die ,Epoche des Frühkapitalismus‘ bezeichnet, obwohl dazwischen mehrere Jahrhunderte von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen lagen. Diese langfristige Periodisierung lässt sich allerdings kaum mit der ebenso fragwürdigen These vereinbaren, dass „ein großer Teil der Grundsätze und Ideen der modernen Staatskunst“ (Sombart, 1916. I. Bd./1, S. 336) aus dem mittelalterlichen Städtewesen stamme oder abzuleiten sei, sofern wir dem Merkantilismus eine eigenständige Wirtschaftsform zugestehen. Den merkantilistischen Monarchen als den höchsten Repräsentanten eines Staates wurde eine bedeutende Rolle in diesem Wirtschaftssystem zugeschrieben, die etwas geschildert werden soll, um die rechtlichen Unterschiede zum Industriekapitalismus zu verdeutlichen. Der absolute Fürst oder nationale Machtstaat konnte im Sinne von Niccolò Machiavellis Il principe (1532) seine politische Herrschaft dazu benutzen, sowohl die wirtschaftlichen als auch die gesellschaftlichen Strukturen öfter abzuändern oder umzugestalten, um die benötigten Einnahmen des Fürsten und den Wohlstand der Gesamtnation zu vergrößern. Die autoritäre Durchsetzungsmacht der politischen Instanzen, besonders der regierenden Fürsten, ist deshalb ein prägendes Merkmal merkantilistischer Politik und eines frühneuzeitlichen Herrschaftssystems, das auf einem etablierten Nationalstaat aufbaute oder ruhte. Ein ständestaatlicher, antiindividualistischer und antikapitalistischer Denker wie Othmar Spann vertrat wohl aus diesem Grund die ökonomische Überzeugung: „Der Kapitalismus ist nicht wirtschaftlicher Liberalismus, sondern wirtschaftlicher Macchiavellismus.“ (Spann, 1931, S. 95), weil die jeweilige Staatsführung massiv in diesen Prozess eingriff. Es waren allerdings die sich allmählich konsolidierenden Staaten oder Nationen, die durch ihre militärische Aufrüstung, den forcierten Flottenbau und die überseeischen Handelsverflechtungen erst eine merkantilistische Wirtschaftspolitik begründen konnten, d. h. zu mächtigen Nationalstaaten aufstiegen. Deswegen kann ich nicht die städtisch geprägte Ansicht teilen: „Der Merkantilismus ist zunächst in der Tat nichts anderes als die auf ein größeres Territorium ausgedehnte Wirtschaftspolitik der Stadt.“ (Sombart, 1916. I. Bd./1, S. 363. Hervorhebung im Original). Die merkantilistische Wirtschaftspolitik zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert versuchte jedoch zum ersten Mal in der langen Geschichte von Wirtschaftssystemen die nationalen mit den ökonomischen Vorstel-

I. Merkantilistische Wirtschaftspolitik

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lungen einer absolutistischen Herrschaft zu vernetzen und dadurch einen, vor allem staatlichen, Reichtumszuwachs zu erzeugen. Die finanziellen Ressourcen sollten für die steigenden Ausgaben für Hofhaltung, Militär, Kriegführung sowie gewerbliche Investitionen verwendet werden, doch trotz erheblicher Einnahmen schien der staatliche Geld- und Goldhunger unersättlich.1 Nach Werner Sombart hat uns allerdings die dämonische Sehnsucht nach Edelmetall seit den Sagen vom Argonautenzug oder dem Ring des Nibelungen beherrscht oder beherrscht uns noch: „Ein uralter Fluch lastet auf dem Menschengeschlechte: der Fluch des Goldes“ (Sombart, 1923, S. 71), wie etwa der ,Fluch‘ unserer Endlichkeit. Zwar können wir ein Jahrhundert später, nach der endgültigen Abschaffung des Goldstandards, als Geldscheine oder Banknoten jederzeit in Gold umgetauscht werden mussten, diesen Zusammenhang durchaus bezweifeln, doch Gold übt weiterhin eine allgemeine Faszination auf viele Menschen aus. Wenn jedoch vom gleichen Autor behauptet wurde, „an zahlreichen Punkten sehen wir den Feudalherrn an dem Aufbau des Kapitalismus beteiligt“ (Sombart, 1988, S. 89), dann liegt es nahe zu vermuten, dass diese wirtschaftlichen Aktivitäten als eine unmittelbare „Vorbereitungszeit für die industrielle Revolution“ (Borchardt, 1982, S. 25) angesehen werden können, d. h. der Merkantilismus als ökonomischer Vorläufer des modernen Kapitalismus interpretiert werden kann. Die begriffliche Verwirrung über ein frühneuzeitliches Wirtschaftssystem kann noch gesteigert werden, indem man „den englischen Merkantilismus ,Kommerzialismus‘ oder ,Navigationismus‘ und den französischen Merkantilismus ,Industrialismus‘ oder ,Protektionismus‘“ (Totomianz, 1929, S. 46) bezeichnet. Bei einer solchen unterschiedlichen Kennzeichnung könnte der falsche Eindruck entstehen, dass Handel und Seefahrt für die merkantilistische Politik in Frankreich nur eine untergeordnete Rolle spielten, während England umgekehrt gewerbliche Fortschritte und rigorose Handelsbeschränkungen für unbedeutend hielt. Der Merkantilismus als neuartiges Wirtschaftssystem hat seit den neomerkantilistischen Tendenzen gegen Ende des 19. Jahrhunderts Wirtschaftshistoriker zu ausführlichen Untersuchungen angeregt, die hier nicht einmal angeführt werden sollen, weil sie von unseren eigenen 1 Der amerikanische Historiker William Woodruff (1916 – 2008) hat dazu eine sehr kluge Bemerkung gemacht: „The more stress is placed upon monetary wealth the more the absence of it came to be identified what western economists, with extraordinary historical naïvety, called ,backwardness‘.“ (Woodruff, 1967, S. 12).

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

Überlegungen wegführten. Auch auf das monumentale, dreibändige Werk von Immanuel Wallerstein (1930 – 2019), der sogar in der neuzeitlichen Landwirtschaft des 16. Jahrhunderts einen revolutionären Vorläufer der europäischen Weltwirtschaft zu erkennen glaubte (Wallerstein, 1974), möchte ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen. Seine Studien sind eine empirisch gesättigte Darstellung von Zentrum und Peripherie, die allerdings die industriellen Unterschiede in verschiedenen europäischen Staaten nicht genügend berücksichtigt, weil diese nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringenden Varianten seinem ,Weltmodell‘ widersprechen. Auch Werner Sombart hat eine kapitalistische Deutung dieses merkantilistischen Zeitalters favorisiert, indem er betonte, dass der Merkantilismus „die handeltreibenden Völker mit den für die Entfaltung des Kapitalismus unentbehrlichen Bargeldmengen“ (Sombart, 1917. II. Bd./2, S. 1042) versorgte und dadurch „das Getriebe der heimischen Volkswirtschaft in Bewegung setzte“ (ebd.). Es ist hier gar nicht nötig, die vielfältigen Varianten merkantilistischer Politik in größeren europäischen Staaten, wie Spanien, Frankreich, England oder die Habsburger Monarchie, nachzuzeichnen noch die unterschiedlichen Formen des fürstlichen Kameralismus in deutschen Mittel- und Kleinstaaten darzustellen (vgl. etwa Heckscher, 1977). Ich möchte es mit andeutenden Hinweisen dazu belassen, vor allem deswegen, um industrielle Unterschiede zu antiken oder mittelalterlichen Wirtschaftsformen herauszuarbeiten und darzulegen, welche neuartigen ökonomischen und finanziellen Maßnahmen merkantilistische Staaten ergriffen haben, um den angeblichen Kapitalismus zu verwirklichen.

II. Geld- und Goldreichtum als Staatsziele Die merkantilistische Gewerbe- und Handelspolitik erwies sich als theoretische wie praktische Grundlage einer wirtschaftlichen Strategie, die durch eine erhöhte Güterproduktion neben der landwirtschaftlichen Erzeugung mehr Kapital oder Geld, in Form von Edelmetallen, vor allem Silber und Gold, in den Staatssäckel spülen konnte und wollte, um die gestiegenen Ausgaben zu finanzieren. Die zentralen ökonomischen Aktivitäten waren auf eine stetige Zunahme des finanziellen Reichtums der merkantilistischen Staaten gerichtet und wurden massiv unterstützt. Die wirtschaftspolitischen Akteure standen demnach vor der kniffligen Auf-

II. Geld- und Goldreichtum als Staatsziele

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gabe, wie die politische und militärische Macht eines absoluten Staates dazu benutzt werden konnte und sollte, um die produktiven Kräfte so zu verändern und zu reglementieren, dass dadurch höhere Staatseinnahmen, etwa durch Steuern oder durch ausgebeutete Goldminen, erzielt wurden. Die staatlichen Ausgaben sowohl für die Errichtung und Aufrechterhaltung von Kolonien als auch für eine militärische Aufrüstung waren unverhältnismäßig hoch gegenüber früheren staatlichen Ausgaben, d. h. sie mussten auf irgendeine Art und Weise beschafft werden. Eine staatliche Wachstumspolitik konnte, um das angestrebte Ziel einer Reichtumsvermehrung zu erreichen, sich auf veränderte Produktionsbereiche konzentrieren, d. h. zum Beispiel den fabrikähnlichen Ausbau von öffentlichrechtlichen Manufakturen, die für den einheimischen Markt oder für ausländische Abnehmer produzierten. Dazu können etwa privat organisierte oder staatliche Manufakturen wie die französischen manufactures royale, die Meißner bzw. Berliner Porzellanmanufakturen oder gewerbliche Verlage zur von sogenannten Verlegern organisierten handwerklichen Herstellung und dem gewinnträchtigen Vertrieb von Textilien, Gewerbeund Luxusgütern gerechnet werden. Tatsächlich haben Manufakturen und Verlage die zünftlerischen Wettbewerbsschranken, die in den Handwerken produktive Neuerungen einschränkten, teilweise überwunden, trotzdem konnten sie sich nicht zu maschinenbetriebenen Fabriken entwickeln, weil staatliche Reglementierungen ihren Entscheidungsspielraum einengten und überwachten. Die staatliche Goldvermehrung wurde gleichsam zu einer Obsession merkantilistischer Regierungen und wirft die kapitalistische Frage auf: Wie konnten größere Edelmetallvorräte zur Vergrößerung des staatlichen Reichtums erschlossen oder gewonnen werden? Die profitable Ausbeutung von Edelmetallen oder Rohstoffvorkommen sowohl im eigenen Land als auch in den Kolonien konnte man zwar vorantreiben oder steuerliche Maßnahmen zur intensiven Förderung der Exporte (Konzessionen oder Privilegien) und zur möglichst wirkungsvollen Verhinderung von größeren Importen (Zölle, Einfuhrverbote) ergriffen werden, doch eine gesamtstaatliche Industrialisierung war damit nicht verbunden, denn große Geld- oder Goldvorräte garantieren keineswegs eine ökonomische Wachstumsdynamik. Die unterschiedlichen Verfahren zur Reichtumsvermehrung dienten überwiegend dem merkantilistischen Zweck einer aktiven Handelsbilanz, dem weitgehend andere ökonomische Auswirkungen, wie etwa Handelsstreitigkeiten oder sogar Zollkriege, unterge-

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

ordnet wurden. Ein entscheidender Grund für diese Vorgehensweise lag darin, dass der wachsende Reichtum eines Staates mit der steigenden Höhe seines Edelmetallvorrats fast gleichgesetzt wurde, was eine Produktivoffensive eigentlich konterkarierte. Man scheute sich nicht einmal, unproduktive und kostenträchtige Herstellungsverfahren einzusetzen, wie etwa Seiden- oder Porzellanmanufakturen, nur um gewinnträchtig exportieren zu können, weshalb nicht selten ein vollständiges Ausfuhrverbot von Münzen und Edelmetallen erlassen wurde, doch von „Manufakturindustrie“ (List, 1930, S. 85. Hervorhebung von mir) sollte man in diesem merkantilistischen Zusammenhang nicht sprechen. Es soll hier keineswegs der vordergründige Eindruck erweckt werden, als seien alle diese Maßnahmen erst im merkantilistischen Zeitalter entwickelt und ergriffen oder für es als typisch angesehen worden. Schon in vorangegangenen Jahrhunderten, d. h. vor dem eigentlichen Beginn des Merkantilismus im 16. Jahrhundert, hatten monarchische Staatsoberhäupter ,merkantilistische‘ Praktiken angewandt, ohne damit ein besonderes Wirtschaftssystem zu verbinden, weil sie es für ihre Nation oder für ihre eigene Machtvergrößerung als nützlich und gewinnbringend ansahen. Dazu ein paar Beispiele: Der englische König Eduard III. hatte z. B. im Jahr 1337 flandrische Tuchweber mit dem Versprechen erheblicher Privilegien nach England gelockt und als die inländische Weberei daraufhin verbessert worden war, „erließ er ein Verbot gegen das Tragen aller ausländischer Tücher“ (List, 1930, S. 75); ein typisch merkantilistisches Vorgehen. Sein Nachfolger Heinrich IV. entschied sich 1399 für ein striktes Verbotsgesetz, das allerdings mehrmals suspendiert wurde, und Eduard IV. erließ 1464 ein Einfuhrverbot für neunzig gewerbliche Produkte, darunter Woll- und Seidenwaren, um die heimische Produktion zu fördern. Der gravierende Unterschied zu diesen einzelnen Anordnungen englischer Könige liegt darin, dass erst merkantilistische Regierungen auf systematische Weise versuchten, ausländische Waren auszuschließen oder auf ein möglichst geringes Maß zu beschränken, um einen dadurch verursachten Geldabfluss zu verhindern, der als wohlstandsvermindernd angesehen wurde. Während also die früheren Maßnahmen lediglich Einzelentscheidungen von selbstherrlichen Monarchen betrafen, war die merkantilistische Politik auf den systematischen Reichtumszuwachs des Gesamtstaates ausgerichtet. Um die andersartige Vorgehensweise merkantilistischer Staatsregierungen zu beleuchten, möchte ich ein Beispiel anführen, das sich auf eine

II. Geld- und Goldreichtum als Staatsziele

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eindeutige staatliche Entscheidung bezieht: Ein bezeichnendes Gutachten der Kaiserlichen Hofkammer in Wien vom 16. März 1700 kann dieses typisch merkantilistische, für einen freien Handel ineffektive, Vorgehen verdeutlichen: „Das Geld est sanguis corporis politici [ist Blut des politischen Körpers, H.K.] und solches nicht als allein zu erzügeln, sondern beizubehalten kein anderes Mittel, als daß fremde Waren entweder in einem Lande nicht admittiert [zugelassen, H.K.] oder, wenn sie unvermeidlich und zur allgemeinen Notdurft erforderlich sind, im Lande selbst per naturam vel industriam [durch Natur oder Fleiß, H.K.] erzeugt und zuwegegebracht werden, allermaßen solchergestalten occasio et causa movens cessat [bei entsprechender Gelegenheit die bewegende Ursache zu versäumen, H.K.], das Geld außer Landes gehen zu lassen.“ (zitiert von Damaschke, 1912, S. 159). Dieser aufgrund staatlicher Initiativen verstärkte Handel und die zunehmende Errichtung von Manufakturen führte bei einigen Wirtschaftshistorikern dazu, die gewerblichen Veränderungen seit dem späten Mittelalter fälschlicherweise als ,Industrie‘ zu bezeichnen, obwohl selbst Manufakturen mit Hunderten von Beschäftigten lediglich werkstattähnliche Produktionsstätten waren, die mit maschinenbestückten, arbeitsteiligen und straff organisierten Fabriken des 19. Jahrhunderts nicht verwechselt werden sollten. Der konservative Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker Georg Anton Hugo von Below (1858 – 1927) machte sich einer solchen Verwechselung schuldig: „Hiernach ist die Industrie des ausgehenden Mittelalters in Florenz und noch mehr in den deutschen Städten noch eine überaus reich gegliederte Industrie, die zu sozialem Aufstieg allenthalben Raum bot“ (Below, 1926, S. 417).2 Die extreme und fast paranoide Fixierung auf vermehrten Edelmetallzufluss und möglichst vollständiger Eigenproduktion von im Land herstellbaren Gütern führte allerdings zu eigenartigen Anordnungen, wie etwa die des englischen Königs Karl I. (1600 – 1649): In England gestorbene Bürger sollten mit wollenem Leinen bekleidet begraben werden, damit die englische Wollweberei gefördert würde und kein kostbares Geld oder Gold für deren Import ins Ausland flösse, der mit Münzen aus 2

Auch die weitverbreitete Ansicht des deutschen Ökonomen, Soziologen und Wirtschaftsstufentheoretikers Karl Bücher (1847 – 1930): „In Beziehung auf die Entwicklung der Volkswirtschaft hat der bürgerliche Liberalismus der letzten hundert Jahre nur fortgeführt, was der fürstliche Absolutismus [d. h. ökonomisch betrachtet der Merkantilismus, H.K.] begonnen hatte“ (Bücher, 1922, S. 140), ist bei einer realistischen Betrachtung nicht aufrechtzuerhalten.

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

Edelmetall bezahlt werden musste. Auch der preußische Landesherr Friedrich Wilhelm I. (1688 – 1740) glaubte das heimische Textilgewerbe zu befördern oder zu verbessern, indem er verlangte, dass seine Soldaten nur in selbst hergestelltem Tuch gekleidet werden durften, weswegen in dem von ihm errichteten Berliner Lagerhaus 54 Tuchmachermeister und an 150 Kirseystühlen [d. h. eine Art von Webstühlen, H.K.] Gesellen beschäftigt wurden.3 In Berlin wurde noch am 8. April 1794 eine königlich-preußische Verfügung erlassen, deren persönliche Missachtung mit zehn bis 100 Talern bestraft und geächtet wurde: „Da das Bekleiden der Toten und das Ausschlagen der Särge noch häufig mit seidenen und baumwollenen Zeugen [Tüchern, H.K.], mithin mit Zeugen geschieht, die, einen bis jetzt unbeträchtlichen Teil an Seide ausgenommen, aus ausländischen Materialien verfertigt werden, wodurch der einländischen Industrie4 ein ansehnlicher Abbruch geschiehet; so haben Wir zum allgemeinen Besten des Staats und um Unsern einländischen Leinen- und Wollenzeug-Fabrikanten einen größeren einländischen Absatz zu versichern für gut befunden, hierunter umsomehr eine Aenderung zu treffen, 3

„Friedrich der Große drohte einer Witwe, die nach dem Tode ihres Gemahls das Geschäft [der Tuchherstellung, H.K.] schließen wollte, mit der Einquartierung von Dragonern, wenn sie es nicht fortsetzte.“ (Sieveking, 1935, S. 111. Hervorhebung im Original). 4 Die Begriffe ,Industrie‘, oder ,Industry‘ sind häufig im 19. Jahrhundert unangemessen für gewerbliche oder handwerkliche Tätigkeiten lange vor dem eigentlichen Industriezeitalter verwendet worden, obwohl sie mit einer fabrikatorischen Industrieproduktion nicht gleichgesetzt werden können. Schon vor Adam Smith‘ Wealth of Nations (1776) wurden die Bezeichnungen ,industry‘ oder ,industrious‘ als tätige Ausprägungen von Fleiß oder Arbeitseifer benutzt, doch im Jahrhundert der Industrie, dem 19. Jahrhundert, wurden damit auch Tätigkeiten bezeichnet, die mit der modernen Industrie nichts zu tun haben. Besonders oft verwendete Friedrich List diesen unklaren Begriff in seinem Hauptwerk Das nationale System der Politischen Ökonomie von 1841/44, wie z. B. für italienische Städte im 13. Jahrhundert, wo „Freiheit und Industrie unzertrennliche Gefährten“ (List, 1930, S. 35) gewesen seien. Oder bei der ausführlichen Beschreibung von norddeutschen Hansestädten, denn im wirtschaftlichen Wetteifer „mit der italienischen Industrie und ihren freien Institutionen gelangten diese Städte bald zu einem hohen Grad von Wohlstand und Zivilisation“ (ebd., S. 47). Die Hanse habe 1250 in London den Stahlhof (steel-yard) gegründet, welcher erheblichen Einfluss auf „die Beförderung der englischen Kultur und Industrie“ (ebd., S. 74) ausgeübt habe, doch die fehlende Nationalstaatsbildung der italienischen Republiken, der Hansestädte, von Belgien oder Holland zeige, „daß die Privatindustrie den Handel, die Industrie und den Reichtum ganzer Staaten und Länder [wie in England, H.K.] nicht aufrechtzuerhalten vermag“ (ebd., S. 89).

III. Geregelte Bevölkerungszunahme

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da Unsere einländischen Leinen- und Wollenen-Fabriken aus einländischen Produkten, nemlich aus Flachs- und Schaafwolle, so gute und preiswürdige Zeuge und Waren liefern, daß jedermann, sowohl der Reiche wie der Minder-Bemittelte, nach seinem Vermögen und Gefällen die zum Bekleiden der Toten und Ausschlagen der Särge erforderlichen und verlangten leinenen und wollenen Zeuge erhalten kann“ (Zitiert von Damaschke, 1912, S. 166 f.). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich der ökonomische Liberalismus in England längst durchgesetzt, während in Preußen noch anachronistische Ansichten vertreten wurden.

III. Geregelte Bevölkerungszunahme Der merkantilistische Staat des 17. Jahrhunderts benutzte außerdem seine angeblich bürgerliche Fürsorgepflicht zu einer fast allseitigen Bevormundung und ständigen Überwachung seiner überwiegend abhängigen Untertanen und war gleichzeitig davon überzeugt, dass er damit ihrem materiellen Wohlergehen und dem erstrebten Wohlstand der Nation – sowie dem Glück seiner Staatsbürger – förderlich sei, denn je mehr Waren erzeugt wurden, umso eher konnten sie an andere Nationen verkauft werden. Die ,Untertanen‘ waren meistens im eigenen Land geborene Einwohner, doch wenn wir das obige Sargbeispiel mit der heutigen Situation vergleichen, dann hat die ständige Zunahme von muslimischen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt, dass neuerdings auf den früheren Sargzwang bei Beerdigungen verzichtet wird und Gestorbene dieser Religionsgemeinschaft in Tüchern begraben werden können, ohne dass die deutsche Leinenindustrie davon profitierte. Dieses, einem toleranten und Minderheitenrechte respektierenden demokratischen Staat angemessenes, Zugeständnis an unsere muslimischen Mitbürger hat allerdings mit merkantilistischen Praktiken wenig zu tun. Deren Methoden waren von der Allgewalt des Staates und seinen regierenden Fürsten geprägt, die möglichst alles zu reglementieren versuchten und den gewöhnlichen Bürgern nur geringe Freiheitsrechte, etwa auf der beruflichen Ebene, zugestanden bzw. einräumten. Die politische Adelsherrschaft und die kirchlichen Autoritäten unterstützten das traditionelle Gottesgnadentum der Monarchen, weswegen ordinäre Staatsbürger eigentlich nur Pflichten aufgebürdet bekamen und keine durchsetzbaren Rechte einfordern konnten. Die kontinuierliche Vermehrung der Gold-

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

und Geldbestände dominierte so stark merkantilistisches Denken, dass der deutsche Enzyklopädist Johann Georg Krünitz (1728 – 1796) im Jahr 1776 schrieb: „Derjenige, der viel bares Geld im Vorrath besitzet, oder viele Summen auf Interessen außen stehen hat, wird ein Capitalist… genennet“ (Krünitz, 1776, S. 637. Hervorhebung im Original). Damit waren keineswegs die Landarbeiter oder Handwerker ausgestattet, die eigentlich nur ihren kargen Lebensunterhalt erwirtschaften konnten, ohne am Reichtumszuwachs teilzuhaben, der ihnen von merkantilistischen Regierungen versprochen worden war. Ein weiteres Ziel oder eine merkantilistische Maßnahme, die hier kurz behandelt und beleuchtet werden soll, bestand in einer rigorosen Bevölkerungspolitik unter der ökonomischen Prämisse, dass mehr arbeitende Menschen auch mehr produzieren könnten und deshalb mehr Produkte für einen einträglichen Export zur Verfügung stünden, wodurch mehr Geld ins Land strömte. Mit dieser gewollten und geförderten Arbeiterzuwanderung beginnt eine düstere Entwicklung von ,Entfremdung‘, d. h. von abstrakten, unpersönlichen Tätigkeiten in der industriellen Arbeitswelt, die später vom Marxismus als ,Ausbeutung‘ angeprangert wurde. Arbeiter, die nicht mehr wie im Handwerk oder in der Landwirtschaft ein ganzes Produkt von Anfang bis zum Ende herstellten, sondern arbeitsteilige Einzelverrichtungen ausüben mussten, wurden angelockt oder ins Land geholt, um das Arbeitspotential und die produzierten Gegenstände in Manufakturen zu vergrößern. Deswegen wurde noch lange nach dem Merkantilismus diese Vorgehensweise kritisiert: „Dieser Mangel im Geistig-Sittlichen, das Loslösen Aller von Allen, die Atomisierung, und damit die Veräußerlichung des Lebens, das ist die eigentliche Krise des Kapitalismus; die Krise in der Wurzel.“ (Spann, 1931, S. 97). Die simple merkantilistische Formel: Mehr Arbeiter = mehr Produkte, machte in einem technologisch noch wenig entwickelten Zeitalter durchaus Sinn, weswegen eine dauerhafte Bevölkerungszunahme angestrebt wurde, damit mehr verkäufliche Waren produziert werden konnten. Die zahlreichen Manufakturen waren gegenüber den späteren Fabriken überwiegend unentfremdete Aufenthaltsorte gemeinsamer Arbeit, in denen viele Menschen beschäftigt wurden, ohne dass ihnen einfache Menschenrechte gewährt worden wären, die sie nicht einmal kannten. Der Preußenkönig Friedrich II. erklärte 1768, „daß die wahre Kraft eines Staates in der hohen Volkszahl liegt“ (zitiert von Hassinger, 1971, S. 614), womit er wohl vor allem auf die militärische Schlagkraft seiner Soldaten hinweisen oder diese

III. Geregelte Bevölkerungszunahme

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verbessern wollte, wenn er religiöse Flüchtlinge in großer Zahl einwandern ließ. Sein merkantilistischer Bevormundungswille war damit allerdings nicht gestillt, denn: Sechs Jahre später verbot er preußischen Gutsbesitzern, ihre Schafherden zu verringern oder ganz aufzugeben mit einer drastischen Strafandrohung von 1.000 Dukaten. Trotz dieser freiheitsfeindlichen, staatlichen Anweisungen sollen zwischen 1740 und 1786 nach Preußen 284.500 Menschen eingewandert sein, weil sie einem religiösen Unterdrückungssystem entfliehen wollten und in der neuen ,Heimat‘ beruflich begehrt waren und religiös unbelästigt blieben. Ein Bevölkerungsproblem, d. h. die drohende Gefahr einer Überbevölkerung mit zunehmender Arbeitslosigkeit, kannte der Merkantilismus ebenso wenig wie einen Arbeitermangel. Erst Thomas Robert Malthus wies Anfang des 19. Jahrhunderts zutreffend darauf hin: „Politiker, die sahen, daß mächtige und blühende Staaten fast durchweg volkreich waren, haben irrigerweise die Wirkung für die Ursache genommen und geschlossen, daß ihre zahlreiche Bevölkerung die Ursache ihres Emporblühens war“ (Malthus, 1925, S. 208). In seinen Augen bedeutete eine starke Bevölkerungszunahme, weil die Nahrungsmittelerzeugung damit nicht Schritt halten konnte, eine ernährungsbedingte Katastrophe, die nur durch sexuelle Enthaltsamkeit, möglichst späte Heirat und menschenvernichtende Kriege etwas gelindert werden könne, ohne die Überbevölkerung zu beseitigen. Zu dieser, die Industrialisierung einleitenden Zeit war, jedenfalls in England, eine merkantilistische ,Bevölkerungstheorie‘, die in hohen Geburtenraten und einer Einwanderung von ausländischen Flüchtlingen einen wirtschaftlichen Segen erkannte, längst Geschichte und unattraktiv geworden. Doch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, nachdem der Dreißigjährige Krieg in einigen Regionen Europas zu erheblichen Bevölkerungsverlusten geführt hatte, konnte ohne eine zügige Einwanderung die traditionelle Landwirtschaft gar nicht mehr betrieben werden, weil Mensch und Viel fehlten, die während der Kriegshandlungen vernichtet – d. h. getötet oder verhungert – worden waren. Viele Menschen ins Land zu holen, damit sie durch ihre produktive Arbeit den Reichtum der Nation vergrößerten, war deshalb ein dringendes Grundanliegen merkantilistischer Politik. An eine mögliche Überbevölkerung, wie wir sie heute in Entwicklungsländern kennen, ,verschwendete‘ man damals keinen unnötigen Gedanken; im Gegensatz zum 20. Jahrhundert. Eine zahlreiche Einwohnerbevölkerung, das erkennen wir heute in Entwicklungsländern mit erschreckender Deutlichkeit, garantiert jedoch

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keineswegs ein schnelles Wirtschaftswachstum oder eine rapide Reduzierung der Armut – oft tritt das bittere Gegenteil ein. Deshalb ist es vielleicht angemessen, wenn wir kurz einige merkantilistischen Ausprägungen der Bevölkerungspolitik in größeren europäischen Staaten betrachten, die bereits über Kolonien verfügten.

IV. Französischer Merkantilismus als Vorbild? Zuerst möchte ich einen Blick auf einen bedeutenden europäischen Staat, nämlich Frankreich, werfen, der eine gewisse Ausnahme unter den merkantilistischen Großstaaten bildete, auch weil der Physiokratismus eines François Quesnay (1694 – 1774) eine bedeutende Rolle spielte (Quesnay, 1971). Frankreich war nämlich schon früh recht bevölkerungsreich, denn dort lebten um 1600 bereits 18,5 Mio. Menschen, das war das Zweieinhalbfache von England (6,8 Mio.), weswegen die französische Landwirtschaft, die eigentlich von der hohen Bodenfruchtbarkeit und dem milden Klima begünstigt war, die wachsende Einwohnerzahl nur unzureichend mit benötigten Nahrungsmitteln versorgen konnte. In anderen europäischen Staaten profitierten von der sogenannten Peuplierung (Bevölkerungspolitik) Zehntausende von Glaubensflüchtlingen, wie die französischen Hugenotten, die mit der durch Ludwig XIV. 1685 erfolgten Aufhebung des Edikts von Nantes – einer garantierten Glaubensfreiheit, die Heinrich IV. 1598 den französischen Protestanten gewährt hatte – ihre seit Generationen angestammte Heimat verlassen mussten und in den geringer bevölkerten lutherischen Niederlanden, im anglikanischen England oder im protestantischen Brandenburg-Preußen sehr willkommen waren. Die meisten von ihnen waren gewerblich begabt und handwerklich gut ausgebildet, weswegen die Aufnahmestaaten ihnen verschiedene Privilegien gewährten, wenn sie sich dort ansiedelten, weil sie auf ihre fachliche Expertise angewiesen waren, um ihre gewerbliche Produktion zu steigern. Ins Heilige Römische Reich wanderten etwa 43.000 Hugenotten ein und bis Mitte des 18. Jahrhunderts verließen mehr als 100.000 ,Exulanten‘ aus religiösen Gründen Österreich, um ein friedliches Leben in einem religiös toleranten Staat führen zu können. Die merkantilistische Bevölkerungstheorie war offenbar so ansteckend, dass selbst in Frankreich, das so viele eigene, nicht-katholische Staatsbürger auf radikale Weise vertrieben hatte, sich diese merkantilis-

IV. Französischer Merkantilismus als Vorbild?

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tische Peuplierungspolitik etwa unter Ludwig XIV. in einer staatlichen Verfügung niederschlug, um die Geburtenzahl zu erhöhen. Ein Resultat davon war, dass französische Familien mit zehn ehelichen Kindern von der Steuerzahlung befreit wurden und wer vor dem 20. Lebensjahr heiratete, erhielt eine fünfjährige Steuerbefreiung vom Staat. Die Geburt von zehn bis zwölf Kindern war damals keine Seltenheit, auch wenn viele davon aus gesundheitlichen Gründen oder Unterernährung bis zum fünften Lebensjahr starben und damit das psychische Leid der Eltern noch vergrößerten; ganz abgesehen davon, dass sie noch nichts zu dem schmalen Einkommen ihrer Eltern zuverdienen konnten. Adelige mit zehn noch lebenden Kindern aus einer rechtmäßigen Ehe oder andere Personen, die zwölf Kinder gezeugt hatten, die noch lebten oder in des Königs Kriegsdiensten gestorben waren, sollten alljährlich von französischen Staat 1.000 Livres Pension als Anerkennung für ihre zahlreichen Kinder erhalten. Um jedoch eine dauerhafte Ehelosigkeit zu verhindern, was als eine egoistische Handlung gebrandmarkt wurde, und zahlreiche Geburten anzuregen, mussten z. B. in Berlin 1705 adelige Töchter wie niedrigste Dienstmägde vierteljährlich sechs Groschen zahlen, solange sie unverheiratet blieben. Diese drastische Maßnahme stellte zumindest für die Dienstmägde eine hohe finanzielle Belastung dar, während unter Friedrich Wilhelm I. in Brandenburg-Preußen lebende Juden außer einem Schutzgeld eine Verehelichungssteuer entrichten mussten, damit ihre Kinderzahl und die eventuelle Gefahr einer Heirat mit einem preußischen Bürger gering blieben. Noch im Jahr 1894 wurde in antisemitischer Übertreibung behauptet: „In unserem philosophirenden Deutschland muss der specifisch-jüdische Banquiercapitalismus doch die Kritik der capitalistischen Institutionen herausfordern.“ (Meyer, 1894, S. 231. Hervorhebung im Original). Erfolgreiche Bevölkerungspolitik war allerdings nur eine Seite einer radikalen merkantilistischen Bevormundung, denn andererseits wurden die einheimischen Arbeitskräfte mit einschränkenden Verordnungen sowie freiheitsberaubenden Gesetzen überzogen und selbst leichte Verstöße mit harten Strafen belegt, die unbarmherzig durchgesetzt wurden. Dazu ein frühes Beispiel: „In England wurde 1530 durch Gesetz bestimmt, daß alle Landstreicher ausgepeitscht werden sollten; 1586 wurde verfügt, daß ihnen dazu ein halbes Ohr abgeschnitten werden sollte; wer beim Diebstahl ertappt wurde, sollte hingerichtet werden.“ (Reimes, 1922, S. 165). Die brutale Vorgehensweise Heinrichs VIII., dem vielgerühmten

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Kritiker der päpstlichen Autorität und dem lange bejubelten Begründer von Englands Weltgeltung, hat offenbar seine monarchischen Nachfolger in anderen europäischen Staaten dazu angeregt oder verleitet, ihm in seiner freiheitsfeindlichen Rigorosität nachzueifern, um merkantilistische Ziele möglichst bald zu erreichen. Dazu zwei Beispiele: Unter der Regierung des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg wurde am 18. November 1684 verordnet, dass wohlhabende Gemeinden Arme unterstützen sollten und es wurde nach 1685 das preußische Territorium für hugenottische Flüchtlinge geöffnet, doch gleichzeitig verfügt, auswanderungswillige Untertanen mit dem Tod zu bestrafen. Litauischen Bauern wurde befohlen, Kartoffeln anzubauen und wenn sie sich weigerten, erfolgten körperliche Züchtigungen, denn staatliche Anordnungen konnten und durften nicht hinterfragt werden.5 Auch andere Einschränkungen wurden vorgenommen, um die Bevölkerung an die Kandare zu nehmen: Das Tabakrauchen in der Öffentlichkeit z. B. wurde den gewöhnlichen Bürgern von Friedrich II., der eine entschiedene Abneigung gegen das Tabakrauchen entwickelte, verboten und empfohlen, lieber Bier statt Kaffee zu trinken, um den entsprechenden Geldabfluss ins Ausland zu verringern. Der katholische Philipp II. von Spanien belegte 1624 die verbotene Ausfuhr von Edelmetallen mit der Todesstrafe, doch göttlicher Beistand wurde ihm offenbar verwehrt, denn drei Jahre später führten die militärischen Verwicklungen im Dreißigjährigen Krieg aufgrund seiner gegenreformatorischen Haltung gegenüber den aufständischen Niederlanden zum spanischen Staatsbankrott. Eine stark wachsende Bevölkerung konnte auch mit merkantilistischen Mitteln nicht hinreichend beschäftigt werden, obwohl regelmäßig auftretende Hungersnöte, Seuchen oder Kriege viele Tausende Menschen dahinrafften und dadurch Arbeitsplätze frei wurden, denn den transnationalen Absatzmöglichkeiten waren durch gegenseitige Ein- und Ausfuhrverbote enge Grenzen gesetzt. Das zunehmende Bettler- und Vaga5 Die weite Verbreitung des propagierten Kartoffelanbaus wurde auch dadurch beeinträchtigt, dass Bauern zuerst die ungenießbaren Blätter verwerten, d. h. essen wollten und deshalb keine Kartoffeln mehr anpflanzten, weil sie nicht wussten, dass die eigentliche Frucht sich im Boden befand und ausgegraben werden musste. Wilhelm Heinrich Riehl schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die Kartoffel hat der Westerwälder Bauer im achtzehnten Jahrhundert, trotz allen menschenfreundlichen Kartoffelpredigern, Jahre lang den Schweinen und dann den Hunden gefüttert, bevor er sich entschließen konnte, das neumodische Gewächs auch nur versuchsweise auf seinen Tisch zu stellen.“ (Riehl, 1861, S. 59 f.).

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bundenunwesen in den Städten, das sich allmählich wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten ausbreitete, sollte dadurch unterbunden oder zumindest eingeschränkt werden, dass das zeitweilige Aufenthaltsrecht in einer Stadt mit einer Arbeitsstelle verknüpft wurde und alle anderen Menschen aus den Städten aus- und Arbeitslose in Arbeitshäuser eingewiesen wurden. Das Privileg Heinrichs des Löwen von 1160, Stadtluft macht frei, d. h. wer ein Jahr in der Stadt gelebt hatte, war ein freier Bürger, war längst obsolet geworden und wurde nicht mehr praktiziert, weil dann arme Menschen in die Städte geströmt wären. Manche Städte riegelten sich regelrecht ab, indem sie ihre Stadttore verschlossen, damit kein Fremder eindringen konnte oder unwillkommene Eindringlinge wurden ausgewiesen, die man entweder hätte versorgen oder verhungern lassen müssen. Aufgrund dieser unwürdigen Verhältnisse nahm Thomas Malthus unter direkter Berufung auf Johann Peter Süßmilchs Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts (1740) um 1820 an, „daß in Ländern, die lange angemessen bevölkert sind, der Tod der machtvollste Förderer der Ehe ist, so dürfte vielleicht der Fürst oder Staatsmann, dem es auf diese Weise gelingen würde, die Zahl der Heiraten bedeutend zu vermehren, eher ein Vernichter als ein Vater seines Volkes genannt zu werden verdienen“ (Malthus, 1924, S. 301). Diese wenig merkantilistische Vorstellung, dass nicht verhungerte oder durch Seuchen dahingeraffte Menschen dazu neigten, schneller oder öfter zu heiraten und dadurch den Teufelskreis einer drohenden Überbevölkerung zu beschleunigen, konnte das damalige Bevölkerungsproblem nicht nur nicht ,lösen‘, sondern wurde lange nach der Hochblüte merkantilistischer Bevölkerungspolitik niedergeschrieben. Es war die Epoche, als eine Bevölkerungszunahme als ökonomische Bedrohung angesehen wurde, weil man glaubte, dass diese zunehmende Menschenzahl durch die eigene Landwirtschaft nicht mehr ernährt werden konnte, was richtig gewesen wäre, wenn es keine agrarischen Einfuhren gegeben hätte. Das merkantilistische Insistieren auf einer größeren Bevölkerung, die durch rigorose Maßnahmen durchgesetzt werden sollte, war allerdings alles andere als „der Anlaß zur Entwicklung der modernen Industriestaaten“ (Tyszka, 1916, S. 5).6 6 Nicht erst die Armutsprobleme heutiger, überbevölkerter Staaten etwa in Afrika, widerlegen die neomerkantilistische Ansicht: „Die Bevölkerungsvermehrung stellt sich somit dar als die erste Vorbedingung, die konkrete Grundbedingung, der Entstehung der modernen Industriestaaten.“ (Tyszka, 1916, S. 9. Hervorhebungen im

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Das zentralistische Frankreich unter der absoluten Herrschaft eines bewunderten Sonnenkönigs konnte besonders wirkungsvolle Maßnahmen durchsetzen, damit staatliche Anordnungen befolgt und ohne irgendwelche Gegenwehr akzeptiert wurden. Der mächtige französische Generalkontrolleur der Finanzen von 1661 bis 1683, Jean-Baptiste Colbert (1619 – 1683),7 ging sogar so weit, Arbeiter und Unternehmer, die regelmäßig ihre Steuern entrichteten, jedoch auswandern wollten – wie zahlreiche DDR-Bürger –, verhaften zu lassen und in ein Gefängnis zu sperren, wo sie vielleicht starben. Der gleiche Colbert, der am 18. September 1664 ein zentralistisches Edikt über einen vereinheitlichten Zolltarif erließ und deswegen in der ökonomischen und wirtschaftshistorischen Literatur viel gerühmt wird, bezeichnete „die Rentiers geradezu als Müssiggänger, welche die Früchte der Arbeit ihrer Mitbürger verzehrten“ (Ehrenberg, 1990, S. 272). Das von ihm geförderte Wirtschaftssystem ging in die ökonomische Dogmengeschichte unter dem Namen Colbertismus ein, denn er setzte seine politische Macht und seine ökonomischen Kenntnisse dazu ein, die französische Staatsschuld zu reduzieren, damit der Regierung mehr finanzielle Mittel bereitstünden. Vielleicht dachte Colbert dabei an den traditionellen Spruch „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, dem ja der ermahnende Hinweis innewohnt, dass man die Klippen der Unmoral nur überwinden oder umschiffen könne, wenn man ununterbrochen arbeitet und nicht faulenzt. Konsequenterweise wollte Colbert deshalb arbeitssparende Maschinen verbieten lassen, weil durch sie arbeitende Menschen freigesetzt würden und der staatlichen Fürsorgepflicht anheimfielen, wodurch die staatlichen Finanzen belastet würden und das benötigte Geld für anstehende Kriege fehlte. Original). Auch China oder Russland verzeichneten im 19. Jahrhundert eine starke Bevölkerungszunahme und haben trotzdem keine Industrialisierung durchführen oder in Gang setzen können, was Tyszka teilweise einräumte, wenn er schrieb: „Die Bevölkerungsvermehrung ist eine conditio sine qua non, nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ (S. 10). Ich halte es deshalb für eine unhaltbare Polemik, wenn eine ,marxistisch-feministische Theoretikerin‘ wie Silvia Federici – indem sie die Millionen verhungerter und durch öfter wiederkehrende Seuchen dahingeraffter Menschen in vorindustrieller Zeit einfach verschweigt – das wohlstandserzeugende kapitalistische System denunziert: „Tatsächlich ist die großmaßstäbliche Zerstörung menschlichen Lebens bereits seit der Entstehung des Kapitalismus einer seiner strukturellen Komponenten.“ (Federici, 2015, S. 87). 7 Friedrich List, der den Begriff ,Industrie‘ undifferenziert verwendet (siehe Anm. 4), ist auch der falschen Ansicht, dass „die Glanzperiode der französischen Industrie erst mit Colbert“ (List, 1930, S. 119) begonnen habe.

V. Kapitalistische Mängel des Merkantilismus

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V. Kapitalistische Mängel des Merkantilismus Die vordergründige These, dass der Merkantilismus mit seiner außergewöhnlichen Betonung des Reichtumszuwachses des Staates auch eine materielle Besserstellung der Bevölkerung anstrebte, kann nicht nur am französischen Beispiel widerlegt werden, denn das eingenommene Geld kam nicht den Staatsbürgern zugute. Nicht die arbeitenden Menschen waren in einem merkantilistischen, absolutistischen Staatswesen wie dem des ,Sonnenkönigs‘ (Roi-Soleil) Ludwig XIV. schützenswert, sondern der reglementierende Staat wollte seine egoistischen Interessen durchsetzen, damit der nationale Reichtum vergrößert werden könnte, denn sein Kapitalbedarf war riesig. Außerdem befürwortete etwa Colbert regelmäßige Kinderarbeit ab dem vierten Lebensjahr, damit diese Geschöpfe nicht verwahrlosten und dem faullenzenden Nichtstun sich ergäben, wodurch sie unproduktiv und unnütz blieben sowie dem gottgeweihten Staat zur Last fielen. Diese Vorgehensweise kann nicht als sozial oder menschenfreundlich angesehen werden, ganz abgesehen davon, dass diese Kinder gänzlich ihrer Jugendfreuden beraubt wurden. Die breite Masse des Volkes, so glaubte er, könne nur durch ärmliche Verhältnisse und niedrige Löhne arbeitswillig gehalten werden, was eklatant der liberalen Ansicht von Adam Smith in seinem Buch Wealth of Nations von 1776 widerspricht, dass höhere Löhne ein stimulierender Anreiz für eine höhere Produktivität von Arbeitern seien. In einer Denkschrift an die Seidenfabrikanten in Lyon war noch zehn Jahre später, 1786, zu lesen: „In einer gewissen Klasse des Volkes vermindert allzu großer Wohlstand die Arbeitsamkeit, fördert das Nichtstun und alle damit zusammenhängenden Laster“ (zitiert von Heckscher. 2. Bd., 1977, S. 153). Die großartigen Wachstumsziele, die zahlreiche merkantilistische Theoretiker wortreich beschrieben und publiziert haben, konnten in den meisten europäischen Staaten nur sehr eingeschränkt verwirklicht oder umgesetzt werden, denn gegenseitige Handelsbeschränkungen vermochten nur wenige Nationen ohne umfangreiche Militärstreitkräfte überwinden oder aushebeln. Die ökonomische Prämisse, dass eine große politische und militärische Stärke einen steigenden Wohlstand garantiere, konnte auf längere Sicht nicht aufrechterhalten werden und war schließlich zum Scheitern verurteilt, denn kein europäischer Staat war ökonomisch autonom und von ausländischen Importen unabhängig. Solche Staaten, die auf einen Ex- und Import angewiesen waren, mussten,

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um ihren Reichtum zu vergrößern, entweder über erheblichen Kolonialbesitz verfügen oder über ein waffenstarrendes Heer, durch das die einseitige Wirtschaftspolitik mit rigorosen Mitteln, d. h. Krieg, gegenüber feindlichen Nationen durchgesetzt wurde, sobald es notwendig erschien. Wenn z. B. ein absoluter Staat A gegenüber einem absoluten Staat B kontinuierlich seine Einfuhrzölle erhöht, um den Import fremder Waren auf das Nötigste, wie Rohmaterialien oder Verarbeitungsgüter, zu beschränken, dann wird der Staat B wahrscheinlich Retorsionszölle einführen, um sein politisches Gesicht zu wahren und eventuell ökonomische Zugeständnisse zu erlangen. Trotzdem hat etwa Friedrich List wegen seiner nationalistischen Tendenzen, die dem merkantilistischen Wirtschaftssystem inhärent waren, hohe Einfuhrzölle für eine beginnende Industrieentwicklung als positiv angesehen (List, 1930, S. 348 f.). In der historischen Realität des merkantilistischen Zeitalters haben andauernde Zollkriege oder auch verlustreiche Eroberungskriege von rivalisierenden Nationen gerade nicht eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung gefördert oder ermöglicht, denn in Europa im 16. Jahrhundert hat es lediglich 25, im 17. Jahrhundert nur 21 Jahre gegeben, in denen keine ausgedehnten Kriegsoperationen zwischen verfeindeten Staaten stattfanden, d. h. in diesen zwei Jahrhunderten gab es 154 Kriegsjahre. Wie konnte unter solchen widrigen Umständen ein merkantilistischer Staat wirtschaftliche Vorteile oder ökonomische Gewinne erzielen, die seinen gesamtgesellschaftlichen Wohlstand vergrößerten? Eine antiliberale, d. h. extrem nationalistische Möglichkeit bestand z. B. darin: Der angestrebte Reichtumszuwachs der eigenen Nation konnte hauptsächlich auf wirtschaftliche Kosten anderer Nationen durchgesetzt werden, die militärisch weniger gerüstet waren. Darin bestand auch der entscheidende Grund, warum dieses kapitalistische System trotz erheblicher technischer und organisatorischer Innovationen irgendwann scheitern musste, und keine längerfristige Überlebenschance besaß, denn Krieg ist jedes Mal ein Verlustgeschäft. Der englische Merkantilist Thomas Mun (1571 – 1641), mehrjähriger Direktor der mächtigen Kolonialgesellschaft East India Company, brachte dieses strategische Vorgehen eines merkantilistischen Staates in seinem Buch England’s Treasure by Forraign Trade von 1664 auf eine griffige Formel: „One man’s loss is another man’s gain“, wobei ,man‘ allerdings eher durch ,nation‘ ersetzt werden müsste, weil europäische Nationen miteinander konkurrierten. Tatsächlich bedeutete diese merkantilistische Vorgehensweise eine beggar thy national neighbour-Strategie,

V. Kapitalistische Mängel des Merkantilismus

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d. h. ruiniere deinen nationalen Konkurrenten, wenn er dir auf ausländischen Märkten gefährlich werden könnte. Diese durch verstärkten Außenhandel beschleunigte, wirtschaftliche Vorgehensweise zum Reichtumszuwachs konnte aufgrund einer positiven Handelsbilanz abgesichert werden: „The ordinary means therefore to encrease our wealth and treasure is by Forraign Trade, wherein wee must ever observe this rule; to sell more to strangers yearly than wee consume of theirs in value.“ (Mun, 1664, S. 11. Hervorhebung im Original). Der kenntnisreiche Mitbegründer der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, Wilhelm Roscher, glaubte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Merkantilismus, die staatlichen Hindernisse bei der nationalen Wareneinfuhr seien „zum großen Theil aus luxuspolizeilichen Absichten hervorgegangen, die der Ausfuhr aus theuerungspolizeilichen“ (Roscher, 1881, S. 172, Anm. 7), was man durchaus bezweifeln kann, denn auch die vermeidbare Wareneinfuhr sollte durch merkantilistische Maßnahmen gedrosselt werden. Diese vielgepriesene Wirtschaftsautarkie, die zahlreiche merkantilistische Theoretiker in umfangreichen Abhandlungen zum Handelsverkehr, zur Zahlungsbilanz, zur Beschäftigung oder zur Produktion empfahlen, konnte kein bevölkerungsreicher europäischer Staat während des Zeitalters des Merkantilismus vollständig oder uneingeschränkt verwirklichen, weil er dann unentwegt in kriegerische Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Staaten verwickelt worden wäre. Die kameralistischen Staaten auf deutschem Boden und in ihren Territorien, wie etwa Preußen, Bayern, Sachsen oder Württemberg, waren ohne Kolonialbesitz überhaupt nicht in der strategischen Lage, eine rivalisierende Handelspolitik durchzuführen und zu einem wirtschaftlichen Konkurrenten von England, Spanien oder Frankreich aufzusteigen. In den führenden merkantilistischen oder kolonialen Staaten, wie Großbritannien, die Niederlande oder Frankreich, waren die weltweiten Austauschbeziehungen, d. h. das wirtschaftliche System, welches wir heute als ökonomische Globalisierung bezeichnen, schon so weit fortgeschritten, dass jedes größere europäische Territorium auf gegenseitigen Warenhandel angewiesen war, wenn es seinen materiellen Wohlstand oder den seiner Bürger vergrößern wollte. Weil eine staatliche Produktenautonomie eine ökonomische Chimäre darstellte, die wegen der vielfältigen, sowohl produzierten als auch gehandelten Waren unmöglich geworden war, war man auf gegenseitigen Handel angewiesen, um wirtschaftlich einigermaßen überleben zu können. Es erscheint mir deshalb als unangemessen, selbst den deutschen Merkantilismus (Kame-

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

ralismus) als „System der landesfürstlichen Wohlstandspolizei“ (Hermann Oncken) zu bezeichnen, denn er stützte sich zumindest in den größeren Staaten auf einen politischen, zentralistischen Absolutismus, der staatlichen Reichtumszuwachs mit allen vorhandenen Mitteln anstrebte. Geschützte gewerbliche Monopole oder staatliche Manufakturen, die der Merkantilismus zwei Jahrhunderte lang einführte und betrieb, können kein dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum generieren, wenn die weitaus dominierende Landwirtschaft noch feudal-hierarchisch organisiert und nicht bereit ist, auf ihre angestammten Privilegien des führenden Adels zu verzichten. In vielen europäischen Staaten arbeiteten noch 70 bis 80 % der abhängig Beschäftigten in diesem agrarischen Sektor, weswegen er vom französischen Physiokratismus als überragender produktiver Gewerbezweig angesehen wurde, während die Beschäftigten von industriellen Tätigkeiten als classe stérile bezeichnet wurden, die nur wenig zum Nationalwohlstand beitrügen und deshalb vernachlässigt werden könnten. Trotzdem kann man den Physiokraten erhebliche ökonomische Einsichten nicht absprechen und dieser, vor allem von dem französischen Ökonom François Quesnay entwickelte Wirtschaftstheorie zugutehalten: „Es ist das Große und Spezifische der Physiokratie, den Wert und den Mehrwert nicht aus der Zirkulation, sondern der Produktion abzuleiten.“ (Hohoff, 1919, S. 281). Adam Smith, der während seines Frankreichaufenthaltes Quesnay und dessen Theorie kennenlernte, hat sein liberalkapitalistisches Wirtschaftssystem auf diesen ökonomischen Grundlagen weiterentwickelt und damit dem modernen Kapitalismus theoretische Grundlagen geschaffen, auf denen eine wachstumsdynamische Industrie aufgebaut werden konnte. Eine dynamische Unternehmerschaft, ein liberales Handelssystem oder ein internationaler Preis- und Qualitätswettbewerb auf konkurrierenden Märkten kann sich allerdings erst dann auf nationaler Ebene produktiv entwickeln, wenn freiheitliche Institutionen risikoreiche, unabhängige Entscheidungen ermöglichen, die nicht staatlich reglementiert oder abgeändert werden. Die während des Ersten Weltkrieges vertretene Ansicht, dass ein wirtschaftliches System des freien Wettbewerbs durch industrielle Monopole im Kapitalismus ersetzt wurde, um „ihm die Welt zu unterwerfen“ (Jaffé, 1915, S. 24), war dem Merkantilismus wie dem Physiokratismus unbekannt. Die merkantilistische Wirtschaftspraxis, die sich von Staat zu Staat, je nach Bevölkerungsgröße und Kolonialbesitz, erheblich unterschied, musste zwangsläufig in einer sich ständig verändernden Gemengelage

V. Kapitalistische Mängel des Merkantilismus

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wegen unterschiedlicher Ein- und Ausfuhren scheitern, denn sie konnte auf eine zentralistische, d. h. nivellierende Politik, die die komplexen Wirtschaftsabläufe zu beherrschen versuchte, nicht verzichten oder sie zugunsten freiheitlicher Vorgaben aufgeben. Die Aussage des französischen Staatstheoretikers Jean Bodin: Pecunia nervus rei publicae, d. h. durch Geld wird der Nerv des Staates getroffen, erwies sich als unzureichend, um wirtschaftlichen Aufschwung durch- oder industrielle Produktion umzusetzen, denn Geld oder Kapital allein kann keinen Kapitalismus erzeugen, auch wenn er auf reichlich Kapital angewiesen ist. Auf der autoritären Grundlage einer absolutistischen Staatspolitik vermochte der Merkantilismus zwar einzelstaatliche Erfolge aufzuweisen, doch für die endgültige Durchsetzung eines europäischen Kapitalismus blieb er marginal und von geringer Durchschlagskraft. Der europäische Merkantilismus kann deshalb vielleicht als ein originelles Wirtschaftssystem angesehen werden, das zwischen mittelalterlichem Feudalismus und kapitalistischer Industrialisierung die vorhandenen ökonomischen Möglichkeiten ausschöpfen wollte, doch den eigentlichen Kapitalismus hat er nicht eingeleitet oder begonnen. Ebenso wenig besaß der europäische Feudalismus „das Potential, sich zum Kapitalismus zu entwickeln“ (Fulcher, 2011, S. 54), denn er war ja wesentlich geprägt von einer grundherrschaftlichen Landwirtschaft und einem städtischen Handwerk, das jedoch durch Zunftordnungen in ein enges gewerbliches Korsett eingezwängt war. Welche inhaltlichen Schlussfolgerungen können wir über ein Wirtschaftssystem abgeben, das zwei Jahrhunderte lang versuchte, kapitalistisches Wachstum zu erzeugen und den nationalen Reichtum mit unterschiedlichen Mitteln zu vergrößern, um den betreffenden Staat mächtiger und wohlhabender werden zu lassen. Es bleibt nicht nur ein zwiespältiges Bild einer durchdachten Strategie, welches uns vom merkantilistischen Zeitalter überliefert worden ist, sondern auch die in diesem Kapitel beschriebenen Maßnahmen vermitteln kein einheitliches Porträt einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Lassen wir einen Ökonomen zu Wort kommen, der die kleinstaatlichen Anfänge des modernen Kapitalismus in Deutschland hautnah miterlebte. Ein Mitbegründer der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie, Karl Gustav Adolf Knies (1821 – 1898), hat diese ökonomische Gegenläufigkeit zwischen merkantilistischem Nationalismus und industriellem Kosmopolitismus bereits Mitte des 19. Jahrhunderts treffend charakterisiert: „Der kosmopolitische Geist,

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C. Der Merkantilismus als erstes kapitalistisches Wirtschaftssystem

welcher in Frankreich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts herrschte, weht auch durch die Schriften der Physiokraten, während die Merkantilisten Wahrheiten für die Privatwirthschaft irrthümlich zu Wahrheiten für ein ganzes Land erheben“ (Knies, 1853, S. 176). Darin liegt wohl auch das außergewöhnliche Verdienst des schottischen Ökonomen und geistigen Urgroßvaters vieler Kapitalismusforscher, Adam Smith, nämlich dass er zeigen konnte, dass individuelle Initiativen und staatliche Maßnahmen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern beide in einem freiheitlichen Wirtschaftssystem zu größerem Wohlstand beitragen können, wenn die Industrie nicht zu stark reglementiert oder gegängelt wird. Die klassische Nationalökonomie war sich in ihren theoretischen Überlegungen, wie eine moderne Wirtschaft effektiv funktionieren könnte, darüber voll bewusst, dass man mit physiokratischen oder merkantilistischen Vorschlägen dieses angestrebte Ziel einer Wohlstandsvergrößerung der überwiegend arbeitenden Bevölkerung nicht näherkommen würde. In einer neueren globalen Wirtschaftsgeschichte bringt der Autor, Werner Plumpe, diesen, auf die merkantilistische Wirtschaftspolitik bezogenen, Sachverhalt auf den kurzen Nenner: „Der Merkantilismus war jedenfalls nicht der Geburtshelfer des Kapitalismus.“ (Plumpe, 2019, S. 104).8

8 Deswegen kann ich nicht den sozialpolitischen Optimismus von Gustav Schmoller teilen, den er noch im Ersten Weltkrieg vertrat, nämlich „in England haben die Tudors und Cromwell sozialen Sinn gezeigt; in Brandenburg-Preußen sind es die Regenten von 1640 bis 1786, in Österreich Maria Theresia und Joseph II., in manchen kleinen Staaten einzelne Minister des 18. Jahrhunderts, die eine segensreiche innere Sozialpolitik“ (Schmoller, 1918, S. 556) während der merkantilistischen Epoche durchgeführt hätten.

D. Der protestantisch-ethische ,Geist‘ und die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung I. Religiöses Gefühl oder kapitalistischer Geist Die außerordentliche Veränderungsdynamik, wie sie einige europäische Wirtschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts demonstriert und umgesetzt haben, ließ die (philosophische) Frage auftauchen, ob neben den technischen Fortschritten oder dem internationalen Handel noch andere, vielleicht in der menschlichen Seele lokalisierbare Faktoren für diese einzigartige Entwicklung verantwortlich waren und sie in ihren tieferen Strukturen erklären können. Der ruhelose Trieb oder sogar die ungebremste Sucht nach Reichtum oder Profit, wie wir sie seit der Antike kennengelernt haben, konnte wohl nicht allein mit einer schnöden Jagd nach kapitalistischem Mammon begründet werden. Er musste tiefer verwurzelt sein, um zu einem bestimmten Zeitpunkt ans Tageslicht gespült zu werden, um die traditionellen Grundfesten zu unterspülen oder einstürzen zu lassen. Man könnte fast vermuten, dass damit nach einer geistesgeschichtlichen Umkehrung des Marxschen Diktums: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx, 1975, S. 9), d. h. statt Materialismus die anhaltende Wirkung von Psychologie, gesucht oder sie angestrebt wurde. Die mittelalterliche katholische Religion – obwohl die Kirche durchaus nicht abgeneigt war, am kontinuierlichen Reichtumszuwachs zu partizipieren – war religiös zu kontemplativ, um aus den transzendenten Vorstellungen vom göttlichen Seelenheil nach einem sündhaften, aber gottergebenen Leben in eine kapitalistische Völlerei oder Verschwendungssucht auszubrechen. Katholische Klöster oder Ordensgemeinschaften verrichteten zwar handwerkliche Tätigkeiten und waren bestrebt, ihre mönchische Wirtschaftsweise zu verbessern, doch eine kapitalistische Profitgier wurde nicht nur durch ein biblisches Armutsgebot oder sogar durch ein mönchisches Armutsgelübde eingeschränkt, sondern auch durch die neutestamentliche

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D. Protestantischer ,Geist‘ und kapitalistische Wirtschaftsgesinnung

Forderung einer Hinwendung zu den Armen. Ora et labora war die gottgefällige Lebensweise, d. h. nach dem Aufstehen zuerst ein Gebet und danach die notwendige Arbeit, die sich in der Landwirtschaft über den ganzen Tag erstrecken konnte, während in den Klöstern Mönche zwar auch nach dieser religiösen Anweisung lebten, doch der Gebetsrhythmus sich öfter am Tag wiederholte; ganz abgesehen von den Gottesdiensten. Die angeblich von einem göttlichen Plan vorgegebene tägliche Berufsarbeit in den Guts- und Grundherrschaften war vor allem darauf ausgerichtet, das schicksalhafte Erdendasein einigermaßen zu überstehen, d. h. ökonomisch gesprochen, eine Bedarfsdeckungswirtschaft durchzuführen, die nicht nach großem Reichtum strebte oder die später auftretende Goldgier vorwegnahm.1 Abgesehen von dieser, im Mittelalter entstandenen katholischen Mönchsethik ist (fälschlicherweise) behauptet worden, dass eine ,protestantische Ethik‘ bereits viel früher, im Altertum, aufgetreten sei: Es „hat natürlich auch der antike Kapitalismus nicht nur wirtschaftliche Wandlungen, sondern auch soziale und ethische gezeitigt; ebenso wie umgekehrt ethische oder rechtliche Anschauungen auf die Form des Kapitalismus entscheidend eingewirkt haben“ (Otto, 1925, S. 32). Wie sind diese ökonomischen Veränderungen in den Jahrhunderten vor dem Industriezeitalter als mentale Vorstufen oder erste Ansätze eines kapitalistischen Geistes zu beurteilen? In der historischen Forschung des Feudalzeitalters bestand eine ausgeprägte Tendenz, den Jahrhunderten des Hochmittelalters, etwa von 1000 bis 1500, ein wirtschaftliches Wachstum und eine dynamische kulturelle wie soziale Vitalität zuzuschreiben, die moderne Formen von Urbanisierung und Kommerzialisierung, von Geldund Bankwesen, vorwegnahmen, weswegen man sie als ideelle Vorläufer einer gewerblich-kapitalistischen Güterproduktion bezeichnen könnte (vgl. etwa Gimpel, 1981). Zweifellos hat es zu dieser vorindustriellen Zeit wegen einer verstärkten Christianisierung in verschiedenen europäischen Regionen und der verbreiteten Errichtung von katholischen Bistümern einen merkbaren Aufschwung der europäischen und außereuropäischen 1

Wenn Werner Sombart die fragwürdige Auffassung vertrat: „Der Geist, der die Grundherrn in den Kapitalismus hineintrieb, war derselbe Unternehmungsgeist mit chrematistischer Einstellung, der alle kapitalistischen Unternehmer beseelte“ (Sombart, 1916. Bd. I/2, S. 851), dann sind entweder die Grundherren Kapitalisten geworden oder Unternehmer, die sich von der Landwirtschaft als Hauptberuf abgewandt haben, d. h. es wäre eine ,Verbürgerlichung‘ des Adels eingetreten.

I. Religiöses Gefühl oder kapitalistischer Geist

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Handelstätigkeit und wegen einer zunehmenden Bevölkerung auch technische oder organisatorische Fortschritte auf landwirtschaftlichen Gütern gegeben. Die alttestamentarische Aufforderung, dass die gottgeschaffenen Menschen sich die naturgeprägte Erde untertan machen sollten, fiel deshalb auf ertragreichen Boden: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ (Bibel, 2001, Gen. 1,28). In einem religiösen Europa wurde dieses ,Gotteswort‘ als ein einzuhaltendes Gebot angesehen, dem man in einem arbeitsreichen Leben nachkommen oder dem man sich beugen müsse. Worin äußerte sich der ,kapitalistische Geist‘ in dieser frühen Periode? Die fortschreitende Urbanisierung mit Hunderten von neuen Städten seit dem 12. und 13. Jahrhundert führte nicht nur zu wirtschaftlichen Veränderungen – viele Handwerke siedelten sich in Städten an und bildeten Zünfte, die die strikte Einhaltung einer handwerklichen ,Ethik‘ genau überwachten –, sondern sie veränderte auch das soziale und mentale Gefüge einer vorher überwiegend agrarischen Gesellschaft. Ein christlicher Feudalismus, der die Oberherrschaft des Adels als gottgewollt ansah, der durch die katholische Kirche gestützt wurde, ließ sich durchaus mit gewerblichen Veränderungen verbinden und vereinbaren, ohne als antireligiös angesehen zu werden. Bauern und Gutsbesitzer erkannten z. B. die gewerblichen Chancen, die ihnen Städte für den verstärkten Absatz ihrer ländlichen Produkte boten und sie konnten sich aus den finanziellen Erträgen produzierte Artikel leisten, die sie vorher entweder selbst hergestellt oder gar nicht gekannt hatten. Der handwerkliche Zunftgeist, der sich in ausgefeilten Zunftstatuten und -ordnungen niederschlug, prägte nicht nur der städtischen, sondern auch der ländlichen Gesellschaft eine ständestaatliche, hierarchische Moral auf, aus der man nicht ungestraft ausbrechen konnte, wenn man seiner ausgeübten Berufstätigkeit weitgehend ungestört nachgehen wollte. Ob man allerdings dieser neuartigen Entwicklung „dramatische Ausmaße“ (Bartlett, 1996, S. 205)2 im Sinne einer neuen ökonomischen Entwicklung zuschreiben kann, erscheint mir 2 Der Engländer Robert Bartlett leitet wohl aus der Kolonialgeschichte seines eigenen, mächtigen Landes die m. E. übertriebene und historische Unterschiede zu stark einebnender Auffassung ab, dass „Denkgewohnheiten und Institutionen des europäischen Rassismus und Kolonialismus in der mittelalterlichen Welt wurzeln“ (Bartlett, 1996, S. 375).

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eher fraglich, denn trotz des verstärkten Güteraustausches zwischen Stadt und Land bewegte sich die wirtschaftliche Arbeitsteilung noch auf einem niedrigen Niveau. Als unmittelbare Folge dieses umfangreichen Güteraustausches versuchten profitorientierte Kaufleute aus diesen wirtschaftlichen Entwicklungen bereicherndes Kapital zu schlagen, indem sie ihre Handelstätigkeit, d. h. den Verkauf ihrer Produkte, ausweiteten. Der rasante Aufstieg norditalienischer Städte, wie Genua, Mailand, Pisa oder Venedig, die zu europäischen Zentren des Handels und Güteraustausches wurden, verstärkte deshalb bei wirtschaftshistorischen Forschern die theoretische Auffassung, dass diese institutionellen und strukturellen Veränderungen auf eine andersgeartete Mentalität oder eine geistige Umorientierung zurückzuführen seien. Es kam ja noch hinzu, dass aufgrund dieser, gegenüber dem frühen Mittelalter revolutionären, geschäftlichen Umbrüche „hochentwickelte internationale Finanzimperien ein Kredit-, Versicherungs- und Investitionssystem“ (ebd., S. 12) aufbauten, welches ein kapitalistisches Gepräge annahm. Zwar waren diese Geldgeschäfte noch weit von einem modernen Finanzkapitalismus entfernt, doch gegenüber dem antiken und mittelalterlichen Verrechnungswesen waren sie für die gegenseitigen Geschäftsbeziehungen von außerordentlicher Bedeutung. Wir können durchaus anerkennen, dass in den beiden Jahrhunderten vor der kolonialen Eroberung der Neuen Welt in europäischen Regionen nicht nur eine militärische und technische, sondern auch eine intellektuelle Überlegenheit gegenüber außereuropäischen Rivalen vorhanden war, etwa dem im Mittelalter fortgeschrittenen China, doch zu glauben, damit seien tiefverwurzelte Triebe einer modernen kapitalistischen Entwicklung gelegt worden, verkennt die eigentlichen Ursachen und revolutionären Folgen einer industriellen Wirtschaftsweise. Werfen wir noch einmal einen kurzen Blick auf die einflussreiche Rolle der dominierenden Religion, des Katholizismus, als einen eventuell geistigen Vorläufer einer kapitalistischen Gesellschaft seit dem späten Mittelalter. Die religiöse Gebundenheit – nachdem fast ganz Europa mit Bistümern und Klöstern überspannt und christianisiert war – verstärkte zwar die geistesgeschichtliche Rückbesinnung, wobei auch antike Denker wie Platon und Aristoteles übersetzt und rezipiert wurden, doch sie ermöglichte wenig kritischen Spielraum für eine eigenständige ethische Gesinnung, die sich gegen religiöse Vorgaben von Päpsten, Bischöfen, Königen oder Landesherren gerichtet hätte. Selbst die antirömische Re-

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formation Martin Luthers war nicht überwiegend auf einen mentalen gewerblichen Bruch mit den mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Gewohnheiten gerichtet, sondern eher auf eine andersartige ethische oder moralische Auslegung der Heiligen Schrift, die Luther volksnah ins Deutsche übersetzt hatte. Mit den mentalen Antrieben oder Motiven einer kapitalistischen Reorganisation europäischer Staaten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheinen mir diese frühen Veränderungen nicht vergleichbar, denn die geistesgeschichtlichen Tendenzen des Reformations- und Gegenreformationszeitalters und selbst der aufklärerischen Reformbemühungen kann man zwar als bedeutende Einschnitte in einen traditionellen Moralkodex ansehen und begreifen. Doch wenn man eine ökonomische Analyse dieses Epochenwandels „aus der Maulwurfsperspektive auf ein wirtschaftliches Phänomen reduziert“ (Lüthy, 1973, S. 26), wird man den andersartigen Voraussetzungen des modernen Kapitalismus nicht gerecht. Wir können uns deshalb nicht damit zufriedengeben, lediglich zu konstatieren, dass „zwischen Religion und Wirtschaft die bedeutsamsten Wechselwirkungen bestehen“ (Harms, 1925, S. 430), denn es kommt mir vorrangig darauf an, herauszufinden und zu erklären, auf welche konkrete Weise religiöse Einflüsse auf einen kapitalistischen Aufbruch eingewirkt haben. Die katholische Religion oder der römische Katholizismus konnten und wollten einen grundlegenden wirtschaftlichen Wandel weder initiieren noch durchführen, denn das Alte wie das Neue Testament waren lange vor einer industriellen Modernisierung entstanden und berühren auch nur wenige wirtschaftliche Sachverhalte, weil die damaligen Gesellschaften traditionsbehaftet waren. Das vom grundbesitzenden Adel und der fürstbischöflichen Geistlichkeit dominierte feudalistische Agrarsystem war in späterer Zeit weitgehend zu starr und unbeweglich, um aus sich heraus radikale Änderungen einleiten zu können, die neue Produktionsformen, außerhalb des Handwerks, ermöglicht und vorangetrieben hätten, die eventuell für die Herr-Knecht-Beziehungen gefährlich geworden wären. Lediglich im finanziell einträglichen Bergbau war man genötigt oder gezwungen, um die Gold- und Silbererze aus unterirdischen Gruben zu erschließen, neue Produktionsmethoden auszuprobieren und einzuführen, um die meist tief unter der Erde gelagerten, geologischen Schätze ans Tageslicht zu befördern und sie gewinnbringend zu verwerten. Um ein angemessenes Bild zu erstellen, welche geistigen Kräfte offenbar jahrhundertelang hinter diesem ökonomischen Aufbruch standen, der

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stärker kapitalistisch als religiös motiviert war, möchte ich auf zwei Autoren eingehen, nämlich auf Max Weber und Werner Sombart, die entweder eine innerweltlich-religiöse Askese oder eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung als treibende Motive für eine andersartige Geisteshaltung, die Reichtum und Wohlstand nicht mehr als gotteslästerlich verdammte, ansahen und ausführlich beschrieben haben. Wir müssen allerdings Folgendes beachten: Wenn eine unternehmerische Seelenstimmung oder der kapitalistische Geist tatsächlich den Kapitalismus geschaffen oder erschaffen haben soll, dann ist diese theoretische Aussage entweder tautologisch, weil Geist gleich Kapitalismus gesetzt wird, oder sie blendet alle technologisch-organisatorischen Errungenschaften aus, die durch konkrete Umsetzung etwa von kolonialen Eroberungen oder natürlichen Ressourcen geschaffen worden sind. Unserer Ausgangsthese gemäß soll schwerpunktmäßig die enge Verzahnung von Theorie und Praxis analysiert werden, um nicht auf einer abstrakten Ebene steckenzubleiben, die den empirischen Verhältnissen wenig gerecht wird und sie nicht einfangen kann. Um herauszufinden, welche geistigen Einflüsse sich bei den industriellen Veränderungen bemerkbar machten, müssen wir uns nämlich etwas intensiver mit den realen Wirkungen befassen, die eine solche ethische Einstellung in kürzeren oder längeren Abständen nach sich ziehen kann, damit ökonomische Wandlungen eingeleitet und durchgeführt werden. Es leuchtet realitätsbewussten Menschen vielleicht ein, dass solche weitreichenden theoretischen Begründungen für eine ethische Basis des Kapitalismus auf ihre inhaltlichen Konkretisierungen analysiert werden sollten, wenn wir dieses Wirtschaftssystem in seiner eigentlichen Struktur erfassen und erklären wollen. Vernachlässigen wir nämlich diesen unmittelbaren Realitätsbezug, geraten wir leicht zu der fragwürdigen These, dass das kapitalistische Zeitalter ein „Zeitalter des Uebergewichts der geistigen Arbeit“ (Conrad, 1912, S. 174. Hervorhebung im Original) (gewesen) sei und sehen uns dann dem schwierigen Unterfangen ausgeliefert, ob wir handwerkliche oder industrielle Arbeit als geistig oder als praktisch ansehen wollen. Die entscheidende Rolle, die eine protestantisch-calvinistische Ethik oder eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung bei den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbrüchen vor oder während des Kapitalismus gespielt haben oder ob es „zu einer wirklichen Entwicklung des Kapitalismus in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit noch nicht kommt und daß deshalb auch von

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einem kapitalistischen Geist noch nicht die Rede sein kann“ (Below, 1926, S. 424), scheint mir deshalb auch heute noch diskussionswürdig zu sein. Warum sollen wir uns mit der einflussreichen Rolle von religiösen Gedanken auf einen entstehenden Kapitalismus beschäftigen, wenn offenkundig ist, dass erst die praxistaugliche Erfindung von Maschinen oder die beeindruckende Errichtung von riesigen, meist schönen Fabrikgebäuden den modernen Kapitalismus ermöglicht haben? Als ein Grund dafür könnte angeführt werden, dass Generationen von ökonomischen und soziologischen Forschern glaubten, der Kapitalismus müsste eigentlich durchdrungen sein mit geistigen oder seelischen Elementen, einer ihm gemäßen Psychologie, die tief in sein Innerstes eingedrungen waren und gleichsam als psychologische Steuerung funktionierten. Diese theoretische Auffassung durchzieht viele neuere wirtschaftshistorische Analysen und empirische Beschreibungen des Industrialisierungszeitalters, denn wie kann man einen solchen gewaltigen Umbruch verstehen und erklären, wenn nicht einflussreiche psychologische Motive im Spiel waren, die Menschen angespornt haben, superreich zu werden? Um hier nur ein konkretes Beispiel zu zitieren, wie man sich die elementare Wirkung dieses ,Geistes‘ in städtischen Wohnquartieren im späten 19. Jahrhunderts vorstellte: „Die Diskrepanz der Entwicklungen in den Wohnvierteln der Gutsituierten, Wohlhabenden und Reichen und in den MietskasernenQuartieren beruhte nicht zuletzt darauf, daß die Bauordnungen der 80er und 90er Jahre [des 19. Jahrhunderts, H.K.] nicht allein in Berlin, sondern auch in den anderen Großstädten natürlich dem Geist des Kapitalismus entstammten und damit einerseits der Unternehmeraktivität Raum schufen, andererseits aber auch riesige Unternehmergewinne ermöglichten, ohne Vorschriften hinzuzufügen, welche der Sozialpolitik zugunsten der Industriearbeiterschaft und des Mittelstandes seit 1881/84 entsprachen.“ (Treue, 1977, S. 263. Hervorhebung von mir). Mit dieser ,ethischen‘ Aussage scheint wohl nichts anderes gemeint gewesen zu sein, als dass die prekäre Wohnsituation von Industriearbeitern, die massenhaft von ihren ländlichen Wohnsitzen in die Städte strömten, um besser bezahlte Arbeit zu finden, von Bauunternehmen und Profiteuren ausgenutzt wurde, um durch einen Bauboom noch reicher zu werden. Diese ,Kapitalisten‘ nutzten großstädtische Bauengpässe, um ihre Gewinne mit Hilfe städtischer Baubehörden zu steigern, welche an steigenden Steuereinnahmen interessiert waren und deshalb auch unsoziale Baugenehmigungen erteilten, selbst wenn sie rechtlich bedenklich waren.

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Der ,kapitalistische Geist‘ ist hier lediglich ein auf gegenseitige Vorteilnahme ausgerichtetes Profitdenken, von dem es naheliegend ist, psychologisch überschätzt zu werden, weil es eigentlich von schnöder Profitgier getrieben wird. Das Profitdenken war jedoch meistens zu geistlos, weil man sich nicht den sozialen Makel eines ,Profiteurs‘ anheften wollte, um in akademischen Kreisen herausgehoben oder sogar unterstützt worden zu sein. Es scheint deshalb interessant darzustellen und herauszufinden, wie deutsche Ökonomen oder Soziologen darüber urteilen, woran wir eine ethische oder gesinnungsmäßige Überzeugung im aufwühlenden Wirtschaftsgeschehen erkennen können, wenn der vorrangige Antrieb ökonomischen Handelns ein von verkaufsfördernder Werbung beeinflusster, nüchterner Profit ist, um noch wohlhabender zu werden. Dass Produktion und Verkauf von Waren wenig mit ethischen Überzeugungen zu tun hat, braucht in unserer von mediengerechter Propaganda getragenen Wohlstandsgesellschaft nicht ausführlich begründet und hergeleitet zu werden, d. h. unsere Fragestellung kann und soll sich nur auf eine frühere Zeitepoche beziehen. Der deutsche Nationalökonom Edgar Jaffé (1866 – 1921) – von 1918 bis 1919 Finanzminister in der Regierung Kurt Eisners im Freistaat Bayern – war allerdings noch 1915 davon überzeugt, dass der Kapitalismus mit dem Unternehmergewinn stehe oder falle: „Mit diesem und um dieses willen ist er entstanden, mit ihm muß er von der Bildfläche verschwinden.“ (Jaffé, 1915, S. 27. Im Original ganz hervorgehoben).

II. Max Webers Protestantische Ethik Meine bereits angedeutete Absicht, hier auf die vielbeachtete Abhandlung des Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864 – 1920), Die protestantische Ethik (Weber, 2000), etwas einzugehen, die zuerst bereits 1904/05 in einer Zeitschrift erschien, möchte ich ein wenig begründen und erläutern. Sie hat nämlich eine weltweite Diskussion ausgelöst und eine fast unübersehbare Vielfalt von Kommentaren und Stellungnahmen hervorgerufen, die nur selten auf die hier gestellte Frage nach ihrer Realitätsadäquatheit eingehen. Deswegen betrachte ich sie nicht unter der kritischen Prämisse, sie sei „von zerstörender, von geradezu dämonischer Art, indem sie die Religiosität wie in einem Zerrspiegel, wie in äußerlicher Fratzenhaftigkeit“ (Spann, 1934, S. 137) erscheinen lässt und darstellt. Vielmehr möchte ich auf einige ausgesuchte Webersche Argumente ein-

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gehen, wie er den ,Kapitalismus‘ in seinem ,geistigen‘ Gewand versteht und welche realistischen Konsequenzen daraus für eine spätere Industrialisierung gezogen werden können, die für den modernen Kapitalismus charakteristisch waren. Erwartbare Ereignisse eines geistigen Konstrukts, wie etwa die calvinistische Religiosität, d. h. genauer die calvinistische Ethik und ihre Prädestinationslehre, können allerdings nicht die ökonomische Funktionsweise von empirischen Sachverhalten erklären, denn zwischen idealistischen Gedanken und der industriellen Realität besteht kein kausaler Zusammenhang, wie etwa zwischen Produktion und Verkauf oder zwischen Angebot und Nachfrage. Mit anderen Worten: Theoretische Vorstellungen vermögen eventuell Menschen zu bestimmten Aktivitäten oder wirtschaftlichen Handlungen zu motivieren, doch z. B. eine von Handwerkern errichtete Fabrik benötigt andere Voraussetzungen als nur ,ethische‘ Antriebe oder einen kapitalistischen ,Geist‘. Georg von Below hat bereits im Todesjahr von Max Weber, 1920, über einen ethischen Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus die empirisch nicht näher untersuchte Auffassung vertreten: „Für das Entstehen des Kapitalismus ist er [der Calvinismus, H.K.] nicht maßgebend gewesen, da dieser an verschiedenen Plätzen ohne ihn entstanden ist“ (Below, 1926, S. 431), d. h. es gab und gibt industrialisierte Staaten, die eine ,calvinistische Ethik‘ gar nicht kannten.3 Zweifellos ist es berechtigt, danach zu fragen, welche (kapitalistischen) Motive religiös bewegte Denker über die innere Struktur eines Wirtschaftssystems gehabt haben, oder zu welchen theoretischen Annahmen sie darüber gekommen sind, wodurch beide verbunden werden. Sofern wir jedoch die eigentlichen Zusammenhänge zwischen Ethik und Kapitalismus erforschen wollen, sollten wir, wenn wir die tieferen Ursprünge gesellschaftlicher Erscheinungen herauszufinden versuchen, zwischen Erwartungen und Realitäten klar unterscheiden. Um die eigentlichen Triebkräfte für den kapitalistischen Durchbruch einer Industriegesellschaft herauszufinden, ist es nicht ausreichend, nur die geistigen Kräfte zu benennen, die dieser wirtschaftlichen Entwicklung zugrunde lagen und sie vorantrieben. Ansonsten geraten wir leicht in die intellektuelle Falle, die konkreten ökonomischen Bedingungen dieses Wirtschaftssystems auszublenden und die weitver3 Georg Brodnitz: Englische Wirtschaftsgeschichte. Erster Band, Jena 1918, S. 283, schrieb sinngemäß: „Der Calvinismus ist nicht der Ausgangspunkt der ganzen Geistesbewegung, die dem Kapitalismus Schwungkraft verleiht, sondern nur einer ihrer markanten Höhepunkte.“ (Hervorhebungen im Original).

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breitete Vorstellung zu wiederholen, „daß Protestantismus und vor allem Puritanismus die Väter des Kapitalismus“ (Brinkmann, 1953, S. 84. Hervorhebung im Original) gewesen seien. Es ist für eine detaillierte Untersuchung dieser Zusammenhänge gar nicht nötig, wie Othmar Spann glaubte, von gesellschaftlichen Erscheinungen als ,Ganzheiten‘ auszugehen und ihnen eine primäre Wirklichkeit zuzuschreiben, während einzelne menschliche Handlungen nur als Sekundäres, Abgeleitetes angesehen werden, d. h. Universalismus vom Individualismus zu trennen. Max Weber hat seine hochkomplexen theoretischen Überlegungen zur calvinistischen Ethik und dem kapitalistischen Geist zuerst im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904/05 veröffentlicht und dann 1920, in seinem Todesjahr, in einer stark erweiterten Form in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I herausgegeben, nach der hier zitiert wird, weil sie den meisten Interpretationen zugrunde gelegt wird und dort genauer nachgelesen werden kann. Meine teilweise kritischen Bemerkungen beschränken sich auf einen relativ kleinen, wenn auch zentralen Komplex dieser vielschichtigen Abhandlung, nämlich ob in diesem weitgespannten Gebäude theoretische Ansätze dafür zu finden sind, ob in einer bestimmten Religion – und/oder in einem ausgewählten Berufsfeld – Spurenelemente extrahiert werden können, die in den modernen Kapitalismus einmündeten, ohne ihn neu zu erschaffen. Eine ausdrückliche Intention von Webers weitverzweigten Überlegungen bestand nämlich darin, „der schicksalvollsten Macht unsres modernen Lebens: dem Kapitalismus“ (Weber, 1988, S. 4. Hervorhebung im Original) nachzuspüren und sie zu ergründen, d. h. nicht ihre konkreten Ausprägungen zu erfassen oder darzustellen. Er spricht von und verwendet explizit den nach der englischen, industriellen Revolution geläufigen Ausdruck moderner Kapitalismus mit einer ethischen Grundlage, dem Geist, als dessen philosophischem Leitmotiv und psychologischen Antriebselement. Um diese historische Aktualität zu verdeutlichen, gibt er ein seitenlanges Zitat Benjamin Franklins aus den Jahren 1736 und 1748 wieder und interpretiert es so, dass darin seiner Meinung nach eine religiös gefärbte Maxime, eine scheinbare Offenbarung Gottes oder zumindest eine religiöse Vorstellung des „westeuropäisch-amerikanischen Kapitalismus“ (ebd., S. 34) ausgedrückt worden sei. Es erscheint mir deshalb nicht nur diskussionswürdig, sondern für unsere Fragestellung von erheblicher Bedeutung, etwas genauer zu erörtern, ob es Max Weber nicht „um die Herausbildung des Kapitalismus als

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solchem, sondern um die einer diesem gemäßen Lebensführung“ (Kaufhold, 1992, S. 75) gegangen ist, wie der Göttinger Wirtschaftshistoriker Karl Heinrich Kaufhold (1932 – 2020) vermutete. Hätte Weber vor allem die ,Lebensführung‘ in kapitalistischen Gesellschaften behandeln wollen, dann wären viele seiner konkreten Hinweise auf kapitalistische oder technische Praktiken überflüssig und unangemessen gewesen, weil dann die moderne Industrie eine geringe Rolle gespielt hätte. Obwohl er keineswegs den Calvinismus mit modernem Kapitalismus gleichsetzte, sind doch wesentliche Überlegungen auf den kapitalistischen Entwicklungsprozess gerichtet und mit ihm verkoppelt, d. h. sie gehen weit über eine ,gemäße Lebensführung‘ hinaus, sondern berücksichtigen ebenfalls den kapitalistischen Produktionsprozess. Nach unseren früheren Bemerkungen über verschiedene Arten und Formen vom antiken bis zum heutigen ,Kapitalismus‘ ist es deshalb naheliegend, mit Weber danach zu fragen, warum das moderne Wirtschaftsleben mit einer rationalen Ethik des asketischen Protestantismus, die einige Jahrhunderte zurückliegt, zusammenfließen soll oder kann. Denn wenn es richtig wäre: „Die Frage nach den Triebkräften der Expansion des modernen Kapitalismus ist nicht in erster Linie eine Frage nach der Herkunft der kapitalistisch verwertbaren Geldvorräte, sondern vor allem nach der Entwicklung des kapitalistischen Geistes“ (Weber, 1988, S. 53), dann wäre von dem komplexen Gefüge einer Industriewirtschaft wenig erklärt, obwohl gar nicht bestritten werden soll, dass die tatsächliche Bedeutung von Geld und Kapital oft überschätzt worden ist. Der Soziologe Weber scheint geglaubt zu haben, dass schon „die aufstrebenden Schichten des gewerblichen Mittelstandes“ (ebd., S. 49 f.) im 16. Jahrhundert tatsächlich Träger einer kapitalistischen Gesinnung waren, weshalb durchaus nachzuvollziehen ist, dass eine calvinistische Ethik darauf direkt Einfluss genommen hat und wirksam gewesen sein kann. Die ethischen Gebote einer innerweltlichen Askese für eine bestimmte Lebensführung mögen selbst dem mönchischen Denken des 16. oder 17. Jahrhunderts einigermaßen adäquat gewesen sein, doch mit der industriellen Revolution wird ihre tatsächliche Wirkungskraft marginal und sie verflüchtigt sich, weil nun konkrete wirtschaftliche Probleme gelöst werden müssen. Wenn wir den modernen Kapitalismus mit der neuzeitlichen Epoche statt seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen lassen, dann wären wir logisch gezwungen, den gewerblichen Nachfolgern im 19. Jahrhundert zumindest eine ähnliche Wirtschafts-

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gesinnung zu unterstellen wie den calvinistischen Vorläufern, auch wenn die ökonomischen Grundlagen völlig verschieden sind. Eine solche ,Unterstellung‘ entspräche einer historischen Kapitulation vor den umwälzenden Transformationen der industriellen Revolution, die nicht von der gleichen ,Ethik‘ oder Gesinnung geprägt (gewesen) sein können, wenn wir der neuartigen Errichtung von internationalen Handelskonsortien, unternehmerischen Großindustrien oder Monopolen und einem ausgedehnten Finanzkapitalismus überhaupt noch eine ethische oder moralische Komponente einräumen wollen. Webers These von einem kapitalistischen Aufbruch aufgrund der calvinistischen Ethik im 16. Jahrhundert wurde „das Dogma einer einflußreichen Schule von Soziologen in Amerika [vor allem die von Talcott Parsons (1902 – 1979), der in Heidelberg promoviert hatte, bevor er an der Harvard University eine Professur für Soziologie erhielt, H.K.] und hat bis heute noch ihre Verteidiger in Europa“ (Trevor-Roper, 1970, S. 18). Von ihnen wurde und wird weiterhin behauptet, dass damals der moderne Kapitalismus begonnen habe, obwohl dessen ökonomischen und technischen Ausprägungen mit vormerkantilistischen Wirtschaftssystemen kaum verglichen und schon gar nicht gleichgesetzt werden können. Es ist wohl nicht zu leugnen, und Weber war weit davon entfernt, sich einer solchen einfachen Verwechslung schuldig zu machen, dass der moderne Kapitalismus der letzten zwei Jahrhunderte auch unethische, unmoralische und korrupte Verhaltensweisen in gehäuftem Maße angenommen und praktiziert hat, was den marxistischen Eindruck und antikapitalistischen Vorwurf verstärkte, dass er vor allem rücksichtslos und ausbeuterisch agiert und vorrangig nach maximalem Gewinn (akkumulierten Profit) strebt. Betrachten wir kurz ein konkretes Beispiel aus der Religionsstatistik eines deutschen Bundesstaates am Ende des 19. Jahrhunderts und fragen danach: Wie weit kann die Berufsstatistik eines konfessionell gemischten Landes, die Max Weber zur konkreten Bestätigung und Untermauerung seiner calvinistischen These heranzieht, oder die aktive Zugehörigkeit von dessen Unternehmern zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft etwas über eine vorhandene, ja vielleicht sogar enge, Beziehung zwischen Konfession und Kapitalismus aussagen? Weber geht zwar nicht so weit wie Werner Sombart, der die jüdische Geldleihe für „eine der wichtigsten Wurzeln des Kapitalismus“ (Sombart, 1916, S. 918. Hervorhebung im Original) ansah und behauptete: „Innerlich-geistig ist ihre [der Juden, H.K.] Bedeutung für die Ausbildung kapitalistischen Wesens deshalb so

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groß, weil sie es recht eigentlich sind, die das Wirtschaftsleben mit modernem Geiste durchtränken, weil sie die innerste Idee des Kapitalismus erst zu ihrer vollen Entwicklung bringen“ (Sombart, 1928, S. 24), doch auch Max Weber weist religiösen Minderheiten eine bedeutende Rolle zu. Sie werden von ihm zwar als ,weltfremd‘ bezeichnet, wie etwa die französischen Hugenotten, die amerikanischen Kolonisten, die norddeutschen Katholiken oder die europäischen Juden, doch gleichzeitig hält er es für möglich, dass sie für seine religiösen Thesen herangezogen werden können, um die ethische Bedeutung von Minderheiten herauszufinden. Darauf möchte ich hier nicht im Einzelnen eingehen, denn auch Werner Sombarts Unterstellung scheint mir nur ungenügend zu berücksichtigen, dass religiöse Minderheiten, besonders in vordemokratischen Regierungssystemen, die keinen Minderheitenschutz kannten, sich eigentlich in einem kapitalistischen Umfeld behaupten wollten oder mussten, wenn ihnen längerfristig eine realistische Überlebenschance gewährt wurde, d. h. wenn sie in einem ökonomischen Nischendasein geduldet wurden. Selbst die liberalkapitalistische Vorstellung einer wirtschaftlichen Ungebundenheit oder unternehmerischen ,Freiheit‘ entstammte nicht jüdischem Denken, sondern war das nachmerkantilistische Ergebnis der theoretischen Erkenntnisse des Schotten Adam Smith über die angestrebten Möglichkeiten, den Reichtum (Wohlstand) eines oder mehrerer Staaten zu vergrößern. Max Weber stützte sich bei seinen Überlegungen zu einer religiösen Berufszugehörigkeit auf eine badische Konfessionsstatistik aus den 1890er Jahren, die von Martin Offenbacher in seiner Schrift Konfession und soziale Schichtung ausgewertet und beschrieben worden war, um den eventuellen Zusammenhang zwischen Religion und Berufserfolg genauer zu erforschen. In dieser Studie vertrat der Autor die nachvollziehbare und statistisch belegte Ansicht, dass (badische) Protestanten gegenüber Katholiken „auch beim Kampf ums Fortkommen auf ihrer Seite den Vorteil der besseren Vorbildung“ (Offenbacher, 1901, S. 17) hatten, weil sie weiterführende Schulen besuchten. Dazu ist kurz zu bemerken: Eine bessere intellektuelle Vorbildung bedeutet nicht gleichzeitig beruflichen Erfolg und Weber räumte ein, dass eine konfessionelle Zugehörigkeit nicht als ursächlich für bestimmte ökonomische Entwicklungen angesehen werden kann. Ein beruflicher Erfolg könnte der ökonomischen Entwicklung eventuell auch nachgefolgt sein, weil sowohl ein großer Kapitalbestand als auch erworbene Bildung „an den Besitz ererbten Reichtums oder doch

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einer gewissen Wohlhabenheit gebunden“ (Weber, 1988, S. 19) sein könnten. Mit anderen, einfachen Worten: Selbst ungebildete oder religionslose Söhne oder Töchter von reichen Unternehmern können aufgrund des vererbten Vermögens ein komfortables Leben führen, wie z. B. Fritz Gunter Sachs (1932 – 2011), wenn sie ihre Unternehmen oder Betriebe geschickten und versierten Managern überlassen und von den Ausschüttungen oder Renditen leben. Abgesehen von beruflichen Unterschieden bei verschiedenen Bildungsgraden scheinen sowohl Offenbacher als auch Weber bei der verwendeten Religionsstatistik die religiöse Ursache mit der ökonomischen Wirkung zu vertauschen oder zu verwechseln, denn wenn wir uns die herangezogenen statistischen Erhebungen etwas genauer ansehen, trübt sich das rosarote Bild eines direkten Zusammenhanges von angestammter Religion und beruflichem Erfolg erheblich ins Dunkle ein. Eine unmittelbare Abhängigkeit dieser beiden Komponenten voneinander kann daraus kaum noch ermittelt werden. Sehen wir uns die entsprechenden Zahlen etwas an, um ermessen zu können, wie sich eine Religionszugehörigkeit auf berufliche Chancen auswirken kann: Nach der allgemeinen deutschen Berufszählung von 1895 lebten in Baden 37,0 % Protestanten, 61,3 % Katholiken und 0,9 % Juden, während die prozentualen Anteile im benachbarten Württemberg im Jahr 1880 folgendermaßen aussahen: Protestanten 69,1 %, Katholiken 30,0 % und Juden 0,7 %. Im damals größten deutschen Staat, dem Königreich Preußen, wo seit den 1840er Jahren in dem überwiegend katholischen Ruhrgebiet mit den Steinkohlen-, Stahl- und Maschinenbauindustrien das größte europäische Industriekonglomerat entstanden war, lebten 1884 64,4 % Protestanten, 34,0 % Katholiken und 1,3 % Juden. Wir können also in verschiedenen deutschen Staaten unterschiedliche Anteile der Bevölkerung an bestimmten Religionen feststellen, ohne zu wissen, welche höhere oder niedrigere Schulbildung sie durchlaufen oder welche Berufsabschlüsse sie erhalten haben. Lediglich die Religionszugehörigkeit kann deshalb kein aussagekräftiger Indikator für beruflichen oder industriellen Erfolg sein, auch wenn streng katholische Gläubige vielleicht eine größere Distanz zum finanziellen Reichtum entwickelten und praktizierten. Davon zu unterscheiden ist der unmittelbare Einfluss der Familie: Wenn katholische gegenüber protestantischen Eltern im 19. Jahrhundert ihren Kindern keine höhere Schulbildung ermöglichten, weil sie religiös traditionsbewusst waren und einen sozialen Aufstieg deshalb nicht für

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notwendig hielten, weil ja ohnehin der liebe Gott alles regeln und in die richtigen Bahnen leiten würde, dann wurde eine mögliche Verbesserung der beruflichen Karriere dieser Kinder natürlich negativ beeinflusst und man konnte sich mit der vordergründigen Ausrede trösten, dass sie bestimmt glücklicher seien als ihre sich im täglichen Berufsstress abrackernden Konkurrenten oder arbeitenden Leidensgenossen. Ihnen wurden dadurch berufliche Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt, die sie später, wenn sie dieses ,ethische‘ Verhalten ihrer Eltern als falsch oder unangemessen erkannten, selten aufholen oder kompensieren konnten, wenigstens nicht in einer immobilen Gesellschaft wie etwa dem deutschen Kaiserreich. Die christlichen Religionsgemeinschaften boten selten berufsverbessernde Unterstützung, sondern eher atheistische Gewerkschaften versuchten, Arbeiter weiterzubilden, um sie an sich zu binden. Sowohl katholische wie protestantische Geistliche neigten damals dazu, beruflichen Erfolg als weniger erstrebenswert anzusehen als göttlichen Gehorsam und den gläubigen Menschen wurde eine geistige Vorbereitung auf künftiges Seelenheil in einem himmlischen Paradies anempfohlen. Der schulische Befund, dass Protestanten in Baden 1885/91 häufiger Realgymnasien und Oberrealschulen besucht haben als Katholiken, ist deshalb nicht ausreichend „zur Erklärung der geringen Anteilnahme der Katholiken am kapitalistischen Wettbewerb“ (Weber, 1988, S. 22) und kann die „geringe Anteilnahme der Katholiken an der gelernten Arbeiterschaft der modernen Großindustrie“ (ebd.) nicht vollständig aufhellen oder erklären. Praktizierte Religion allein, nicht einmal ein rigoroser, calvinistischer Protestantismus, kann kein angemessener Maßstab für eine positive oder negative kapitalistische Mentalität sein, was wir leicht daran erkennen können, dass ein überwiegend katholisches und landwirtschaftlich geprägtes Bayern nach 1945 innerhalb weniger Jahrzehnte zur stärksten deutschen Industrieregion aufstieg, obwohl die kirchliche Bindung noch stark war. In diesem überwiegend agrarischen Bundesland konnte nach dem Zweiten Weltkrieg ohne traditionelle Lasten oder Belastungen von nach 1950 unproduktiven, altindustriellen Industriebranchen, die einer Deindustrialisierung unterlagen, wie die Kohlen- und Stahlindustrie, modernste Unternehmen, wie die Auto- und Flugzeugindustrie angelockt und gegründet werden, die einen großen Absatz verzeichneten. Diese hochmodernen Unternehmen siedelten sich in Bayern auch deswegen neu an, weil die Lebensqualität für die Beschäftigen erheblich höher lag als z. B.

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im industrieverschmutzten Ruhrgebiet, wo eine langfristige ökonomische Restrukturierung erfolgen musste, um die ökonomischen Altlasten hinter sich zu lassen. In dieser hohen bayerischen Lebensqualität besteht bis heute ein wesentlicher Grund, warum die Zuwanderung arbeitender Menschen in den Freistaat anhält, die von Politikern fälschlicherweise als ihr Verdienst angesehen und als positives Resultat ihrer Politik hervorgehoben wird. Baden und Württemberg dagegen waren im 19. Jahrhundert industriell massiv gegenüber etwa gleichgroßen Territorien wie etwa Belgien oder das Ruhrgebiet benachteiligt, weil sie über keine massenhaften Steinkohlenvorkommen verfügten, die damals eine unersetzbare Grundvoraussetzung für jede fortschrittliche Industrialisierung darstellten. Nicht Religion, sondern die vorhandene oder fehlende Ausstattung mit natürlichen und technischen Ressourcen, d. h. günstige ökonomische Faktoren, war entscheidend für eine kapitalistische Aufholjagd (vgl. Kiesewetter, 2000, S. 107 ff.). Wir können deshalb feststellen: Kennten wir in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten die genaue Zahl von kleinen, mittleren und großen Unternehmen oder Unternehmern, die Höhe ihrer Konzern-Umsätze, die internationale Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte oder ihre weltweite Vernetzung sowie ihre entsprechende Religionszugehörigkeit, dann könnten wir vielleicht eine vage Vermutung über den möglichen Zusammenhang von Religion und Kapitalismus aufstellen, ohne damit eine Kausalitätsbeziehung herstellen zu können. Doch diese Informationen können wir selbst in einem digitalen statistischen oder elektronischen Zeitalter wohl niemals generieren, weil wir diese empirischen Angaben für Millionen von Unternehmen nicht ermitteln können und statistisch valide Daten erst ab dem 19. Jahrhundert, allerdings auch nur für bestimmte Industriezweige und keineswegs für das Bruttosozialprodukt europäischer oder außereuropäischer Staaten, besitzen. Etwa 500 Jahre früher wäre eine solche statistische Erfassung erst recht unmöglich gewesen, denn damals gab es weder statistische Ämter noch die entsprechenden technischen Voraussetzungen, um solche Daten zu ermitteln und zu berechnen oder in einen Computer einzuspeisen. Wie konnte also die protestantische Reformation oder ihr calvinistischer Ableger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die keineswegs eine baldige Ersetzung feudalistischer Strukturen in deutschen Territorien oder eine zunftunabhängige, freihändlerische Gewerbepolitik anstrebten, eine Ethik

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entwickeln, die dem kapitalistischen Zeitalter nicht nur vorausging, sondern es geistig durchdrang? Wir sollten uns in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen: Die vorrangigen Zeitfragen der evangelischen oder katholischen Kirchen waren während des 16. Jahrhunderts und danach keineswegs einheitlich, denn der Katholizismus kämpfte mit traditionellen, verknöcherten Überhängen eines amoralischen Papsttums, mit Ketzer-, Juden- oder Hexenverfolgungen, ausschweifigem Sexualleben von Bischöfen und Priestern, während der Lutheranische Protestantismus die katholische Institution der Tetzelschen Ablassbriefe zur einträglichen Geldbeschaffung für das riesige Bauwerk der Peterskirche in Rom etc. mit den ethischen Vorgaben des Neuen Testaments für unvereinbar hielt und dagegen protestierte. Daneben versuchte man religiösen Menschen die Heilige Schrift näherzubringen, doch weil das Analphabetentum in den meisten europäischen Staaten verbreitet war, d. h. nur eine Minderheit lesen und schreiben konnte, musste man mit einer plastischen Bildersprache Glaubensinhalte und -überzeugungen vermitteln, um Bibelinhalte unter Christen zu verbreiten. Die größere Lebensfreude und gelegentliche Ausgelassenheit katholischer Gläubiger gepaart mit dem christlichen Armutsideal einiger mönchischer Orden verlieh dem praktizierten Katholizismus eine ausgedehntere Indifferenz gegenüber Wohlstand und Reichtum, zumindest bei einfachen Arbeitern. Ob überzeugte katholische Unternehmerpersönlichkeiten sich in ihrem dynamischen Verhalten von religiösen Motiven beeinflussen ließen, d. h. von „asketischen Ideale(n) der katholischen Lebensführung“ (Weber, 1988, S. 24) gelenkt waren, wie laut Weber von protestantischer Seite kritisch angemerkt wurde, müsste an empirischem Material überprüft werden. Neben Martin Luther und Johannes Calvin hatte bereits der niederländische Humanist und Theologe Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) in mehreren seiner, meist in lateinischer Sprache verfassten, Schriften Habgier und Reichtum moralisch verurteilt sowie die menschliche Arbeit aufgewertet, weil ein christlicher Humanismus eine weitverbreitete Armut nicht einfach hinnehmen könnte und mehr als nur eine diskrete Hilfe für Arme durchführen müsse. Seine liberalen Ansichten stießen nicht nur auf den energischen Widerstand des Reformators Luther, sondern auch auf den von katholischen Geistlichen und Bischöfen, die fast keine anderen Ansichten akzeptieren wollten als die in der Bibel niedergeschriebenen ,Gottesworte‘. Mit ,Kapitalismus‘ hatten diese Gedanken und Ausein-

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andersetzungen weniger zu tun als mit einer angemessenen christlichen Lebensführung in einer stark religiösen Epoche, die sich allerdings im geistesgeschichtlichen Umbruch befand. Wir sollten bei der analytischen Betrachtung der damaligen Umstände folgende, in einem Industriestaat bekämpften Selbstverständlichkeiten berücksichtigen, um wirtschaftliche Ansichten dieses Zeitalters angemessen erfassen zu können: Die strengen Verhaltensmaßregeln für das tägliche Leben in dieser Umbruchszeit waren nämlich keineswegs geprägt von sozialer Fürsorge für unverschuldet ins Unglück geratene Menschen, sondern dienten zum wirksamen Schutz gegen Vagabundiererei und Bettelei: „Die Städte sollten ihre eigenen Armen ernähren, die Landstreicherei nicht dulden und das Betteln nicht gesunden Menschen gestatten“ (Geremek, 1991, S. 220 f.), denn dadurch würden die Armenkassen überfordert und überlastet. Individuelle Eigenverantwortlichkeit der arbeitenden Bevölkerung, wie sie in einem liberalkapitalistischen Gesellschaftssystem als selbstverständlich angesehen wird, wurde im 16. Jahrhundert sowohl in religiösen Gemeinschaften als auch in staatlichen Gebilden nicht praktiziert und war eigentlich für gewöhnliche Bürger unvorstellbar, d. h. nicht durchzuführen. Die gemeinsame, verbindende Klammer in einem Personenverband war nicht der berufliche Erfolg oder eine üppige Lebenshaltung, sondern der organische Zusammenhalt in einer meist kinderreichen Familie, wo oft die Hälfte der Kinder vor Erreichen des 15. Lebensjahres verstarb, was für die Eltern erschütternd gewesen sein musste. Deswegen müssen wir die eigenartige Bedeutung der calvinistischen ,Ethik‘ daraufhin hinterfragen, was sie bei einer Berufssuche oder bei Unternehmertätigkeiten bewirken wollte oder sollte, wenn ihr entsprochen wurde. Selbst Max Weber musste einräumen, dass der in England oder in den Niederlanden – die damals gewerblich fortgeschrittensten europäischen Staaten – praktizierte Calvinismus die „unerträglichste Form der kirchlichen Kontrolle“ (Weber, 1988, S. 20) als auch eine „puritanische Tyrannei“ (ebd.) gewesen sei, die eine kirchlich-religiöse Lebensbeherrschung forderte, die mit der ,Freiheit eines Christenmenschen‘ (Luther) nicht zu vereinbaren war. Es bleibt also zu erörtern, wann und in welcher Form dieser religiöse Einfluss der calvinistischen Ethik auf wirtschaftliche Aktivitäten eingesetzt und welche konkreten Veränderungen er etwa im Merkantilismus (vgl. dazu das vorige Kapitel) bewirkt hat? Max Weber lässt keinen Zweifel daran, dass in seiner ,Gegenwart‘, d. h. Anfang des 20. Jahrhunderts, der kapitalistische ,Geist‘ „als ein reines

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Anpassungsprodukt“ (ebd., S. 55) oder einfach „als Teilerscheinung in der Gesamtentwicklung des Rationalismus“ (ebd., S. 61) angesehen werden muss und im modernen ökonomischen Daseinskampf von einer einheitlichen ,Weltanschauung‘ keine Rede mehr sein konnte. Deshalb distanzierte er sich von der ihm gelegentlich unterstellten Ansicht, „daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation“ (ebd., S. 83. Hervorhebung im Original) sei, denn wichtige Formen kapitalistischer Tätigkeit seien wesentlich früher aufgetreten, d. h. kapitalistisch orientierte Wirtschaftsgesellschaften habe es schon lange vor dem Calvinismus gegeben, weshalb man sie vernachlässigen konnte. Wenn allerdings der moderne kapitalistische ,Geist‘ bzw. die moderne, industrielle Kultur als konstituierender Bestandteil einer rationalen Lebensführung aus „dem Geist der christlichen Askese“ (ebd., S. 202. Hervorhebung im Original) erwachsen gewesen sein soll, dann erweist sich die hier gestellte Forderung nach einer zeitlichen und inhaltlichen Abgrenzung als drängendes Problem, selbst wenn der siegreiche Kapitalismus dieser religiösen oder ethischen Stützen nicht mehr bedurfte, weil er andere Verhaltensformen ausprägte. Wir sollten die Zeit- oder Inhaltsdimensionen eines industriellen Durchbruchs berücksichtigen, sonst laufen oder drehen wir uns argumentativ in einem unaufhaltsamen Hamsterrad, ob der kapitalistische Geist dem Kapitalismus vorausgegangen ist oder ob ein ,Kapitalismus‘ den kapitalistischen Geist erzeugt hat. Eine „spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ (ebd., S. 23), auf die Max Weber verschiedentlich zu sprechen kommt, besaßen zweifellos auch Merkantilisten oder merkantilistische Regierungen, doch sie war weder beruflich noch reformatorisch-religiös besonders geprägt oder theoretisch ausgearbeitet, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben. Das vorrangige Ziel merkantilistischer Politik bestand darin, durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten vor allem den staatlichen Reichtum zu vergrößern, wie oben ausgeführt, ohne besondere religiöse Absichten außerhalb der Glaubenspraxis. Der streng katholische Colbertismus hat diese wirtschaftlichen Motive nach Geld- und Golderwerb in höchster Reinheit verkörpert, d. h. er entsprang eher dem unbändigen Durchsetzungswillen einer autoritären staatlichen Politik als einer asketischen oder religiösen Haltung, die sich auf irgendeine christliche Lehre stützte. Katholische wie hugenottische – oder in Österreich protestantische – Arbeiter mussten sich dieser staatlichen Allmacht entweder beugen oder wurden dazu gezwungen, d. h. sie kannten keine Berufspflicht, denn eine freie Selbstbe-

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stimmung in ihrer beruflichen Tätigkeit wurde ihnen von autoritären, staatlichen Instanzen verwehrt oder vorenthalten. Max Weber erwähnt, ohne detailliert darauf eingehen zu können oder zu wollen, dass schon die christliche, mittelalterliche Ethik „tatsächlich bereits mit an der Schaffung der Vorbedingungen kapitalistischen Geistes gearbeitet“ (ebd., S. 58, Anm. 1. Hervorhebung im Original) habe. Ob damit ein kapitalistisches Gewinn- oder Profitstreben verbunden war, das sich schließlich in neuen Produktionsverfahren und einer völlig veränderten Produktionsstruktur niederschlug, lässt er offen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der Ausdruck ,Kapitalismus‘ für ganz unterschiedliche Wirtschaftsformen gebraucht wurde und wird, d. h., um kapitalistische Perioden inhaltlich zu unterscheiden, müssen wir die sozialen, ökonomischen und politischen Ursachen und Folgen genau auseinanderhalten, sonst verlieren wir uns in Allgemeinplätzen oder Banalitäten. Die Webersche Aussage: „Wer sich in seiner Lebensführung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpaßt, geht unter oder kommt nicht hoch“ (Weber, 1988, S. 56), lässt sich auch auf präkapitalistische Wirtschaftsformen anwenden, sofern ,kapitalistisch‘, als gewinnträchtiges Handeln angesehen wird. Der moderne Kapitalismus benötigt erheblich mehr und andere Faktoren, um sich auf längere Dauer durchzusetzen und erfolgreich zu sein. Eine ausgesprochen traditionelle, von feudalistischen, ständestaatlichen oder religiösen Motiven bestimmte Lebensführung verhinderte nämlich in vielen europäischen Staaten jahrhundertelang den allmählichen Übergang von einem handwerklich oder verlagsmäßig dominierten Gewerbesystem zum Industriekapitalismus mit einer arbeitsteiligen Technik und massenhafter Produktion. Diese vorkapitalistische, profitorientierte Lebensweise ist deshalb m. E. keineswegs eine charakteristische Erscheinung, „in welcher der moderne Kapitalismus, zum Siege gelangt, sich von den alten Stützen emanzipiert hat“ (ebd.), sondern sie ist lediglich eine ,Emanzipation‘ von religiösen ,Krücken‘, die etwa durch das lange aufrechterhaltene Zinsverbot der katholischen Kirche oder die Reichtumsgegnerschaft des Reformators Martin Luther praktiziert worden war und durch eine aufklärerische Liberalisierung allmählich beseitigt oder überflüssig gemacht wurden. Der moderne Kapitalismus benötigte weder eine protestantische ,Ethik‘ noch eine religiöse Lebensführung, um seinen mächtigen kapitalistischen Palast errichten zu können, sondern er musste sich eher von diesem ,Ballast‘ trennen und befreien, um rationelle Entscheidungen für

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eine profitable Wirtschaftsorganisation zu treffen. In dieser produktiven Effizienz liegt wohl auch der wichtigste Grund dafür verborgen, warum seine religiösen oder marxistischen Gegner ihn zu verteufeln versuchten und ihm unterstellten, dass er eigentlich Arbeiter nur ausbeuten und unterdrücken wolle. Dagegen ist die Webersche Ansicht durchaus zutreffend, dass Johannes Calvin (1509 – 1564) und die Calvinisten von der religiösen Idee durchdrungen waren, dass eine größere Gruppe von Arbeitern ihre Berufstätigkeit in majorem gloriam Dei, d. h. zum höheren Ruhme Gottes, ausgeübt haben, um einen ethischen oder religiösen Anspruch zu erfüllen. Daraus folgert Max Weber, dass ein asketischer Protestantismus dem Berufstätigen nicht nur eine certitudo salutis, d. h. eine psychologische Prämie, seiner glaubensbedingten Bewährung verliehen hat, sondern dass eine solche Haltung einem katholischen Arbeiter fremd geblieben sei, weil er seine Religion getrennt von seiner Berufstätigkeit praktiziert habe. Diese religiöse Erwähltheit könnten wir in „den stahlharten puritanischen Kaufleuten jenes heroischen Zeitalters des Kapitalismus“ (Weber, 1988, S. 105) wiederfinden, womit wahrscheinlich die reichen Handelsbarone gemeint sind, obwohl der geld- und goldreiche Augsburger Jakob Fugger ein erzkatholischer Kaufmann war und noch heute die von seiner Stiftung unterstützten Bewohner der Fuggerstadt für sein ewiges Seelenheil beten sollen. Wenn wir von der mittelalterlichen Vorstellung ausgehen, dass diese mönchsethischen ,Eigenschaften‘ bei diesen religiösen Menschen vorhanden gewesen sind, nämlich eine „Kontinuität zwischen außerweltlichen Mönchsaskese und innerweltlicher Berufsaskese“ (ebd., S. 117, Anm. 2), so wissen wir trotzdem nicht genau, wie sie ihren schnöden Berufsalltag beeinflusst haben und ob etwa ihre geschäftlichen Berechnungen davon beeinflusst oder bestimmt wurden. Für einen sowohl mit der griechischen wie römischen Antike als auch mit neueren Entwicklungen vertrauten, wirtschaftshistorisch versierten Denker und Wissenschaftler wie Max Weber konnte kein berechtigter Zweifel darüber bestehen, dass diese ,Mönchsaskese‘ in einer späteren Zeit als dem 16. oder 17. Jahrhundert durch innerweltliche Anforderungen eines modernen Betriebslebens verlorengegangen waren und durch eine kapitalistische ,Wirtschaftsethik‘ ersetzt worden ist, die von religiösen Anklängen weitgehend frei war. Es sind also unterschiedliche ,Ethiken‘, die wir in verschiedenen Wirtschaftsepochen antreffen oder ausfindig machen können, die deshalb auch höchstwahrscheinlich unterschiedlich

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gewirkt haben. Wenn wir uns allerdings die industrielle Realität in verschiedenen europäischen Staaten im 19. und 20. Jahrhundert ansehen, ganz unabhängig von der in ihnen dominanten Religion, dann müssen wir wohl einräumen, dass ein ausgebildeter, protestantischer oder katholischer Handwerker in einem industriellen Beruf oder ein leitender Unternehmer überwiegend in den organisatorisch vorgestanzten Arbeitstrott seiner handwerklichen Tätigkeit oder den vom internationalen Produktenabsatz bestimmten Betriebsabläufen in Unternehmen eingespannt und ausgefüllt waren. Außerdem propagierten sowohl marxistische wie sozialistische Parteien einen Atheismus, weil sie Religion als Opium oder Droge für unaufgeklärte Menschen ansahen, die als mündige Bürger selbstbestimmt agieren sollten. In die tägliche Arbeitsmühle eingespannte Arbeiter konnten wohl kaum daran denken, ob ihre durch individuelle Antriebe beeinflusste Berufstätigkeit von sozialethischen Kategorien durchtränkt war oder ihnen ethische Fesseln anlegte. Ich kann mir auch bei Industriearbeitern nur schwer vorstellen, wie ein ethischer Impuls bei ihren arbeitstechnischen Entscheidungen „von konstitutiver Bedeutung“ (ebd., S. 36) gewesen sein soll und ihren beruflichen Alltag bestimmt hat.4 Das berufsmäßige Fachmenschentum (Weber), d. h. die vollständige Identifikation des arbeitenden Menschen mit seinem ausgeübten Beruf, war bis zum 19. Jahrhundert eine ausschließliche, kulturbeherrschende Ausprägung okzidentaler Gesellschaften, weswegen wir nachfragen können und wollen, welchen dynamischen oder sogar revolutionären Einfluss es auf die allmähliche Durchsetzung einer kapitalistischen Wirtschaft ausgeübt hat. Max Weber behandelt diese Frage recht ausführlich und ordnet neben vielen anderen Aspekten ethischer Lebensgestaltung dem ausgeübten Beruf, der Berufung, eine religiöse Neigung zu, einer „von 4 Max Weber muss diese realitätsbedingte Schwierigkeit zumindest geahnt haben, denn er äußert sich dort einschränkend: „Und noch weniger soll natürlich behauptet werden, daß für den heutigen Kapitalismus die subjektive Aneignung dieser ethischen Maxime durch seine einzelnen Träger, etwa die Unternehmer oder die Arbeiter der modernen kapitalistischen Betriebe, Bedingung der Fortexistenz sei.“ (Ebd., S. 36 f. Hervorhebung im Original). Zu welchem historischen Zeitpunkt, wenn wir den modernen Kapitalismus mit der englischen industriellen Revolution beginnen lassen, ist dieser einstellungsbedingte Umschlag denn eingetreten? Und würde Weber einräumen, dass wir vor dieser ,subjektiven Aneignung‘ nicht von ,Kapitalismus‘ sprechen dürfen? Diese für uns entscheidende Frage, seit wann und aufgrund welcher Bedingungen gab es einen modernen Kapitalismus, wird von Weber weder gestellt noch in anderen Zusammenhängen beantwortet.

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Gott gestellten Aufgabe“ (ebd., S. 63. Hervorhebung im Original), die natürlich nur von Gläubigen so aufgefasst werden konnte. Er beabsichtigte damit, auf „die Zusammenhänge der religiösen Grundvorstellungen des asketischen Protestantismus mit den Maximen des ökonomischen Alltagslebens“ (ebd., S. 163) hinzuweisen, doch wenn wir nüchtern den nervenaufreibenden Berufsalltag von abhängigen Landarbeitern im Feudalzeitalter mit dem in industriellen Fabriken im 19. oder 20. Jahrhundert vergleichen, dann erkennen wir einen tiefen, unüberwindbaren Graben religiöser Bindung zwischen diesen beiden Berufsgruppen, der m. E. nicht zugeschüttet werden kann. Vielleicht können wir sogar auch für frühneuzeitliche Perioden behaupten, dass protestantische oder katholische Berufstätige, selbst wenn sie mit ihrem Glauben eng verbunden waren und ihn regelmäßig praktizierten, wohl in den seltensten Fällen eine gottgefällige „Erfüllung der innerweltlichen Pflichten“ (ebd., S. 69) angestrebt haben, sondern eher notgedrungen einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die meisten Aktivitäten oder Berufstätigkeiten von arbeitenden Menschen seit der Antike entstanden nicht durch eine bewusste Entscheidung für diese oder jene Arbeit, sondern waren überwiegend von einem unausweichlichen Schicksal auferlegt, dem man in der kurzen Lebensperiode nicht entrinnen konnte, wenn man seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen musste. Bei arbeitenden Sklaven gab es überhaupt keinen beruflichen Entscheidungsspielraum, doch selbst bäuerliche Knechte im Feudalzeitalter, auch wenn sie streng religiös lebten, konnten keinen selbstgewählten beruflichen Lebensweg einschlagen oder auf ihn ganz verzichten. Berufe waren nicht durch irgendeine göttliche Vorsehung (Thomas von Aquin) zugeteilt worden, sondern den meisten Menschen durch übergeordnete Instanzen, wie etwa der Feudalaristokratie, aufgezwungen worden, weshalb sie sich meistens in einem beruflichen Korsett befanden, aus dem sie sich nicht befreien konnten. Entweder verrichtete man ,bezahlte‘ Arbeit – die in der Landwirtschaft teilweise auch mit Nahrung ,entlohnt‘ wurde – oder man hungerte bzw. bettelte, um wenigstens eine kleine Nahrungsmenge verspeisen zu können. Der paulinische Satz ist unter diesen Bedingungen in seiner Einfachheit enthüllend und für religiöse Menschen eine moralische Zumutung, wenn wir ihn wörtlich nehmen: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (Bibel, 2001, 2 Thess. 3,10), d. h. diejenigen, die ein „unordentliches Leben“ führen, müssen entweder zur Arbeit gezwungen werden oder verhungern.

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Die anschließende Schelte, dass man im Namen Jesu einer regelmäßigen Arbeit nachgehen soll, um „selbst verdientes Brot zu essen“, erinnert uns frappant an merkantilistische ,Grundsätze‘ des Arbeitszwanges oder einer zwangsweisen Einlieferung in ein freiheitsberaubendes Arbeitshaus. Selbst wenn man Paulus zugesteht, dass er in eschatologischer Erwartung des nahen Weltenendes seinen „Brüdern nicht als Armer lästig“ (Weber, 1988, S. 75) fallen wollte, erscheint sie nicht als eine sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens. Es kann wohl nicht an folgender Erkenntnis gezweifelt werden: Unsere Berufsauffassungen haben sich in den letzten 250 Jahren dramatisch verändert und berühren religiöse Empfindungen gläubiger Menschen nur noch marginal, d. h. für den beruflichen Alltag gewinnen sie keine überragende praktische Bedeutung mehr, sondern sind eher Privatsache geworden. Beruf und Religion sind in industriellen Tätigkeiten weitgehend voneinander geschieden oder Arbeiter kehren, aus unterschiedlichen Gründen, doch selten arbeitsbedingt, ihrer Religionsgemeinschaft ganz den Rücken zu, vor allem nach der erschütternden Aufdeckung von Missbrauchsskandalen in der katholischen wie evangelischen Kirche. Die meisten arbeitenden Menschen empfinden es heute wohl als eine eigenartige und befremdliche Vorstellung, wenn vor etwa 160 Jahren von Victor Böhmert 1862 behauptet wurde, dass selbst die arbeitenden Klassen durch das Christentum nicht nur befreit wurden, sondern dass eine befriedigende oder unbefriedigende Arbeit „der Stolz und die Zierde jedes Bürgers sein müsste, möge er Gelehrter oder Künstler, Kaufmann oder Fabrikant, Handwerker oder Fabrikarbeiter, Diener des Staats oder eines Privatmanns sein“ (Böhmert, 1965, S. VI). Die unterschiedlichen Freiheitsgrade industrieller Berufstätigkeit – Gelehrte, Pfarrer oder Künstler brauchten sich darüber keine intensiven Gedanken zu machen, denn sie können ihre Berufstätigkeit weitgehend frei gestalten – sind nicht erst seit Karl Marx angezweifelt worden, denn „die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ (Weber, 1988, S. 7. Hervorhebung im Original) war nicht nur weitgehend losgelöst von religiös verwurzelten Instanzen, sondern für die Betroffenen lediglich eine zwangsbehaftete Notwendigkeit. Wegen dieser getrennten Bereiche von Beruf und Religion im Industriezeitalter halte ich es für zweifelhaft, ob der entstehende Kapitalismus Arbeiter brauchte, „die um des Gewissens willen der ökonomischen Ausnutzung zur Verfügung standen“ (ebd., S. 201, Anm. 4. Hervorhebung im Original), wie es von Max Weber formuliert wird, denn von Arbeitge-

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berseite wurden Beschäftigte, ehe Gewerkschaften sich für ihre sozialen und betrieblichen Rechte einsetzten, gewissenlos ausgenutzt und schlecht bezahlt. Dagegen ging die ,gewissenhafte‘Arbeitswilligkeit des Proletariats selten über die verlangten Anforderungen hinaus, wie der verbreitete Blaue Montag belegt, der seit den Anfangsphasen des Industriekapitalismus lange praktiziert und erst nach einer erheblichen Verbesserung der Lebensverhältnisse nicht mehr in großem Maßstab ausgeübt wurde. Dieser ,freie‘ Arbeitstag, oft wegen zu viel Alkoholkonsum am Wochenende nach der Lohnauszahlung am Freitag, wurde teilweise über mehrere Tage ausgedehnt, was einer umfassenden ,ökonomischen Ausnutzung‘ durch Arbeitgeber widerspricht. Der moderne europäische Kapitalismus war m. E. nicht „erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation bedingt“ (ebd., S. 8), sondern die bereits erwähnten ökonomischen, organisatorischen u. a. Faktoren spielten eine bedeutendere Rolle für dessen praktischer Durchsetzung in einem fortgeschrittenen Stadium. Einen modernen Gegensatz zwischen großindustriellen Unternehmen und ,freien‘ Lohnarbeitern hat es in der vorkapitalistischen Periode weder in europäischen noch in außereuropäischen Staaten gegeben, während die industrielle Arbeitsorganisation seit dem 19. Jahrhundert auf technischen Grundlagen und der staatlichen Gewerbepolitik einer freiheitlichen Wirtschaft beruhte, die frühere Epochen nicht kannten. Bei einer theoretischen Analyse der europäischen Universalgeschichte oder der kulturellen und wirtschaftlichen Evolution des modernen Kapitalismus sehe ich, anders als Max Weber, das zentrale Problem nicht in der „Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit“ (ebd., S. 10. Hervorhebungen im Original), sondern in dem umstürzenden Zusammenspiel gesellschaftlicher, technologischer und ökonomischer Entwicklungen, die eine neue Ökonomie und Gesellschaft als etwas vorher nie Dagewesenes ausprägten, mit allen Unwägbarkeiten und Belastungen. Moderner Kapitalismus hatte also nur noch wenige inhaltliche Berührungspunkte mit den verschiedenen Formen alter Kapitalismen, die m. E., um falschen Zuordnungen zu entgehen, anders bezeichnet werden sollten, um begriffliche Verwechselungen zu vermeiden. Einfache Berufstätigkeiten, ohne hohe technische Fertigkeiten oder organisatorische Anforderungen, gab es nämlich seit uralten Zeiten und es scheint durchaus nachvollziehbar, dass berufstätige Menschen, ob sie nun primitivere oder kompliziertere Geräte oder Werkzeuge herstellten, einer gewissen Rationalität oder intellektuellen

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Berechenbarkeit fähig sein mussten, auch um die von ihnen entwickelten praktischen Möglichkeiten anzuwenden. Einfache Stein- und Metallwerkzeuge waren natürlich noch weit entfernt von technologisch ausgereiften Maschinen, d. h. die rationellen Ansprüche an menschliche Arbeit im Industriezeitalter können kaum noch verglichen werden mit früheren Epochen, denn die technologischen Umwälzungen auf der theoretischen Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse schufen eine neue Arbeitswelt und ungekannte Arbeitsbelastungen. Max Webers ,Leitmotiv‘ der kapitalistischen Kultur drückt sich in Tugenden wie Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Mäßigung, Tüchtigkeit, Wahrheit etc. aus, doch in einer über ethische Deklamationen hinausgehenden Analyse kapitalistischer Verhältnisse werden wir mit der arbeitsrelevanten Frage konfrontiert, ob arbeitende Menschen – ganz abgesehen von Produzenten oder Unternehmern mit ihrem unablässigen Streben nach kapitalistischem Gewinn – bei ihrem täglichen Kampf zur unzureichenden Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse von solchen divergenten Forderungen überhaupt berührt wurden oder sie praktizieren konnten. Es ist nämlich äußerst schwierig, für irgendeinen konkreten Arbeitsprozess herauszufinden, wie durch „den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologische Antriebe“ (Weber, 1988, S. 86. Hervorhebung im Original) die individuelle Lebensführung als rationale Askese beeinflusst oder tangiert wurde. Die durchgreifende Revolutionierung des Produktionssystems durch produktivitätssteigernde Erfindungen und ihre industrielle Umsetzung, also fachterminologisch Invention und Innovation, verlieh dem modernen Kapitalismus nicht nur ungewöhnliche Alleinstellungsmerkmale, die es vorher nicht gegeben hatte, sondern er riss auch religiös gebundene oder ungebundene Beschäftigte in den technologischen Strudel der absatzbedingten Zweckmäßigkeit und der tugendfernen Konkurrenz. Von sozialistisch-religiöser Warte aus besteht in höherer industrieller Produktivität allerdings ein verhängnisvoller Widerspruch, denn je freier die nationalökonomische Entwicklung vorangetrieben werde, desto ungleicher und abhängiger sei die wirtschaftliche Lage der abhängigen Klassen: „Es müssen dann Erscheinungen wie Handelskrisen und Pauperismus auftreten.“ (Hohoff, 1919, S. 303. Hervorhebung im Original). Die ökonomische Krisenanfälligkeit von Wirtschaftsbranchen ist eine unvermeidbare Begleiterscheinung des Industriekapitalismus, auf die später eingegangen wird, weil ich hier dem branchenbedingt unter-

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schiedlichen Produktionsprozess noch einige Gedanken widmen möchte, der während der Industrialisierung durch hochtechnologische Verfahrensweisen grundlegend umgewälzt wurde. Die industriellen Betriebsformen von größeren Fabriken und Unternehmen haben sich im frühen, mittleren und späten Kapitalismus so stark verändert und gewandelt, dass die betroffenen Menschen in den meisten Fällen andersartige Berufsqualifizierungen erwerben mussten, um den gestiegenen Arbeitsanforderungen oder der -intensität gerecht zu werden, um eine vorzeitige Entlassung oder eine tarifliche Herabstufung zu vermeiden. Deshalb halte ich es für unwahrscheinlich, dass „dem einmal im Sattel sitzenden Kapitalismus die Rekrutierung seiner Arbeiter in allen Industrieländern und innerhalb der einzelnen Länder in allen Industriegebieten verhältnismäßig leicht“ (Weber, 1988, S. 46) gefallen ist. Üblicherweise war nämlich die konkrete Situation in den meisten Fabriken so, dass ein enormer Arbeitsdruck, um den trotz langer Arbeitszeiten und oft großer Kinderzahl selten ausreichenden Lebensunterhalt zu bestreiten, zu einem beruflichen Anpassungsverhalten führte, dem man sich in einem über Jahrzehnte erstreckenden Arbeitsleben kaum verweigern konnte. Max Weber vermutete, um seine erwähnte These von einer ,leichten Rekrutierung‘ zu stützen, dass arbeitende Menschen in vorindustrieller Zeit ,fauler‘ und ,müßiger‘ gewesen seien, weniger an hohen Lohnsätzen durch zusätzliche Arbeit interessiert, wenn ihr bisheriger Verdienst zum Lebensunterhalt ausreichte. Eine präkapitalistische, wirtschaftliche Arbeitsmoral, wie sie etwa in der feudalen Landwirtschaft anzutreffen war und praktiziert wurde, ist jedoch kaum vergleichbar mit den hohen Produktionsanforderungen und den intensiven Arbeitsleistungen des kapitalistischen Zeitalters, denen Arbeiter ausgeliefert waren. Aus diesen Gründen wird eine unangemessene Vorstellung verbreitet, wenn man wie Weber annimmt, dass der kapitalistische Arbeitszwang auf „unendlich zähen Widerstand“ (ebd., S. 45) von in die Industrie geschleuderten Landarbeitern stieß, die ihre vorindustrielle, angeblich bequemere Lebensweise aufgeben mussten, wenn sie in einer (städtischen) Fabrik arbeiteten. Die tatsächliche Situation sah eher so aus: Viele bäuerliche Arbeiter konnten sich nicht auswählen, ob sie auf dem Land bleiben oder in die Industriestädte ziehen wollten, sondern sie wurden dazu gezwungen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, Industriearbeiter zu werden und mussten sich notgedrungen diesem ,kapitalistischen‘ Schicksal fügen, weil sie auf dem Land nicht mehr gebraucht, d. h. ar-

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beitslos wurden. Die endgültige Durchsetzung des modernen Kapitalismus war m. E. ein qualitativer Quantensprung, der sich außerdem von Periode zu Periode sowie von Industriebranche zu Industriebranche grundlegend unterschied, weswegen sittliche oder religiöse Motive eine viel geringere Rolle spielten als der theoretische Rückgriff auf einen calvinistischen Geist uns nahelegen möchte. Die scheinbar behagliche Lebensweise der vorindustriellen Zeit wich nicht nur „harter Nüchternheit“ (ebd., S. 52) und ausgeprägtem Rationalismus im Kapitalismus, sondern den traditionellen und modernen Menschen begegneten andere, voneinander verschiedene ,Nüchternheiten‘, von denen andersartige Lebenseinstellungen hervorgerufen und erzeugt wurden, die kaum gemeinsame Merkmale aufweisen. Dazu ein ernüchterndes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert: In der den Kapitalismus fast zerstörenden Weltwirtschaftskrise nach 1929 wurde die begeisternde Idee einer Durchrationalisierung des Produktionsprozesses von vielen Ökonomen zugunsten einer angeblich geistigen Erneuung fallengelassen: „Ein vollrationalisierter Geist ist aber kein echter kapitalistischer Geist mehr.“ (Sombart, 1932, S. 8). Um unsere kurzen Überlegungen zum Weberschen ,Geist des Kapitalismus‘ abzuschließen, mag ein aktueller Gedanke erlaubt sein, der sich auf eine veränderte Arbeitswelt bezieht: Der gegenwärtige Kapitalismus in hochindustrialisierten Staaten, die durch ein ausgebautes Sozialsystem ein weitgehend abgesichertes Wohlstandsniveau erreicht haben, das für die arbeitende Bevölkerung im 19. Jahrhundert unvorstellbar war, bleibt trotz einer weltweiten Globalisierung von Unternehmen weiterhin geprägt von Berufsarbeit, selbst wenn die Beschäftigtenanteile in den Dienstleistungsberufen die Industriearbeit weit hinter sich gelassen haben. Ob jemand Angestellter oder Arbeiter ist, ändert nichts Wesentliches an seiner beruflichen Karriere, es sei denn, er/sie kann sich zu einer Führungskraft mit außergewöhnlichem Einkommen hocharbeiten, die ihre finanzielle Unabhängigkeit garantiert. Max Weber würde heute wohl nicht mehr von einer ,rastlosen Berufsarbeit‘, ob in der Landwirtschaft, im Handel oder in der Industrie, sprechen, um an „der rationalen Gestaltung des uns umgebenden Kosmos“ (Weber, 1988, S. 101) mitzuwirken, denn der tägliche Erhalt der familiären Lebenskraft wird in den meisten kapitalistischen Staaten nicht mehr ausschließlich durch die Berufstätigkeit bestimmt, sondern Freizeitaktivitäten nehmen einen ständig größeren Raum ein. Eine „innerweltliche Askese“ (ebd., S. 158) zur rationalen Lebensführung ist für die meisten Menschen in unseren Dienstleistungsgesellschaften so

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fremd geworden wie das religiöse Versprechen eines himmlischen Paradieses, denn die gefühllosen Realitäten ihrer nüchternen Arbeitswelt werden sachlich zu bewältigen versucht, auch wenn es manchmal emotional oder sexistisch zugeht. Auf der industriellen Leitungsebene von Großkonzernen sehen seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse anders aus, seit Privatunternehmer in großer Zahl von Managern abgelöst wurden, die vorwiegend Leitungsaufgaben in Aktienunternehmen übernehmen oder hochdotierte Aufsichtsratsposten ergattern und vom Shareholder Value getrieben werden. Zwar können wir weiterhin Unternehmer- oder Managertypen ausfindig machen, die ihr sittliches Minderwertigkeitsgefühl durch ein verstärktes Profitstreben zu kompensieren versuchen, doch innerweltliches Handeln ist offenbar vollständig abgekoppelt von religiösen Motiven oder Vorgaben, seitdem der globale Konkurrenzkapitalismus sich weltweit durchgesetzt hat. Weltliche Berufsarbeit als „das geeignete Mittel zum Abreagieren der religiösen Angsteffekte“ (ebd., S. 106) mögen überzeugte Calvinisten als glaubensadäquat angesehen haben, im gegenwärtigen kapitalistischen Alltag scheinen solche psychologischen Eigentümlichkeiten eher hinderlich für einen beruflichen oder finanziellen Erfolg zu sein. Ein durchrationalisierter Produktionsablauf in einer globalisierten Ökonomie benötigt keine „mystische Kontemplation“ (ebd., S. 107, Anm. 2) mehr, was noch einmal drastisch verdeutlicht, wie weit wir uns inzwischen von allen früheren Formen von ,Kapitalismen‘ entfernt haben und wie der moderne Kapitalismus unsere gesamte Lebensweise verändert hat und unser zukünftiges Lebensprojekt umgestalten wird. Weniger als ein Jahrzehnt nach Max Webers Kapitalismusaufsatz schrieb der akademische Kritiker und Breslauer Weggefährte von Werner Sombart, Julius Wolf (1862 – 1937), um auf die veränderte Situation hinzuweisen: „Nicht durch die Juden und nicht durch die Lehre Calvins wurde der kapitolinische Geist in die Welt getragen, sondern der Markt hat diese Rolle übernommen, hat die ,Vorsehung‘ des bürgerlichen Wirtschaftsstaat gespielt.“ (Wolf, 1912, S. 68).5 5

Der deutsche Publizist Rudolf Meyer (1839 – 1899) schrieb etwa ein Jahrzehnt früher in einem antisemitischen und antikapitalistischen Duktus: „Die gottgewollte Mission der zum Mammonscultus vom Glauben ihrer Väter, der Propheten, abgefallenen, nicht der gläubigen und also redlichen Juden auf unserem Continent ist offenbar, den Capitalismus durch seine Uebertreibung zu beseitigen, wenn die herabgekommene europäische Menschheit dazu nicht auf anderen Wegen

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III. Werner Sombarts Wirtschaftsgesinnung Im Folgenden möchte ich auf die theoretischen Überlegungen zur kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung des wohl bekanntesten Kapitalismusforschers des 20. Jahrhunderts eingehen, der sich leider in seinen letzten Lebensjahren dem Nationalsozialismus angenähert hat, ohne dafür rechtfertigende Gründe anzugeben. Der ein Jahr ältere Wirtschaftshistoriker Werner Sombart (1863 – 1941), der wissenschaftliche Antipode von Max Weber, der diesen um mehr als zwei Jahrzehnte überlebte, hat 1913 in seinem Buch Der Bourgeois dem ,kapitalistischen Geist‘ eine ,Wirtschaftsgesinnung des Kapitalismus‘ gegenübergestellt, wohl um den Weberschen Überlegungen entgegenzutreten und eine eigene ,Theorie‘ zu verbreiten. Nach Max Schelers im Jahr 1915 geäußerten Ansicht war dieses Buch „trotz des kühlen, nüchternen Tons in zehnter Potenz furchtbarer als alle Anklagen und alles Wutgebrüll der herrschenden sozialistischen Parteien Europas und ihrer Theoretiker zusammengenommen“ (Scheler, 1955, S. 345 f.).6 Diese ökonomische ,Gesinnung‘ ging nicht mehr von einer innerweltlichen Askese des reformatorischen Zeitalters oder einer Entzauberung der Welt durch eine rationalisierte Lebensführung aus, sondern Sombart wollte die psychologischen Antriebe, die das neue Industriesystem begleitet haben, stärker herausarbeiten und inhaltlich analysieren. So behauptete der durch seine umfangreichen Kapitalismusstudien berühmt gewordene Autor zum Beispiel: „Der Protestantismus bedeutet zunächst auf der ganzen Linie eine ernste Gefahr für den Kapitalismus und insbesondere die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung“ (Sombart, 1988, S. 244), denn dieser sei weltlich und diesseitig ausgerichtet, während ein echtes religiöses Gefühl dem Jenseits zugewandt sei und ein freuderfülltes und ausschweifendes Leben auch der calvinistischen Gottesfurcht widerspreche. Vielleicht vertrat er wegen dieser christlichen gelangen kann. Bei Erfüllung dieser providentiellen Aufgabe sollten die Antisemiten die Juden doch ja nicht stören!“ (Meyer, 1894, S. 233). 6 Nach Max Scheler ist es nicht die Profitgier der Kapitalisten oder die zunehmende Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems, die zu dessen definitiven Nieder- oder Untergang beitragen, sondern dass der bourgeoise Typus Mensch seine lange aufrechterhaltene Herrschaft verliert und ausstirbt: „Handelt es sich bei der Überwindung des Kapitalismus um die Verdrängung eines bestimmten Typus [eben des Bourgeois, H.K.] und seiner Ideale aus der Herrschaft, so ist ja auch nur von solchen Wandlungen und nicht vom Siege einer bestimmten ,Klasse‘ oder ,Partei‘ irgend etwas zu erwarten.“ (Scheler, 1914, S. 944. Hervorhebungen im Original).

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Abneigung gegenüber dem Kapitalismus etwa zwei Jahrzehnte später die areligiöse und materialistische Überzeugung: „Germanen und Juden scheinen diejenigen Völker oder Rassen zu sein, die zur Entfaltung des kapitalistischen Wesens besondere Eigenschaften mitbringen.“ (Sombart, 1931, S. 88). Ausdrücklich richtete der Ökonom Sombart seine analytische Sonde auf den modernen Kapitalismus, obwohl er weit in die Geschichte zurückgreift, denn seine geistesgeschichtlichen Untersuchungen sollten zu „einer Analyse und Kritik unseres [kapitalistischen] Zeitgeistes“ (Sombart, 1988, S. 5) führen und zur unerschütterlichen „Untermauerung der seelischen Analyse“ (ebd.) des modernen Wirtschaftssystems und -menschen, eben des Bourgeois. Dazu möchte ich folgende, realistische Bemerkung machen: Wenn Maschinen, Fabriken oder Transportmittel ohne eine sittliche Grundlage aufgrund von technischen Errungenschaften geschaffen werden können, dann müssen wir uns fragen, an welchen Stellen oder in welcher Art und Weise das Geistige oder Ethische im Wirtschaftsleben auftritt und wie es etwa den handelnden Unternehmer in seinen wirtschaftlichen Aktivitäten beeinflusst oder sogar steuert. Wir haben schon einige Male darauf hingewiesen, dass Werner Sombart der logischen Stimmigkeit seiner Thesen weniger Bedeutung beizulegen schien als der dramatischen oder sogar sensationellen Interpretation seines historischen Stoffes, was äußerst aktuell erscheint. So auch in seiner Bourgeois-Schrift, denn in dem Kapitel über den „Anteil der sittlichen Mächte am Aufbau des kapitalistischen Geistes“ vertrat er die angeblich unbezweifelbare Überzeugung: „Niemals können Wirtschaftsformen aus sittlichen Bestrebungen irgendwelcher Art entspringen … Keine sittliche Macht der Welt kann aus einem Troddel ein Genie machen; keine aus einem Träumer einen Rechner“ (ebd., S. 269. Hervorhebung im Original). Vielleicht ist es für den Leser erhellend, auch wenn er wie ich glaubt, dass die ,sittliche Macht‘ gar nicht beabsichtigt, ,aus einem Troddel ein Genie‘ zu machen, einigen Gedanken von Sombarts Wirtschaftsgesinnung etwas kritisch nachzugehen, um herauszufinden, inwiefern er sich von Max Webers ,Geist‘ unterscheidet. Wir müssen uns allerdings bewusst bleiben: Die komplizierten Wechselwirkungen zwischen unternehmerischen Ideen und ihrer konkreten Ausführung im Produktionsprozess können wohl kaum einheitlich für alle Branchen erfasst werden, denn z. B. in der Stahlindustrie sind die geistigen und technischen Anforderungen bei der Produktherstellung

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geringer als in der Chemie- oder Elektroindustrie, weswegen letztere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Forschungslabore in ihre Unternehmen integrierten, um wissenschaftlich auf dem neuesten Stand zu sein und ihre Konkurrenten zu überflügeln. Der bildliche Vergleich, dass man „das Wirtschaftsleben als einen Organismus ansprechen und von diesem aussagen [kann], daß er aus Körper und Seele zusammengesetzt sei“ (ebd., S. 11), vermittelt uns wenig Konkretes über gesinnungsethische Vorprägungen von ökonomischen Entscheidungen oder wie sie auf bestimmte Betriebsformen und unternehmerische Organisationsstrukturen eingewirkt haben. Den vielzitierten homo oeconomicus, d. h. einem kapitalistischen Wirtschaftsmenschen, der seine wirtschaftlichen Entschlüsse rational plant und durchführt, hat es weder auf privater noch auf unternehmerischer Seite in irgendeiner idealtypischen Ausprägung gegeben, auch wenn er oft in der ökonomischen Literatur auftauchte. Konsumwünsche wie -entscheidungen sind ebenso wie Produktions- oder Absatzentscheidungen abhängig von einer Vielzahl psychologischer, mentaler oder situationsbedingter Komponenten, sodass ein ,ökonomischer Rationalismus‘, d. h. etwa, unsere Kaufentscheidung ist rational geplant oder durchdacht, lediglich ein Element in einer komplexen Bedingungsmatrix sein kann. Betrachten wir erneut das spannungsreiche Verhältnis zwischen Theorie und Praxis und fragen danach: Welchen inhaltlichen Gehalt hat die Sombartsche Aussage: „Je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet, von desto größerer Bedeutung wird sie für die Gestaltung des kapitalistischen Geistes“ (ebd., S. 332. Im Original ganz hervorgehoben)? Vielleicht könnte damit die banale Selbstverständlichkeit gemeint sein, dass industrieller Fortschritt auch auf unsere geistigen Überlegungen einwirkt, weil wir uns an veränderte Verhältnisse anpassen müssen, wenn wir bei unseren Untersuchungen erfolgreich sein wollen. Kritisch betrachtet, blendet diese Auffassung von Werner Sombart bewusst oder unbewusst die formende Kraft von natürlichen Ressourcen, von technischen Errungenschaften oder von institutionellen Vorgaben aus, die weitgehend ohne ,kapitalistischen Geist‘ existieren können und in einer produktiven Entwicklung in verschiedenen Industriebranchen umgesetzt werden. Eine bestimmte Wirtschaftsethik und -gesinnung oder gesinnungsethische Vorprägungen sowie verhaltensbestimmte Werturteile können wir zweifellos, selbst beim ausgeprägten Gewinnstreben, in verschiedenen Unternehmenspersönlichkeiten antreffen, doch herauszufin-

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den, welchen messbaren Einfluss sie auf ökonomische Entscheidungen ausgeübt haben, gleicht der Quadratur des Kapitalismuskreises. Wir brauchen nur auf unser eigenes Verhalten als handelnde Individuen zu reflektieren, um erkennen zu können, dass wir als wirtschaftende oder arbeitende Menschen in vielfältige soziale, religiöse, familiäre oder ethische Beziehungen eingebunden sind, deren genauen Anteile an unseren Entscheidungen wir gar nicht herausfiltern können, ohne uns in einen Argumentationsdschungel zu verheddern und uns entscheidungsmäßig zu paralysieren. Können wir jedoch nicht wenigstens aufgrund der andersartigen Wirtschaftssysteme, die wir seit der Antike verfolgen konnten, behaupten und die ökonomische These zu untermauern versuchen: „Die verschiedenen Wirtschaftsepochen beanspruchen ganz verschiedenartige Kräfte und Fähigkeiten und demzufolge andere Typen von Menschen.“ (Mitscherlich, 1924, S. 26). Oder anders gefragt: Passen sich Wirtschaftsmenschen, d. h. unternehmerische Vorreiter, den neuen Gegebenheiten an oder werden sie von wirtschaftlichen Gegebenheiten, in die sie hineingeboren werden, erst geformt? Diese knifflige Frage müssen wir stellen, wenn wir herausfinden wollen, ob der Kapitalismus durch außermenschliche Faktoren hervorgerufen wurde oder ob die schöpferischen Individuen neue ökonomische Möglichkeiten geschaffen haben, die sich ohne ihre energischen Aktivitäten nicht durchgesetzt hätten. Es kann wohl keinen ernsthaften Zweifel darüber geben, dass der ,gefesselte Wirtschaftsmensch‘ der Antike oder des Mittelalters, wie ihn Waldemar Mitscherlich nannte, nicht die organisatorischen und technologischen Fähigkeiten besaß, eine moderne kapitalistische Entwicklung einzuleiten oder durchzuführen, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen. Können wir daraus schließen, dass die unternehmerischen Träger von Merkantilismus und Industrialisierung über vorher nicht in handelnden Menschen vorhandene Fähigkeiten und Eigenschaften verfügten, um eine neue Wirtschaftsordnung durchzusetzen, d. h. diese Personen geistige Repräsentanten eines neuen Wirtschaftssystems waren? Wenn wir diese Frage bejahen, dann könnten wir eigentlich daraus folgern, dass der antike oder mittelalterliche ,Wirtschaftsmensch‘ entweder in seinen beruflichen Korporationen oder in seinen sozialen Bindungen zu stark eingebunden und gefesselt war, um aus ihnen mit neuen industriellen Erzeugnissen auszubrechen oder dass ihm diejenigen geistigen Antriebe fehlten, um sich

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aus dieser religiösen und sittlichen Gebundenheit zu lösen und ökonomische Tätigkeiten anzupacken, die seiner Zeit fremd waren. Die menschliche Natur im biologischen Sinn, d. h. etwa unsere Gene, mögen eine langanhaltende, jahrtausendealte Konstanz aufweisen, doch unsere sozialen und ökonomischen Werthaltungen und Einstellungen verändern sich in viel kürzeren Zeitabschnitten, nach meiner Auffassung entsprechend dem dramatischen Wandel unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, wenn auch nicht sofort, sondern von Epoche zu Epoche. Es ist also keine einseitige Beziehung von Menschen und Wirtschaft oder natürliche Bedingungen und Wirtschaft, sondern ein wechselseitiges Geben und Nehmen, d. h. eine bewusste Einstellungsveränderung des (Wirtschafts-)Menschen auf andersartige Konstellationen, die zu andersartigem Verhalten, z. B. einem calvinistischen Arbeitseifer, führen. Um diese Idee an einigen erfolgreichen Unternehmern aufzuweisen oder zu überprüfen, können wir uns auf wenige Fälle beschränken, die beliebig zu vermehren sind: Emil Kirdorf, Friedrich Krupp, Walther Rathenau, Hugo Stinnes oder August Thyssen in Deutschland im 19. Jahrhundert bzw. Bill Gates, Jeff Bezos oder Elon Musk in den USA im 21. Jahrhundert waren und sind keine aus dem Nichts hervorgezauberte ökonomische Subjekte, d. h. zufällig Unternehmer, sondern sie besaßen und besitzen unternehmerische und organisatorische Fähigkeiten, um in ihrer Zeit wirtschaftlich erfolgreich und persönlich wohlhabend zu werden und zu sein. Geburt und Tod, Liebe und Hass, Treue und Verrat, Lüge und Wahrheit, Hunger und Durst, Armut und Reichtum, sind m. E. nicht, wie Werner Sombart glaubte, „immer dieselben“ (Sombart, 1988, S. 14), sondern auch unsere subjektiven Einstellungen ihnen gegenüber variieren mit unserer materiellen und psychologischen Lebenslage. Um nur ein aktuelles, viel diskutiertes Beispiel dafür anzuführen, nämlich die auseinanderklaffende Schere zwischen Armut und Reichtum, so kann ein ökonomisches, gesinnungsmäßiges Ziel im hochindustriellen Kapitalismus, die angebliche Gewinnmaximierung, zu einem unüberbrückbaren Konflikt mit religiösen Einstellungen führen, z. B. dem neutestamentlichen Armutsideal, einer selbstlosen Zuneigung zum Nächsten oder einer aktiven Hilfe für die Schwachen, worauf Papst Franziskus I. häufig aufmerksam macht. Die Sombartsche Annahme, dass sich über längere Zeit, d. h. Jahrhunderte, wirtschaftliche Prozesse nicht verändern, muss erheblich von den ökonomischen und politischen Realitäten abstrahieren, um einige Plausibilität aufweisen zu können oder empirisch nachvollziehbar zu sein,

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denn stetiger Wandel ist eigentlich in jedes kapitalistische System als Steuerungsgen eingepflanzt und entfaltet dort seine Wirkung. In christlich geprägten Kulturnationen wie den industrialisierenden europäischen Staaten oder den USA können wir keine einheitliche, wirtschaftliche Gesinnung erkennen, die über Jahrhunderte beibehalten worden ist, sondern es gab viel eher Nachahmungseffekte, wie wir es beim Merkantilismus beobachten konnten, die allerdings nicht zum gleichen ökonomischen Ergebnis führten. Neue Maschinen oder neue Produkte verändern nicht nur das ökonomische Verhalten von Produzenten oder Unternehmern, sondern auch die konsumbedingte Einstellung von Verbrauchern von einer Periode zur nächsten, in der unbekannte Produkte auf den Markt kommen oder durch entsprechende Werbung angepriesen werden. Nach marxistischer Überzeugung hat es angeblich allgemeine ökonomische Entwicklungsgesetze gegeben, denen die Menschen seit Generationen schicksalhaft ausgeliefert waren, weshalb man daran zweifeln sollte, ob sie eine freie Willensentscheidung treffen konnten, doch der fortschreitende Kapitalismus hat auch diese physikalische Ansicht widerlegt, denn in der Ökonomie sind ,Gesetze‘ nicht so stabil wie in der Physik. Das eigentliche Anliegen des ,Marxisten‘ Sombart bestand in unserem Zusammenhang jedoch darin, welche Wirtschaftsgesinnung in der vorindustriellen Vergangenheit Handwerker, Kaufleute, Feudalherren, Eroberer, Spekulanten oder auch Freibeuter vertreten oder praktiziert haben, um reich zu werden. War die unablässige Jagd nach möglichst großem Gewinn das treibende Motiv dieser Akteure seit der Antike oder wies der moderne Kapitalismus des 19. Jahrhunderts eine andersartige gesinnungsmäßige Grundlage auf, weswegen er verschiedene ökonomische Ergebnisse erzielte? Uns auf dieses analytische Abenteuer einer kapitalistischen Ergründung von traditionellen Wirtschaftsgesinnungen einzulassen, wollen wir aus den oben, im Kapitel B., genannten Gründen verzichten, denn sonst müssten wir eingestehen oder einräumen, dass ein moderner kapitalistischer Geist bereits im frühen Mittelalter entstanden ist oder sogar eine ähnliche Wirtschaftsgesinnung schon „in den Kulturen der Alten Welt“ (ebd., S. 17) vorhanden war. Wir drehten uns damit im kapitalistischen Kreis historischer Ähnlichkeiten, die wir bestritten haben, weil wir von einem ständigen ökonomischen Wandel von Epoche zu Epoche ausgehen. Die ewige Jagd von Göttern und Menschen nach dem knappen und begehrten, „nach dem Besitze des unheilbringenden Goldes“ (ebd., S. 31) bzw.

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Goldgewinns, auch nur oberflächlich mit dem industriellen Kapitalismus in direkte Verbindung zu bringen, führt uns in eine analytische Sackgasse. Dann landen wir nämlich wieder bei der (falschen) Gleichung: Kapital (Gewinn) = Kapitalismus, die Sombart einige Male vertritt, die jedoch wenig bis gar nichts über industrielle Veränderungen aussagt oder erklärt. Die revolutionäre Abwendung von alten Wirtschaftsgesinnungen im modernen Kapitalismus war Werner Sombart nur teilweise bewusst, auch wenn er einräumte: „Es ist vielmehr gerade wieder ein Beweis für den allem Gewinnstreben abgekehrten Geist der vorkapitalistischen Wirtschaft, daß sich alle Erwerbslust, alle Geldgier außerhalb des Nexus der Güterproduktion, des Gütertransport und sogar zum großen Teil auch des Güterhandels zu befriedigen trachtet.“ (ebd., S. 22. Hervorhebung im Original). Die ständische Gesellschaft der vorindustriellen Zeit beruhte nicht auf gewerblicher Konkurrenz zwischen verschiedenen Unternehmen, sondern auf korporativer Zusammenarbeit einzelner Gruppen, die sich dem Gemeinschaftsgeist verpflichtet fühlten: „Wirtschaftliche Schädigung durch einen Wirtschaftsgenossen ist streng verpönt, Kundenabtreibung unter Strafe gestellt.“ (Mitscherlich, 1924, S. 30). Gegenüber der Sombartschen Behauptung einer überhohen Bedeutung von ,Wirtschaftsgesinnungen‘ möchte ich folgendes Argument stellen: Als wirtschaftshistorische Analytiker brauchen wir keineswegs der verbreiteten Tendenz folgen, das kapitalistische Gewinnstreben mit dem modernen Kapitalismus gleichzusetzen, auch wenn wir diese Gleichsetzung von finanziellem Profit und kapitalistischem Durchsetzungswillen in der einschlägigen Literatur häufig antreffen, und können Kapital und Kapitalismus scharf voneinander unterscheiden. Noch ist es notwendig, dem Kapitalismus eine bestimmte Wirtschaftsgesinnung zuzuordnen, denn sie kann eigentlich als moralischer Antrieb für ganz unterschiedliche ökonomische Gebilde angesehen werden; etwa auch einer finanziellen Korruption. Wir können eher fragen, was gewinnen wir an historischer Erkenntnis oder ökonomischer Erklärung mit einem genetischen Rückgriff auf Epochen, deren sachliche Überlieferungen nicht nur spärlich sind, sondern deren politische, wie wirtschaftliche Formen sich von modernen Gesellschaften fundamental unterscheiden? Wenn tatsächlich die „Idee des standesgemäßen Unterhalts“ (Sombart, 1988, S. 18. Hervorhebung im Original) die vorkapitalistische Wirtschaftsordnung beherrschte, dann ist schwer vorstellbar, dass ein liberalkapitalistisches System solche ständischen Auffassungen und Praktiken uneingeschränkt übernommen oder

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umgesetzt hat. Nach meiner Auffassung hat der moderne Kapitalismus sowohl das feudale Standesdenken als auch deren ökonomische Grundsätze revolutionär überwunden und nach Sombarts Worten, die ,Alte Welt in Trümmern geschlagen‘, weswegen von der vorkapitalistischen Wirtschaftsgesinnung nur wenig in das neue, industrielle Wirtschaftssystem eingeflossen ist. Auf einen Gedanken möchte ich hier noch kurz eingehen, nämlich wie der Unternehmens- und Bürgergeist verkoppelt wird mit der vergrößerten Güterwelt und der direkten Beteiligung der Akteure am kapitalistischen Produktionsprozess. Spätestens im 19. Jahrhundert wollte kein Kapitalist – gleichgültig, ob Katholik oder Protestant oder Muslim – sich mit der alttestamentarischen Forderung abfinden: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen … Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“ (Bibel, 2001, Gen. 3,19), denn darin bestand der ausbeuterische Wahlspruch von katholischen Feudalherren und merkantilistischen Fürsten, doch nicht mehr von wohlhabenden Unternehmern, deren ,Schweiß‘ in neuen, profitablen Produkten bestand, die Profit ,ausschwitzen‘ sollten. Vielleicht vertrat Sombart wegen dieser unternehmerischen Dynamik die ambivalente Auffassung: „Unternehmungsgeist ist eine Synthese von Geldgier, Abenteuerlust, Erfindungsgeist und manchem andern, der Bürgergeist setzt sich aus Rechnerei und Bedachtsamkeit, aus Vernünftigkeit und Wirtschaftlichkeit zusammen.“ (Sombart, 1988, S. 27). Die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung mag auch von geldgierigen und abenteuerlustigen Unternehmern vertreten worden sein, doch eine solche Einstellung kann nicht erklären, wie riesige Industriekonglomerate entstehen konnten und können, die internationale Märkte erobert und auch auf längere Sicht beherrscht haben, wenn außer der altertümlichen Geldgier, einer adeligen Attitüde mit prächtigen Repräsentationswillen nicht auch ein genieähnlicher, kalkulatorischer Drang nach Erfindung und Produktion außergewöhnlicher und marktfähiger Güter diese Menschen ,beseelt‘ hat. Wenn der „kapitalistische Urgeist aus andern Quellen gespeist worden sein [muss], als dem Kapitalismus selbst“ (ebd., S. 331), dann bewegen wir uns auf einem sehr dünnen Eis eines kapitalistischen Sees, unter dem sich viele Geister tummeln, ohne je aufzutauchen oder sichtbar zu werden, um ihre Eigenschaften untersuchen und nachweisen zu können. Der Zauberkünstler Uri Geller mag manchem noch bekannt sein, doch seine angeblich übersinnlichen Kräfte dienten ihm vor allem zu sensationellen

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Auftritten mit hohen Gagen, weil viele Menschen seine spektakulären Vorführungen begeistert verfolgten und dafür auch bereit waren, Geld zu bezahlen. Aus welchen Quellen ,kapitalistische Urgeister‘ gespeist worden sind und was sie eventuell in eine vorkapitalistische wirtschaftliche Entwicklung eingebracht haben, wird wahrscheinlich das ewige Geheimnis unseres tiefgründigen Kapitalismusforschers Sombart bleiben, doch erklärende Wirtschaftsgeschichte sollte sich m. E. mehr mit den konkreten Fakten beschäftigen und ihre ökonomischen Auswirkungen erforschen. Wir wollen deshalb stärker auf empirisch nachweisbare ökonomische Entwicklungen eingehen, um herauszufinden, wie der moderne Kapitalismus zustande gekommen ist und welche Veränderungen er im Leben der betroffenen Menschen ausgelöst hat. Unsere Wohlstandsgesellschaften beruhen auch auf der fabrikatorischen Umsetzung solcher erfinderischen Ideen für neue Produkte, die deren bewundernswerte Urheber nicht nur Glück und Reichtum beschert haben, sondern manchmal bittere Not und einen Tod im Armenhaus. Uns ist offenbar viel zu wenig bewusst – und Werner Sombart hat sich mit dieser Frage kaum beschäftigt –, dass viele der so gescholtenen kapitalistischen Unternehmer im harten Konkurrenzkampf des 19. Jahrhunderts trotz teilweise außergewöhnlicher Geschäftserfolge aufgrund neuer Produkte kläglich gescheitert und bankrott gegangen sind, denn einen staatlichen ,Auffangkapitalismus‘, der bankrotte Unternehmen durch Millionensubventionen erhalten möchte, gab es damals noch nicht.

IV. Eine Kritik an der calvinistischen These Andeutungsweise möchte ich an einem Beispiel auf die wissenschaftliche Kritik an Max Weber eingehen, um auf die ungewöhnliche Vielschichtigkeit seines Gedankengebäudes hinzuweisen, das auch noch künftige Generationen beschäftigen wird. Die Weberschen Kapitalismusthesen haben eine weltweite Diskussion ausgelöst, der hier nur einige wenige Bemerkungen angefügt werden sollen, die sich auf die Entstehungsbedingungen des Kapitalismus beziehen. Der Schweizer Historiker Herbert Ernst Karl Lüthy (1918 – 2002) hat im Jahr 1961 einen kritischen Aufsatz über die ,Tiefensoziologie‘ (Lüthy, 1973, S. 18) Max Webers veröffentlicht, dem hier einige Gedanken gewidmet werden sollen, auch weil er die von mir nicht geteilte Auffassung vertrat, dass die explosive

IV. Eine Kritik an der calvinistischen These

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Kraft der Weberschen These in dem zusammengeschnürten Begriffspaar Protestantismus und Kapitalismus durch „seine paradoxale Funktionsgleichung“ (ebd., S. 21) gefunden werden könne. Calvinismus oder Protestantismus würden von Weber eher als säkularisierte Tugendlehre als einer religiösen Einstellung dargestellt, weswegen Lüthy danach fragte, ob dieser nicht an den eigentlichen Problemen der Lutherischen Reformation und deren politisch-religiösen Folgen vorbeiargumentiere, wenn er sie in irgendeiner Weise mit kapitalistischem Geist anreichere. Eine tiefere Beziehung zwischen Calvinismus und moderner Wirtschaftsgesellschaft verkörpert sich nach Lüthy in einem geistigen Ausbruch aus religiöser Untertänigkeit und von menschlicher Furcht befreiter Menschen, woran die Webersche Intention vorbeigehe, deren tatsächliche Verwirklichung noch vieler geistiger Umbrüche benötige, um den Kapitalismus zu erfassen. Weber habe nur vom Geist und nicht von dem Kapitalismus gesprochen – was, wie wir gehört haben, nicht wirklich zutrifft – und er sei ebenfalls nicht vom Protestantismus als einer theologischen Lehre, sondern von einer protestantischen Ethik ausgegangen, um die innere Verhaltensstruktur und Eigengesetzlichkeit westlicher Zivilisation, ihre Wirtschaftsweise, ihre Rechtsstruktur, ihre Politik, ihre Technik, ihre Wissenschaft etc. als Rationalität erfassen zu können. Der Begriff ,Kapitalismus‘ sei „in den hundert Jahren seit Marx derart zu Tode geritten, auf alle erdenklichen Erscheinungen, Epochen und Wirtschaftsformen gestülpt und zum Mode- und Schimpfwort degradiert worden“ (ebd., S. 19), dass er kaum noch für unser Wirtschaftssystem sinnvoll angewendet werden könne und eigentlich aufgegeben werden sollte. Wir haben dafür bereits einige Beispiele angeführt und werden später wieder darauf zurückkommen, doch begriffliche Unklarheiten sollten uns nicht davon abhalten, inhaltliche Konkretisierungen zu versuchen und durchzuführen, denn dieses kapitalistische Wirtschaftssystem hat seit seiner Existenz, gleichgültig, ob wir sie ins 16. oder 18. Jahrhundert datieren, unsere gesamte Lebens- und Arbeitsweise derart revolutioniert und umgewälzt, dass es berechtigt ist, seinen genauen Ursachen und wirtschaftlichen Folgen nachzuspüren und sie vielleicht herauszufinden. Lüthy vermutete oder hielt es für berechtigt, dass das „undefinierte Allerweltswort Kapitalismus“ (ebd.) pessimistischen Zeitkritikern nur dazu diene, irgendwelche Unlustgefühle bei unzufriedenen Zeitgenossen hervorzurufen und sie zu verunsichern, weswegen man auf diesen abgegriffenen Begriff ganz verzichten sollte. Diese unplausible Forderung

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D. Protestantischer ,Geist‘ und kapitalistische Wirtschaftsgesinnung

wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts öfter erhoben, doch wir haben bereits darauf hingewiesen, dass eine negative Einstellung gegenüber der begrifflichen Vieldeutigkeit von ,Kapitalismus‘ keine zufriedenstellende Antwort dafür parat hält oder offeriert, um herausarbeiten zu können, worin etwa die ökonomischen Besonderheiten des modernen Kapitalismus bestehen und wie er unser Leben grundlegend verändert hat. Das allmähliche Entstehen und die ursächlichen Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft treten nach Lüthys Auffassung in den profitgesteuerten Hintergrund, wenn man wie Weber „quälerisch nach der letzten Lebens- und Zukunftsfähigkeit einer zu Ende rationalisierten Zivilisation“ (ebd., S. 20) sucht, denn darin äußere sich eine unangemessene Fragestellung und damit „die tiefste Bruchstelle“ (ebd.) des Weberschen Denkens, das zwischen höchster Bewunderung und ausgesprochener Ablehnung des wilhelminischen Hochkapitalismus geschwankt habe. Nun wissen wir von Karl Marx und Friedrich Engels, dass sie schon im Kommunistischen Manifest von 1848 die ökonomischen Errungenschaften des industriellen Zeitalters mit großer Bewunderung betrachtet haben, aber dennoch bis zu ihrem Tod 1883 bzw. 1895 der felsenfesten Überzeugung waren, dass das kapitalistische System entweder wegen einer historischen Unvermeidlichkeit sowie Gesetzmäßigkeit oder durch eine proletarische Revolution zugrunde gehen müsse, d. h. durch eine internationale Arbeiterarmee zerstört würde (vgl. Kiesewetter, 2017, S. 216 ff.). Herbert Lüthys Vorstellung ist deswegen nicht sehr überzeugend und plausibel, Max Webers ,protestantische Ethik‘ sei eine von der damaligen Gegenwart um 1900 in die neuzeitliche Vergangenheit projizierte Deutung, die nicht den historischen Gegebenheiten einer weltgeschichtlichen Bedeutung des Calvinismus gerecht würde, sondern ein theoretischer Kunstgriff sei, um die puritanische Revolution als innerweltliche Rationalität umzudeuten. Weil von Weber, wie eben von Marx, Engels und zahlreichen Kommunisten, die materielle Dynamik einer hochkapitalistischen Wirtschaft eigentlich verachtet worden sei, hätte er sich auf eine ausdifferenzierte Analyse der protestantischen ,Ethik‘ als kapitalistischer Geist zurückgezogen, obwohl er die religiöse Wurzel des Protestantismus als verdorrt betrachtet habe. Die protestantische Reformation und ihr calvinistischer Ableger ist in den analytischen Augen Lüthys „mitten in eine gärende Zeit atemberaubender Entfaltung Europas auf allen Gebieten des Geistes, der Technik, der freien Persönlichkeit, der wirtschaftlichen und imperialen Expansion“

IV. Eine Kritik an der calvinistischen These

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(Lüthy, 1973, S. 25) gefallen, doch in den meisten europäischen Staaten hätten feudalistische, d. h. dem freien Wirtschaftsgeist feindselige Strukturen und menschliche Untertänigkeitsverhältnisse vorgeherrscht, weswegen Webers optimistische Deutung eines wirkungsmächtigen kapitalistischen Geistes zumindest als übertrieben und den ökonomisch-kapitalistischen Entwicklungen der folgenden Zeit als unangemessen angesehen werden müsse. Darin können wir ihm teilweise zustimmen, denn bis zum 18. Jahrhundert waren die beruflichen Reglementierungen und sozialen Unfreiheiten derart ausgeprägt, dass sie einem engen, stählernen Korsett glichen, doch Max Weber ging es weniger um eine wirtschaftliche Kennzeichnung des Feudalismus mit seinen beruflichen und existentiellen Abhängigkeiten in der Landwirtschaft, sondern um ethische Voraussetzungen einer neuen Wirtschaftsgesellschaft, nämlich der kapitalistischen. Lüthy bemängelte außerdem die Titelgebung der Weberschen Abhandlung, denn eine neutralere Bezeichnung wie ,Protestantismus und moderne Gesellschaft‘ wäre der umwälzenden Bedeutung der Lutherischen Reformation eher gerecht geworden und hätte die geistigen Bruchstellen zwischen mittelalterlicher und moderner Welt angemessener erfassen und würdigen können. Die begrifflich korrekte Bezeichnung einer akademischen Abhandlung sollte allerdings gegenüber den inhaltlichen Erklärungen als unbedeutend angesehen werden, wenn wir Problembewusstsein entsprechenden Definitionen vorziehen, was bei einem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben selbstverständlich sein sollte. Eine ,kapitalistische‘ Wirtschaftsordnung, in der unternehmerische Kapitalakkumulation und reines Profitstreben eine dominierende Rolle spiele, so Lüthy, könne doch nicht als zivilisatorischer Höhepunkt angesehen werden, auch wenn die moderne Ökonomie eine „irritierende Durchschlagskraft“ (ebd., S. 21) besessen habe. Die exakten Bruchstellen des modernen Kapitalismus sowie der modernen Industriegesellschaft gegenüber früheren Wirtschaftssystemen freizulegen, dazu konnte sich Herbert Lüthy bei seiner Weberkritik offenbar nicht entschließen, weil er sich m. E. zu stark mit begrifflichen Fragen beschäftigte und behauptete, das „Wort Kapitalismus steht für die [von Aristoteles stammende Wirtschaftslehre, H.K.] Chrematistik“ (ebd., S. 34).7 Dazu möchte ich nur kurz bemerken: Ähnlich wie der Begriff 7 Robert von Pöhlmann: Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt (1893). Erster Band. Dritte Auflage. Durchgesehen und um einen Anhang vermehrt von Friedrich Oertel, München 1925, S. 203 f., geht in diesem

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D. Protestantischer ,Geist‘ und kapitalistische Wirtschaftsgesinnung

,Demokratie‘ aus der Antike stammt, ohne dass dieses Athener Gesellschaftssystem irgendetwas mit unseren modernen Demokratien zu tun hat (vgl. Kiesewetter, 2022, S. 36 ff.), so ist ,Kapitalismus‘, wie wir gesehen haben, auf die unterschiedlichsten Wirtschaftssysteme bezogen und diese damit bezeichnet worden, ohne ihre ökonomischen und sozialen Ursachen genauer zu erforschen. Selbst wenn es zutreffend ist, dass Weber das weite Spektrum ökonomischer Beziehungen auf das ethische Verhältnis zwischen „reformerischer Lehre und Wirtschaftsgebaren“ (Lüthy, 1973, S. 22) eingeengt hat und damit in den verdüsternden Schatten von Karl Marx eingetreten ist, so scheinen religiöse Grundauffassungen in dem entstehenden Rechts- und Verfassungsstaat nicht ohne ökonomischen Einfluss gewesen zu sein. Mit Hinweis auf Max Webers Abhandlung „Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter“ (Weber, 1988a, S. 470 ff.) von 1894 versuchte Lüthy diesem zu unterstellen, „daß sein erster antikapitalistischer Zorn dem ostpreußischen Agrarkapitalismus galt, der das deutsche Volkstum im Osten gefährde und untergrabe“ (Lüthy, 1973, S. 23), wovon sich Weber jedoch später distanzierte. Wenn wir diese etwas weit hergeholte These als einen begründeten Vorwurf akzeptieren, ermöglicht sie dennoch keinen erklärenden Hinweis, ob Webers späteres Problem von ethischen oder wirtschaftlichen Ursachen des (modernen) Kapitalismus falsch gestellt war und die „Ideologie des aufstrebenden Kapitalismus“ (ebd., S. 28) durch den Calvinismus wirksam geworden ist. Nach Lüthy bedurfte es bei den vielfältigen gewerblichen und finanziellen Aktivitäten seit dem 16. Jahrhundert keiner „calvinistischen Gnadenwahl und keiner Psychoanalyse der protestantischen Vereinsamung“ (ebd., S. 30), um verstehen zu können, dass das calvinistisch-puritanische Selbstgefühl der religiösen Vorstellung eines auserwählten Volkes glich.

assoziativen Vergleich noch weiter: „Diese Bekenntnisse eines athenischen Oligarchen [eben Aristoteles, H.K.] sind auch noch in anderer Hinsicht für die Entwicklung des Kapitalismus bedeutsam. Sie zeigen, zu welcher Höhe sich der plutokratische Ideenflug selbst inmitten der reinen Demokratie versteigen konnte.“

E. Die europäische Industrialisierung als revolutionärer Durchbruch eines ökonomischen und gesellschaftlichen Kapitalismus I. Großbritannien als kapitalistischer Vorreiter Was sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England anbahnte und 1776 durch den Schotten Adam Smith (1723 – 1790) in ein theoretisches System gegossen wurde (Smith, 2003), besitzt m. E. für die europäische Geschichte einen revolutionäreren Charakter als alle vorherigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche der jahrtausendealten Weltgeschichte, deren Auswirkungen sich bis heute bemerkbar machen und selbst zu vernichtenden Kriegen führen, wie wir es gerade in der Ukraine erleben. Wegen dieser unvergleichlichen industriellen Errungenschaften lässt sich die historische These vertreten, bezüglich der „Eigenart seiner wirtschaftlich-technischen Entwicklung bildet also Europa eine weltgeschichtliche Ausnahme“ (Albert, 1978, S. 136) mindestens ein Jahrhundert lang, obwohl es ebenso eine institutionelle ,Revolution‘ durchführte, auf die wir noch eingehen. Häufig in modernen Interpretationen ist die sogenannte Industrielle Revolution als gleichartig bzw. gleichwertig mit der Neolithischen Revolution, wo Jäger und Sammler zu einer neuen Siedlungs- und Wirtschaftsweise übergingen, als die beiden großen Epochenumbrüche der Menschheit angesehen worden. Ein solcher Vergleich erscheint mir aus verschiedenen Gründen unangemessen und verfälschend, ganz abgesehen von der unterschiedlichen Faktenbasis dieser beiden Epochen. Nicht nur, weil das Neolithikum im Vorderen Orient von etwa 9000 bis 5500 v. Chr. entstanden sein soll und sich seit dem 6. vorchristlichen Jahrtausend über den Balkan nach Mitteleuropa und entlang der Mittelmeerküsten nach Westeuropa ausdehnte, d. h. ein riesiges Territorium umfasste. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die lange Dauer dieser gesellschaftlichen Umbruchperiode, dem Neolithikum, in der sich die

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E. Die europäische Industrialisierung

menschliche Lebensweise gravierend verändert haben soll, weil Menschen erstmals in Siedlungen ansässig wurden, ungenau erforscht ist. Die relativ geringen faktischen und schriftlichen Quellen über wirtschaftliche oder arbeitstechnische Vorgänge dieser vorchristlichen Epoche, die uns genauere Kenntnisse über einen sozialen Wandel vermitteln könnten, stehen nur unzureichend zur Verfügung, um die empirische Plausibilität einer so weitreichenden Annahme zu verifizieren. Wenn uns daran gelegen ist, die exakten Ursachen und Wirkungen wirtschaftlicher Veränderungen für den europäischen Kontinent zu ermitteln, dann müssen wir konstatieren oder einräumen, dass eine autochthone Entwicklung des europäischen Neolithikums in den späteren Industriestaaten nicht stattgefunden hat. „Ein nennenswertes neolithisches Substrat war weder auf dem Balkan noch in Mitteleuropa vorhanden.“ (Preuß, 1998, S. 3). Deswegen kann ich auch nicht die politische Ansicht teilen, „wir leben im fünften Akt der französischen Revolution“ (Somary, 1956, S. 12), denn die europäische Industrialisierung hat die vorher existierende Welt auf eine derart grundlegende Weise umgewälzt, wie kein politisches Ereignis es jemals geschafft hat. Es wird in dieser kleinen Schrift keineswegs beabsichtigt, das Zeitalter des Industriekapitalismus auch nur halbwegs sachgerecht zu beschreiben oder auszuleuchten, wozu eine ausführliche internationale Literatur existiert, die kaum noch zu überblicken ist, weil immer mehr Staaten seit dem 19. Jahrhundert diesen Prozess durchlaufen haben und sich erheblich unterscheiden. Ich möchte mich auf ein paar Andeutungen dazu beschränken, warum die weltgeschichtlich revolutionäre, ökonomische Einzigartigkeit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem vorbehalten bleiben sollte, welches sich im 19. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten durchsetzte und sich danach auch in überseeischen Gebieten, wie den USA oder Japan, ausbreitete. Der moderne Kapitalismus hat das tägliche Leben und die mentalen Einstellungen zahlreicher Generationen so stark umgewälzt und vollständig verändert, dass wir durchaus berechtigt sind, von einem unvergleichbaren Zeitalter zu sprechen, das gründlich zu analysieren eines größeren Werkes bedürfte als diese geraffte Abhandlung. Deswegen ist auch nicht beabsichtigt, mehr als einige vagen Umrisse der entscheidenden Faktoren dieses industriedominierten Kapitalismus nachzuzeichnen oder sogar deren eigentlichen Ursachen darzustellen und zu erklären, was ich an anderer Stelle für Europa versucht habe. Ich möchte lediglich auf einige Aspekte hinweisen, warum sich trotz jahrhundertalten,

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traditionellen Überhängen in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Rechtssystem oder in monarchischen Staatsvorstellungen innerhalb von etwa einem Jahrhundert, wenn auch von Staat zu Staat verschieden, eine neue kapitalistische Epoche fast über ganz Europa ausbreitete (vgl. Kiesewetter, 2006). Gemessen an der etwa 200.000jährigen Existenz von Menschen ist es faszinierend zu beobachten und festzustellen, dass in einem kleinen Bruchteil dieser Zeitspanne, von etwa 1760 bis 1914, die europäische Welt so gravierend umgewälzt wurde, dass sie von in früheren Jahrhunderten lebenden Menschen nicht mehr erkannt worden wäre, wenn sie die unrealistische Chance bekommen hätten, sich darin umzusehen oder herumzuspazieren. Wegen diesen, bis heute andauernden Veränderungen scheint es mir eine sehr verkürzte marxistische Sichtweise zu sein, wenn der akademische Nestor der DDR-Wirtschaftsgeschichte, Jürgen Kuczynski (1904 – 1997), schrieb: „Nach dem Beginn der siebziger Jahre [des 19. Jahrhunderts, H.K.] wächst in den folgenden Jahrzehnten der Kapitalismus mehr und mehr in seine Verfallsperiode hinein.“ (Kuczynski, 1951, S. 228).1 Die technologischen Errungenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, der Hoch-Zeit des europäischen Industriekapitalismus, haben rechtmäßiger Weise große Aufmerksamkeit erregt und sind teilweise mit dem Kapitalismus gleichgesetzt worden, doch sie stellen eigentlich nur ein zwar bedeutendes Teilgebiet eines umfassenderen Umwälzungsprozesses dar, der viel mehr ausgelöst hat als moderne Technik oder industrielle Erfindungen. In den vorhergehenden Jahrhunderten sind bereits vielfältige technische Kenntnisse und diffizile Konstruktionsmethoden für neuartige Waffensysteme, verbesserte Transportmöglichkeiten oder wirksame Antriebsaggregate, wie Windmühlen oder Schmiedehämmer, vorhanden gewesen und angewandt worden, die die ökonomische Produktivität der entsprechenden Gewerbe erheblich erhöhten und die technischen Arbeitsabläufe vereinfachten. Die Hebe- und Wasserhaltungsmaschinen für den Bergbau aus dem 16. Jahrhundert z. B., wie sie Georgius Agricola (1494 – 1555) in dem ein Jahr nach seinem Tod erschienenen, bewundernswerten Werk über die maschinellen bergbaulichen Geräte be1 Eine optimistische Periode für kommunistische Staaten habe nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, glaubte der Marxist Kuczynski, der „hoffnungsvollsten Zeit der Menschheitsgeschichte“, denn nun lebten die Bürger im Ostblock „in der Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ (Kuczynski, 1951, S. 253).

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schrieben und dargestellt hat (Agricola, 1977), sind beredter Ausdruck für frühkapitalistischen Erfindungsreichtum, doch sie sollten in ihrer ökonomischen Funktion nicht gleichgestellt werden mit den technologischen Neuerungen des seit etwa 1850 beginnenden, europäischen Industriezeitalters. Die revolutionären Folgen einer modernen Technologie, wie etwa die doppeltwirkende Dampfmaschine von James Watt (Patent 1781), bestanden nicht nur darin, dass durch sie wetterabhängige Antriebsgeräte, wie Wasserräder oder Windmühlen, von einem unabhängigen Aggregat abgelöst oder ersetzt wurden, sondern dass ein naturkräftefreier Maschinentyp mit ungeahnten Anwendungsmöglichkeiten zur unbegrenzten Verfügung stand; für Lokomotiven, Dampfschiffe, Hochöfen, Stahlwerke und schließlich Autos und Flugzeuge. Ich kann deshalb vollständig mit der technikfreundlichen Ansicht übereinstimmen: „Wäre diese Wandlung der Technik nicht gekommen, dann wäre der Kapitalismus im Rahmen der Manufaktur und des Verlagssystems geblieben, das im wesentlichen in den Lohnsummen den Mehrwert schaffenden Umschlag von Geldkapital vollzieht.“ (Zwiedineck-Südenhorst, 1931, S. 255).2 Die lange weltbeherrschende Kolonialmacht England, als die im 19. Jahrhundert bewunderte technologische ,Werkstatt der Welt‘, verfügte seit dem 18. Jahrhundert über eine große Zahl von Erfindern und technischen Bastlern, weil das britische Patentrecht ihre Konstruktionen und Erfindungen absicherte und den oft unbemittelten und einsamen Erfindern ermöglichte, reich und bekannt zu werden. Mit deren fast unablässigen Bereitschaft, an neuen Geräten herumzubasteln und zu experimentieren, war die englische Nation ausgestattet oder gesegnet, weil sie auf gewerbliche Reglementierungen weitgehend verzichtete und dadurch dem Erfindergeist freien Lauf ließ; selbst für abstruse Gerätschaften. Allerdings erfolgten diese technischen Neuerungen nicht deshalb, weil die moderne 2

Während der wohl größten Wirtschaftskrise des kapitalistischen Zeitalters, der Weltwirtschaftskrise seit 1929, glaubte Günther Gründel fälschlicherweise, dass der technische Fortschritt vor allem bei der industriellen Produktion von Massengütern erlahmen würde. Diese pessimistische Auffassung drückte eine ökonomische Vorstellung aus, die uns im Internetzeitalter mit seiner weltweiten, millionenfachen Kommunikationsgeräten eigenartig vorkommt. Der Historiker Gründel (1903 – 1946) begründete diese technikfeindliche Ansicht inmitten der Wirtschaftskrise folgendermaßen: „Auf diesem Gebiet aber haben die letzten hundert Jahre einen so gewaltigen Fortschritt gebracht, daß Gleichartiges oder Aehnliches von der Zukunft gar nicht mehr zu erwarten möglich ist, wenn die Kosten nicht faktisch auf Null sinken sollen.“ (Gründel, 1931, S. 2).

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wissenschaftliche Physik eines Isaac Newton u. a. in die erfinderische Praxis übertragen worden wäre, wie man zuweilen lesen kann, sondern vor allem, weil das englische Statute of Monopolies von 1624 einen rechtsgültigen Patentschutz begründete, der die individuelle Erfindertätigkeit beschleunigte, während Friedrich List annahm, dass „England durch sein Patentgesetz den Erfindungsgeist aller Nationen“ (List, 1930, S. 108) monopolisierte, was gar nicht möglich gewesen wäre. Eine solche interpretatorische Verengung auf einzelne Erfindungen, so spektakulär sie auch gewesen sein mögen, die durch ein staatliches Patentgesetz verhindert werden konnten, vernachlässigt eine Vielzahl von Randbedingungen und politischen wie institutionellen Reformen, ohne die solche technischen Fortschritte gar nicht zustande gekommen wären. Die Technik mit ihren von menschlicher Handarbeit abgewandten Verfahren – Handwerker fürchteten, dass sie von der Industrie verdrängt würden – löste allerdings ungeahnte Ängste aus, weswegen sie mit dem „Makel der Blasphemie, der Rebellion gegen eine göttlich-natürliche Ordnung“ (Sieferle, 1984, S. 7) bedacht wurde, die wegen ihrer areligiösen ,Sündhaftigkeit‘ eine entsprechende Strafe aufgebürdet bekäme oder bekommen müsste, weil sie gegen alle göttlichen Gebote und religiösen Normen verstoße. In Großbritannien konnte sich diese antitechnische Geisteshaltung jedoch nicht durchsetzen, weil fast die gesamte Gesellschaft in optimistischer Aufbruchstimmung gewesen ist, nachdem die englische Landwirtschaft, auch durch enclosures (Einhegungen), modernisiert worden war und die Ernteerträge erhöht wurden, wodurch eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln möglich war. Die freiheitliche Gesinnung, die sich seit der Cromwellschen Revolution in England verbreitete, schlug sich nämlich nicht nur in parlamentarischen Gesetzesinitiativen nieder, sondern auch neben der Politik und der Adelsherrschaft in wirtschaftlichen Aktivitäten, die zu einer Industriellen Revolution führten.3 Der Sohn eines Fabrikbesitzers in Posen, Mitglied der Nationalliberalen Partei und Herausgeber der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Georg Brodnitz (1876 – 1941) – der wegen seiner jüdischen Abstammung im Getto Litzmannstadt von Nationalsozialisten 3 Die klassische Studie dazu ist die aus dem Nachlass herausgegebene, fragmentarische Schrift des mit 30 Jahren verstorbenen Oxforder Dozenten Arnold Toynbee: Lectures on the Industrial Revolution in England. Popular Addresses, Notes and Other Fragments. Together with a short memoir by B. Jowett, London 1884, S. 27 ff.

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ermordet wurde –, schrieb am Ende des Ersten Weltkrieges: „Der Staat und sein Bedarf hat in England nicht nur den Parlamentarismus, sondern auch den Kapitalismus erweckt.“ (Brodnitz, 1918, S. 231). Wir brauchen gar nicht die zahlreichen Veränderungen im gewerblichen und/oder landwirtschaftlichen Bereich der englischen Monarchie aufzuzählen, um erkennen zu können, dass die militärische wie wirtschaftliche Vormachtstellung nicht auf einem einzelnen Sektor, z. B. der Technik, beruht haben kann oder davon dominiert worden ist. Es ist sogar behauptet worden, das englische Klima mit vielen Regenschauern, die zum Tüfteln anregen könnten, sei für diese technische Vorreiterrolle entscheidend gewesen, weil sich z. B. Textilstoffe bei feuchtem Klima besser verarbeiten und deswegen billiger verkaufen ließen. Das sind sehr gewagte Thesen, denn auch in Frankreich gab es zahlreiche und ideenreiche Erfinder, doch ein wirksamer Patentschutz sowie institutionelle Reformen fehlten, die lukrative Möglichkeiten eröffneten, mit einer erfinderischen Idee Geld und Ansehen zu verdienen. Wenn wir lediglich die mit der englischen Industrialisierung rivalisierenden, beiden größeren europäischen Staaten betrachten, so wurde in Frankreich erst am 7. Januar 1791 ein Patentrecht erlassen und das Deutsche Reich erließ am 25. Mai 1877 ein gesamtdeutsches Patentgesetz, während einzelne deutsche Staaten schon früher ein Patentrecht besaßen, das jedoch nur eingeschränkt auf eine größere Erfindertätigkeit einwirken konnte. Die technologischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts katapultierten mehrere europäische Staaten, ehe die USA ihnen diese erfindungsreiche Stellung streitig machten, zu ökonomischen Wachstumszentren, die in vielen Bereichen weltmarktbeherrschend waren. Technologie war allerdings nur ein, wenn auch wichtiger, Faktor in einem ausufernden Bündel von politischen und ökonomischen Ursachen für den modernen Kapitalismus. Der deutsche Volkswirtschaftler Karl Diehl (1864 – 1943), ein Vertreter der sozialrechtlichen, institutionellen Schule der Nationalökonomie, hat darauf hingewiesen, dass die staatliche Durchsetzung von Vertragsfreiheit und Privateigentum seit Ende des 18. Jahrhunderts einen ,ungebundenen‘ Kapitalismus ermöglicht hat und dadurch auch technische Erfindungen sich entfalten konnten (Diehl, 1929).4 4 Ein amerikanischer Vorläufer ist John R. Commons: Legal Foundation of Capitalism (1924). With a new introduction by Jeff E. Biddle & Warren J. Samuels, New Brunswick/London 1995.

II. Bevölkerungszunahme als Bedrohung oder Wachstumsgenerator

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II. Bevölkerungszunahme als Bedrohung oder Wachstumsgenerator Eine weitere unerwartete Entwicklung, die sich von England aus über viele europäische Staaten ausbreitete, war die zuerst als wachstumsgefährdend angesehene Bevölkerungszunahme, die, wie bereits im Kapitel C. erwähnt, der Theologe und Ökonom Thomas Robert Malthus in seiner anonymen Erstlingsschrift An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society von 1798 als ein bedrohliches Menetekel ansah und in später ausgearbeiteten Werken gründlich analysierte. Im 19. Jahrhundert benutzten einige Autoren diese ,Bevölkerungstheorie‘, um eine düstere Zukunft vorauszusagen, die von ungeheuren Armutsproblemen und einer millionenfachen Vernichtung von Menschenleben geprägt sei, die wir nicht verhindern könnten. Der Malthusianismus, d. h. die ,Theorie‘ oder Gesetzmäßigkeit einer gefährlichen Überbevölkerung ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung durch die heimische Landwirtschaft, ist ein bis heute intensiv diskutiertes Problem und Problemkomplex von überragender Bedeutung in geburtenreichen Staaten, vor allem in Afrika, auch wenn das Malthussche Dilemma in Europa nicht eingetreten ist. Viele Entwicklungsländer wurden und werden mit einer erheblichen Bevölkerungszunahme konfrontiert und können die in ihrem Land lebenden Menschen nicht durch die eigene Landwirtschaft mit ausreichenden Lebensmitteln versorgen, weswegen Millionen Menschen, vor allem Kinder, in wenig industrialisierten Regionen Hunger leiden oder sogar verhungern, ohne dass dort wirkungsvoll Abhilfe geschaffen wurde oder werden kann. Es wird jedoch selten beachtet und vergleichend analysiert, dass mit der enormen Bevölkerungszunahme im 19. Jahrhundert einige europäische Staaten ihre ökonomischen Grundlagen veränderten, um durch industrielle Exporte die landwirtschaftlichen Importe zu bezahlen und noch finanzielle Überschüsse zu erwirtschaften, denn die überschüssigen Menschen hätten durch eine traditionelle Landwirtschaft nicht mehr ausreichend ernährt werden können. Eine starke Bevölkerungszunahme ohne gleichzeitigen Ausbau exportkräftiger Industrien muss notwendigerweise zu einer prekären Ernährungssituation führen, wie wir es heute in afrikanischen Staaten erleben, die deswegen keine wirtschaftliche Entwicklung durchführen können und mit erheblichen Armutsproblemen zu kämpfen haben (vgl.

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E. Die europäische Industrialisierung

Kiesewetter, 2002). Unter diesen widrigen Umständen blieb den überbevölkerten Nationen, wenn ihnen eine Industrialisierung aus welchen Gründen auch immer versagt blieb, zur damaligen Zeit, d. h. im 19. Jahrhundert, lediglich die gleichermaßen unbefriedigende Alternative: Hungern oder auswandern, was Millionen von ihnen taten. Das Land der Hoffnung war vor allem die USA, diese noch unerschlossene, mit unbebautem Boden und natürlichen Ressourcen reich ausgestattete erste echte Demokratie der Weltgeschichte (vgl. Kiesewetter, 2022, S. 97 ff.). In den Staaten, in denen die ökonomischen Ungleichgewichte zwischen steigernder Bevölkerung und landwirtschaftlicher Güterversorgung zu groß wurden, konnte lediglich eine zusätzliche industrielle Warenproduktion agrarische Versorgungsengpässe dadurch lindern, dass neuartige Industrieprodukte verkauft und benötigte Nahrungsmittel importiert wurden, die sich wegen sinkender Frachtraten langfristig noch verbilligten. In England machte sich dieses ökonomische Dilemma von steigernder Bevölkerung und unzureichender landwirtschaftlicher Versorgung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuerst in gravierenden sozialen Missständen bemerkbar, denn die arbeitslosen Landarbeiter strömten massenweise in die industrialisierenden Städte und wurden mit Wohnungsnot, geringem Einkommen, sexueller Verwahrlosung, Alkoholproblemen und zunehmender Altersarmut konfrontiert. In den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung nahm das verbreitete Arbeiterelend ungeheure Ausmaße an, von einem ungezügelten Unternehmerkapitalismus aufgrund von massenhaften Arbeitssuchenden mit hervorgerufen, wenn auch nicht verursacht, wie es Friedrich Engels in seinem Erstlingswerk Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 anprangerte. Deshalb hätte man damals vielleicht, wie es Herbert Spencer forderte, die industrielle Befreiung der Arbeiter aus einer angeblichen Sklaverei durchführen können, doch im 20. Jahrhundert damit den hochgesteckten Anspruch zu verbinden, dieses ,freiheitliche‘ Vorhaben setze „allerdings die Elimination des Kapitalisten“ (Tönnies, 1926, S. 62) voraus, reproduziert marxistische Positionen. Wenn die europäische Bevölkerung von Anfang bis Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien von 16,4 auf 41,8 Mio., in Deutschland von 30,1 auf 56,4 Mio., in Russland von 43,7 auf 105,6 Mio., in Frankreich dagegen nur von 33,1 auf 39,0 Mio. Einwohner anwuchs, so können allein aufgrund dieser Bevölkerungszunahme krisenhafte Arbeitsmarktprobleme sowie städtische Wohnungsnöte erahnt

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werden, die industrialisierende Staaten bewältigen mussten, sofern sie überhaupt kapitalistisches Wachstum mit wohlstandserzeugender Produktion anstrebten. Staaten, die in wenigen Jahrzehnten mit einer Verdoppelung ihrer Bevölkerung konfrontiert waren, sahen sich mit erheblichen Versorgungsengpässen konfrontiert, etwa genügend Arbeitsplätze anzubieten oder sie mussten darauf vertrauen, dass die Industrie einen derartigen Nachfrageboom verzeichnete, um in neuen Produktionsstätten die überschüssigen Arbeiter, die nicht auswandern wollten, zu beschäftigen. Es ist deswegen eine weitgehende Verkennung des internationalen, industriellen Wettbewerbs um Absatzmärkte, gerade gegenüber dem französischen Staatszentralismus – denn das liberalkapitalistische Wirtschaftssystem konnte und wollte, im gravierenden Unterschied zu Merkantilismus, keine umfassenden politischen Maßnahmen gegen eine geringe oder hohe Bevölkerungszunahme ergreifen –, wenn Ende des 19. Jahrhunderts behauptet wurde: „Der Capitalismus in Deutschland, wie überall, ist nur durch die theils bewusste, theils unbewusste Mithilfe des Staates in die Höhe gekommen.“ (Meyer, 1894, S. 134). Die zentralistische Nation Frankreich hatte mit einer besonderen Schwierigkeit zu kämpfen, die sich eventuell auf ihre kapitalistische Entwicklung negativ auswirkte, weil ein dynamisches Wachstum nach 1815 wegen mangelnder Industrialisierung ausblieb. Eine geringe französische Bevölkerungsdichte kann nämlich als ein ökonomischer Indikator dafür angesehen werden, warum Frankreich im 19. Jahrhundert wirtschaftlich stagnierte und keine wohlstandsfördernde Industrialisierung durchführen konnte, wie etwa Deutschland oder England. Der deutsche Finanzwissenschaftler Carl Alexander Friedrich Ulrich von Tyszka (1873 – 1935) glaubte im Ersten Weltkrieg sogar, der geringe französische Geburtenüberschuss habe diesen Staat „aus der Reihe der führenden Industriestaaten ausgelöscht, trotz seines großen Kapitalreichtums, trotz seiner blühenden Kolonien, trotz seiner bedeutenden Unternehmungen, seiner Kohlen- und Erzlager, der hohen Intelligenz seiner Bevölkerung!“ (Tyszka, 1916, S. 8). Diese übertrieben pessimistische Ansicht ist nicht sehr überzeugend, denn kleine und nicht besonders bevölkerungsreiche Staaten, wie Belgien oder die Schweiz, haben trotz geringer Bevölkerung und wie im Schweizer Fall, auch ohne große Kohlenund Erzlager, einen rasanten Industrialisierungsprozess durchlaufen, selbst wenn die Geburtenrate nicht besonders hoch war, weil sie ihre Industrieproduktion intensivierten und ausbauten. Die wesentlichen Gründe

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für ein geringeres Industrialisierungstempo in Frankreich lagen in der vom Physiokratismus überbetonten Rolle der produktiven Funktion der Landwirtschaft, dem geringen staatlichen Interesse an einer Arbeitergesellschaft, den fehlenden oder geringen Steinkohlen- und Erzvorkommen in außergewöhnlicher Größe zum kontinuierlichen Aufbau einer wachstumsstarken Eisen- und Stahlindustrie sowie dem Maschinenbau als auch in zu wenig Unternehmensinitiativen auf breiter gesellschaftlicher Basis. Um 1900 lebten in Europa ungefähr 397,97 Mio. Menschen, die Einwohner pro km2 lagen in Großbritannien bei 132, in Italien bei 113, im Deutschen Reich bei 104, in Frankreich bei 73,6, in Spanien bei 37 und in Russland lediglich bei 20 Einwohnern pro km2, denn die östlichen Territorien dieses Riesenreiches waren damals kaum besiedelt. Die Bevölkerungskonzentration hatte in hochindustrialisierten europäischen Staaten Dichtigkeitsgrade erreicht, die in der ganzen europäischen Geschichte unvorstellbar gewesen wären und heute in manchen Entwicklungsländern und in südamerikanischen oder chinesischen Städten spektakulär wiederkehren mit entsprechenden sozialen Problemen. Um nur noch einen Indikator für das lange unbewältigte Bevölkerungsdilemma anzuführen, möchte ich kurz die zahlenmäßige Entwicklung in einigen europäischen Großstädten betrachten, wo sich kapitalistische Unternehmen mit Tausenden von Arbeitern konzentrierten und zur industriellen Massenproduktion übergingen. Im 19. Jahrhundert explodierten die Einwohnerzahlen in Industriestädten und überschritten die gewohnten Grenzen, wie heute in unterentwickelten Staaten, weswegen sie zu sozialen Elendsquartieren und teilweise zu kriminellen Brutstätten verkamen und verkommen. An einigen Beispielen möchte ich die tatsächliche Städteentwicklung bei den Einwohnerzahlen in jeweils drei Jahren des 19. Jahrhunderts nebeneinanderstellen: London 1801: 958.863, 1851: 2.363.221, 1901: 4.536.541; Paris 1801: 547.756, 1851: 1.053.262, 1901: 2.714.068; Berlin 1800: 172.132, 1850: 418.733, 1900: 2.528.831; Wien 1800: 231.949, 1850: 431.147, 1900: 1.714.166; Moskau 1800: 300.000, 1860: 351.609, 1900: 1.035.664; Brüssel 1801: 66.200, 1850: 142.289, 1900: 558.012; Liverpool 1801: 82.295, 1851: 375.955, 1901: 684.947; Manchester 1801: 84.000, 1851: 335.610, 1901: 543.969; Hamburg 1811: 106.983, 1852: 158.775, 1900: 705.738 (Juraschek [Hrsg.], 1907, S. 78 f.). Es muss allerdings betont werden, um keine falschen Assoziationen mit den italienischen Handelsstädten lange vor einer Industrialisierung auf-

II. Bevölkerungszunahme als Bedrohung oder Wachstumsgenerator

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kommen zu lassen, dass wirtschaftlich blühende Städte allein den europäischen Kapitalismus nicht geschaffen oder aufgebaut haben, denn der moderne Kapitalismus war ein staatliches Phänomen, d. h. er konnte nur in staatlichen Gebilden umgesetzt und duchgeführt werden. Städte waren eher Motoren oder Beschleuniger einer z. B. von der englischen Baumwollindustrie eingeleiteten Modernisierung des Gewerbewesens, die nicht allein städtisch konzentriert war, sondern sich über das ganze Land verteilte. Das Städtewachstum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts speiste sich von der zunehmenden Konzentration von Großunternehmen mit Tausenden von Arbeitern, die eine verbesserte städtische Infrastruktur und ein ausgebautes Verkehrssystem sowie eine städtenah angesiedelte Zulieferindustrie nutzten, um Massenprodukte herzustellen und weltweit abzusetzen. Ein frappierendes Beispiel für eine geringe Bedeutung von vorhandenen Großstädten als kapitalistischer Industrialisierungsantrieb ist das Ruhrgebiet, das seit den 1840er Jahren industriell regelrecht explodierte, weil dort riesige Steinkohlenvorkommen entdeckt und erschlossen wurden, auf deren im Untertagebau gelegenen Basis ein Industriekonglomerat entstand, das alle größenmäßig vergleichbaren europäischen Regionen in seiner Wirtschaftsdynamik zuerst einholte und dann weit hinter sich ließ. Waren im frühen 19. Jahrhundert Städte wie Dortmund oder Essen unbedeutende Zentren in einem ländlich geprägten Umfeld gegenüber Großstädten wie Berlin oder Hamburg, so waren sie bis 1910 auf 214.226 bzw. 294.653 Einwohner angewachsen. Solche Vergleiche ließen sich beliebig fortsetzen, doch ich wollte hier lediglich darauf hinweisen, dass die Industrialisierung das Städtewachstum zwar nachhaltig befördert hat, doch die Städte nicht ursächlich für den Kapitalismus verantwortlich waren und ihn vorangetrieben haben. Allerdings führten die regionalen, industriellen Schwerpunkte im deutschen Föderalismus dazu, dass kein überragendes, zentralistisches Städtezentrum wie London oder Paris entstehen konnte, sondern eine erheblich größere Anzahl von deutschen Städten mit über 100.000 Einwohnern als in England oder Frankreich (vgl. Kiesewetter, 2004, S. 133 ff.).

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III. Die Bedeutung von Privatunternehmern ist überschätzt worden Vielfältige und unterschiedliche Faktoren haben dazu beigetragen, damit der moderne Kapitalismus sich entfalten und durchsetzen konnte, die selbstverständlich nicht in allen industrialisierenden Staaten in gleicher Stärke vorhanden waren oder geschaffen werden konnten. Selbst ökonomische Indikatoren, die zeigen können, dass der Industriekapitalismus ein neues Zeitalter begründete, sind zu zahlreich, um sie auch nur aufzuzählen, weswegen ich mich aus Platzgründen damit begnügen möchte, noch einen einzigen Faktor anzuführen und etwas zu beleuchten. Nämlich den durchsetzungsfähigen Privatunternehmer, der seit den Anfängen der Industrialisierung oft aus wenig begüterten Kreisen stammte, wie dem Handwerk oder auch der Landwirtschaft, ehe er den waghalsigen Entschluss fasste, durch eine Fabrikgründung industriell tätig zu werden. Der merkantilistische Kaufmann wie der leitende Angestellte in einer Manufaktur mussten selbstverständlich, wenn sie erfolgreich sein wollten, ebenfalls über unternehmerische Fähigkeiten verfügen, auch wenn sie nur einzelne Bereiche betrafen, die sie beherrschten oder organisierten. Der gravierende Unterschied zur kapitalistischen Unternehmerschaft bestand darin, dass ein Privatunternehmer einer erheblich intensiveren nationalen sowie internationalen Konkurrenz ausgesetzt war, die erhöhte Innovationskraft und fast rücksichtslosen Unternehmergeist verlangten, wenn sie sich gegenüber rivalisierenden Konkurrenten sowohl in ihrem eigenen Staat als auch gegenüber ausländischen Unternehmern durchsetzen wollten. Der frühe Unternehmertyp konnte seinen Kapitalbedarf entweder aus eigenen Ersparnissen finanzieren oder von Verwandten und Freunden leihen, denn der Investitionsbedarf war bei den ersten Industrieunternehmen der Textil- und Werkzeugindustrie sowie dem Maschinenbau meist gering, denn sie waren relativ klein und begannen ihre Produktion oft in einer Hinterhofwirtschaft. Mit der rasanten Ausbreitung von Aktienunternehmen mit Tausenden von Arbeitern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren kapitalistische Unternehmer nicht mehr Allroundfachleute, die sich für jeden Arbeitsablauf zuständig fühlten, sondern sie benötigten organisatorische Strukturen, die in früheren Fabriken unbekannt waren und besondere Kenntnisse erforderten, die sie sich entweder selbst aneignen mussten oder entsprechend dafür ausgebildete Fachleute einstellten. Auch die benötigte

III. Die Bedeutung von Privatunternehmern ist überschätzt worden

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Finanzierung der Unternehmen konnte nicht mehr, wie in der Frühindustrialisierungsperiode, allein aus privaten Quellen beschafft werden, sondern erforderte ein ausgebautes Bankensystem, das die Konzerne mit genügend Investitions-Kapital ausstattete, das ständig größere Dimensionen annahm. Die technologische und wissenschaftliche Weiterentwicklung von großindustriellen Unternehmen verlangte außerdem Managerqualitäten, die einen dynamischen industriellen Kapitalismus entstehen ließen, wie er vorher undenkbar gewesen wäre (Chandler, 1990). Wegen eines ,Herr-im-Hause‘-Standpunktes wurden Unternehmen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts angefeindet, denn oberflächlich konnte der negative Eindruck entstehen, dass sie nur danach strebten, wie sie dem Mitkonkurrenten seinen Profit entreißen und an sich bringen konnten, um sie aus dem umkämpften Markt zu drängen oder zu vernichten. Der sozialistische Arbeiterführer und revolutionär gesinnte Ferdinand Lassalle (1825 – 1864) hat diese angebliche Unternehmergier klassisch formuliert: „Es ist das aus der freien Concurrenz hervorgehende Talent, welches nicht die Steigerung und Vermehrung des gesammten Produktionsertrags, sondern die Vertheilung desselben, seine Umschüttung aus den Händen des einen Individuums in die des andern zur Folge hat.“ (Lassalle, 1864, S. 225. Hervorhebungen im Original). Auch wenn die bedeutende Rolle des Unternehmertums bei dem jahrzehntelangen Aufbau von profitablen Industrien nicht geleugnet werden soll, kann ich nicht die oft vertretene Auffassung teilen: „Der Kapitalismus ist das Werk einzelner hervorragender Männer, daran kann kein Zweifel sein“ (Sombart, 1916, S. 836), gleichgültig, ob damit handelnde Unternehmer oder führende Politiker als Gesetzgeber gemeint sind. Abgesehen davon, dass die politischen und unternehmerischen Fähigkeiten von Frauen dabei unberücksichtigt bleiben, obwohl sie durchaus, wenn auch in den Anfängen nur vereinzelt, industriell aktiv waren, entspricht die analytische Einengung auf Persönlichkeiten nicht dem vielfarbigen Kranz von Faktoren, die vorhanden sein und geschaffen werden müssen, um eine kapitalistische Entwicklung beginnen und durchsetzen zu können. Diese personalistische Überbetonung eines einzelnen Faktors wird der mehrebenen Vielgestaltigkeit der Industrialisierung nicht gerecht, weil dadurch andere, entscheidende Voraussetzungen unter den analytischen Tisch fallen. Es brauchen hier nicht die einzelnen Faktoren aufgelistet und beschrieben zu werden, um zu verdeutlichen, dass die Sombartsche Aussage nicht zutreffend oder überzeugend sein kann,

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E. Die europäische Industrialisierung

denn es scheint einsichtig, dass Unternehmer allein den Kapitalismus mit seinen vielfältigen Ausprägungen nicht erschaffen konnten. An einem einzigen Indikator, den Bodenschätzen, möchte ich andeuten, dass für die unrevidierbare Durchsetzung des Kapitalismus mehr benötigt wird als ,hervorragende Männer‘ oder auch Frauen, selbst wenn deren industrielle Bedeutung beim zügigen Aufbau von Produktionsstätten gar nicht bestritten werden soll. Ob in einer Region genügend Personen mutig genug waren, um sich auf ein solches unkalkulierbares Abenteuer wie eine riskante Unternehmensgründung einzulassen, da noch keineswegs ein erfolgreiches, gewinnträchtiges Geschäft garantiert war und einige von ihnen bald bankrottgingen, war abhängig von fördernden Umständen, wie etwa genügend Absatz ihrer gefertigten Produkte oder keine zollbedingte Abschottung ihrer Waren auf ausländischen Märkten. Ein weiteres faktisches Argument sollte man bei einem halbwegs ausgewogenen Urteil über die organisatorischen Schwierigkeiten einer kapitalistischen Unternehmensgründung akzeptieren und berücksichtigen: Eine moderne Fabrik unterscheidet sich nämlich hinsichtlich des erforderlichen Kapitalbedarfs bei weitem von angelegtem Kapital in Handwerks- oder Manufakturbetrieben, die je nach Größe ebenfalls ausreichend Kapital benötigen, doch gegenüber einem Großunternehmen wie Siemens & Halske, Krupp, BASF oder die AEG nur Bruchteile davon erfordern und betriebswirtschaftlich einsetzen. Was den modernen Industriebetrieb außerdem auszeichnet, ist eine konsequente Trennung von leitender und ausführender Arbeit, von Erwerbs- und Konsumwirtschaft, von weitgehender Aufteilung in zahlreiche Arbeitsprozesse oder technischer Produktionszergliederung sowie einer rationellen Organisation von Herstellung und Vertrieb der produzierten Güter. Es ist deshalb fraglich, ob man „das Wesen des Kapitalismus in der geldlichen Durchdringung der Wirtschaft“ (Below, 1926, S. 405) überhaupt korrekt erfassen kann, obwohl Georg von Below durchaus bewusst war, dass scharfe Unternehmenskonkurrenz mehr benötigt, nämlich: „Kaufmännische Kalkulation, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Rationalisierung der Produktion, Organisationstalent werden in dem großen Betrieb gerade um seiner Größe willen, um den Überblick und die Kontrolle über den vergrößerten Betrieb festzuhalten, notwendig, und die kleinen Betriebe folgen dann in dieser Technik nach, um im wirtschaftlichen Erfolg leidlich mitzukommen“ (ebd.). Daraus allerdings zu folgern, dass dort, wo angehäuftes Geld oder Kapital einen mächtigen Anreiz zur industriellen Tätigkeit ausübe, d. h. in

IV. Natürliche Ressourcen und andere Faktoren

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Großunternehmen, auch schon der moderne Kapitalismus verwirklicht sei, kann uns nicht überzeugen. Ich möchte mich deshalb nicht der m. E. überzogenen Auffassung anschließen: „Die Anhäufung von betrieblichem Kapital ist die Voraussetzung für sein [des Kapitalismus. H.K.] Aufkommen“ (ebd., S. 434), denn dadurch wird die funktionale Rolle von Kapital überbetont. Eher kann ich mit der bereits 1917 geäußerten Ansicht von Robert Liefmann (1874 – 1941) übereinstimmen: „Den Kapitalismus nur als die Epoche großer Unternehmungen zu charakterisieren, genügt jedenfalls noch nicht.“ (Liefmann, 1920, S. 600).5

IV. Natürliche Ressourcen und andere Faktoren Natürliche Ressourcen waren ebenfalls ein bedeutender Faktor, denn was die Bodenschätze betraf, galt meist folgendes: Ob in einer europäischen Region seit dem Mittelalter z. B. Salzlager, Gold- und Silbererze oder später massenhaft Steinkohlenvorkommen vorhanden waren und erschlossen oder ausgebeutet werden konnten, beruhte auf geologischen Zufällen und gewerblichen Initiativen, die teilweise bis ins Mittelalter zurückreichen und inzwischen gut erforscht sind. Sehr früh nach der Entdeckung dieser Bodenschätze wurde über unternehmerischen oder staatlichen Reichtum entschieden, der durch eine gezielte Ausbeutung dieser meist unterirdischen Vorräte erzielt wurde, wenn sie reichlich vorhanden waren. Im sächsischen Erzgebirge, eine für landwirtschaftliche Bebauung ziemlich kärgliche Region, datieren die ersten Silberfunde in die 1160er Jahre, weswegen das sogenannte Berggeschrey silber- und goldhungrige Abenteurer anlockte – wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Goldminen der USA – und in den folgenden Jahrhunderten im Erzgebirge zu einem ungewöhnlichen Städtewachstum führte, das diesen abgelegenen und schneereichen Landstrich nicht nur industriell verwandelte und modernisierte. Um nur einige Beispiele von Stadtgründungen kurz aufzulisten, die nacheinander erfolgten: Freiberg (1218), Schwar5

Allerdings erscheint es mir heute, über ein Jahrhundert später, bei einem Millionenheer von Leiharbeitern und Arbeitslosen, ziemlich unrealistisch, zu glauben: „Vielleicht ist der Höhepunkt des Kapitalismus dann erreicht, wenn schließlich auch die Arbeiter in immer größerem Umfang Kapitalisten werden, sich so hohen Lohn ausbedingen können, daß sie noch mehr als bisher an der Kapitalbildung selbst beteiligt sind.“ (Liefmann, 1920, S. 606).

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zenberg (1282), Schneeberg (1477), Annaberg (1497), Jöhstadt (1517), Marienberg (1521), Scheibenberg (1522) oder Oberwiesenthal (1526), die weitere Bergmänner oder Familien anzogen, weil dort einträgliche Arbeitsmöglichkeiten angeboten wurden, auch wenn der Untertagebergbau lebensgefährlich war. Die sächsischen Landesherren, die keineswegs geborene Unternehmer waren, stiegen durch den mehrere Jahrhunderte ausgebeuteten Silberreichtum des Erzgebirges zu ,Kapitalisten‘ auf, wovon das Grüne Gewölbe in Dresden bis heute Zeugnis ablegt (vgl. Kiesewetter, 1997, S. 468 ff.).6 Bei den Steinkohlenvorkommen war die ökonomische Situation noch dramatischer, was die unerwartete Chance betraf, eine kapitalistische Industrialisierung zu einem frühen Zeitpunkt zu beginnen und auszubauen, wenn große Steinkohlenlager erschlossen und ausgebeutet werden konnten. Diejenigen Staaten oder Regionen nämlich, die über ausgedehnte regionale Steinkohlenvorkommen verfügten und sie systematisch ans Tageslicht beförderten, wie England, Belgien oder Oberschlesien, hatten massive Industrialisierungsvorteile, während Staaten ohne oder nur mit geringen Steinkohlenlagern, wie Frankreich, Russland, Spanien oder die Niederlande im 19. Jahrhundert zu keinen wohlhabenden kapitalistischen Gesellschaften aufsteigen konnten (vgl. Kiesewetter, 2000, S. 109 ff.). Kapitalismus ist also ein komplexes System divergenter Faktoren, die sich von Periode zu Periode unterscheiden, und deren ökonomisches Zusammenspiel den industriellen Reifegrad oder die geographische Ausdehnung der kapitalistischen Entwicklung auf eine unvorhersehbare Weise bestimmte oder dominierte. Noch etwas kam hinzu: Das liberalkapitalistische Wirtschaftssystem à la Adam Smith bürdete den industriellen Akteuren eine unternehmerische Verantwortung auf, der sie trotz ausgeprägtem Willen und durchsetzungsstarker Entschlossenheit selten gerecht geworden sind. Diese verantwortungsschwachen Verhaltensweisen laufen selbstverständlich einem religiösen Ethos zuwider, wie es Max Weber dem Calvinismus zugeschrieben, jedoch nicht auf den modernen 6 Bernhard Laum: Heiliges Geld. Eine historische Untersuchung über den sakralen Ursprung des Geldes, Tübingen 1924, S. 128, macht auf die ursprünglichen Zusammenhänge aufmerksam: „Gold war das Symbol der Sonne, Silber Symbol des Mondes, Kupfer Symbol der Venus. Von der großen Rolle, die die Edelmetalle in der Religion spielten, leitet sich die Wertschätzung her, die sie auch im weltlichen Verkehr haben … Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber betrug während der ganzen Antike und noch weit in Mittelalter und Neuzeit hinein 1 : 131/2.“

IV. Natürliche Ressourcen und andere Faktoren

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Kapitalismus übertragen hat. In diesen unternehmerischen Unzulänglichkeiten oder persönlichem Fehlverhalten liegt wohl auch begründet, warum der europäischen Unternehmerklasse wegen ihres teilweise rigorosen Vorgehens oft wenig Sympathie entgegengebracht wurde, obwohl sie für eine langfristige Durchsetzung der modernen Industrie unverzichtbar war und diesen schlechten Ruf eigentlich nicht verdient hat. Das unternehmerische Einzelkämpfertum, trotz auftretender Widerstände einer neuerungsfeindlichen Umwelt, neue und gefragte Produkte auf den Markt zu bringen sowie die industrielle Güterproduktion selbst in konjunkturell schlechten Zeiten auszuweiten, hat wohl Werner Sombart dazu bewogen, auch Eroberer und Räuber als „eine Abart von kapitalistischen Unternehmern“ (Sombart, 1988, S. 79) zu bezeichnen. Die eigentümlichen Motive dieses neuen Typus von Gewinnstreben, Protzentum und Gönnerschaft können nicht einfach im europäischen Maßstab herausgearbeitet werden, denn sie wurden von so unterschiedlichen Charakteren repräsentiert wie z. B. dem arbeiterfreundlichen Robert Owen im schottischen New Lanark, von dem angeblich ein „utopistisch-philanthropischer Socialismus“ (Meyer, 1894, S. 130) entwickelt wurde, oder dem erzkonservativen Eisenindustriellen Karl Ferdinand Frh. von Stumm-Halberg aus Neunkirchen, der einen arbeiterfeindlichen ,Herr im Hause‘-Standpunkt vertrat. Unter ,Unternehmen‘ können wir uns ebenfalls sehr unterschiedliche Dinge oder Handlungen vorstellen, die von einer gesellschaftlichen Aktivität über einen handelsgesteuerten Warenaustausch bis zu Industrieunternehmen reichen, die eigentlich unverbunden nebeneinanderstehen und lediglich durch den allgemeinen Ausdruck ,etwa unternehmen‘ verbunden sind und gekennzeichnet werden. Hier möchte ich mich auf Industrieunternehmen beschränken, denn in ihnen ist eine übergroße Zahl an Arbeitssuchenden bzw. Arbeitern beschäftigt worden, wenn auch zuerst unter unzumutbaren Bedingungen, wie schlechte gesundheitliche Zustände oder miserable Bezahlung. Es ist wegen der ungewöhnlichen Zahl von Arbeitern in Fabriken vorgeschlagen worden, für den modernen Kapitalismus die faktische Größe von Unternehmen und das von ihnen benötigte Kapital als messbares Abgrenzungskriterium gegenüber mittelalterlichen Handelsgesellschaften oder neuzeitlichen Manufakturen einzuführen. Als sachliche Begründung dafür wurde angeführt, dass in allen diesen gewerblichen Formen es unselbständige Arbeiter gegeben habe, deren Tätigkeiten nicht klar voneinander zu trennen sind, doch

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E. Die europäische Industrialisierung

massenhafte Beschäftigung hätte erst der Industriekapitalismus durchgesetzt. Dagegen sei in der altdeutschen Grundherrschaft den beschäftigten Arbeitern, die landwirtschaftliche Arbeit entweder für den Grundherren oder für den eigenen Bedarf verrichtet hätten, nur eine „verhältnismäßige Selbstständigkeit“ (Below, 1926, S. 402) gewährt worden, sie könnten also mit der Industriearbeiterschaft nicht auf die gleiche Stufe gestellt werden. Kapitalistische Unternehmen seien durch quantitative und qualitative Größe gekennzeichnet und nicht durch eine dauernde Unselbständigkeit der beschäftigten Arbeiter, die in einer Fabrik ihren Lebensunterhalt verdienten, während sie nach der täglichen Arbeit ,frei‘ gewesen seien. Wenn wir dem Größenindikator der Fabrikindustrie als wesentliches Kennzeichen des Kapitalismus auch skeptisch gegenüberstehen, so kann es nicht zweifelhaft sein, dass die kapitalistische Industrie durch eine vorher unvorstellbare Unternehmensvielfalt gekennzeichnet ist. Es sind allerdings auch andersartige Interpretationen vorgetragen worden, die stärker polemisch als sachlich argumentieren, um den Kapitalismus in ein trübes Licht zu tauchen und ihm alle seine Versäumnisse vorzuhalten. Wenn man z. B., wie der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, nach einer Diskussion mit dem Nestlé-Präsidenten Peter Brabeck-Letmathe, behauptet: „Die kapitalistische Produktionsweise trägt die Verantwortung für unzählige Verbrechen, für das tägliche Massaker an Zehntausenden von Kindern, durch Unterernährung, Hunger und Hungerkrankheiten, für Epidemien, die schon lange von der Medizin besiegt wurden, für die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die Vergiftung der Böden, des Grundwassers und der Meere …“ (Ziegler, 2019, S. 10), dann braucht man sich nicht mehr intensiv um die eigentlichen Ursachen von positiven oder negativen Begleiterscheinungen dieser mächtigen kapitalistischen Konzerne zu kümmern, denn dann ist man felsenfest davon überzeugt, dass der Kapitalismus „eine kannibalistische Ordnung geschaffen“ (ebd., S. 11) hat.7 Die moralische Verantwortung für die ,Massaker‘ von Staaten und ihren Politikern an Millionen 7 Der uralte Traum von einem paradiesischen Zustand unserer so verruchten und verseuchten kapitalistischen Welt wird erneut aufgetischt und offeriert, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er jedes Mal an den unvollkommenen menschlichen Realitäten gescheitert bzw. zerschellt ist: „Damit eine neue, menschliche Welt entstehen kann, müssen die Privilegien und die Allmacht der Kapitalisten im Mülleimer der Geschichte verschwinden, so wie einst die Privilegien und die Allmacht der Grafen und Herzöge.“ (Ziegler, 2019, S. 116).

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von Menschen kann dann ebenfalls dem ,Kapitalismus‘ aufgebürdet werden, denn er beherrscht ja nach marxistischer Auffassung die Politik, die nur als steuerbares Anhängsel der Ökonomie angesehen wird. Schon Karl Marx hatte 1867 die unternehmervernichtende Ansicht vertreten: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“ (Marx, 1962, S. 790), weshalb für ihn ein Kannibalismus entfallen konnte, da sie sich bald gegenseitig ausgerottet haben. Es braucht hier nicht mehr ausführlich erörtert zu werden, dass solche Pauschalurteile wie die Zieglersche über den globalen Kapitalismus eine äußerst geringe Erklärungskraft für die eigentlichen Zusammenhänge besitzen und offenbar lediglich vorgetragen werden, um dieses Wirtschaftssystem in den düstersten Farben erstrahlen zu lassen, welches man als menschenfreundlicher Bürger eigentlich nur noch zerstören müsste.

V. Industrielle Produktion und Wandel der Gesellschaft Je weiter der europäische oder amerikanische Industrialisierungsprozess fortgeschritten war und je komplizierter die industriellen Verfahrensweisen und die organisatorischen Produktionsabläufe in verschiedenen Industrie-Branchen wurden, d. h. je intensiver wissenschaftliche Verfahren und großtechnologische Abläufe den praktischen Produktionsprozess beeinflussten, desto stärker verlangten die ausgeklügelten Unternehmensstrategien einen ,ökonomischen Rationalismus‘ (Max Weber) oder effektive Kalkulationsmethoden, um im organisierten Kapitalismus bestehen zu können. Man benötigt gewiss keine mystischen Wunderkräfte oder supernaturalistische Anfälle, um die außergewöhnlichen Anforderungen der hochkapitalistischen Wirtschaft an eine industrielle Unternehmerschaft zu verstehen, ehe Managerunternehmer weitgehende Leitungs- und Organisationsaufgaben übernahmen. In der zugespitzten und wenig realistischen Terminologie Werner Sombarts lautet dieses ungewöhnliche, fast schizophrene Verhalten: „Die kapitalistische Raserei eines modernen Unternehmers ist natürlich nur möglich, wenn wirklich technische Wunderwerke zu vollbringen im Bereiche der Möglichkeit liegt.“ (Sombart, 1988, S. 312). Eher das Gegenteil als ,technische Wunderwerke‘ können wir beobachten: Die neuen Formen der unternehmerischen Organisation, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in fast allen europäischen Industriestaaten und später in den USA oder Japan

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E. Die europäische Industrialisierung

herausgebildet haben, tragen nicht die historischen Züge einer evolutionären Entwicklung, sondern im Sinne Joseph Schumpeters ausgeprägte Merkmale einer „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter, 1950, S. 134 ff.), d. h. einer fortlaufenden Anpassung an veränderte ökonomische Herausforderungen, die durch Konjunkturzyklen, internationalen Wettbewerb oder durch massenhaft nachgefragte neue Konsumgüter entstanden sind. Diese ökonomischen und politischen Reformbemühungen können bis heute bei vielen Analytikern das negative Bild des Kapitalismus nicht aufhellen, sondern weil er sich angeblich nicht reformieren lässt, bleibt scheinbar nur der einzige Ausweg: „Man muss ihn zerstören.“ (Ziegler, 2019, S. 116). Was wir im 19. Jahrhundert in mehreren europäischen Industriestaaten nachweisen, d. h. empirisch untermauern können, war nicht nur eine unvorstellbare Ausweitung der industriellen Produktion, des internationalen Handels und der allmählichen Verbreiterung des Konsums von unterschiedlichen Industriegütern – was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Massenkonsumgesellschaften nicht für möglich gehaltene Dimensionen annahm –, sondern ebenfalls eine mentale Umwälzung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, die zu einem Millionenheer anschwoll und politische Forderungen stellte; im kaiserlichen Deutschland vor allem politische Mitbestimmung. Ein ganzes Jahrtausend lang wurde das tägliche Schicksal der meisten arbeitenden Menschen von einer landwirtschaftlichen Tätigkeit unter feudalistischer Oberhoheit dominiert sowie geprägt und noch um 1800 waren in Deutschland, Frankreich oder Spanien etwa 80 % der Beschäftigten in bäuerlichen Betrieben tätig, die oft in religiöser Andacht ihr menschliches Schicksal auf einem Bauernhof erduldeten, ehe sie meistens früh verstarben. Die kontinuierliche und massenhafte Verschiebung der Arbeitskräfte vom landwirtschaftlichen in den industriellen Sektor bedeutete nicht nur eine drastische Veränderung der Arbeits- und Lebensgewohnheiten oder einen fast unersetzbaren Verlust agrarischer Wurzeln, sondern eine mentale und psychologische Entwurzelung heimatverbundener Menschen, die heute noch als dramatisch angesehen werden kann. Die landwirtschaftliche Arbeit auf einem grund- oder gutsherrlichen Bauernhof war vor den Agrarreformen eingebettet in einen natürlichen Tagesrhythmus, den man von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gottergeben absolvierte.

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Aus dieser unfreien ,Idylle‘, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts romantisch verklärt wurde,8 wurden Millionen von Menschen in eine fremdgesteuerte Arbeitswelt hineingeschleudert und hineingezwungen, die ihnen fabrikatorisch vorgegebene Arbeitsabläufe ohne eine realistische Alternative aufzwang, denen sie auf Gedeih und Verderben ausgeliefert waren. Es dauerte Jahrzehnte, ehe frühere Landarbeiter sich in den stupiden Arbeitstrott von Industriebetrieben eingewöhnt hatten, und manchen gelang es überhaupt nicht, wenn sie nicht auswandern konnten. Zu diesen kräftezehrenden und gesundheitsgefährdenden Arbeitsabläufen gehörten eine rigide Schichtarbeit, ungesunde, schwere körperliche Tätigkeiten, die ihnen kein geregeltes oder harmonisches Familienleben ermöglichten und oft mit stundenlangen Fußmärschen in die Fabrik und nach Hause verbunden waren, weswegen der Schlaf meist auf wenige Stunden verkürzt wurde. Es dauerte mindestens ein halbes Jahrhundert, ehe soziale Reformen, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne auch durch unterstützende Gewerkschaften durchgesetzt werden konnten.9 Die Interventionsneigung oder der -wille des Staates war in einem liberalkapitalistischen System trotzdem gering, weswegen die soziale Absicherung der arbeitenden Bevölkerung bis Mitte des 20. Jahrhunderts unzureichend blieb, auch wenn die Bismarckschen Sozialgesetze einen ersten Anfang bedeuteten, die nach und nach von anderen europäischen Staaten nachgeahmt wurden. Wenn man allerdings davon überzeugt ist, dass es ein Gesetz der kapitalistischen Politik sei: „Das Endresultat ist nicht die Reform des Kapitalismus, sondern der Bankrott der Reform“ (Sweezy,

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So schrieb der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897) um 1851: „Es ruht eine unüberwindliche conservative Macht in der deutschen Nation, ein fester, trotz allem Wechsel beherrschender Kern – und das sind unsere Bauern.“… „Der Bauer hat in unserm Vaterlande ein politisches Gewicht wie in wenig andern Ländern Europa’s; der Bauer ist die Zukunft der deutschen Nation.“ (Riehl, 1861, S. 51). 9 Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka schreibt über eine im Industriezeitalter veränderte Lohnarbeit: „Es war der Druck der Arbeiterforderungen im Betrieb, in den Streiks, durch Gewerkschaften und in der Politik, der zu den genannten Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse beitrug und damit, so kann man sagen, zur Zivilisierung des Kapitalismus.“ (Kocka, 2013, S. 108). Allerdings bedient sich Kocka eines ziemlich weiten und deshalb nicht sehr präzisen Kapitalismusbegriffs, der nach ihm als Kaufmannskapitalismus bis in die Antike zurückreicht; auch wurde z. B. „der Kapitalismus im europäischen Mittelalter von Kaufleuten getragen“ (S. 39).

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1970, S. 411), dann benötigt man keine Reformen mehr, sondern nur noch eine zerstörerische Revolution.10 Es ist eine journalistische Vereinfachungsformel, die nur eine geringe Erklärungskraft für die faktoriellen Voraussetzungen des modernen Kapitalismus besitzt, wenn noch vor sieben Jahren behauptet wurde: „Die Industrialisierung begann in England, weil dort die Reallöhne doppelt so hoch lagen wie im restlichen Europa“ (Herrmann, 2015, S. 50). Die grundlegenden ökonomischen, sozialen oder politischen Faktoren für eine Industrialisierung haben nämlich mit hohen oder niedrigen Löhnen so wenig zu tun wie der atmosphärische Luftdruck mit prall gefüllten Autoreifen oder der vor dem Himmelstor stehende Reiche mit dem durch ein Nadelöhr sich zwängenden Kamel. Das gesamte Leben im Industriekapitalismus hat mit allen vorhergehenden kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaften nur noch geringe Ähnlichkeit, selbst wenn z. B. der Merkantilismus bereits eine komplexe Form von Gewerben, Handel und Kapitalkonzentration entwickelt hatte, die lange wegen einer wissenschaftlichen Konzentration auf politische oder monarchische Entwicklungen größere Aufmerksamkeit in den entsprechenden Forschungen erregten. Die existentiellen Grundlagen einer agrarisch dominierten Lebensweise wurden allerdings durch den Industriekapitalismus ausgehöhlt und auf lange Sicht beseitigt, weswegen Rousseaus Zurück zur Natur! als ein verzweifelter, doch unerhörter Rettungsruf nach einer vergangenen Welt angesehen werden kann, der allerdings in kapitalistischen Gesellschaften nicht mehr erhört werden konnte. Welche massive Resistenzbereitschaft wir im 19. Jahrhundert unter Tausenden entwurzelter Industriearbeiter antreffen, zeigt sich nicht nur an den häufigen Streikaktivitäten – die in den ersten Phasen des Industriezeitalters meistens mit Aussperrungen und Entlassungen von Unternehmern beantwortet wurden –, sondern ebenso an demonstrativen Arbeitsverweigerungen und lohnlosen Streiks. Für einen Landbürger, der den natürlichen Tagesrhythmus gewohnt war und sich nun in der städtischen Fabrik den täglichen oder nächtlichen Arbeitszeiten anpassen musste, bedeutete die industrielle Arbeit wohl zuerst eine teuflische Höllenqual. 10 Der Sozialismus kann nach Paul M. Sweezy (1910 – 2004) nicht durch eine stufenweise, friedliche Entwicklung errichtet werden, sondern: „Bis auf den heutigen Tag ist der Sozialismus als Ergebnis revolutionärer Umwälzungen in die Welt gekommen und konnte seine Position nur nach einem von seinen Feinden entfesselten blutigen Bürgerkrieg errichten.“ (Sweezy, S. 412).

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In einer Studie über soziale Organisationsbestrebungen von Arbeitern aus dem Jahr 1905, also in der Hochphase des deutschen Industriekapitalismus, wurde erstaunt festgestellt: „Viele Arbeiter finden sich veranlaßt, nur vier, manchmal sogar, wie es heißt, nur drei Tage jeder Woche in ihrem Beruf tätig zu sein“ (Sombart, 1917/18, S. 28), d. h. sie waren den ökonomischen und sozialen Anforderungen der Industrialisierung nicht gewachsen oder wollten ihm entfliehen. Dieses Verhalten war allerdings eine illusionäre ,Flucht‘, denn ohne tägliche Arbeit konnte kein ausreichender Verdienst erlangt werden, um etwa eine vielköpfige Familie zu ernähren. Wenn man drei Tage in der Woche arbeitete, verringerte sich der Wochenlohn, der ohnehin gering war, ungefähr um die Hälfte. Es ist allerdings zweifelhaft, ob dieses arbeitsverweigernde Verhalten von großen Teilen der Arbeiterschaft durchgeführt werden konnte, denn die Sanktionsmöglichkeiten von Unternehmen waren Anfang des 20. Jahrhunderts derart umfassend ausgestaltet, dass Entlassungen ohne irgendeine finanzielle Absicherung gegen resistente Arbeiter nicht selten waren. Eine Arbeitslosenversicherung wurde in Deutschland erst am 16. Juli 1927 eingeführt, aufgrund des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und deren Durchführung der entsprechenden Reichsanstalt übertragen. Streiks, bevor Gewerkschaften geringe Streikgelder zahlten, hatten häufig Entlassungen oder Aussperrungen durch rigorose Unternehmer zur Folge, was die Arbeiter ohne Arbeitslosenunterstützung oft zum unterwürfigen Einlenken zwang, weil sie sonst nach kurzer Zeit hungern mussten. Auswanderung war dann die letzte, meist verzweifelte Hoffnung auf ein besseres materielles Leben in einem freieren Staat, die allerdings mit erheblichen Risiken verbunden war. Zwar hatte die Auswanderungswelle seit den 1880er Jahren wegen verbesserten Arbeitsbedingungen nachgelassen, doch waren es immer noch Tausende, die ihre Heimat vor allem in Richtung USA verließen, weil sie sich dort eine neue Existenz aufbauen wollten, die sie von den existentiellen Bedrückungen in ihrer alten Heimat befreien sollte; allerdings oft vergeblich. Das ,gelobte‘ Land hatte mit eigenen Problemen, wie der Segregation von schwarzen und weißen Amerikanern, schwer zu kämpfen; außerdem bestand eine Sprachbarriere für viele einfache Einwanderer. Bis zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland, im Jahr 1917, erschienen noch einige amerikanische Zeitschriften in deutscher Sprache, doch danach erging ein Verbot, deutsche Zeitschriften zu veröffentlichen, das allerdings nicht sofort umgesetzt werden konnte,

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E. Die europäische Industrialisierung

weswegen teilweise in diesen Zeitschriften ein englischer Titel, doch deutsche Aufsätze darin enthalten waren. Diese oft um ihr nacktes Überleben kämpfenden Menschen in den USA hätten wohl keineswegs die pessimistische Auffassung eines deutschen Publizisten Ende des 19. Jahrhunderts geteilt: „Endlich gibt es auch zwei Kampfmethoden gegen den Capitalismus: Die Auswanderung und den Rückgang der Volksvermehrung.“ (Meyer, 1894, S. 235. Hervorhebungen im Original). Vielleicht kann man sogar die etwas gewagte These vertreten, dass die meisten europäischen Auswanderer in die Vereinigten Staaten – von 1821 bis 1900 waren es nach der US-Einwanderungsstatistik 17.393.536 Personen – wegen der vagen Hoffnung auf eine stressfreie bäuerliche Zukunft ihre Heimat endgültig verlassen haben, was nicht Wenige später bereuten. Diese Massenauswanderungen in ein unbekanntes, aufstrebendes Land waren trotzdem einzigartig, selbst wenn wir heute wissen, dass weltweit über 80 Mio. Menschen wegen Hunger, Kriegen oder Vertreibungen auf der Flucht sind. Nicht erst im Dritten Reich ist das liberale Industriesystem oder der moderne Kapitalismus angegriffen und verteufelt worden, sondern eigentlich seit seinen ersten Anfängen Ende des 18. Jahrhunderts, worauf hier abschließend an einem Beispiel eingegangen werden soll, ehe wir uns intensiver mit der kapitalistischen Gegnerschaft beschäftigen, die auch im 21. Jahrhundert anhält. Der Hegelschüler und Lehrer von Karl Marx, als dieser in Berlin Rechtswissenschaft studierte, Eduard Gans (1797 – 1839), glorifizierte in einem Aufsatz „Paris im Jahre 1830“ (dem Revolutionsjahr) die mittelalterlichen Zünfte, in denen noch eine organische Arbeitsordnung geherrscht habe. Der Rechtswissenschaftler Gans war 1828 zum ordentlichen Professor an der juristischen Fakultät der Berliner Universität ernannt worden, nachdem er ein Jahr zuvor vom Judentum zum Christentum übergetreten war. Er hatte die sogenannte Historische Rechtsschule angegriffen, deren Repräsentant der damalige Geheime Oberrevisionsrat am Revisions- und Kassationshof für die Rheinprovinz, Friedrich Carl von Savigny, gewesen ist. In seinem Aufsatz von 1830 kontrastierte Gans die wohlgeordneten (mittelalterlichen) Zünfte mit dem englischen Industriesystem, denn in der vielgepriesenen Weltmacht Großbritannien würde man nur armselige und abstoßende Zustände antreffen: „Man besuche die Fabriken Englands, und man wird Hunderte von Männern und Frauen finden, die abgemagert und elend, dem Dienste eines Einzigen ihre Gesundheit, ihren Lebensgenuß, bloß der ärmlichen

V. Industrielle Produktion und Wandel der Gesellschaft

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Erhaltung wegen, zum Opfer bringen. Heißt das nicht Sklaverey, wenn man den Menschen wie ein Thier exploitirt, auch selbst, wenn er frei wäre sonst vor Hunger zu sterben? Soll in diese elenden Proletarier kein Funke von Sittlichkeit gebracht werden können? sollen sie nicht erhoben werden dürfen zur Theilnahme an Demjenigen, was sie jetzt geist- und gesinnungslos thun müssen?“ (Gans, 1995, S. 100). Spätestens seit dieser Zeit steht der Kapitalismus unter ununterbrochenem Beschuss, so als sei er das verdammenswerteste Wirtschaftssystem gewesen, das in der Weltgeschichte existiert hat und welches liquidiert werden müsse. Ehe wir die ähnlich formulierten Vorwürfe des Marxismus betrachten, sei kurz ein Blick auf einen nationalsozialistischen Autor geworfen, der ebenfalls die „Liquidation der kapitalistischen Periode“ (Egner, 1935, S. 5) für nötig hielt. Dieser wirtschaftswissenschaftliche Dozent an der Handels-Hochschule Leipzig schrieb in Heft 1 von Deutsche Schriften zur Volkswirtschaftslehre: „So ist auch die kapitalistische Wirtschaftsordnung in eine Dialektik verstrickt worden, die ihr immer mehr den Boden unter den Füßen entzogen hat“ (ebd., S. 157).

F. Der revolutionäre Marxismus als weltweite Untergangstheorie des Kapitalismus* I. Marxismus und Kommunismus als Kapitalismusgegner Wenn wir heute angeblich „Zeugen vom Ende der bürgerlichen Gesellschaft“ (Bell, 1991, S. 16) sind, dann stellt sich die drängende Frage, wie ein modernes Wirtschaftssystem, dessen dynamischen Kräfte in der Lage waren, jahrhundertealte ökonomische, soziale, mentale oder religiöse Traditionen aus den festverankerten Fundamenten zu reißen, sich überhaupt so stabil erhalten konnte, um 250 Jahre zu überleben und einen ungewöhnlichen Wohlstand zu erzeugen. Macht ihm zukünftig die Klimakatastrophe oder die Corona-Pandemie den endgültigen Garaus und muss der ökonomisch erfolgreiche Kapitalismus zusammenbrechen, weil seine geistigen und materiellen Ressourcen erschöpft sind, die nicht mehr generiert werden können? Über ein Jahrhundert war der deutsche Marxismus und später der sowjetische Kommunismus felsenfest davon überzeugt, dass nicht nur das letzte Sterbeglöckchen des Kapitalismus zu klingen begonnen habe, sondern dass mit gesetzmäßiger Sicherheit das weltweite Ende dieses ,ausbeuterischen‘ Systems wegen seiner anhaltenden Krisenanfälligkeit und seiner ungebremsten Kapitalakkumulation eintreten müsse. Nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch osteuropäischer, kommunistischer Staaten nach 1990 wurde angenommen, dass auch die kommunistische Ideologie abgewirtschaftet habe und verschwinden werde, weil sie ja eine theoretische Grundlage dieser Systeme war. Doch Gedankengebäude, die Millionen von Menschen über viele Jahrzehnte begeistert haben, lösen sich nicht in verpestete Luft auf, wenn der damit verbundene Staatsterrorismus nicht mehr durchgeführt werden kann bzw. nach China abgewandert ist. Deswegen erscheint eine reflexive * Ich danke Prof. Leonid Luks aus Eichstätt für Korrekturen zur russischen Geschichte.

I. Marxismus und Kommunismus als Kapitalismusgegner

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Betrachtung darüber, welche theoretischen Argumente marxistischkommunistische Denker gegen das kapitalistische System vorgetragen haben, weiterhin aktuell. Mit China, Kuba oder Nordkorea existieren auch im 21. Jahrhundert kommunistische Staaten, die davon überzeugt sind, dass ihr Wirtschaftssystem sowie ihre politische Herrschaft dem westlichen Kapitalismus überlegen seien und gerade für industriell wenig entwickelte Staaten als nachahmenswert angesehen werden können. Der Industriegigant China hat in den letzten Jahrzehnten mit seinen phänomenalen ökonomischen Erfolgen den europäischen und überseeischen Konkurrenten erhebliche Furcht und Schrecken eingejagt, ob ein totalitäres Regime nicht größeren materiellen Wohlstand erzeugen kann als freiheitlich-demokratische Ökonomien westlicher Prägung. Ein überzeugter Marxist wie Mao Tse-tung (1893 – 1976) schrieb bereits im Januar 1940, dass die Ideologie des Kapitalismus in der UdSSR im Museum gelandet sei, dagegen Ideologie und Gesellschaftsordnung „des Kommunismus verbreiten sich mit Berge überwindender und Meere aufwühlender Macht, mit der unüberwindbaren Kraft des Donners über die ganze Welt und erblühen zu ihrem herrlichen Frühling“ (Das Rote Buch, 1967, S. 27). Die kommunistische, proletarische Revolution sei keine Sache von Jahren, sondern es gehe „um ihren Fortbestand für hundert, tausend, zehntausend Jahre“ (ebd., S. 124), d. h. bis zum St. Nimmerleinstag!1 Der Kapitalismus hatte während dieser Zeit schon lange seine Schwächen offenbart, nicht nur in der dramatischen Weltwirtschaftskrise seit 1929, doch weil sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industriesysteme erheblich veränderten – was man später fälschlicherweise den Organisierten Kapitalismus nannte, d. h. die zentralistische Konzentration in wenigen Monopolunternehmen –, wurden auch Theoretiker herausgefordert.

1 Das im damaligen China auftauchende Problem, dass konservative Bauern sich gegen eine landwirtschaftliche Kollektivierung wehrten, versuchte Mao Tsetung in einer Rede vom 31. Juli 1955 auf einer „neuen Basis“ zu lösen. „Diese besteht darin, daß gleichzeitig mit der allmählich verwirklichten sozialistischen Industrialisierung sowie mit der sozialistischen Umwandlung des Handwerks und der kapitalistischen Industrie- und Handelsunternehmen auch die sozialistische Umgestaltung der gesamten Landwirtschaft stufenweise vollzogen wird, d. h. die Kollektivierung, wobei das System der reichen Bauernwirtschaft und das der Einzelwirtschaft aufgelöst und die Landbevölkerung insgesamt zum Wohlstand aufsteigen wird.“ (Das Rote Buch, 1967, S. 31).

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F. Der revolutionäre Marxismus als Untergangstheorie

Es ist tatsächlich kaum zu leugnen, selbst wenn von Staat zu Staat verschieden ausgeprägt, dass der moderne europäische Kapitalismus wie seine außereuropäischen Nachfolger nicht nur fast selbstzerstörende Krisen durchlaufen haben, sondern dass es ihnen in ihren verschiedenen Ausprägungen gelungen ist, dem rigorosen Profitdenken oder dem „Vorherrschen des großen Geldkapitals“ (Jentsch, 1926, S. 126) zeitweise auf erhebliche Kosten der arbeitenden Bevölkerung ihren unmoralischen Stempel aufzuprägen. Diese negativen Aspekte trugen wesentlich dazu bei, dass der Kapitalismus als ein raffiniertes Wirtschaftssystem erschien oder erscheint, das weniger die materiellen Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung verbessern wollte und konnte, sondern vor allem die Reichen noch reicher machte, indem es die Arbeiter systematisch ausbeutete und finanziellen Mehrwert aus ihnen herauspresste. Der Marxismus, wie er sich im 19. Jahrhundert in einigen europäischen Staaten ausbreitete, wurde also nicht durch eine kapitalistische Gerechtigkeit, sondern durch die unvermutete Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus, nicht zusammenzubrechen, herausgefordert, weshalb seine endgültige Zerstörung durch einen revolutionären Aufstand des verbündeten Proletariats gefordert und propagiert wurde. Marxisten und Kommunisten mussten jedoch darüber nachdenken, ob a) der Kapitalismus länger überleben kann als von Marx und Engels vorausgesagt, b) ob er sich derart verändert hatte, um seinen prognostizierten Untergang wenigstens noch eine Zeitlang hinauszuzögern oder c) ob man ihn auf eine andere Art und Weise als durch eine proletarische Revolution vernichten könnte. Fast zehn Jahre nach dem Tod von Karl Marx und drei Jahre vor dem von Friedrich Engels, 1892, schrieb der sozialistische Theoretiker Karl Kautsky (1854 – 1938), der von 1883 bis 1917 Herausgeber und leitender Redakteur der Zeitschrift Die Neue Zeit war: „Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform an Stelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.“ (Kautsky, 1974, S. 131 f. Hervorhebungen im Original). Wie lange diese Zeitspanne dauert, ehe der abgewirtschaftete Kapitalismus endgültig einen gesetzmäßigen Hirntod erleidet, darüber äußerte sich Kautsky allerdings nicht, denn bereits Marx war mit seinen Prognosen über den gesetzmäßigen Zusammenbruch des Kapitalismus kläglich ge-

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scheitert. Nun konnten wir im 20. Jahrhundert, d. h. in den hundert Jahren nach Kautskys Voraussage, ebenfalls beobachten, dass die Ökonomien oder Wirtschaftssysteme des klassischen Kapitalismus zu überwiegenden Dienstleistungsgesellschaften transformiert wurden, d. h. eine ,neue Gesellschaftsform‘ könnte sich tatsächlich ausprägen und durchsetzen. Was haben wir in naher Zukunft noch zu erwarten? Die traditionelle Arbeiterklasse wird zukünftig vielleicht von einer Roboterproduktion verdrängt und sogar ersetzt, was der Arbeiterpartei SPD bereits seit einigen Jahrzehnten ihre traditionelle Wählerbasis raubt, ganz abgesehen von rechtsradikalen Tendenzen in verschiedenen europäischen Staaten. Es verdichtet sich deshalb die marxistische Annahme, dass der alte Kapitalismus ohnehin seinem Ende zusteuert und wir uns mit der nüchternen Feststellung abfinden müssen: „Der Kapitalismus ist mithin nicht eine normale Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern Folge einer außerökonomischen Störung.“ (Oppenheimer, 1926, S. VII). Seitdem der Marxismus und Kommunismus nach 1989 in vielen osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion zusammengebrochen oder kollabiert sind und weltweit eigentlich nur noch in einem Großstaat, nämlich dem Industriegiganten China, erfolgreich weiterlebt und praktiziert wird, hat sich die marxistische Ideologie keineswegs in stinkige Luft aufgelöst, sondern sind marxistische oder kommunistische Vorstellungen sowohl unter Wissenschaftlern als auch in kommunistischen oder linksradikalen Parteien weiterhin lebendig und virulent. Es ist deshalb möglicherweise interessant, hier kurz zu erörtern, weshalb der Marxismus überzeugt war und ist, dass dem Kapitalismus mit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit ein schmählicher Untergang vorherbestimmt sei. Der klassische Marxismus von Karl Marx und Friedrich Engels hat zwischen 1845 und 1895 ökonomische Krisen als unverwechselbare Zeichen des notwendigen Zusammenbruchs kapitalistischer Wirtschaftssysteme angesehen und sie für sein pessimistisches Untergangszenario herangezogen und beschrieben. Diese angeblich unbezweifelbaren Argumente für ein baldiges, definitives Ende des Kapitalismus sollen etwas beleuchtet werden, um zu verdeutlichen, dass eine theoretische Konstruktion, die sich konsequent weigert, die veränderten ökonomischen wie politischen Verhältnisse einzubeziehen oder als realitätsadäquate Korrekturinstanzen zu akzeptieren, sich in logische Widersprüche verrennt und scheitern muss. Obwohl das marxistische bzw. kommunistische Gedankengebäude bei theoretischen Nachfolgern wie in der praktischen Politik über ein Jahr-

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F. Der revolutionäre Marxismus als Untergangstheorie

hundert lang außergewöhnliche Erfolge verzeichnen konnte, sollte es wenigstens heute nicht mehr als sakrosankt in einem wissenschaftlichen Diskurs erklärt und aufrechterhalten werden, denn Marx’ ökonomische Theorien wurden allesamt widerlegt. Der ,wissenschaftliche‘ Marxismus galt in kommunistischen Staaten viel zu lange als unüberwindbares Bollwerk gegen den in ein trübes Licht getauchten Kapitalismus, doch nicht dieser ist alternativlos verschwunden, sondern trotz seiner vielfältigen Mängel hat er nicht einmal nackt in neuem Gewand überlebt und erfreut sich einer manchmal angeschlagenen Gesundheit.

II. Friedrich Engels als erster theoretischer Kapitalismuszertrümmerer Wir können also fragen: Warum hat der moderne Kapitalismus seit seinen ersten Anfängen eine so heftige und unversöhnliche Feindschaft auf sich gezogen, obwohl, wie wir gehört haben, der Merkantilismus bereits industrieähnliche Tätigkeiten favorisierte und teilweise durchsetzte? Der Textilindustriellensohn Friedrich Engels (1820 – 1895) aus Barmen, der in der Zweigfirma seines Vaters Ermen & Engels in Manchester als leitender Angestellter arbeitete, veröffentlichte 1845 die aufsehenerregende Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England (vgl. Engels, 1970, S. 225 – 506), eine angeblich „große Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus“ (Mehring, 1983, S. 100), die, um Karl Kraus zu paraphrasieren, auf einer kapitalistischen Glatze wohlmodulierte, revolutionäre Locken drehte. In dieser überaus polemischen Schrift schilderte Engels als ein erfolgreicher, aber überzeugter kommunistischer Unternehmer die trostlose Situation der englischen Arbeiter auf eine drastische Weise, die in den beengten Arbeiterwohnungen in Manchester nur als „entmenschte, degradierte, intellektuell und moralisch zur Bestialität herabgewürdigte, körperlich kränkliche Rasse“ (Engels, 1970, S. 295) existieren mussten. Dagegen kennten die reichen und rücksichtslosen Kapitalisten nur ein einziges Ziel: Nämlich die ungebremste Vermehrung ihres Profits und ihres materiellen Wohlstands, d. h. Barbarei, Tyrannei und Ausbeutertum an den geschundenen Arbeitern zu praktizieren, dagegen hätten ihre Untergebenen nur das scheinbar unveränderliche Los, „lebenslang Proletarier zu bleiben“ (ebd., S. 251) und sich totzuarbeiten.

II. Friedrich Engels als erster Kapitalismuszertrümmerer

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Diese prekäre Situation der englischen Arbeiterklasse könne sich nach Engels allerdings schnell ändern, denn sobald dieses Millionenheer hungernder und aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßener Arbeiter sich ihrer politischen Macht bewusst würde, müsse sich die ausbeuterische Bourgeoisie darauf gefasst machen, dass der anscheinend sichere kapitalistische Grund und Boden ausgehöhlt würde und einstürzen könnte, wenn „die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie herannaht“ (ebd., S. 441), ja dass „dessen baldiger Einsturz so sicher ist wie irgendein mathematisches oder mechanisches Gesetz“ (ebd., S. 252). Mathematiker oder Mechaniker werden sich wundern oder ungläubig konstatieren, dass ein revolutionärer Arbeiterwille gegenüber bis an die Zähne bewaffnete Unternehmer aus 2 + 2 =5 (den baldigen Einsturz des Kapitalismus) wie ein Zauberlehrling hervorzaubern kann, den nicht einmal Johann Wolfgang von Goethe erfinden konnte. Eine umstürzende Revolution sei unvermeidbar, denn der soziale und ausbeuterische ,Krieg‘, den die englischen Unternehmer gegen ihre schlechtbezahlten Fabrikarbeiter angezettelt hätten, könne nur mit deren vollständiger Niederlage enden, womit der Kapitalismus passé sei. „Es ist zu spät zur friedlichen Lösung“ (ebd., S. 506), glaubte Friedrich Engels schon 1845, dem Jahr einer irischen Hungersnot, durch die eine Million Iren starben und außerdem noch eine Million in die USA auswanderte. Einem amerikanischen Science-Fiction-Autor und Journalisten wie Edward Bellamy (1850 – 1898) kann man die unsinnige und naive Auffassung eventuell noch durchgehen lassen: „Es war den Kapitalisten ganz gleich, ob das Volk Hunger litt oder im Überfluß schwelgte“ (Bellamy, 1898, S. 210), doch ein Unternehmer- (Sohn) wie Engels sollte eigentlich gewusst haben, dass gutgenährte Fabrikarbeiter arbeitsfreudiger sind als hungernde Menschen. Versuchen wir erneut nach der empirischen Realitätsadäquatheit dieser revolutionären Gedanken zu fragen, die bis ins 21. Jahrhundert in verschiedenen kapitalistischen Staaten Nachfolger finden konnten. Wie realistisch oder den tatsächlichen Verhältnissen angemessen war diese Engelssche Prognose, die 150 Jahre lang eine unübersehbare Anhängerschaft, nicht nur unter Marxisten und Kommunisten, sondern auch bei gewöhnlichen Arbeitern, mobilisierte, obwohl sie bereits 1848 von Bruno Hildebrand widerlegt worden war (vgl. Hildebrand, 1998, S. 125 ff.)? Wir müssen bei einer historischen Einschätzung berücksichtigen, dass seit den 1830er Jahren in der englischen Politik aufgrund der beeindruckenden Aktivitäten des sozialistischen Flügels der Chartisten ein praxisbezogener

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Umdenkungsprozess eingesetzt hatte, um soziale Reformen einzuleiten und die missliche Lage der schlechtbezahlten Fabrikarbeiter allmählich zu verbessern, indem Reformbills verabschiedet wurden, die extreme industrielle Missstände beseitigten. Davon war Engels wenig beeindruckt, obwohl er einige Zeit lang dem Chartismus nahestand und in deren seit 1836 erscheinenden Wochenzeitschrift Nothern Star einige Artikel veröffentlicht hatte, die durchaus lesenswert sind. Die angeblich klassengeprägte Bourgeoisie, deren industrielles Monopol durch die politische Staatsgewalt aufrechterhalten werde, kennt Engels zufolge nur eine unmenschliche Methode, nämlich den sozialen Mord der (englischen) Arbeiterklasse. „Der Proletarier ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen.“ (Engels, 1971, S. 307), wie in der antiken Sklaverei. Eine solche industrielle Sklavenhaltergesellschaft – ganz bewusst wurde damit an die fürchterlichen Arbeitsbedingungen der antiken Sklaverei erinnert – hat nach Friedrich Engels nur die realistische Alternative Selbstmord oder sofortige Abdankung, weil sonst die revolutionäre Arbeiterklasse in ihrem eigenen Interesse sie vollständig zerschlagen und zerstören würde, was ihre eigentliche Aufgabe und politische Verpflichtung sei. Der ,Kapitalist‘ Engels hat in diesem Buch radikale Anweisungen dafür gegeben, wie die kapitalistische Gesellschaft durch eine revolutionäre Arbeiterklasse in die Luft gesprengt werden könnte und damit entscheidende Überlegungen des späteren Marxismus vorweggenommen, wie ein internationales Proletariat sich zusammenrotten und dem verruchten Kapitalismus den endgültigen Gnadenstoß verpassen würde, damit er in die ewigen Jagdgründe eingehen könnte (ausführlich Kiesewetter, 2017, S. 149 ff.). Warum ist denn der Kapitalismus in den Augen seiner Gegner so verdammenswert? Ursächlich für die zerstörerische Entwicklung in diesem ,ausbeuterischen‘ System ist das ungebremste Profitstreben der Kapitalisten, d. h. in marxistischer Terminologie die kapitalistische Akkumulation, in der allerdings „die Tendenz zum kapitalistischen Untergang und zum Sozialismus“ (Reimes, 1922, S. 197) bereits enthalten sei. Im Jahr 1892 fasste der lange vergessene Ökonom Julius Wolf die kommunistische Morgenröte in dem ironischen Satz zusammen: „Nur noch ein wenig Geduld – bald ist alles überstanden!“ (Wolf, 1892, S. V).2 2 Ausführlich dazu Hubert Kiesewetter: Julius Wolf 1862 – 1937 – zwischen Judentum und Nationalsozialismus. Eine wissenschaftliche Biographie, Stuttgart 2008, S. 112 ff.

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Das gesellschaftliche und politische Gegenmodell zum Kapitalismus war der für das entfremdete und ausgebeutete Proletariat angeblich befreiende Kommunismus, welcher „die Überproduktion über die nächsten Bedürfnisse der Gesellschaft hinaus die Befriedigung der Bedürfnisse aller sicherstellen“ (Engels, 1971, S. 375) könne und in einem ,Reich der Freiheit‘ alle kapitalistischen Bedrückungen von Arbeitern beseitigte und überflüssig machte. Wir wissen inzwischen genau, welche unsäglichen Verbrechen dieser Kommunismus begangen hat, der sich ununterbrochen auf die ,wissenschaftlichen‘ Heroen Marx und Engels oder W. I. Lenin berief und ihre theoretischen Vorgaben in die politische Praxis umsetzte. Diesem scheinbar wohlstandserzeugenden Modell widmete Engels noch vor dem Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 eine kleine Schrift, in der er anhand von 25 Fragen – davon drei unbeantwortet –, verfasst für den Londoner Bund der Kommunisten, die wichtigsten Bedingungen für eine freie kommunistische Gesellschaft beschrieb (ebd., S. 363 ff.). Das Proletariat als arbeitende Klasse müsse nämlich seine ganze Arbeitskraft an die ausbeuterischen Unternehmer, das Kapital, verkaufen, damit dieses aufgrund der Mehrwertabschöpfung seinen Profit sichert, der von „den Schwankungen einer zügellosen Konkurrenz abhängt“ (ebd., S. 363), d. h. also auch verschwinden oder reduziert werden kann. Dieses ,ausgebeutete‘ Proletariat sei erst durch die englische, industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden, und zwar, aus Engels verengter technologischer Sicht, „durch die Erfindung der Dampfmaschine, der verschiedenen Spinnmaschinen, des mechanischen Webstuhls und einer ganzen Reihe anderer mechanischer Vorrichtungen“ (ebd., S. 363 f.), an denen die Bedürftigen ,Sklavenarbeit‘ verrichten müssten. Die technisch entwickelte Industrie geriete auf diese ausbeuterische Weise vollständig in die geldbeschmutzten Hände der Kapitalisten, die aufgrund der bereits weit fortgeschrittenen Arbeitsteilung nicht nur die abhängige Arbeiterklasse unterdrücken könnte, sondern auch das Handwerk und die Manufaktur verdrängte und ruinierte, die es bald nicht mehr geben würde. Darin bestand eine weitere Fehlprognose von Marxisten, die offenbar von der unbegrenzten Durchschlagskraft des industriellen Kapitalismus so überzeugt oder genauer besessen waren, dass sie dem Handwerk keinerlei Überlebenschance einräumten, obwohl dieses sich an die neuen Gegebenheiten durch industrienahe Dienstleistungen vorzüglich anzupassen verstand. Die beiden Klassen, die der kapitalistischen Bourgeoisie und der besitzlosen Arbeiter, standen sich angeblich im in-

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dustriellen Fabriksystem diametral gegenüber und weil sie aufeinander angewiesen waren, war die scheinbare Feindschaft unüberbrückbar und todbringend; zumindest für die Kapitalisten. Die Löhne z. B. würden nämlich von der industriellen Klasse auf das möglichst Niedrigste herabgedrückt, die kaum zum Lebensunterhalt ausreichten, aber hoch genug waren, damit die darbenden Arbeiter arbeitsfähig blieben und nicht verhungerten bzw. dafür sorgten, „die Arbeiterklasse nicht aussterben zu lassen“ (ebd., S. 365), denn sie wurde ja dringend bei der Produktion gebraucht. Der Statistiker Paul Jostock (1895 – 1965) machte dazu im Jahr 1928 eine interessante Bemerkung: „Es ist eine tragische Täuschung vor allem des marxistischen Sozialismus gewesen, daß er glaubte, die ganze Qual und Unzufriedenheit moderner Fabrikarbeit sei behoben, sobald die kapitalistische Herrschaft und ihre Leitung beseitigt wäre.“ (Jostock, 1928, S. 242). Nach Friedrich Engels war es ein historisches Gesetz, dass die moderne Industrie sich über die gesamte Welt auszubreiten versuche, da die kapitalistischen Staaten den profitablen Weltmarkt erobern und beherrschen wollten, doch diese weltweite Ausbreitung des Industriesystems könnte nur dazu führen, dass in diesen neukapitalistischen Ländern nach geraumer Zeit zerstörende Revolutionen ausbrächen, „welche früher oder später ebenfalls die Befreiung der dortigen Arbeiter herbeiführen“ (Engels, 1971, S. 367) müssten. Sobald es allerdings zu dieser dramatischen Situation gekommen sei, werde „die wachsende Macht des Proletariats eine Revolution der Gesellschaft“ (ebd., S. 369) auslösen und das kapitalistische System vernichten, das ohnehin nicht mehr überlebensfähig sei. Friedrich Engels äußerte sich im Oktober 1847 noch zurückhaltend darüber, ob eine proletarische Revolution gegen die Bourgeoisie gesetzmäßig stattfinden müsse, da Kommunisten wüssten, „daß Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden“ (ebd., S. 372), sondern aus der entsprechenden Lage entstünden. Weil jedoch das arbeitende Proletariat in entwickelten oder zivilisierten Staaten von den kapitalistischen Gegnern des Kommunismus gewaltsam unterjocht würden, würde es dadurch in „eine Revolution hineingejagt“ (ebd.), weshalb es in dieser die eigene Sache verteidigen werde.3 Es scheint mir geistesgeschichtlich 3 Bei der 17. Frage, ob nämlich die vollständige Abschaffung des Privateigentums auf einmal möglich sei, antwortete der Kommunist Engels: „Die aller Wahrscheinlichkeit nach eintretende Revolution des Proletariats wird also nur allmählich die jetzige Gesellschaft umgestalten und erst dann das Privateigentum

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durchaus bemerkenswert, dass Engels 1847 die proletarische Revolution nicht auf den am weitesten industrialisierten Staat, Großbritannien, beschränken wollte, sondern, wenn auch mehr oder weniger langsam oder schneller, weltweit für möglich hielt: „Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d. h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein“ (ebd., S. 374), um alle kapitalistischen Unternehmen zu zerstören. Die politische Herrschaft, davon war Friedrich Engels felsenfest überzeugt, würde nach der erfolgreich durchgeführten Revolution vom Proletariat mit diktatorischen Vollmachten übernommen, die spätere Diktatur des Proletariats, denn das Arbeiterheer stellte inzwischen ohnehin mit den Kleinbauern und einfachen Bürgern, die auf eine proletarische Existenz zusteuerten, die überwiegende Zahl der Bevölkerung in kapitalistischen Staaten. Ist jedoch die politische Gewalt erst einmal in den Händen von revolutionären Arbeitern, könne man mit dem sofortigen Aufbau des Kommunismus beginnen, der die Arbeiter von allen vorherigen Unterdrückungen erlöse bzw. befreie. Nach nachrevolutionärer Übernahme der politischen Macht würde eine „demokratische Staatsverfassung“ (ebd. Hervorhebung im Original) erlassen, was immer man sich darunter vorstellen kann oder soll, denn die Verfassungen kommunistischer Staaten benutzten zwar häufig ,Demokratie‘ als schmückendes Beiwort oder nannten sich Deutsche Demokratische Republik, doch wenn man sie inhaltlich nach demokratischen Freiheitsrechten durchforstet, wird man heftig enttäuscht.4 In dem revolutionären Zeitungsprojekt abschaffen können, wenn die dazu nötige Masse von Produktionsmitteln geschaffen ist.“ (ebd., S. 372). 4 Später geht Friedrich Engels allerdings auf eine dritte ,Klasse‘ ein, die er demokratische Sozialisten nennt, mit denen sich die Kommunisten verständigen und mit ihnen eine gemeinsame Politik verfolgen könnten, sofern sich diese nicht mit der herrschenden Bourgeoisie verbinden und Kommunisten angreifen würden. „Diese demokratischen Sozialisten sind entweder Proletarier, die über die Bedingungen der Befreiung ihrer Klasse noch nicht hinreichend aufgeklärt sind, oder sie sind Repräsentanten der Kleinbürger, einer Klasse, welche bis zur Erringung der Demokratie und der aus ihr hervorgehenden sozialistischen Maßregeln in vieler Beziehung dasselbe Interesse haben wie die Proletarier.“ (Engels, 1971, S. 378 f. Hervorhebung im Original). Karl Marx entwickelte etwa zwei Jahrzehnte später eine andere kapitalistische Klasseneinteilung: „Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren respektive Einkommenquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter,

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während ihrer Kölner Zeit 1848/49, der Neuen Rheinischen Zeitung, wurde ,Demokratie‘ zum betörenden Schlagwort für mit dem preußischen Unterdrückungssystem unzufriedene Arbeiter, die für den marxistischen Kommunismus gewonnen werden sollten. Etwa eineinhalb Jahre nach Engels „Grundsätze des Kommunismus“ von 1847, nachdem die revolutionären Aufstände von den meisten europäischen Regierungen mit brutaler Waffengewalt niedergeschlagen worden waren, glaubten Marx und Engels, dass jede soziale Reform utopisch bliebe, „bis die proletarische Revolution und die feudalistische Kontrerevolution sich in einem Weltkrieg mit den Waffen messen“ (Marx/Engels, 1968, S. 397 f. Hervorhebung im Original) würden. Neben der proletarischen Eroberung von Industrieunternehmen musste die Engelssche Form des Kommunismus auch der konsequenten Umgestaltung der Politik erhebliche Aufmerksamkeit widmen, denn die Diktatur des Proletariats war auch eine politische Herrschaft, die aufrechterhalten werden musste, damit die Bourgeoisie keine Chance mehr hätte, jemals wieder die politische Macht zu übernehmen. Eine ,Demokratie‘ ist nach Friedrich Engels allerdings vollkommen nutzlos, wenn sie nicht durchsetzen könnte, dass „das Privateigentum angreifender und die Existenz des Proletariats sicherstellender Maßregeln“ (Engels, 1971, S. 373) ergriffen würden, d. h. starke Erbschaftssteuern, Enteignung der Grundeigentümer, Fabrikanten, Eisenbahnbesitzer, Schiffsreeder und Privatbanken sowie Bankiers, also „Konfiskation der Güter aller Emigranten und Rebellen gegen die Majorität des Volks“ (ebd.) etc. etc. einund durchgeführt würden. Während der Revolution, Ende März 1848 in Paris, stellten Karl Marx und Friedrich Engels deshalb eine Reihe Forderungen auf, von denen die Elfte lautet: „Alle Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc. nimmt der Staat in seine Hand. Sie werden in Staatseigentum umgewandelt und der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt.“ (Marx/Engels, 1969, S. 4). Mobile junge Leute unserer heutigen Wohlstandgesellschaft können dieser kommunistischen Vorstellung wohl weiterhin etwas Positives abgewinnen, denn ist es nicht ein erhebender Gedanke: Umsonst mit einem Zug durch Europa zu reisen oder mit einem Dampfer in die USA; war diese Art der kostenlosen Inanspruchnahme auf Staatskosten nicht schon ein lang erKapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft.“ (Marx, 1966, S. 892).

II. Friedrich Engels als erster Kapitalismuszertrümmerer

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sehnter Traum von realitätsverleugnenden Idealisten und jugendlichen Träumern? Doch zuerst benötigte man eine neue, entfremdungsfreie Gesellschaft, um diese Versprechen umzusetzen, denn es gab nicht einmal ein 9-Euro-Ticket oder verbilligte Fahrten für Minderbemittelte, um seiner Reiselust zu frönen. Eine demokratische Verfassung oder sogar eine Demokratie ist nach kommunistischer Lesart ein politisches und wirtschaftliches System, das sich angeblich in den ,ausgebeuteten‘ Händen der Arbeiter befindet, doch in der praktischen Realität nur von einer kleinen Clique von Funktionären errichtet und durchgeführt werden kann, wie wir es etwa in der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik erlebt haben. Wie wenig demokratisch diese gesellschaftliche Konstruktion tatsächlich ist, zeigt sich z. B. an der militaristischen Forderung, dass in einer kommunistischen Gesellschaft industrielle Arbeiterarmeen gebildet werden sollen, die gegen die noch verbliebenen Reste der bürgerlichen Kapitalisten militärisch vorgehen und sie eventuell vernichten werden, wie es etwa W. I. Lenin mit der geplanten Ermordung von Tausenden Menschewiki sowie aller oppositionellen Parteien durchgeführt hat. Mit anderen Worten: In diesem Regierungssystem der angeblich befreiten Arbeiterschaft findet nicht nur eine gänzliche Verstaatlichung aller produktiven Bereiche statt, sondern auch die neugeborenen Kinder sollen den Müttern möglichst früh entzogen werden, damit in „Nationalanstalten und auf Nationalkosten“ (Engels, 1971, S. 373) und durch „Errichtung großer Paläste auf den Nationalgütern“ (ebd.), in denen die Staatsbürger gemeinschaftlich wohnen werden, eine erzieherische Indoktrination vorgenommen werden kann. In dieser Vorgehensweise bestünde die angemessene Antwort „auf das Geschrei hochmoralischer Spießbürger gegen kommunistische Weibergesellschaft“ (ebd., S. 377), die wegen des bürgerlichen Privateigentums tatsächlich in der Prostitution bestehe, die natürlich abgeschafft werden müsse. Wir haben inzwischen eine andere ethische Vorstellung von angemessenen ,Maßregeln‘ einer demokratischen Gesellschaft, doch ältere Menschen können sich vielleicht noch daran erinnern, dass auch in kommunistischen Staaten Prostitution und Prostituierte nichts Unbekanntes waren, denn der neue, kommunistische Mensch hatte (erstaunlicherweise?) noch sexuelle Bedürfnisse.

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III. Karl Marx, der kapitalismuszerstörende Revolutionär und Wladimir Lenin als sein politisch-realistischer Nachfolger In der geschilderten Art präsentierte sich die ideologische Einstellung des arbeiterbefreienden Kommunismus als Weltrevolutionär zwischen 1847 und 1987, noch bevor Michail Sergejewitsch Gorbatschow 1988 als Präsident des Obersten Sowjets mit der 1985 begonnenen Perestroika wenigstens die kommunistische Wirtschaftsordnung reformieren wollte, ohne den sowjetischen Kommunismus als politisches System aufzugeben. Das war eine gravierende Fehleinschätzung, die ihm das Amt kostete, während er im März 1990 zum Präsidenten der UdSSR gewählt wurde und seinen weltweiten Ruhm genoss. Sein Nachfolger B. N. Jelzin bekleidete von 1991 bis 1999 das Amt des russischen Staatspräsidenten und nach einer instabilen Übergangszeit übernahm das autoritäre, wenig Meinungsfreiheit gewährende System der seit 2000 gewählte Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er wurde und wird offenbar von der russischen Bevölkerung bei seinen militärischen Unternehmungen akzeptiert, selbst der mörderische Krieg gegen die Ukraine seit Ende Februar 2022 erzeugt keinen sichtbaren Widerstand, auch wenn einige Putin- und Kriegsgegner existieren, die jedoch wenig bewirken können. Blicken wir noch einmal zurück auf die revolutionären Aktivitäten von Marx und Engels in der rheinischen Metropole: Als die preußische Regierung die Neue Rheinische Zeitung in Köln verboten hatte, schrieben diese beiden kommunistischen Heroen in der letzten Ausgabe vom 19. Mai 1849, die in 20.000 Exemplaren gedruckt wurde, über eine revolutionäre Strategie, dass es nur ein erfolgreiches Mittel gäbe, „die mörderischen Todeswehn der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehn der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus … Wir sind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen.“ (Marx/Engels, 1968a, S. 505. Hervorhebungen im Original). Es ist gelegentlich behauptet worden, Marx und Engels oder das kommunistische System hätten einen menschenfreundlichen Humanismus praktiziert, doch in der

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politischen Realität entfaltet sich dieser als mörderischer Terrorismus, auch unter dem verschleiernden Signum einer ,Demokratie‘. Der hegelianisierende Karl Marx hat sich in seinem Revolutionsenthusiasmus zur definitiven Überwindung kapitalistischer Systeme zwar an Engels‘ Vorarbeiten angelehnt, doch er hat eine andere theoretische Konstruktion entwickelt, die ein stärkeres dialektisches Gepräge aufweist und deswegen auch widersprüchlicher ist als der gewaltige antikapitalistische Dampfhammer von Friedrich Engels. Nach dem Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 sollte die weltweite Klassenherrschaft des bourgeoisen Kapitals zwar ebenfalls durch ein revolutionäres Proletariat „in die Luft gesprengt“ (Marx/Engels, 1971, S. 473) werden und an seine freiwerdende, unausgefüllte Stelle eine kommunistische Gesellschaft treten, doch dafür wurde ein paradiesähnliches ,Reich der Freiheit‘ konstruiert ohne sklavenhalterische Ausbeutung und ohne privates Eigentum: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.“ (Ebd., S. 481).5 Die kapitalistische Klasse, der Kapitalismus, produziert also, je mehr sie sich in verschiedenen Staaten ausdehnt, ihre eigenen proletarischen Totengräber, d. h. der prognostizierte Untergang oder das definitive Ende kapitalistischer Gesellschaften ist wegen millionenfacher Arbeiterverbrüderung unvermeidlich und unaufhaltsam. Die kapitalistischen Unternehmer haben eigentlich keine andere Wahl als abzutreten, sich aufzulösen oder sogar aufzuhängen, denn, wie schon erwähnt: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“ (Marx, 1962, S. 790), d. h. nach einiger Zeit ist ihr zahlenmäßiger Bestand ohnehin stark reduziert, noch bevor sie von dem revolutionären Arbeiterheer vernichtet werden. Die kapitalistische Produktionsweise oder das kapitalistische Privateigentum wird mit historischer Notwendigkeit, wegen der ihr innewohnenden Dialektik, ihr eigenes Gegenteil erzeugen: „Es ist die Negation der Negation“ (ebd., S. 781), d. h. der weltweite Kapitalismus wird gesprengt und die kapitalistischen Unternehmer „expropriiert“ = enteignet! Eine eigenartige und eigentlich irreale Vorstellung wird hier vom vielbewunderten Begründer des ,wissenschaftlichen Materialismus‘ präsentiert und 5 „Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln wurde zum Fetisch des marxistischen Angriffs auf den Kapitalismus, so daß der Sozialismus sich als einzige Alternative zu präsentieren in der Lage war.“ (Albert, 1978, S. 162. Hervorhebung im Original).

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aufgeführt, nämlich dass nach dem zwangsläufigen Verschwinden aller kapitalistischen ,Ausbeuter‘ die historische Schicksalsgöttin den befreiten Arbeitern den revolutionären Siegerkranz einer neuen Gesellschaft aufsetzt (vgl. Kiesewetter, 2017, S. 198 ff.). Die historische Notwendigkeit und gesetzmäßige Unvermeidbarkeit des kapitalistischen Unterganges stehen allerdings im diametralen Gegensatz zur revolutionären Rolle des internationalen Proletariats, der vereinigten Arbeiterheere, die angeblich nur „die Geburtswehen [einer neuen, kommunistischen Gesellschaft, H.K.] abkürzen und mildern“ (Marx, 1962, S. 16) können, d. h. keinen revolutionären Umsturz herbeiführen. Vor allem Karl Marx, zeitweise jedoch auch sein finanzieller Förderer Friedrich Engels, schwankte zwischen diesen beiden logisch und empirisch unvereinbaren Möglichkeiten hin und her, indem er einerseits den gesetzmäßigen Kollaps beschwört, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft” (ebd., S. 15), andererseits die Diktatur des Proletariats sowie die Revolution in Permanenz als entscheidende Voraussetzungen für die zukünftige Errichtung einer kommunistischen Herrschaft und entfremdungsfreien Gesellschaft ansah. Industrielle Umbrüche größten Ausmaßes, wie sie nach der 1848er Revolution durch einen industriellen Take Of (Walt W. Rostow) in verschiedenen europäischen Staaten auftraten und durchgeführt wurden, verlangten eine definitive Entscheidung über folgende Frage zu treffen: Mit welchen Mitteln könnte dieses im ständigen Wandel befindliche System aus den Angeln gehoben oder ins jenseitige Nirwana geschleudert werden? Allerdings bedurfte diese revolutionäre Entscheidung keiner ökonomischen Expertise, sondern hellseherischer Fähigkeiten, wie sie empirischen Forschern wohl selten zur Verfügung stehen oder aus ihren wissenschaftlichen Arbeiten extrahiert werden können. In jeder langandauernden und weitreichenden Revolution, war sich der deutsche Ökonom Wilhelm Roscher schon Mitte des 19. Jahrhunderts sicher, gleichgültig, zu welchen Gunsten sie durchgeführt wird, erwächst neben beabsichtigten Früchten „auch das Unkraut des Communismus“ (Roscher, 1854, S. 125). Ein solches antirevolutionäres Urteil wollten marxistische Unkrautsäher nicht akzeptieren und beharrten auf dem gesetzmäßigen Untergang des Kapitalismus, der irgendwann eintreten oder durchgeführt würde; nur wann?6 6 Kritiker dieser revolutionären Untergangsthese wiesen schon Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin: „Die Katastrophen sind ausgeblieben. Der Kapitalismus hat eine unvorhergesehene Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten

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Über ein zeitliches Ende des verdammungswürdigen Kapitalismus konnte unter Marxisten und Kommunisten weder im 19. noch im 20. Jahrhundert eine einheitliche Auffassung erzielt werden, denn während seit der 1848er Revolution die naheliegende Tendenz vorherrschte, dass bei jeder ökonomischen Krise ein kapitalistischer Zusammenbruch erfolgen müsse und Karl Marx noch am 7. Juni 1849 in Paris behauptete, es stehe „ein kolossaler Ausbruch des Revolutionskraters nie näher bevor als jetzt“ (Marx, 1973, S. 137), war nach den gescheiterten revolutionären Aufständen in mehreren europäischen Staaten der propagierte Optimismus über ein schnelles Ende der kapitalistischen Herrschaft geringer geworden, obwohl nicht ganz verschwunden. Die illusionäre Hoffnung auf ein definitives Ende des Kapitalismus flammte in krisenhaften Situationen stets neu auf, denn ohne zerstörerische Revolution konnte man das in den Fabrikbezirken Englands bereits fest etablierte kapitalistische System kaum beseitigen, denn es breitete sich unaufhörlich fast über ganz Europa aus und führte zu einem enormen Reichtumszuwachs in den industrialisierten Staaten. Während nach dezidierter Ansicht unseres optimistischen Revolutionärs Karl Marx, anschließend an die 1848er Revolution, die Arbeiterklasse als revolutionäre Lokmotive den rasenden Zug der ,ausgebeuteten‘ Arbeiter in das ,Reich der Freiheit‘ hineinziehen sollte, waren wenige Jahre vorher die Arbeiter nur ein bedauernswertes Häuflein Unglück: „Der Arbeiter ist nur als Arbeiter da, sobald er für sich als Kapital da ist, und er ist nur als Kapital da, sobald ein Kapital für ihn da ist. Das Dasein des Kapitals ist sein Dasein, sein Leben, wie es den Inhalt seines Lebens auf eine ihm gleichgültige Weise bestimmt.“ (Marx, 1977, S. 523, Hervorhebungen im Original). Seit Mitte des 19. Jahrhunderts mussten allerdings Marxisten fast tatenlos mitansehen, wie verschiedene europäische Nationalstaaten trotz einer stark wachsenden Arbeiterklasse auf dem wohlstandserzeugenden Weg einer industriellen Revolution vorangeschritten waren, d. h. das ,Dasein des Kapitals‘ wurde befestigt, statt unterzugehen oder beseitigt zu werden. Was war also zu tun oder wie sollte Karl Marx nun vorgehen, um seiner Idee von einer proletarischen Revolution zum unaufhaltsamen Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft größeren Nachdruck zu verleihen oder sie gar umzusetzen?

Verhältnisse bewiesen. Die Produktivkräfte haben sich unter ihm in einem Maße entwickelt, dem gegenüber die im vormärzlichen England zwerghaft erscheinen.“ (Schmidt, 1898, S. 1).

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Auf einer Sitzung der Londoner Zentralbehörde des Kommunistenbundes vom 15. September 1850 warf der anerkannte Revolutionsführer Marx den deutschen Befürwortern einer baldigen revolutionären Herrschaftsübernahme vor, dass sie die politischen Realitäten aus den getrübten Augen verloren hätten und in einen sinnlosen Aktionismus verfielen. Stattdessen müsse man den revolutionsbereiten Arbeitern sagen, um sie vor großen Enttäuschungen eines ausbleibenden Erfolges zu bewahren: „Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen“ (Engels, 1972, S. 588), d. h. noch nicht einmal die versprochene Proletarierherrschaft zu übernehmen, wie es dem Marxisten W. I. Lenin nach 1917 in wenigen Jahren durch einen Bürgerkrieg gelang. Revolutionäre Taktik, die in diesem Marxschen Vorwurf meisterhaft demonstriert wurde, sollte deshalb nicht verwechselt werden mit einer realistischen Analyse der gegebenen ökonomischen Situation, deren rapide Veränderungen über einen längeren Zeitraum weder damals noch heute vorausgesehen oder gar bestimmt werden konnten noch können, selbst wenn manche Forschungsinstitute an eine langfristige Vorhersehbarkeit glauben und sie propagieren. Politische oder ökonomische Revolutionen konnten und können auch in kapitalistischen Staaten eintreten, doch sich auf einen genauen Zeitpunkt festlegen zu wollen, wie es Marx und Engels mehrmals versuchten, gleicht eher den spinnigen oder unsinnigen, angeblich göttlichen Offenbarungen und unbezweifelbaren Vorhersagen des französischen Astrologen Nostradamus (1503 – 1566). Bis zu seinem Tod am 14. März 1883 in London war der unberechenbare Revolutionär Karl Marx zwar unbelehrbar davon überzeugt, dass alle kapitalistischen Systeme zusammenbrechen müssten oder beseitigt würden, doch über den exakten, ja nicht einmal ungefähren Zeitpunkt war er sich ebenso im Unklaren wie über die organisatorische Struktur einer kommunistischen Gesellschaft, obwohl er bei jeder politischen Krise den Revolutionsteufel aus dem zugeschnürten Sack springen sah. Der ökonomische Selbstbehauptungswille des englischen, französischen oder deutschen Kapitalismus sowie seiner staatlichen und unternehmerischen Vertreter wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trotz massiver Gegnerschaft nicht nur immer ausgeprägter, sondern er breitete sich sowohl auf andere europäische wie außereuropäische Staaten

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aus.7 Der ökonomische Aufstieg oder besser industrielle Siegeszug der USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte ebensolche revolutionären Erfolge wie die kapitalistische Aufholjagd Chinas im 21. Jahrhundert sowohl in technischer als auch in organisatorischer Hinsicht.8 Dieser, im 19. Jahrhundert triumphale Kapitalismus, obwohl ökonomische Krisen sich in unregelmäßigen Abständen wiederholten, vermittelte nicht den altersschwachen Eindruck eines baldigen Zusammenbruchs oder eines vorhersehbaren Endes, wobei der politische Staat sich der Produktionslogik des kapitalistischen Systems unterwerfe, wie Marxisten glaubten und unentwegt propagierten. Der deutsche Marxismus, der wegen eines Massenzulaufs von unterbezahlten Arbeitern, die sich gewerkschaftlich organisierten, und selbst während der Bismarckschen Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 an politischem Gewicht gewann, musste deshalb eine überzeugende Strategie präsentieren, warum die scheinbar unbezweifelbaren Voraussagen der kommunistischen Heroen Marx und Engels bisher an der widerspenstigen Realität gescheitert waren. Eine beeindruckende Phalanx marxistischer und kommunistischer Autoren, wie August Bebel, Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Friedrich August Lange, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg oder Franz Mehring, versuchten die kapitalistische Zusammenbruchtheorie der beiden großen Revolutionäre zu retten, indem sie an die neuen Verhältnisse angepasst wurde, d. h. die aufschiebende Wirkung des ökonomischen Imperialismus in den theoretischen Vordergrund trat. Doch welchen politischen Einfluss auf Arbeiter oder Funktionäre konnte ein marxistisches Gedankengebäude ausüben, dessen bombastische Thesen vollständig von der ökonomischen Realität widerlegt waren? Dieser brisanten Frage mussten sich marxistische wie kommunistische Autoren stellen, solange 7 Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA gab es kritische Stimmen gegen den Kapitalismus, wie etwa den sozialistischen Schriftsteller Edward Bellamy (1850 – 1898), der 1897 in Equality dem amerikanischen Volk klarmachen wollte, dass es „den Privatkapitalismus für ewige Zeiten abschaffen müsse“ (Bellamy, 1898, S. 231). 8 Im Jahr 1914 schrieb der Philosoph Max Scheler (1874 – 1928): „Mögen auch gewisse Schichten der Balkanstaaten, der Türkei, Ägyptens, Persiens, besonders aber Chinas und Japans sich heute eifrigst bemühen, sich die europäischen positivistischen Wissenschaftsmethoden, die zugehörigen Methoden der Fabrikation und des Handels anzueignen“, so wüssten die intelligentesten Bürger dieser Staaten, „daß der ,Geist‘, der ihnen diese Sendboten Westeuropas als seine letzten Ausstrahlungen zuschickt, an seiner Wurzel, d. h. im Zentrum Westeuropas selbst, im langsamen Absterben begriffen ist.“ (Scheler, 1955, S. 394. Hervorhebung im Original).

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das kapitalistische System weiter existierte und sich in außereuropäischen Kontinenten auszubreiten begann. Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin (1870 – 1924) war überzeugter Marxist sowie Kommunist und hatte 1899 in Russisch, ein Jahr vor seiner Emigration, das Buch veröffentlicht, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in dem er die fragwürdige These vertrat, dass der russische Kapitalismus zu jener Zeit bereits voll ausgeprägt und entwickelt gewesen sei und deswegen eine proletarische Revolution durchgeführt werden müsse, wozu eine revolutionäre Kaderpartei als Avantgarde des Proletariats gegründet werden sollte. Allerdings war Russland zu dieser Zeit, verglichen mit westeuropäischen Staaten wie England, Deutschland und Frankreich oder die USA, industriell ein rückständiges Entwicklungsland, wo erst 1861 die agrarische Leibeigenschaft beseitigt worden war. In Was tun? (1902) vertrat Lenin entschieden den marxistischen Standpunkt von einer sozialen Revolution, um den Kapitalismus umzustürzen oder zu beseitigen: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“ (Lenin, 1966, S. 161). In unverbrüchlicher Treue zum Marxismus baute er bis 1912 eine radikale Gruppe von Berufsrevolutionären auf, die Bolschewiki, und gründete im Mai 1912 die Parteizeitung Prawda, um propagandistisch eine größere Wirkung zu erzielen. Im Jahr 1908 hatte er gegen die bürgerlichen „Mummelgreise, treue Hüter der verschiedensten verschimmelten ,Systeme‘“ geschrieben, weil sie gewagt hätten, die marxistische Lehre zu kritisieren: „Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausweichlich zu immer häufigerer Widerkehr und zur Verschärfung solcher bürgerlichen Ausfälle gegen den Marxismus, der aber aus jeder ,Vernichtung‘ durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebenskräftiger hervorgeht.“ (Lenin, 1966, S. 83). In direkter Anlehnung an Rudolf Hilferdings Kapitalismuskritik, auf die ich später eingehe, bezeichnete Lenin den Ersten Weltkrieg, als das zaristische Russland gegen einige kapitalistische Staaten militärisch ankämpfte, als höchstes und letztes Stadium des imperialistischen Kapitalismus, der durch eine proletarische Revolution beseitigt werden müsse

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und beseitigt würde.9 In den Aprilthesen von 1917, Alle Macht den Sowjets, forderte Lenin einen kompromisslosen, revolutionären Umsturz der provisorischen russischen Regierung, um seine eigene Macht zu festigen und zu untermauern. Er war vorher mit ausdrücklicher Duldung der deutschen Staatsführung in einem versiegelten Zug von der Schweiz nach Petrograd gebracht worden, damit der langwierige Krieg zu ungunsten Russlands und zugunsten Deutschlands entschieden würde, d. h. indirekt war die Kamarilla um Kaiser Wilhelm II. für die politische Machtergreifung Lenins verantwortlich. Den bewaffneten Bolschewiki unter der Führung Lenins und Lew Dawidowitsch Trotzkis gelang es tatsächlich am 25. Oktober 1917 (Julianischer Kalender) mit einem abgegebenen Blindschuss aus der Bugkanone des im heutigen Sankt Petersburg auf dem Fluss Newa liegenden Panzerkreuzers Aurora einen erfolgreichen Aufstand des Petrograder Militär-Revolutionäre Komitees durchzuführen und die politische Macht zu übernehmen, womit die Russische Oktober-Revolution begann. Der Diktator Lenin wurde Regierungschef unter der marxistischen Losung der sofortigen Errichtung einer Diktatur des Proletariats und behauptete sich mit brutalen militärischen Mitteln, den Roten Terror, gegen sozialrevolutionäre Parteien und die Menschewiki, mitten in anhaltenden Kriegswirren. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk am 3. März 1918 zwischen dem neugegründeten Sowjetrussland und den deutschen, österreichisch-ungarischen, türkischen und bulgarischen Mittelmächten begann die (erfolglose) Phase einer Weltrevolution gegen feindliche kapitalistische Staaten, die allerdings in einem bürgerkriegsähnlichen ,Kriegskommunismus‘ mündete, der Hundertausenden von Russen das Leben kostete. Ein marxistisch eingestellter Soziologe behauptete ein Jahr später, nachdem das Deutsche Reich den Krieg verloren hatte: „Der Kapitalismus ist der einzige wirkliche Schuldige dieses 9

In Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (zuerst in russischen Sprache veröffentlicht 1917) schrieb Lenin über den industriellen Konzentrationsprozess (,riesige Monopolverbände‘) der kapitalistischen Produktion: „In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet.“ (Lenin, 1966, S. 784). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass man in einer sowjetischen Biografie Lenins dieses Werk als „einen hervorragenden Beitrag zur Schatzkammer des schöpferischen Marxismus“ (Lenin, 1984, S. 369) ansah.

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Weltkrieges, und zwar in allen Ländern gleichmäßig.“ (Oppenheimer, 1919, S. 7). Der sowjetische Kommunismus hatte sich also erfolgreich gegen westlich beeinflusste, kapitalistische Strömungen durchgesetzt und konnte nun versuchen, die marxistische Revolutionstheorie weltweit zu verbreiten, damit ein internationales Proletariat den Kapitalismus vernichten könnte. Um diese gegenüber dem Marxismus kritischen Überlegungen, wie der Kapitalismus durch eine proletarische Revolution beseitigt werden kann, nicht zu weit auszudehnen, möchte ich nach den kritischen Bemerkungen zu Mao, Engels, Marx und Lenin auf einen Autor eingehen, der sich als sozialdemokratischer Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik einen ausgezeichneten Ruf erworben, jedoch vor dem Ersten Weltkrieg in seinem finanztheoretischen Hauptwerk noch extrem marxistische Positionen vertreten hat. Der damalige österreichische Marxist Rudolf Hilferding (1877 – 1941) – der vom südfranzösischen Vichy-Regime an die deutsche Gestapo ausgeliefert wurde und im Pariser Gefängnis Selbstmord verübte –, hatte 1910, also in der Hochphase der kapitalistischen Industrialisierung, mit seinem ökonomischen Klassiker Das Finanzkapital als Schüler von Karl Kautsky marxistische Theorien weiterentwickelt, die schon von Rosa Luxemburg angedeutet worden waren. Das in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in den USA und Deutschland etablierte Wirtschaftssystem großer industrieller Trusts und branchenbezogener Kartelle betrachtete Hilferding als die höchste Stufe des Konkurrenzkapitalismus – was Wladimir Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus von 1916 wieder aufnahm – und als eine neuartige ökonomische Machtkonzentration: „Es ist ein historisches Gesetz: In den auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaftsformationen gehen die großen sozialen Umwälzungen erst vor sich, wenn die herrschende Klasse bereits den höchstmöglichen Stand der Konzentration ihrer Macht erreicht hat.“ (Hilferding, 1971, S. 561).

IV. Rudolf Hilferdings Finanzkapitaltheorie Damit wir diese neuartige ökonomische Entwicklung besser verstehen können, sollten wir folgendes berücksichtigen: Während der gesamten Lebenszeit von Karl Marx war diese starke Unternehmenskonzentration noch nicht deutlich in sichtbare Erscheinung getreten, denn erst in der

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich Unternehmen mit Tausenden von Arbeitern und Millionenumsätzen auf breiter Basis in einigen europäischen Staaten und den USA etabliert, weil sich die internationale Konkurrenz ständig verschärfte, denn die Zahl der teilnehmenden Staaten bzw. Unternehmen erhöhte sich fortwährend. Friedrich Engels war dagegen in seinen letzten Lebensjahren vor seinem Tod 1895, als dieses Phänomen bereits allgemein erkennbar wurde, so stark mit anderen Themen beschäftigt, dass er sich wenig oder gar nicht darum kümmerte, weil er die marxistische Ideologie verbreiten und einem größeren Leserkreis anschaulich vermitteln wollte. Das einflussreiche Finanzkapital, repräsentiert durch eine enge Verflechtung von Großindustrie und Bankkapital – was heute auch als ,Finanzmarktkapitalismus‘ bezeichnet wird –, unterjocht nach Hilferding nicht nur die ,ausgebeuteten‘Arbeiter, sondern beherrsche die politische Staatsmacht und vollende in seiner höchsten Ausprägung „die Diktatur der Kapitalmagnaten“ (ebd., S. 562). Deswegen drohten unter „den riesenhaften Leibern der Automaten die kleinen Menschen“ (ebd., S. 265) zu verkümmern und eines menschenwürdigen Daseins beraubt zu werden. Die einzige Chance eines zu einer massenhaften Bewegung angewachsenen Proletariats bestehe – auch darin stimmte Hilferding mit Karl Marx und Friedrich Engels überein – in der vollständigen Überwindung des Kapitalismus, allerdings nicht durch eine zerstörerische, proletarische Revolution, sondern durch eine gesellschaftliche Kontrolle des organisierten Kapitals. Diese Ideen werden neuerdings unter psychoanalytisch-philosophischem Banner wieder aufgewärmt, wenn man den weltweiten Kapitalismus, die ökonomische Globalisierung, überwinden will: „Wir müssen den Klassenkampf wieder auf die Tagesordnung bringen. Und das ist allein dadurch zu bewerkstelligen, dass man auf der globalen Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten besteht.“ (Zˇizˇek, 2016, S. 89). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mehrere europäische Staaten ihre Industrialisierung vorantrieben, standen andere Herausforderungen als ein revolutionärer Klassenkampf im wirtschaftlichen Vordergrund, die zu erklären oder gar zu bewältigen enorme geistige und technische Anstrengungen benötigten sowie große Kapitalien erforderten. In der von technischen Neuerungen auf wissenschaftlicher Basis geprägten ökonomischen Zwischenzeit, d. h. seit den 1880er Jahren, hatte sich nämlich auch in Deutschland ein ökonomischer oder kolonialer Imperialismus entwickelt, wie er in Großbritannien schon lange praktiziert

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wurde, der durch riesige Kapitalexporte sowohl in hochindustrialisierte als auch in abhängige Territorien Extraprofite erwirtschaftete. Deutschland war seit 1884 etwa drei Jahrzehnte lang ein Kolonialstaat, obwohl seine afrikanischen Kolonien so unbedeutend waren, dass die Kapitalüberweisungen dorthin die landwirtschaftlichen Erträge erheblich übertrafen, d. h. der Kolonialismus war für den deutschen Staat ein andauerndes Verlustgeschäft. Eine gravierende Folge dieser kolonialen Ideologie war, dass eine unterbezahlte arbeitende Klasse in Deutschland diese monopolistischen Tendenzen aufgrund steigender Nahrungsmittelpreise auf geschultert bekam, weil Einfuhrzölle angehoben wurden, um die eigene Landwirtschaft nicht der internationalen Konkurrenz auszusetzen. Es konnte deshalb der realistische Eindruck entstehen, dass diese notleidende Arbeiterklasse wieder für eine Klassenkampfideologie empfänglicher wurde, denn die materielle Schere zwischen Armut und Reichtum vergrößerte sich (vgl. Piketty, 2015), was die sozialistischen Parteien in ihrem Antikapitalismus bestärkte. Rudolf Hilferding registrierte mit wachem Auge und mit einer kritischen Sonde diese imperialistischen Entwicklungen im deutschen Kaiserreich, die er als unerträglich ansah und diesen kapitalistischen Staat so bald wie möglich beseitigt wissen wollte, um ein kommunistisches ,Reich der Freiheit‘ an dessen Stelle zu setzen, welches angeblich die Arbeiter sozial gerecht behandelte und den kapitalistischen Ausbeutern den endgültigen Garaus machte, den sie verdient hätten. Etwas widersprüchlich zu seinen vorhergehenden Überlegungen, dass der gesteigerte Konzentrationsprozess den imperialen Kapitalismus definitiv zerstören würde, behauptete er jedoch am Ende seines Buches im marxistischen Proletarieroptimismus: „Erst im Zusammenprall der beiden Mächte, also in der revolutionären Periode, erweist sich die Macht der Unterworfenen als real.“ (Hilferding, 1971, S. 561). Diese revolutionäre Zuversicht war unter marxistischen Denkern im Deutschen Kaiserreich offenbar weitverbreitet, denn die Arbeiterklasse vergrößerte sich unaufhörlich und stellte eine politische Macht in einem hochindustrialisierten, aber undemokratischen Staat dar. Noch 1919 vertrat ein dem Marxismus nahestehender Theologe die klassenantagonistische Ansicht: „Es ist aber nicht sowohl die Ungleichheit des Reichtums in einer Nation, als vielmehr die Steigerung dieser Ungleichheit, und es ist nicht sowohl der Abstand zwischen den Höhen und Niederungen des Nationalvermögens, als vielmehr die durch keinen Uebergang vermittelte Schroffheit dieses Abstandes, die den

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heimlichen Bürgerkrieg in unserem heutigen Gesellschaftszustande unausgesetzt schürt.“ (Hohoff, 1919, S. 305 f.). Das organisierte Proletariat war zu einem mächtigen Faktor aufgestiegen, der von der politischen Führung nicht mehr unbeachtet gelassen werden konnte, wenn die politische Unzufriedenheit nicht noch größer werden sollte. Zumindest in England und Deutschland hatte Ende des 19. Jahrhunderts die Arbeiterklasse zahlenmäßig die Beschäftigtenanteile in anderen Sektoren, wie die Landwirtschaft, den Handel oder das Handwerk, weit hinter sich gelassen, und von regierenden politischen Parteien konnte sie nicht mehr vernachlässigt oder gar unterdrückt werden. Außerdem verringerte sich das aktuelle Revolutionspotential oder die tatsächliche Revolutionsbereitschaft kontinuierlich, da sich die materielle Lage von Industriebeschäftigten durch höhere Löhne erheblich verbessert hatte (vgl. Kiesewetter, 1989, S. 133 ff.). Marxistische Theoretiker änderten allerdings trotzdem nicht ihre dogmatische Ansicht über den ausbeuterischen Charakter des Industriekapitalismus und dass der Imperialismus machtvoll voranschreite, weshalb der organisierte Kapitalismus zusammenbrechen oder beseitigt werden müsse, damit die unterdrückte Arbeiterklasse befreit werden könnte. Weil das monopolartige Finanzkapital bereits die wichtigsten Produktionszweige einer kapitalistischen Wirtschaft, wie den Bergbau, die Eisen-, Stahl- und Elektroindustrie oder den Maschinen- und Apparatebau, vergesellschaftet habe, würde dadurch die baldige Überwindung des Kapitalismus erheblich erleichtert und die große Zahl bäuerlicher sowie gewerblicher Kleinbetriebe könne verschont bleiben.10 Sobald nämlich das machtbewusste Proletariat die bourgeoise Staatsmacht erobert und damit eine politische Verfügungsgewalt über das Finanzkapital und/oder die Großindustrie erlangt hat, wird das unvermeidbare Ende des Kapitalismus eingeläutet: „Der Kampf um die Depossedierung [Enteignung, H.K.] dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat.“ (Hilferding, 1971, S. 557). Noch sechs Jahrzehnte später – nachdem in allen kapitalistischen Staaten der anhaltende Trend zu Dienstleistungsgesellschaften voranschritt – wurde von einem amerikanischen Autor behauptet, vielleicht sei „der Sozialismus eine Illusion und die Gesellschaft dazu verur10 Wenn das reaktionäre Ideal einer ökonomischen Wiederherstellung der freien Konkurrenz durch eine proletarische Politik verhindert wird, dann gilt nach Rudolf Hilferding: „Die vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich.“ (Hilferding, 1971, S. 557).

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teilt, Klassengesellschaft zu bleiben“ (Mattick, 1974, S. 341), weil sich der globale Kapitalismus unentwegt ausbreite und die Großindustrie weiterwachse. Die finanzielle ,Herrschaft über die Großindustrie‘, von der laut Rudolf Hilferding alle anderen Produktionsbereiche abhängig sind, weil ihr Finanzkapital ins Riesenhafte angestiegen war, genüge bereits, um eine wirksame gesellschaftliche Kontrolle auszuüben, weshalb eine unmittelbare Vergesellschaftung, d. h. eine marxistische Verstaatlichung von Banken, Handel, Produktion oder Versicherungen, unnötig sowie überflüssig wird, denn in der ,Großindustrie‘ sei die politische Macht des Kapitalismus in reinster Form verkörpert und ausgeprägt. Die ökonomischen Verstaatlichungsorgien, damit das Eigentum an privaten Produktionsmitteln verschwinde, wie sie von Marx und Engels seit dem Kommunistischen Manifest von 1848 gefordert und dann in der Sowjetunion umgesetzt wurden, können nach Hilferding entfallen, nachdem das Finanzkapital überall herrschend geworden sei. Friedrich Engels hatte dagegen im Oktober 1847 über die notwendige Verstaatlichung nach einer kommunistischen Revolution und die enormen Produktionsfortschritte einer sozialistischen Wirtschaft, weil nach der „gänzlichen Vernichtung der Klassen“ (Engels, 1971, S. 377) auch alle Klassengegensätze entfallen seien, geschrieben: „Die große Industrie, befreit von dem Druck des Privateigentums, wird sich in einer Ausdehnung entwickeln, gegen die ihre jetzige Ausbildung ebenso kleinlich erscheint wie die Manufaktur gegen die große Industrie unserer Tage. Diese Entwicklung der Industrie wird der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Produkten zur Verfügung stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen.“ (ebd., S. 375).11 Es ist aus heutiger Sicht höchst erstaunlich, nachdem Banken nach 2008 mit staatlichen Milliardensubventionen am Leben erhalten wurden, weil sie angeblich systemrelevant sind, dass kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein deutscher Ökonom in der finanziellen Verflechtung von Banken mit der Großindustrie eine derartig große Gefahr zu erkennen glaubte, dass ihre gänzliche Entmachtung gleichzeitig den definitiven Untergang des 11

Wie erhebend und begeisternd eine solche Vorstellung für die damals schlecht bezahlte Arbeiterschaft sein musste, auch wenn sie in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten vollständig gescheitert ist, geht aus der himmelstürmenden Aussage hervor: „Auf diese Weise wird die kommunistisch organisierte Gesellschaft ihren Mitgliedern Gelegenheit geben, ihre allseitig entwickelten Anlagen allseitig zu betätigen.“ (Engels, 1971, S. 376).

IV. Rudolf Hilferdings Finanzkapitaltheorie

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Kapitalismus auslösen müsste. Banken oder Börsen sind zwar eine unverzichtbare Instanz für die kontinuierliche Geldbeschaffung zu Investitionszwecken, doch sie sind eben nur ein Faktor des Industriekapitalismus, auch wenn er ohne Banken kaum existenzfähig wäre, denn er benötigt ungeheure Kapitalmengen, um seine Investitionen durchführen zu können. Die vollständige Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde jedoch nach Hilferding eine umfassende Kontrolle des gesamten Kapitalismus bewirken, weil sie die deutsche Großindustrie beherrschten und selbst bei einer fortgeführten kapitalistischen Verrechnung könne eine sozialistische Politik umgesetzt werden. Dieser politische Übergang zum ersehnten Sozialismus, den das ehemals herrschende Finanzkapital durch seine ökonomischen Konzentrationstendenzen einer imperialistischen Kapitalistenklasse vorbereitet habe, „weist das Proletariat mit Notwendigkeit auf den Weg selbständiger Klassenpolitik, die nur mit der schließlichen Überwindung des Kapitalismus überhaupt enden kann“ (Hilferding, 1971, S. 558). In abgewandelter marxistischer Ausdrucksweise und mit einer stärkeren optimistischen Komponente versehen, kam Hilferding zu folgender, auf das dominierende Finanzkapital bezogener Einschätzung: „So ist der Sieg des Proletariats geknüpft an die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen weniger Kapitalmagnaten oder Magnatenvereinigungen und an deren Herrschaft über die Staatsmacht“ (ebd., S. 561). Der liberalkapitalistische Staat der klassischen Ökonomen, wie er in Adam Smith‘ Wealth of Nations zuerst theoretisch ausgearbeitet worden war, hat sich nach Rudolf Hilferding, vor allem in England, durch eine weltweite Freihandelspolitik staatlichen Organisationen bemächtigen können und dadurch eine politische Kontrolle erlangt, die ihm nur durch das revolutionäre Proletariat entzogen werden könne. Seine inhärenten Ausbeuterinteressen wären durch eine Freihandelsdoktrin verstärkt worden, doch gerade in Deutschland, den USA oder Russland würden unvermeidbare ökonomische Krisen dazu beitragen, die protektionistischen Zölle immer höher zu treiben, um die politische Macht des Proletariats zu verhindern oder zumindest abzuwehren. Diese imperialistische Zollstrategie, auch wenn sie von mächtigen Industriestaaten ausgeübt würde, ist allerdings nach dezidierter Ansicht unseres Finanzexperten aus folgendem Grund zum vollständigen Scheitern verurteilt: „Das moderne Schutzzollsystem, und dies ist seine historische Bedeutung, leitet die letzte Phase des Kapitalismus ein.“ (ebd., S. 559, Anm. 1). Nicht die kapitalistische

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Profitsucht und die damit verbundene vernichtende Konkurrenz zwischen international agierenden Unternehmen und profitgierigen Kapitalisten sowie die ständig wiederkehrenden ökonomischen Krisen führen zu deren unvermeidbarem Untergang, sondern lediglich eine rigorose Schutzzollpolitik à la Donald Trump! Dagegen kann scheinbar tatsächlich kein kapitalistisches Unkraut aufkommen, selbst wenn man massenweise Unkrautvernichter wie Glyphosat dagegen einsetzt, das unwirksam bleiben muss, weil die Zölle ungebremst immer höher steigen. Denn um den von Karl Marx als gesetzmäßig angesehenen Rückgang der kapitalistischen Profitrate aufzuhalten, versuche das organisierte Kapital die freie Konkurrenz zu beseitigen und bemächtige sich der staatlichen Macht, um das praktizierte Ausbeutersystem auszudehnen; eine finanztheoretische Vorstellung, die seitdem gebetsmühlenartig von Kapitalismuskritikern wiederholt wurde. Das unablässige Profitstreben der Kapitalistenklasse kann und will jedoch nicht akzeptieren oder einsehen – denn sie ist von finanzkapitalistischer Ausbeutergier befallen –, dass diese raffinierte Strategie lediglich eine direkte Vorstufe der sozialistischen Gesellschaft, „ihre vollständige Negation ist: bewußte Vergesellschaftung aller in der heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Potenzen“ (ebd.). Es ist verständlich und nachvollziehbar, dass bei einer solchen industriellen Veränderungsdynamik, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehreren europäischen Staaten und den USA aufgetreten ist, überholte marxistische oder kommunistische Auffassungen verändert oder aufgegeben werden mussten, denn die industrielle Welt hatte sich gegenüber dem sogenannten Frühkapitalismus grundlegend verändert bzw. gewandelt und völlig andere Produktionsmethoden eingeführt, die sich auch auf die gesamtstaatliche Wirtschaftsstruktur und -organisation auswirkten. Dagegen fiel Imperialismus-Theoretikern eine sachliche Kritik von marxistischen Positionen und kommunistischen Überzeugungen unendlich schwer, wie es sich bereits in den Jahren um 1900 beim von Eduard Bernstein ausgelösten ,Revisionismus-Streit‘ gezeigt hatte. Damals wollte Bernstein auf einige marxistische Überzeugungen oder Theorien verzichten, um einer andersgearteten politischen und ökonomischen Situation gerecht zu werden, doch eine intellektuelle Phalanx marxistischer Denker trat ihm entgegen und kritisierte ihn heftig und unnachgiebig. Die sozialdemokratische Zeitschrift Die Neue Zeit wollte Ende des 19. Jahrhunderts ihren Lesern sogar die positive Nachricht vermitteln, „wie tief der Kapitalismus schon in den Delirien seines To-

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deskampfes steckt“ (Die Hetze, 1896/97, S. 228), weshalb der Bernsteinsche Revisionismusgedanke illusorisch sei und aufgegeben werden müsse. Im gravierenden Unterschied zu marxistischen Denkern wie Rudolf Hilferding u. a. haben jedoch ökonomische oder sozialwissenschaftliche Analytiker der europäischen Industrialisierung und des weltumspannenden Kapitalismus nicht die simplifizierende Ansicht geteilt: „Ökonomische Macht bedeutet zugleich politische Macht“ (Hilferding, 1971, S. 561). Denn oft genug im kapitalistischen Zeitalter waren florierende Unternehmen oder kapitalkräftige Banken auf eine staatliche Hilfsbereitschaft oder finanzielle Unterstützung angewiesen, um zu überleben, d. h. ihre politische Macht war zeitweise eingeschränkt oder unerheblich; nicht erst seit den Milliardensubventionen nach der selbstverschuldeten Bankenkrise von 2008. Die (organisierte) Arbeiterschaft spielte bei diesen politisch-industriellen Rankünen schon im 19. Jahrhundert eine ziemlich untergeordnete Rolle, obwohl deren revolutionäres Machtpotential nicht nur von Marxisten wie Hilferding wortreich beschworen und unrealistisch übertrieben wurde, um das angestrebte Ziel einer Kapitalismuszerstörung zu erreichen. Es wurde von Sozialisten und Sozialdemokraten lange propagiert, dass man die umstürzlerische Gewalt von Massenaufständen gegen den Kapitalismus auch im politischen Kampf einsetzen könnte und einsetzen sollte, wie es bereits von Marx und Engels vorgeschlagen worden war. Das Proletariat als entschiedener Feind imperialistischer Politik – was gerade am beginnenden Ersten Weltkrieg durch eine unvorstellbare Kriegsbegeisterung der arbeitenden Bevölkerung unbezweifelbar widerlegt wurde – könne zwar nach Hilferding die fortschreitende Monopolisierung nicht aufhalten, doch selbst die angestellten Mittelschichten wendeten sich aufgrund schwindender Karriereaussichten von diesem profitorientierten System ab und würden immer rebellischer und revolutionärer. Ökonomische Krisen lösen nicht zwangsläufig politische Krisen aus; das scheint eine der theoretischen Fehldeutungen des Marxismus gewesen zu sein, auch von Rudolf Hilferding bis Rosa Luxemburg. Zwar ist für offene gegenüber totalitären Gesellschaften durchaus zutreffend: „Rein ökonomisch betrachtet ist das System des Kapitalismus möglich sowohl auf der Grundlage der freien Konkurrenz wie auf derjenigen des Monopols“ (Jaffé, 1915, S. 25. Hervorhebung im Original), doch die eine Zeitlang vorhandenen Monopolisierungs- oder Kartellierungstendenzen des späten

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F. Der revolutionäre Marxismus als Untergangstheorie

19. Jahrhunderts konnten sich langfristig nicht gegen den Konkurrenzkapitalismus durchsetzen.12 Diese systemischen Widersprüche eines finanzmarktdominierten Kapitalismus verschärften sich laut Hilferding zur allgemeinen Unerträglichkeit, wenn krisenhafte Entwicklungen, wie ökonomische Depressionen, einträten und sich internationale Kapitalexporte verlangsamten, denn dann seien die gewöhnlichen Ausgänge für eine kapitalistische Politik versperrt oder blockiert. Die kapitalistischen Interessen miteinander konkurrierender Staaten würden aufgrund dieser krisenhaften Situation immer unverträglicher und unvereinbarer sowohl mit unerfüllten Profitvorstellungen wie mit kampfbereiten Volksmassen. „In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.“ (Hilferding, 1971, S. 562), von der die politische Macht erobert und ein kommunistischer Staat errichtet wird. Wie bei Karl Marx kann dann der totgeweihte Kapitalismus in sozialistische Abgründe geschleudert oder in Dantischen Unterwelten aufbewahrt werden und muss seine endlosen Sündenregister abbüßen, wenn ihm überhaupt noch eine finanzielle oder moralische Ressource erhalten bleibt. Aus realistischer Sicht eines europäischen Wirtschaftshistorikers, der märchenhafte Ideen oder absurde Thesen lieber Romanschriftstellern wie Jules Verne oder John Ronald Reuel Tolkien überlässt, schließe ich mich dagegen eher der unrevolutionären Ansicht Eric J. Hobsbawms an: „Weder im politischen noch im ökonomischen Bereich erlitt die kapitalistische Ordnung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Zusammenbruch.“ (Hobsbawm, 1977, S. 384). Wir können deshalb auch heute noch gegenüber diesen Kapitalismuskritikern resümieren: Aller abwägenden Voraussicht nach werden kapitalistische Staaten auch das 21. Jahrhundert überleben, wenn die politischen Entscheidungsträger unternehmerische Freiheiten nicht unterdrücken oder beseitigen und der weltweit konkurrierenden Wirtschaft totalitäre Zwangsjacken anlegen, wie es der sowjetische Kommunismus praktiziert hat. 12

Ein berühmter Vertreter der französischen Annales-Schule, Fernand Braudel (1902 – 1985), ging ebenfalls davon aus – in wörtlicher Anlehnung an Wladimir I. Lenins Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus von 1916 –, dass der moderne Kapitalismus wegen seiner großen Profite internationale Ressourcen ausbeute und sich „nach wie vor auf legale oder faktische Monopole – trotz aller Angriffe, die sich deshalb gegen ihn richten“ (Braudel, 1997, S. 98), stütze.

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Warum ist dem modernen Kapitalismus durch marxistische und kommunistische Denker und Politiker ein so rabenschwarzer Anstrich verpasst worden? Von marxistischen Autoren ist wiederholt behauptet worden, dass seit dem Kolonialzeitalter militärische Dominanz durch vernichtende Kriege den Kapitalismus gekennzeichnet habe, um seine profitable Existenz sowie sein längerfristiges Überleben abzusichern, doch Kriege gab es bereits in der griechischen und römischen Antike in großer Zahl. Werner Sombart versuchte sogar zu erforschen, „inwieweit und weshalb ist der Kapitalismus eine Wirkung des Krieges“ (Sombart, 1913, S. 8), weil er von der zweifelhaften These ausging, dass kriegerische Aktivitäten auf die materielle Kultur erheblichen Einfluss ausgeübt hätten. Wir haben schon gehört, welche riesigen Kapitalsummen europäische Kriege lange vor dem Beginn des modernen Kapitalismus gekostet haben, die von den entsprechenden Staaten aufgebracht werden mussten. Außerdem ist kaum zu leugnen, dass in der Jahrtausende alten Weltgeschichte vor einem beginnenden industriellen Kapitalismus verheerende Kriege mit Massenmorden der Zivilbevölkerung stattgefunden haben, die nicht durch einen kapitalistischen Machtanspruch ausgelöst oder motiviert waren. Dazu gehören nicht nur religiöse Kreuzzüge seit dem späten 11. Jahrhundert, der hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich von 1337 bis 1453, den vom Adel und den Fürsten niedergeschlagenen Bauernkrieg 1524/25 oder der auch wegen religiöser Differenzen ausgelöste Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648. Die militärischen Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkrieges sowie dessen ökonomische Zentralisierungstendenzen – ganz abgesehen von dem erfolgreichen Versuch der ,revolutionären‘ Errichtung eines kommunistischen Staates im November 1917 durch Wladimir Iljitsch Lenin und den Bolschewikis im nachzaristischen Russland – haben den etablierten europäischen Kapitalismus dagegen erschüttert und beinahe beseitigt. Der theoretische Vordenker Karl Marx, der angeblich auf die politische Errichtung der Sowjetunion keinen ideologischen Einfluss gehabt haben soll, obwohl die wenigen Bemerkungen über die marxistischen Überzeugungen von W. I. Lenin das Gegenteil beweisen, schrieb in einem nicht abgeschickten Brief an die Redaktion der russischen Zeitschrift Otetschestwennyje Sapiski Ende 1877 über die eventuelle Möglichkeit, einen westeuropäischen Kapitalismus nach Russland zu übertragen: „Strebt Rußland dahin, eine kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild zu werden …, so wird es dies nicht fertig bringen, ohne vorher einen

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guten Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben; und dann, einmal hineingerissen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die unerbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die andern profanen Völker.“ (Marx, 1974, S. 111). Vier Jahrzehnte später begannen Lenin und nach ihm Stalin den Roten Terror, d. h. die systematische Ausmerzung der russischen Landbevölkerung, die eine sowjetische ,Industrialisierung‘ nicht mitmachen wollte und die sich gegen eine Requirierung eines beträchtlichen Teils der bäuerlichen Erträge wehrte. Wenige Interpreten, gleichgültig aus welchem politischen Lager, vertraten nach 1918 dezidiert die überholte Auffassung, dass man zu den alten Zuständen eines europäischen Industriekapitalismus zurückkehren würde, während die meisten davon überzeugt waren, dass man ihn nicht wiederherstellen könne. Auf die ökonomischen oder kapitalistischen Verwerfungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg kann hier nicht eingegangen werden, doch es erscheint interessant, einen streifenden Seitenblick auf die sozialistischen und kommunistischen Hoffnungen in Deutschland zu werfen, die auf dogmatische Weise weiterhin vertreten wurden.

V. Der Erste Weltkrieg als revolutionäres Sprungbrett zum Marxismus-Leninismus Im Ersten Weltkrieg, der politischen Wasserscheide zwischen scheinbar geordneten Gesellschaften und revolutionärem Chaos, spaltete sich nämlich nicht nur die Sozialdemokratie, die inzwischen zu einer nicht mehr zu vernachlässigenden politischen Partei und Kraft aufgestiegen war, in zwei verfeindete Flügel bzw. Lager auf, sondern nach der russischen Oktoberrevolution (nach dem Julianischen Kalender) entstand auch eine deutsche Kommunistische Partei (KP) unter organisatorischer Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die beide im Januar 1919 meuchelmörderisch umgebracht wurden. Diese orthodox-marxistische Partei vertrat im scharfen Gegensatz zur SPD, die nach 1919 in der demokratischen Weimarer Republik mehrmals Regierungsverantwortung übernahm, weiterhin radikale marxistische Positionen und wollte den verruchten Kapitalismus ohne Wenn und Aber abschaffen, beseitigen oder zerstören. Die KP agierte in deutschen Ländern einer durch Inflation und Reparationsforderungen der Siegermächte belasteten Demokratie erfolgreich und gewann in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erhebliche

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Wählerstimmen unter den unzufriedenen Arbeitern, weil deren ökonomische Situation sich zunehmend verschlechterte. Etwa zwei Jahrzehnte vorher konnte noch die antikapitalistische Ansicht vertreten werden: „Die Tage des Centrums [der für katholische Wähler gegründeten Partei, die bis 1933 existierte, H.K.] als eine den Capitalismus stützende Partei sind gezählt; es wird sozialistisch sein, oder es wird nicht mehr sein.“ (Meyer, 1894, S. 216. Hervorhebung im Original). Nach dem unerwarteten Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 durch den plötzlichen Börsenzusammenbruch der New York Stock Exchange wurde das lauttönende Sterbeglöckchen des Kapitalismus endgültig geläutet, selbst von Nichtmarxisten, denn er vollbringe nun tatsächlich seine letzten Atemzüge und hauche seine verrottete Seele aus. Am 30. März 1930 schrieb Clara Zetkin in Berlin an David Rjazanov in Moskau siegessicher zu dessen 60. Geburtstag: „Die proletarische Weltrevolution marschiert, der Kapitalismus geht in beschleunigtem Tempo seinem Ende entgegen, wenn er sich auch mit Rationalisierung und Stabilisierung die Röte der Gesundheit auf die Wangen schminkt.“ (Hecker, 2008, S. 139). Die größte Weltwirtschaftskrise des Industriezeitalters kann als der bedeutendste ökonomische Einschnitt in einer 150jährigen kapitalistischen Geschichte mit Millionen von arbeitslosen Arbeitern angesehen werden, denen während der Reichskanzlerschaft Heinrich Brünings auch noch die wenige Jahre vorher eingeführte Arbeitslosenunterstützung genommen, d. h. entzogen wurde, weshalb sie bittere Not litten und sich viele von der Weimarer Republik abwandten. Viele von ihnen glaubten, wie es Adolf Hitler und andere Nationalsozialisten verkündete, dass ein totalitäres Regierungssystem den letzten Hoffnungsschimmer bieten könnte, um aus dem ökonomischen wie politischen ,Schlamassel‘ herauszufinden und eine deutsche Volksgemeinschaft zu errichten. Diese Weltwirtschaftskrise hat zweifellos zum beschleunigten Aufstieg der NSDAP unter Adolf Hitler beigetragen und die kommunistischen Gegner in ihrer antikapitalistischen Überzeugung bestärkt, dass dieses System beseitigt werden müsste. Der Kapitalismus habe die ihm angeborene, arbeiterfeindliche Fratze gezeigt und jetzt das viel zu lange aufrechterhaltene Recht verspielt, unter einem solchen zerstörenden Zepter weiter zu regieren oder weiter zu existieren. Je intensiver die weltweiten Krisenerscheinungen sich bemerkbar machten, umso bedrohlicher erschien die kurzfristige Fortexistenz kapitalistischer Systeme, was auch nicht vor dem Reichstagsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei, Willy Hellpach

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(1877 – 1955), der 1925 als Kultus- und Unterrichtsminister für das durch den Tod von Friedrich Ebert freiwerdende Amt des Reichpräsidenten kandidierte, haltmachte: „Der Spätkapitalismus hat seine Johannistriebe, aber die Gründer- und Schieberfiguren der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, wie selbsttäuschend und kurzlebig, wie krampfhaft und unfruchtbar sie sind.“ (Hellpach, 1931, S. 15). Diese negative Ansicht war nur eine bürgerliche Stimme einer großen Zahl skeptischer Zeitgenossen, darunter bedeutende Ökonomen und Sozialwissenschaftler, die davon überzeugt waren, dass das rettende Ufer nicht mehr zu erreichen sei, denn das kapitalistische Wasser sei viel zu tief und abgründig, um sich daraus zu befreien oder erretten zu können. Obwohl die weltweiten, zumindest in den führenden Staaten erfolgten, Börsen- oder Bankenzusammenbrüche nach 1929 nicht ursächlich auf den industriellen Kapitalismus zurückzuführen waren, wurden ihm damals alle negativen Folgen in die ausgetretenen Schuhe geschoben: „Kapitalismus, als die ungehemmt ausgenützte Möglichkeit des wirtschaftlich Stärkeren, den wirtschaftlich Schwächeren zu übertreffen, ist in der Tat (trotz größter wirtschaftlicher Vorteile) eine barbarische Lebensform, ist derselbe brutale, blutrünstige Individualismus, der in der Renaissance mit Gift und Dolch auftrat. Es ist daher kein Wunder, daß er geschichtlich den Tod im Herzen trug schon an dem Tage, da er geboren wurde.“ (Spann, 1931, S. 95). Sind arbeitende Menschen, die Schwächsten in einer Arbeitsgesellschaft, nicht berechtigt oder sogar moralisch verpflichtet, ein derart brutales und menschenverachtendes System zu beseitigen? Der Ökonom und Soziologe Franz Oppenheimer (1864 – 1943) z. B. glaubte während den ersten, heftigen Anzeichen einer Weltwirtschaftskrise: „Der Kapitalismus ist ein Bastard von Knechtschaft und Freiheit.“ (Oppenheimer, 1931, S. 151), was einerseits auf die angeblich unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter bezogen war, andererseits auf das freie Spiel unternehmerischer Produktion.13 Dieser energische Befürworter eines Genossenschaftswesens war sich nach wenigen Monaten des Dritten Reiches vollständig sicher, dass der globale Kapitalismus als unfreie, gefesselte Konkurrenz keine reale Überlebenschance mehr habe: „Der Kapitalismus hat abgewirtschaftet. Seine Verteidiger sind verstummt. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: er ist gerichtet.“ (Oppenheimer, 1933, S. 12). 13 Schon 1919 hatte der praktizierende Arzt die biologische Ansicht vertreten, der Kapitalismus sei „eine Störung der Normalität, bildlich: eine Krankheit des Supraorganismus der Gesellschaft“ (Oppenheimer, 1919, S. 189 f.).

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Diese kritischen Stimmen gegenüber einem schwankenden Kapitalismus ließen sich leicht vermehren, doch ich möchte nur zwei von ihnen während dieser nationalsozialistischen Umbruchperiode zu Wort kommen lassen, um zu zeigen, dass der internationale Kapitalismus trotz seiner unleugbaren Errungenschaften im 19. Jahrhundert gerade während dieser Zeit so wenig geschätzt wurde, dass er eigentlich von der internationalen Bildfläche verschwinden oder abgeschafft werden könne. Die angeschlagene Weimarer Demokratie, die wegen ihrer politischen und ökonomischen Krisen seit 1930 auf tönernen Füßen stand, konnte dabei ebenfalls zugrunde gehen, ohne massiv verteidigt zu werden, denn sie sei dem deutschen Wesen fremd. Der uns schon öfter begegnete Werner Sombart sprach sich kurz vor der ,Machtergreifung‘ Adolf Hitlers für eine von einer zwangsweisen Verstaatlichung ganzer Wirtschaftszweige gelenkten Planwirtschaft aus, denn die zukünftige Entwicklung des Kapitalismus werde nicht mehr bestimmt von den ökonomischen Gegebenheiten, sondern wesentlich von einer irrationalen weltanschaulichen Einstellung der Menschen, von ihrem unbeugsamen Willen: „Aber stark muß dieser Wille sein, einheitlich-zielbewußt und doch klarsichtig.“ (Sombart, 1932, S. 45. Hervorhebungen im Original). Diese kapitalismusfeindlichen Gedanken hat der jüdische Ökonom Joseph A. Schumpeter während des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 1942, wieder aufgenommen und behauptet: „Kann der Kapitalismus weiterleben? Nein, meines Erachtens nicht.“ (Schumpeter, 1950, S. 105). Es gab nur wenige Ökonomen und Sozialwissenschaftler, wie etwa Wilhelm Röpke (1899 – 1966), die während dieser krisenhaften Zeit die kapitalistische Gesellschaft verteidigten, die nicht an einem eingebauten Systemfehler litte, weshalb der Kapitalismus beseitigt werden müsse, sondern die sich gegen einen radikalen Umbau des Wirtschaftssystems aussprachen, weil sie seine Vorteile bei der Verwirklichung eines größeren materiellen Wohlstandes auch für Arbeiter erkannten und verteidigten. Der ebenfalls jüdische Volkswirtschaftler und Sozialphilosoph Röpke schrieb im letzten Krisenjahr vor der vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ausgesprochenen Ernennung Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler 1932: „Eine Krise des Kapitalismus im ersten Sinne ist nichts weiter als ein Märchen, bei dem geflissentlich übersehen wird, daß die furchtbare Intensität und Hartnäckigkeit der heutigen Weltkrise Umständen zu verdanken sind, die mit dem Kapitalismus nicht das mindeste zu tun haben (Krieg, Inflation, Reparationen, politischen Ra-

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dikalismus und vieles andere).“ (Röpke, 1932, S. 9). Man kann gegen diese ökonomische Auffassung aus heutiger, institutionentheoretischer Sicht zwar einige Einwände erheben, denn zumindest die (Hyper-)Inflation vor Ende 1923 lag im ausgesprochenen oder sogar ureigensten Interesse verschuldeter Unternehmer und Kapitalisten – vom rapiden Abbau der staatlichen Kriegsschulden ganz abgesehen (vgl. Holtfrerich, 1980, S. 153 ff.) –, doch es bleibt festzuhalten, dass diese kluge Interpretation überzeugte Marxisten wie verbohrte Nationalsozialsten nicht von ihrer dogmatischen Haltung abbringen konnte, dass der profitorientierte Kapitalismus abgewirtschaftet habe und an seinen eigenen Profitdämpfen ersticken müsse. Der als Rechtspositivist verleumdete Hans Kelsen z. B., der sich in der chaotischen Endphase der Weimarer Republik todesmutig der nationalsozialistischen Flut entgegenstemmte und sich für den Erhalt der Demokratie einsetzte, wurde von Marxisten und Hegelianern massiv angegriffen (vgl. Kiesewetter, 1995, S. 208 ff.). Sowohl Juden als auch jüdisch-stämmige Deutsche und Österreicher haben sich sowohl für als auch gegen den Kapitalismus ausgesprochen, je nachdem, ob sie stärker marxistisch oder demokratisch eingestellt waren. Der weltberühmte Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper (1902 – 1994) brachte diese unwissenschaftliche Einstellung der Kapitalismusgegner, die vor keiner widerlegenden Tatsache zu kapitulieren bereit ist, auf die einfache Formel: „Der Marxismus ist am Marxismus gestorben.“ (Popper, 2016, S. 312. Hervorhebung im Original).

G. Hat der Kapitalismus im 21. Jahrhundert eine realistische Überlebenschance? I. Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise als Auslöser eines kapitalistischen Umdenkungsprozesses Die europäischen Zerstörungen des durch das totalitäre Hitlerregime ausgelösten Zweiten Weltkrieges oder die zügige Errichtung kommunistischer Staaten in Osteuropa nach 1945 konnten den westlichen Kapitalismus, obwohl häufig von Marxisten wie Nichtmarxisten prognostiziert, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weder besiegen noch vernichten, obwohl es in kommunistischen Staaten unaufhörlich mündlich von Politikern wie schriftlich von ,Wissenschaftlern‘ propagiert wurde. Der kapitalistische Westen sollte ökonomisch nicht nur eingeholt, sondern überholt werden, weshalb im Parteiprogramm der KPdSU von 1961 versprochen wurde, innerhalb von neun Jahren „das stärkste und reichste kapitalistische Land, die USA, in der Pro-Kopf-Produktion zu übertreffen“. Nicht einmal ein wirtschaftlicher Aufholprozess konnte in der Sowjetunion verwirklicht werden, denn die Nachkriegsjahrzehnte bescherten vielen westeuropäischen Staaten einen unvorhergesehenen Wirtschaftsboom mit einer vorher nie gekannten Produktivität, die zum weitverbreiteten Massenkonsum und einer -kaufkraft führte, wie es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur in den USA beobachtet worden war. Dadurch wurde auch der allgemeine Wohlstand einer vorher nicht üppig lebenden Arbeiterklasse, zumindest in den hochindustrialisierten Staaten, auf unvorstellbare Höhen getrieben, mit ausgedehnten touristischen Freizeitaktivitäten mit dem eigenen Auto oder durch Flugzeugreisen. Schon Mitte der 1920er Jahre befürchtete Ferdinand Tönnies (1855 – 1936), dass es wegen des gewaltigen Tempos der amerikanischen Produktivkräfte wahrscheinlich sei, „den gesamten europäischen Kapitalismus in ihre Fesseln zu schlagen“ (Tönnies, 1926, S. 334).

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G. Hat der Kapitalismus eine Überlebenschance?

Wenige Jahrzehnte vor dem sogenannten ,Wirtschaftswunder‘ wurde die ökonomische wie moralische Lage noch düster beurteilt, denn ein Volkswirtschaftler behauptete im Dritten Reich: „Dieser Verfall der [kapitalistischen, H.K.] Wirtschaftsordnung war kein unabwendbares Schicksal, sondern die Folge der Aushöhlung des kapitalistischen Ethos“ (Egner, 1935, S. 167).1 Angeblich konnte nur der Nationalsozialismus mit seiner Blut- und Boden-Ideologie eine wirtschaftliche Ethik begründen, die den wahren Erfordernissen einer völkischen Gemeinschaft angemessen sei. Ein halbes Jahrhundert danach scheinen sich viele ethische Koordinaten grundlegend verändert zu haben, obwohl im späten 20. Jahrhundert eine Unternehmensethik nur geringen Einfluss auf die globalen Märkte auszuüben scheint, auch wenn sie an vielen Universitäten gelehrt wird, aber offenbar in den bedeutenden Unternehmen nicht umgesetzt oder angewandt wird. Es ist eigenartig und erklärungsbedürftig, warum europäische Intellektuelle und kommunistische Parteien sich weiterhin der unbezweifelbaren Tatsache verweigern oder entziehen, dass die reformerische Dynamik eines globalen Kapitalismus trotz zunehmender Rivalität zwischen den beiden Supermächten, den demokratischen USA und dem kommunistischen China, sowie wiederkehrenden ökonomischen Krisen, sich eher stabilisierend als selbstzerstörend auswirkt. Schließlich hat die ökonomische Ineffektivität eines staatsmonopolistischen ,Kapitalismus‘ sowjetischer Prägung – trotz seiner über 70jährigen Dauer – in sozialistischen und kommunistischen Gesellschaften wesentlich zu ihrem politischen Kollaps beigetragen, obwohl der reiche Westen in den letzten Jahren ihrer Existenz erhebliche Kapitaltransfers in diese Staaten getätigt hat. An einigen Aspekten bzw. Aussagen unterschiedlicher Autoren von etwa einem Jahrhundert soll verdeutlicht werden, warum dem modernen Kapitalismus nur geringe Überlebenschancen eingeräumt wurden und werden bzw. warum er von der globalen Bildfläche so bald wie möglich verschwinden sollte. Werner Sombart z. B. glaubte 1917, also mitten im Ersten Weltkrieg, dass sowohl die damals aufgetretene Holznot in europäischen Staaten als auch die koloniale Ausbeutung sichtbare Zeichen eines „sich vorbereitenden Endes der europäischen Kultur“ (Sombart, 1917. 1 Ein Jahr später vertrat der Hegelianer und Nationalökonom Friedrich Bülow eine ähnliche Auffassung: „Die soziale und wirtschaftliche Krankheit, an der letzten Endes alle in der Geschichte zugrunde gegangenen Völker gelitten haben, heißt Kapitalismus.“ (Bülow, 1936, S. 142).

I. Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise

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II. Bd./2, S. 1153. Hervorhebung im Original) seien und die wirtschaftlichen Energien sich im unaufhaltsamen Verlöschen befänden, d. h. der Untergang des Abendlandes (Oswald Spengler, 1918) unmittelbar bevorstünde. An die über ein Jahrhundert bewährte Stelle eines wagenden Unternehmertums sei eine „der Verfettung verfallene Gesellschaft satter Rentner und schmarotzender Finanzer“ (ebd., S. 1154) getreten, weshalb das wohlsituierte kapitalistische Kind in der geldgefüllten Wiege erwürgt würde.2 Wir fühlen uns an heutige Zustände erinnert, denn weltweite ökonomische Einbrüche wie nach der Bankenkrise 2008 bzw. nach dem militärischen Überfall sowjetischer Truppen 2022 auf die Ukraine oder andersartig hervorgerufene konjunkturelle Abschwünge können die kapitalistischen Wachstumskräfte nachteilig beeinflussen und sich eventuell auch negativ auf den materiellen Lebensstandard der betroffenen Bevölkerungen auswirken und die vielbeschworene Furcht vor einem kapitalistischen Zusammenbruch erneut heraufbeschwören. So gravierend die ökonomischen oder finanziellen Folgen dieser durch Finanz- und Immobilienspekulationen ausgelösten Krise, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine – sowie die dadurch exorbitant gestiegenen Gas- und Strompreise – noch verstärkt wird, auch gewesen sein mögen oder sind, so erscheint es mir dennoch als eine übertriebene und unrealistische Auffassung: „Der weltweite Kollaps der Zweiten Industriellen Revolution im Sommer 2008 war ein Weckruf.“ (Rifkin, 2014, S. 340). Was Werner Sombart bereits nach dem Ersten Weltkrieg falsch beurteilte, bestand in einer biologischen Analogie, nämlich: Der Kapitalismus nach über 150 Jahren „wird ruhiger, gesetzter, vernünftiger werden, wie es seinem zunehmenden Alter entspricht“ (Sombart, 1927. 2. Hbb., S. 1013), so wie eine vergrößerte Weisheit mit gestiegenem Lebensalter. Es ist wohl überflüssig, genauer darauf einzugehen, dass diese, der menschlichen ,Altersklugheit‘ nachgebildete, Auffassung ein Jahrhundert später von seinen heutigen globalen Aktivitäten kaum bestätigt werden kann, die sich trotz politischer und ökonomischer Krisen weiter ausdehnen und 2 Im Dritten Reich ist er noch weitergegangen und hat behauptet, dass während des 19. Jahrhunderts „die westeuropäische Menschheit“ (Sombart, 1937, S. 6) eine Zeit des verirrten Niedergangs erlebt habe: „Wir, die wir am Ende dieser Verfallszeit leben, vermögen erst jetzt die Weite und Tiefe der Verwüstungen zu ermessen, die während des verflossenen Jahrhunderts auf allen Gebieten unseres Daseins: dem staatlichen, gesellschaftlichen, geistigen und persönlichen angerichtet wurden“ (ebd.).

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G. Hat der Kapitalismus eine Überlebenschance?

teilweise ,unvernünftiger‘ werden. Selbst wenn wir keine konkreten Prognosen darüber aufstellen können, ob und wann der Kapitalismus von lebensbedrohenden Alterskrankheiten befallen wird, die seinen Tod herbeiführen könnten, so scheint es plausibel anzunehmen, dass nach einer gravierenden Abschwächung der weltweiten Corona-Pandemie seit 2020 und dem definitiven Ende des Ukraine-Krieges eine ökonomische Krise eintreten wird, von der viele Staaten betroffen werden. Eine solche Krise wird weit entfernt sein von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Weltwirtschaft, doch einzelne Branchen werden unterschiedlich darunter leiden und einige Unternehmen werden aufgeben müssen, selbst wenn sie massiv subventioniert würden. Trotzdem vermögen wir uns heute kaum noch dem apokalyptischen Untergangsszenario von Werner Sombart anzuschließen, der ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg eine zerstörende Feuersbrunst mit dem damaligen Kapitalismus verband: „Nun rast der Riese fessellos durch die Lande, alles niederbrennend, was sich ihm in den Weg stellt.“ (Sombart, 1988, S. 345). Wie wir bereits gehört haben, durchzieht die Kapitalismusgegnerschaft sowie Untergangsüberzeugungen das 19. und 20. Jahrhundert, auch wenn der ,Kapitalismus‘ aus seinen ökonomischen ,Ruinen‘ siegreich auferstanden ist. Dem real existierenden Kapitalismus entstanden aus verschiedenen Richtungen feindliche Gegenströmungen, die sowohl einzelne als auch gesamtgesellschaftliche Elemente angriffen, wie z. B. einflußreiche Anhänger eines organischen Ständestaates, die befürchteten, dass die kapitalistische Wirtschaft wie nach einer unkontrollierten Atomexplosion alles in unzusammenhängende Einzelteile bzw. Atome zerreißen würde und sich damit selbst auslösche bzw. vernichte. Um nur einen energischen Vertreter dieser, dem Nationalsozialismus nahestehenden, Richtung, Othmar Spann (1878 – 1950), hier etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, der annahm, dass der Kapitalismus die traditionellen ständischgenossenschaftlichen Bindungen und eine geistbeseelte Wirtschaftsordnung zerstören oder auslöschen würde. Die historische Entwicklung der heutigen kapitalistischen Gesellschaft riss demnach „mit Gewalt alle ständischen Schranken nieder (besonders in Frankreich 1789), und doch mußte sie teils sehr Vieles gegen ihren Willen stehen lassen, teils bildete sich aus dem selbstgeschaffenen Wirrwarr kraft innerer Gesetzmäßigkeit eine neue organische Gliederung heraus. Innungen, Bruderladen und manche anderen zunftähnlichen Verbände konnten nie völlig beseitigt werden. Der freie Wettbewerb auf dem Weltmarkt, den erst der Freihandel

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gebracht hatte, konnte nie verwirklicht werden; wo es scheinbar der Fall war, haben Frachtenschutz, Steuerschutz, Subventionen, Ausfuhrprämien und Verwaltungsschutz aller Art die formelle Zollfreiheit wieder wettgemacht, d. h. wieder neue Sonderstellungen, Bindungen, Gruppierungen geschaffen.“ (Spann, 1931, S. 202). Es ist unter diesen ständestaatlichen Prämissen nachvollziehbar, dass der gleichmacherisch-atomistische Wettbewerb und das vollständig atomistische Nebeneinander unverbundener Gliederungen als eine schädliche Entwicklung angesehen wird, der man schließlich „das Gepräge einer völkischen Wirtschaft“ (Spann, 1935, S. 386. Hervorhebung im Original) aufzwingen müsse.3 Nur wenige Jahre vorher, etwa in der gleichen historischen Periode, die von ökonomischen Verwerfungen des Kapitalismus fast zerrissen wurde, vertrat der im Völkerbund tätige deutsche Ökonom Moritz Julius Bonn (1873 – 1965) die traditionelle Auffassung: „Der deutsche Kapitalismus hat die Idee der Zunft und des Ständestaates nie völlig überwunden.“ (Bonn, 1930, S. 73).

II. Die ,Fortschrittsfeinde‘ des Kapitalismus Die „Fortschrittsfeinde“ (Sieferle, 1984) fanden genügend bittere Anlässe und arbeitsbedingte Vorkommnisse, um den industriellen Kapitalismus in einem düsteren Gemälde von unmenschlichen Begleiterscheinungen, wie den ausbeuterischen Vernichtungswillen gegenüber abhängigen Arbeitern, darzustellen, denn ihnen gegenüber konnte man eine agrarische Vergangenheit in unbeschwerten, dem natürlichen Rhythmus angemessenen Farben erstrahlen lassen, als Menschen angeblich noch erdverbunden und gottesfürchtig lebten und arbeiteten. Es ist sogar behauptet worden, dass „die Geschlechterdiskriminierung im historischen Ausschluss der Frauen von der gesellschaftlich notwendigen Arbeit im Kapitalismus“ (Federici, 2015, S. 39) wurzele, woraus man schließen könnte, dass die meisten Bauersfrauen in vorindustrieller Zeit ein unentfremdetes und unbeschwertes Leben führen durften, was ein reines, unrealistisches Märchen ist, das konservative Geister offenbar so begeis3 Zusammenfassend kann diese liberalökonomische Zersplitterung nur bedeuten: „Zu ihrem geistigen Gefüge individualistisch gerichtete Zeitalter bringen eine zersetzende, kapitalistische Wirtschaft, universalistisch gerichtete Zeitalter eine ständisch gebundene Wirtschaft hervor“ (Spann, 1935, S. 397), d. h. eine „vollkommene, gesunde und dem Wesen der Ganzheit gemäße Wirtschaft“ (ebd.).

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tert, dass keine nüchterne Realität es verdrängen kann. Die massenhafte ,Flucht‘ entwurzelter Menschen von ländlichen Gebieten in die überquellenden Städte, um überhaupt eine lebenserhaltene Arbeit in Fabriken zu finden, und die dortigen beengten Wohnverhältnisse sowie z. B. sexuelle Übergriffe von Hausherren an angestellten Dienstmägden, färbte das verbreitete Ansehen von Städten zu einem laster- und sündenhaften Babel, das man ehrlichen, christlichen und anständigen Menschen nicht zumuten dürfe. Friedrich Engels dichtete schon 1845 vorindustriellen Weberfamilien sogar ein beschauliches und auskömmliches Leben an, das sie niemals geführt haben können, da sie wegen natürlichen und gewerblichen Unwägbarkeiten in ständiger Angst lebten, ob nicht die nächste Hungeroder Seuchenkatastrophe ihr ohnehin karges Leben auslöschen oder zerstören würde. Ein deutscher Wirtschaftshistoriker hat geschildert, wie die existentielle Lage von Webern in der vorindustriellen Zeit tatsächlich aussah: „Ein von Sorgen gequältes, schlecht ernährtes Proletariat, am Webstuhl geboren, am Webstuhl sterbend, bleiche, tiefsinnige Gestalten“ (Strieder, 1935, S. 218), also alles andere als ein beschauliches und auskömmliches Leben. Die vielzitierte Passage aus Friedrich Engels’ zuerst 1845 erschienenen, polemischem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England über traditionelle Weberarbeiter soll hier ganz wiedergegeben werden, um an einem extremen Beispiel zu zeigen, das auf eine eindringliche Art verdeutlicht, wie kapitalistische Tätigkeiten von kommunistischen Autoren systematisch verfälscht und denunziert wurden: „Auf diese Weise vegetierten die Arbeiter in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landschaft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, doch kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer acht- oder zwölfstün-

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digen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.“ (Engels, 1970, S. 238). Ganz abgesehen davon, dass diese idyllische Beschreibung einer vorindustriellen Weberfamilie eine grob verzerrende Darstellung ist, werden von Engels in dieser antikapitalistischen Schrift die englischen Arbeitsbedingungen, vor allem in der Industriestadt Manchester, mit grauenerregender Übertreibung geschildert, die das kapitalistische System abwerten wollen. Auf diese Interpretation ist im 20. Jahrhundert, nicht nur von Marxisten, öfter zurückgegriffen worden, um den Kapitalismus bloßzustellen, doch sie ist ein konstruiertes Hirngespinst (vgl. Kiesewetter, 2017, S. 149 ff.). Solche romantischen Beschreibungen eines üblicherweise kurzen, von unvorstellbaren Strapazen und häufigen Krankheiten gezeichneten Lebens finden wir häufig in der antikapitalistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa bei Gustav Freytag oder Wilhelm Heinrich Riehl, denn die ,gute alte Zeit‘ wurde auch deshalb beschworen, weil man sich in der neuen Industriewelt, die so nüchtern und durchrationalisiert schien, nicht zurechtfinden wollte oder konnte. Sie erschien nicht nur fremd und abstoßend, sondern sie stülpte viele traditionelle Gewohnheiten um, an deren felsenfesten Bestand man sich jahrhundertelang in der feudalistischen Landwirtschaft gewöhnt hatte. Das Dämonenhafte von selbstarbeitenden Maschinen flößte Ängste ein, die eventuell durch eine baldige Rückkehr zu den agrarischen Wurzeln überwunden werden könnten, wo man einträchtig mit und in der Natur leben wollte, allerdings ohne realistische Verdienstmöglichkeit, was zumeist verschwiegen wird. Mit den technischen Errungenschaften des Industriekapitalismus wurden Menschen konfrontiert, die in einer beschaulichen, bäuerlichen Atmosphäre aufgewachsen waren und denen diese industriellen Neuerungen, ob Dampfmaschine oder Eisenbahn, Angst machten und eine lebensweltliche Krise auslösten. Krisen unterschiedlicher Art hat es zu allen Zeiten gegeben, doch sie können sich entsprechend der jeweiligen Lage erheblich in ihren tatsächlichen Auswirkungen unterscheiden und anders beurteilt werden, wie wir es gegenwärtig hautnah mit Querdenkern, Verschwörungstheoretikern oder Coronaleugnern erleben. Es wird bei aktuellen ökonomischen Krisenszenarien viel zu wenig berücksichtigt, dass verschiedene kapitalistische Staaten in den letzten eineinhalb Jahrhunderten kurz vor dem ökonomischen Bankrott standen, ohne dass das weltweite kapitalistische System zusammengebrochen wäre oder aufgelöst worden ist. Ökonomische Zyklen sind jedem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem inhärent, denn es liegt im ureigensten Interesse von Un-

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ternehmen, ständig mehr zu produzieren und zu verkaufen, weswegen es bei einer fehlenden Nachfrage, aus welchen Gründen auch immer, nach kürzerer oder längerer Zeit zu Absatzstockungen von produzierten Produkten und deshalb zu (Nachfrage-)Krisen kommt. Zyklentheoretiker des 20. Jahrhunderts unterscheiden Ab- und Aufschwungsperioden von wenigen Jahren bis zu mehreren Jahrzehnten (vgl. Spree, 1978, S. 32 ff.), die sich nach kürzerer oder längerer Zeit abwechseln. Unregelmäßige wirtschaftliche Auf- und Abschwünge sind in einer kapitalistischen Wirtschaft fast naturgegeben und sollten uns nicht zu stark als kapitalistische Krisensignale beunruhigen, doch in unserer sensationsverrückten Zeit werden regelmäßig ,Epochenumbrüche‘, ,Zeitenwenden‘ oder ,Endzeitszenarien‘ bemüht und ausgerufen, um die ökonomischen Veränderungen als besonders dramatisch und die angeblichen Lösungsvorschläge als lebensrettend oder futuristisch erscheinen zu lassen. Tatsächlich sind diese wiederkehrenden Krisenerscheinungen auf gravierende Wandlungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems zurückzuführen, die öfter aufgetreten sind und wohl auch weiter eintreten werden, ohne den Kapitalismus zu zerstören oder ihn zusammenbrechen zu lassen. Die Frage: Stirbt der Kapitalismus? (Wallerstein u. a., 2014) und seine emotionale Bejahung kann wohl eher als ein journalistischer Propagandacoup angesehen werden als eine seriöse Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in hochindustrialisierten Staaten, wo die meisten Menschen sehr lebendig und nicht lebensmüde sind.4 Darauf soll hier ebenso wenig eingegangen werden, wie auf die über ein halbes Jahrhundert zurückliegenden antikapitalistischen Tiraden einer studentischen ,Revolution‘ um 1968, weil es uns zu weit von unserem eigentlichen Thema wegführte, auch wenn der revolutionäre, antikapitalistische Impuls darin sehr stark war. Schon Max Scheler vermutete 1914 von protestierenden Jugendlichen: „Von parteilosen Minoritäten … ist für die wahre Überwindung des Kapitalismus als Kultursystem sehr viel mehr zu erwarten als von allen den Kämpfen, die innerhalb der Formierungen 4 Immanuel Wallerstein (1930 – 2019) verstärkt diese pessimistische und unrealistische Einschätzung der fehlenden Überlebenschancen des Kapitalismus noch, wenn er schreibt: „Capitalism is no longer viable not simply because it involves a great deal of oppression for the majority of the world’s population but because it no longer offers capitalists the opportunity to achieve their principal objective, the endless accumulation of capital. The game is no longer worth the candle – something that is becoming more evident to the capitalists themselves.“ (Wallerstein, 2016, S. 202).

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irgendwelcher politischen Parteien und Interessengruppen stattfinden“ (Scheler, 1955, S. 394), die vom kapitalistischen Ethos nichts bemerkten, weil sie wild aufeinander losschlügen. Wenigstens ein zersetzender und verletzender Ton des aufständischen Gebrülls der internationalen Studentenrevolte nach 1968, das auch von Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Herbert Marcuse angefeuert wurde, mag hier angestimmt werden, nämlich die des französischen Marxisten und Sozialphilosophen André Gorz (1923 – 2007), der mit Jean-Paul Satre zusammengearbeitet hat. Dieser schrieb im Jahr 1970 in einer weitgehenden Verdrehung marxistischer Reformunwilligkeit und -gegnerschaft: „Der moderne Kapitalismus ist monopolistisch organisiert, oder er hört auf zu existieren. Es gibt keine antimonopolistischen Reformen; es gibt nur antikapitalistische und auf eine Revolution hinauslaufende Reformen.“ (Gorz, 1970, S. 409).5 Hier wird unterstellt, der moderne Kapitalismus sei ein einziges Monopol, der durch einen unternehmerischen Wettbewerb und durch eine weltweite Konkurrenz sein über 200jähriges Existenzrecht verliert, während nur der revolutionäre Kommunismus eine durchgehende Reformbereitschaft gezeigt habe. Diese raffinierte Verdrehungsmethode ist historisch nicht singulär, denn auch Wladimir Putin und seine Minister verbreiten unentwegt offensichtliche Lügen über den Ukraine-Krieg, der angeblich eine harmlose ,Spezialoperation‘ sein soll, obwohl er das ganze Land zerstört und Tausende von unschuldigen Ukrainern tötet oder Millionen Menschen zur Auswanderung zwingt. Der ständigen Veränderungen ausgesetzte Kapitalismus wird von Gorz dargestellt als ein reformunfähiger Moloch, der abgewirtschaftet hat und deshalb verschwinden soll. Sancta simplicitas! Und sechs Jahre vor dem durch protestierende Bürger ausgelösten friedlichen Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik war in einem marxistisch-leninistischen Lehrbuch zu lesen: „Der Kapitalismus stirbt jedoch nicht von selbst ab, bricht nicht automatisch zusammen. Die Bourgeoisie gibt nicht freiwillig ihre Herrschaft auf. Der Kapitalismus kann nur im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Ver5

Linksromantische Idealisten im 21. Jahrhundert, die offenbar aus der kommunistischen Herrschaft wenig für eine demokratische Einstellung gelernt haben, sehen unsere Wirtschaft unter einem „Verwertungsdiktat“, das bekämpft werden müsse: „Würden wir diese Kämpfe führen und das kapitalistische System an den Rand seiner Möglichkeiten treiben, bliebe noch genug Zeit, sich über die Dialektik von Reform und Revolution zu verständigen.“ (Wetzel, 2012, S. 93).

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bündeten unter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei überwunden werden.“ (Politische Ökonomie, 1983, S. 296 f.).6

III. Utopische Vorstellungen von einem alternativen Wirtschaftssystem Kurz nach dem Ende kommunistischer Herrschaften in Osteuropa prognostizierte ein amerikanischer Ökonom, Francis Fukuyama (Fukuyama, 1992), dass uns eine weltweite kapitalistische Zukunft auf demokratischer Basis bevorstehe und das endgültige Aus antikapitalistischer Wirtschaftssysteme zu erwarten sei, eine weitverbreitete These, die eher sensationell als realistisch motiviert war.7 Was wir trotz der erstaunlichen Durchsetzungskraft und reformerischen Dynamik marktwirtschaftlicher Ökonomien weiterhin konstatieren können, ist ein breiter Strom von (akademischen) Kapitalismusgegnern, die diesem Wirtschaftssystem wenig Sympathie entgegenbringen und es manchmal sogar verteufeln, vielleicht, damit sie auch Christen auf ihre Seite ziehen können. Es sollen dazu lediglich einige Stimmen zitiert werden, die aus verschiedenen Gründen dem heutigen europäischen oder weltweiten Kapitalismus keine kurz- oder langfristige, reale Überlebenschance mehr einräumen oder ihn gleich beseitigen möchten, damit er angeblich keine gravierenden Schäden mehr anrichten kann. Eine inhaltliche Begründung sehen diese Autoren darin, dass kapitalistische Systeme entweder wegen ihrer Ressourcen verschleudernden Profitstrategie oder ihrer umweltzerstörenden Ausbeutermentalität nur noch wenige Chancen besitzen, längerfristig zu überleben oder sich umwandeln können. Vom oben bereits zitierten französischen Philosophen André Gorz wurde 2009 die merkwürdige Ansicht 6 In der Sowjetunion und der DDR wurde ununterbrochen die „historische Vergänglichkeit des Kapitalismus“ (Politische Ökonomie, 1982, S. 5) beschworen, der von dem weltweiten Sieg des Marxismus-Leninismus abgelöst würde, damit das universelle ,Reich der Freiheit‘ der Arbeiterklasse endlich ein unbeschwertes, nicht entfremdetes Leben ermögliche. 7 Hätte er Werner Sombart gelesen und beherzigt, dann wäre ihm diese demokratietheoretische Fehleinschätzung nicht unterlaufen: „Alle diejenigen irren, die für die Zukunft die Alleinherrschaft eines Wirtschaftssystems voraussagen. Das würde aller bisherigen Erfahrung, aber auch dem Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung widersprechen“ (Sombart, 1927. 2. Hbb., S. 1009. Hervorhebung im Original).

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veröffentlicht, dass wegen einer sich verringernden Zahl von kapitalproduktiven Erwerbstätigen nicht nur der finanzielle Profit reduziert wird, sondern seit „zwanzig Jahren schlittert der Kapitalismus in eine ausweglose Krise“ (Gorz, 2009, S. 79). Ein anderer Autor sieht im angeblich sozial gerechten Postkapitalismus mit einer allgemein nutzbaren Netzwerk- oder Informationstechnologie eine dauerhafte Überwindung des heutigen Neokapitalismus: „Es ist absurd: Wir zweifeln nicht daran, dass sich ein 40.000 Jahre altes System der geschlechtsabhängigen Unterdrückung auflöst, aber die Abschaffung eines 200 Jahre alten Wirtschaftssystems halten wir für eine realitätsferne Utopie.“ (Mason, 2016, S. 369). Wir möchten den Autor fragen: Wer soll dieses bewährte System abschaffen, wo eine Marxsche proletarische Revolution höchstens noch auf dem Mars oder der Venus stattfinden kann, wenn es sich nicht selbst im eigenen Gift ertränkt oder mit einer kapitalistischen Ladung Dynamit in die Luft sprengt? Solche realitätsfremden, jedoch gewalttätigen Utopien werden unentwegt von scheinbar realitätsbewussten Kapitalismusgegnern verbreitet, wenn etwa in kommunistischem Optimismus behauptet wird, die zukünftige Entwicklung würde zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Wirtschaftsformen hin- und herschwanken, denn: „Letztlich ist das Ende des Kapitalismus ein Anlass zur Hoffnung.“ (Ein Weckruf, 2014, S. 239). ,Hoffnungslose‘ Menschen wie ich können trotzdem zuversichtlich bleiben, dass die Industrieproduktion auch für arbeitende Menschen materielle Wohlstandsgewinne ermöglicht, denn der Kapitalismus besitzt eine außergewöhnliche Anpassungsbereitschaft, weshalb sein plötzliches Ende nicht befürchtet werden muss oder in absehbarer Zeit eintreten wird, selbst wenn es ununterbrochen propagiert werden sollte. Es ist, ganz im Gegenteil, die unveränderte Stärke kapitalistischer Gesellschaften, dass sie sich ständig verändern, weswegen es überflüssig und unrealistisch ist, anzunehmen: „Die Fortsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, endet im Desaster … Ein Regime erneuerbarer Ressourcen mit den dazu passenden sozialen Formen und einer solidarisch gestalteten Ökonomie ist das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen.“ (Altvater, 2006, S. 21). Wir haben bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Kapitalismen kennengelernt und wir werden neue kennenlernen, wenn wir in die (unbestimmte) Zukunft schauen, die unser Sonnensystem uns noch gestattet (fünf Millionen Jahre?), wie Astronomen oder Physiker glauben. Selbst ein vorsichtiger Vergleich mit der langen Zeitspanne seit

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der Epoche des europäischen Feudalismus von etwa 500 bis 1500 n. Chr. bis heute, dass der Kapitalismus „noch fünfhundert Jahre vor sich“ (Fülberth, 2015, S. 326) hat, ist mit einer so großen Unsicherheit behaftet, dass wir in einer wissenschaftlichen Analyse auf solche unseriösen Vergleiche verzichten sollten. Schon vor über hundert Jahren wurde aufgrund anhaltender und öfter wiederkehrender ökonomischer Krisen die antikapitalistische Auffassung vertreten: „Ein Industriefeudalismus ist also rein ökonomisch nicht nur möglich, sondern als Resultat der sich selbst überlassenen wirtschaftlichen Entwicklung sogar wahrscheinlich“ (Jaffé, 1915, S. 25), doch wie sollte er sich vom agrarischen Feudalismus unterscheiden? Gemeint war mit dieser feudalistischen Analogie wohl, dass eine rücksichtslose Clique von kapitalistischen ,Feudalherren‘, die durch wenig staatliche Eingriffe entstandene Industrie in die eigenen Hände nehmen könnte und ihr ihre wirtschaftlichen Vorstellungen unnachgiebig aufzwingen würde, weil niemand energisch dagegen vorgeht. Industriemanager könnten den politischen Apparat beherrschen und steuern, ähnlich wie feudalistische Grundherren seit dem Mittelalter eine politische Macht ausgeübt haben, um ihre bäuerlichen Arbeitskräfte in Schach zu halten und zu unterdrücken. Abgesehen von diesen historischen Vergleichen – diese vorsichtige, prognostische Annahme scheint eine unbezweifelbare Erkenntnis der letzten 250 Jahre zu sein – wird das kapitalistische Gesicht in einem halben Jahrtausend kaum noch einem heutigen ähneln, wenn wir es überhaupt noch erkennen können. Den verschiedenen Alternativkonstruktionen gegenüber dem heutigen Kapitalismus kann man die realistische Ansicht des englischen Soziologen James Fulcher entgegenhalten: „Die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus ist in einer Welt, in der der Kapitalismus vollkommen dominant geworden und keine endgültige Krise in Sicht oder, abgesehen von irgendeiner Umweltkatastrophe, auch nur wirklich vorstellbar ist, verlorene Mühe.“ (Fulcher, 2011, S. 197. Hervorhebung im Original). Heutige außereuropäische Industriestaaten, ob Südkorea, Taiwan oder China, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der wissenschaftlichen Grundlage neuer Technologien oder computergesteuerter Produktionsmethoden entwickelt haben und mit billigen Massenprodukten in den Weltmarkt eingedrungen sind sowie große Gewinne erwirtschaftet haben, weisen kaum noch eine ökonomische Ähnlichkeit mit denen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und unterscheiden

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sich selbst von heutigen europäischen Dienstleistungsgesellschaften auf erhebliche Weise. Bei einem internationalen Staatenvergleich muss jedoch außerdem beachtet werden: Allein die Größe des Binnen- oder Inlandsmarktes spielt bei einer zunehmenden Kaufkraft einer Bevölkerung, die auf über einer Milliarde Menschen angewachsen ist, wie in Indien oder China, eine entscheidende Rolle bei der kapitalistischen Durchdringung eines solchen Staates, was wir seit einiger Zeit besonders in der chinesischen Ökonomie erleben und analysieren können. Ob das wirtschaftlich so erfolgreiche, jedoch totalitäre Herrschaftssystem China theoretische Pessimisten hoffnungsvoller stimmen kann, entzieht sich meiner Kenntnis, doch auch das kapitalistische China wird von wirtschaftlichen Krisen nicht verschont bleiben, wenn die dynamischen Wachstumskräfte wegen fehlender Absatzmöglichkeiten einmal erlahmen und nicht durch massive Staatsinvestitionen ersetzt werden können. Wenn Demokratie und Kapitalismus als die modernste Form von politischer und ökonomischer Entwicklung angesehen werden, dann widerlegt China die folgende Aussage: „Den modernen Kapitalismus kann es nur in einem modernen Staat geben.“ (Herrmann, 2015, S. 86). Die realistischen Hoffnungen auf ein wachstumsgenerierendes Weiterbestehen unserer postindustriellen Ökonomien scheinen bei vielen sozialistischen Autoren, die ein ökonomisches Nirwana beschwören, nicht mehr sehr ausgeprägt zu sein, denn schon lange habe der Kapitalismus abgewirtschaftet und sein zweifelhaftes Existenzrecht verloren. Eine solche Ansicht ist zumindest erstaunlich, hat doch der europäische und amerikanische Kapitalismus seit 250 Jahren alle Höhen und Tiefen erklommen und durchgestanden, ohne zusammengebrochen zu sein, selbst bei existenzbedrohenden Krisen. Um nur eine solche negative Aussage hier anzuführen: „Konnte der Kapitalismus bisher sein Überleben dadurch garantieren, dass er seine Krisentendenzen immer wieder zu externalisieren, abzuschieben und hinauszuschieben verstand (etwa auf die Länder der Dritten Welt), so steht er nun vor einer Grenze, die ihm keinen Ausweg mehr zulässt“ (Kern, 2015, S. 397). Dagegen kann die realistische Auffassung angeführt werden: Die multinationalen Unternehmen setzen viel investives Kapital ein und versuchen unter großen Anstrengungen, diese pessimistische Auffassung zu widerlegen, indem sie international neue Märkte erschließen und wirtschaftliche Konkurrenten mit einer rigorosen Preispolitik zu verdrängen versuchen. Was würde geschehen, können wir fragen, wenn heute unbekannte Wege aus dem ,Ausweg‘ bzw. dem

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Holzweg – der nach Martin Heidegger ja ein Weg der Erkenntnis sein soll – gefunden werden? Werden dann die Externalisierungstendenzen oder der Abschiebungszwang auf außerweltliche Territorien, vielleicht auf ferne Galaxien verlegt, weil der Kapitalismus sich immer etwas Neues einfallen lässt, um seine Profite aufrechterhalten zu können und sie nicht mit einer ,ausgebeuteten‘ Arbeiterschaft teilen zu müssen?8 Die wachsende Phalanx der energischen Befürworter eines alternativen Wirtschaftssystems, in dem berufliche Zwänge und ein wohlstandsvermindernder Arbeitsstress nicht mehr existieren oder auf ein geringes Maß reduziert werden, versucht sich nach gleichen kommunistischen Annahmen, die inzwischen vergessen worden sind, in verschiedenen politischen Lagern Gehör zu verschaffen. So glaubt man z. B. nicht mehr daran, dass die politischen und ökonomischen Interessengruppen eine gemeinsame Strategie entwickeln können, um den gesellschaftlichen Wohlstand selbst in hochindustrialisierten Staaten zu vergrößern oder einen zufriedenstellenden Lebensstandard in wenig entwickelten Gesellschaften zu erreichen. Die unterschiedlichen kapitalistischen Wirtschaftssysteme werden zu einem einheitlichen Brei wirtschaftlicher Zerstörung verrührt: „Kapitalismus ist das häßliche Gesicht einer Marktwirtschaft, die das Interesse einzelner über das der Gesellschaft stellt.“ (Jenner, 1999, S. 17). Die frühere Frontfrau der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, ist sogar von der Errichtung oder dem Aufbau eines möglichst alternativen Kapitalismus überzeugt: „Der Kapitalismus ist nicht ohne Alternative. Im Gegenteil: Wenn wir in einer freien, demokratischen, innovativen, wohlhabenden und gerechten Gesellschaft leben wollen, müssen wir den kapitalistischen Wirtschaftsfeudalismus überwinden.“ (Wagenknecht, 2016, S. 287). Die Grünen-Bewegung Fridays for Future möchte die internationale Politik dazu verpflichten, alle finanziellen Kräfte für den Klimawandel einzusetzen, ohne zu bedenken und dagegen zu demonstrieren, dass millionenfacher Hunger und wirtschaftliche Unterentwicklung viel bedrohlichere Gefahren für unser langfristiges Überleben darstellen als die weltweite Begrenzung des Temperaturanstiegs auf zwei Grad. Nun hat sich der marxistische Kommunismus als eine erfolgreiche Alternative zum Kapi8 Eine realistische Betrachtungsweise über den längerfristigen Fortbestand unserer kapitalistischen Systeme könnte eher der vorsichtigen Annahme zustimmen: „Ein Ausstieg aus dem hyperkommerzialisierten Kapitalismus ist möglich, aber wir können sicher sein, dass er die Ausnahme bleiben wird.“ (Milanovic´, 2021, S. 262).

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talismus zu präsentieren versucht, doch seit seinem ökonomischen Kollaps wollen ihn selbst ehemalige DDR-Bürger verleugnen oder den sich auf das vielgerühmte Gedankengebäude von Karl Marx und Friedrich Engels gestützten sowjetischen Totalitarismus als eine „völlig dogmatische Interpretation durch die Parteiideologen“ (Wippermann, 2008, S. 104) hinstellen oder umdeuten. Der merkantilistische Feudalismus, wie wir ihn im Kapitel C. beschrieben haben, ist durch den Industriekapitalismus erfolgreich überwunden worden, der vielen europäischen Nationen sowie ihren Bürgern einen ungeahnten Wohlstand beschert hat, auf den die meisten Menschen trotz krisenhaften Erscheinungen selbst für ein versprochenes kommunistisches Paradies nicht verzichten wollen oder austauschen möchten, denn die dunklen Schatten des Sowjetkommunismus sind noch nicht beseitigt oder verblasst. Die aktuelle Klimakrise oder gar Umweltzerstörung betrifft nicht mehr kapitalistische Staaten allein, auch wenn sie die unbezweifelbaren Hauptverursacher der schädlichen Treibhausgase sind, sondern unseren ganzen Globus, gleichgültig, ob in industrialisierten oder nicht industrialisierten Staaten, d. h. einzelne Staaten können das Klimaproblem selbst durch größte CO2-Einsparungen nicht lösen, weshalb eine internationale Zusammenarbeit unerlässlich ist. Die pessimistische Auffassung, dass sich die kapitalistischen Produktions- und Konsumgewohnheiten „auch in ihrer ökologisch modernisierten Variante nur auf Kosten von immer mehr Gewalt, ökologischer Zerstörung und menschlichem Leid aufrechterhalten lassen“ (Brand/Wissen, 2017, S. 16), brauchen wir aus wirtschaftshistorischer Sicht nicht zu teilen und deswegen keine „Alternativen zum autoritären und stets zerstörerischen Kapitalismus“ (ebd., S. 171) zu suchen. In den letzten zwei Jahrhunderten sind so viele realistische Bedrohungen wie Hunger, Armut, kurze Lebenserwartung, keine bezahlten Ferien oder geringes Einkommen etc. zumindest in den kapitalistischen Staaten überwunden worden, dass wir auf die vorhandenen Problemlösungskapazitäten dieses Wirtschaftssystems durchaus vertrauen können, wenn wir sie nicht politisch abwürgen oder erwürgen.9 9

Eine akute Gefahr für den dauerhaften Erhalt eines progressiven Kapitalismus scheint mir der ständig anwachsende Staats-Interventionismus in demokratischen Staaten zu sein, weil die Politik wegen des hohen Bruttosozialprodukts über ungeheuer viel Steuer-Kapital verfügen kann und sich eine ökonomische Lösungsfähigkeit anmaßt, die sie zu keiner Zeit besessen hat, um kapitalistische Krisen überwinden oder lösen zu können. Diese fehlende Zurückhaltung – man könnte

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Die existenzbedrohenden Probleme können allerdings nur gemeinsam durch eine globale Anstrengung bewältigt werden, wobei die reichen Staaten nicht nur eine größere Verantwortung tragen, sondern auch mit kapitalintensiven, klimafreundlichen Maßnahmen voranschreiten sollten.

auch sagen: Bescheidenheit – bei der Lösung ökonomischer Probleme führt dann bei Kapitalismusgegnern zum pauschalen Vorwurf der umweltzerstörenden Ausbeutung von Natur und Mensch im globalen Kapitalismus: „Die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer biophysischen Grundlagen kann über den kapitalistischen Wachstumsimperativ immer weniger gesichert werden.“ (Brand/Wissen, 2017, S. 16).

H. „Prosperity! Fortschritt! ohne Ende, ohne Ende!“ I. Hat der Fortschrittsoptimismus abgewirtschaftet? Ein technologischer Fortschrittsoptimismus war dem Industriekapitalismus eingepflanzt, ehe Kulturpessimisten auf kontraproduktive Entwicklungen aufmerksam machten, die sich im kapitalistischen Zeitalter verstärkten und heute weltweit akut sind, nicht nur in der Klima- oder Umweltkrise. Dieses bedrohliche Szenario des in der Kapitelüberschrift angeführten Zitates, eingekleidet in harmlose Wörter, entwarf Werner Sombart im Jahr 1937, d. h. im totalitären Dritten Reich, weil er befürchtete, dass die weltwirtschaftlichen Beziehungen nach dem 150jährigen Zeitalter des industriellen Hochkapitalismus aus dem Ruder liefen und der ökonomische Turmbau nur noch ein anmaßendes Ziel kennte: „Immer mehr Motoren, mehr Verkehrsmittel, mehr Güter! Immer rascher produzieren, immer rascher fahren, immer rascher genießen!“ (Sombart, 1937, S. 12).1 Nicht der ökonomischen Überwindung der Weltwirtschaftskrise galten seine ethischen Bedenken, sondern der (amerikanische) Konsumrausch ließ ihn erschaudern und zum antikapitalistischen Technikfeind werden, der das völkische Dritte Reich mit seinem bäuerlichen 1 Diese höchst moderne Form von antikapitalistischem Kulturpessimismus, die durch einen wiederbelebten transzendentalen Glauben ein naturverbundenes Leben wiederzugewinnen hofft, muss selbstverständlich technologische Errungenschaften ablehnen: „Dieses neue Geschlecht lebt ein künstliches Leben, das nicht mehr das unwürdige Dasein ist, sondern ein verwickeltes Gemisch von Schulunterricht, Taschenuhren, Zeitungen, Regenschirmen, Büchern, Kanalisation, Politik und elektrischem Licht.“ (Sombart, 1937, S. 36). Was würde Sombart heute wohl zu Computern oder dem Internet sagen, durch die „die uralten seelisch-gemütlichen Bande zwischen Mensch und Natur“ (ebd.) zerrissen und die direkten menschlichen Beziehungen zerstört sind? Schon der französische Schwiegersohn von Karl Marx, Gründer der Parti ouvrier français, Paul Lafargue (1842 – 1911), hatte ein halbes Jahrhundert vor Sombart geschrieben: „Der Gott Fortschritt führt demnach die Völker der kapitalistischen Zivilisation zur physischen und moralischen Entartung.“ (Lafargue, 1886, S. 8).

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Mythos attraktiv und menschenwürdig fand. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat in den ,Wirtschaftswunderstaaten‘ diese USMassenproduktion sowie dieser -konsum und -kaufkraft ungeahnte Höhen erklommen und nicht nur umweltbezogene Ängste ausgelöst, sondern kapitalistische Strategien abgewertet und verunglimpft, auch weil die amerikanische Politik sich wenig vorbildhaft entwickelt hat. Es mag deshalb viele Menschen in unseren wohlstandsgesättigten Dienstleistungsgesellschaften geben, die den heutigen, globalen Kapitalismus ablehnen und sich ein gerechteres oder sozialeres System wünschen, das die bedenkliche Umweltzerstörung aufhält oder beseitigt und den verbreiteten Hunger sowie die unvorstellbare Armut in weniger entwickelten Regionen der Welt bekämpft. Viele privatfinanzierte Hilfsorganisationen haben es sich zur bewundernswerten Aufgabe gemacht, das menschliche Leid zu mildern und die unzumutbare Armut zu bekämpfen, doch eine wirksame Reduzierung des millionenfachen Elends kann m. E. nur durch eine internationale Solidarität von hochindustrialisierten Staaten erreicht werden, die das benötigte Kapital bereitstellen müssten.2 Was wir aus einem wirtschaftshistorischen Rückblick auf die europäische Geschichte seit der Antike entnehmen können, ist die unbestreitbare Tatsache, dass es einen unverwechselbaren, gleichartigen oder einheitlichen Kapitalismus in mehreren europäischen Staaten nicht gegeben hat und er auch zukünftig nicht entstehen oder aufgebaut werden kann. In den vergangenen Jahrhunderten sind unterschiedliche kapitalistische Wirtschaftssysteme aufeinander gefolgt, deren ökonomische und 2

Wenn der französische Präsident Emmanuel Macron auf einer kürzlich abgehaltenen Hilfskonferenz in Paris im Mai 2021 den anwesenden Oberhäuptern von etwa 30 afrikanischen Staaten 100 Mrd. Dollar zusichert, die durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) zur kurzfristigen Bekämpfung der gravierenden Folgen der Corona-Pandemie und zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in Afrika aufgebracht werden sollen, dann ist diese angekündigte Zusage zwar eine noble Geste, doch sie rechtfertigt keineswegs die großen Worte der IWF-Chefin Kristalina Georgiewa: „Wachstum und Stabilität in Afrika bedeuten Wohlstand und Stabilität in Europa“. Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main hat in den letzten Jahren seit 2015 einige Billionen Euro an Anleihekäufen zur angeblichen Ankurbelung der Konjunktur von wirtschaftlich schwachen europäischen Staaten bewilligt und die Europäische Union will mehr als das Siebenfache der Afrikahilfe an rückzahlbaren und nicht rückzahlbaren Krediten für diese Staaten bereitstellen. Unter diesen Umständen von einer wirkungsvollen Hilfe für afrikanische Staaten zu sprechen, erscheint eher eine mitleidserregende Augenwischerei als ein wachstumsgenerierendes Programm zu sein.

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wachstumsfördernde Potenz erheblich differierte, d. h. den Kapitalismus gab und gibt es nicht; kann es nicht geben. Eine positive oder negative Mitgift heutiger auf zukünftige Generationen ist nur bedingt möglich, weswegen ich Waldemar Mitscherlich zustimmen kann: „Die Zukunft des Kapitalismus ist also auf eine Vererbung dieser Eigenschaften innerhalb bestimmter Familien nicht angewiesen.“ (Mitscherlich, 1924, S. 46), denn sie werden und müssen sich verändern, wenn weiterhin kapitalistische Erfolge erreicht werden sollen. Ob sich die derzeitigen Formen oder dienstleistungsstarken Variablen des Kapitalismus in den führenden Industriestaaten auf längere Sicht halten und stabilisieren können, etwa ein Jahrhundert lang, oder sich in eine Robotergesellschaft umbilden bzw. überwunden oder gar verstümmelt werden, hängt m. E. ganz wesentlich vom demokratischen Willen ökonomischer, wie politischer Akteure ab, ob sie zu echten Reformen und zu einem massiven Abbau von Privilegien bereit sind. Es ist eine drängende Aufgabe von internationaler Politik und globalen Großunternehmen, die wachsenden Diskrepanzen zwischen reichen und armen Bevölkerungsschichten zu reduzieren und den ehemaligen Entwicklungsländern reelle Chancen für eine gewerblich-industrielle Entwicklung zu ermöglichen.3 Gebannt verfolgen viele Menschen, vor allem in hochindustrialisierten Staaten, bemannte oder unbemannte Weltraumflüge oder Landungen von russischen oder amerikanischen Astronauten auf dem Mond oder auf dem Mars und würden wohl der positiven Aussage zustimmen, ohne „technischen Fortschritt ist der Kapitalismus am Ende“ (Herrmann, 2015, S. 83) und wir müssten ohne ihn unsere politischen Weisheiten einpacken oder verschrotten.4 Doch ganz so einfach waren und sind die ökonomi3 Offenbar erkennen Politiker in kapitalistischen Staaten zu wenig die außerordentliche Gefahr für einen längerfristigen Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften, wenn die finanzielle Kluft zwischen Superreichen und gewöhnlichen Arbeitnehmern sich ständig vergrößert. Vgl. zur aktuellen Entwicklung Christiane Oelrich: Der Club der Millionäre wächst und wächst, in: Donaukurier, Nr. 172. Mittwoch, den 28. Juli 2021, S. 3. 4 Wenn der technische Fortschritt die Produktivität steigert, was in kapitalistischen Staaten seit über 200 Jahren beobachtet werden kann, doch niemals ein Gleichgewicht zwischen Löhnen und Gewinnen hergestellt hat, wie können wir dann die positive wie negative Aussage verstehen: „Die technische Entwicklung ist die Triebkraft des Kapitalismus – und gleichzeitig seine größte inhärente Bedrohung“ (Herrmann, 2015, S. 63)? So hoch wir die technischen Errungenschaften auch schätzen, die kapitalistischen Triebkräfte sind erheblich zahlreicher als lediglich eine moderne Technologie.

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schen Verhältnisse nicht, schon gar nicht in unterschiedlichen Staaten, wie sie uns eine flott geschriebene Journalistik präsentiert, dass der Kapitalismus bei ausbleibendem technischen Fortschritt zusammenbrechen müsste, obwohl Technikfeinde ein solches Szenario wünschen könnten. Wirtschaftswissenschaftler wie Unternehmer werden quasi von einer weltweiten Konkurrenz gezwungen, ihre Theorien wie Strategien den veränderten Verhältnissen anzupassen, wenn sie sich auf der ,Höhe der Zeit‘ bewegen oder befinden wollen. Wie die ökonomische Theorie vom Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nicht allen wirtschaftlichen Tatsachen entspricht und deshalb korrigiert werden musste, so ist auch technischer Fortschritt eine uneindeutige Komponente, um über das definitive Überleben eines Wirtschaftssystems zu entscheiden oder es grundlegend zu verändern. Nehmen wir einmal hypothetisch an, die USA, China oder die EU würden Billionen von Dollar oder Euro in die technische Entwicklung von Weltraumsateliten stecken, um endlich anderes, menschliches Leben in unserem unendlichen Weltraum zu entdecken oder darauf zu stoßen, was würde unser kapitalistisches System dadurch gewinnen. Der amerikanische Unternehmer und Tesla-Gründer Elon Reeve Musk will mit seinem Raumfahrtunternehmen SpaceX zukünftig sogar Privatleuten Weltraumflüge ermöglichen – was im März 2022 bereits begonnen wurde –, etwa auf den Mars, für unter 500.000 US-Dollar pro Person! Bestünde darin ein erstrebter technischer oder kapitalistischer Fortschritt, der uns glücklicher oder zufriedener machen könnte? Gemessen an oder verglichen mit den konkreten Problemen, wie z. B. unzureichende Ernährung, geringer Lebensstandard oder akute Gesundheitsgefahren, von Abermillionen von Menschen auf unserem Globus, wäre es m. E. sinnvoller für einen global zu entwickelnden Kapitalismus, dieses benötigte Kapital nicht in unnötige technische Entwicklungen zu investieren oder für technologische Abenteuer in den Weltraum zu jagen, sondern als Entwicklungshilfe ärmeren Staaten zur Verfügung zu stellen, damit sich diese aus dem Teufelskreis von Armut und gewerblicher Unterentwicklung herausarbeiten können. Allerdings könnte durch eine massive Aufstockung der Entwicklungshilfen keineswegs eine öffentliche Aufmerksamkeit entfacht werden, wie sie durch spektakuläre Weltraumflüge einer sensationsverwöhnten Zuschauerschaft präsentiert und schmackhaft gemacht werden. Es kann eigentlich nicht zweifelhaft sein, dass ein längerfristiges Verharren von wenig entwickelten Staaten auf ihrem niedrigen Lebensstandard weltweite Probleme auslösen wird, die

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kaum mit gegenwärtigen Rezepten noch bewältigt werden können, weil dann Millionen von Menschen in wohlhabende Staaten flüchten wollen. Eine veränderte Einstellung gegenüber etwa einer Milliarde Notleidenden auf unserem Globus würde auch viel stärker einer christlichen Ethik entsprechen, den Armen aus ihrem unverschuldeten Elend herauszuhelfen, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Darin besteht eine ethische Pflicht reicher Staaten, unabhängig davon, welcher politischen oder ökonomischen Richtung sie zuneigen, ganz abgesehen von der kolonialen Schuld, die Kolonialmächte gegenüber kolonialisierten Völkern auf sich geladen haben. Die vergangenen Jahrzehnte seit der Entkolonialisierung in den 1950er Jahren haben gezeigt, dass solche gering industrialisierten Staaten überhaupt keine realistischen Chancen hatten, aus dem Teufelskreis der ökonomischen Unterentwicklung herauszukommen, weil ihnen das nötige Investitionskapital fehlte, um zuerst ihre Landwirtschaft zu modernisieren. Einige dieser Staaten und ihre führenden Politiker haben durch Korruption, Vetternwirtschaft, Stammes- und Bürgerkriege selbst dazu beigetragen, dass eine wirtschaftliche Dynamik nicht entstehen konnte, doch ihnen sollte eine Entwicklungshilfe entzogen werden, wenn sie nicht bereit sind, menschenwürdige Zustände zu etablieren und durchzusetzen. Wenn z. B. die Landwirtschaft nicht genügend Erträge aufweist, um Menschen für gewerbliche Tätigkeiten freizustellen, werden diese Staaten für lange Zeit auf einem niedrigen Wohlstandsniveau verharren und auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sein. Der Schweizer Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch (1903 – 1999) hat in verschiedenen Veröffentlichungen (etwa Bairoch, 1992) die begründete These aufgestellt, dass zuerst die Landwirtschaft modernisiert werden muss, ehe gewerbliche Aktivitäten erfolgreich durchgeführt werden können. Mit diesem Beispiel möchte ich lediglich andeuten, dass international eine politisch und ökonomisch rationale Entscheidung darüber getroffen werden sollte, welchen technischen Fortschritt wir bevorzugen und subventionieren sollten, um unsere Welt lebenswerter zu machen und die unglaublichen Wohlstandsunterschiede zwischen reichen und armen Nationen zu verringern. Es soll keineswegs bezweifelt werden, dass wir erhebliche technische Fortschritte benötigen, um unser kapitalistisches Wohlstandsniveau aufrechtzuerhalten und dadurch in die komfortable Lage versetzt werden, weniger entwickelten Staaten mit großen Kapitalspritzen aushelfen zu können.

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II. Der globale Kapitalismus und seine Gefahren Einen weltweiten, d. h. globalen Kapitalismus zu errichten oder zu behaupten, dass er bereits existierte, erscheint mir als eine übertriebene und unrealistische Auffassung oder unerfüllbare Forderung, denn viele Staaten, etwa in Afrika, sind noch weit von einem effektiven und international konkurrenzfähigen Wirtschaftssystem entfernt. Korrupte Regierungen oder militärisch bewaffnete Warlords verhindern in vielen afrikanischen Staaten einen ungestörten Aufbau einer produktiven Wirtschaft und eine parlamentarisch-demokratische Gesellschaft wird von vielen Politikern dort abgelehnt oder unterlaufen, weil sie sich eher selbst bereichern wollen. Die vielbeschworene Eine Welt ist eine wohlklingende Chimäre, die gravierende Unterschiede zugunsten einer unrealistischen Illusion zudeckt, um nicht vorhandene Gemeinsamkeiten oder einheitliche Problemkonstellationen vorzutäuschen, auch wenn ein internationales Internet nicht vorhandene Gemeinsamkeiten zu überspielen scheint. Vor über hundert Jahren konnte man noch die europazentrische Ansicht vertreten, ohne angegriffen zu werden: „Die Wirtschaft eines Negervolkes kann ebensowenig in die Weltwirtschaft hinein, wie ein moderner europäischer Industriestaat aus ihr heraus kann“ (Tyszka, 1916, S. 2), doch die energischen Bemühungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, internationale Handelsbeziehungen auch mit weniger entwickelten Staaten aufzubauen, haben die wirtschaftliche Aufmerksamkeit für unterentwickelte Länder verstärkt, die allerdings noch weit von Wohlstandsgesellschaften entfernt sind. Wenn allerdings behauptet wird, dass noch im 21. Jahrhundert eine weltweite Menschheitsgesellschaft entstehen könnte, deren Wohlstandsniveau annähernd gleich ist oder materiell angeglichen werden kann, dann muss man wohl nachfragen, wie dieses einheitliche Wohlstandsniveau und mit welchen Mitteln erreicht werden kann oder soll. Es ist bereits vor über 100 Jahren behauptet worden, „daß die Volkswirtschaften arteigene Unterganzheiten der Weltwirtschaft sind“ (Spann, 1930, S. 125. Hervorhebung im Original), doch dadurch entzieht man, vielleicht unbewusst, den Nationalstaaten ihre politische und ökonomische Eigenständigkeit, die nötig ist, um eine den Verhältnissen angepasste Entwicklung einzuleiten und dauerhaft fortsetzen zu können. Eine überstaatliche Einheit ansteuernde Europäische Union möchte zwar diese nationalistischen Tendenzen überwinden, doch kann dieses Bestreben

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keineswegs krisenfrei durchgeführt werden, weil eine einheitliche politische Meinung unter den Mitgliedsstaaten nicht vorhanden ist und auch kaum erzwungen werden kann. Die weltweiten politischen, ökonomischen, sozialen, geographischen, klimatischen oder mentalen Differenzen zwischen unterschiedlichen Staatengruppen sind so erheblich, dass ich eher befürchte, dass Nord und Süd noch weiter wirtschaftlich auseinanderdriften und die ökonomische Wohlstandsschere sich gerade in den am wenigsten entwickelten Staaten vergrößert und auch langfristig, d. h. etwa einem halben Jahrhundert, nicht geschlossen werden kann. Die finanziellen Entwicklungshilfen der hochindustrialisierten Staaten befinden sich seit Jahrzehnten auf einem derart niedrigen Niveau, etwa verglichen mit den ungeheuren Summen für Militär- und Rüstungsausgaben – die NATO hat 2021 insgesamt 1180 Milliarden US-Dollar für Rüstungsgüter ausgegeben und will den Anschaffungsetat weiter aufstocken –, dass sie nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein der weitverbreiteten Armut angesehen werden können. Die festungsartige Abschottung der Europäischen Union und ihrer Vorläufer durch Zollbarrieren gegen Agrarimporte von industriell wenig entwickelten Schwellenländern, vor allem in Afrika, ist so massiv (gewesen), selbst wenn sie in den vergangenen Jahren etwas abgebaut worden ist, dass sie eine agrarbasierte gewerbliche Entwicklung weitgehend verhindern. Wir sollten uns der erheblichen Unterschiede bewusst bleiben: Die europäischen Staaten verfügten nämlich etwa vom 14. bis zum 19. Jahrhundert über derart positive klimatische, ökonomische, geographische, berufliche oder technische Faktoren, dass im 19. und 20. Jahrhundert nur wenige Staaten auf unserem Globus mit einer veränderten Faktorenkombination die europäische Wachstumsdynamik nachahmen konnten (vgl. Kiesewetter, 2006). Der in krisenhaften Perioden weitverbreitete Glaube, dass ein planerischer Staat „als allmächtiger Hort sozialer Sittlichkeit und Rechtsgestaltung“ (Jostock, 1928, S. 227) die materiellen Unzulänglichkeiten und unternehmerischen Auswüchse vermeiden oder überwinden könnte, ist nicht nur durch das dramatische Scheitern europäischer kommunistischer Staaten erschüttert worden, sondern als ökonomisches Programm eine freiheitsvermindernde Strategie. Der Industriegigant China demonstriert aller Welt, dass ein totalitär-zentralistisches System ein rasantes Wirtschaftswachstum erzeugen kann, wenn kapitalistische Produktionsmethoden zugelassen werden, selbst wenn jeder politische Widerstand, ob in Hongkong oder bei den Uiguren, ri-

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goros unterdrückt und ausgeschaltet bzw. das unabhängige Taiwan bedroht wird. Es bleibt nur zu hoffen und zu wünschen, dass industriell aufstrebende Staaten nicht bereit sind, dieses politische System zu kopieren, um zu mehr materiellen oder industriellen Wohlstand zu gelangen, weil China ihnen Investitionshilfen verspricht oder gewährt. Der kapitalistische Westen hätte wirkungsvolle Mittel, gegen diesen Systemtransfer vorzugehen, wenn er bereit wäre, größere Investitionskapitalien den wenig entwickelten Staaten zinsgünstig oder nicht rückzahlbar zur freien Verfügung zu stellen. Schönklingende Konferenzreden und emotionale Appelle waren und sind kein vollwertiger Ersatz für konkrete Strategien und politische Maßnahmen, auf welche Weise die gravierenden Wohlstandsunterschiede beseitigt und wirtschaftliche Initiativen angeregt werden können, damit Kriege vermieden und die lebensbedrohende Not nicht vergrößert wird. Selbst die mythische Einheitsidee des Symbolisten Stefan George (1868 – 1933), dass der europäische oder internationale Kapitalismus wegen seiner eigenen Hässlichkeit oder wegen einer industriellen Übersättigung, dem „Über-Industrialismus“ (ebd., S. 144), zugrunde gehen müsse, kann seine längerfristige Stabilität nicht beeinträchtigen. Der historische Kapitalismus hat sehr unterschiedliche Interpretationsvarianten hervorgerufen, die teilweise auf seine jeweiligen Ausprägungen zurückgeführt werden können, doch mit der empirischen Realität sind sie oft nicht vereinbar, weil eine ideologische Neigung besteht, zu viel hineinzuinterpretieren, was ,Kapitalismus‘ eigentlich gewesen ist oder sein soll. Ob wir heute noch die nach dem Ersten Weltkrieg geäußerte Ansicht Ludwig von Mises (1881 – 1973) teilen können, der moderne Kapitalismus sei „die einzig denkbare und mögliche Gestalt arbeitteilender gesellschaftlicher Wirtschaft“ (Mises, 1981, S. 197), ist nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch wegen den derzeitigen amerikanischen und chinesischen Rivalitäten sowie dem Ukraine-Krieg mit seinen irrationalen, russischen Verweigerungshaltungen, die militärischen Bombardierungen zu beenden, ziemlich fraglich. Wenn unterentwickelte Staaten oder Schwellenländer zukünftig einen kapitalistischen Aufholprozess beginnen oder durchführen wollen, dann können sie keineswegs die Faktoren übernehmen, die im 19. oder 20. Jahrhundert eine erfolgreiche Industrialisierung ermöglichten, denn die Globalisierung hat alte ökonomische Fundamente aufgelöst oder weggespült, auf die früher aufgebaut werden konnte. Eine genauere wirtschaftshistorische Analyse, die nicht nur einen oder einige Faktoren berücksichtigt, sondern neben den öko-

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nomischen auch die sozialen und mentalen Veränderungen – ganz abgesehen von den weltweiten Varianten in verschiedenen Staaten –, kann nicht die vereinfachende These unterschreiben: „In seiner heutigen Form ist der Kapitalismus genau 100 Jahre alt.“ (Herrmann, 2015, S. 62). Unsere heutigen Wirtschaftssysteme unterscheiden sich etwa von den früheren des 19. Jahrhunderts nicht nur durch einen zunehmenden Staatsinterventionismus mit einer Staatsquote von bis zu 50 % oder mehr des Bruttosozialprodukts, sondern auch durch eine radikal veränderte Produktionsstruktur, z. B. dem Internet der Dinge, die ja erst seit wenigen Jahrzehnten existiert.5 Es ging mir bei den hier vorgetragenen Überlegungen nicht vorrangig um „mögliche Verbesserungen der Abläufe des modernen Kapitalismus durch Prozesse kollektiven Handelns“ (Keynes, 2020, S. 45), sondern vor allem um eine historisch adäquate Einordnung von ,Kapitalismus‘ als wachstumsförderndes Wirtschaftssystem, wie es sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Eine andersartige ökonomische Konstellation, wie sie sich durch eine zunehmende Globalisierung herausgebildet hat, benötigt andersartige Methoden, um wirtschaftliches Wachstum zu generieren und den Millionen Menschen um- und einschließenden Teufelskreis von armutsbewahrender Unterentwicklung zu entfliehen. Wir erleben gerade in einem der größten Staaten der Welt ein bisher unbekanntes Zusammentreffen von Politik und Ökonomie, das wohl nur wenige Ökonomen oder Politiker vorausgesehen haben oder sich nach den negativen Erfahrungen mit der Sowjetunion und ihren Satelliten überhaupt vorstellen konnten. In China existieren nämlich Kapitalismus und Totalitarismus fast reibungslos nebeneinander und es ist ein spannendes Experiment, ob die kapitalistischen Fliehkräfte einmal so zunehmen werden, dass dieses kapitalistische, aber undemokratische System sich freiheitlichen Tendenzen öffnen muss, weil ein großer Teil einer unzufriedenen Bevölkerung aufbegehrt. Wir können deshalb heute nicht mehr die neoliberale Ansicht des amerikanischen Ökonomen und WirtschaftsNobelpreisträgers (1976) Milton Friedman (1912 – 2006) teilen, dass „der Kapitalismus eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit“ 5 Noch 1894 konnte man die arbeiterfeindliche These vertreten, der die heutigen Befürworter eines immer höheren Mindestlohnes wohl entrüstet widersprechen und sie zurückweisen würden: „Zwingt der Staat den Unternehmer, einen Minimallohn zu zahlen, so muss er ihm dafür einen Minimalpreis für seine Waren garantiren.“ (Meyer, 1894, S. 200. Hervorhebungen im Original).

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(Friedman, 1976, S. 30) sei. Die vorher erwähnte Misessche These war noch gegen den in der Sowjetunion etablierten kommunistischen ,Sozialismus‘ gerichtet, dessen langfristige Unmöglichkeit sich inzwischen bewahrheitet hat, während das kommunistische China unbeirrt als ein wirtschaftlicher Riese fortexistiert und floriert.6 Die weltweite Gefährdung unseres Ökosystems, das durch eine nachholende Industrialisierung außereuropäischer Staaten weiter belastet würde, sollte nicht die hier vertretene Einsicht verdrängen, dass die kapitalistischen Differenzen beim materiellen Wohlstand eher zuzunehmen als sich zu verringern scheinen, trotz der (vergeblichen) Versuche, sie massiv abzubauen. Die zentralistische Europäische Gemeinschaft und Union versäumte sowie versäumt aus eigennützigen Interessen seit Jahrzehnten, wie gesagt, den weniger entwickelten Weltregionen ihre Märkte für deren Agrarprodukte zu öffnen und verbaut ihnen damit ökonomische Entwicklungschancen, denn eine gewerbliche Industrialisierung kann erst dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn die nationale Landwirtschaft einen effektiven, produktivitätssteigerden Zyklus durchlaufen hat, damit die eigene Bevölkerung besser ernährt werden kann und landwirtschaftliche Arbeitskräfte freisetzt für industrielle Tätigkeiten.7

III. Die Zukunftsaussichten des Kapitalismus Wenn die gegenwärtigen und zukünftigen Aussichten des Kapitalismus so schlecht sind, wie viele seiner Kritiker vermuten, und für hochindustrialisierte Staaten gewiss ist, dass „der Kapitalismus seine beste Zeit hinter 6 Werner Sombart schrieb 1927: „Aber der Kapitalismus der Chinesen, Malaien und Neger ist kein ,moderner Kapitalismus‘ mehr, wie ich ihn in diesem Werke geschildert habe. Er wird ein Gebilde sein, das manche Züge des europäischamerikanischen Kapitalismus an sich tragen, aber in seiner Wesenheit doch von dem unserigen grundverschieden sein wird, da er auf ganz anderen Grundlagen ruht.“ (Sombart, 1917. 2. Hbb., S. 1014). 7 Deswegen kann ich auch nicht die Ansicht von Jeffry A. Frieden: Global Capitalism. Its Fall and Rise in the Twentieth Century, New York/London 2006, S. 473, teilen: „The best hope for the impoverished masses of Asia and Africa is to gain access to the opportunities the world economy has to offer“, denn zuerst sollte in diesen unterentwickelten Staaten eine binnenländische, ökonomische Entwicklung vorangetrieben werden, die den vorhandenen Voraussetzungen gemäß ist und keine bereits gescheiterten Anleihen an die Weltwirtschaft macht.

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sich (hat), und in der übrigen Welt wird sie noch zu unseren Lebezeiten vorbei sein“ (Mason, 2016, S. 10), können wir dann von einem Postkapitalismus im 21. Jahrhundert wundervolle Dinge für ein unbeschwertes Leben erwarten, das uns noch bevorsteht? Wir müssten dann allerdings wissen, wie dieser alternative ,Postkapitalismus‘ funktioniert, welche ökonomischen und/oder organisatorischen Elemente des alten, abgelebten Kapitalismus übernommen werden können und ob er ohne politische Eingriffe durch ,Mikromechanismen‘ bis zum Jahr 2050 entstehen und sich entwickeln kann. Das begeisternde Versprechen, wir bräuchten „ein neues, ganzheitliches System, dass von allein funktionieren kann und spürbar bessere Ergebnisse liefert“ (ebd., S. 13), kann keineswegs ausreichen, um die komplexen, kapitalistischen Strukturen so zu verändern, dass finanzielle Ungleichheiten oder monopolistische Unternehmen einfach verschwinden oder sich in Luft auflösen. Es hat sich nämlich gezeigt, dass im vergangenen Jahrhundert Staaten und Politiker – ganz abgesehen von kommunistischen oder totalitären Herrschaftsformen – in demokratischkapitalistischen Staaten die drängenden Belange der wenig begüterten Bevölkerungsteile, des sogenannten ,Prekariats‘, weniger berücksichtigt haben als die finanzkräftigen Interessen von Konzernen und einflussreichen Lobbyisten. Die auf globale Verhältnisse übertragene marxistische Illusion, sowohl für zurückgebliebene als auch für entwickelte Staaten sei die beste Lösung „immer noch die Revolution in den hochkapitalistischen Ländern, die den Weg zu einer sozialistischen Integration der Weltwirtschaft freimachen würde“ (Mattick, 1974, S. 341), würde in einer zerstörten Welt des kapitalistischen Wohlstandes enden. Es erscheint mir ziemlich fraglich, ob diese gegenwärtige Situation einer vom Lobbyismus beeinflussten Politik sich grundlegend ändern wird, denn lobbyistische Kraken haben mit milliardenschweren Zuwendungen ihre demokratiezerstörenden Fangarme weltweit ausgestreckt und bedrohen unsere parlamentarischen Demokratien (vgl. Kiesewetter, 2022, S. 294 ff.). Gerade die gesellschaftlichen Kommunikationsnetze durch das Internet werden in der jüngeren Generation immer weiterverbreitet, d. h. sie sollen angeblich den „gebildeten und vernetzten Menschen“ (Mattick, 1974, S. 18) schaffen, der über ein ,objektives‘ Urteil verfügt, doch es werden dadurch eher tatsachenverfälschende Einflussmöglichkeiten geschaffen und verbreitet, die von den jugendlichen Nutzern nicht mehr nachgeprüft werden. Einer vom Lobbyismus abhängigen Politik wird es ebenfalls nicht gelingen, diejenigen Menschen von einer vorteilhaften

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Wirtschaftsentwicklung zu überzeugen, die die kapitalistischen Strukturen überwinden möchten, weil sie angeblich von ihnen benachteiligt werden. Der heutige globale Kapitalismus hat mit dem sogenannten Hochkapitalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts höchstens noch den Namen gemeinsam, weswegen es auch für die 1990er Jahre kaum zutrifft: „As before 1914, capitalism was global, and the globe was capitalist.“ (Frieden, 2006, S. 476). Es ist schon einige Male betont worden, dass ich von solchen luftigen Ideen, die sich weitgehend von der realen ökonomischen Wirklichkeit abkoppeln, wenig halte, denn wir benötigen kein „modulares Projektdesign“ (Mattick, 1974, S. 20), sondern konkrete Lösungsvorschläge für überall sichtbare Schwächen unserer gegenwärtig kriselnden Demokratien und kapitalistischen Systeme. Der uralte Traum von einer schöneren, besseren Welt ist wie der Postkapitalismus ein utopisches Sprungbrett, von dem heruntergesprungen, wir nicht im weichen, wohlstandsgenährten Wasser landen, sondern eher auf dem harten Boden ökonomischer Tatsachen, die viel weniger umgekrempelt werden können als ein postkapitalistischer Schlapphut. Die befürchtete Selbstzerstörung des heutigen Kapitalismus scheint gering, denn noch gibt es weltweit genügend wohlhabende Profiteure, die sich für seine längerfristige Weiterexistenz einsetzen, damit ihre Wohlstandsgewinne nicht reduziert werden oder gar verschwinden. Den meisten Menschen in kapitalistischen Gesellschaften würde ich deshalb eher raten, politische Parteien zu wählen, die sich für energische und weitreichende Reformen eines aus dem Ruder gelaufenen ökonomischen Kapitalismus einsetzen und sie durchführen als auf den schalen Hoffnungsschimmer zu vertrauen: „Der Postkapitalismus wird euch befreien“ (ebd., S. 371). Ein besonders raffiniertes System einer zukünftigen Wirtschaft hat sich der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin ausgedacht, der wegen der angeblich heute überschrittenen Grenzen des konkurrierenden Privatkapitalismus eine Null-Grenzkosten-Gesellschaft (Rifkin, 2014) auf uns zukommen sieht, weshalb er mit einer prophetischen Gabe vorausahnt, dass nach dem Jahr 2050 der Kapitalismus nicht mehr „dominantes ökonomisches Paradigma“ (ebd., S. 10) sein wird. Das mag für jeden Ökonomen entsetzlich oder bedauerlich klingen, doch bekanntlich wird keine Essen so heiß gegessen wie gekocht oder gebraten; selbst in den USA. Begründet wird diese apokalyptische Entwicklung von Rifkin mit den Grenzkosten, d. h. dem Anteil der Kosten, der für die industrielle Herstellung eines zusätzlichen Produkts benötigt oder eingesetzt wird, die außer den Fix-

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kosten gegen Null tendierten und deshalb der kapitalistische Lebenssaft unseres Wirtschaftssystems, der Kapitalprofit, ausbleiben muss. Nach Rifkin entwickeln sich immer mehr Güter und Dienstleistungen – liebe Leser, bitte erschrecken sie nicht vor dieser grenzkostenfreien Endzeitprognose – in unaufhaltsamer Richtung von ,Nahezu-Null-Grenzkosten‘ und wären deshalb bald kostenlos zu haben, ohne dass wir dafür noch viel Geld ausgeben müssten. Ein kapitalistischer Markt oder Märkte könnten dann natürlich nicht mehr lange oder höchstens in schmalen Nischen existieren, denn welcher Unternehmer wollte denn weiter produzieren, wenn sein schwer erwirtschafteter Profit gegen Null tendiert? Eine schreckenserregende Selbstzerstörung kapitalistischer Wirtschaften wird damit unausweichlich, doch diese trübe Aussicht scheint selbst unserem Grenzkostenfanatiker zu pessimistisch, denn er weist uns einen scheinbaren, hoffnungsgeschwängerten Ausweg: „Eine Nahezu-null-Grenzkosten-Gesellschaft ist der Zustand optimaler Effizienz, was die Beförderung des Allgemeinwohls angeht, und damit der Triumph des Kapitalismus schlechthin. Sein Augenblick des Triumphes freilich markiert auch sein unausweichliches Verschwinden von der Weltbühne“ (ebd., S. 21. Hervorhebung von mir). Mitten im materiellen Konsumrausch kapitalistischer Staaten und einer zunehmenden Globalisierung profitabler Produktenmärkte mit immer teureren Angeboten will dieser amerikanische Zukunftsguru uns einreden: „Der Marktmechanismus wird zunehmend überflüssig in einer Welt nahezu kostenloser Güter und Dienstleistungen, die um eine Überflusswirtschaft herum organisiert sind, was den Kapitalismus als Wirtschaftsform zu einem Nischendasein verurteilen wird“ (ebd., S. 448). Versuchen wir uns einmal etwas zu verdeutlichen, was diese theoretische Konstruktion für unser tägliches Leben bedeutete, wenn sie in naher oder ferner Zukunft einträfe, und wie sie unsere Arbeitswelt – ganz abgesehen von der stockdunklen Abenddämmerung einer kapitalistischen Ära – in allen ihren unterschiedlichen Formen veränderte, ja umwälzte. Mir erscheint dieses hypothetische Modell als eine vollständige Verkennung unseres preisbestimmten Produktionssystems, vor allem, wenn von Jeremy Rifkin behauptet wird: „In einer Nahezu-null-Grenzkosten-Gesellschaft werden viele – wenn auch nicht alle – unserer grundlegenden materiellen Bedürfnisse fast kostenlos befriedigt werden“ (ebd., S. 196). Nach Rifkin würde, um dieses hehre Ziel zu erreichen, das vorhandene Kommunikationsinternet mit dem gerade entwickelten Energie- und

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Logistikinternet zu einer „nahtlosen intelligenten Infrastruktur des 21. Jahrhunderts“ (ebd., S. 24) verschmelzen, dem sogenannten Internet der Dinge (IdD), dem „Aufstieg des kollaborativen Commons als dominanten Modell zur Organisation wirtschaftlichen Lebens“ (ebd., S. 32). Diese ökonomische Entwicklung gliche einer Dritten Industriellen Revolution, wobei offenbleibt, worin die beiden vorhergehenden industriellen Revolutionen sich von dieser IdD-Revolution unterscheiden oder abweichen, was wohl bei solchen weitreichenden Versprechungen erörtert werden sollte. So würde z. B. der Besitz von privatem Eigentum oder auch kapitalistischem Eigennutz immer unwichtiger, da die Commons eine Vielzahl von sozialen und karitativen Einrichtungen ermöglichten, was die kritische Frage provoziert, wie diese freiwilligen Gemeinschaften und Genossenschaften ohne eine profitable Industrie- und Güterproduktion finanziert werden können oder sollen. Ist diese Grenzkostenidee und der uralte Traum von einer nachhaltigen Lebensqualität, frei von den Arbeitszwängen einer Industriegesellschaft, jedoch nicht viel zu erhaben und idealistisch, um sie mit so nüchternen Fragen wie einer produktiven Effizienz zur Finanzierung dieser Vorhaben zu konfrontieren? Ich möchte den interessierten und wirtschaftlich ungeschulten Lesern kurz schildern, damit sie sich der ökonomischen Tragweite dieses etwas unklaren Konzeptes bewusstwerden können, was sie bei einer eventuellen Durchsetzung eines kollaborativen Commons erwartet, das mit so großer Emphase und einer detaillierten Beschreibung vorgetragen wird, dass man sprachlos oder wütend werden kann. Jeremy Rifkin drückt die angeblich realistischen Ergebnisse dieser technologischen Entwicklung folgendermaßen aus: „Folge von alledem ist, dass die Unternehmensmonopole des 20. Jahrhunderts sich jetzt einer disruptiven Bedrohung von unberechenbaren Ausmaßen in Form der sich herausbildenden IdD-Infrastruktur gegenübersehen. Neue Arten von sozialen Unternehmen können sich im Plug-and-Play-Verfahren in das Internet der Dinge einklinken und mithilfe seiner offenen, dezentralen und kollaborativen Architektur durch Peer-Produktion laterale Skaleneffekte erzielen und so praktisch alle noch verbliebenen Mittelsmänner eliminieren. [Wir erinnern uns vielleicht an den ähnlichen Ausspruch von Karl Marx: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot“, was allerdings im 19. Jahrhundert noch durch physische Gewaltanwendung und nicht durch das Internet der Dinge durchgeführt werden konnte. Ein überzeugender Vorschlag? H.K.]. Diese Kompression führt zu einer dramatischen Steigerung von Effizienz und Produktivität, während

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sie gleichzeitig die Grenzkosten gegen nahezu null rückt, was zu Produktion und Verteilung nahezu kostenloser Güter und Dienstleistungen führt“ (ebd., S. 100). Ich möchte diese ökonomischen Abwege hier nicht weiterverfolgen, denn sie erscheinen mir zu realitätsentrückt, sondern lediglich noch auf einen Aspekt hinweisen. Wenn wir diese Konstruktion ihrer großspurigen verbalen Umkleidung entledigen, dann nähern wir uns tatsächlich der marxistischen Illusion eines ,Reiches der Freiheit‘, in dem es keine kapitalistische Unterdrückung und brutale Ausbeutung mehr gibt und die verstaatlichten Unternehmen in solidarischem Geist mit dem befreiten Proletariat ohne entfremdende Arbeitsqual massenhaft Güter produzieren und den ehemals ausgebeuteten Werktätigen zur freien Verfügung stellen. Ähnlich hat unser in vielen Medien hochgejubelter IdD-Fachmann vorausgesehen, dass in 25 Jahren, d. h. 2039, „der größte Teil der Energie für Heizung [z. B. Gas, H.K.], Haushaltsgeräte, Geschäfte, Kraftfahrzeuge und die gesamte Weltwirtschaft praktisch gratis“ (ebd., S. 105) bereitgestellt werden kann. Um nach dieser nahe von abstrusen Vorstellungen angesiedelten Ansicht keine falschen Gedanken aufkommen zu lassen: Dieses Buch von Jeremy Rifkin ist kein Science-Fiction-Roman à la Jules Verne, sondern eine angeblich wissenschaftliche Abhandlung über die düstere Zukunft unseres Kapitalismus, obwohl man berechtigterweise an deren intellektueller Redlichkeit zweifeln könnte. Trotzdem bleibt die drängende Frage, wie man rechtfertigen oder begründen kann, wie mit Mikrokraftwerken, Wasserstoffspeichern, Grünem-Strom-Internet oder einem elektrischen, emissionsfreien Transportsystem etc. Milliarden von Menschen ermöglicht werden soll, „Energien in einer IdD-Welt miteinander zu Grenzkosten von nahezu null zu teilen“ (ebd., S. 123)? Die hochkapitalistischen Staaten der westlichen Welt sind nicht einmal fähig, die ständig wiederkehrenden Hungerkatastrophen in unterentwickelten Ländern wirkungsvoll zu bekämpfen oder dauerhaft zu beseitigen, selbst wenn Milliardengewinne in globalisierten Großkonzernen anfallen, die teilweise durch den Handel mit oder einer Produktion in diesen Staaten erwirtschaftet werden. Ob intelligente Technologien oder die Künstliche Intelligenz bis Mitte dieses Jahrhunderts in der Lage sein werden, die traditionellen produktiven ökonomischen Aktivitäten zu ersetzen und dadurch den bisherigen Kapitalismus überflüssig zu machen, erscheint mir aufgrund seiner Wandlungsdynamik höchst unwahrscheinlich.

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IV. Der moderne Kapitalismus wird überleben Wirtschaftliche und gesellschaftliche (sittliche) Sphären des modernen Kapitalismus drifteten fast in allen Perioden seiner etwa 250jährigen Existenz unvermittelt auseinander, weswegen er oft mit einem moralischen Makel belegt wurde, weil er den traditionellen ethischen Anschauungen nicht gerecht wurde, was nicht seinen Intentionen entspricht, weil er vor allem ökonomisch besonders effektiv sein will. Ein Wirtschaftssystem, ob kapitalistisch oder kommunistisch, gebiert aus sich heraus keine Ethik, sondern seine ethischen Verpflichtungen müssen ihm von der Wissenschaft oder der Politik vorgegeben oder vorgeschrieben, überwacht und notgedrungen, wenn sie nicht durchgeführt würden, sanktioniert werden. Wenn aus religiöser Sicht der Kapitalismus eher ein Teufels- als ein Gotteswerk ist, dann können oder müssen wir zumindest einräumen, dass die diabolischen Errungenschaften unsere höchste Bewunderung verdienen, denn sie haben in vielen Staaten einen im 19. Jahrhundert noch unvorstellbaren Wohlstand erzeugt.8 Die unübertroffene Leistung des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert liegt vor allem in seinen materiellen Wohlstandsgewinnen, auch wenn seine sozialen Ungerechtigkeiten und ökonomischen Mängel nicht zu übersehen sind oder geleugnet werden sollen, die jedem aufmerksamen Beobachter auffallen. Er hat selbstzerstörerische Krisen überwunden und totalitäre Systeme besiegt oder zumindest überflüssig werden lassen, weswegen wir keineswegs die pessimistische Ansicht teilen müssen: „Angesichts der Unfähigkeit des Kapitalismus, sich zu regenerieren, fürchten sich die Experten mittlerweile nicht mehr vor einem Jahrzehnt der Stagnation aufgrund der Überschuldung, sondern beginnen über die Möglichkeit nachzudenken, dass sich das System überhaupt nicht mehr erholen wird.“ (Mason, 2016, S. 34 f.). Wir könnten beinahe depressiv werden, so düster sind die zukünftigen Prognosen für die längerfristige Weiterexistenz unserer wohlstandserzeugenden kapitalistischen Ökonomie, obwohl deren Kritiker den

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Wenn Papst Franziskus (2015, S. 44) über die globalen Märkte schreibt: „Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten“, ohne zu differenzieren zwischen den durch den Kapitalismus wohlhabend gewordenen und den arm gebliebenen Staaten, so kann man ihm oder seinen Schreibern keine großen wirtschaftshistorischen Kenntnisse bescheinigen.

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durch sie erzeugten Wohlstand durchaus schätzen oder in ferne Länder reisen, um dort einen Urlaub zu genießen. Eine mögliche Alternative wäre, einem agrarischen Traum einer glücklichen Selbstversorgung ohne städtische Hektik nachzujagen, wie er im Dritten Reich propagiert wurde, doch dann sollten wir gerade heute die ,Krankheitsherde‘ unserer kapitalistischen Gesellschaft erkennen: „Denn der Sozialismus war immer und überall nur eine Folgeerscheinung, und zwar eine Degenerationserscheinung des herrschend gewordenen Kapitalismus, die naturgemäss nach Beseitigung der Krankheitsursache von selbst verschwindet.“ (Ruhland, 1933, S. 235. Im Original kursiv gesetzt). Im heutigen, kapitalistischen Europa scheint man sich nicht vollständig von dieser Ideologie von der überragenden Bedeutung der Landwirtschaft befreit zu haben, obwohl wenige Politiker die nationalsozialistische Bodenideologie vertreten oder gutheißen, die im Dritten Reich viele Anhänger fand. Lediglich die unverhältnismäßige Höhe der Agrarsubventionen der Europäischen Union – im Jahr 2017 waren es 58,9 Mrd. E –, die 2021 rund 40 Prozent des gesamten EU-Haushaltes ausmachen, während der Sozialproduktanteil der europäischen Landwirtschaft 2018 bei 1,5 % lag, verdeutlicht die geringe Reformbereitschaft europäischer Politiker im Agrarsektor. In den vergangenen Jahrzehnten haben sie m. E. weniger die ökonomischen Notwendigkeiten finanziert, sondern den lobbystarken europäischen Bauern so viel finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, damit diese z. B. eine industrielle Massentierhaltung verwirklichen konnten. Das m. E. gravierendste Problem in einer globalisierten Welt ist die jahrzehntelange Ineffektivität der internationalen Entwicklungshilfe, d. h. in unterentwickelten Staaten eine industrielle Entwicklung in Gang zu setzen, die verbreiteten Hunger und Unterernährung beseitigt und den dort lebenden Menschen humane Zukunftsaussichten eröffnet. Wir können heute nicht mehr der vor über hundert Jahren geäußerten Auffassung zustimmen, dass ein relativer Kapitalmangel in diesen wenig entwickelten Staaten dazu führen könnte, eine dynamische Unternehmenslust zu steigern, weil die vage Aussicht auf einen hohen Unternehmergewinn „stets am größten in noch wenig entwickelten Ländern“ (Jaffé, 1915, S. 8, Anm. 8) sei.9 9 Die freie Konkurrenz und der internationale Freihandel nützen überwiegend den hochindustrialisierten Ökonomien, denn Staaten, in denen die Industrie noch wenig entwickelt ist, können gewerbliche Produkte gar nicht zu solch günstigen Preisen herstellen, dass sie mit spezialisierten Unternehmen konkurrieren könnten.

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Selbst für hochentwickelte, kapitalistische Staaten im 21. Jahrhundert gilt: Die anhaltende Unzufriedenheit schlechtbezahlter Arbeiter, öffentlicher Angestellter oder sexuell belästigter Frauen wird kaum zurückgehen, wenn die kapitalistische Herrschaft beseitigt oder abgeschafft ist, denn eine staatliche Sozialpolitik kann autonom durchgeführt werden, selbst wenn ein produktives Wirtschaftssystem deren Ausbau wesentlich erleichtert, und benötigt keinen privatkapitalistischen Unterbau. Die bedrohliche Mangelwirtschaft bei der Gasversorgung etwa, weil Wladimir Putin sich an den westlichen Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges rächen will, zeigt die politische Unwägbarkeit einer angemessenen europäischen Strategie, die nicht rechtzeitig auf akute Bedrohungen unserer freiheitlichen Demokratien durch autoritäre Staaten reagiert hat. Die europäische Politik sollte sich auf wesentliche Maßnahmen beschränken und sich nicht weiter zu einer mit den USA oder China vergleichbaren ,Großmacht‘ aufblähen, denn zentralistische Tendenzen haben nirgends seit Beginn des Industriezeitalters dazu beigetragen, den Wohlstand der Staaten und ihrer Bevölkerungen zu vergrößern, auch wenn China diese These zu widerlegen scheint. Historische Vergleiche können uns verdeutlichen, welche wohlstandsvergrößernde Entwicklungen unterschiedliche ökonomische Systeme für eine mehrheitliche Bevölkerung zustande bringen konnten, und dabei spielten selbständige Regionen eine überragende Rolle bei einer erfolgreichen Industrialisierung. Es ist eine weitverbreitete Illusion, dass ein finanzkräftiger Staat eine hohe Regelkompetenz besitzt und auf möglichst vielen Gebieten eingreifen kann und soll, denn politische Interessen decken sich selten mit ökonomischen Notwendigkeiten, was wir nicht nur bei dem jahrelang unvollendeten Bau des Berliner Flughafens und seiner exorbitanten Zusatzkosten erlebt haben, sondern auch bei vielen Fehlinvestitionen, etwa bei Stuttgart 21. Alternative Wirtschaftssysteme, ob Bakuninscher Anarchismus oder planwirtschaftlicher Kommunismus, haben das subjektive Glücksempfinden der Staatsbürger weder steigern können noch den allgemeinen Wohlstand erhöht, denn sie haben die individuelle Entscheidungsfreiheit unterdrückt. Die arbeitsbefreiende Utopie, nach der der technische Fortschritt im 21. Jahrhundert eine digitale Produktion ermöglicht oder durchsetzt, damit dem Menschen „als freier Gestalter seines Es hat sich als eine verheerende Illusion erwiesen, zu glauben, „die freie Konkurrenz gräbt sich selbst ihr Grab, indem sie die Rohstoff liefernden Länder industrialisiert und zu gefährlichen Konkurrenten der alten Welt heranzieht“ (Jaffé, 1915, S. 21).

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Lebens“ (Precht, 2020, S. 124) eine humane Zukunft bevorstünde, wird an den ökonomischen Realitäten zerschellen und gehört eigentlich in die hoffnungsleere Büchse der Pandora.

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Literatur

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Röpke, Wilhelm: Weltwirtschaft. Eine Notwendigkeit der deutschen Wirtschaft. Ein Vortrag, Tübingen 1932. Roscher, Wilhelm: Die Grundlagen der Nationalökonomie. Ein Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Stuttgart/Tübingen 1854. Roscher, Wilhelm: Nationalökonomik des Handels und Gewerbefleißes. Ein Handund Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende, Stuttgart 1881. Rostovtzeff, Michail: The Social and Economic History of the Roman Empire, Oxford 1926. Rostow, Walt Whitman: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960. Das Rote Buch. Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung: Eingeleitet und herausgegeben von Tilmann Grimm, Frankfurt am Main/Hamburg 1967. Ruhland, Gustav: Aufstieg und Niedergang der Völker nach volksorganischer Geschichtsauffassung (1911). Dritte vom Vorstand der Ruhland-Gesellschaft durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 1918. Ruhland, Gustav: System der politischen Ökonomie, III. Bd.: Krankheitslehre des sozialen Körpers (1908). Unveränderter Neudruck mit einer Einleitung von R. Walther Darré, Berlin/Leipzig 1933. Salin, Edgar: Kapitalbegriff und Kapitallehre von der Antike zu den Physiokraten, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, XXIII. Bd., 1930, S. 401 – 440. Salvioli, Joseph: Der Kapitalismus im Altertum. Studien über die römische Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart/Berlin 1922. Schäffle, Albert E. F.: Kapitalismus und Socialismus mit besonderer Rücksicht auf Geschäfts- und Vermögensformen, Tübingen 1878. Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus, in: Die weißen Blätter. Eine Monatsschrift, Nr. 9, 1914, S. 932 – 948. Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (1915), 4. Aufl., hrsg. von Maria Scheler, Bern 1955. Schmidt, Conrad: Endziel und Bewegung, in: 2. Beilage des „Vorwärts“ Berliner Volksblatt. 15. Jg., Nr. 43. Literarische Rundschau. Samstag, den 20. Februar 1898, S. 1. Schmoller, Gustav: Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München/Leipzig 1918. Schulze-Gaevernitz, Gerhard von: Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Leipzig 1906.

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Literatur

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Literatur

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Sombart, Werner: Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin-Charlottenburg 1932. Sombart, Werner: Das ökonomische Zeitalter. Zur Kritik der Zeit. Durchgesehener und durch Zusätze erweiterter Abdruck aus dem Buche „Deutscher Sozialismus“, Berlin-Charlottenburg 1937. Sombart, Werner: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen (1913), Reinbek bei Hamburg 1988. Spann, Othmar: Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre auf lehrgeschichtlicher Grundlage (1911). Mit einem Anhang: Wie studiert man Volkswirtschaftslehre? 20. Aufl., Leipzig 1930. Spann, Othmar: Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft (1921), 3. Aufl., Jena 1931. Spann, Othmar: Kämpfende Wissenschaft. Gesammelte Abhandlungen zur Volkswirtschaftslehre, Gesellschaftslehre und Philosophie, Jena 1934. Spann, Othmar: Tote und lebendige Wissenschaft. Kleines Lehrbuch der Volkswirtschaft in fünf Abhandlungen (1921), 4. Aufl., Jena 1935. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1969. Spree, Reinhard: Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913. Quantitativer Rahmen für eine Konjunkturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1978. Strieder, Jakob: Zur Genesis des modernen Kapitalismus. Forschungen zur Entstehung der großen bürgerlichen Kapitalvermögen am Ausgange des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, zunächst in Augsburg (1904), 2. Aufl., bearbeitet von Franz Freiherr Karaisl von Karais, München/Leipzig 1935. Sweezy, Paul M.: Theorie der kapitalistischen Entwicklung. Eine analytische Studie über die Prinzipien der Marxschen Sozialökonomie. Aus dem Amerikanischen von Gertrud Rittig-Baumhaus, Frankfurt am Main 1970. Sweezy, Paul/Dobb, Maurice/Kohahiro, Takahashi/Hilton, Rodney/Hill, Christopher/Lefebvre, Georges/Procacci, Giuliani/Hobsbawm, Eric/Merrington, John: Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Mit einer Einführung und einem Postskript von Rodney Hilton. Aus dem Englischen von Hans-Günter Holl und Hans Medick, Frankfurt am Main 1978. Tönnies, Ferdinand: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung, Jena 1926. Totomianz, Vachan F.: Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsgeschichte. Mit einem Vorwort von Heinrich Herkner, 2. Aufl., Berlin 1929.

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Literatur

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Literatur

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Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920, herausgegeben und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß (1993), 3. Aufl., Weinheim 2000. Westermann, William L.: The Slave Systems of Greek and Roman Antiquity (1955). Reprint, Philadelphia 1984. Wetzel, Wolf: Krise des Kapitalismus und krisenhafte Proteste, Münster 2012. Wippermann, Wolfgang: Der Wiedergänger. Die vier Leben des Karl Marx, Wien 2008. Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hrsg. von Lotte Zumpe, Berlin 1976. Wolf, Julius: Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung. Kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik, Stuttgart 1892. Wolf, Julius: Die Volkswirtschaft der Gegenwart und Zukunft. Die wichtigsten Wahrheiten der allgemeinen Nationalökonomie dargestellt für die Praxis, Leipzig 1912. Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, in: Wolfgang Eichhorn I/ Erich Hahn/Günter Heyden/Manfred Puschmann/Robert Schulz/Horst Taubert (Hrsg.), Berlin 1969. Woodruff, William: Impact of Western Man. A Study of Europe’s Role in the World Economy 1750 – 1960, New York 1967. Ziegler, Jean: Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin. Aus dem Französischen übertragen von Hainer Kober, München 2019. ˇZizˇek, Slavoj: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror (2015). Aus dem Englischen von Regina Schneider, 3. Aufl., Berlin 2016.

Zuboff, Shoskana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid, Frankfurt/New York 2018. Zwiedineck-Südenhorst, Otto von: Was macht ein Zeitalter kapitalistisch?, in: Zwiedineck-Südenhorst, Otto von: Mensch und Wirtschaft. Aufsätze und Abhandlungen zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, 1. Bd., Berlin 1931, S. 221 – 258.

Personenregister Adorno, Theodor W. 193 Agricola, Georgius 127 f. Albert, Hans 125, 163 Altvater, Elmar 195 Aristoteles 46, 86, 124 Bairoch, Paul 205 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 218 Bartlett, Robert 85 Bebel, August 167 Beckert, Sven 34 Bell, Daniel 150 Bellamy, Edward 155, 167 Below, Georg Anton Hugo von 43, 67, 89, 91, 138, 142 Bernstein, Eduard 167, 177 Bezos, Jeff 116 Biddle, Jeff E. 130 Blanc, Jean Joseph Louis 21 Bodin, Jean 81 Böhmert, Victor 106 Bonn, Moritz Julius 189 Borchardt, Knut 63 Boulton, Matthew 31 Brabeck-Letmathe, Peter 142 Brand, Ulrich 199 f. Braudel, Fernand 178 Brentano, Ludwig Josef ,Lujo‘ 21, 43, 51 f. Brinkmann, Carl 92 Brodnitz, Georg 91, 129 f. Brüning, Heinrich 181 Bücher, Karl 67 Bülow, Friedrich 186

Cäsar, Gaius Julius 31 Calvin, Johannes 99, 103, 111 Calwer, Richard 21 Chandler, Alfred D., Jr. 137 Christus 46, 106 Colbert, Jean-Baptiste 76 f. Commons, John R. 130 Conrad, J. 88 Cromwell, Oliver 82, 129 Crusoe, Robinson 45 Damaschke, Adolf 67, 69 Dante, Alighieri 178 Dareios I. (pers. König) 41 Diehl, Karl 130 Dieterich, Heinz 42 Ebert, Friedrich 182 Eduard III. (engl. König) 66 Eduard IV. (engl. König) 66 Egner, Erich 149, 186 Ehrenberg, Richard 76 Eisner, Kurt 90 Engels, Friedrich 23, 122, 132, 152 – 164, 166 f., 170 f., 174, 177, 190 f., 199 Erasmus von Rotterdam 99 Federici, Silvia 76, 189 Franklin, Benjamin 92 Franziskus I. (Papst) 116, 216 Freytag, Gustav 191 Frieden, Jeffry A. 210, 212 Friedman, Milton 209 f.

Personenregister Friedrich II., der Große (preuß. König) 68, 70, 74 Friedrich Wilhelm I. (preuß. König) 68, 73 Friedrich Wilhelm von Brandenburg (Kurfürst) 74 Fülberth, Georg 20 f., 196 Fugger, Jakob 103 Fukuyama, Francis 194 Fulcher, James 25, 41, 81, 196 Gama, Vasco da, Graf von Vidigue˛ira 61 Gans, Eduard 148 f. Gates, Bill 116 Geller, Uri 119 George, Stefan 208 Georgiewa, Kristalina 202 Geremek, Bronisław 100 Gimpel, Jean 84 Gleeson-White, Jane 20 Goethe, Johann Wolfgang von 155 Goldschmidt, Levin 41 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 162 Gorz, André 193 – 195 Gründel, E. Günther 128 Habermas, Jürgen 193 Harms, Bernhard 87 Harrod, R. F. 44 Hassinger, Herbert 70 Hecker, Rolf 181 Heckscher, Eli F. 64, 77 Heidegger, Martin 198 Heinrich IV. (engl. König) 66 Heinrich IV. (franz. König) 72 Heinrich VIII. (engl. König) 73 Heinrich der Löwe (Herzog) 75 Hellpach, Willy 181 Herrmann, Ulrike 29 f., 32, 37, 146, 197, 203, 209

235

Hildebrand, Bruno 155 Hilferding, Rudolf 168, 170 – 175, 177 f. Hilton, Rodney 59 Hindenburg, Paul von 183 Hitler, Adolf 181, 183, 185 Hobsbawm, Eric J. 178 Hohoff, Wilhelm 36, 52, 80, 108, 173 Holtfrerich, Carl-Ludwig 184 Jaffé, Edgar 80, 90, 177, 196, 217 f. Jelzin, Boris Nikolajewitsch 162 Jenner, Gero 198 Jentsch, Carl 152 Joseph II. (öster. König) 82 Jostock, Paul 158, 207 Juraschek, Franz von 134 Karl I. (engl. König) 67 Kaufhold, Karl Heinrich 93 Kautsky, Karl 152 f., 167, 170 Kelsen, Hans 184 Kern, Bruno 197 Keynes, John Maynard 29, 44, 209 Kiesewetter, Hubert 37, 45, 98, 122, 124, 127, 132, 135, 140, 156, 164, 173, 184, 191, 207, 211 Kirdorf, Emil 116 Knies, Karl Gustav Adolf 81 f. Kocka, Jürgen 145 Kolumbus, Christoph 52, 61 Kraus, Karl 154 Kroisos (lyd. König) 45 Krünitz, Johann Georg 70 Krupp, Friedrich 116 Kuczynski, Jürgen 127 Kulischer, Josef 20 Kyros II. (pers. König) 45 Lafargue, Paul 201 Lamprecht, Karl 53 Lange, Friedrich August 167

236

Personenregister

Lassalle, Ferdinand 137 Laum, Bernhard 140 Lenin, Wladimir Iljitsch 157, 161 f., 166, 168 – 170, 178 – 180 Liebknecht, Karl 180 Liebknecht, Wilhelm 167 Liefmann, Robert 139 Lincoln, Abraham 49 List, Friedrich 42, 66, 68, 76, 78, 129 Louis Philipp (frz. König) 21 Ludwig IX. (frz. König) 51 Ludwig XIV. (frz. König) 72 f., 77 Lüthy, Herbert Ernst Karl 87, 120 – 124 Luks, Leonid 150 Luther, Martin 54, 87, 99 f., 102, 121, 123 Luxemburg, Rosa 167, 170, 177, 180 Machiavelli, Niccolò 62 Macron, Emmanuel Jean-Michel Fréderic 202 Malthus, Thomas Robert 71, 75, 132 Mao Tse-tung 151, 170 Marcuse, Herbert 193 Maria Theresia (öster. Kaiserin) 82 Marx, Karl 23, 26 f., 38, 83, 106, 121 f., 124, 143, 148, 152 – 154, 157, 159, 160, 162 – 167, 170 f., 174, 176 – 180, 195, 199, 201, 214 Mason, Paul 195, 211, 216 Mattick, Paul 174, 211 f. Mehring, Franz 167 Mehring, Karl 154 Meyer, Rudolf 73, 111 f., 133, 141, 148, 181, 209 Milanovic´, Branko 18, 198 Mises, Ludwig von 208, 210 Mitscherlich, Waldemar 115, 118, 203 Mun, Thomas 78 f. Musk, Elon Reeve 116, 204

Necomen, Thomas 31 Newton, Isaac 129 Nostradamus (Michel de Notredame) 166 Oelrich, Christiane 203 Oertel, Friedrich 123 Offenbacher, Martin 95 f. Oncken, Hermann 80 Oppenheimer, Franz 153, 170, 182 Otto, Walter 41, 84 Owen, Robert 31, 141 Pacioli, Luca 20 Parsons, Talcott 94 Passow, Richard 23 Paulus (Apostel) 105 f. Philipp II. (span. König) 74 Philippovich, Eugen von 33 Piketty, Thomas 172 Platon 86 Plumpe, Werner 29, 82 Pöhlmann, Robert von 46 – 48, 123 Pohle, Ludwig 17 – 19 Popper, Karl Raimund 184 Precht, Richard David 219 Preuß, Joachim 126 Putin, Wladimir Wladimirowitsch 162, 193, 218 Quesnay, François 72, 80 Rathenau, Walther 116 Rjazanov, David 181 Reimes, Wilhelm 61, 73, 156 Ricardo, David 31 Riehl, Wilhelm Heinrich 74, 145, 191 Rifkin, Jeremy 187, 212 – 215 Röpke, Wilhelm 183 f. Roscher, Wilhelm 79, 164

Personenregister Rostovtzeff, Michail 44 f. Rostow, Walt Whitman 164 Rousseau, Jean-Jacques 146 Ruhland, Johann August Gustav 30 f., 41, 52, 217 Sachs, Fritz Gunter 96 Salin, Edgar 51 Salvioli, Joseph 44, 58 f. Samuels, Warren J. 130 Sartre, Jean-Paul 193 Savigny, Friedrich Carl von 148 Schäffle, Albert Eberhard Friedrich 23 Scheler, Max 18, 112, 167, 192 f. Schmidt, Conrad 165 Schmoller, Gustav von 61, 82 Schulze-Gaevernitz, Gerhard von 28 Schumpeter, Joseph Alois 144, 183 Sieferle, Rolf Peter 129, 189 Sieveking, Heinrich 68 Smith, Adam 18, 31, 38, 68, 77, 80, 82, 95, 125, 140, 175 Söllner, Fritz 33 Somary, Felix 126 Sombart, Werner 18 f., 23 f., 32, 35, 41, 43, 53, 55, 62 – 64, 84, 88, 94 f., 110 – 114, 116 – 120, 137, 141, 143, 147, 179, 183, 186 – 188, 194, 201, 210 Spann, Othmar 22, 33, 43, 62, 70, 90, 92, 182, 188 f., 206 Spencer, Herbert 132 Spengler, Oswald 187 Spree, Reinhard 192 Stalin, Jossif Wissarionowitsch 180 Stevin, Simon 20 Stinnes, Hugo 116 Strieder, Jakob 53, 55, 57, 190 Stumm-Halberg, Karl Ferdinand Frh. von 141

237

Süßmilch, Johann Peter 75 Sweezy, Paul 26, 145 f. Tetzel, Johannes 99 Thomas von Aquin 105 Thyssen, August 116 Tönnies, Ferdinand 132, 185 Tolkin, John Ronald Reuel 178 Totomianz, Vachan F. 63 Toynbee, Arnold 129 Treue, Wilhelm 89 Trevor-Roper, Hugh Redwald 94 Trotzki, Lew Dawidowitsch 169 Trump, Donald 10, 176 Tugan-Baranowsky, Michael von 4 Turgot, Anne Robert Jacques, Baron de l’Aulne 52 Tyszka, Carl Alexander Friedrich Ulrich von 75 f., 133, 206 Van der Ven, Frans 22 Verne, Jules 178, 215 Wagemann, Ernst 7 Wagenknecht, Sahra 198 Wallerstein, Immanuel 18, 64, 192 Walter, Franz Xaver 40 Watt, James 31, 128 Weber, Max 20, 24 f., 32, 43, 50, 88, 90 – 97, 99, 100 – 104, 106 – 113, 120 – 124, 140, 143 Westermann, William L. 49 Wetzel, Wolf 193 Wilhelm II. (deut. Kaiser) 169 Wippermann, Wolfgang 199 Wissen, Markus 199 f. Wolf, Julius 111, 156 Woodruff, William 63 Zadek, Peter 28 Zetkin, Clara 181

238 Ziegler, Jean 142 – 144 Zˇizˇek, Slavoj 171 Zuboff, Shoskana 19

Personenregister Zwiedineck-Südenhorst, Otto von 17, 35, 43, 128