Der Mensch in der Selbstorganisation: Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt [1. Aufl. 2020] 978-3-658-27047-6, 978-3-658-27048-3

Dieses Fachbuch beschreibt in vier Teilen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wie sich neue Konzepte der Selbstorganisat

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German Pages XVIII, 412 [413] Year 2020

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Der Mensch in der Selbstorganisation: Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-27047-6, 978-3-658-27048-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVIII
Front Matter ....Pages 1-1
Zusammenarbeit 5.0 – die kooperative Dimension der neuen Arbeitswelt (Olaf Geramanis)....Pages 3-25
Selbstorganisation und organisationale Kriminalität (Markus Pohlmann)....Pages 27-39
Selbstorganisation und die Sinnfrage (Rüdiger Heinrich Jung)....Pages 41-53
Teaminteraktionen als Ressource der Organisation – ein doppelt paradoxes Unterfangen (Gerhard P. Krejci, Torsten Groth)....Pages 55-69
Netzwerke brauchen Hierarchie. Warum Unternehmen weiterhin Hierarchien brauchen und was sie von der Frauenbewegung, von Don Corleone und vom Taoismus lernen können (Hans-Joachim Gergs, Arne Lakeit)....Pages 71-84
Selbstorganisation in der Aktivgesellschaft – Konturen einer demokratischen Kultur (Patrick Oehler)....Pages 85-97
Selbstmanagement als Erfolgsfaktor von Selbstorganisation (Markus Sulzberger)....Pages 99-122
Front Matter ....Pages 123-123
Freiheiten bewusst organisieren – oder: Wie führe ich eine Organisation in die Selbstorganisation? Ansatzpunkte autonomiefördernder Führung (Stephanie Kaudela-Baum, Marcel Altherr)....Pages 125-141
Warum Sinn und das Management von komplexen Veränderungsprozessen zusammengehören. Ein Beitrag zur ko-kreativen Zukunftsgestaltung (Petra Künkel, Alina Grün)....Pages 143-160
Mobiler, flexibler, selbstorganisierter – Führungstransformation als Voraussetzung für erfolgreichen Wandel (Johannes Willms, Johann Weichbrodt)....Pages 161-175
Wie Führung die Reaktionsfähigkeit auf die digitale Transformation entwickeln kann – „Creating Responsiveness for the Digital Transformation“ – das CReDiT-Modell (Christiane Müller, Nina Haas)....Pages 177-192
Unternehmensentwicklung in Zeiten hoher Dynamik. Vom „Wie?“ zum „Wer?“ (Gerhard Wohland)....Pages 193-202
Vertrauen in Selbstorganisation: drei Seiten der Medaille (Claudius Fischli)....Pages 203-214
Selbstorganisation braucht eine neue, eine horizontale Haltung zu Autorität (Frank H. Baumann-Habersack)....Pages 215-227
Front Matter ....Pages 229-229
Selbstorganisation und Eigensinn. Über die Unverfügbarkeit des Subjekts (Burkhard Bierhoff)....Pages 231-246
Die Rückkehr des „Menschlichen“: Integration des Psycho-Sozialen, Emotionalen und Elementaren als Voraussetzung für gelingende Selbstorganisation (Heiko Kleve)....Pages 247-260
Wie sich Millennials und Nexters selbst organisieren: Generationen im Widerspruch. So reich und doch so arm (Karin Lackner)....Pages 261-277
Selbst-Organisation, Subjektivität und das Soziale. Merkmale und Perspektiven (Bringfriede Scheu, Otger Autrata)....Pages 279-291
Was bedeutet eigentlich Selbststeuerung in sozialen Systemen? Oder: Das gruppendynamische Training als Prototyp eines reflexiven Sozialsystems (Karl Schattenhofer)....Pages 293-306
Fiktion Selbstorganisation. Eine ästhetische Perspektive (Stefan Hutmacher)....Pages 307-321
Front Matter ....Pages 323-323
Untergang oder neue Gestaltungsmöglichkeiten von Selbstorganisation in der VUCA-Welt? Konzeptionelle Überlegungen für das Morgen und das Übermorgen (Ulrich Lenz)....Pages 325-336
Selbstorganisation in komplexen digitalen Arbeitswelten (Daniel Thiemann, Madlen Müller, Arjan Kozica)....Pages 337-350
Von der Information zur Orientierung. Zur (neuen) Rolle der internen Kommunikation in Selbstorganisationen (Constanze Jecker, Simone Huck-Sandhu)....Pages 351-371
Die Rolle von Führungskräften und Berater/innen in digitalen Transformationsprozessen (Hüseyin Özdemir)....Pages 373-384
Sensemaking in selbstorganisierten Produktentwicklungsteams (Joris Wachter)....Pages 385-397
Selbstorganisation am ICT Service Desk der SBB – ein Erfahrungsbericht (Reto Schmid)....Pages 399-412

Citation preview

Olaf Geramanis · Stefan Hutmacher Hrsg.

Der Mensch in der Selbstorganisation Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt

uniscope. Publikationen der SGO Stiftung Reihe herausgegeben von Markus Sulzberger, SGO-Stiftung null, Glattbrugg, Schweiz

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12146

Olaf Geramanis · Stefan Hutmacher (Hrsg.)

Der Mensch in der ­Selbstorganisation Kooperationskonzepte für eine ­dynamische Arbeitswelt

Hrsg. Olaf Geramanis Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit Muttenz, Schweiz

Stefan Hutmacher Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit Muttenz, Schweiz

ISSN 2626-0581 ISSN 2626-059X  (electronic) uniscope. Publikationen der SGO Stiftung ISBN 978-3-658-27047-6 ISBN 978-3-658-27048-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort

Moderne Formen der Selbstorganisation sind notwendig, zeitgemäß und erfolgversprechend. Die Positionierung des Menschen und die verschiedenen Entwicklungen in den Bereichen der Umwelt – Technologien, globale Märkte und Effizienzdruck – haben die Arbeitsgestaltung und die Arbeitswelten in den vergangenen Jahren fundamental verändert. Wir stehen am Anfang dieser grundlegenden Transformation. Damit sind neue Lösungen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens unabdingbar. Wie auch bei anderen großen Entwicklungsschritten in der Vergangenheit, hinkt der Mensch in der Anpassung an die neuen Chancen und Bedingungen hinterher. Damit brauchen Mitarbeitende und Führende gleichsam, soweit möglich, Transparenz und Orientierung über Ausprägungen, Chancen und Risiken. Angst vor der Zukunft ist kein guter Ratgeber. Es ist zentral, über diese Themenbereiche zu informieren, zu forschen, zu debattieren und zu experimentieren. Alle gängigen Formen von Selbstorganisation stellen an die Betroffenen aller Stufen in Organisationen jeglicher Prägung deutlich höhere Anforderungen bezüglich Arbeit, Leistung und Verhalten als dies in klassischen, bürokratischen Ansätzen der Fall war. Neue Führungskonzepte bringen Freiheit. Erfolge sind aber nur zu erzielen, wenn alle Beteiligten über hohe Kompetenzen im Selbstmanagement und in der Selbstverantwortung verfügen. Der dringende Wunsch, althergebrachte Strukturen zu entsorgen und der tiefliegende, oft emotionsbezogene Drang nach „Neuem“, bringen es oft mit sich, dass zu schnell, zu willig auf die Vorschläge von Beratern hörend und ohne sinnvolle Risikobetrachtung fundamentale Umstellungen in der Art der Zusammenarbeit gemacht werden. Leidtragende sind in der Mehrheit der Fälle die betroffenen Mitarbeitenden sowie die Effektivität und die Effizienz der Organisation. Humanisierung unserer aktuellen und zukünftigen Arbeit muss ein zentrales Anliegen sein. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass Macht und Formalisierung aus den gängigen Formen der Selbstorganisation verschwunden wären. Macht zeigt sich in neuen Gesichtern, oft nicht vorhersehbar, leise und unbemerkt. So stellt sich die berechtigte Frage, ob ein Verdikt oder ein Machtwort eines „Chefs“ alter Prägung weniger schwierig zu ertragen sind als ein Mehrheitsentscheid einer Gruppe. Der Formalisierungsgrad in „Holacracy“, einem der meistdiskutierten, aktuellen Ansätze, ist, wie immer deutlicher V

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Geleitwort

wird, sehr hoch. Die errungenen Freiheiten für die Menschen in der Zusammenarbeit und die konsequente Umsetzung der eigenen Identität in der Arbeitswelt setzen zwingend emotional begründete Kompetenzen – Fähigkeiten, Fertigkeiten und Umsetzungswillen – in allen Belangen des Selbstmanagements aller Beteiligter voraus. Wir haben keine Wahl. Veränderungswille und -fähigkeit sind absolut notwendig, um den neuen Herausforderungen der Digitalisierung, den disruptiven Entwicklungen und der Schnelllebigkeit gerecht zu werden. Die klassische Trennung von Denken und Handeln ist definitiv zu überwinden und die Durchlässigkeit von Ideen und Impulsen zur Förderung der Innovation wird zum kritischen Erfolgsfaktor. „Geführte“ und sinnvoll formalisierte Formen der Selbstorganisation bilden hierzu eine sehr gute Grundlage. Geramanis und Hutmacher legen ein umfassendes, sehr fundiertes und hochaktuelles Werk zum Themenkreis „Der Mensch in der Selbst-Organisation“ vor. Zahlreiche berufene Autorinnen und Autoren behandeln den Themenkreis aus verschiedensten Blickrichtungen, erläutern Chancen und Vorbehalte, geben Einsichten in aktuelle Lösungen aus der Wissenschaft und der Praxis und werten entsprechende Ansätze. Damit ist es den Herausgebern wiederum gelungen, umfassend zu informieren und die Leserinnen und Leser zu inspirieren, im eigenen Umfeld entsprechende Beiträge zu leisten. Die SGO Stiftung hat dieses Projekt wiederum unterstützt. Es ist eine Ehre bei solchen Vorhaben mitarbeiten zu dürfen. Seit Jahren verbindet die beiden Institutionen mit den entsprechenden Exponenten eine hoch erfreuliche Zusammenarbeit. Dafür bedanke ich mich im Namen des Stiftungsrates der SGO-Stiftung sehr herzlich. Wir wünschen der vorliegenden Publikation eine breite Leserschaft, die das Interesse hat, den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Das Werk löst spannende Inspirationen für Experimente und konkrete Umsetzungen aus und berichtet über Erfahrungen, die mögliche Fehltritte verhindern können. Letztlich ist zu hoffen, dass die vorliegenden Inhalte zukünftige Forschungsprojekte auslösen werden. Glattbrugg im Mai 2019

Dr. Markus Sulzberger Präsident der der SGO-Stiftung

Vorwort

„Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie …“ Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung

Der Chef einer Unternehmensberatung sagt: „Es gibt Mitarbeiter, die sich den Knöchel gebrochen haben und trotz Krankschreibung weiterarbeiten. Obgleich sie niemand dazu zwingt, so viel zu arbeiten. Das machen sie inzwischen von sich aus.“ Und weiter sagt er, dass es nicht das Geld und auch nicht die Angst vor dem Abstieg sei, was die Menschen treibe. Es sei die Anerkennung und das Gebrauchtwerden. Die Leute sind auf der Suche nach Sinn im Leben. Die Arbeit gibt ihnen diesen Sinn. Als wir uns Anfang 2018 dazu entschieden, den Fokus dieses Sammelbands auf die Aspekte Selbstorganisation und Kooperation zu legen, stellten wir fest, dass der scheinbar eindeutige Fokus immer komplexer und unsere eigene und mutmaßlich klare Position immer unklarer wurde. Welche Antworten wollten wir finden? Geht es um „sinnvolle“ Arbeit? Geht es um die „Humanisierung der Arbeitswelt“, um nichthierarchisch und insofern menschengerechter organisierte Arbeit? Geht es um die Überwindung von nicht mehr zeitgemäßen Organisationsformen? Oder ist das alles letztlich dasselbe wie „demokratisch“ organisierte Arbeit und all dies firmiert einfach unter dem Universallabel „Selbstorganisation“? Der pragmatische Impuls lautete: Was sollte daran falsch sein, wenn der Unternehmensberater so dezidiert von „Sinn“ und dem Stellenwert von „Arbeit“ in der heutigen Gesellschaft spricht? Vielleicht lässt sich darüber das alte Problem lösen, dass wir Menschen einen Sinn suchen, dass „Arbeit“ im Sinne von tätiger Auseinandersetzung mit der „Welt“ nicht nur reine Bedürfnisbefriedigung und Existenzsicherung darstellt, und dann wären wir schließlich am Ende der Entfremdung von Arbeit angekommen? Allerdings bezieht sich der Entfremdungsbegriff von Marx nicht allein auf die Arbeitsbedingungen, sondern z. B. auch auf die Aneignung der Arbeitsprodukte, also auch auf die Eigentums-, die Produktions- und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Damit müssen die Veränderungen auch auf der Ebene der Organisationen ansetzen. Ebenso stehen tradierte Führungsphilosophien zur Disposition und es drängt sich die Frage auf, ob diese tatsächlich humanitär sind oder ob sie den Menschen vor allem deswegen ein VII

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Vorwort

„Warum“ bieten, damit diese fast jedes „Wie“ ertragen. Dessen ungeachtet gibt es noch immer viele Menschen, denen der Job, um welchen Job es sich auch immer handeln mag und wie auch immer er organisiert ist, primär der Existenzsicherung dient. Wenn wir in einem zweiten Schritt die Perspektive wechseln und nun vonseiten der Organisation auf den Menschen schauen, dann werden diese nicht mehr nur als austauschbares Personal gehandelt, sondern verstärkt geraten spezifisch menschliche Potenziale wie Kreativität, Eigeninitiative und die Fähigkeit zur Selbstorganisation in den Blick. Die Intelligenz des Handelns lässt sich nicht mehr allein in bürokratischer Planung verorten und das konkrete Handeln im Prozess der Arbeit ist nicht mehr der Vollzug vorangegangener Analysen und Entscheidungen. Insbesondere hoch qualifizierte Arbeit in flexiblen, innovativen Kontexten ist zunehmend an menschliches Arbeitsvermögen gebunden. Wenn wir im Zuge dessen die aktuellen Diskurse über selbstorganisierte Formen kollaborativer Zusammenarbeit betrachten, stellt sich eine vergleichbare Frage: Kommt es auch seitens der Organisation zu einem neuartigen Bündnis, zu einer Versöhnung von Mensch und Organisation? Geht es neben den offensichtlichen Veränderungen wie dem technologischen Wandel, der Digitalisierung, dem Ende der Massenproduktion und der Autoritäts- und Hierarchiekrise um wahre Emanzipation und Demokratisierung? Und worin liegen die Gründe, wenn innerhalb der Organisation die Abgrenzungen zwischen den Abteilungen aufgelöst, die Hierarchien stark abgebaut und die Formalisierung von Prozessen reduziert werden? Allerdings sind all die Diskurse über selbstorganisierte Formen keineswegs neu. Tatsächlich ist das Argument, dass zu maschinenartige Organisationen verändert werden sollen, fast so alt wie Organisation selbst. Spätestens seit den 1930er Jahren läuft der Prozess der Befreiung von Organisationen aus ihren Silostrukturen und ihrer Öffnung für Netzwerkstrukturen. Seinerzeit ist Chester Barnard für seine Unterscheidung zwischen formeller und informeller Organisation berühmt geworden. Ausgehend von der organisationstheoretisch deskriptiven Frage, wie es einer Organisation gelingt, verschiedene Formen der Kooperation sicherzustellen, hatte Barnard entdeckt, dass es spontane Formen der Kooperation ebenso gibt wie „deliberative“ Formen, also in Stellenbeschreibungen, Abteilungsstrukturen und Arbeitsabläufen formal festgehaltene Formen der Kooperation. Orientiert an der Frage, welche Funktion Führung hat, hielt Barnard fest, dass Führung nicht nur darin besteht, gleichsam disziplinarisch auf der Einhaltung formaler Festlegungen zu bestehen, sondern zugleich darin, für die informelle, spontane Kooperationsfähigkeit Sorge zu tragen. Denn die formalen Abläufe sind in die informellen auch leistungsbezogen eingebettet. Erich Gutenberg hatte im Jahr 1951 in seinen „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ geschrieben, dass „freie Formen der Kooperation“ dem hierarchischen System gleichwertig sind und in nichts nachstehen. Man habe immer die Wahl zwischen hierarchischer Eindeutigkeit und zeitaufwendigerer, für taktische Überlegungen anfälligere Zusammenarbeit. Letztere sei jedoch häufig nicht zu vermeiden. Womit Gutenberg die zuvor proklamierte Gleichwertigkeit selbst relativiert.

Vorwort

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Frederick Herzberg erschütterte mit einer revolutionären, empirisch fundierten Theorie 1959 die Wirtschaftswelt, wonach nicht das Geld der Hauptmotivator für zufriedene Arbeit ist, sondern die Tätigkeit selbst sowie Verantwortung und Wertschätzung. Nach seiner Zwei-Faktoren-Theorie, auch Motivator-Hygiene-Modell genannt, gibt es einerseits Faktoren, die auf den Inhalt der Arbeit bezogen sind (Motivatoren), und zum anderen Faktoren, die auf den Kontext der Arbeit bezogen sind (Hygienefaktoren). Natürlich soll die Organisation erfolgreich sein, aber nicht gegen den Menschen, sondern für ihn und mit ihm. 1961 publizierten Tom Burns und George M. Stalker vom Londoner Tavistock Institute ihr Buch „The Management of Innovation“, in dem die Umstellung von einem „mechanischen“ auf ein „organisches“ Organisationsmodell propagiert und ausgearbeitet wurde. „Mechanisch“ sollte heißen, dass man Organisationen bis in die letzten Details der Arbeitsteilung, Arbeitsprozesse und Kontrollstrukturen am grünen Tisch entwerfen konnte. „Organisch“ hieß, dass man vorab nur wusste, dass man nicht wusste, mit welchen Aufgaben und Anforderungen, Kompetenzen und Kooperationsmustern eine Organisation arbeiten würde, sodass man die Organisation von vorneherein dazu befähigen musste, sich „selbstorganisiert“ in der Interaktion zwischen allen Mitarbeitern auf die jeweiligen Möglichkeiten einzustellen. Anfang der 1970er stand die Humanisierung der Arbeit(swelt) HdA im Vordergrund. Es ging um die „Qualität der Arbeit“. Die Grenzen der „fordistischen“ Massenproduktion und der „tayloristisch“ geprägten Arbeitsorganisation mit dem Fließband als Symbol wurden sichtbar. Verschärfte Rationalisierung und eine Intensivierung der Arbeit hatten die Arbeitsbedingungen zunehmend verschlechtert. Höhere Einkommen und mehr Freizeit verloren angesichts massiver gesundheitlicher Belastungen und Gefährdungen ihre Kompensationsfunktion. Wichtige Ansatzpunkte waren daher die Verbesserung der physischen, psychischen und sozialen Arbeitsbedingungen. Es sollte eine möglichst vielseitige Beanspruchung der menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten nicht nur als ökonomischen und technologischen Ziele, sondern auch aus humanitären Gründen erreicht werden. Unter dem Titel „Teamproduktion“ ist in den 1980er Jahren diskutiert worden, wie man Teams zur Zusammenarbeit nicht nur untereinander, sondern auch mit der Linie, aus der sie temporär ausgeklinkt werden, befähigen kann. 1990 folgten die Konzepte Lean Production und Enthierarchisierung als Abkehr vom Taylorismus; im Jahr 2000 lag der Fokus auf der New Economy und auf Internet-Start-ups; seit 2010 sind wir bei Begriffen wie Agilität, Holacracy, Reinventing postbürokratischen Organisationen angekommen. In dieser ganzen Auseinandersetzung, wie sich der Mensch zwischen Selbstorganisation und Kooperation verhält und welche Formen von Organisation ihm gegenübertreten, hat uns insbesondere fasziniert, dass sich das Thema einer festen und eindeutigen Bestimmung entzieht. Es ist nicht per se gut oder schlecht – menschlicher oder unmenschlicher. Stattdessen braucht es eine gute Distanz, um verschiedene Perspektiven einnehmen zu können, oder wie es Slavoj Žižek 2009 in „In Defense of Lost Causes“ sinngemäss ausdrückt: Konzentriert man sich auf das Individuum, verliert man

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Vorwort

die Gesamtheit der Gesellschaft aus dem Blick, konzentriert man sich auf die Gesamtheit, verliert man das Individuum aus dem Blick. Pierre Guillet de Monthoux formuliert 2007 die Frage in einer „ästhetischen Perspektive für Ökonomen“ wie folgt: „Wie viel Mensch wollen wir uns in welchen Strukturen leisten, und in welcher Weise vertrauen wir heute in unser eigenes Denkvermögen und unsere Fähigkeiten? Wie kann es uns gelingen, das Sinnes- und Wahrnehmungsvermögen der Organisationsakteure miteinzubeziehen, um die subjektive Objektivität innerhalb von organisationalen Realitäten besser zu verstehen und eine Idee davon zu erhalten, was Individuen zu Gruppen, Organisationen und Gesellschaft zusammenschweißt und in welcher Weise wir kollektive Realitäten erschaffen und welche Art von Klebstoff wirksam ist?“ Fazit: Selbstorganisation in der Arbeitswelt ist ein grundlegend „anderes“ Kooperationsmodell: Selbstorganisation ist nicht Chaos, sie ist nicht führungs-(kräfte-)los, macht nicht alle gleich, ist weder hierarchie- noch kontrollfrei. Sie funktioniert nicht schneller, ist nicht leichter zu handhaben und dient nicht automatisch der Demokratisierung und Motivation der Mitarbeitenden. Status quo, Führung, Mensch und Digitalisierung Wir wollen genauer verstehen, was es braucht, damit selbstorganisierte Teams ihren Weg gehen können. Was handelt man sich alles ein, wenn man diesen Weg geht, und was muss bewältigt werden? Es geht uns um die nichttechnische Dimension der Digitalisierung. Diese beinhaltet die Art und Weise, wie Menschen miteinander kooperieren, kommunizieren und auf Augenhöhe arbeiten. In diesem Sinne freuen wir uns, Ihnen den vorliegenden Sammelband vorstellen zu können, der in vier Teile gegliedert ist. Zunächst wollen wir Ihnen kurz vorstellen, unter welchem Fokus wir die jeweiligen Autorinnen und Autoren eingeladen haben, an diesen Themen mitzudenken. Teil I – Status quo der Selbstorganisation Selbstorganisation zwischen Individuum, Organisation und Gesellschaft Früher war von Position, Arbeitsrolle und Stelle die Rede; heute tauchen Begriffe wie Person, Konsens, Kollaboration sowie Motivation, Intuition und sogar Spiritualität auf. Alle diese Begriffe verweisen auf den Menschen selbst und infolgedessen bekommt die Reibungsfläche zwischen Mensch und Organisation etwas sehr Unmittelbares. Der Spruch „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ hat sich damit weitgehend überholt. Die Balance von dienstlich und privat, von Nähe und Distanz ist unklar geworden. So sprach Richard Sennett bereits 1974 von der Tyrannei der Intimität, und die Besessenheit davon galt ihm als Indiz für eine „unzivilisierte Gesellschaft“. Ist damit die Zurschaustellung von emotionaler Intelligenz in Arbeitskontexten bereits unzivilisiert? Wie viel Unmittelbarkeit müssen wir zulassen, tut uns gut, ist notwendig? Dieser erste Teil widmet sich daher der Frage, inwieweit sich individuelle Haltungen ebenso wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über die Zeit hinweg grundlegend geändert haben – oder auch nicht. Ist Arbeit tatsächlich signifikant komplexer und subjektiver geworden? Was sind die Gründe dafür, dass Organisationen einerseits den

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Umgang mit Komplexität erproben wollen und andererseits nach wie vor bloße Funktionalität und Hierarchie in den Vordergrund stellen? Woran scheitern die sogenannten „menschlicheren“ Modelle, und um welche Werte ging und geht es eigentlich – bzw. inwiefern spielen Werte überhaupt eine Rolle? Teil II – Führung und Selbstorganisation Der Stellenwert von Verantwortung und die Notwendigkeit von Führung Welche Berechtigung und Relevanz wird der Diskurs über Führung im Allgemeinen und über Führung in der Selbstorganisation im Besonderen zukünftig haben? Welche Interpretationsweisen von Verantwortung werden in der realen Praxis von Führung in Organisationen eine Rolle spielen? Wird es darin Raum und Zeit geben, damit die Individuen ihr eigenes Denkvermögen und ihre Fähigkeiten gebrauchen können, um sich selbst zu emanzipieren? Wenn Selbstorganisationsprozesse sich zunehmend in formalen Settings wie Meetings, prozessualen Abstimmungen und im konkreten Arbeitshandeln abspielen, reicht es aus, lediglich diese Rahmung als Führung zur Verfügung zu stellen? Was geschieht in der Organisation, wenn sich die Grenzen zwischen informellen und formellen Prozessen verändern – und konterkariert Führung automatisch jedes dieser Ziele? Die „alten“ Humanisierungsziele – von flexiblen, selbstbestimmten Arbeitszeiten über Gruppenarbeit bis hin zu größerer Selbstorganisation und Selbstverantwortung – wurden bereits kurz angesprochen. Spielen diese Ziele noch eine erstrebenswerte Rolle oder werden sie von den Treibern „neuer“ Organisations- und Führungsmodelle abgelöst? Reicht es aus, im Stadium des Pendelns zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung zu verbleiben – einfach nur mit neuen Namen, oder ist der Wein in den neuen Schläuchen tatsächlich neu? Teil III – Mensch und Selbstorganisation Wie Individuen und Gruppen ihre Kooperation organisieren Selbstorganisation ist eine Denkweise und Haltung, die nicht einfach nur möglich macht, dass Abläufe innerhalb eines Rahmens existierender Verhältnisse gut funktionieren, sondern dass gerade dieser Rahmen selbst mitreflektiert und potenziell verändern wird. Eine so verstandene Selbstorganisation spiegelt dann eine grundsätzliche Betrachtungsweise von Ordnung und Unordnung wider, verbunden mit der Frage, was dadurch ermöglicht respektive verhindert, was sichtbar gemacht oder was verdeckt wird, was beibehalten oder was verändert werden soll. Wie weit wird der Mensch in der Selbstorganisation gehen, wie wird sich Selbstorganisation im Kontext von Organisationen verorten lassen, und welche Rolle wird sie in der Transformation der Ordnung der Arbeitswelt spielen? Wird sich Selbstorganisation lediglich pragmatisch als ein raffiniertes Verfahrensprinzip etablieren, das nach dem „Wenn-dann-Schema“ funktioniert, erlernt und angewendet werden kann? Oder steht Selbstorganisation zugleich für einen Diskurs, der über die Frage von optimaler

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Arbeitsteilung und Anpassung in Organisationen hinausgeht? Dann würde Selbstorganisation für eine menschliche Fähigkeit zur Emanzipation, Selbstermächtigung und Subjektivierung stehen. Teil IV – Digitalisierung und Selbstorganisation Die Zukunft von Kommunikation und Kollaboration unter digitalen Bedingungen Aus der Praxis und für die Praxis soll dargestellt werden, wie Selbstorganisation zukünftig verstanden werden kann, was der Stellenwert des Menschen ist, wie er seine Funktion in der Welt wahrnehmen und wie er gesellschaftliche Prozesse konstruieren, erfahren und verstehen kann. Über diesem vierten Teil steht die Frage, für welche Art von Macht Digitalisierung und Computerisierung steht? Was bedeutet es, wenn geistige Prozesse und das Denken mittels Algorithmen erfasst und ausgeführt werden? Ist das Sprechen über Selbstorganisation bereits ein Zeichen dafür, dass wir viel steuerbarer geworden sind? In welcher Weise schlägt die Digitalisierung einen verbindenden Bogen zwischen den rationalen, formalisierten und ordnenden Strukturen einerseits und den informalen, spontanen, sinn-, befriedigungs- und psychosozialen Prozessen innerhalb von Organisationen? Und wie genau würde der Brückenschlag aussehen? Noch ein Hinweis, bevor es losgeht Beim Lesen werden Sie feststellen, dass sich einige der Beiträge in ihren Sichtweisen bestätigen und ergänzen, andere wiederum völlig gegensätzliche Positionen vertreten. Diese Perspektivenvielfalt ist beabsichtigt und gewollt. Sie spiegelt sich zugleich in den vertretenen Disziplinen und dem spezifischen Theorie-Praxis-Bezug der Autorinnen und Autoren wider. Es geht uns daher nicht um die Vereinheitlichung einer Lehrmeinung, sondern darum, einen vielfältigen Diskurs anzustoßen. Wir wünschen viel Freude an der Lektüre! Basel im Mai 2019

Die Herausgeber Olaf Geramanis Stefan Hutmacher

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Status quo der Selbstorganisation 1

Zusammenarbeit 5.0 – die kooperative Dimension der neuen Arbeitswelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Olaf Geramanis

2

Selbstorganisation und organisationale Kriminalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Markus Pohlmann

3

Selbstorganisation und die Sinnfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Rüdiger Heinrich Jung

4

Teaminteraktionen als Ressource der Organisation – ein doppelt paradoxes Unterfangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Gerhard P. Krejci und Torsten Groth

5

Netzwerke brauchen Hierarchie. Warum Unternehmen weiterhin Hierarchien brauchen und was sie von der Frauenbewegung, von Don Corleone und vom Taoismus lernen können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Hans-Joachim Gergs und Arne Lakeit

6

Selbstorganisation in der Aktivgesellschaft – Konturen einer demokratischen Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Patrick Oehler

7

Selbstmanagement als Erfolgsfaktor von Selbstorganisation. . . . . . . . . . . . 99 Markus Sulzberger

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XIV

Inhaltsverzeichnis

Teil II  Führung und Selbstorganisation 8

Freiheiten bewusst organisieren – oder: Wie führe ich eine Organisation in die Selbstorganisation? Ansatzpunkte autonomiefördernder Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stephanie Kaudela-Baum und Marcel Altherr

9

Warum Sinn und das Management von komplexen Veränderungsprozessen zusammengehören. Ein Beitrag zur ko-kreativen Zukunftsgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Petra Künkel und Alina Grün

10 Mobiler, flexibler, selbstorganisierter – Führungstransformation als Voraussetzung für erfolgreichen Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Johannes Willms und Johann Weichbrodt 11 Wie Führung die Reaktionsfähigkeit auf die digitale Transformation entwickeln kann – „Creating Responsiveness for the Digital Transformation“ – das CReDiT-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Christiane Müller und Nina Haas 12 Unternehmensentwicklung in Zeiten hoher Dynamik. Vom „Wie?“ zum „Wer?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Gerhard Wohland 13 Vertrauen in Selbstorganisation: drei Seiten der Medaille. . . . . . . . . . . . . . 203 Claudius Fischli 14 Selbstorganisation braucht eine neue, eine horizontale Haltung zu Autorität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Frank H. Baumann-Habersack Teil III  Mensch und Selbstorganisation 15 Selbstorganisation und Eigensinn. Über die Unverfügbarkeit des Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Burkhard Bierhoff 16 Die Rückkehr des „Menschlichen“: Integration des Psycho-Sozialen, Emotionalen und Elementaren als Voraussetzung für gelingende Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Heiko Kleve

Inhaltsverzeichnis

XV

17 Wie sich Millennials und Nexters selbst organisieren: Generationen im Widerspruch. So reich und doch so arm. . . . . . . . . . . . . . 261 Karin Lackner 18 Selbst-Organisation, Subjektivität und das Soziale. Merkmale und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Bringfriede Scheu und Otger Autrata 19 Was bedeutet eigentlich Selbststeuerung in sozialen Systemen? Oder: Das gruppendynamische Training als Prototyp eines reflexiven Sozialsystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Karl Schattenhofer 20 Fiktion Selbstorganisation. Eine ästhetische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . 307 Stefan Hutmacher Teil IV  Digitalisierung und Selbstorganisation 21 Untergang oder neue Gestaltungsmöglichkeiten von Selbstorganisation in der VUCA-Welt? Konzeptionelle Überlegungen für das Morgen und das Übermorgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ulrich Lenz 22 Selbstorganisation in komplexen digitalen Arbeitswelten. . . . . . . . . . . . . . . 337 Daniel Thiemann, Madlen Müller und Arjan Kozica 23 Von der Information zur Orientierung. Zur (neuen) Rolle der internen Kommunikation in Selbstorganisationen. . . . . . . . . . . . 351 Constanze Jecker und Simone Huck-Sandhu 24 Die Rolle von Führungskräften und Berater/innen in digitalen Transformationsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Hüseyin Özdemir 25 Sensemaking in selbstorganisierten Produktentwicklungsteams. . . . . . . . . 385 Joris Wachter 26 Selbstorganisation am ICT Service Desk der SBB – ein Erfahrungsbericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Reto Schmid

Autorenverzeichnis

Marcel Altherr  Hochschule Luzern, Luzern, Schweiz Otger Autrata  Rottenburg-Feldkirchner Institut für subjektwissenschaftliche Sozialforschung, Feldkirchen, Österreich Frank H. Baumann-Habersack  Burgdorf, Deutschland Burkhard Bierhoff  BTU Cottbus-Senftenberg, Cottbus, Deutschland Claudius Fischli  L3 – Leadership Institut, Appenzell, Schweiz Olaf Geramanis  Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz Hans-Joachim Gergs  Nürnberg, Deutschland Torsten Groth  Münster, Deutschland Alina Grün  Collective Leadership Institute, Potsdam, Deutschland Nina Haas  Osb international systemic consulting, Wien, Österreich Simone Huck-Sandhu  Hochschule Pforzheim, Pforzheim, Deutschland Stefan Hutmacher  Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz Constanze Jecker  Hochschule Luzern, Luzern, Schweiz Rüdiger Heinrich Jung  Hochschule Koblenz, RheinAhrCampus Remagen, Remagen, Deutschland Stephanie Kaudela-Baum  Hochschule Luzern, Luzern, Schweiz Heiko Kleve  Private Universität Witten, Witten, Deutschland Arjan Kozica  ESB Business School, Reutlingen, Deutschland Gerhard P. Krejci  Wien, Österreich Petra Künkel  Collective Leadership Institute, Potsdam, Deutschland XVII

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Autorenverzeichnis

Karin Lackner  Institut für Organisationsdynamik, Wien, Österreich Arne Lakeit  Ingoldstadt, Deutschland Ulrich Lenz  Hochschule für angewandtes Management, Ismaning, Deutschland Christiane Müller  Osb international systemic consulting, Wien, Österreich Madlen Müller  ESB Business School, Reutlingen, Deutschland Patrick Oehler  Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz Hüseyin Özdemir  Oezpa Akademie & Consulting, Bornheim-Walberberg, Deutschland Markus Pohlmann  Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Karl Schattenhofer  TOPS München Berlin e.V., München, Deutschland Bringfriede Scheu  Fachhochschule Kärnten, Feldkirchen, Österreich Reto Schmid  SBB, Bern, Schweiz Markus Sulzberger  SGO-Verein, Glattbrugg, Schweiz Daniel Thiemann  ESB Business School, Reutlingen, Deutschland Joris Wachter  München, Deutschland Johann Weichbrodt  Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten, Schweiz Johannes Willms  Göttingen, Deutschland Gerhard Wohland Institut für dynamikrobuste Organisation (IdO), Stuttgart und Mainz, Deutschland

Teil I Status quo der Selbstorganisation

Selbstorganisation zwischen Individuum, Organisation und Gesellschaft Früher war von Position, Arbeitsrolle und Stelle die Rede; heute tauchen Begriffe wie Person, Konsens, Kollaboration sowie Motivation, Intuition und sogar Spiritualität auf. Alle diese Begriffe verweisen auf den Menschen selbst und infolgedessen bekommt die Reibungsfläche zwischen Mensch und Organisation etwas sehr Unmittelbares. Der Spruch „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ hat sich damit weitgehend überholt. Die Balance von dienstlich und privat, von Nähe und Distanz ist unklar geworden. So sprach Richard Sennett bereits 1974 von der Tyrannei der Intimität, und die Besessenheit davon galt ihm als Indiz für eine „unzivilisierte Gesellschaft“. Ist damit die Zurschaustellung von emotionaler Intelligenz in Arbeitskontexten bereits unzivilisiert? Wie viel Unmittelbarkeit müssen wir zulassen, tut uns gut, ist notwendig? Der erste Teil widmet sich daher der Frage, inwieweit sich individuelle Haltungen ebenso wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen über die Zeit hinweg grundlegend geändert haben – oder auch nicht. Ist Arbeit tatsächlich signifikant komplexer und subjektiver geworden? Was sind die Gründe dafür, dass Organisationen einerseits den Umgang mit Komplexität erproben wollen und andererseits nach wie vor bloße Funktionalität und Hierarchie in den Vordergrund stellen? Woran scheitern die sogenannten „menschlicheren“ Modelle, und um welche Werte ging und geht es eigentlich – bzw. inwiefern spielen Werte überhaupt eine Rolle?

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Zusammenarbeit 5.0 – die kooperative Dimension der neuen Arbeitswelt Olaf Geramanis

„Die Überlieferung liefert uns nicht einem Zwang des Vergangenen und Unwiderruflichen aus. Überliefern, délivrer, ist ein Befreien, nämlich in die Freiheit des Gesprächs mit dem Gewesenen.“ Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie? (1956) Zusammenfassung

Es wäre fatal, Digitalisierung allein auf ihre technische Dimension reduzieren zu wollen. Die Art und Weise, wie Menschen innerhalb von Organisationen miteinander kooperieren, kommunizieren und sich gegenseitig vertrauen, gehört essenziell dazu. Technik allein, ebenso wie alle Methoden oder Tools, öffnet nur bedingt den Weg dafür. Die Neudefinition von Arbeit und damit zusammenhängend den Führungsaufgaben ist nicht denkbar ohne das Thema Selbstorganisation. Das gemeinsame Arbeiten aller Beteiligten auf Augenhöhe scheint in greifbarer Nähe. Die zentrale Frage lautet: Was macht vertrauensvolle Zusammenarbeit wahrscheinlich und unter welchen Bedingungen sind die Individuen willens und in der Lage, sich in der notwendigen Offenheit aufeinander einzulassen? Dazu wird im Beitrag ein Modell vorgestellt, das zeigt, wie in jeder der vier Industriestufen jeweils kooperiert wurde bzw. wird. Die aktuelle Herausforderung in selbstorganisierten Teams besteht darin, dass sich jedes dieser Teams eigene und für die Situation stimmige Formen der Kooperation selbst und immer wieder neu erarbeiten muss. Diesen Herausforderungen geht der Beitrag nach und bietet einen Ausblick darauf, was zum Gelingen beiträgt und was eher nicht.

O. Geramanis (*)  Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_1

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1.1 Gemäßigt radikal – bedingt disruptiv. Wie sich Organisationen verändern Auf Kongressen, in Fachzeitschriften und in den sozialen Netzwerken wurde die traditionelle und hierarchische Organisation im Zeichen von Digitalisierung und Globalisierung längst für tot und passé erklärt. Es mag deshalb überraschen, dass es solche Organisationen überhaupt noch gibt. Es heißt, dass die Zukunft der „agilen“ Organisation dem „demokratischen“ Unternehmen und einer neuen Art des Arbeitens in Netzwerken gehört. Dieses Narrativ, dass der stattfindende Wandel viel radikaler ist und schneller Raum greift, als wir das jemals vermutet hätten, scheinen wir bereits gar nicht mehr zu hinterfragen, und wir haben ebenso eingesehen, dass diese Disruption noch gar nicht wirklich in unseren Köpfen angekommen ist. So weit – so populär; schließlich müssen ja Fachzeitschriften verkauft und Beratungsmodelle an den Mann und die Frau gebracht werden. Je einhelliger die schöne neue Arbeitswelt offenbar akzeptiert wird, desto eher drängt sich der Verdacht auf, dass sich Parallelwelten aufbauen: Auf der einen Seite scheint es, als hätten wir uns vollauf mit den Konsequenzen einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft abgefunden. Auf der anderen Seite folgen wir nach wie vor unbekümmert den ausgetretenen Pfaden der Industriegesellschaft mit ihrem Paradigma der Massenproduktion und Massensteuerung. Die Radikalität einer neuen Arbeitswirklichkeit wird wohl eher beschworen, als dass sie tatsächlich gelebt wird oder Eingang in das reale Handeln der Individuen gefunden hätte. Was nicht verwundert, schließlich bleiben wir stets an unsere Muster gebunden – und sei es auch nur dialektisch. Auf Zentralisierung folgt Dezentralisierung, auf Hierarchie Heterarchie – das ist nur bedingt radikal. Aber wodurch genau sollten sich demokratische Unternehmen auszeichnen, und wie „anders“ sollten die Mitarbeitenden darin miteinander umgehen? Wie soll das, was unter „Agilität“ verhandelt wird, in den Köpfen implementiert werden, und welche Kooperationsdynamik verbirgt sich dahinter? In diesem Beitrag soll es um die Interdependenz von Organisationssystem und individueller Kooperationsbereitschaft gehen. Die Frage lautet: Unter welchen organisationalen Bedingungen ist es wahrscheinlich, dass Individuen optimal im Sinne der Unternehmensziele kooperieren, und auf welche Erfahrungen können wir diesbezüglich zurückgreifen?

1.1.1 Dienstleistungsgesellschaft Industriearbeit war und ist Transformation von Materie: Der Produktionsprozess formt nicht nur das Produkt, sondern zugleich die Haltung der Arbeitenden. Der Grundlehrgang „Eisen erzieht“ genoss in der NS-Zeit besondere Aufmerksamkeit, weil die Eisenbearbeitung für die angestrebte Förderung kämpferischer Qualitäten und die Erzeugung von Arbeitsdisziplin von unübertrefflichem Wert zu sein schien. Die Tugenden, die mit

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dem disziplinierenden Grundlehrgang angestrebt und gefördert werden sollten, waren: Exaktheit, Sauberkeit, Zuverlässigkeit, Härte, Zähigkeit, Willensstärke, Hingabebereitschaft, Opferwilligkeit und Einsatzbereitschaft (vgl. Kipp 2005). So sahen damals Schlüsselkompetenzen aus, und ein Teil dieser „Tugenden“ wird nach wie vor verlangt. In Zeiten der Massenproduktion ist man an standardisierte Produkte gewöhnt. Die Form der Arbeit ist durch den maschinenmäßig strukturierten Massenherstellungsprozess bestimmt. Die Konsumenten sind keine Kunden, sondern Abnehmer, so wie die Industriewirtschaft eine Absatzwirtschaft ist: Produkte werden auf der Grundlage von Marktforschungsdaten entwickelt und produziert, dann abgesetzt, die Konsumenten werden sie schon abnehmen. Das Ideal dieser Wirtschaftsformation ist die economy of scale: Die Produktionskosten pro hergestellter Einheit nehmen mit zunehmender Produktionsmenge ab. Aus der Tradition der Industriearbeit kommend, haben funktional-hierarchische Organisationen drei Lücken, die einer unmittelbaren Ausrichtung auf den Kunden grundlegend im Weg stehen: 1) Eine zeitliche Lücke, da aufgrund der Trennung von Planung und Ausführung Verzögerungen entstehen. 2) Eine funktionale Lücke, weil die ausgeprägte Arbeitsteilung dazu führt, dass nur wenige Mitarbeitende direkten Kontakt zum Kunden haben und von seinen Bedürfnissen eher selten erfahren. 3) Oft wird die Organisation als Apparat betrachtet. Das lässt sie kalt und sperrig erscheinen. Wenn man das Eisbergmodell zur Illustration nimmt, dann wird die Bedeutung all jener Elemente, die sich unter der Wasseroberfläche befinden – und das sind fast alle sozialen Phänomene und emotionalen Motive –, stark unterschätzt. Dies führt vor allem zu einer sozialen Lücke. Wenn nun davon die Rede ist, dass sich diese Industriegesellschaft auflöst, dann bedeutet das nicht, dass sich die Industrie an sich auflöst. Aber sie definiert nicht mehr dominant die Wirtschaft und das Arbeitshandeln. Die mehr oder weniger herkömmlich organisierte Industrie verlagert sich stattdessen in andere Weltgegenden. An ihrer Stelle bildet sich bei uns einerseits eine Konsumgesellschaft aus, die mit einem unüberschaubaren Warenangebot konkurrierender Marken aufwartet, und andererseits das, was wir etwas plakativ „Dienstleistungsgesellschaft“ nennen. Dadurch kehrt sich die Wertschöpfungskette um und damit auch die Richtung der Leistungserbringung. Das, was gewünscht wird, ist nicht mehr durch das bestimmt, was geliefert wird. Infolgedessen haben wir es immer weniger mit vorgeformten Angeboten zu tun, stattdessen braucht es eine flexible Reaktion auf die Märkte, das heißt auf das, was Abnehmer (Unternehmer, Konsumenten) wünschen. Das bedeutet: Produktlebenszyklen beschleunigen sich und Leistungsanforderungen ändern sich. Produkte und Leistungen werden individualisiert. Damit entstehen hochdifferenzierte und diversifizierte Märkte und Marktdynamiken. Diese stärkere Orientierung am Kunden und dessen individuelle Wünsche erfordert eine zunehmend flexible Organisationsform, die den Ablauf stärker in den Blick nimmt als den Aufbau und den Prozess stärker als die Hierarchie. Konkret heißt dies, dass es in der Betriebs- und Arbeitsorganisation primär um Kommunikation und nicht mehr um Produktion geht.

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1.1.2 Die Führung wandelt sich Dieser Wandel hat sich nicht erst in den letzten Jahren ereignet. Bereits in den 1990er Jahren vollzog sich eine erste große Veränderung, was die Anforderungen an Vorgesetzte und deren Führungsverhalten in Unternehmen anging. Die „neuen“ Ansprüche der sich bereits damals globalisierenden Märkte zwangen die Unternehmen, neue Möglichkeiten in der Flexibilisierung der Prozesse und der Innovationsförderung zu suchen, um die betriebliche Anpassungsfähigkeit zu erhöhen. Durch Dezentralisierung wurden die hierarchischen Ebenen des Unternehmens abgebaut und damit „flachere Organisationen“ mit kürzeren Informations- und Entscheidungswegen und reduziertem Führungskräftebedarf geschaffen. „Lean“ lautete das Zauberwort, und projekt- und teamorientierte Arbeitsformen forderte und förderte bereits eine Stärkung der Autonomie und Eigenverantwortung der Mitarbeitenden und die Delegation von Entscheidungskompetenzen und Führungsverantwortung „nach unten“. Bereits zu dieser Zeit belegte die empirische Forschung, dass Leitmodelle kooperativer oder partnerschaftlicher Führung eine größere Rolle spielen als die Konzepte, die sich auf autoritäre Durchsetzung richten. Unternehmen verabschieden sich vom lange gültigen Primat der bewährten Organigramme und setzen verstärkt auf komplexere Modelle wie Matrixorganisation und Projektstruktur, die jeweils bereits einen erhöhten Kommunikationsaufwand erfordern. Führungskräfte verlagern mehr und mehr Entscheidungs- und Gestaltungskompetenz in die Teams, und soweit es nützlich erscheint, binden die Unternehmen Kunden und Lieferanten in den Produktionsprozess ein. Statt auf fest geregelte Arbeitszeiten und Anwesenheitspflicht setzen die Unternehmen wie die Führungskräfte auf mobile Arbeitsplätze, virtuelle Teamarbeit und Arbeitszeitkonten bei freier und selbstverantwortlicher Zeiteinteilung. Die Veränderung von Führung verläuft in Richtung zu mehr Verständigung, mehr Abstimmung, mehr Einbeziehung, mehr Vermittlung und in diese Richtung wird es weitergehen. In der Zukunft werden Verantwortungsbewusstsein, Kreativität, Eigeninitiative, Risikobereitschaft, Teamfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit eine zentrale Rolle bei der Auswahl der Mitarbeitenden spielen. Diese Verhaltensweisen stärken Flexibilität und Engagement und dadurch die Innovationskraft des Unternehmens, erfordern aber ein Umdenken bei den Führungskräften – über die bislang bekannten Führungsinstrumente hinaus.

1.2 Wenn sich die Organisation verändert, ändert sich die Kooperation 1.2.1 Wofür steht Industrie 4.0? Die Arbeitswelt verändert sich und ehe wir es merken, sind wir bereits in der Industrie 4.0 angekommen. Was es mit diesem Begriff, der an Software-Entwicklung erinnert, auf

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sich hat, erfährt man, wenn man die Art und Weise betrachtet, wie sich die Arbeit im Wechselspiel von technischen Neuerungen jeweils angepasst und verändert hat. Die genauen Start- bzw. Wendepunkte lassen sich eher schwer lokalisieren, weil Übergänge stets fließend und überlappend sind. Die erste Stufe lässt sich als „Mechanisierung“ bezeichnen und wird gern beim ersten mechanischen Webstuhl im Jahr 1784 festgemacht sowie allgemein bei den mechanischen Produktionsanlagen, die mithilfe von Wasser- und Dampfkraft betrieben wurden. Dadurch wurde die Mechanisierung von Handarbeit durch Maschinen möglich. Die zweite Stufe, Industrie 2.0, war mit der Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe von Fließbändern erreicht – mit dem Startpunkt 1870 in den Schlachthöfen von Cincinnati, mithilfe von elektrischer Energie. Prägend waren die von Frederick W. Taylor entwickelten Prinzipien der industriellen Arbeitsorganisation (Taylorismus) und das durch Henry Ford eingeführte Fließband innerhalb der Produktion. Die dritte Stufe, Industrie 3.0, führt durch Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Rationalisierung und Automatisierung der Produktion. Die erste speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) wurde 1969 eingeführt. Dies führte zum einen zur weiteren Rationalisierung und zum anderen zur Einführung variantenreicher Serienproduktionen. Nach der Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung steht nun im Rahmen von Industrie 4.0 die vierte Stufe an: Die Vernetzung der Produktionsprozesse. Durch intelligente Vernetzung sollen Wertschöpfungsprozesse in Echtzeit geplant und gesteuert werden. Dadurch verspricht man sich flexiblere und effizientere Produktionsprozesse. Erstmals wurde der Begriff Industrie 4.0 im Jahr 2011 zur Hannover-Messe in der Öffentlichkeit verwendet. Seitdem arbeiten zahlreiche Verbände, Plattformen und Institutionen an der Umsetzung von Industrie 4.0.

1.2.2 Das Vier-Felder-Modell der Koordination von Arbeit Von Walter Benjamin stammt aus dem Jahr 1935 die Aussage: „Wann immer sich die Medien ändern, ändert sich die Gesellschaft“. So lässt sich am Beispiel des Mediums Internets aufzeigen, wie eine ständig steigende Vernetzung der Marktteilnehmer deren Kommunikation untereinander beschleunigt, was zur Folge hat, dass Bestehendes immer schneller an Aktualität verliert, was zugleich einen massiven Wandel in Gesellschaft und Wirtschaft zur Folge hat. Korrespondierend zu den vier Industriestufen gibt es auch jeweils unterschiedliche Erwartungen an die Mitarbeitenden und an die Art der Zusammenarbeit. In jeder Phase entwickeln sich spezifische Strukturen, die sich unterschiedlich auf die Zusammenarbeit auswirken. In einer arbeitsteiligen Massenproduktion werden die Individuen anders miteinander umgehen als in einer Organisation, die über ein Netz gut abgestimmter kleiner und hochfunktionsfähiger Einheiten verfügen muss, um am Markt bestehen zu können. Tatsächlich sind diese Unterschiede der Koordination von Zusammenarbeit bedeutsam.

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Anhand eines Modells sollen mithilfe von zwei Kriterien vier Arten der Zusammenarbeit voneinander unterschieden werden. Die beiden Kriterien lauten:1 1. Wie intensiv bzw. lose ist die Stärke der Arbeitsbeziehungen? 2. Werden die Individuen vom Organisationssystem als Objekte oder als Subjekte wahrgenommen? In einer der ersten ausdrücklich netzwerktheoretischen Arbeiten hat der US-amerikanische Soziologe Mark Granovetter „The Strength of Weak Ties“ (1973) die Kraft von schwachen Beziehungen und deren Bedeutung für die Gesellschaft untersucht („strong and weak ties“). In seiner Beschreibung gibt es einerseits Netzwerke, in denen die Menschen starke Verbindungen haben, wie beispielsweise enge Freundschaften. In anderen Netzwerken haben die Individuen eher schwache Verbindungen und kennen sich nur oberflächlich. Granovetter definiert die Stärke von Verbindungen als eine Kombination von vier Komponenten, die die Beziehung charakterisieren: 1) die Menge an Zeit, welche die Personen miteinander verbringen; 2) der Grad der emotionalen Intensität der Beziehung; 3) die Intimität im Sinne eines gegenseitigen Vertrauens und 4) die Art der reziproken Hilfeleistungen. Granovetter fand nun heraus, dass gerade schwache Verbindungen für den Erfolg der Akteure in einem Netzwerk sorgen. Damit ist nicht etwas Normatives gemeint, wie etwa: Innerhalb von Arbeitsbeziehungen sollten die Bindungen immer eng oder – umgekehrt – immer lose sein. Stattdessen geht es um die Frage, in welchem Arbeitskontext welche Bindungsintensität eher zuträglich oder abträglich ist. Das zweite Kriterium betrifft den Aspekt, inwieweit die Individuen als Subjekte bzw. als Objekte wahrgenommen werden. Die Grundlage für diese Unterscheidung liegt in den Argumentationen rund um das Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft, das durch Ferdinand Tönnies (1991) eingeführt und von Max Weber aufgegriffen wurde. Infolgedessen unterscheidet Georg Simmel (1992) in seiner relationalen Soziologie zwischen organischen und rationalen Kreisen. Organische Kreise sind die Familie, in die das Individuum hineingeboren wird, und die Nachbarschaft. Diese Kreise sind konzentrisch. Wer zum engeren Kreis gehört, zählt auch zum weiteren, aber nicht umgekehrt. Rationale Kreise sind militärische, ständische oder unternehmerische Organisationen. Hierbei erfolgt die Gruppenbildung aufgrund bewusster Entscheidungen und rationaler Zusage. Für meine Argumentation ist folgende Gegenüberstellung geeignet: Wir sprechen von Subjektorientierung als Arbeitsform, die den „organischen Kreisen“ entspricht – hier steht das Subjekt im Vordergrund; und von Objektorientierung im Sinne der rationalen Kreise, bei denen das Individuum „Mittel zum Zweck“ ist.

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dem vierstufigen Modell beziehe ich mich auf Helmut Wiesenthal (2000), der die drei Verfahren Markt, Organisation und Gemeinschaft als „zweitbeste“ Verfahren sozialer Koordination untersuchte.

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Wie in Abb. 1.1 zu erkennen ist, ergeben sich aus der losen bzw. starken Dichte, die innerhalb der Beziehungen wirkt, und aus der Subjekt- bzw. Objektorientierung vier unterschiedliche Koordinationsmuster. Diese Muster stellen eine Rahmung dar; sie geben die Art und Weise vor, wie die Zusammenarbeit unter den gegebenen Bedingungen koordiniert wird, und steuern darüber das Handeln der Individuen innerhalb der Organisationsform. Dabei geht es zum einen um Koordinationsstrukturen; sie beziehen sich auf die Frage, in welcher Konstellation die Individuen einander zugeordnet sind. Zum anderen geht es um die in dieser Struktur möglichen Spielräume, das heißt um die Interaktionsprozesse, in denen die Individuen wechselseitig aufeinander Bezug und Einfluss nehmen. Die vier Muster bieten für die Individuen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten an, ohne die Handlung selbst zu determinieren. Sie teilen den Individuen auf struktureller Ebene Kompetenzen und Ressourcen zu, regulieren den Zugang zu Entscheidungen und beeinflussen dadurch bis zu einem gewissen Grad die individuelle Handlungssteuerung. Sie setzen einen Rahmen für die Handlungskoordination, in dem bestimmte Entscheidungsspielräume verbleiben. Das Modell besagt nicht mechanistisch, dass sich die Individuen zwingend auf die jeweils dargestellte Art und Weise verhalten – stattdessen geht es um die Idee „plausiblen Verhaltens“: Von diesem Verhalten kann aufgrund von individuellen Entscheidungen stets abgewichen werden (siehe Tab. 1.1). Das Modell kann in Anlehnung zu den zuvor beschriebenen Industriestufen gelesen werden, wobei ein Muster weniger einer ganzen Epoche der industriellen Entwicklung

Abb. 1.1   Die vier Koordinationsmuster von Kooperationen

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Tab. 1.1  Zusammenfassung – Vier-Felder-Modell der Koordination von Arbeit Unterscheidung

Gemeinschaft

Hierarchische Organisation

Markt

Netzwerk

Beziehungsart und Kollaboration – Abhängigkeit wechselseitig abhängig

Kooperation – Tausch – abhängig von unabhängig in oben nach unten Konkurrenz

Opportunität – interdependent

Konfliktlösung und Treue und Pflicht – Sanktionierung Ausschluss

Anweisung Feilschen und Reziprozität – und Kontrolle – Verträge – ReputationsverStrafe Rechtsprechung lust

Steuerungsmedium Liebe und affektive Zugehörigkeit; soziale Normen

Macht und Hierarchie; Gehorsam

Preise; Anreiz und Kontrolle

Können und Beziehungen; Kooperation und Konkurrenz

Kommunikationsmedium

Familial; Leistungen Hierarchisch; für Gemeinwohl Position und Befolgung von Regeln

Geldwertig; Angebot und Nachfrage

Strategisch; Allianz und Anschlussfähigkeit

Flexibilitätsgrad

Niedrig

Niedrig

Hoch

Mittel

Klima und Atmosphäre

Genealogisch; emotional, Gesetz des Wiedersehens

Bürokratisch; Effizient; genau Opportunistisch; formal/diszipli- und/oder miss- „open-ended“ niert trauisch

als einem Typus von Unternehmen entspricht. Ebenfalls darf die „Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem“ nicht außer Acht gelassen werden. Alle vier Muster finden sich in unterschiedlichen Anteilen überall wieder.

1.2.3 Koordinationsmuster: Gemeinschaft Wie soll man sich die Koordination von Arbeit Ende des 18. Jahrhunderts vorstellen? Per Gesetz bestand in der Schweiz bis ins Jahr 1798 der Zunftzwang, in Preußen wurde er 1810, in Bayern erst 1868 aufgehoben. Die Bezeichnung „Zunft“ für gewerbliche Verbände findet sich für den deutschsprachigen Raum erstmals 1226 in Basel. In Norddeutschland wurden die Zünfte als Gilden und am Niederrhein als Gaffeln bezeichnet. Soziale und karitative Aktivitäten bildeten einen wesentlichen Teil des zünftigen Selbstverständnisses. Rituelle Mahlzeiten, Feste und öffentliche Anlässe dienten der Stärkung der Solidarität unter den Mitgliedern und der Repräsentation zünftiger Identität und Geschlossenheit nach außen. Die Zulassungskriterien hingen von ehelicher Geburt und Ehrlichkeit ab. Weitere Vereinigungen nannten sich Brüderschaft (fraternitas), Genossenschaft (societas), geschworene Einung (unio, conjuratio) oder Innung. Man stieg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister auf. Die Übergänge waren von bestimmten Ritualen begleitet. Dieses Modell war zuvorderst ein familiales Erziehungs- und dann

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erst Ausbildungskonzept. Der Zweck war ursprünglich auf die Gemeinschaft gerichtet: Fürsorge für das gleichartige Gewerbe und Verfolgen von politischen und kriegerischen, religiösen und sittlichen sowie rechtsgenossenschaftlichen Zwecken. Derartige Gemeinschaften funktionieren über Subjektorientierung, indem sie an der ganzen Person anknüpfen, und über enge und restriktive Beziehungskonstellationen. Die spezifische Stärke der Gemeinschaft beruht auf Begriffen wie Reziprozität und Vertrauen. Eine solche Gemeinschaft beinhaltet einen askriptiven Mitgliedschaftsstatus, das Prinzip der spontanen Solidarität, die Ressource Vertrauen sowie die Geltung binnenmoralischer Prinzipien und sozialer Normen. Hier steht die Mitgliedschaft weder in zeitlicher noch in personeller Hinsicht zur Disposition. Der Zusammenhalt verdankt sich weder expliziten Regeln noch Verträgen, sondern einem diffusen Bündel von impliziten Erwartungen und Deutungen, denen geteiltes Wissen unterstellt wird. Solche Gemeinschaften lassen sich nicht willkürlich und via Teamentwicklung „herstellen“. Die familiale Geschichte ist das „Material“, aus dem sich die gegenseitigen Erwartungen speisen. Nach Peter Fuchs (2014) ist „Familie“ seit der Romantik der Archetyp für die „Erzwingbarkeit nicht erzwingbarer Leistungen“. Und „Liebe“ ist die Aufforderung, dass sich die Liebenden „wechselseitig Höchstrelevanz zuweisen müssen“. Durch derart paradoxe Aufforderungen wird Freiwilligkeit zur sozialen Pflicht gemacht. Die Bedingungen der Möglichkeit von Gemeinschaft erweisen sich als sehr restriktiv, als äußerst anspruchsvoll und exklusiv, gemessen an dem, was die moderne Gesellschaft jedem an Freiheitsgraden zugesteht. Das Moment der individuellen Wahlfreiheit ist dem Wohl der Gemeinschaft untergeordnet. Wenn wir heute oft und gern den Begriff der „Community“ bemühen, dann sollte dabei bedacht werden, dass dieser Begriff sich auf eben diese Form von Gemeinschaft – als Gesellschafts- und Organisationsform – bezieht. Immer dann, wenn das „CommunioKonzept“ bemüht wird, finden wir uns bei dem wieder, was im Altlateinischen „Kommunion“ bedeutet: nämlich „jemanden mitverpflichten“, „ein Mitleistender sein“. Hinter Begriffen wie Community, Familie, Team, Kollektiv, Kommune verbergen sich Unifikationskonzepte. Wenn wir also tatsächlich das „Community-“ oder „Gemeinschaftskonzept“ anstreben, dann ist es konsequent, ein bestimmtes Maß an Loyalität und Treue von den „Mitarbeitenden“ zu erwarten; demgegenüber müsste aber auch die Organisation verlässlich ihren Teil beitragen und beispielsweise eine lebenslange Zugehörigkeit zusichern.

1.2.4 Koordinationsmuster: hierarchische Organisation Die hierarchische Organisation funktioniert über Objektorientierung und enge formale Beziehungskonstellationen. Die hierarchische Organisation in ihrer funktionalen Ausrichtung bildet einen deutlichen Gegenpol zur personenorientierten Gemeinschaft und damit zu einer meist patriarchalen (Willkür-)Herrschaft innerhalb familialer Arbeitsformen. Die Merkmale des „Idealtypus der Bürokratie“ lauten: Arbeitsteilung, die auf

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funktionaler Spezialisierung beruht, sowie genau fixierte und zugestandene Autoritätshierarchien. Es ist ein System enger Regeln und Verfahrensweisen, das Rechte und Pflichten der Positionsinhaber äußerst verbindlich und restriktiv festlegt. Die Beziehungen sind eng gesteckt, aber auf objektive Kriterien gestützt, sodass Beförderung und Auslese offiziell aufgrund fachlicher Qualifikationen stattfinden. 1911 begründete Frederick Winslow Taylor seinen Ansatz des „scientific management“. Grundlegend dafür war die Erkenntnis, dass industrielle Arbeitsprozesse bis dahin unzulänglich strukturiert und die Arbeiter schlecht ausgebildet waren. Die Organisation von Produktionsprozessen sollte für den großen amerikanischen Massenmarkt tauglich gemacht werden. Der Weg führte über die Objektivierung von Arbeit durch horizontale und vertikale Spezialisierung. Horizontale Spezialisierung impliziert Arbeitsvereinfachung: Wenig qualifizierte Arbeitskräfte können parallel eingesetzt werden. Vertikale Spezialisierung bedeutet Arbeitsverteilung durch Trennung von Planungs-, Anweisungs- und Überwachungsaufgaben sowie Ausführung. Im Zentrum der Managementfunktionen stehen Planung, Organisation und Kontrolle, um einen möglichst effizienten Arbeitsvollzug zu gewährleisten. Die humane und soziale Dimension wird auf die Erfüllung der Bedürfnisse der Arbeitnehmer in Bezug auf ihre faire Behandlung und gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten reduziert. Durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden wird das bürokratische Unternehmen systematisch, planmäßig und berechenbar organisiert und geführt. Die Arbeitsprozesse sind funktional und hierarchisch geregelt. Die Arbeit in tayloristisch-fordistischen Organisationen ist durch Spezialisierung, Standardisierung und Formalisierung gekennzeichnet. Die Arbeitskräfte sind für das System „austauschbar“, die Zuständigkeiten fest geregelt, die Privatsphäre ist von der Arbeitssphäre getrennt. Bürokratische Hierarchie beruht auf einem institutionalisierten Über-/Unterordnungsverhältnis, das die Handlungsautonomie der untergeordneten Akteure entscheidend einschränkt. Es wird über eine hoheitliche Weisung geführt, der sich die Individuen unterwerfen müssen. Um die gewählten Ziele zu erreichen, können die Individuen gezwungen werden, gegen ihre Präferenzen und Interessen zu handeln, was bis zur Androhung bzw. zur Anwendung von physischer Gewalt führen kann. Die hierarchisch verfasste Organisation koordiniert mittels Autorität und Zwang, nach bürokratischen Regeln sowie unter Einsatz von positiven und negativen Sanktionen. Es existiert eine einseitige Abhängigkeit entlang der Hierarchie von oben nach unten, die mit generellen Verpflichtungen einhergeht, die über den Arbeitsvertrag kündbar sind. Interessanterweise fühlen sich die Mitarbeitenden trotz aller Objektivität und Formalität nach wie vor sehr stark an die Organisation – oder zumindest ihre patriarchale Struktur gebunden. Lebenslange Zugehörigkeiten, hohe Identifikation mit der Organisation sind üblich: Es gibt die „Siemensianer“ und die „Mieleianer“ und es gab die „Pöstler“, von denen es hieß, dass gelbes Blut durch ihre Adern fließe, was deutlich macht, wie stark der Bezug zur Gemeinschaft sein konnte. Allerdings sind in derartigen Konstellationen Autonomie und Selbstverantwortung keine Themen. Wenn Mitarbeiter „unbotmäßig“ reagieren, gibt es Druck „von oben“. Die darauffolgenden Sanktionen beantworten die Mitarbeitenden wiederum mit „Rache“,

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was mit noch härteren Sanktionen abgestraft wird und so weiter. So neigt das System dazu, dass sich beide Seiten in Verhaltensmustern verfangen, die sich nur noch um Dominanz drehen. Die Autoritätsperson wird letztlich zum Sklaven ihrer eigenen Autorität. Das gilt auch noch für das 21. Jahrhundert. Nach Richard Sennett hat als alltägliche Form von Bestrafung innerhalb „klassischer Organisationen“ „das Schamgefühl in den westlichen Gesellschaften den Platz der Gewalt eingenommen“ (Sennett 2008, S. 125). Beschämung ist im Sinne der autoritären Führung die stärkste und (indirekt) legitimierte Form der Bestrafung. Sind Mitarbeiter Beschämungen und Erniedrigungen jedoch wiederholt ausgesetzt, kann das Gefühl verloren gehen, überhaupt noch eine eigene Würde zu haben. Der Mitarbeiter fühlt sich klein, die Führungskraft wirkt dadurch größer und mächtiger. Die Folge: Die Beziehungsebene wird gestört oder sogar nachhaltig beschädigt (vgl. Baumann-Habersack 2017, S. 109). Formale Organisationen bieten insoweit ein gewisses Mindestmaß an operativer Zuverlässigkeit, aber taugen nur für einigermaßen „sichere“ und stabile Umwelten. Hohe Umweltunsicherheit erfordert dagegen regelmäßig eine Verminderung des Redundanzgrades von Normen und Regeln, das heißt die Flexibilisierung von Struktur und Programm aufgrund von abstrakten Prämissen.

1.2.5 Koordinationsmuster: Markt Nicht erst seit Anfang der 1980er Jahre stoßen die an Taylors Prinzipien orientierten Arbeitsprozesse an ihre Grenzen (Man denke hierbei das Hawthorne-Experiment und die Human-Relations-Bewegung der 1920er Jahre). Die durch die Massenproduktion entstandenen Sättigungstendenzen der Märkte, die steigende Konkurrenz und die veränderten Kundenanforderungen machen eine größere Produktvielfalt, höhere Produktqualität und kürzere Innovationszyklen erforderlich. Die zunehmende Variabilität und Turbulenz der Nachfrage weisen die bürokratisch-tayloristischen Organisationsstrukturen als zu starr und kostenträchtig aus. Die Krise der 1990er Jahre wird als Wendepunkt angesehen. Damals zeigte sich in vollem Umfang und flächendeckend die Notwendigkeit neuer Anpassungsstrategien für Betriebe. Die Unternehmen sind fortan gezwungen, Organisationsstrukturen und Produktionsprozesse zu flexibilisieren und Innovationsmöglichkeiten zu fördern, wo immer möglich. Das „neue“ Koordinationsmuster der Zusammenarbeit ist das des Marktes. Den Markt an sich gab es schon lange zuvor, neu ist, dass es innerhalb von Betrieben in großem Stil zur Einführung marktförmiger Koordinationsmuster kommt. Ganz allgemein beruhen Märkte auf Verträgen, das heißt auf formalisierten Tauschbeziehungen. Individuen treffen aufeinander, stehen sich formal gleichberechtigt gegenüber und schließen Verträge. An der Börse geht das oft automatisiert und sehr schnell, anderswo gibt es langwierige Verhandlungen um Vertragsformulierungen und Konditionen. Generell wird auf dem Markt immer wieder alles neu verhandelt und vertraglich vereinbart. Es sollten so wenig Abhängigkeiten wie möglich (bspw. finanzieller, moralischer

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oder familiärer Art) zwischen den Beteiligten existieren. Deswegen sind Märkte dynamisch und flexibel. Unter derartigen Wettbewerbsbedingungen erfolgt die Koordination der Zusammenarbeit über die Konkurrenz zwischen den Individuen bzw. ihren Leistungen. Märkte sind unpersönliche, anonyme und dezentrale Regelungsmechanismen, was eine lose Bindungsstruktur bedeutet. Unter der Unpersönlichkeit des Marktes ist der Sachverhalt zu verstehen, dass der Markt ohne Ansehen der Person „operiert“. Die Subjektivität der Verkäufer und Käufer spielt keine Rolle. Der Markt begünstigt nicht nach Herkunft, Position, Amt oder persönlichen Qualitäten und zieht eine scharfe Trennungslinie zwischen Personen, die eine Leistung erbringen, und dieser Leistung selbst. Nur auf die Letztere kommt es an. Die Rationalität der Märkte bedeutet, dass sich die Marktteilnehmer bei ihren Kauf- und Verkaufsentscheidungen ausschließlich von Preiserwägungen leiten lassen, also zum Beispiel nicht davon, von wem Waren und Leistungen angeboten werden. Die Versachlichung sozialer Beziehungen zu betonen, heißt nicht, dass Käufer und Verkäufer überhaupt keine persönlichen Beziehungen haben oder keine haben könnten. Es heißt zunächst nur, dass solche Beziehungen für das Zustandekommen eines Kontrakts nicht erforderlich sind. Dieses Absehen von Personen mag man als inhuman empfinden, aber der Vorteil eines Verfahrens, bei dem nur die Performanz zählt, wird sofort einsichtig, wenn man zum Beispiel an Auswahlverfahren bei Stellenbesetzungen denkt. Marktentscheidungen am nächsten kommen „blinde“ Verfahren, bei denen es den Individuen nicht möglich ist, die Identität von Personen festzustellen und auf diese Weise leistungsfremde Gesichtspunkte ins Spiel zu bringen. Ebenso ist jede Art von Quotierung ein mit Wettbewerbsmärkten inkompatibles Element. Fazit: Der Markt funktioniert über Objektorientierung und lose Beziehungskonstellationen. Wenn wir nun auf die Seite der Mitarbeitenden und auf deren Motivation zur Zusammenarbeit schauen, dann spiegelt sich der Markt in seiner Kooperationsdynamik in den Begriffen Flexibilisierung, Dezentralisierung und Entgrenzung und zeitigt ganz eigene Auswirkungen: Absicht ist es, dass die Individuen ihre subjektiven Potenziale und Ressourcen wie Flexibilität, problemlösende und kommunikative Fähigkeiten, Motivation sowie Engagement zur Verfügung stellen. War dies unter hierarchischen Bedingungen kaum offiziell denkbar, weil in fordistisch-tayloristischen Organisationsstrukturen noch die Arbeitskraft von der Person getrennt wurde, so zielen die Unternehmen nun darauf ab, über diese bisher nur begrenzt zugänglichen Ressourcen und Potenziale der Mitarbeitenden verfügen zu wollen. Können diese subjektgebundenen Ressourcen über den Weg der Dezentralisierung erreicht werden? Hierzu soll zunächst zwischen strategischer und operativer Dezen­ tralisierung unterschieden werden. Bei der strategischen Dezentralisierung werden Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auf neu definierte Unternehmenseinheiten oder im Rahmen der bestehenden Unternehmensgliederung an marktnahe Organisationseinheiten verlagert oder aus dem Unternehmen bzw. Unternehmensverbund ausgelagert. Es handelt sich um Externalisierung. Die operative Dezentralisierung zielt darauf ab, die betrieblichen Strukturen flexibler zu gestalten und dadurch die Arbeitsleistung der Mitarbeitenden zu erhöhen. Operative Kontrolle, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten

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­ erden so aus der Hierarchie bzw. den indirekten Abteilungen und Stäben nach „unten“ zu w den ausführend Beschäftigten bzw. in die „operativen Einheiten“ verlagert. Beispiele hierzu sind: Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, AZ-Konten u. a. m. sowie Cost- oder Profit-Center, Intrapreneur-Konzepte. Unter der Bezeichnung „operative Dezentralisierung“ werden daher die formalen Strukturen dezentralisierter Organisationen wie alle Formen von Gruppenarbeit, selbstständige Produktionseinheiten, Qualitätszirkel und kontinuierliche Verbesserungsprozesse, oft unter der Bezeichnung „lean production“ einbezogen. Mitunter werden diese Formen der Dezentralisierung auch als „Subjektivierung von Arbeit“ bezeichnet. Allerdings ist meist das Gegenteil der Fall, da es sich um eine bewusste Objektivierung der Subjektivität handelt: Es wird enthierarchisiert bzw. dezentralisiert, womit der Markt zum Bezugspunkt aller unternehmensinternen Prozesse wird. Mit diesem Prozess der Vermarktlichung wird ein neuer Steuerungsmodus implementiert. Es handelt sich nicht mehr um eine kapazitätsorientierte Steuerung, sondern um ein indirektes Steuerungssystem in Form von Kennziffern und Benchmarks. Dabei steht der individuelle Umgang mit der wachsenden Dynamik von Markt- und Kundenanforderungen im Mittelpunkt. Es ist nicht das Subjekt, das in die Ökonomie zurückkehrt, sondern seine Subjektivität soll gezielt genutzt werden. Wurde die Subjektivität der Beschäftigten in bürokratisch-tayloristischen Organisationen noch als Störfaktor betrachtet bzw. höchstens als Ventil toleriert, wird sie nun in dezentralisierten Unternehmen zum zentralen Produktionsfaktor. Daraus ergeben sich drei Probleme: 1) Wie soll „das Ganze“ der Organisation gesteuert werden, wenn zunehmend informelle Kommunikations- und Kooperationsstrukturen berücksichtigt werden sollen? 2) Aufgrund eines regelmäßig stattfindenden Marktvergleichs mobilisiert die indirekte Form der Steuerung einen Wettbewerbsdruck zwischen den Individuen. Nicht mehr die Führungskraft kontrolliert, sondern marktförmig findet Selbstkontrolle durch Selbstvergleich statt. Die Mitarbeitenden vergleichen sich verstärkt mit ihren Konkurrenten, mit ihren Aufgaben, mit ihrem Arbeitsteam. Wo soll fortan die Loyalität herkommen, wenn die Mitarbeitenden ein klares Bild von ihrem Unternehmen verlieren? 3) Erhoffte man durch die Dezentralisierung eine grundsätzliche Vereinfachung von Organisationsabläufen, so führt paradoxerweise gerade die Dezentralisierung zu wachsender Komplexität. Aber wie kann diese aufgefangen werden, wenn nicht zentral? Wenn nun im Rahmen einer solch marktförmigen Dezentralisierung von Selbststeuerung und Selbstverantwortung die Rede ist und die Mitarbeitenden durch Projektund Gruppenarbeit mit einer Erhöhung ihrer Verantwortung bezüglich der Zielerreichung konfrontiert sind, führt dies lediglich dazu, dass die in gegenseitiger Konkurrenz zueinander stehenden Mitarbeitenden einander nicht vertrauen, sondern möglichst „fehlerfrei“ handeln wollen. Hinzu kommt, dass „fast alles“ in den Arbeitsabläufen dokumentiert und beurteilt werden soll. Infolgedessen scheuen die Mitarbeitenden das Risiko, „autonome“ Entscheidungen zu treffen und Eigeninitiative zu zeigen. Indem durch Selbstorganisation Verantwortungsschnittstellen nach unten verschoben werden – dahin, wo sich die Probleme direkt ergeben –, liegt das Risiko der Entscheidung jetzt bei den Mitarbeitern. Diese „Verantwortung“ müssen die Mitarbeitenden selbst – dezentral

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– tragen, obwohl die Ergebnisse oft auch von der prekären Bereitschaft zur Zusammenarbeit vonseiten der Kollegen und externen Akteuren wie beispielsweise Kunden oder Lieferanten abhängig sind. Die Schlagworte, die sich aufgrund dieser Dynamik seitens der „Beschäftigten“ ergeben, laufen unter „Arbeitskraftunternehmer“, „Selbst-Ökonomisierung“, „Selbst-Vermarktung“ und „Selbst-Rationalisierung“ der eigenen Arbeitskraft; und die damit korrespondierenden Arbeitsformen sind (Schein-)Selbstständige, „Ein-Mann-Unternehmen“, „Selbst-GmbH“, „Ego AG“, „Ich-Aktien“, Kooperation mit Freiberuflern, Kleinstunternehmer, Subunternehmer, Leiharbeit, Werkaufträge. Fazit: Der „Markt“ ist gekennzeichnet durch atomistische Konkurrenz, strikte nutzenorientierte Motive, rational kalkulierte Wahlentscheidungen und schließlich durch die Bedingung eines jederzeit möglichen freien Zu- und Austritts. Die Menschen sollen bei ihrem Egoismus gepackt werden. Damit stehen die Individuen nur in loser Bindung zueinander und in einem objekthaften Umgang miteinander.

1.2.6 Koordinationsmuster: Netzwerk Netzwerkorganisationen lassen sich auf einen ersten Blick gut beschreiben, wenn man sie mit Wohngemeinschaften vergleicht: Man wohnt zusammen, um Kosten zu sparen und Ressourcen zu teilen. Jeder führt sein eigenes Leben, in der Küche trifft man sich zu interessanten Gesprächen. Dabei muss man nicht befreundet sein, aber weil jede und jeder die Eigenheiten der anderen kennt, wird alles einigermaßen berechenbar. Was die Menschen verbindet, ist ihre Unterschiedlichkeit. Netzwerke sind Intermediäre zwischen Markt und Hierarchie. Steht die Autonomie der Beteiligten im Vordergrund, dann sind sie nicht zentral steuerbar, sondern eher heterarchisch und verfügen über keine eigenen expliziten Koordinationsstrukturen. Netzwerke kombinieren hierarchische und marktliche Elemente so, dass durch die Organisation der Netzwerkbeziehungen eine effiziente und effektive Kopplung der Aktivitäten angestrebt und realisiert wird. Zugleich bleibt der Markttest weiterhin anwendbar. Im Unterschied zu formalisierten Verhandlungssystemen ergibt sich in Netzwerken die Kopplung aus den wechselseitigen Ressourcenabhängigkeiten zwischen den Individuen einerseits und den informellen Normen andererseits, die ihre Gleichstellung gewährleisten. Das macht Netzwerke zu recht komplexen Gebilden: Sie sind duplexe Strukturen, weil es in ihnen sowohl um Wissensgenerierung als auch um individuellen Reputationsgewinn geht. Damit unterscheiden sie sich von Märkten wie von Organisationen. Sie sind meist lose Beziehungskopplungen mit weitaus flüchtigeren Kontakten als in Vereinen, Clubs und allgemein Gemeinschaften. Dennoch treffen sich die Mitglieder des Netzwerks häufig genug, um eine gewisse Stabilität zu entwickeln. Netzwerke sind definitiv soziale Gebilde, die soziale Beziehungen stiften und entstiften und über Reputationszuweisungen und Statusproduktionen (wie Statusentwertungen) gesteuert werden. Im Gegensatz zu rein vergemeinschafteten Sozialsystemen, in die man zuvorderst als Gesamtperson eingeschlossen wird, beobachten Netzwerke ihre Mitglieder sehr

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genau daraufhin, welche Qualitäten sie einbringen, wie tauschwillig sie sind, wie kompetent usw. Neben den Wissens- auch Reputationsarenen, erweisen sich Netzwerke ebenso als kompetitive Bewertungsinstanzen („like or dislike“). Wie sieht nun die Zusammenarbeit in Netzwerken aus? Netzwerke sind Arenen zum Tausch von Wissen. Sie sind nicht wie Unternehmensorganisationen konstruiert, funktionieren nicht über Verträge und auch nicht über Transaktionen von Kauf und Verkauf via Geld, sondern über die Bereitschaft, etwas zu nehmen und jederzeit selbst Adressat für (Wissens-)Nachfragen zu sein. Allerdings reicht die Bereitwilligkeit allein nicht aus; sie muss schon auch von relevanter Kompetenz begleitet sein. In Netzwerken wird eine spezifische Form von Gemeinschaft kommuniziert, in der es einerseits um die subjektiven Eigenschaften der Individuen geht und diese Eigenschaften andererseits immer auch Einfluss auf die Wertigkeit und den Status im System haben, weil die Positionen ja nicht wie in Familien gesetzt sind. Ein Netzwerk grenzt sich gegenüber einem Markt dadurch ab, dass Anbieter und Produzenten sowohl in Kooperations- als auch in Konkurrenzsituationen stehen. Die Marktmechanismen werden durch die Gleichzeitigkeit von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen verändert und erweitert. Netzwerke besitzen Eigenschaften von traditionellen Märkten wie auch von traditionellen hierarchischen Organisationen, unterscheiden sich aber auch von diesen. Die Hoffnung ist, dass Netzwerke dort einspringen, wo man mit Hierarchie und Organigramm schwer weiterkommt – wenn es also darum geht, Ideen und Erfahrungen offen auszutauschen, sich persönlich zu vernetzen, eine Vertrauenskultur zu etablieren, Trends aufzugreifen, Innovationen zu fördern oder komplexe Probleme zu meistern. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Netzwerke auf drei Säulen beruhen: 1) auf Wissensvermittlungen, 2) auf Wissensbewertungen und auf 3) Reputationskommunikationen. Darüber bilden sie zwar stabilere Kooperationsmuster als Märkte, aber weit losere Kopplungen als Organisationen.

1.3 Selbstorganisation als Kooperation 5.0? Wo sind wir angekommen? Informations- und Kommunikationstechnologien dringen massiv in die Arbeitsprozesse ein und die optimale Nutzung der Ressource Wissen wird zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor. Dadurch werden die Arbeitsprozesse in vielen Fällen abstrakter und komplexer, sodass man eine Arbeitsweise entwickeln muss, die vor Komplexität, vor Mehrdeutigkeit und Paradoxien nicht kapituliert und den Individuen die Möglichkeit gibt, Situationen möglichst lange und aus vielen Perspektiven zu betrachten, bevor sie bewertet und mit Maßnahmen beantwortet werden. Aktuell sieht es so aus, als ob in Zeiten der Arbeitswelt 4.0 die netzwerkartige Kooperation für diese Anforderungen am vorteilhaftesten ist. In der Konsequenz findet sich ihr Kooperationsmuster auch in vielen unterschiedlichen Methoden und Ansätzen wieder. Im Trend sind zurzeit Design Thinking als Innovationsansatz, Agilität als Eigenschaft

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moderner Organisationen, Holokratie als umfassendes Selbstorganisationsmodell und We-Q zur Fokussierung von kollektiver Intelligenz. Die damit korrespondierenden und am weitesten verbreiteten arbeitsorganisatorischen Ansätze lauten: funktionsübergreifende Teams wie Cross-functional Teams, Remote Teams und Scrumteams. Alle diese Methoden beziehen sich auf das, was man hierarchiefreie Netzwerkbildung nennt. Aber ganz so leicht ist es dennoch nicht. Ohne eine entsprechende Verankerung in der Organisationskultur einerseits und ohne die individuelle Fähigkeit und Bereitschaft andererseits, sich auch konsequent darauf einzulassen, verkommen sie leicht zu einer leeren äußeren Form. Kirsten Brühl (2018, S. 149) beschreibt dazu bezeichnende Beispiele aus dem Projektalltag: Da wird „Scrum“ als agiles Projektmanagement-Tool eingeführt, aber bei den morgendlichen Kurzmeetings, den Stand-ups, wird nicht wirklich offen gesprochen, weil man Sanktionen befürchtet. Oder es gibt einen „Scrum-Master“, der die klar definierten, harten Regeln des Vorgehens lockert, damit der unterschwellige Konflikt zwischen den Projektbeteiligten nicht wirklich ausbricht. Alternativ ersetzt der Teamleiter gleich ganz den Scrum-Master, damit es „schneller geht“, und erreicht damit nur, dass Hierarchiedenken dann doch wieder eingeführt wird und alles bleibt, wie es ist. Die Folge: Mögliche neue kreative Impulse versanden. Vielleicht aber sollte zuallererst geklärt werden, was genau über diese Methoden erreicht werden soll und ob es methodisch erreichbar ist, Vertrauen und Eigenverantwortung in die Köpfe der Mitarbeitenden zu bringen. Es gibt Dinge, die sich schlichtweg nicht verordnen und auch nicht managen lassen. Im Gegenteil, mit zu viel Planung, Steuerung und Messung geht genau das verloren, was eigentlich erzeugt werden soll: Spontaneität, Kreativität, Natürlichkeit, freier Ideenfluss und Individualität. Und kommt es nicht bisweilen vor, dass gerade solche Teams erfolgreich sind, die von vermeintlichen Idealvorstellungen abweichen, die sich vielleicht politisch inkorrekt, gegenüber den Anweisungen ihrer Vorgesetzten nonkonform oder auch im Ringen um die beste Lösung offen aggressiv gegenüber internen Konkurrenzteams verhalten? Vor welchen Herausforderungen stehen diese neuartigen Teams, die mit Aufgaben der Wissensproduktion betraut sind? Sie operieren unter Ungewissheit und sollen Lösungen finden, über deren Beschaffenheit zu Beginn der Zusammenarbeit nur vage, unter Umständen gar divergierende Vorstellungen existieren. Daneben entstammen die Mitglieder zumeist unterschiedlichen Fachbereichen, wodurch die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und allgemein akzeptierter Formen der Zusammenarbeit erschwert werden. Zu guter Letzt gehören Ergebnisdruck, Zeitdruck und knappe ­Ressourcen sowie widersprüchliche Erwartungen vonseiten des Managements oder der Auftraggeber zu den üblichen Randbedingungen. Wenn diese Teams nun so, wie sie es häufig gewohnt sind, blind und aktionistisch drauflosarbeiten, dann werden auch all die neuen Methoden nicht zum Erfolg führen. Sich der Herausforderung der Selbstorganisation zu stellen, ist nochmals eine ganz andere Dimension: Diese besteht darin, dass die „neue“ Art der Zusammenarbeit keinem der bislang beschriebenen Mechanismen folgt, weil jedes der vier M ­ uster

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strukturelle Nebenwirkungen hat, die einer Zusammenarbeit mit dem Ziel von mehr Selbstorganisation und Agilität im Wege stehen. Die zentrale These lautet daher: • Auf struktureller Ebene der Organisation muss vor allen Dingen all das weggelassen werden, was Selbstorganisation im Team verunmöglicht. • Auf der Prozessebene der Kooperation muss sich jedes Team immer wieder aufs Neue seinen eigenen Kooperationsmechanismus erarbeiten.

1.3.1 Die strukturelle Ebene der Organisation Das ist die Ausgangslage: Unter der Vorgabe eines zeitlichen Rahmens soll arbeitsteilig ein gemeinsames Ziel erreicht und dabei heterogenes Wissen erfolgreich zusammengeführt werden. Die Mitglieder befinden sich in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, das einen hohen Koordinationsbedarf erzeugt und einer verbindlichen gemeinsamen Verantwortungsübernahme bedarf. Vielleicht lässt sich die Ebene der Leistungserbringung leichter beschreiben, indem man die vier Bereiche aufzählt, in denen man besser nicht auf Selbstorganisation zurückgreifen sollte: 1) Alle Arten von Arbeit, in denen eine weitgehend schnittstellenfreie Zerlegung der Gesamtaufgabe in Teilaufgaben möglich erscheint, müssen nicht über Selbstorganisation organisiert werden, wie etwa in der Fertigung, in der Verwaltung oder bei bestimmten Formen der Softwareentwicklung, wo die einzelnen Module erst zum Schluss zu einem Gesamtergebnis vereint werden. Bei all dem verbleibt man nach wie vor in „Industrie-Kategorien“ verhaftet. 2) Ein konsequent selbstorganisiertes Vorgehen ist weiterhin nicht zu empfehlen in Projekten mit geringerer Komplexität und/oder kurzer Dauer, bei denen mit wenigen Überraschungen zu rechnen ist, die Anforderungen klar sind und sich vermutlich nicht stark ändern werden. 3) Wenn der Entwicklungsanteil im Projekt gering, der Routineanteil hingegen hoch ist, können selbstorganisierte Teams zwar zum Einsatz kommen, es wird aber wenig zusätzlichen Nutzen bringen. 4) und letztens widerspricht ein hohes Kontrollbedürfnis, wie z. B. im Qualitätsmanagement, der Selbstorganisation. Da eine sich selbst organisierende Gruppe über keine zentrale Steuerungsinstanz verfügt, steht dies einer Erwartung der schnellen Machbarkeit, einfachen Steuerbarkeit und personalen Zurechenbarkeit von Ergebnissen tendenziell entgegen. Damit widerspricht es vor allem den klassischen Koordinationsmechanismen der Hierarchie und des Marktes. Viele dieser Instrumente kommen damit nicht infrage. Damit ein Team wirklich weitgehend selbstorganisiert arbeiten kann, muss organisational all das weggelassen werden, was Zusammenarbeit auf Augenhöhe und Vertrauen unmöglich macht. Reporting und Zeiterfassung sind also abzuschaffen. Ebenso gilt es, auf detaillierte Stellenbeschreibungen zu verzichten (typisch für Hierarchien). Ferner gibt es keine individuellen Ziele mehr, sondern nur noch Ziele für das ganze Team und zudem auch keine individuellen Leistungsanreize und Entlohnungen (typisch für den Markt).

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Frage: Lässt sich dann gar nichts mehr festlegen? Antwort: Doch, aber nur sehr bedingt. Natürlich existiert in jedem Team eine überschaubare Anzahl teamübergreifender Grundbedingungen und es lassen sich diverse singuläre Kausalitäten aufdecken, wie z. B. die spezifische Aufgabenstellung, die Anzahl der Teammitglieder oder die organisationalen Rahmenbedingungen, unter denen das Team arbeitet. Doch wie genau diese Grundbedingungen mit Leben gefüllt werden, ist von Einzelfall zu Einzelfall verschieden. Erst die gruppendynamischen Phänomene, die emergente Denk-, Gefühls- und Machtmuster darstellen, die sich zeitabhängig aus dem kleinteiligen Zusammenwirken der Teammitglieder im Arbeitsalltag heraus entwickeln, führen zu einem leistungsfähigen oder leistungsunfähigen Team. Diese emergenten Teamphänomene machen aus jedem Team eine spezifische Einheit, die es in dieser Form nur einmal gibt. Daher kann es auch keine Erfolgsfaktorenforschung geben, man kann keine Fallstudie über ein besonders erfolgreiches Team heranziehen und im Anschluss auf das eigene Team anwenden. Es ist nahezu ausgeschlossen, seitens der Organisation dieselben Bedingungen erneut herzustellen, selbst dann nicht, wenn das Team weitgehend bestehen bleibt. Für diese Art von Teamarbeit gibt es keinen „one fits all“ -Ansatz.

1.3.2 Die Ebene der Kooperation Wenn vor allem die hierarchische und die Markt-Logik der Selbstorganisation entgegenstehen, geht es dennoch nicht darum, aus dem Team einfach eine „Community“ im Sinne einer „engen Glaubensgemeinschaft“ zu machen. Teams müssen nicht zu einer „Familie“ werden, sie müssen weder auf Unendlichkeit ausgerichtet sein noch müssen die Mitglieder quasi-adoptiert werden. Trotzdem müssen sie enger miteinander kooperieren und sich mehr aufeinander einlassen, als es in Netzwerken erforderlich ist. Wenn es wirklich darum gehen soll, das Wissen und Können der einzelnen konkreten Individuen zu einem Ganzen zu verbinden, zu einem Ganzen, das mehr ist, als die Summe seiner Teile, dann muss jede Gruppe, die sich selbst organisiert, der Einmaligkeit ihrer spezifischen Personenkonstellation Rechnung tragen. In jedem Team werden sich auf dynamische Weise spezielle Arbeitsbedingungen herauskristallisieren, die das Team auszeichnen und es auf seine Art einmalig machen. Die Art und Weise, wie eine selbstorganisierte Gruppe ihre Zusammenarbeit koordiniert, ergibt sich nicht allein aus der Analyse der Rahmenbedingungen oder der einzelnen Gruppenmitglieder, sondern insbesondere aus der Analyse der dynamischen Beziehungen der Individuen untereinander und zueinander. An Konflikten lässt sich besonders gut verdeutlichen, wie derartige Prozesse und emergente Phänomene miteinander verschränkt sind. Die Art, wie ein Team Konflikte löst, ist jeweils ein aktueller Prozess. Dieser Prozess erzeugt Phänomene wie Vertrauen oder Misstrauen, Individual- oder Gruppenorientierung, Gerechtigkeits- oder Ungerechtigkeitsempfinden. Die dabei entstehenden Eigenschaften wirken ihrerseits auf die Entstehung und Bearbeitung zukünftiger Konflikte zurück. Erst vor dem Hintergrund dieser aus dem

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Prozess selbst entstandenen Erscheinungen lässt sich verstehen, weshalb es einem Team gelingt, zu einer konstruktiven Konfliktbewältigung zu gelangen, während das andere Team in Konflikten stecken bleibt und sich in ein zunehmend vergiftetes Arbeitsklima hineinmanövriert. Aufgrund dieser strukturellen Einzigartigkeit von selbstorganisierten Teams sind vermeintlich allgemeingültige Gestaltungsempfehlungen ziemlich nutzlos. Strukturlosigkeit birgt auch Gefahren, die man auf die Formel verkürzen kann: „Je weniger Struktur, desto größer das Risiko einer unkontrollierbaren und destruktiven Gruppendynamik.“ Wo ist dann das Korrektiv? Wenn man die Gruppe dem freien Spiel der Kräfte überlässt, werden sich dann nicht vor allem die Durchsetzungsstärksten, Lautesten, Skrupellosesten oder Ehrgeizigsten durchsetzen? Oder wenn sich nur die Leistungsorientierten einbringen, wird das Team in eine Überlastungsspirale geraten? Und was passiert, wenn sich die eher Ruhigeren im Laufe der Zeit mit ihrer Meinung gar nicht mehr einbringen? Bei all dem haben wir es mit Arbeitssituationen zu tun, in denen viel für die Individuen auf dem Spiel steht. Es ist dann nicht mehr nur ein soziales Netzwerk, das man relativ leicht wieder verlassen kann, nicht ein wohlwollender Freundeskreis oder ein Verein und auch kein Seminar oder Training, das professionell begleitet wird. In der realen Arbeitssituation steht das eigene Selbstbild weitaus mehr unter Druck, weil es um die Existenz geht. Kann eine solche emotionale Beziehungsdimension gut ausgehalten werden? Besitzen die Individuen die emotionale und kognitive Reife dafür? Oder muss das autonome und selbstorganisierte Arbeiten überhaupt erst noch erlernt werden oder gar den Individuen in die Wiege gelegt worden sein?

1.3.3 Freiheit braucht Führung In der Tradition der Gruppendynamik handelt es sich bei der „Selbstorganisation in Gruppen“ darum, dass das Koordinationsmuster der Zusammenarbeit weder unreflektiert noch der Willkür der Beteiligten überlassen bleibt. Michael A. West (2004) hat zwischen aufgaben- und beziehungsbezogener Reflexivität („task reflexivity“, „social reflexivity“) in Gruppen unterschieden. Dies korrespondiert mit der in der Teamforschung bereits früh getroffenen Abgrenzung zwischen Taskwork und Teamwork (Salas et al. 1993). Taskwork steht für die inhaltlichen Anforderungen der Teamarbeit, beispielsweise im Sinne klassischer Projektarbeit. Hierbei geht es vor allem um Aufgabenbewältigung und darum, ob das Team regelmäßig seine Ziele überprüft, ob die Zusammenarbeit hinsichtlich der Informationsweitergabe gut funktioniert, und ob die eingesetzten Verfahren und Arbeitsweisen die richtigen sind. „Teamwork“ hingegen zielt vor allem auf die zwischenmenschlichen Anforderungen ab, das heißt auf das Zusammenwirken zwischen den Teammitgliedern: ob sie sich selbst unter hoher Belastung wechselseitig Hilfestellung geben, ob auftretende Konflikte offen angesprochen, konstruktiv gelöst und nicht nachgetragen werden, ob sie einander neue Fähigkeiten beibringen, ob allgemein eine freundschaftliche und vertrauensvolle Atmosphäre den Arbeitsalltag bestimmt. Kurz: ob das Team in der Art und Weise, wie es seine Zusammenarbeit koordiniert, eine Selbstbewusstheit über sich hat.

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In eben diesem Sinne unterscheidet Peter Heintel (2008) zwischen unreifen und reifen Gruppen. Reife Gruppen schaffen es, Selbstorganisation über den Weg der Selbstdiagnose zu erreichen. Dabei geht es um Feedback-Schleifen. Diese werden bereits häufig, beispielsweise in Form einer „after action review“ angewendet. Nach einer getanen Arbeit wird gemeinsam reflektiert: 1) Was wollten wir erreichen? 2) Was haben wir tatsächlich erreicht? 3) Warum haben wir es (nicht) erreicht? 4) Was können wir direkt im Anschluss verbessern? Die Frage lautet aber nach wie vor: Wie können sich die Individuen so koordinieren, dass sie arbeitsfähig bleiben und nicht einer „negativen Gruppendynamik“ erliegen? Wenn eine Gruppe nicht von außen organisiert oder gesteuert werden soll, wenn die in ihr agierenden Individuen nicht nur vorgefertigte Rollenmodelle, Kommunikationsstrukturen oder Stellenbeschreibungen ausführen, sondern sich selbst von Grund auf einbringen sollen, wenn Motivation dadurch entstehen soll, dass sich die Mitglieder in ihrer ganzen Persönlichkeit gesehen und wertgeschätzt fühlen, dann muss der Ausgangspunkt die je individuelle Wahrnehmung sein, und die Individuen müssen mit all dem vorkommen, was sie ausmacht und auszeichnet. Ausgangspunkt allen gruppendynamischen Arbeitens ist das Modell der Trainingsgruppe – auch T-Gruppe genannt. Das Ziel der T-Gruppe ist ein doppeltes: Zum einen geht es darum, dass die Individuen befähigt werden, die Möglichkeiten und die Grenzen der Kooperation zu erfahren, soziale Prozesse zu erkennen und zu verstehen, zum andern darum, ihnen den Rahmen zu bieten, dass sie zu einem funktionierenden und arbeitsfähigen Sozialkörper – zu einer reifen Gruppe werden. Die T-Gruppen-Methode lässt sich anhand der folgenden vier Schritte beschreiben (Geramanis 2017, S. 143 f.): 1) Eine T-Gruppe hat den Auftrag, sich selbst darin zu untersuchen, wer oder was sie ist. 2) Aus dieser Ausgangslage heraus beobachten und reflektieren alle Gruppenmitglieder gleichermaßen das, was gerade passiert, und ziehen – zunächst meist nur individuell – ihre Schlüsse. 3) Mithilfe von gegenseitigem Feedback wird das, was jeweils individuell wahrgenommen wird, veröffentlicht. Darüber wird kommunikativ eine „soziale Wahrheit“ über die Gruppe selbst erzeugt. 4) Ein so gewonnener kollektiver Selbstbegriff wird dann zur Steuerung und Weiterentwicklung der Gruppe verwendet und in der Folge immer wieder aufs Neue angepasst, weiter verändert, verworfen oder wieder aufgelöst. Ein auf diese Art durch die Gruppe gemeinsam gefasstes Situations- und Kontextverständnis bezieht sich sowohl auf Veränderungen innerhalb der Gruppe als auch auf Veränderungen in der relevanten Umwelt. Dabei gilt es, die Situation richtig zu deuten, relevante Informationen rechtzeitig zu erkennen, in der Gruppe zu kommunizieren und kritisch zu bewerten – all das sind Aktivitäten, die für selbstorganisierte Teams zentrale Herausforderungen darstellen. Die T-Gruppen-Methode ist eine Vorgehensweise, die ursprünglich ausschließlich der Erforschung von weitgehend selbstgesteuerten Gruppen diente. Inzwischen wird sie, wegen ihrer hohen Wirksamkeit für die Entwicklung der Selbstreflexion und der individuellen Sozialkompetenz, auch im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung als Methode für Seminare angewendet. Aus der langjährigen Praxis und Erfahrung lassen sich die folgenden drei Schlüsse für die Vorgehensweise der Selbstorganisation ziehen:

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1. Selbstorganisation muss erlernt werden Nach Jahrhunderten einer Sozialisation in enger familiären Geschlossenheit und jahrzehntelanger Sozialisation in hierarchischen und marktorientierten Strukturen sind wir an egalitäres soziales Aushandeln nicht gewöhnt. Diese Kulturtechnik müssen wir erst erlernen. 2. Selbstorganisation muss begleitet werden In den Betrieben ist der Wunsch groß, dass selbstorganisierte Gruppen möglichst „verschleißfrei“ funktionieren. Stattdessen brauchen Gruppen gerade dann Begleitung, wenn es um eben diese Teamdynamik geht, wie die Erfahrungen aus der Gruppendynamik aufzeigen. Dem Team muss immer wieder einmal geholfen werden, seine Interessenkonflikte zu erkennen und anzusprechen, die unbewussten Normen bewusst zu machen und kritisch zu hinterfragen sowie potenzielle Benachteiligungen auszusprechen – und dadurch den grundlegenden Rahmen zu halten. 3. Selbstorganisation muss zum konkreten Menschen passen Natürlich wäre es ethisch bedenklich, von Menschen zu behaupten, dass sie zur Selbstorganisation nicht in der Lage seien. Das wäre so, als spräche man ihnen den freien Willen ab. Dennoch können das Maß an Autonomie und autonomem Arbeiten und die damit verbundenen Anstrengungen Menschen überfordern. So wie es besonders mutige Menschen gibt, gibt es auch risikoscheue Menschen, und manche haben auch den Willen, weniger mitzugestalten und lieber klare Anweisungen zu erfüllen. Auch das gilt es zu respektieren.

1.4 Schluss: Selbstorganisation braucht Rahmung Selbstorganisation ist keine Methode, die alles schneller macht, kein Tool, das ein hohes Einsparpotenzial bietet und kein Instrument zur Herstellung von mehr Demokratie und Arbeitszufriedenheit. Damit Selbstorganisation zu guten Ergebnissen führt, kann seitens der Organisation und ihrer Verantwortlichen viel getan werden: • Schaffen Sie möglichst geschlossene Einheiten, die durch ein klares, gemeinsames Ziel definiert sind. • Stellen Sie ein motivierendes Zielbild und eine Agenda zur Verfügung, sodass die Arbeit des Teams auf bedeutsame und interdependente Aktivitäten fokussiert ist. • Ermöglichen Sie den Teammitgliedern, dass sie gemeinsam in und mit dem Team bewusst ihre Rollen finden, definieren und miteinander abgleichen. • Sorgen Sie dafür, dass entstehende explizite und implizite Normen vom Team immer wieder auf Effektivität hin hinterfragt werden und der Einfluss politischer Dynamiken minimiert wird. • Stellen Sie passende Unterstützungssysteme bereit, wie Coaching, Supervision und Begleitung durch Experten für Gruppendynamik.

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Wer die Idee der Selbstorganisation ernst nimmt, muss berücksichtigen, dass all die notwendigen „Entscheidungsprozesse“ in Teams und Gruppen zeitaufwendig sind. Die selbstorganisierte Gruppe braucht viel Zeit, um ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessen der Mitglieder, die aus unterschiedlichen Kompetenzbereichen kommen, zu erreichen. Wenn das spezifische Potenzial der Individuen in selbstorganisierten Teams sich entfalten, wirksam werden und für die Organisation nutzbar gemacht werden soll, dann kann es dafür nicht das eine ultimative Organisationsmodell geben. Stattdessen wird es einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationsmodelle bedürfen, die sich je nach Aufgabenstellung entwickeln und immer wieder verändern!

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Prof. Dr. Olaf Geramanis, leidenschaftlicher Gruppendynamiker. Dozent FHNW, Diplompädagoge (univ.), Coach, Supervisor und Organisationsberater (BSO), ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Jahrgang 1967, bis 2000 Offizier der Bundeswehr, ab 1999 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität der Bundeswehr München. Seit 2004 Dozent für angewandte Gruppendynamik und personenorientierte Beratung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Muttenz. In der Weiterbildung und Dienstleistung in den Bereichen Beratung, Coaching, Change und Teamentwicklung tätig. Studienleiter des MAS Change und Organisationsdynamik. www.organisationsdynamik.ch

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Selbstorganisation und organisationale Kriminalität Markus Pohlmann

Zusammenfassung

Wenn Unternehmen legale Pfade verlassen, hat dies oft mit Selbstorganisation zu tun. Kein Unternehmen kann allen formalen Regeln folgen oder alle Gesetze bedienen. Die ungeschriebenen Regeln in den Unternehmen entscheiden dann darüber, welche Regelabweichungen innerhalb des Unternehmens oder der Branche anerkannt sind und welche nicht. Häufig entstehen selbstorganisierte Kreise loyaler Mitarbeiter und Führungskräfte, welche die Regelabweichungen dulden, akzeptieren oder fördern. Im Hintergrund unternehmensbezogener Kriminalität steht oftmals nicht die persönliche Bereicherung illoyaler Einzeltäter, sondern selbstorganisierte Formen der Regelabweichung loyaler Mitarbeitergruppen. Der Nutzen für das Unternehmen steht im Vordergrund. Auch bei der Bekämpfung dieser Formen organisationaler Kriminalität kann man nicht einfach auf schärfere Regeln oder einen moralischen Kompass setzen, sondern muss die Kulturen der Selbstorganisation verändern. Dies kann nur gelingen, wenn man auch Arbeits- und Karrieremechanismen betrachtet, die dieser Kultur zugrunde liegen.

2.1 Einleitung Selbstorganisation herrscht überall. Sie ist eine Begleiterscheinung jeder Organisation und hält diese erst am Laufen. Ohne Selbstorganisation würden Organisationen nicht mehr funktionieren. Sie kommt insbesondere auch dann zum Tragen, wenn

M. Pohlmann (*)  Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_2

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ungeschriebene Regeln in Unternehmen dafür sorgen, dass diese gravierend von formalen Regeln und Gesetzen abweichen. Denn die Musik, die in Unternehmen spielt, wird nicht nur durch Vorgaben, Anreize und Formalstrukturen bestimmt, sondern auch durch Daumenregeln, informelle Deutungs- und Handlungsweisen sowie ungeschriebene Regeln. Während auf der Vorderbühne der Organisation die schön gestalteten Kulissen, die Schauspieler, die Organigramme und Bilanzen präsentiert werden, entscheidet sich ganz maßgeblich auf der Hinterbühne, wie das Spiel gespielt wird, welche Regeln befolgt und welche ignoriert werden. Formale Organisation ist das Spiel auf der Vorderbühne, informelle Selbstorganisation jenes der Hinterbühne. Zwar man auch Selbstorganisation als Element der Vorderbühne präsentieren, wie es derzeit oft geschieht, aber dann nimmt ihr die formale Rahmung die Freiheit, sich selbst zu entwickeln. Die auf der Vorderbühne präsentierte Selbstorganisation unterscheidet sich daher von der Organisation der Hinterbühne, die von außen nicht zu regulieren ist. Und genau diese steht in diesem Artikel im Fokus. Denn die ungeschriebenen Regeln auf der Hinterbühne, die nicht nur funktional, sondern unabdingbar für die Unternehmen sind, können Regelabweichungen und Gesetzesbrüche begründen und rechtfertigen, welche den Unternehmen dann teuer zu stehen kommen. Dahinter stehen oft hochrangige Führungskräfte, die loyal zur Firma stehen und über viele Jahre in ihr groß geworden sind. Sie haben im Unternehmen Karriere gemacht, weil sie sich im Graubereich der Legalität gekonnt bewegen können. Pedanten machen keine Karriere. Die Führungskräfte schaffen Subkulturen mit ungeschriebenen Regeln, die sich auf der Hinterbühne reproduzieren. Wer zu diesem inneren Kreis dazu gehört, erfährt Anerkennung und kommt weiter. Wer es allzu genau nimmt, gehört nicht dazu. Wichtig ist, dass dieser innere Kreis zwar alle legalen Vorteile realisiert, die das Unternehmen so bietet, aber sich nicht illegal zulasten des Unternehmens bereichert. Dies wird im inneren Kreis nicht geschätzt und wenn es dazu kommt, wird scharf sanktioniert. Ein Teil der Unternehmenskriminalität lässt sich dabei durch die Spielregeln von selbst organisierten „inner circles“ auf der Hinterbühne der Organisation erklären. Geld ist im legalen Rahmen der Anreizstrukturen der Organisation willkommen, aber in Form der illegalen persönlichen Bereicherung zulasten des Unternehmens diskreditiert. Warum hier der kollektive Nutzen wichtiger ist als die persönliche Bereicherung, möchte der vorliegende Artikel ebenfalls erklären. Dazu werde ich zunächst den Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und organisational brauchbarer Illegalität erläutern (Abschn. 2.2). Ich möchte daran anschließend zeigen, dass die Korruptionsbereitschaft immer dann steigt, wenn ein kollektiver Nutzen im Vordergrund steht und viel geringer ist, wenn nur persönlicher Eigennutz realisiert werden soll (Abschn. 2.3). Wie lässt sich dies aber ändern oder bekämpfen? Nicht durch Verhaltensprävention allein. Antworten auf diese Frage gebe ich dann im letzten Kapitel gegeben (Abschn. 2.4). Danach präsentiere ich einige Schlussfolgerungen (Abschn. 2.5).

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2.2 Regelabweichungen, Selbstorganisation und organisational brauchbare Illegalität Zunächst einmal müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass Regelabweichungen des Teufels sind. Die Moralisierung von Regelabweichungen führt in die ganz falsche Richtung. Um dies zu verstehen, müssen wir uns drei Sachverhalte vergegenwärtigen: 1) Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment eine Welt vor, die von Heiligen bevölkert wäre. In diesem Gedankenexperiment, das auf Emil Durkheim zurückgeht, wird schnell klar: Es wäre eine schreckliche Welt. Warum? Wäre die Kriminalität nicht abgeschafft? Die Antwort von Durkheim darauf ist ganz einfach: Nein! Da auch Heilige keine Roboter sind, sondern individuell unterschiedlich sind, würden kleine Differenzen, kleine Vergehen schnell zu großen Verbrechen. Die Tyrannei der Integrität würde einen hohen Blutzoll fordern. Denn Moral ist nicht nur, so legt es Luhmann einfach dar, die Kommunikation von Achtung, sondern auch von Missachtung. Es ist ein zweischneidiges Schwert, das auch kleinere Abweichungen mit großer Missachtung strafen kann. Und so kennen wir es: Religiöse Diktaturen oder Systeme, die Moral ins Feld führen, haben oft tödliche Konsequenzen für viele, nicht nur Andersdenkende. Und natürlich wäre Integrität auch ein Stolperstein für viele Unternehmen. Welches Unternehmen kann schon Mitarbeiter brauchen, die konsequent zu ihren Werthaltungen stehen? Wer könnte dann noch für VW, die Telekom oder die Deutsche Bank arbeiten? Moralischen Rigorismus kann niemand brauchen, noch nicht einmal die Kirche. Die Unternehmen benötigen viel mehr moralischen Opportunismus, also Werthaltungen, die sich dem Zeitgeist, dem gerade geltenden Unternehmensgeist und den wechselnden Gesetzeslagen anpassen. Mit Heiligen ginge jedes Unternehmen Bankrott. Dass die Unternehmen trotzdem Moral und Integrität predigen, ist etwas, das von den meisten Mitarbeitern zu deren Glück nicht ernst genommen wird. Vielmehr hat dies die Funktion, „schwarze Schafe“ und selbstgeschaffene „Sündenböcke“ zugleich auch an den moralischen Pranger stellen zu können, um so das Unternehmen nicht für Verfehlungen haften zu lassen. Regelabweichungen aus der Welt zu schaffen, gelingt damit sicherlich nicht. Und das ist auch gut so für die Unternehmen. Denn im besten Falle bleibt die Moral der Wirtschaftsethiker folgenlos. 2) Um das Phänomen der Selbstorganisation im Zusammenhang mit organisationaler Kriminalität zu verstehen, tun wir also gut daran, nicht zu moralisieren, sondern die Frage von Regelabweichung und Regelbefolgung in Unternehmen in den Mittelpunkt zu stellen. Sie ist deswegen aus einer soziologischen Perspektive spannend, weil strikte oder umfassende Regelbefolgung oft dazu führt, dass die Unternehmen Ziele nicht erreichen können. Sie wäre, wenn sie denn möglich wäre, dysfunktional. Aber wer kennt schon alle Regeln oder kann sie im Alltag alle konsequent befolgen? Das Nichtwissen über Regelabweichungen ist sowohl für die Regelanwender als auch für die Regelsetzer funktional. Wollte die Polizei auch nur die Hälfte der Verkehrsverstöße von Radfahrern zur Kenntnis nehmen oder gar ahnden, wäre sie hoffnungslos überfordert. Und auch die

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Radfahrer kümmern viele Regeln nicht, weil sie diese gar nicht kennen und deren Missachtung in ihrem Alltag keine Rolle spielt. Dabei ist die Verkehrsordnung noch übersichtlich, gemessen an dem Regelwirrwarr, in dem sich global operierende Unternehmen bewegen. Niemand kann alle Regeln gleichzeitig befolgen. Sollen Unternehmen funktionieren, müssen sie sich auf nützliche Regelabweichungen verlassen können. Denn umgekehrt kann man zeigen: Wenn man sich strikt an formale Regeln hält, legt man jede Organisation lahm. Ob Minenarbeiter in Südafrika, Krankenpfleger in England oder Kanada, Lehrer oder Piloten – sie alle haben in den letzten Jahren überall auf der Welt eine Streikform benutzt, die Dienst nach Vorschrift heißt. Sie haben keine Überstunden gemacht, zu denen sie nicht verpflichtet waren oder haben vorschriftsgemäß keine Telefonanrufe entgegengenommen, während sie bei Patienten waren. Oder sie haben keine Schächte betreten, in denen die Sicherheitsvorkehrungen nicht vorschriftsgemäß ausgeführt waren. So kann eine Organisation Schritt für Schritt lahmgelegt werden. Für das alltägliche Operieren der Organisation sind formale Regeln ebenso notwendig, wie ihre strikte Befolgung hinderlich ist. Jede Organisation ist für ihr Funktionieren auf Regelabweichungen angewiesen, denn keine Organisation kann formale Regeln so perfekt und umfassend formulieren, dass sie das Funktionieren der Organisation sicherstellen. Damit fangen die Probleme für Unternehmen an: Wenn niemand alle Regeln befolgen kann und Regelabweichungen notwendig für das Überleben der Organisation sind, wie reguliert man dann den Umgang mit Regelabweichungen? Wo sieht man weg oder schaut nicht genauer hin, organisiert also Nichtwissen, und wo prüft man sehr genau? Welche Maßnahmen ergreift man und welche nicht? Häufig werden die Antworten darauf, welche Regelabweichungen legitim sind und welche nicht, a) von der externen Strafverfolgung, also von Anreiz-, Gelegenheits- und Sanktionsstrukturen, b) von Nachahmung, Moden und normativem Druck in der jeweiligen Branche sowie c) von internen ungeschriebenen Regeln bestimmt. 3) Insbesondere bei den internen ungeschriebenen Regeln kommt das Phänomen der Selbstorganisation zum Tragen. Da Organisationen zu ihrem Funktionieren auf brauchbare Formen abweichenden Verhaltens ihres hochqualifizierten Personals angewiesen sind, legen ihre informellen Kulturen bestimmte Formen „brauchbarer Illegalität“ nahe. Unter brauchbarer Illegalität wird dabei im soziologischen Sinne generell die legitime Abweichung von formalen Vorgaben verstanden und nicht allein im juristischen Sinne der damit eventuell verbundene Verstoß gegen Rechtsnormen. Selbstorganisation bezieht sich dann auf den Sachverhalt, dass die formalen Strukturen der Organisation ergänzt, kontrolliert oder außer Kraft gesetzt werden durch selbstgeschaffene, kollektive Formen einer informellen Regulierung, welche sich der Formalisierung entzieht. Sie kann oder darf formell nicht reguliert werden. Es sind kollektiv anerkannte ungeschriebene Regeln, die entstehen und sich halten, weil sie als nützlich für das Unternehmen gelten. So kann kein Unternehmen verlautbaren, mit welchen Abweichungen von formalen Regeln es einverstanden ist oder welche es ignoriert. So wie der Polizist nicht verlautbaren kann, dass er Ordnungswidrigkeiten von Radfahrern nur dann verfolgt, wenn sie ein hohes Gefährdungspotenzial haben oder generelle Überprüfungen angeordnet sind. Ein Unter-

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nehmen kann formal auch nicht gutheißen, dass manche Dienststellen umgangen werden müssen, um voranzukommen oder dass manche Daumenregeln besser sind als die vorgeschriebenen Berechnungsgrundlagen. All dies ist Normalität in Unternehmen und Unternehmen selbst sind ohne diese Normalität nicht funktionsfähig.

2.3 Kollektive Selbstorganisation und Korruptionsbereitschaft Dabei sind es nicht die distanzierten, sondern die engagierten und loyalen Akteure, die besonders anfällig für gravierende Regelabweichungen sind. Die durch Selbstorganisation reproduzierte Unternehmenskultur einer Organisation kann solche Aktivitäten auch dann befördern, wenn der persönliche Nutzen gering ist und die persönlichen Risiken und Strafen hoch sind.1 1) Wichtig ist es, zu verstehen, dass informelle Selbstorganisation ein kollektives Geschehen ist, das Regelbrüche mit sich bringt und dass dieses kollektive Geschehen für viele Fälle von Unternehmenskriminalität verantwortlich ist. Natürlich gibt es auch individuelle Straftäter, die sich mit kriminellen Plots zum Schaden der Unternehmen persönlich bereichern, also z. B. mit Scheinfirmen und/oder fingierten Rechnungen in die eigene Tasche wirtschaften. Aber viele der großen Korruptions- und Manipulationsfälle haben auf der Seite der Bestechungszahler oder der Betrüger Leute, die ins Rampenlicht der Justiz gerieten, weil sie zum Wohle der Unternehmen agierten. Geld und persönliche Bereicherung sind nur die Hälfte der Story, Loyalität, Anerkennung, Gewohnheit und Betriebszugehörigkeit machen die andere Hälfte aus. Wir sprechen immer dann von organisationaler Devianz oder Kriminalität, wenn den Regelverstößen ungeschriebene Regeln des Unternehmens zugrunde liegen und die persönliche Bereicherung zulasten des Unternehmens nachrangig ist. 2) Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Sie sind Manager/in eines Tochterunternehmens und tragen damit Mitverantwortung für die gesamten Unternehmensergebnisse der regionalen Unternehmenseinheit. Auch wenn Sie immer Ihr Bestes für das Unternehmen gegeben haben, hat sich die wirtschaftliche Situation Ihrer Region in den letzten Jahren stark verschlechtert. Dieses Jahr wird für Sie entscheidend. Wenn Sie keinen großen Auftrag einwerben können, wird der Standort voraussichtlich geschlossen werden müssen. In Ihren Entscheidungen sind Sie weitestgehend autonom. Sie haben kürzlich von Ihrem Team erfahren, dass ein großer potenzieller Kunde eine Ausschreibung für ein voluminöses industrielles Projekt veröffentlicht hat. Dieser Kunde ist Ihre Chance, die schwierige finanzielle Lage Ihres Standortes zu meistern. Bei Ihrer Erkundigung über die Ausschreibungsmodalitäten macht der Mitarbeiter der Projektvergabe des potenziellen

1Solidarität

wird zwar in der Regel als kriminoresistenter Faktor gesehen, der aber auch kontraproduktiv sein kann, so im Fall von „corporate crime“ (vgl. Solivetti 1987, S. 4).

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Kunden Ihnen gegenüber den Vorschlag, dass er Ihrem Unternehmen den Zuschlag für den Auftrag erteilen würde, wenn Sie mit ihm zwei Prozent der Gesamtsumme des Auftrages teilen würden. Sie haben nun die Möglichkeit, ein Angebot ohne die geforderte Bestechungssumme zu machen (A) oder ein Angebot, in dem Sie dem Gegenüber zwar ein Prozent des Auftragsvolumens als Bestechungssumme gewähren, selbst aber nichts kassieren (B) oder Sie geben ihm und Ihnen selbst je ein Prozent des Auftragsvolumens (C). Welche Alternative wählen Sie? Fragt man in Form eines Laborexperimentes Studierende in verschiedenen Ländern, so ergibt sich über alle Fälle in Deutschland (N = 132), in Brasilien (N = 117) und in China (N = 773) hinweg (auch wenn die Verteilung von China dominiert wird), dass 29 % nicht bestechen würden, 31 % bestechen und sich persönlich bereichern würden, aber 42 % zwar zum Wohle des Unternehmens bestechen, aber sich dabei nicht persönlich bereichern würden. Führt man einen Verweis auf die „scharfe Wettbewerbssituation“ als Variable ein, erhöhen sich signifikant die Anteile derer, die bestechen, ohne sich persönlich zu bereichern. Sehr klar kann man erkennen, dass der kollektive Nutzen für das Unternehmen unter den Laborbedingungen einer Universität die Korruptionsbereitschaft erhöht und diese Werte insgesamt höher sind – mit Ausnahme von Brasilien – als die Orientierung an persönlicher Bereicherung. 3) Insgesamt sind aber unter Laborbedingungen die Werte derjenigen, die bestechen würden, ungleich höher als bei Experten im Feld der Wirtschaft. Sie haben tagtäglich mit solchen Entscheidungen zu tun und können die Risiken genau einschätzen. Was sehen wir also, wenn wir vom Labor ins Feld wechseln? Stellen wir uns einen anders gelagerten Fall vor: „Ein global agierendes Unternehmen mit Geschäftsfeldern im Bereich der Nahrungsmittelerzeugung ist unter anderem auch in der Ukraine tätig. Bei der Erzeugung dieser Güter durch eine Tochtergesellschaft in der Ukraine fiel zunächst eine Steuervorauszahlung an. Diese bekam das Unternehmen jedoch auf Antrag zurückerstattet, falls die Güter nicht in der Ukraine verkauft, sondern für den ausländischen Markt exportiert wurden. Als das Land nahezu zahlungsunfähig war, blieben die Rückerstattungen aus. Dadurch hatte sich eine weit verbreitete Praxis etabliert, Beamte des Finanzministeriums, welche für die Rückerstattungen zuständig waren, zu bestechen. Auf diesem Weg sollte eine bevorzugte Behandlung bei den Rückerstattungen erreicht werden. Im konkreten Fall steht das Unternehmen vor der Wahl, entweder 22 Mio. zu zahlen und ca. 100 Mio. an legitimen Erstattungen zu bekommen – oder bei einer drohenden völligen Zahlungsunfähigkeit leer auszugehen, „was  auf jeden Fall zu einer Kürzung der Mitarbeiterboni führen würde“. Die Beamten des Ministeriums machen dabei deutlich, dass eine Rückerstattung nur bei Zahlung der verlangten Bestechungsgelder erfolgen wird. Was würden wir tun? Wenn man die Darstellung des Falles variiert, und statt der Kürzung der Managerboni betont, dass es „für das Tochterunternehmen existenzbedrohend wäre“ und in einer weiteren Variante hinzufügt, dass „eine deutliche Mehrheit im Management eindeutig für die Bezahlung der Bestechungsgelder ist“, kann man sehen, wie die von uns befragten und repräsentativ ausgewählten Geschäftsführer von Mittel- und Großunternehmen in

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Deutschland auf den dargestellten kollektiven Nutzen sowie auf die Meinung ihrer Peers reagieren. Jedes Mal ist die Korruptionsbereitschaft größer, wenn die Interessen der Organisation im Vordergrund stehen und nicht die Interessen des Akteurs. In beiden Fällen sind die Unterschiede signifikant. In der ersten Fallvariante mit Bezug zu den Kürzungen der Boni würden nur zwei Prozent der Befragten dem Unternehmen empfehlen, die Bestechungsgelder zu bezahlen. Der Bezug zur Mehrheit der Manager erhöht die Korruptionsbereitschaft nur auf drei Prozent. Steht aber die Existenz des Unternehmens auf dem Spiel, dann steigt die Korruptionsbereitschaft auf sechs Prozent. Ist zudem eine deutliche Mehrheit im Management eindeutig für die Bezahlung der Bestechungsgelder, steigt sie signifikant auf immerhin elf Prozent. Man kann daraus schließen, dass der kollektive Nutzen etwas zum Wohle des Unternehmens zu tun, die Korruptionsbereitschaft signifikant erhöht und dass dies wesentlich höher liegt als in jenem Fall, wenn es sich „nur“ um die eigenen Boni dreht. Das bestätigen auch andere Experimente2. Anders als viele, die der Theorie rationaler Egoisten und smarter, nur auf den eigenen Vorteil bedachter Angestellter anhängen, glauben, steht bei der selbstorganisierten Regelabweichung der kollektive Nutzen für das Unternehmen im Vordergrund. Und das ist ungleich wichtiger als die bloß eigennützige persönliche Bereicherung. 4) Wenn man die Ergebnisse dieser Experimente ergänzt durch Fallanalysen amerikanischer und deutscher Korruptionsfälle, bekommt man ein ähnliches Bild. Ein bedeutender Teil der Unternehmenskriminalität durch Hochqualifizierte speist sich nicht aus einer Korruptionsform, bei der die Akteure sich auf Kosten der Organisation bereichern wollen, sondern aus den ungleich schwerer zu regulierenden und zu bekämpfenden Korruptionsformen organisational „brauchbarer Illegalität“. Um die Entstehung einer solchen Form von organisationaler Kriminalität erklären zu können, fragt die Soziologie auch nach den Institutionalisierungsmechanismen von organisationaler Devianz. Die konzeptionellen Anregungen der angloamerikanischen Forschung zum Thema sind vielfältig (vgl. Ashfort und Anand 2003, S. 1; Pinto et al. 2008, S. 658; Palmer 2012; Campbell und Göritz 2014, S. 291). Insbesondere vier Institutionalisierungsmechanismen werden häufig angeführt: a) Konkurrenzdruck: Häufig wird davon ausgegangen, dass sich der Konkurrenzdruck auf eine Organisation in Deutungs- und Handlungsregeln ihres Personals übersetzt, welche die Umgehung von hinderlichen oder umständlichen formalen Regeln nahelegen (vgl. Ashfort und Anand 2003, S. 1; Campbell und Göritz 2014, S. 291).

2Wiltermuth

stellte fest, dass sich Menschen häufiger unethisch verhalten, wenn sie die Beute eines solchen Verhaltens mit einer anderen Person teilen, als wenn sie die einzigen Nutznießer sind. Sie finden es einfacher, die moralischen Bedenken abzutun, die mit unethischem Verhalten einhergehen, bei dem eine andere Person profitiert, als bei Verhalten, das nur für sie von Vorteil ist (­Wiltermuth 2011; siehe auch Erat und Gneezy 2012; Gino und Pierce 2010; Shalvi und L ­ eiser 2013). Auch die Laborexperimente von Gino et al. 2013 zeigen, dass die Betrugsbereitschaft zunimmt, wenn der Betrug auch zum Wohle der anderen durchgeführt wird (Gino et al. 2013).

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b) Hierarchischer Druck: Zwar muss man mit Ashfort und Anand nicht davon ausgehen, dass organisationale Devianz sich vorrangig von oben nach unten ausbreitet (vgl. Ashfort und Anand 2003, S. 1; Pinto et al. 2008, S. 658). Aber es bleibt eine zentrale Annahme des Ansatzes organisationaler Devianz, dass in der Regel hochrangige Akteure der Organisation beteiligt sind oder zumindest die devianten Praktiken der Selbstorganisation dulden müssen, damit sich organisationale Devianz etablieren kann (vgl. Palmer 2012, S. 174; Campbell und Göritz 2014, S. 291). c) Rationalisierung und Legitimierung: Organisationale Devianz wird häufig von Rationalisierungen und Legitimierungen begleitet. Sie befördern ihre Duldung oder Anerkennung, indem sie einen Deutungsrahmen für die Abweichungen schaffen, der nicht die Gültigkeit universeller Normen infrage stellt (vgl. Ashfort und Anand 2003, S. 1). d) Sozialisation: Durch Sozialisation werden die ungeschriebenen Regeln in der Organisation verinnerlicht (ebd.). Zugleich etabliert sich das notwendige persönliche Vertrauen für in der Organisation beobachtbare Abweichungen (vgl. Luhmann 1964, S. 311). Wenn wir die dargelegten Ansätze zur Erklärung organisationaler Devianz voraussetzen, dann sorgen diese Mechanismen für die Institutionalisierung von Korruption in Organisationen. Die ungeschriebenen Regeln der Organisation, welche die Taten in ambivalenter Weise mit Gründen der Anerkennung oder ihrer Duldung versehen, werden von den Mitgliedern fest verinnerlicht. Sie werden zu einer selbstverständlichen Form der Selbstorganisation der Organisation, auch wenn keineswegs alle Organisationsmitglieder beteiligt sind (vgl. Ashfort und Anand 2003, S. 1). Vielmehr entstehen oft loyale Untereinheiten, Subkulturen in der Organisation, in denen aktiv tätiges und passiv duldendes korruptes Verhalten eine Verbindung eingehen (vgl. Campbell und Göritz 2014, S. 291). Der entstehende Normenkonflikt wird durch eine Entkopplung von vordergründiger Politik und hintergründiger Praxis („decoupling“) gelöst, also durch die Entstehung von Vorder- und Hinterbühnen der Organisation (vgl. dazu grundlegend Meyer und Rowan 1977, S. 351; Bromley und Powell 2012, S. 483; Haack et al. 2012, S. 815; Wijen 2014, S. 302; MacLean et al. 2015, S. 351). Die daran anschließende empirische Frage jedoch ist, wie auf der Hinterbühne darauf reagiert wird, wenn sich die Spielregeln auf der Vorderbühne gravierend verändern (ebenda, S. 363; vgl. dazu auch Tacke 2015, S. 37).

2.4 Kriminalitätsförderliche Selbstorganisationsformen und ihre Bekämpfung Compliance-Abteilungen versuchen sicherzustellen, dass die Unternehmen sich – dort, wo es notwendig ist – formal den wandelnden Rechtsvorschriften anpassen. Deswegen sind diese Abteilungen in der Regel mit Juristen besetzt. Sie haben die Aufgabe, die Unternehmenshaftung zu beschränken und Strafen sowie unnötige Risiken zu erkennen

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und zu vermeiden. Dies geschieht u. a., indem formal der Nachweis erbracht wird, dass das Unternehmen die notwendigen formalen Maßnahmen und Schritte ergriffen hat, um Rechtsbrüche zu vermeiden und deutlich gemacht wurde, dass diese verbindlich sind. Das ist Legitimation durch Verfahren. Eine weitere Aufabe ist es, im Falle von aufgedeckten Vergehen Zurechenbarkeit, Haftbarkeit oder Strafbarkeit zu organisieren. Hier liegt der Hase der Integrität im Pfeffer. Denn für diese Aufgabe ist das Konzept der „moral self-governance“ gut geeignet. Man kann dann sagen: Wir haben die Mitarbeiter nicht nur trainiert und einen moralischen Kodex formuliert, sondern auch die individuelle moralische Selbststeuerung befördert. Wer dann noch fehlt, ist nicht nur haftbar und strafbar, sondern auch moralisch diskreditiert. Eine Entscheidung gegen die Befolgung von formalen Regeln wird zu einer Entscheidung gegen das Unternehmen und vermeintlich gegen die Gesellschaft. Damit sind die schwarzen Schafe schnell ausgemacht und das Unternehmen ist „clean“, wenn diese entlassen und ggf. der Justiz übergeben werden. Dies ist eine sehr alte Übung, um Systemvergehen in Individualvergehen zu transformieren. Aber die Profis in den Compliance-Abteilungen sind in der Regel nicht zynisch, sondern gehen davon aus, dass Compliance-Maßnahmen Wirkung entfalten. Die Frage ist nur welche. 1) Tatsächlich leben wir nicht in der schrecklichen Welt der „Heiligen“, sondern in der weitaus angenehmeren der kleinen Sünder. In der Welt von „kleinen Sündern“ gehören kleine Regelabweichungen nicht nur zum Alltag, sondern haben die Funktion, die Organisation am Laufen zu halten. Daran wird auch die „zero tolerance“ der Verhaltensprävention nichts ändern. Sie wird in den Unternehmen derzeit zu weit getrieben. Die Dokumentations- und Rechenschaftspflichten nehmen ebenso überhand wie die einzuhaltenden bürokratischen Regeln, wenn man sich oder anderen z. B. Blumen ins Büro stellen möchte. Dies führt im internationalen Maßstabe betrieben nur dazu, dass die Angestellten dort Umgehungsstrategien entwickeln, wo sie dies ohne größeres Risiko oder darauf gerichtete Aufmerksamkeit können. So hat z. B. der Physiker Dirk Helbing gezeigt, dass bereits Trampelpfade entstehen, wenn das Wegenetz einen Umweg von mehr als 20 bis 30 % zwischen Start und Ziel verlangt (vgl. Helbing 1997, S. 223–224.; Helbing 2013). Das heißt, wenn ein möglicher anderer Weg den vorgegebenen Weg um mehr als 25 % abkürzt, ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Trampelpfad entsteht. Und dies ganz ohne den Druck, den Organisationen oft auf ihre Mitarbeiter ausüben, um mehr Effizienz zu erreichen. Übertriebene Verhaltensprävention führt nur dazu, dass die Dunkelziffer größer wird und die Scheinheiligkeit weiter an Bedeutung gewinnt. Das Weitertreiben der Verhaltensprävention und deren Moralisierung lassen informelle Regeln der Selbstorganisation also eher weiter erstarken – eine Informalität, die sich dem Zugriff der Compliance-Abteilung immer weiter entzieht. Das könnte ihr egal sein, wäre sie nicht formal zu einer Aufgabe verpflichtet, die sie faktisch ohnehin nicht alleine leisten kann: die der Prävention. Denn die Vorstellung, durch Trainings und Vermittlung von Grundsätzen, also durch Erziehung, zur Sozialisation beizutragen, macht die Rechnung in der Regel ohne den Wirt. Die eigentliche Sozialisationskraft liegt in den operativen Geschäftsfeldern, nicht in einer Querschnittsabteilung außerhalb der

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Linie. Auf den operativen Feldern spielen informelle Regeln die zentrale Rolle: Hier agieren bei Regelbrüchen oft keine kalkulierenden Kriminellen, sondern an der Organisation orientierte Macher, die im Unternehmen mit funktionalen Regelabweichungen groß geworden sind. 2) Zugleich ist allen langjährig im Unternehmen Beschäftigten bekannt, wo die kulturell bedingten Grenzen für Regelabweichungen sind. Während kleinere Schwindeleien und Tricksereien die Regel sind, ist der großangelegte Betrug diskreditiert. „Crossing the red line“ ist hier klar markiert und jeder weiß, in welchen Fällen man den Graubereich verlässt, um größeren Gesetzesbrüchen den Weg zu bereiten. Das machen jedoch nur wenige. In einer Vielzahl von Studien haben z. B. Dan Ariely und seine Kollegen herausgearbeitet, dass Menschen, wenn sie betrügen, nur selten auf den maximalen Betrug gehen, sondern eher den kleinen Schwindel anvisieren. In einem Experiment bekamen die Probanden einen Test mit 20 Aufgaben und für jede korrekt gelöste Aufgabe gab es 50 Cent. In der Vergleichsgruppe wurde es den Testpersonen überlassen, die Aufgaben selbst zu kontrollieren und den Text danach zu schreddern. Bei allen zufälligen Anordnungen zeigte sich, dass die Testpersonen, welche Betrugsmöglichkeiten hatten, angaben, mehr Aufgaben gelöst zu haben. Nach einer Vielzahl von Experimenten mit Tausenden von Testpersonen in verschiedenen Ländern kamen Ariely und Kollegen zu dem Schluss, dass jeweils höchstens bei zwei bis drei Aufgaben geschwindelt wurde. Während weit mehr als 70 % der Probanden schwindelten, waren es nur einzelne Testpersonen, welche vorgaben, alle Aufgaben gelöst zu haben. „Interestingly, however, despite theoretically being able to claim having solved all 20 matrixes and getting away with it, people rarely cheat by the maximum amount. On average, they cheat by only 2 to 3 matrixes. Finally, these observations are never driven by a few bad apples that cheat by the maximum possible amount while others are honest. Instead, we find that almost everyone cheats but only by a limited amount“ (vgl. Mazar und Ariely 2015). In dieser Welt der „kleinen Sünder“ ist daher das Legalitätsprinzip gut platziert, das Integritätsprinzip jedoch fehl am Platze. Warum also diese Welt mit ihren kleinen Regelabweichungen hinter den Fassaden der Legalität zerstören? 3) Wenn wir uns daher Gedanken zur Prävention machen, sollten wir auch über Verhältnisprävention nachdenken, also über Organisationsstrukturen, von denen wir wissen, dass sie der Entstehung selbstorganisierter Kriminalität förderlich sind. Denn allein auf formale Regeln und ihre Sanktionierung zu setzen, ist zwar wirksam, aber verglichen mit dem Einfluss durch ungeschriebene Regeln selbstorganisierter Kreise auf der Hinterbühne der Organisation nur in geringem Maße. So zeigten sich bei unseren Experimenten mit den Studierenden, dass die Betonung von Corporate Social Responsibility (CSR) tatsächlich die Anzahl der ohne Bestechung Vorgehenden von 29 % auf 32 % erhöhte: ein geringer, aber signifikanter Effekt. Dasselbe zeigte sich auch bei den 250 Geschäftsführern in Deutschland. Während die Akzeptanz formeller Rechtsnormen und formeller Compliance-Normen der Organisation einen signifikanten negativen Effekt auf die Korruptionsbereitschaft hatte, erwies sich dieser aber mit r = –.13***

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und r = –.14*** (Signifikanz < 0.005) als schwach. Viel stärker und ebenfalls signifikant war der Einfluss informeller Organisationsnormen zum Graubereich der Korruption, mit einem r = .44***. Auch hier zeigt sich nochmals, dass wir uns von verschärften Gesetzen und Compliance-Regeln zwar etwas versprechen können, aber nicht allzu viel, wenn wir die selbstorganisierte Informalität auf der Hinterbühne der Organisation nicht erreichen können. Und dies ist durch formale Vorgaben und Verordnungen auch gar nicht möglich.

2.5 Schlussfolgerungen Was also tun? Unser Vorschlag ist an dieser Stelle, über Arbeits- und Karrieresysteme in den Unternehmen nachzudenken und sie so zu verändern, dass weniger Kriminalitätsrisiken von diesen ausgehen. So wissen wir z. B., dass Unternehmen in ihren Karrieresystemen Insider präferieren. Nur wer im Konzern groß geworden ist, sich in diesem bewährt hat, soll auf gehobene Managementpositionen aufrücken. Aber niemand macht in einem Konzern alleine Karriere. Ohne Seilschaften wechselseitiger Unterstützung sowie ohne Bezüge zur dominanten Koalition ist man verloren. Deswegen gibt es den Effekt, dass auf der Hinterbühne der Organisation selbstorganisierte, verschworene Gemeinschaften entstehen, von denen einige gemeinsam, aber auf unterschiedlichen Sprossen, die Karriereleiter aufsteigen. Das ist vorteilhaft für die Unternehmen, da alle im „inner circle“ wissen, welche informellen Spielregeln gelten und Vertrauen sowie Loyalität in hohem Ausmaß gegeben sind. Nachteilig ist aber, dass je höher die Seilschaften klettern, umso mehr ein wirksames internes Korrektiv fehlt. Denn auch der Aufsichtsrat ist irgendwann mit Mitgliedern der Seilschaft besetzt. Im Sinne der Verhältnisprävention wäre es also ratsam, ab und an Outsider ins Spiel zu bringen, weil dann nachweislich die Begründungslasten für informelle Regelabweichungen steigen und gravierend von Regeln abweichende Vorgehensweisen als zu riskant erscheinen. Unternehmen könnten also ihre Karrieresysteme für eine Outsiderrekrutierung öffnen und Rotationsprinzipien einführen, die Interdependenzen unterbrechen und immer wieder neue Spieler in das System hineinbefördern. Dass diese Karrieresysteme männerdominiert sind, liegt auch daran, dass immer noch temporäre „dropouts“ mit Karrierenachteilen sanktioniert werden. In Deutschland wird beispielsweise das Vereinbarkeitsmodell in Form von Elternzeit oder Teilzeitarbeit nach wie vor überwiegend von Frauen in Anspruch genommen. Wer aber aufgrund der Kinder oder der Pflege von älteren Familienangehörigen aussteigt, in Teilzeitarbeit geht oder auf Home-Office setzt, verliert den Anschluss an seine Seilschaft – oder schafft es erst gar nicht hinein. Dazu gehören weit überwiegend Frauen. Karrieren werden nach wie vor weder in Teilzeit noch im Home-Office gemacht. Warum ist dies für die Verhältnisprävention wichtig? Weil Frauen in weitaus geringerem Maße an Gesetzesübertretungen im Bereich der Unternehmenskriminalität beteiligt sind. Wenn also die Karrieresysteme nicht nur den Verlautbarungen nach, sondern auch tatsächlich toleranter gegenüber Auszeiten, Teilzeitarbeit und Home-Office werden, sehen wir auch mehr Frauen in den

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Führungsetagen. Dadurch kann die abweichungsausweitende Dynamik reiner „Männerclubs“ vielleicht abgebremst werden und sich die ungeschriebenen Spielregeln ändern. So wird Compliance zwar nicht unbedingt „cool“, aber allzu gravierende Regelabweichungen können vielleicht „uncool“ werden. Das sind nur einige Ideen, aber sie sind unseres Erachtens besser dazu geeignet, die Toleranzgrenzen überschreitenden Regelabweichungen einzudämmen als die das Dunkelfeld und die Scheinheiligkeit vergrößernde Betonung von Moral und Integrität.

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Markus Pohlmann  ist Professor für Soziologie am Max-Weber-Institut der Universität Heidelberg. Er studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Geschichte, war Professor für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen sowie wissenschaftlicher Leiter des ISO-Instituts in Saarbrücken. Er forscht im Bereich der Organisationssoziologie und beschäftigt sich im internationalen Vergleich mit Fragen zu Organisation und Management sowie organisationaler Devianz. Kontakt: www.soz.uni-heidelberg.de/markus-pohlmann/

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Selbstorganisation und die Sinnfrage Rüdiger Heinrich Jung

Zusammenfassung

Die gegenwärtige Diskussion um Selbstorganisation ist in den Betriebs- und Sozialwissenschaften häufig gekennzeichnet durch eine normative Aufladung eines eigentlich wertfreien Ordnungsgeschehens. Das gilt besonders für die Verknüpfung von Selbstorganisation und Sinn. Für eine sachliche Betrachtung des Zusammenhangs ist zum einen klarzustellen, in welcher kontextuellen Einbettung Selbstorganisation betrachtet wird. Zum anderen soll geklärt werden, mit welchem Konzept von „Sinn“ argumentiert wird. Der vorliegende Beitrag betrachtet vorrangig die Selbstorganisation innerhalb von Betrieben und Unternehmen, also formale Machtgefüge. Sinn wird dabei als transzendentes Phänomen der geistigen Person verstanden und eng mit dem individuellen Werterleben verknüpft. Der Beitrag untersucht Selbstorganisation im Hinblick auf das damit verbundene Sinnpotenzial für die beteiligten Individuen. Es geht im Kern um die Frage, ob Selbstorganisation für die Beteiligten mit einem Wertund Sinnfühlen verbunden ist und welche Bedingungen hierbei zu beachten sind.

3.1 Die Verbindung von Selbstorganisation und Sinn als Hoffnungsträger für verunsicherte Führung Viele Führungskräfte spüren eine enorme Unsicherheit, weil die Handlungsfelder, auf die sich ihre Entscheidungen beziehen, zunehmend komplex, mehrdeutig und instabil erscheinen. Manche fühlen sich gar überfordert und haben den immer wiederkehrenden

R. H. Jung (*)  Hochschule Koblenz, RheinAhrCampus Remagen, Remagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_3

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und dadurch krank machenden Gedanken im Kopf: „Wozu mache ich das eigentlich?“ (Sinnfrage). Da sehen sich manche Wissenschaftler und Berater aufgefordert, starke Rezepturen zu liefern, am besten mit einer Kombination zweier vielversprechend klingender Heilmittel. „Selbstorganisation“ ist ein in der Natur schon immer bewährtes Prinzip und klingt ganz ausdrücklich nach Entlastung für überlastete Führungskräfte. Und „Sinn“ steht für ein allgegenwärtiges, geradezu existenzielles menschliches Bedürfnis – auch im beruflichen Kontext. Wenn in Zeiten ausbleibender Antworten auf die ­Sinnfrage plötzlich doch Sinn, noch dazu durch die Verbindung mit entlastender Selbstorganisation, möglich, ja geradezu machbar scheint, dann scheint das Allheilmittel doch auf der Hand zu liegen. Die Verbindung von Selbstorganisation und Sinn wird zum Hoffnungsträger für verunsicherte Führungskräfte. Wir wollen etwas genauer hinschauen, sozusagen auf die Ingredienzen von Selbstorganisation und Sinn sowie die zu erwartenden Reaktionen ihrer Verbindung. Der Betrachtungskontext hierbei sind soziale Systeme mit formal geregelten Führungshierarchien. Auf der Grundlage eines angemessenen Verständnisses von Selbstorganisation in solchen Systemen sowie eines existenzanalytischen Verständnisses von Sinn geht es um eine Klärung des Sinnpotenzials für die am Selbstorganisationsgeschehen beteiligten Individuen.

3.2 Selbstorganisation als interne Ordnungsleistung betrieblicher Teilsysteme Die enorme Beachtung, die das Prinzip „Selbstorganisation“ im wissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte erfahren hat, erklärt sich vor allem aus dem Interesse an möglichst allgemeingültigen Erkenntnissen. Selbstorganisation ist ein universelles Prinzip, mit dem sich Ordnungsbildung in Gewässern, Bakterienkolonien, Fisch- und Vogelschwärmen, Lichtwellen, Gehirnen (Neuronenverbindungen), sozialen Gruppen, zivilgesellschaftlichen Bewegungen u. a. m. beschreiben lässt (Jung 2010). In den auf die Arbeitswelt ausgerichteten Betriebs- und Sozialwissenschaften konnotiert der an sich wertfreie Selbstorganisationsbegriff zudem ganz überwiegend positiv, weil der Wortbestandteil „Selbst“ Erwartungen an eine Humanisierung durch Autonomie und Selbstbestimmung, Effizienzgewinne durch Reduzierung von Steuerungsaufwand und Entlastung durch Verantwortungsverlagerung „von oben nach unten“ nährt. Das hat zu einer weitgehenden Verselbstständigung und damit verbundenen Umdeutung des originären Begriffs geführt. Das ist zugegebenermaßen ziemlich irritierend, was nicht zwangsläufig den Vorwurf terminologischer Irreführung rechtfertigt. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf Selbstorganisation innerhalb von Betrieben (Unternehmen und Haushalten), womit zumeist Prozesse der Selbstregelung gemeint sind (zur Unterscheidung siehe etwa Hejl 2008). In den mit diesem Erfahrungsbereich befassten Betriebswissenschaften und der daraus entstandenen Managementlehre hat der Organisationsbegriff eine lange ­Tradition,

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aus der heraus sich eine fundierte „Organisationslehre“ entwickelt hat. Darin wird unter Organisation sowohl die relativ dauerhafte Ordnung (Struktur) eines sozialen Systems wie auch die Tätigkeit der Strukturbildung, also das Organisieren als Gestaltungshandeln, verstanden. Organisation und Organisieren sind stets mit der Vorstellung von ziel- oder zweckbezogener Regelung verbunden. Selbstorganisation bringt dabei zum Ausdruck, dass die strukturelle Ordnung vom und im System selbst und nicht durch Eingriff von außerhalb des Systems erbracht wird. In diesem Sinne soll hier mit Selbstorganisation die Ordnungsleistung bezeichnet werden, welche die Mitglieder eines sozialen Systems zur Ermöglichung und Sicherung der individuellen und gemeinsamen Handlungsfähigkeit erbringen. Dabei kann es sich um unbewusste Strukturbildung aus gewohnheitsmäßigem Verhalten heraus und um bewusste Gestaltung (Regelung!) handeln (zur entsprechenden Unterscheidung von „autogener“ und „autonomer“ Selbstorganisation siehe Göbel 1998, S. 177 ff.). Die „autogene“ Selbstorganisation kommt dem Verständnis von Selbstorganisation in der Systemtheorie und den Naturwissenschaften am nächsten. Betriebe sind zweckorientierte soziale Systeme mit einer mehr oder weniger starken Einflussnahme von außen (Eigentümerrechte, Gesetze) auf die Ordnungsbildung im Inneren. Die in sozialen Systemen stets gegebene ungleiche Verteilung von Einflussmacht konstituiert sich innerhalb von Betrieben in formal geregelten Über- und Unterordnungsverhältnissen (Hierarchie) – ausgenommen die privaten Haushalte, die nicht weiter Gegenstand unserer Betrachtung sind. Mit der ranghierarchischen Ordnung wird ein wichtiger Teil der betrieblichen Ordnung festgelegt, der für das weitere Ordnungsgeschehen den Rahmen setzt und damit auch innerhalb des sozialen Systems „Betrieb“ die Unterscheidung von Fremd- und Selbstorganisation erforderlich macht. Mit dieser Unterscheidung ist die Frage des Referenzsystems angesprochen. Bei Betrachtung des gesamten Betriebes als Referenzsystem darf unterstellt werden, dass der weit überwiegende Anteil der betrieblichen Ordnung auf Prozesse der Selbstorganisation zurückzuführen ist.1 Der gesamte Betrieb oder das gesamte Unternehmen ist aber üblicherweise nicht das Referenzsystem in der Selbstorganisationsdiskussion. Wenn etwa von einer Stärkung der Selbstorganisation gesprochen wird, stehen eher nachgeordnete Ebenen oder betriebliche Teilsysteme (Unternehmenseinheiten, Abteilungen, Teams etc.) im Fokus. Wenn beispielsweise Hermann Haken und Günter Schiepek (2010, S. 588) sagen: „Management, wie wir es verstehen, bedeutet das Gestalten von Bedingungen, die es einem System erlauben, selbstorganisiert Ordnungen zu erzeugen, zu erhalten und Ordnungsübergänge wirksam zu realisieren – mit anderen Worten: Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von Selbstorganisation.“,

1Den

höchsten Anteil von Selbstorganisation weisen zweifelsohne private Haushalte auf, die wir aber aus unserer Betrachtung ausgeschlossen haben. In der Folge mit abnehmendem Anteil sehen wir private Unternehmen, öffentliche Unternehmen und öffentliche Haushalte, ohne dass hierfür empirische Daten vorliegen.

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kann gemeint sein, dass auf der Ebene der betrieblichen Gesamtleitung (Geschäftsführung, Vorstand, Top Management) Regelungen geschaffen werden, die auf den nachfolgenden Ebenen oder in bestimmten betrieblichen Teilsystemen ein hohes Maß an Selbstorganisation ermöglichen. Aus der Sicht des Referenzsystems „Gesamtbetrieb“ sind sowohl die Regelungen des Top Managements als auch das Ordnungshandeln auf den nachfolgenden Ebenen Selbstorganisation. Aus der Sicht eines Teilsystems, beispielsweise des Referenzsystems „Bereich Fertigung“ eines Industrieunternehmens oder des Bereichs „stationäre Wohngruppen“ einer Jugendhilfeeinrichtung, sind die Regelungen des Top Managements, auch die zur Förderung von Selbstorganisation gedachten, Fremdorganisation. Die gesamte Diskussion um Selbstorganisation in Betrieben ist immer eine Diskussion um das Verhältnis von Fremd- und Selbstorganisation, auch wenn das bei der Fokussierung auf das Faszinosum Selbstorganisation nicht immer deutlich wird. Wer nun meint, damit sei für die Betrachtung der betrieblichen Erfahrungswirklichkeit Klarheit geschaffen, wird bei genauerem Hinsehen enttäuscht. Eine dichotomische Gegenüberstellung von Selbstorganisation und Fremdorganisation bildet das soziale Ordnungsgeschehen in der betrieblichen Wirklichkeit nur unzureichend ab. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Gestaltung ihrer Arbeitsstrukturen im Rahmen kooperativ-partizipativer Führung beteiligt werden, ist das weder reine Fremd- noch reine Selbstorganisation. Vom Entscheidungs- und Weisungsrecht übergeordneter Stellen her gesehen ist es eher Fremdorganisation. Im Falle einer weitgehenden Berücksichtigung und Umsetzung der partizipativ entstandenen Ordnungsvorstellung ist es dagegen eher Selbstorganisation. Bei einer Würdigung der Selbstorganisation im Hinblick auf das Sinnerleben der Beteiligten ist deshalb ein Seitenblick auf das Potenzial für Sinnerleben im Rahmen kooperativ-partizipativer Führung durchaus geboten.

3.3 Sinn als individuelles und situatives Wertfühlen der geistigen Person „Sinn“ ist ein in der deutschen Sprache tief verwurzelter Begriff für den „Weg hin zu etwas“. Er wurde früh auch in die geistige Sphäre für „die Beziehung hin auf etwas“ übertragen (Grimm 1984/1999). Darin liegt Spielraum für recht verschiedene Verständnisse von Sinn. In sozialwissenschaftlichen Erklärungen für die Herausbildung von Interaktionsmustern oder die Entstehung sozialer Systeme wird dem Sinnphänomen häufig eine zentrale Bedeutung zugewiesen. Sinn ist für George H. Mead (1978, S. 115 ff.) das vermittelnde Element einer individuellen Handlung, welches die dazu passende, „Sinn gebende“ Reaktion eines anderen Individuums und damit Interaktion ermöglicht. Soziale Beziehung ist insofern stets sinnbezogen. So sieht es auch Niklas Luhmann (1987), der alle psychologischen und wertebezogenen Deutungen von Sinn ablehnt, weil er Sinn „theoriebautechnisch“ (ebd., S. 297) für seine autopoietische Begründung

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s­ ozialer Systeme und die Aufrechterhaltung des „Universalanspruchs der Systemtheorie“ (ebd., S. 92) benötigt. Sinn ermöglicht, dass sich aus der Weltkomplexität abgrenzbare, d. h. weniger Komplexität aufweisende soziale Systeme bilden (ebd., S. 92 ff.). Sinn als eine Kategorie, „die nicht durch bestimmte Inhalte … charakterisiert werden kann“ (ebd., S. 107), ermöglicht Selektion und damit Komplexitätsreduktion. Fortgesetzte zwischenmenschliche Kommunikation entsteht durch übereinstimmende Sinnzuschreibungen seitens der beteiligten Individuen. Fritz B. Simon (2013, S. 21) spricht in diesem Zusammenhang von „Sinn erfinden“. So bedeutsam das Sinnphänomen in diesen theoretischen Konzepten ist, so untrennbar es hier aller Strukturbildung innewohnt, so inhaltsleer bleibt es indes auch. Jegliches Organisationsgeschehen ist per se sinnbewegt. Die Ingredienzen des Wirkstoffes ‚Sinn‘ bleiben völlig ungeklärt und beliebig. Ob jemand sich an einer sozialen Bewegung, einer politischen Partei oder einem sonstigen Organisationsgeschehen aus Angst vor Isolation, aus einem Machttrieb heraus oder aus Begeisterung für eine wertvolle Sache beteiligt, ist hier für die Sinnfrage unerheblich. Alles ist mit Sinnzuschreibung („Sinnzwang“, Luhmann 1987, S. 95) verbunden. Unsere Fragestellung nach dem Sinnpotenzial von Selbstorganisation für die am Ordnungsgeschehen Beteiligten erweist sich im Grunde genommen als obsolet. „In Selbstorganisationsmodellen bleibt das Individuum, seine Intentionalität und Freiheit ausgeklammert.“ (Poser 2008, S. 35)

Damit wollen wir uns nicht begnügen. Wir suchen nach einem inhaltlichen statt formalen Zugang zum Sinnphänomen. In Übereinstimmung mit den etymologischen Wurzeln des Sinnbegriffs schreibt der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (1966, S. 488 f.): „Allen Bedeutungen des Wortes ‚Sinn‘ zugrunde liegend, finden wir den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht selber ist, orientiert oder polarisiert ist, und alles verweist uns so auf den Gedanken des Subjekts als Ekstase und auf ein aktives Transzendenzverhältnis zwischen Subjekt und Welt.“ Sinn hat etwas mit der menschlichen Dimension (SeinsSchicht) zu tun, der das Merkmal der Transzendenz eignet: dem Geistigen. Die Unterscheidung in Körper  (gr. soma physikon und soma organikon), Psyche (gr. psyche) und Geist (gr. nous) hat spätestens seit den Überlegungen der antiken Philosophen vor nahezu zweieinhalbtausend Jahren das Bild vom Menschen beeinflusst. Wir folgen hier insbesondere den Arbeiten von Max Scheler und Nicolai Hartmann, in denen die geistige Seins-Schicht des Menschen in ihrer Welt- und Wertebezogenheit beschrieben wird. Von den Seins-Schichten des Körpers und der Psyche unterscheidet sich die geistige fundamental. Sie ist vom Psychophysikum existenziell entbunden (Scheler 2010, S. 28). Mit ihr schaut der Mensch in die Welt und auf sich selbst, d. h. er transzendiert sich selbst. Mit ihr nimmt er Stellung zu dem, was ihm dabei begegnet. Gerade das unausweichliche geistige In-der-Welt-Sein ist es, welches den Menschen mit der Sinnfrage konfrontiert. Und es ist das Geistige im Menschen, das über seine Wertestrebigkeit, „Wertsichtigkeit“ (Hartmann 1954, S. 116) und Wertfühligkeit Antworten auf

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seine Sinnfrage empfängt (zum Streben nach und Fühlen von Werten vgl. Scheler 1927, S. 30 ff., S. 264 ff., S. 358). Der nicht gegenständliche und schwer fassbare Geist ist nur in der Haltung, die ein Mensch gerade einnimmt, oder in der Tat, die er gerade vollzieht, erkennbar. Soweit mit dieser Haltung oder Tat ein individuelles Wertfühlen verbunden ist, kann der Mensch den Sinn seines (jetzt soeben) In-der-Welt-Seins wahrnehmen (fühlen). Sinn ist mithin ein individuelles und situatives Phänomen, gekoppelt an das komplexe, kognitive wie emotionale Bestandteile aufweisende Gefühl, sich gerade für eine wertvolle Haltung oder Tat entschieden zu haben. Der österreichische Mediziner und Psychiater Viktor E. Frankl (2007) hat diese Koppelung von Wert- und Sinnfühlen zur Grundlage seiner „Logotherapie“ gemacht und damit die reduktionistische Beschränkung der Psychologie und Psychotherapie auf Körper und Psyche überwunden. Sinn ist mit dem Selbstbezug von Psyche nicht zu erfassen. Sinn ist ein Phänomen der wertestrebigen geistigen Person.2 Selbstorganisation und Sinn verknüpfen sich also nur dann, wenn für das Individuum die Beteiligung am Ordnungsgeschehen oder das Ergebnis dessen mit einem Wertfühlen einhergeht. Darauf wird zurückzukommen sein.

3.4 Das Sinnpotenzial von selbstorganisatorischer Gestaltung 3.4.1 Abgrenzende Vorbemerkungen Unter Effizienzgesichtspunkten gibt es durchaus gute Gründe für eine Förderung der Selbstorganisation in betrieblichen Teilsystemen (für eine frühe Untersuchung siehe Jung 1985, insbes. S. 113 ff.). Argumentieren lässt sich u. a. mit der Nähe zu den Regelungssachverhalten, Zeit- und Kostenvorteilen sowie den personalen Entwicklungsimplikationen des „learning by doing“. Die hier aufgeworfene Frage nach dem Sinnpotenzial selbstorganisatorischer Gestaltung bedarf aber mit Bezug auf das zuvor dargelegte Verständnis von Sinn einer gesonderten Betrachtung. Konkret geht es um die Frage der Werteberührung der Akteure der Selbstorganisation, weil Werteberührung das Potenzial für Sinnerleben beinhaltet. Bevor wir dieser Frage nachgehen, erscheint es geboten, zunächst und nur beispielhaft auf die psychische Berührung der Akteure im Selbstorganisationsprozess zu schauen. Zum einen berührt Selbstorganisation ohne Zweifel auch die psychische Dimension von Menschsein, woraus sich eine mehr oder weniger große Lücke zwischen potenziellen und realisierten Wirkungen von Selbstorganisation ergibt. Zum anderen

2Mit

„geistiger Person“ verwenden wir einen Pleonasmus als rhetorische Figur. Scheler (2010, S. 28) hat der geistigen Dimension des Menschen den Begriff „Person“, das „Zentrum des Geistes“, gegeben. Frankl (2007, S. 330 ff.) hat daraus mit „zehn Thesen über die Person“ sein Grundverständnis des Menschen in seiner geistigen Dimension („Die Person ist geistig.“) entwickelt.

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wird nicht selten Selbstorganisation mit einem aus unserer Sicht reduktionistischen, d. h. ausschließlich die psychische Dimension erfassenden Blick auf die Beteiligten erörtert. Die Ausführungen im Folgenden dienen insoweit auch dazu, die eigentliche In-Beziehung-Setzung von Selbstorganisation und Sinn im Abschn. 3.3 besser abgrenzen und damit deutlicher markieren zu können.

3.4.2 Psychologische Aspekte der Selbstorganisation am Beispiel des Spannungsfeldes von Stabilität und Wandel Menschliche Existenz steht unausweichlich in einem Spannungsfeld zweier fundamentaler Antinomien: zum einen dem Gegensatz von Zugehörigkeit (Bindung) und Autonomie, zum anderen dem Gegensatz von Stabilität (Sicherheit) und Veränderung (Riemann 1961). Qua Geburt und frühkindlicher Prägung tendiert jedes Individuum mehr zu dem einen oder dem anderen Sehnsuchtsort, wenngleich gesundes, gelingendes Leben stets ein genügendes Maß von beidem, von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit sowie von Beständigkeit und Veränderung erfordert. Die Relevanz der individuellen Prägung für unser Thema Selbstorganisation liegt auf der Hand. So konstatieren beispielsweise Haken und Schiepek (2010, S. 602): „Ausgeprägte Struktur und Bindung wird vom einen als restringierende Machtausübung erlebt, für den anderen ist eben dies die Voraussetzung dafür, seine Verhaltensspielräume und Eigenaktivität überhaupt entfalten zu können. Der eine erlebt sich ohne Vorgaben und Strukturen paralysiert, der andere fühlt sich durch minimale Vorgaben bereits gegängelt oder gar gemobbt. Fazit: (a) Gutes Management muss sich auf die individuellen Bedürfnisse nach Struktur und Führung einstellen. (b) Auf Führung zu verzichten und die Menschen sich selbst zu überlassen ist weder sinnvoll noch entspricht es einem synergetischen Modell der Selbstorganisation. (c) Ethisch gesehen sollte man in jeder Richtung wachsam sein.“

Jedem (Selbst-)Organisationsprozess liegt das Bedürfnis nach Stabilität und Verlässlichkeit, d. h. Erwartbarkeit und Sicherheit in Bezug auf Zuständigkeiten und Handlungsroutinen zugrunde. Dieses Bedürfnis ist die teils unbewusste, teils bewusste Triebfeder im Ordnungsgeschehen. Ein „chronically unfrozen system“ (zu diesem „trügerischen“ – „deceptive“ – Idealtypus siehe Weick 1977, S. 40 f.) würde ein beachtenswerter Anteil der Mitglieder einer betrieblichen Gemeinschaft nur schwerlich aushalten – auch wenn die gegenwärtige Agilitätsdiskussion dies häufig übersieht. Mit Recht sehen Jens Grundei und Boris Kaehler (2018, S. 430) in der aktuellen Diskussion „geradezu groteske Verzerrungen der organisatorischen Wirklichkeit, auch in unsicheren und komplexen Umwelten.“ Wie bei einem gesunden Menschen geht es auch in einem gesunden Betrieb hinsichtlich des Spannungsverhältnisses von Wandel und Stabilität nicht um ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch. Hans-Joachim Gergs, Arne Lakeit und Bodo Linke verweisen in ihren Überlegungen zum „Agilitäts-Stabilitäts-Paradox“ zu Recht darauf, dass

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dies eigentlich anerkanntes Gedankengut seit den Arbeiten des Soziologen Talcott Parsons in den 1950er Jahren ist. „Denn Organisationen oszillieren zwischen den beiden Polen von Agilität und Stabilität. Und bei diesem Prozess des Oszillierens gibt es keinen archimedischen Punkt, keine dauerhafte Mitte. Führungskräfte von nachhaltig erfolgreichen Unternehmen schaffen es, diese Paradoxie produktiv zu nutzen.“ (Gergs et al. 2018, S. 186; für eine grundsätzliche Anleitung zum dialektisch-kreativen Umgang mit solchen Paradoxien siehe Pietschmann 2016).

Auf der Ebene der Akteure im Selbstorganisationsprozess, wo individuell unterschiedliche Prägungen und Verhaltensdisposition aufeinandertreffen, bleibt der kreativ-produktive Umgang mit dem Sowohl-als-Auch von Stabilität und Wandel eine permanente Herausforderung. Selbstorganisation innerhalb gegebener Strukturen bedeutet Übergang von einer Ordnung in eine andere Ordnung, also Wandel. Soweit die individuellen Prägungen der Akteure im Selbstorganisationsgeschehen unterschiedlich sind, und davon ist im Normalfall auszugehen, treffen Individuen mit einer Tendenz zum Festhalten und zur Verteidigung der alten Ordnung auf Individuen, die Freude an der Veränderung haben. Einige schätzen und nutzen die gegebenen Freiheitsgrade, andere fürchten um die geschätzte Sicherheit und möglicherweise auch den Verlust gewachsener Bindungen. Das Konfliktpotenzial ist ebenso evident wie die Fähigkeit zur integrativen Konflikthandhabung unverzichtbar (siehe – auch mit Hinweisen zum Methodendefizit in betrieblichen Selbstorganisationsprozessen – Jung 1985, S. 96 ff., S. 140 f., S. 167 f., S. 189 ff.). Soll wirklich eine weitgehend angstfreie Beteiligung am Selbstorganisationsgeschehen zustande kommen, ist „psychologische Sicherheit“ (Goller und Laufer 2018) eine wichtige Voraussetzung.

3.4.3 Noologische Aspekte der Selbstorganisation – zum individuellen Wert- und Sinnerleben im Selbstorganisationsprozess In Teilen der einschlägigen Literatur werden Selbstorganisation und Sinn in geradezu selbstverständlicher Weise miteinander verknüpft. Selbstorganisation macht Sinn. Diese Selbstverständlichkeit hat ihren Preis: Hinsichtlich des inhaltlichen Verständnisses von Sinn bleiben die Aussagen weitgehend im Unklaren; manchmal wird Sinn als ein irgendwie höheres (Unternehmens-)Ziel definiert oder Sinn mit etwas gleichgesetzt, was schon immer als Merkmal von Organisation und Organisieren galt und nun einen attraktiver scheinenden begrifflichen Anstrich erhält (als Beispiel für viele sei auf das Werk von Franziska Fink und Michael Moeller 2018 verwiesen, in dem „Sinn“, „Zweck“ und „purpose“ „weitgehend als Synonyme“, S. 24, verwendet werden, aber zugleich „Sinn“ für „higher purpose“ steht).

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Wir haben Sinn als individuelles und situatives Wertfühlen der geistigen Person definiert. Sinnerleben ist kein psychologisches, sondern ein noologisches Phänomen. Es geht um die Frage, ob das Selbstorganisationsgeschehen und dessen Ergebnis für die beteiligten Personen mit einem Werteerleben verbunden sind. Sinn kann nicht angeordnet werden, auch nicht durch die Aufforderung: Organisiert euch selbst! Eine allgemeingültige Antwort der Sinnfrage ist gar nicht möglich. Wir können lediglich das Potenzial von Selbstorganisation für die individuelle Werteberührung erörtern. Hierfür soll die kategoriale Unterscheidung von schöpferischen Werten, Erlebniswerten und Einstellungswerten – von Frankl (2006, S. 47) als die „drei Hauptstraßen zum Sinn“ bezeichnet – herangezogen werden (für eine Erörterung bezüglich der Arbeitswelt allgemein siehe Graf 2007, S. 91 ff). Schöpferische Werte werden durch das Hervorbringen einer materiellen und immateriellen Leistung realisiert. Ordnungsleistungen sind immaterielle Leistungen. Wenn beispielsweise Arbeitsteams ihre Aufgabenverteilung und ihre Arbeitsprozesse strukturieren oder Regeln eines guten Miteinanders festlegen, werden schöpferische Werte realisiert. Das einzelne Teammitglied kann sich mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen und seinen Ideen für eine gute Arbeitsorganisation erleben. Je nach Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit findet es die eigenen Vorstellungen in der dann realisierten Ordnung wieder. Die Gruppendynamik im Selbstorganisationsprozess führt allerdings zu Unterschieden darin, wie sehr das einzelne Teammitglied sich einbringen und in der entstandenen Ordnung wiederfinden kann. Organisatorisches Gestaltungshandeln fördert das Gefühl von Verstehbarkeit und von Handhabbarkeit des Arbeitsgeschehens. Ob auch das Gefühl von Sinnhaftigkeit angesprochen wird (vgl. das Konzept der Salutogenese bei Antonovsky 1997), hängt indes sehr vom Ziel des Ordnungsgeschehens ab. Selbstorganisation kann beispielsweise der Beschleunigung des Arbeitsflusses oder einer gerechteren Verteilung von Routine- und Kreativaufgaben dienen. Wer effizientes Arbeiten als wertvoll empfindet, wird vom Effizienzziel angesprochen und bei dem entsprechenden Gestaltungshandeln Sinn empfinden. Wer Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert beimisst, wird vom Vorhaben einer gerechteren Aufgabenverteilung angesprochen und bei dem darauf bezogenen Gestaltungsbeitrag Sinn empfinden. Es spricht durchaus einiges dafür, dass die Möglichkeit zur eigenen Arbeitsgestaltung bei ausreichendem Wissen und ausreichender Beteiligung mit einem (schöpferischen) Wertfühlen und damit einem Sinnempfinden einhergeht. Erlebniswerte werden dadurch realisiert, dass das Geschehen im Selbstorganisationsprozess als wertvoll erlebt wird. Gleichberechtigte Teilhabe, Rücksichtnahme auf kommunikativ Zurückhaltende oder Leistungsschwächere, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten oder das Erleben von Teamgeist sind Beispiele für mögliche Erlebniswerte im Selbstorganisationsprozess. Hier wird besonders deutlich, dass sich Sinnempfinden nur dann einstellt, wenn das individuelle Wertesystem der Beteiligten im Selbstorganisationsgeschehen eine Entsprechung findet, d. h. das potenziell Wertvolle als realisierter Wert erlebt wird. Mit Blick auf die Gruppendynamik und das Konfliktpotenzial im Selbstorganisationsgeschehen spricht einiges dafür, dass eine achtsame,

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mitarbeiterorientierte (insbesondere partizipative) Führung Erlebniswerte wie Gleichberechtigung, Fairness, Rücksichtnahme oder Entwicklungsförderung mindestens genauso gut realisieren kann wie die selbstorganisatorische Gestaltung. Einstellungswerte werden realisiert durch persönliche Haltungen in schwierigen, nicht oder jedenfalls nicht kurzfristig veränderbaren Situationen. Frankl hat damit vor allem eine Sinnmöglichkeit bei unabänderlichen schicksalhaften Situationen betonen wollen. Auch wenn das Geschehen in Selbstorganisationsprozessen nicht als schicksalhaft gelten muss, geht es – wie stets im Arbeitszusammenhang – auch um Haltungen und das damit verbundene Werteerleben. Wer sich innerhalb vorgegebener und klar definierter Strukturen wohler fühlt als in einem offenen, gestaltbaren Handlungsfeld oder wer sich in der Dynamik selbstorganisatorischer Gestaltung mit den eigenen Vorstellungen nicht durchsetzen kann, der steht doch vor der Herausforderung (und Möglichkeit), dazu eine Haltung einzunehmen. Man kann sich über das „Chaos“ mokieren oder die grundsätzliche Möglichkeit der Selbstgestaltung schätzen und die eigene Schwäche in der Beteiligung daran akzeptieren – oder gar an der Reduzierung dieser Schwäche arbeiten, also eine wertvolle Haltung zum Ausgangspunkt einer persönlichen Entwicklung machen. Einer zunächst bedrückenden Situation ein „Trotzdem“ entgegenzustellen, ist immer eine der geistigen Person innewohnende Sinnmöglichkeit. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Selbstorganisation vor allem im Zusammenhang mit dem schöpferischen Wert des eigenen Gestaltungshandelns ein deutliches Sinnpotenzial aufweist. Gestärkt wird dieses Potenzial auch dadurch, dass Selbstorganisation im Vergleich mit einer hierarchischen Gestaltung „von oben“ das Verantwortungsgefühl der beteiligten Individuen stärker anspricht. Sich verantwortlich zu fühlen, ist zweifelsohne ein Phänomen der geistigen Seins-Schicht des Menschen und berührt das Wert- und Sinnempfinden. Dennoch müssen für die Realisierung von Sinnerleben zumindest zwei Bedingungen erfüllt sein: Die potenziell Beteiligten in dem Selbstorganisationsgeschehen müssen eine Möglichkeit zur Realisierung der je individuellen Wertvorstellungen sehen. Und sie müssen in der Dynamik des Selbstorganisationsgeschehens eine ausreichende Beteiligungs- und Einflusschance haben. Gerade die zweite Bedingung macht deutlich, dass Selbstorganisation (auch) unter dem Aspekt der Sinnverwirklichung einer Moderation bedarf und insoweit durchaus in Konkurrenz zu partizipativen Formen von hierarchievermittelter Ordnung steht (für die nachgewiesenen positiven Wirkungen partizipativer Führung auf Zielakzeptanz und -bindung, Gerechtigkeitsempfinden und Selbstvertrauen siehe etwa Graumann und Klavina 2009, S. 32 f., und die dort gen. Lit.).

3.5 Fazit Unsere Überlegungen zum Zusammenhang von Selbstorganisation und Sinn stützen sich auf ein Werte- und Sinnverständnis, wie es in der philosophischen (Scheler) und existenzanalytischen (Frankl) Anthropologie entwickelt worden ist. Sinn ist ein Phänomen der geistigen Dimension von Menschsein. Dies ermöglicht auch eine Abgrenzung

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zu allfälligen psychischen Wirkungen im Selbstorganisationsgeschehen. Und Sinn ist ein subjektives (nicht interpersonell übertragbares) und situatives Empfinden, gebunden an eine Werterealisierung durch Haltung und/oder Tätigsein. Selbstorganisation ist Gestalten von Ordnung, d. h. schöpferisches Tätigsein in eigener Verantwortung. Darin vor allem liegt das Sinnpotenzial von Selbstorganisation. Für die Realisierung dieses Potenzials müssen die an Selbstorganisation Beteiligten ein je individuelles „Wozu“ erkennen: z. B. der übertragenen Verantwortung gerecht werden wollen, eine gerechte Aufgabenverteilung innerhalb der Arbeitsgruppe anstreben, den Bearbeitungsprozess einer Kundenanfrage beschleunigen oder im Austausch der Gedanken mit anderen Beteiligten Gemeinschaftsgeist erfahren wollen. Wer seine eigenen Wertvorstellungen im Selbstorganisationsprozess oder dessen Ergebnis, der neuen Ordnung, nicht wiederfindet, „sieht“ auch keinen Sinn darin. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass er oder sie nicht am Selbstorganisationsgeschehen teilnimmt. Es gibt andere Gründe für eine mehr oder weniger engagierte Beteiligung – beispielsweise den Grund, nicht als Außenseiter oder Arbeitsverweigerer aufzufallen. Aber damit verlassen wir die geistige (Werte-, Sinn-)Ebene und heben auf psychologische Begründungen (z. B. Angst vor Sanktionen) ab. Nimmt man die im Beitrag angedeuteten Wirkungen einer nicht oder schlecht moderierten Selbstorganisationsdynamik in das Fazit mit hinein, lässt sich resümieren: Selbstorganisation liefert weder ein zwangsläufiges „Wozu“ (Sinnaspekt) noch ein in jedem Fall erträgliches „Wie“ (psychische Aspekte) für die beteiligten Akteure. Bloßes Vertrauen in das Prinzip Selbstorganisation ist im betrieblichen Kontext im Hinblick auf ökonomische wie soziale Effizienz eher ein Ausdruck von Blauäugigkeit, manchmal auch verantwortungslosem Führungsverzicht. Nüchterner gesagt: „self-organizing processes are not self-organizing“ (Felin und Powell 2016, S. 92). Betriebliche Selbstorganisation benötigt Rahmenbedingungen, worunter ein ausreichendes Maß an Stabilität (Sicherheit) und eine sozial-kompetente Moderation der Selbstorganisationsdynamik uns besonders wichtig erscheinen. Mit Bezug auf unsere Kernfrage nach der Verknüpfung von Selbstorganisation und Sinnerleben gilt eine weiter gehende Empfehlung: „Lern- und Entwicklungsprozesse einer Organisation müssen von den Beschäftigten – Mitarbeitern und Führungskräften – als sinnvoll erlebt werden und mit deren eigenen Zielvorstellungen [besser: Wertvorstellungen] und zentralen Lebenskonzepten korrespondieren, damit diese sich darauf einlassen“ (Schiersmann und Thiel 2011, S. 73; in Anlehnung an Haken und Schiepek 2010, S. 629). Das ist nicht wenig an Voraussetzung.

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Scheler, M. (2010). Die Stellung des Menschen im Kosmos (18. Aufl.). Bonn: Bouvier Verlag. (Erstveröffentlichung 1928). Schiersmann, C., & Thiel, H. U. (2011). Organisationsentwicklung. Prinzipien und Strategien von Veränderungsprozessen (3., durchges Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Simon, F. B. (2013). Einführung in die systemische Organisationstheorie (Vierte, unverä. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Weick, K. E. (1977). Organization design: Organizations as self-designing systems. Organizational Dynamics, 6(2), 31–46.

Rüdiger Heinrich Jung, Prof. Dr. rer. pol., Studium der Betriebswirtschaftslehre und Sozialpsychologie an der Universität Köln; Promotion mit einer Arbeit über „Selbstorganisation“ an der Universität Siegen (1985); Professur für Management/Führung und Organisationsentwicklung an der Hochschule Koblenz, RheinAhrCampus Remagen (em.); Vielzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, darunter den Beitrag „Selforganization“‘ für die „International Encyclopedia of Civil Society“; psychotherapeutische Ausbildung; langjährige Industrietätigkeit und Coaching von Führungskräften.

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Teaminteraktionen als Ressource der Organisation – ein doppelt paradoxes Unterfangen Gerhard P. Krejci und Torsten Groth

Wenn Mehrdeutigkeit zum Problem wird, empfiehlt sich vor allem mündliche Kommunikation in Interaktionssystemen unter Anwesenden. (Niklas Luhmann) Zusammenfassung

Im folgenden Beitrag wird die Relevanz von Teams zur Bewältigung aktueller Herausforderungen spezifisch hervorgehoben. Argumentiert wird, dass der Verweis auf stärkere Selbstorganisation in eine konzeptionelle Leere läuft. Mit Referenz auf die Unterscheidung der Systemtypen Organisation und Interaktion wird gezeigt, dass die Strukturbildung in Organisationen der konzeptionelle Rahmen für zukunftsfähige Organisationsformen ist (und bleibt). An die Stelle von Selbstorganisation treten ausgewählte Strukturen von Interaktionssystemen, die die Entscheidungsprämissen von Organisationen notwendig ergänzen müssen. Entscheidend ist das Management von Paradoxien. Wo, wenn nicht in Teams, die sich ihrer eigenen Paradoxien bewusst sind, kann über die Paradoxien von Organisationen reflektiert werden?

G. P. Krejci (*)  Wien, Österreich E-Mail: [email protected] T. Groth  Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_4

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4.1 Einleitung Mit dem Begriff und Konzept der Selbstorganisation wird derzeit das Interesse stark auf Formen der Steuerung, Partizipation, Entscheidungsfindung, Führung oder auch Teamund Projektarbeit gerichtet. Nicht selten wird hierbei Selbstorganisation normativ eingesetzt, das heißt, generell positiv bewertet und als Lösung von Problemen gesehen, die durch zu stark hierarchisch geprägte und somit als „Fremdorganisation“ erlebte Vorgaben bezeichnet werden. Aktuell scheint Selbstorganisation – implizit oder explizit – als Heilsbringer für einen Großteil organisatorischer Probleme und Herausforderungen in der sogenannten VUCA-Welt zu gelten. Im folgenden Beitrag werden wir ein wenig grundlegender argumentieren. Wenn man den Kernfragen jedweder Organisationsform auf den Grund geht, ist man in der Lage, die Funktion etablierter Differenzierung und Strukturierung von Organisationen zu sehen. Gemäß dieser Leitlinie bedienen wir uns der theoretischen Ausarbeitungen zur Selbstorganisation in der soziologischen Systemtheorie Luhmann’scher Prägung. Nach dieser wird Selbstorganisation als Ordnungsprinzip konzipiert, das in sozialen (und psychischen) Systemen immerfort und überall vorherrscht. Kurz bedeutet dies, dass „Organisation“ oder auch „Interaktion“ (wir kommen auf diese Begriffe zurück) bzw. „Kommunikation“ oder „Entscheidung“ – in welcher Form und Ausprägung auch immer – selbstorganisiert geschehen. Mit einer solch radikalen Definition verliert Selbstorganisation ihre Basis als Unterscheidungskriterium für ein mehr oder weniger erfolgreiches Organisieren. Doch was tritt an deren Stelle? Wir werden argumentieren, dass Formen der Unsicherheits- und der Paradoxiebearbeitung entscheidende organisatorische Unterschiede machen. Hierzu bedarf es einer besonderen Verarbeitung von Wahrnehmungsleistungen. Der theoretische Hintergrund dieser Doppelthese liegt einerseits in der Trennung und Kopplung von psychischen und sozialen Systemen, was wichtige Fragen aufwirft, wie „der Mensch“ mit seiner Individualität in der Kommunikation vorkommt, und andererseits in der Differenzierung der Sozialsysteme in Interaktion und Organisation. Grundsätzlich erreicht man mit einer solchen Theorieanlage, die Überlebensfrage jedweder Organisation und Organisationsform zu spezifizieren: Mit welchen (klassischen, agilen …) Formen der Differenzierung und Entdifferenzierung und welchen „individuellen Beiträgen“ gelingt es Organisationen, Widersprüchliches intern intelligent zu bearbeiten? Teams als Sozialsysteme, die zugleich Erwartungen der Interaktion und Organisation vereinen, kommt hierbei eine Sonderfunktion zu.

4.2 Selbstorganisation – immerfort Zunächst bietet es sich an, auf Ursprünge des Konzepts der Selbstorganisation, also auf ausgewählte systemtheoretische Grundlagen zurückzugehen. Mit „Selbstorganisation“ sind all jene rekursiven Prozesse gemeint, in denen bestimmende Gestaltungselemente

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und Vorgehensweisen (man könnte auch sagen: Funktionen und Strukturen) innerhalb eines Systems und von diesem selbst produziert und reproduziert werden. Mit Beginn des kybernetischen Denkens (Wiener 1963) hat sich „Selbstorganisation“ in zahlreichen Disziplinen als grundlegendes Ordnungsprinzip etabliert – sei es in der Biologie, der Physik, der Ökonomie, der Soziologie oder auch in der Erkenntnistheorie. Bei aller Differenz und Differenzierung wird immerfort mit diesem Denken ein Verständnis etabliert, dass Systeme nicht von extern bestimmt („organisiert“) werden können. Systemtheoretisch Interessierte werden Selbstorganisation mit dem Konzept der „Autopoiesis“ verknüpfen. Dieses stellt in gewissem Sinne eine Steigerungsform dar. Mehr noch als um das Moment rekursiver Ordnungsprozesse geht es um Prozesse der Selbsterzeugung. Der ursprünglich nur für biologische Systeme gedachte Begriff (Maturana und Varela 1984) setzt sich aus den griechischen Wörtern autos (= selbst) und poiein (= machen) zusammen. Er beschreibt den Prozess der Selbstproduktion von Elementen eines Systems (z. B. Zellen) aus den je eigenen Elementen. Luhmann überträgt dieses grundlegende Lebensprinzip auf soziale und psychische Phänomene, indem er „Kommunikationen“ (Luhmann 1984) und „Gedanken“ (Luhmann 1985) als jeweilige Basiselemente betrachtet, die in ihrem selbstreferenziellen Prozessieren soziale und psychische Systeme entstehen lassen. Solange Kommunikationen auf Kommunikationen oder auch Gedanken auf Gedanken folgen, so lange bestehen – man könnte auch sagen „leben“ – soziale und psychische Systeme. Im Zuge des „Sich-selbst-Organisierens“ setzt sozial wie psychisch autokatalytisch Strukturbildung ein: In sozialen Systemen kommt es zur Ausbildung von Verhaltenserwartungen und Prämissen (zum Beispiel, wie man am effizientesten produziert) und das Bewusstsein verknüpft lose Assoziationen zu Gedankensträngen. Permanent gestalten („organisieren“) Systeme ihre inneren Strukturen selbst. Diese Theorieanlage ist gut 35 Jahre alt und hinreichend diskutiert (Haferkamp und Schmid 1987; Krawitz und Welker 1992), darum fassen wir sie als Basis unserer Überlegungen nur kurz zusammen: Autopoietische Systeme können nicht anders, als sich selbst zu organisieren und auch selbst zu strukturieren. Das Gegenteil von Selbstorganisation ist folglich nicht „Fremdorganisation“, sondern Nicht-Organisation. Und Selbstorganisation ist kein Gegenbegriff zu Strukturen, beide sind zirkulär verknüpft. Auf diese Weise begrifflich-theoretisch gerüstet, können wir uns im nächsten Schritt spezifischen Differenzierungsformen von Sozialsystemen zuwenden. Die daran anschließende Auseinandersetzung mit den Systemtypen „Organisation“ und „Interaktion“ wird die Grundlage dafür sein, um die Überlebensfrage jeder Organisationsform spezifischer zu stellen.

4.3 Organisation und Entscheidung – Grundfragen Ist von Organisationen die Rede, so hat man es mit Sonderformen sozialer Systeme zu tun, deren Grundoperation die Autopoiesis von Entscheidungen darstellt, bzw. genauer: von Kommunikationen, die zu Entscheidungen führen (Luhmann 2000). Theoretisch

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und praktisch besteht eine Organisation, solange Entscheidungen an Entscheidungen anschließen. Relevant für unsere Frage nach strukturierten Formen der Selbstorganisation (in der Selbstorganisation) ist aus dieser Sicht das Verbindende neuer und alter Organisationsformen. Sowohl eine bürokratische (Weber 1980) wie auch eine lehrbuchartige holokratische Organisation (Robertson 2016) haben und lösen das gleiche Problem: Beiden geht es um das Herbeiführen von Entscheidungen, also um die Auswahl von prinzipiell wählbaren Alternativen und somit um die Bewältigung von Unsicherheit. In Organisationen können Entscheidungen zeitlich bzw. örtlich getrennt, also unabhängig von der Anwesenheit der Mitglieder, getroffen werden. Entsprechend ­effizient können Entscheidungsprozesse laufen, sofern einige Voraussetzungen erfüllt sind. Im Wesentlichen ist hier die Zwecksetzung zu nennen, also die Formulierung sachlicher Ziele, nach denen sich Organisationen ausrichten. Eng verknüpft mit der Zielsetzung sind Organisationen um zwei Grundprobleme herum gebaut: die Bewältigung von Unsicherheit und die Bearbeitung von Entscheidungsparadoxien (Luhmann 2000). Mit „Untersicherheitsabsorption“ und „Paradoxiemanagement“ sind nun zwei Bezugsprobleme benannt, die in gewissem Sinne zum „Universalmaßstab“ für alle Organisationsfragen zu gelten haben. Jede neue Organisationsform, jeder mehr oder wenige gehypte Ansatz müsste sich mit Luhmann der Frage stellen, ob und wie diese Bezugsprobleme bewältigt werden. Organisationen antworten typischerweise mit mehrfacher Strukturbildung auf Entscheidungsparadoxien. Sie differenzieren sich erstens aus in zentrale und dezentrale Einheiten mit Geschäftsbereichen und -prozessen, Sparten oder auch Abteilungen. Zugleich bilden sie Leitungsgremien, Steuerungskreise und auch Führungspersonen heraus. Mit dieser vertikalen und horizontalen Differenzierung sorgen sie für (Teil-)Zuständigkeiten, was es ihnen überhaupt erst ermöglicht, die vielfältigen, widersprüchlichen Anforderungen der Umwelten intern abzubilden und dennoch Entscheidungsfähigkeit zu sichern. Differenzierung heißt Paradoxiemanagement (Simon 2013) auf „höchster Ebene“, also auf der Ebene der Organisationsform. Organisationen lösen mit Differenzierung Paradoxien und schaffen, zugegeben, zugleich andere, denn mit aller Zerlegung in professionelle Zuständigkeiten werden Teilrationalitäten ausgebildet, die gemeinhin mit den Namen „Spartendenken“ oder „Bereichsegoismen“ umschrieben werden. Und diese Teilrationalitäten müssen an anderen Stellen wieder zusammengefügt werden. Will man einen organisationstheoretischen Zugriff auf die „Steuerungsfrage“ aller Entscheidungsprozesse bekommen, ist es hilfreich, ganz „klein“ und „einfach“ anzufangen. Jede einzelne Entscheidung, so simpel sie sein mag, ist ein höchst voraussetzungsvoller Prozess. Oftmals jedoch wird Entscheiden mit dem Problem der Auswahl der besten aus vielen Alternativen verknüpft. Allein diese Vorstellung, so March und Simon (1993), ist mit einigen „Denkfehlern“ behaftet: Die Alternativenauswahl ist begrenzt, Kriterien und Präferenzen ändern sich usw. Organisational kommt jedoch das hinzu, was Luhmann recht unverdächtig mit „Kommunikation von Entscheidungen“ meint. Jede Entscheidungskommunikation lässt den Gegensatz zwischen der gewählten und der nicht gewählten Alternative erkennbar werden. Dieses Abwägen zwischen Alternativen bedeutet zwangsläufig, dass man mit Konflikten und Dissens umgehen muss,

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um Eindeutigkeit in der Uneindeutigkeit herstellen zu können. Sowohl im Großen („Organisationsform“), wie im Kleinen („Entscheiden“) entkommt keine Organisation dieser „Paradoxie des Entscheidens“ (Luhmann 1993). Zwangsläufig müssen sich zur Absorption der Unsicherheit und damit auch zur Konfliktregulierung Strukturen im Sinne von Erwartungen und Prämissen herausbilden, die nahelegen, wie einerseits zwischen und andererseits in den zuständigen Einheiten entschieden wird. Auch alle neuen Formen des Organisierens werden nicht ohne diese zweifache Strukturbildung auskommen. Selbstorganisation führt zu Strukturbildung bzw. ist ohne Strukturbildung nicht denkbar. Es handelt sich in den Worten Luhmanns um einen „autokalytischen“, also unvermeidlichen Prozess (vgl Luhmann 1984, S. 149ff.).

4.4 Organisation und Entscheidungsprämissen – notwendige Strukturbildung Das Konzept der Entscheidungsprämissen (Luhmann 2000) hilft, eine präzisere Vorstellung von notwendigen Strukturbildungen in Organisationsfragen zu bekommen. Vertiefend werden hierzu drei Formen entscheidbarer Entscheidungsprämissen formuliert. Wie der Name bereits andeutet, handelt es sich um explizit formulierte und zielgerichtet umsetzbare Entscheidungsvorgaben. Man kann zwischen Programmen, formalen Kommunikationswegen und Personen unterscheiden. Programme sind Vorgaben, wie in konkreten Situationen zu entscheiden ist. Sie finden sich zumeist ausgebildet als „Konditionalprogramme“ oder „Zweckprogramme“. Erstere sind formuliert als Wenn-dann-Definitionen, die definieren, was weiter zu tun ist, wenn ein festgelegter „Ausgangswert“ erreicht ist. Ein Großteil dessen, was man als „bürokratisch“ beschreibt, ist konditional programmiert: Vorschriften, Regeln, Verfahren, Aktenläufe, Geschäftsprozesse usw. Zweckprogramme hingegen legen recht offen das Ergebnis der Entscheidungen fest, es sind all jene Entscheidungsvorgaben, die einen bestimmten Zweck vorgeben, mithin also als „Um-zu“-Formulierungen zu finden sind. Das können konkretere Vorgaben in Richtung Kundenzufriedenheit oder Umsatzgewinn sein bis hin zu Projekt- und Strategiezielen oder auch „Purpose“. Zusätzlich zu den Programmen werden sich in allen Organisationsformen Entscheidungsprämissen finden, die den „Weg“ oder auch den „Ort“ nahe- bzw. festlegen. Hierbei geht es um Verantwortlichkeiten, Zuständigkeiten, Berichtswege und hierarchische oder auch laterale Beziehungen, definiert als „Kommunikationswege“. Darüber hinaus fungieren auch „Personen“ als relevante Entscheidungsprämissen, d. h. Entscheidungen werden getroffen, sobald eine Person oder eine Personengruppe diese vorschlägt und gutheißt oder auch Geschichten darüber entstehen, dass eine wichtige Person wohl so entschieden hätte. Neben den drei entscheidbaren Prämissen, die zumeist eine besondere Wirkung entfalten, indem sie kombiniert werden, finden sich als vierte Kategorie „nicht entscheidbare Entscheidungsprämissen“ (vgl. Luhmann 2000, S. 241 ff.). Damit sind informelle

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Kommunikationswege und Kulturphänomene erfasst. Sie lassen sich als geronnene Praxis nur schwer erkennen, denn sie zeichnen sich weder durch explizite Anweisungen noch durch zielgerichtete Vorgehensweisen aus. Nicht entscheidbare Entscheidungsprämissen zeigen sich in der täglichen Praxis der Interaktionsgestaltung, in der Frage, ob eher formelle oder informelle Kommunikationswege (in Form von Seilschaften, Freundeskreisen, Kaffeeklatsch usw.) genutzt werden, ob man sich programmgemäß absichert oder ob es reicht, eine für relevant erachtete Person zu fragen oder per Mail über „cc“ zu informieren. Mit diesem ersten Prämissen- und Strukturfokus lässt sich zeigen, dass ein Großteil neuerer Organisationsansätze auch gelesen werden kann als eine Verschiebung im Verhältnis zwischen den Prämissen – aber „entfernt“ werden Prämissen bzw. allgemein Strukturen nicht. Vieles, was mit „Selbstorganisation“ bezeichnet wird, erweist sich als „Fremdorganisation“: Oft geht es in Richtung Zweckprogrammierung, gepaart jedoch mit vielen Konditionalprogrammen, was die Form der Entscheidungsfindungen angeht, und all dies in Bezug auf Kommunikationswege kombiniert mit starken Rollenvorgaben in und an Teams hinsichtlich ihrer Entscheidungsbefugnisse.

4.5 Grenzen der Unsicherheitsabsorption durch Entscheidungsprämissen Werfen wir nach diesen grundlegenden Überlegungen zu den strukturellen Voraussetzungen des organisationalen Entscheidens einen Blick auf den aktuellen Kontext. Organisationen sind in letzter Zeit besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Durch Globalisierung und Digitalisierung sehen insbesondere Unternehmen ihre bisher gängigen Formen der Unsicherheitsbearbeitung infrage gestellt. Unter den Bedingungen digitaler Technologiesprünge, volatiler Märkte und disruptiver Geschäftsmodellentwicklungen geraten bewährte Prämissen an ihre Grenzen, vor allem diejenigen, auf denen die auf Wiederhol- und Planbarkeit angelegten Entscheidungsprogramme beruhen. Folgt man der aktuellen Ratgeberliteratur, kann recht eindeutig erfasst werden, was zu tun ist (vgl. Groth 2017). Es werden Hinweise gegeben, die – sehr grob zusammengefasst – auf Selbstbestimmung, Demokratie, Sinnhaftigkeit, Agilität und Rollenfixierung hinauslaufen. Man könnte auch sagen, es wird die andere Seite klassischer Organisationsmodelle stark gemacht. Mit Blick auf die Grundstruktur von Managementmoden ist dieses Vorgehen erwartbar. Schon Herbert Simon (1946) konnte vor mehr als sieben Jahrzehnten zeigen, dass sich die damals schon kursierenden Hinweise über (einzig) richtiges Organisieren fundamental widersprachen. Zentralisierung oder Dezentralisierung, eine hohe oder geringe Kontrollspanne: Für jedes Erfolgsprinzip konnte ein gegenteiliges gefunden werden, das ebenso empfohlen wurde. Damit legte Simon eine Doppelspur, die noch ein wenig zu verfolgen sich lohnt. Der Erfolg der Organisation kann nicht „präskriptiv“, vorab bestimmt werden, und er bemisst sich an der Art und Weise, wie eine Organisation gegensätzliche Prinzipien von Flexibilisierung

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und Festlegung vereint. Kurz skizziert geht es, wenn man heutige Anforderungen vor Augen hat, um eine Neubalancierung der Gegensatzpaare: • • • • •

Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung, Demokratie vs. Hierarchie, Sinnhaftigkeit vs. Indifferenz, Agilität vs. Beständigkeit, Rolle vs. Organisation.

Diese Liste an paradoxen Fragestellungen könnte noch verlängert werden, sie sollte jedoch reichen, um zu zeigen, dass alle „einseitigen“ Ansätze auf Dauer kaum bestehen können. Es wird offensichtlich, dass sowohl das Entscheiden an sich, als auch Grundfragen der Organisationsgestaltung nicht mehr eindeutig beantwortbar sind. Pragmatische Paradoxien (vgl. Bateson et al. 1956), die es an sich schon immer gab, können nicht mehr mit der Idee eindeutiger Richtigkeit negiert werden. Besonders hier erweist sich ein systemischer Leitspruch, den wir von Fritz B. Simon kennen, als zutreffend: „Ambivalenzfreiheit und Leben sind nicht miteinander vereinbar“. Wenn die inneren Strukturen von Organisationen mit der Bearbeitung der äußeren, sich als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig präsentierenden Rahmenbedingungen an ihre Grenzen gelangen, wenn nicht mehr „präskriptiv“ organisiert werden kann, stoßen Organisationsansätze jeglicher Art an ihre Grenzen. Dass es jedoch nicht ausreicht einfach nur Teamarbeit zu fordern, werden wir im Folgenden anhand einer vertieften Auseinandersetzung mit den besonderen Strukturbedingungen von Interaktionssystemen zeigen.

4.6 Teamarbeit als Lösungsansatz Schon seit langem, immer wenn intensiv vernetzte, direkte handwerkliche oder kommunikative Zusammenarbeit erforderlich wurde, hat sich die Arbeit in Kleinsystemen bewährt, für die der gängige Begriff „Team“ Verwendung findet. Teams sind in der Regel in engem komplementären Zusammenhang zu einer Organisation zu sehen. Wenn von Teamarbeit gesprochen wird, so ist dies von anderen (informellen) Gruppenbildungen innerhalb einer Organisation (zum Beispiel Cliquen, Freundeskreise, Seilschaften usw.) zu unterscheiden. Die Organisation schafft entsprechende strukturelle Bedingungen zur Bildung von Teams, die sich an funktionalen Fragestellungen orientieren und in der Regel nicht von den einzelnen Teammitgliedern geändert werden können. Teil dieser Bedingungen sind die Erwartungen, dass die Teammitglieder ernsthaft, umsichtig und interessiert an den Aufgabenstellungen und den vorliegenden Themen arbeiten, einen Beitrag zu Entscheidungsfindungen leisten und dabei möglichst selbstgesteuert und selbstführend handeln. Es gilt die Einschränkung, dass dieses Handeln innerhalb

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geregelter Bahnen einem geordneten Verhalten folgt: „Es herrscht das Gesetz des Wiedersehens“ (Luhmann 2016, S. 61 ff.). Trotz organisationaler Rahmensetzungen ist der Prozess der Teamarbeit in weiten Teilen durch spontane interne Ordnungsbildung geprägt, die einige wichtige Funktionen abdeckt. Erstens können formale Regelungen, sofern sie sich als nicht praktizierbar, problematisch oder sogar kontraproduktiv herausstellen, im Sinne „brauchbarer Illegalität“ (Luhmann 1964, S. 304 ff.) abgewandelt oder explizit nicht befolgt werden. Auf diese Weise werden im Team Defizite der Organisation kompensiert. Zweitens entlastet die Bearbeitung von Konflikten innerhalb des Teams die formale Organisation. Und schließlich werden im Zuge eines Meinungsaustauschs im Team nicht vorhandene oder unvollständige Informationen ergänzt und in der Folge Unsicherheit absorbiert. Als Voraussetzung für diese Vorteile ist das persönliche Gespräch, d. h. Kommunikation unter Anwesenden unentbehrlich (vgl. Luhmann 2016). Insofern schauen wir an dieser Stelle nicht auf „virtuell“ arbeitende Teams. Diese kommunizieren örtlich und zeitlich getrennt voneinander, d. h. unter Bedingungen der Abwesenheit und repräsentieren eher den  Systemtyp Organisation (vgl. Krejci 2010c, 2018). Viele der im Folgenden diskutierten Vorteile können dort nicht umfänglich wirksam werden. Wer von Selbstorganisation spricht und gegen Organisation argumentiert (vgl. Laloux 2015; Keese 2014) sollte sich stärker mit Teamarbeit beschäftigen. Sie stellt sich in der Praxis als eine dauerhafte Abfolge von unterbrochenen Anwesenheitskommunikationen dar, daher ist für die Erörterung der Relevanz von Teams eine Untersuchung der beobachtbaren Phänomene „Interaktion“ angebracht (vgl. Luhmann 1972, 1975; Kieserling 1999).

4.7 Interaktionen in Teams Die Teilnahme an der Kommunikation in Interaktionssystemen ist an sich nicht durch Mitgliedschaft, sondern durch Präsenz gegeben: Wer anwesend ist, kann mitreden (vgl. Luhmann 1975). In dieser  basalen  Ausformung einer Kommunikation unter Anwesenheitsbedingungen (vgl. Kieserling 1999) sind weder Ziele noch Zwecke Voraussetzung für die Entstehung und das Funktionieren eines Interaktionssystems, entsprechend herrscht auch kein Entscheidungsdruck. Viel wichtiger ist, dass die Kommunikation fortgeführt wird, und das kann zufällig bei der Bushaltestelle, beim Friseur, in der Kantine oder am Fußballplatz geschehen. Es gilt die Grundregel: Solange Kommunikation unter Anwesenden stattfindet, so lange existiert das soziale System Interaktion. Die Bedingung der Anwesenheit hat sowohl auf die Themen als auch auf die Abläufe einen wesentlichen Einfluss. Durch den Präsenzcharakter der Individuen wird deren zentrale Rolle hervorgehoben: Sie leisten in der Regel kommunikative Beiträge, die von allen Beteiligten direkt wahrgenommen werden. Daran anknüpfende Feedbackschleifen erfolgen unmittelbar und haben Auswirkungen sowohl auf das grundsätzliche „Gelingen der Kommunikation“ als auch auf die Qualität anschließender Reaktionen (vgl. Luhmann

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2005). Unzufriedenheit und Zustimmung können ebenso wie Missverständnisse und Unklarheiten direkt und relativ rasch kommuniziert und bearbeitet werden. Allerdings würden reine Geselligkeit und Belanglosigkeit in den Kommunikationen unter Anwesenden wenig bis kaum zu Entscheidungen in der Teamarbeit führen, denn zu viele Zufälligkeiten der gegenwartsbezogenen thematischen Strukturierung würden einfließen. Organisationen machen deshalb ihre Anliegen über Zielsetzungen und Interaktionsvorgaben bemerkbar. Dennoch erweist sich Interaktionskommunikation als inhaltsreicher im Vergleich zur Entscheidungskommunikation im Organisationskontext. Vor allem die soziale Dimension rückt in den Vordergrund: Sympathien, Vertrauen, Emotionen und Loyalitäten erhalten in der Interaktion besondere Betonung. Man weiß sich als Individuum mit allen persönlichen Herausforderungen und Präferenzen akzeptiert und gut aufgehoben. Damit verbunden ist auch eine grundsätzliche Tendenz zu symmetrischen Beziehungen untereinander („Alle haben gleiche Rechte und Pflichten“). Und die Erwartung, dass innerhalb des Teams Konsens besteht, erleichtert es, ein teaminternes Verständnis für Zugehörigkeit und Zusammenhalt zu entwickeln („Wir vom A-Team“). Mit all diesen Strukturbedingungen statten sich Interaktionssysteme im gewissen Sinne selbst aus. Im Verlauf der Zusammenarbeit entstehen Verhaltenserwartungen bis hin zu Normen, auf deren Verstoß affektgeladene Reaktionen folgen, die mitunter zu veränderten internen Beziehungen führen können. In solchen Fällen macht sich eine spezifische „Interaktionsgeschichte“ bemerkbar, die man auch als „Teamkultur“bezeichnen könnte und als unentscheidbare Entscheidungsprämisse eine begriffliche Nähe zum Systemtyp „Organisation“ andeutet (vgl. Krejci 2010b, 2010c), ohne dass hierbei etwas über eine inhaltliche Nähe ausgesagt ist. Erwartbar ist eher, dass sich die Teamkulturen spezifisch ausdifferenzieren, und zu bezweifeln ist auch, dass es rollenbasierten – agilen oder auch holokratischen – Ansätzen gelingt, diese Kulturen zu überformen. Die Einzigartigkeit und auch Stärke von Teamkulturen ist eng verknüpft mit der Sonderstellung von Einzelpersonen. Teaminteraktionen sind enger als Organisationskommunikationen an die Einzigartigkeit ihrer Mitglieder gekoppelt. Generell gilt, dass Teammitglieder, so sehr sie sich selbst Individualität zuschreiben und glauben, sie seien grundsätzlich immerfort dieselben, sie jedoch im Zuge von Interaktionsepisoden ihre kommunikativen Beiträge anpassen und im Zuge wechselseitiger Prozesse der Eigendarstellung und Fremdzuschreibung eine soziale Form annehmen. Sie werden im Rahmen der Kommunikation zu Personen, also zu „Konstruktionen der Kommunikation für Zwecke der Kommunikation“ (vgl. Luhmann 2000; Groth 2013). Es macht in der Kommunikation eben einen Unterschied, ob man nur in der Rolle als Leiter einer Business-Unit auftritt oder auch als interessierter Kollege, der im Team Witze macht. Individuen müssen in der Lage sein, unterschiedliche soziale Situationen zu erkennen und hohe Flexibilität hinsichtlich der jeweiligen Rolle(n) an den Tag zu legen. Zusätzlich ist es erforderlich, ein gewisses Geschick dabei aufzubringen, unterschiedliche Beiträge zu leisten oder die jeweiligen Beiträge anderer Interaktionspartner differenziert

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zu bewerten. Die Teamperson nimmt hierdurch eine andere, immer noch individuellere Form an als die Organisationsperson. Im Kleinsystem Team machen sich Dynamiken der Abstimmung und Bewertung von Personen, Themen, Vorgaben und Vorgehensweisen bemerkbar, deren Funktion in größeren Sozialsystemen wie Organisationen üblicherweise durch Strukturbedingungen wie Entscheidungsprämissen zu stark reglementiert, abgefedert und ignoriert werden. Im Rahmen der Anwesenheitsphasen von Teams müssen solche Dynamiken explizit bearbeitet werden und all dies unter der Bedingung, dass derjenige, der seine Wahrnehmungen einbringt, immer schon als „Person“ besonders gerahmt ist. Eine grundsätzliche strukturelle Paradoxie wird erkennbar: Organisationen „stören“ die Teaminteraktionen, indem sie regelmäßig ihre Zwecke und Leistungserwartungen in Erinnerung rufen, zugleich sind Organisationen auf die vermeintliche „Unstrukturiertheit“ von Interaktionen angewiesen, die in ihrer Reichhaltigkeit auch über die Sinnhaftigkeit und den Spaß an der Arbeit bis zur Motivation entscheiden. Im Repertoire der soziologischen Systemtheorie finden sich hierzu noch wenig genutzte Theorieressourcen, die unseres Erachtens für zukünftige Team- und Organisationskonzepte relevante Gestaltungsebenen markieren: • Interaktionssysteme erzeugen eine wichtige Voraussetzung für Selbstorganisation, nämlich Mikrodiversität. • Die Kommunikation unter Anwesenheitsbedingungen ist in der Lage, mit unabwägbaren, unsicheren Situationen umzugehen, indem sie kognitive Routinen nutzen. • Darüber hinaus können im Rahmen von Interaktionen paradoxe Fragestellungen besonders gut bearbeitet werden. Ein wesentlicher Vorteil einer großen Anzahl von Interaktionen in einem Team ist die Entstehung von Mikrodiversität. Mit Mikrodiversität wird die Vielzahl an alltäglichen Interaktionsabstimmungen unter Einzelpersonen zusammengefasst, die sich gerade nicht nach Organisationszielen ausrichten oder einer Entscheidungsprämisse folgen (vgl. Luhmann 2000, S. 255) und sich damit sowohl einem Systematisierungszwang als auch der Bewertung nach organisationalen Kriterien der Richtigkeit entziehen. Es geht um Formen des Miteinanders und nebenbei bemerkt nicht um jene biografische, kulturelle oder andere identitätsstiftende „diversity“, die sich eher als Summe individueller Eigenschaften verstehen lässt. Durch mikrodiverse Lagen wird „eine andere Art von Unruhe ins System gebracht als durch die eigene Dynamik der Selbstorganisation“ (Luhmann 1997, S. 31). Diese Unruhe basiert auf Inhomogenitäten der Elemente und gerade dies treibt erst soziale Systeme voran (vgl. Stichweh 2018, S. 4). Natürlich werden die kommunikativen Beiträge auch innerhalb der Interaktion bewertet. Sie können als strategisch, spontan, berechenbar, unvorhersehbar, überraschend usw. erscheinen – wie auch immer, jedenfalls wird es eine andere als die organisationale Bewertung sein, sodass über Mikrodiversität jene Kontingenzen ins Spiel gebracht werden, die für kreative Lösungen in innovativen Prozessen oder zur Bearbeitung schwieriger Fragestellungen herangezogen werden können.

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Mit Blick auf mikrodiverse Verhältnisse wird abermals die besondere Relevanz von Einzelpersonen erkennbar, denn „es sind Individuen erforderlich, die sich durch die logische und kausale Unordnung nicht aus der Fassung bringen lassen, sondern ad hoc entscheiden können, wie sie reagieren wollen“ (Luhmann 1997, S. 28). Individuen produzieren Mikrodiversität und reagieren gleichzeitig auf Mikrodiversität. Das in der Teamarbeit wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen belanglosen, geselligen Kommunikationen der Interaktionen, die von den zweckorientierten Aufgabenstellungen der Organisation „gestört“ werden, macht im Rahmen von Mikrodiversität Selbstordnung notwendig und möglich (vgl. Fuchs 2001). Auf der Basis bestehender Entscheidungsprämissen werden neue teaminterne Entscheidungsprämissen getroffen und der Prozess der Selbstorganisation wird so kreativ in Gang gehalten. Ein zirkuläres, komplementäres Verhältnis zwischen Mikrodiversität und Selbstorganisation wird erkennbar: „Selbstorganisation kommt nur auf der Grundlage von Mikrodiversität zustande, so wie umgekehrt ein spezifischer Bereich von Mikrodiversität nur abgegrenzt werden kann, wenn er Anlass gibt zur Entstehung von Selbstorganisation“ (Luhmann 1997, S. 30). Wenn Organisationen mithilfe ihrer Entscheidungsprämissen (s. o.) ihre Selbstorganisation strukturieren und sich das vollzieht, was in der Theoriesprache „operative Schließung“ genannt wird, dann liefert Mikrodiversität erforderliche Irritationen, um über Unterschiede, die einen Unterschied machen (vgl. Bateson 1985), als Informationen die Kommunikation in Gang zu bringen. Doch hiermit nicht genug. Im permanenten Oszillieren zwischen Absichtslosigkeit und Zweckorientierung, Informalität und Formalität, Innen- und Außenorientierung – kurzum: zwischen Interaktion und Organisation – werden in Abhängigkeit der einzelnen Beiträge kognitive Routinen aktiviert, die während des Entscheidens entstehen und – wenn sie nicht mehr benötigt werden – wieder in Vergessenheit geraten. Bei kognitiven Routinen handelt es sich um Wissensbestände, die als real behandelt werden. Sie finden sich in Formulierungen, wie: „Da musst du XY anrufen…“, „Nein so kann es nicht funktionieren“, „Ach, die Maschine läuft noch lange …“ Es sind „Identifikationen, […] die für mehrfachen Gebrauch in Kommunikationen gespeichert sind und bei Bedarf abgerufen werden können“ (vgl. Luhmann 2000, S. 250). Sie sind insbesondere hilfreich, wenn man mit unsicheren, unklaren und paradoxen Situationen konfrontiert ist. In solchen Situationen müssen Entscheidungen getroffen werden, bei denen weder auf die Wirksamkeit der Hierarchie (Personen und formale Kommunikationswege) noch auf vordefinierte Routinen (Programme) vertraut werden kann. Im Extremfall handelt es sich um die Bearbeitung von Katastrophensituationen, Störfällen oder Unfällen, in denen Interaktionssysteme auf Grundlage ihrer Mikrodiversität auf kognitive Routinen zählen können (vgl. Krejci 2010a). Der Einsatz von intensiver Kommunikation unter Anwesenheitsbedingungen begünstigt die Wahrscheinlichkeit, dass auf der Grundlage von Mikrodiversität im Kleinsystem kognitive Routinen aktiviert werden. Über die Konstruktion kognitiver Routinen wird es möglich, Entscheidungen zu treffen, „die anderenfalls gar nicht denkbar wären“ (vgl. Luhmann 2000, S. 251). Wird die Unübersichtlichkeit und Unsicherheit zum

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p­ermanenten Fall, spricht viel für ein permanentes Umschalten von Organisation auf Interaktion – und wieder zurück. Allerdings lassen sich kognitive Routinen (ähnlich wie Mikrodiversität) als nicht entscheidbar verstehen. Man kann sie nicht explizit anordnen, sondern man müsste entsprechende Rahmenbedingungen setzen, die ihre Aktivierung begünstigen. Insbesondere die Teamarbeit im Interaktionsmodus stellt eine passende reflexive Rahmenbedingung dar. Und nur zu vermuten ist, dass ein starres Festhalten an Rollenvorgaben, wie sie in neueren Organisationsformen zu finden sind, keine entsprechende Rahmenbedingung für eine produktive Verknüpfung von Mikrodiversität und kognitive Routinen darstellen. Eine der vielleicht wichtigsten, zumeist extern einzuführenden kognitiven Routinen stellt das Konzept der Paradoxie dar. Nur wer Paradoxien kennt, erkennt, worum in Organisations- und Teamfragen immer gerungen wird. Die „Kommunikation unter Anwesenden“ schafft im günstigsten Fall eine passende Arena für den Austausch widersprüchlicher Meinungen und Sichtweisen und die Bearbeitung, also „Entfaltung“ (Löfgren 1979) mehrdeutiger, paradoxer Problemstellungen: „Wenn Mehrdeutigkeit zum Problem wird, empfiehlt sich vor allem mündliche Kommunikation in Interaktionssystemen unter Anwesenden. Das heißt nicht unbedingt, dass die Interaktion dazu dient, Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit zu transformieren. Eher scheint sie dazu zu verhelfen, die Mehrdeutigkeit erfolgreich zu ignorieren und sich auf Entscheidungen zu verständigen, die eine neue Situation schaffen“ (Luhmann 2000, S. 254).

4.8 Paradoxien in Teams Jede Organisationsfrage und jede Entscheidung wird unbeantwortbar bleiben, wenn man sie nach logischen Kriterien beantworten möchte: Sollen wir stärker dezentralisieren oder bei Wachstum mehr zentralisieren, sollen wir Hierarchien bilden oder abschaffen, haben wir in dem neuen Markt einen „first“-, „second“- oder „late-mover advantage“? Ein letzter, hier nur angedeuteter Hinweis zu den inneren Teamdynamiken. Die Eigenschaft, dass Paradoxien nicht lösbar sind, sondern nur verlagert werden können, führt innerhalb von Teams zu neuen Paradoxien, die zwingend mitbearbeitet werden müssen. Exemplarisch haben wir sechs Paradoxien für die Arbeit in Teams identifiziert (vgl. Groth und Krejci 2018): • Die Paradoxie der Austauschbarkeit: Entscheiden wir personen- oder aufgabenbezogen? • Die Paradoxie des Beziehungsmusters: Entscheiden wir intern unter den Bedingungen von Symmetrie oder Komplementarität? • Die Paradoxie des Grenzmanagements: Setzen wir die Einheit des Teams als Außengrenze oder knüpfen wir an die Organisation an? • Die Paradoxie der Kommunikationsform: Werden Probleme und Unterschiede nach Maßgabe von Transparenz (nach innen und außen) sichtbar gemacht oder gilt die Erwartung an (brauchbare) Intransparenz?

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• Die Paradoxie der Leistungserbringung: Zählen zum Teamerfolg die individuell zurechenbaren Beiträge oder geht es immer um ein kollektives Ergebnis? • Die Paradoxie der Zweckorientierung: Ist unsere Teamarbeit ein Mittel zum Zweck der Organisation oder dient die Organisation als Mittel zum Zweck unserer Interessen? Diese Auflistung paradoxer Anforderungen dient als „Musterfolie“ für das, was Teams regelmäßig leisten müssen. Dies ist voraussetzungsvoll, denn in diesen Paradoxien müssen Teams über die Paradoxien der Organisation entscheiden. Notwendig ist das, was Luhmann „Reflexion“ nennt (Luhmann 1984, S. 601 ff.) und Bateson mit „Spielfähigkeit“ (vgl. Bateson 1985, S. 241 ff.) umschreibt: Teams müssen sich erstens reflektieren im Kontext fremdgesetzter, organisationaler Ziele und Widersprüche. Sie müssen sich zweitens selbst verstehen als „Orte der Paradoxieaustragung“.  Und drittens müssen Teams mitreflektieren, dass das eigene Interaktionsgeschehen verstrickt ist mit einer Organisation, die von ihnen ein „Abarbeiten“ von Tätigkeiten verlangt, das all jenes auf Mikrodiversität und kognitiven Routinen basierende Paradoxiemanagement zu verhindert versucht, von dem dieselbe Organisation notwendig abhängig ist.

4.9 Abschließende Gedanken In einer globalisierten und digitalisierten Umwelt ergeben sich für Organisationen Problemlagen, die sich durch eine spezifische Einbindung von Teamarbeit unter Anwesenheitsbedingungen bearbeiten lassen. In diesen Interaktionen geht es um weit mehr, als von ihnen „Selbstorganisation“ zu fordern. Im Face-to-face-Modus sind Teams in der Lage, Mikrodiversität zu erzeugen, kognitive Routinen zu nutzen und Paradoxien der Organisation zu bearbeiten. Letzteres ist allerdings mit der Erkenntnis zu verbinden, dass im Zuge des Wechselspiels zwischen Interaktion und Organisation neue paradoxe Anforderungen entstehen, die sich im Team ausbilden. Paradoxien sind doppelt zu balancieren: extern als Entscheidungsfragestellung und intern als Teamdynamik. In der Gestaltung von Teamarbeit oder auch in der Ausarbeitung zeitgemäßer Organisationsformen können die zwei erkenntnistheoretischen (und -praktischen) oft getrennt behandelten Disziplinen Gruppendynamik und systemische Organisationstheorie produktiv zueinander finden: Ein kombiniertes Verständnis von Interaktionsprozessen – eines der wichtigsten Themen in gruppendynamischen Seminaren (vgl. Geramanis 2017) – und von Entscheidungsfindungsprozessen (das zentrale Thema systemischer Organisationstheorie) wird für all jene erforderlich, die sich nicht nur in Zeiten von „new work“ professionell mit Teams auseinandersetzen. Wie dargestellt, bietet die soziologische Systemtheorie mit ihrem Repertoire an (paradoxie-)theoretischen Konzepten zu Interaktion und Organisation modenüberdauernde Erklärungsmodelle, deren Potenzial nicht im Aufzeigen einfacher Lösungen, sondern im Aufzeigen relevanter Entwicklungspfade liegt.

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G. P. Krejci und T. Groth

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Mag. Dr. Gerhard P. Krejci,  Jahrgang 1963. Arbeitete 17 Jahre in verschiedensten Funktionen in IT-Abteilungen, studierte zunächst Betriebswirtschaft (WU Wien) und promovierte in Interventionswissenschaften (Universität Klagenfurt, Dissertation: „Paradoxien globaler Projektteams“). Seit 2004 selbstständiger Organisationsberater, Trainer und Coach (seit 2010 bei Simon, Weber and Friends). Arbeitsschwerpunkte: Systemische Organisationsberatung, Führung, Teams, Projektmanagement und Interkulturalität. Lehrtrainer für Gruppendynamik (ÖGGO) und Organisationsberatung, Lektor an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung (ÖGGO) und im Club-Systemtheorie. www.simon-weber.de; www.forTeamsAndLeaders.at; www.oeggo.at Dipl.-Soz. Torsten Groth,  Jahrgang 1969, nach dem Studium der Sozialwissenschaften zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke. Seit mehr als 15 Jahren liegt sein Fokus auf der selbstständigen Tätigkeit, vornehmlich als Referent und Trainer zu Anwendungsfragen der Systemtheorie in Management und Beratung (v. a. für Simon, Weber and Friends). In der Organisationsberatung hauptsächlich tätig als Strategie- und Nachfolgeberater von Familienunternehmen und in der Begleitung von internen Beratungseinheiten. Zudem seit 2006 Gastgeber des Club-Systemtheorie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den Besonderheiten von Familienunternehmen und zur soziologischen Systemtheorie. www.simon-weber.de; www.torsten-groth.org

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Netzwerke brauchen Hierarchie. Warum Unternehmen weiterhin Hierarchien brauchen und was sie von der Frauenbewegung, von Don Corleone und vom Taoismus lernen können Hans-Joachim Gergs und Arne Lakeit

Nichts kann existieren ohne Ordnung. Nichts kann entstehen ohne Chaos (Albert Einstein) Zusammenfassung

Die digitale Transformation markiert einen grundlegenden Umbruch für Wirtschaft und Gesellschaft. Mit der Entstehung des Internets haben sich die Geschwindigkeit des Wandels und vor allem die globalen Vernetzungsmöglichkeiten drastisch erhöht. Folgt man Manuel Castells, befinden wir uns in einem Netzwerkzeitalter. Angesichts dieser neuen Herausforderungen sind viele Unternehmen gegenwärtig auf der Suche nach neuen Organisationsformen. Der alte Bauplan des bürokratischen, hierarchischen Unternehmens scheint zunehmend an Bedeutung zu verlieren. „Netzwerk schlägt Hierarchie“ lautet daher die aktuelle Devise. Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass die Hierarchie jedoch noch lange nicht ausgedient hat. Im gegenwärtigen Netzwerk-Hype wird völlig außer Acht gelassen, dass Netzwerke auch in der hierarchisch geprägten Vergangenheit immer schon bedeutsam waren, wie wir auf der Grundlage der Organisationsforschung und der historischen Forschung herausarbeiten. Der Beitrag plädiert dafür, Netzwerk und Hierarchie nicht dualistisch im Sinne eines Entweder-oder als zwei Gegensätze, sondern dialektisch im Sinne

H.-J. Gergs (*)  Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Lakeit  Ingoldstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_5

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eines Sowohl-als-auch, als zwei sich wechselseitig bedingende Spannungspole zu betrachten. Dies erfordert ein dynamisches Verständnis von Hierarchie und Netzwerk.

5.1 Einleitung Wenn man sich die Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt und die Diskussionen um „new work“ ansieht, dann bekommt man den Eindruck, das Ende der Hierarchie stehe kurz bevor: „Alle Macht für Alle“ (Zeuch 2015), „Wir sind Chef“ (Arnold 2016), „Hierarchie – Das Ende eines Erfolgsrezeptes“ (Frei 2016), „Game Changer – Das Ende der Hierarchie (Struck 2016) usw. Kannte man solche Forderungen anfangs vor allem von selbstverwalteten Betrieben und politischen Basisorganisationen, wird das Ende der Hierarchie nun auch für Wirtschaftsunternehmen gefordert. Hierarchie wird mit Abschlag gehandelt, ja oft sogar verachtet. Die Autoren sind sich einig, dass Unternehmen Hierarchien dringend abbauen müssen, um in einer digitalen Welt überhaupt noch bestehen zu können. Laut der Beratung Deloitte (2016) wird sich in den Unternehmen ein neues Organisationsmodell etablieren, nämlich das „Netzwerk der Teams“ (vgl. dazu auch Weilbacher 2017, S. 13). Dazu komme noch eine neue Generation Y, die nicht in hierarchischen Strukturen arbeiten wolle. Digitalisierung, Arbeiten 4.0 und Generation Y: Wenn sich das Spiel ändert, so die Diagnose der genannten Autoren, hilft es nicht nur die Spielregeln anzupassen, sondern die Struktur des ganzen Spiels müsse verändert werden. An die Stelle der Hierarchie müssten Strukturen treten, die mehr auf Wissen, Beziehungen und Engagement beruhen. „Netzwerk schlägt Hierarchie – Neue Führung mit Digital Leadership“ (Brandes-Visbeck und Gensinger 2017) lautet die neue Devise. Dabei werden Netzwerke in der Diskussion der „new work community“ als Projektionsfläche und Heilsbringer in einer heute mehr denn je von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägten Organisationswelt betrachtet. Ein Blick zurück in die Geschichte der Diskussion über „gutes Organisieren“ sollte uns jedoch skeptisch werden lassen. Die Forderung nach einer Enthierarchisierung von Organisationen findet sich bereits bei der Managementvordenkerin Mary Parker ­Follett (1941, S. 158), die schon in den 1940er Jahren verlangte, dass die vertikale Autorität in Organisationen durch eine horizontale Autorität ersetzt werden sollte. Auch der renommierte Organisations- und Führungsforscher Warren Bennis prognostizierte in einem 1966 erschienen Artikel mit dem Titel „Organizational Development and the Fate of Bureaucracy“ das Ende der Hierarchie in den nächsten 25 bis 50 Jahren1. Als Begründung führte er schon damals die Notwendigkeit zu einer erhöhten

1Dass

es sich bei Warren Bennis wirklich um einen großartigen Forscher handelt, stellt er mit einer nur wenige Jahre später veröffentlichen Revision seiner Prognose zum „Ende der Hierarchie“ unter Beweis. In dem Artikel mit dem Titel „A Funny thing happend on the way to the future“ (1970) revidiert er seine nur wenige Jahre vor aufgestellte Hypothese.

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­ npassungsfähigkeit der Unternehmen in einer immer schneller werdenden Welt an. A Ende der der 1980er Jahre setzte dann eine zweite Welle der Diskussion um das Ende der Hierarchie ein. An die Spitze der Anti-Hierarchiebewegung setze sich kein geringerer als der Bestsellerautor Tom Peters. Im Klappentext seines Bestellers „Jenseits der Hierarchien“, der 1992 in der deutschen Fassung erschienen ist, heißt es: „Geht es nach Tom Peters, so hätten zu Beginn des 21. Jahrhunderts hierarchische Strukturen ausgespielt. Denn sie sind es, die nach seiner Meinung die Flexibilität in allen Bereichen lähmen und damit innovative Impulse unterdrücken“. Viele weitere Autoren (Schmidt 1993, S. 22; Schwalb und Skirl 1996; Freimuth und Straub 1996 u. v. m.) kündigten in dieser Zeit den baldigen Todesstoß für die Hierarchie an, der in der Gestalt von Lean Management, Cost- und Profitcenter Strukturen und Projektmanagement daherkämen. Nachdem es Ende der 1990er und in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends eher ruhig wurde in der Diskussion um das Ende der Hierarchie (Brückner und von Ameln 2016, S. 47), flammte sie in den letzten zehn Jahren mit zunehmender Vehemenz erneut auf. Unbestritten ist unserer Ansicht nach, dass Netzwerke und Netzwerkorganisationen in Wirtschaft und Gesellschaft eine wachsende Bedeutung spielen. Mit der weiter wachsenden Komplexität und Digitalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft wird die Bedeutung von Netzwerken auch in den nächsten Jahren zunehmen (Fukuyama 2000, S. 257; Ferguson 2017, S. 33), weshalb führende Forscher davon sprechen, dass wir in einem „Zeitalter der Verflechtung“ (Lafrance 2016) bzw. der „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2001) leben. Netzwerke transformierten nicht nur den öffentlichen, gesellschaftlichen Raum, sondern auch die Unternehmen selbst. Neuere Studien von Sydow (2010), Welpe et al (2018), wie auch Boes et al (2018) bestätigen diese These. Angesichts von Technologisierung, Digitalisierung und Globalisierung ist die Komplexität seit Beginn den 21. Jahrhunderts weiter und mit hoher Geschwindigkeit gestiegen. Darum wird es immer schwieriger, Unternehmen ausschließlich über Hierarchie zu ­steuern. Doch obwohl Begriffe wie Hierarchie und Zentralisierung unter vielen Beratern und Managern seit Beginn der 1990er Jahre zu Schimpfwörtern geworden sind und der Bedeutungszuwachs von Netzwerken unumstritten zu sein scheint, hat die Hierarchie allen Unkenrufen zum Trotz bis heute überlebt (Dittrich und Janning 2007). Diesem widersprüchlichen Umstand wollen wir in dem folgenden Beitrag nachgehen. Wir gehen davon aus, dass die Hierarchie auch in einer Netzwerkgesellschaft nicht ausgedient hat. Im ersten Schritt (Abschn. 5.2) unserer Argumentation werden wir mit Bezug auf die Organisationsforschung und die historische Forschung herausarbeiten, dass in der gegenwärtigen Diskussion völlig außer Acht gelassen wird, dass Netzwerke auch in der scheinbar rein „hierarchischen Vergangenheit“ immer schon bedeutsam waren, d. h. dass wir es nicht wirklich mit einem neuen Phänomen zu tun haben. Im zweiten Schritt (Abschn. 5.3) werden wir uns dann dem dynamischen Zusammenspiel von Hierarchie und Netzwerk zuwenden. Wir plädieren in unserer Argumentation dafür, Netzwerk und Hierarchie nicht dualistisch im Sinne eines Entweder-oder als zwei Gegensätze, sondern dialektisch im Sinne eines Sowohl-als-auch als zwei sich

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­ echselseitig bedingende Spannungspole zu betrachten. Der Beitrag ist damit ein engaw giertes Plädoyer gegen das, was Luhmann als „forcierte Einseitigkeit“ (Luhmann 1992, S. 17) bezeichnete. Kasten 1: Begriffsklärung Etymologisch gesehen stammt der Begriff Hierarchie aus dem Griechischen (zusammengesetzt aus hieros, „heilig“ und archē, „Führung, Herrschaft“) und bedeutet wörtlich übersetzt „Herrschaft des Hohepriesters“. Er wurde zunächst im religiösen Kontext verwendet, um die himmlischen Ränge der Engel zu beschreiben (Ferguson 2017, S. 42). Allgemein kann man Hierarchie als eine stufenmäßig auf Überordnung und Unterordnung beruhende Ordnung bezeichnen, die auf Herrschaft und Unterwerfung aufbaut. Staehle (1991, S. 656 f.) definiert die betriebliche Hierarchie als die Über- und Unterordnung von Organisationseinheiten bzw. Positionen im Organigramm, durch die festgelegt wird, mit welchen Befugnissen, Rechten und Entscheidungskompetenzen eine Position ausgestattet ist. Der Begriff des Netzwerks beschrieb bis ins 16. Jahrhundert hinein ausschließlich „ein gewebtes Geflecht ineinander verschlungener Fäden“ und wurde nur selten benutzt. Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff Netzwerk erstmals metaphorisch von Geografen verwendet, um Wasserwege und Schienennetze zu beschreiben (Ferguson 2017, S. 43). Ab Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr der Begriff einen enormen Aufschwung. Netzwerke beziehen sich allgemein auf soziale Beziehungen, auf Verknüpfungen der Interaktionen von Akteuren, Gruppen oder Organisationen. Wir verstehen Netzwerke im Folgenden als soziale Beziehungen, „in denen informelle Normen der Wechselseitigkeit Geltung erlangen, ohne dass es längerfristige vertragliche Bindungen, Anweisungsstrukturen und formale Mitgliedschaft gibt“ (Pohlmann und Markova 2011, S. 33). Im Unterschied zur Hierarchie gibt es in Netzwerken dieser Definition zufolge keine formale Überund Unterordnung von Positionen in Verbindung mit entsprechenden Entscheidungsbefugnissen.

5.2 Über den Zusammenhang von Netzwerken und Hierarchien – Befunde aus der historischen Forschung und der Organisationsforschung In der gegenwärtigen Diskussion wird die Vergangenheit mit dem Mythos der Hierarchie aufgeladen. Liest man die aktuellen Publikationen zum bevorstehenden Ende der Hierarchie und zum Aufstieg von Netzwerken im Rahmen der Diskussion um Agilität und „New Work“, dann gewinnt man – überspitzt formuliert – den Eindruck, dass die Hierarchie bis in die jüngste Vergangenheit das alles dominierende Organisationsprinzip war, das nun in der posthierarchischen Organisation durch das neue Prinzip des Netzwerkes abgelöst wird. Ein Blick in die historische Forschung und in die Organisationsforschung zeigt, dass dieser Eindruck falsch ist. Hierarchien und Netzwerke haben schon immer parallel existiert, wie wir im Folgenden herausarbeiten werden.

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5.2.1 „Von Türmen und Plätzen“: Netzwerke und Hierarchien aus Sicht der historischen Forschung Der Historiker Niall Ferguson weist nach, dass Netzwerke schon seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle gespielt haben, dass deren Bedeutung auf den Verlauf der Geschichte jedoch systematisch unterschätzt wurde. In seinem viel beachteten Buch „Türme und Plätze. Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht“ geht er Frage nach, welchen Einfluss Netzwerke auf die Weltgeschichte hatten. Bislang – so Ferguson (2017, S. 49), sei Geschichte viel zu oft und selbstverständlich aus der Perspektive der hierarchischen Macht – der Könige und Kaiser – untersucht und geschildert worden2. Die Leitmetapher für sein geschichtliches Erklärungsmodell ist die Piazza del Campo in Siena, die vom Turm des Rathauspalastes überragt wird, dem Torre del Mangia. Der weite Platz steht bei Ferguson für das freie Spiel der Individuen, der Turm für die Macht, die das freie Spiel der Individuen kontrollieren will. Turm und Platz bilden zwei Spannungspole. Der Turm verkörpert die Hierarchie, der Platz den Austausch, das Netzwerk von Individuen. Ferguson arbeitet anhand von vielen Beispielen eindrucksvoll heraus, dass informelle Vernetzungen neben der offiziellen Hierarchie der lange Zeit übersehene Schlüssel zum Verständnis der Geschichte sind. Netzwerke aller Art haben demnach mit Aktivitäten auf den „Plätzen“ über Jahrhunderte hinweg die „Türme“ der Herrschaftssysteme und Machtapparate maßgeblich mit beeinflusst und zu bestimmten Zeiten sogar zum Einsturz gebracht und damit die Geschichte vorwärtsgetrieben. Ferguson beschreibt Geschichte damit als Wechselspiel zwischen Netzwerkdynamiken und hierarchischen Neuordnungen. Spione, Banker, Wissenschaftler oder gar Freimaurer forderten die politischen Machthaber immer wieder aufs Neue heraus. Der Klerus der katholischen Kirche wurde durch das Netzwerk der Reformation, der Absolutismus durch das intellektuelle Netzwerk der Aufklärung, die Old Economy durch Netzwerke im Silicon Valley herausgefordert. Dann aber kam auch immer wieder ein Rollback der Hierarchien. Die politischen Revolutionen, angezettelt durch neue Netzwerke, wurden durch Imperien und Bündnisse immer wieder eingehegt. Die revolutionierenden Netzwerke hätten sich, so die Diagnose Fergusons, im Verlaufe der Geschichte selbst zu neuen Hierarchien verfestigt und seien dann erneut durch Netzwerke herausgefordert worden. Ferguson zeigt aber auch auf, dass viele erfolgreiche Herrscher (d. h. Hierarchen) selbst exzellente Netzwerker waren und dass Netzwerke immer hierarchische Elemente beinhalteten sowie, dass Hierarchien immer Netzwerkanteile enthalten. Demzufolge sind Hierarchien und Netzwerke keine

2Dieser

Umstand sei, so Ferguson, der „Tyrannei der Archive“ geschuldet, die nun mal Staats-, Firmen- oder Institutionenarchive seien, und damit ein Abbild hierarchischer Strukturen seien. Insgesamt sei in der historischen Forschung mehr „Konnektografie“ gefragt. Auch Netzwerke hinterlassen Strukturen, doch die seien, so Ferguson weiter, nicht so einfach zu finden (ebd. 2017).

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sortenreinen Gegensätze der Manifestation von Macht. Als sich z. B. die Illuminaten3 gründeten, agierten sie zwar als Netzwerker. Doch im Innern des Netzwerks organisierte man sich hierarchisch, nach Rängen und Klassen. Verallgemeinert sind Netzwerke, so Fergusons Lesart, destabilisierende Herausforderungen für etablierte Hierarchien. Sein Blick in die Geschichte verdeutlicht darüber hinaus, dass royale, aristokratische und kirchliche Hierarchien es immer wieder verstanden haben, die neu entstandenen Netzwerke für sich zu nutzen, deren kreative Energie zu erschließen und sie zum Schluss ihrem Willen zu unterwerfen (Ferguson 2017, S. 157). Fergusons Buch handelt vom historischen Antagonismus zwischen dynamischen und statischen Formen der Macht, und genau dies können wir auf den Zusammenhang von Netzwerken und Hierarchien in Unternehmen aus der Geschichte lernen. Netzwerke und Hierarchien stellen zwei Spannungspole dar, die sich sinnvoll ergänzen und in einem wechselseitigen, dynamischen Prozess Entwicklung und Innovation vorantreiben.

5.2.2 „In Organisationen tobt das Leben“: Netzwerke und Hierarchien aus Sicht der Organisationsforschung In der Welt der Organisationen scheint es viel wilder zuzugehen, als es die in Lehrbüchern dargestellten Formalstrukturen der Organisation vermitteln. „In Organisationen tobt das Leben“, schreiben die beiden Organisationsforscher Küppers und Ortmann (1992, S. 7). Für dieses „wilde Leben“ werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet. Es wird von der „Informalität“ einer Organisation gesprochen (Barnard 1938, S. 120) oder vom „Unterleben“ einer Organisation jenseits der offiziellen Regeln (Goffman 1973, S. 1969 ff.)4. Chester Barnard erkannte schon früh, dass man nur dann in einer Organisation effizient wirken kann, wenn man diese „unsichtbare Steuerung“ erkennt und sich die „informellen Prozesse“ aneignet (Barnard 1938, S. 120). „Als Neuling erkennt man relativ schnell“, so auch der Organisationssoziologe Stefan Kühl, „dass man allein mit der Anpassung an die Formalstruktur der Organisation nicht weiterkommt. Schon in den ersten Arbeitstagen wird man mit Erwartungen konfrontiert, die nicht vorher in Stellenbeschreibungen niedergelegt, in den Prozesshandbüchern spezifiziert oder als direkte Anweisung des Chefs oder der Chefin ausgesprochen wurden“ (Kühl 2011, S. 113). Informelle Systeme sind für das Funktionieren komplexer Organisationen lebenswichtig. Wenn ausschließlich nach Plan gearbeitet würde, dann brächen

3Der

Illuminatenorden (lat. Illuminati „die Erleuchteten“) war eine kurzlebige Geheimgesellschaft mit dem Ziel, durch Aufklärung und sittliche Verbesserung die Herrschaft von Menschen über Menschen überflüssig zu machen. Er wurde am 1. Mai 1776 vom Philosophen und Kirchenrechtler Adam Weishaupt in Ingolstadt gegründet (Wikipedia). 4Eine gute Zusammenfassung der Diskussion um die informelle Organisation findet sich bei Kühl (2011, S. 113 ff.).

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die meisten Organisationen zusammen. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als eine der effektivsten Streikformen (ebd., S. 118; vgl. auch Schmidt: 1993, S. 73). Diese Erkenntnis, dass Organisationen sich nicht allein auf ihre Formalstrukturen stützen können, ist so alt wie die Organisationsforschung selbst. Schon Max Weber, der Gründungsvater der Organisationstheorie beschäftigte sich in den 1920er Jahren nicht nur mit der Bürokratie, d. h. der formalen Organisation, sondern auch damit, wie diese mit den existierenden persönlichen Netzwerken in einer Organisation konkurriert und kooperiert (vgl. Weber 1976, S. 551 ff.). Jakob L. Moreno (1974) entwickelte in den 1930er Jahren mit der Soziometrie ein bis heute geläufiges Verfahren zur Messung von informellen Netzwerken. Elton Mayo und seine Mitarbeiter setzten die Soziometrie in den 1940er Jahren im Rahmen der Hawthorne-Untersuchungen zur Beschreibung der Freundschaften und Konflikte ein. Die soziometrischen Beschreibungen der wechselseitigen Hilfestellungen wurden dann von George C. Homans (1978, S. 72 ff.) aufgegriffen, der die Wechselwirkung von Gruppenstrukturen und dem Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder untersuchte. Ein weiterer Meilenstein der Netzwerkforschung bilden die Untersuchungen von Mark Granovetter (1973). Mit der These von der „Stärke schwacher Bindungen“ ist es ihm gelungen, eine populäre Formel zu finden, die zu einer wichtigen Leithypothese der Netzwerkanalyse geworden ist. Ronald Burt hat diese Grundidee aufgegriffen und die Bedeutung des sozialen Netzwerkkapitals des Einzelnen auf dessen beruflichen Erfolg hin erforscht. Bereits die legendäre Studie von Fred Luthans (1988) zeigte, dass Manager, die erfolgreich Karriere machen, fast die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit Networking verbringen. Erfolgreiche Führungskräfte bilden Koalitionen, suchen Freundschaften mit beruflich relevanten Personen, zelebrieren bei wichtigen Anlässen den gepflegten Smalltalk und haben nichts dagegen, karriereförderlichen Vereinen beizutreten. Zusammenfassend können wir festhalten, dass sich die Organisationsforschung seit ihren Anfängen mit dem Zusammenspiel von formellen Strukturen und informellen Netzwerken beschäftigt hat. Auf dieses empirisch fundierte Wissen wird jedoch leider in der gegenwärtigen Diskussion über die Bedeutung von Netzwerken und deren Funktion nicht zurückgegriffen. Insbesondere die Forschung über die zunehmende Bedeutung des sozialen Kapitals (Granovetter 1973; Burt 2010; Sydow 2010) können hier wichtige empirisch und theoretisch fundierte Impulse liefern. Kasten 2: Das „Don Corleone Prinzip“ – oder die Bedeutung von Netzwerken in Organisationen Don Vito Corleone ist in dem Roman von Mario Puzo „Der Pate“ der Chef einer großen New Yorker Mafia-Familie. Er erweist sich jederzeit offen für Bittsteller, denen die legitimierten Autoritäten keine Gerechtigkeit verschaffen wollen oder können. Er hilft ihnen, kündigt aber gleichzeitig an, dass er eines Tages, wenn es in sein strategisches Kalkül passen sollte, die Rückzahlung dieser Hilfe in Form einer ihm zu erweisenden Gefälligkeit verlangen wird. Dieses Tauschgeschäft wird im Roman von Puzo bereits auf den ersten Seiten dargestellt, wobei sich der Bestatter Buonasera an Don Corleone wendet, mit der Bitte, die vom Gericht freigesprochenen Vergewaltiger seiner

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Tochter zu bestrafen. Auf seine Bitte antwortet ihm Don Corleone: „Du sollst Gerechtigkeit haben. Eines Tages, und dieser Tag wird vielleicht niemals kommen, werde ich dich bitten, mir dafür einen Gefallen zu tun. Bis dahin betrachte diese Gerechtigkeit als ein Geschenk“ (Puzo 1971, S. 28). Freundschaft und Hilfsbereitschaft ist Don Corleone keine emotionale Notwendigkeit, sondern ein sehr wirksames Instrument zur Erreichung seiner Ziele. Im Roman sagt Don Corleone zu einem der bei ihm um Unterstützung ersucht: „Freundschaft ist alles. Freundschaft ist mehr als ein Talent. Sie ist mehr als die Regierung. Sie ist fast ebenso wichtig wie die Familie. Vergiss das nicht. Wenn Du Dir einen Schutzwall von Freundschaften gebaut hättest, dann bräuchtest Du mich nicht um Hilfe zu bitten“ (Puzo 1971, S. 33 f.). Don Corleone hat sich dieser Strategie der „Verpflichtung durch gute Taten“ ein Beziehungsnetzwerk aufgebaut, dass ihm dauerhaft Macht und Einfluss und letztlich auch Schutz garantiert. Der Organisationssoziologe Bosetzky (1974) hat diese mikropolitische Strategie der Einflusssicherung nach der Romanfigur Puzos als das „Don Corleone Prinzip“ genannt. Für Bosetzky ist der „wechselseitige Tausch guter Taten“ ein elementares Überlebens- und Aufstiegsprinzip in Organisationen. Eine großzügige „Amtshilfe“ auf dem „kleinen Dienstweg“ kann sich für den Amtshelfer später in günstigen Organisationsentscheidungen (Erhalt der Abteilung, Höherstufung, Übermittlung vertraulicher Informationen usw.) auszahlen (vgl. Bosetzky 2019, S. 31 f.). Durch die Verstetigung und Ausweitung solcher Tauschbeziehungen entstehen, so Bosetzky, in Organisationen Loyalitätsnetzwerke, Seilschaften und Promotionsbündnisse, in denen sich Mitglieder einer Organisation langfristig aneinanderbinden.

5.3 Der Zusammenhang von Hierarchie und Netzwerke Plädoyer für eine neues Denken Zwei Gefahren bedrohen die Welt: die Ordnung und die Unordnung (Paul Valery)

Netzwerkorganisationen und die in ihnen praktizierten Führungsformen sind derzeit en vogue. Zahlreiche praxisnahe Veröffentlichungen diskutieren diese neuen Ansätze der Führung und preisen sie für ihre innovationsförderlichen Eigenschaften. Aufgrund ihrer dezentralen Struktur sowie der Art, in der sie Cluster und schwache Bindungen verknüpfen, seien Netzwerke tendenziell kreativer als Hierarchien. Und genau diese Eigenschaft macht sie gegenwärtig so attraktiv. Auch historisch betrachtet kamen Innovationen, wie wir herausgearbeitet haben, eher von Netzwerken als von Hierarchien. Darüber hinaus verbindet sich mit Netzwerkorganisationen die Hoffnung auf eine Humanisierung und Demokratisierung der Arbeit, die die negativen Aspekte von Führung in hierarchischen Linienorganisationen hinter sich lässt (Boes et al. 2018). Wir bestreiten nicht, das möchten wir hier nachdrücklich hervorheben, dass Netzwerke in modernen Gesellschaften und deren Organisationen eine immer wichtigere Rolle spielen. Unserer Ansicht nach wird der Begriff der Netzwerkorganisation gegenwärtig jedoch in utopischer Weise entproblematisiert. Ein großer Teil der zumeist praxisnahen Publikationen zeichnet sich durch eine unkritische Überzeugung aus, dass „die gescheiterten alten Hierarchien […] durch die egalitäre und demokratische, humane und persönliche Struktur des Netzwerks ersetzt werden“ (Berghoff und Sydow 2007, S. 10). Es wird eine „schöne heile Netzwerkwelt“ (Sydow 2010, S. 387) gezeichnet und es wer-

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den in heilbringender Form einfache Lösungen für komplexe Problemlagen versprochen. Insgesamt ist das Konzept der Netzwerkorganisation damit von vielen idealisierten Wunschvorstellungen geprägt, die die negativen und dysfunktionalen Nebenwirkungen systematisch ausblenden. Kasten 3: Die Tyrannei der Strukturlosigkeit Die „Tyrannei der Strukturlosigkeit“ ist ein Essay, der 1972 von der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Jo Freeman verfasst wurde, und der zu einem Klassiker in der Organisationsforschung wurde. Freeman beschreibt, wie in der Gründungsphase der US-amerikanischen Frauenbewegung der 1970er Jahre mit großem Nachdruck die sogenannte führungslose, unstrukturierte Gruppe als die wesentliche – wenn nicht einzige – Organisationsform der Bewegung angesehen wurde. Man wollte sich bewusst von den autoritären und bürokratischen gesellschaftlichen Strukturen der damaligen Zeit abwenden. Freeman kommt zu dem interessanten Befund, dass sich in der „offiziell“ hierarchiefreien sozialen Bewegung starke und teils äußerst dysfunktionale informelle Hierarchien entwickelt haben. Sie zeigt auf, wie sich im Laufe der Zeit informelle Führungsstrukturen (ein „Star-System“) herausbildeten, in denen intransparente Entscheidungen getroffen wurden, weshalb sie von der „Tyrannei der Strukturlosigkeit“ spricht. Freeman kommt zu dem Schluss, dass es so etwas wie ein „hierarchielose“ Gruppe nicht gibt (Freeman 1972, S. 157). Nur durch die Einführung formaler Strukturen, so ihre Schlussfolgerung, können die informellen Machtnetzwerke gebändigt und Transparenz hergestellt werden. „For everyone to have the opportunity to be involved in a given group and to participate in its activities the structure must be explicit, not implicit. The rules of decision-making must be open and available to everyone, and this can happen only if they are formalized“ (ebd., S. 157). Hier wird ein positiver Aspekt von formalen Strukturen wie Hierarchie deutlich. Hierarchie ordnet Macht in ein formales Gefüge, wodurch Machtausübung transparent wird. Macht wird kleingeschnitten in Positionen und Ebenen eines hierarchischen Organigramms. Diese ordnende Funktion von Hierarchie darf nicht unterschätzt werden, sind doch auch informelle Machtprozesse ein idealer Nährboden für Mobbing, endlose Machtkämpfe, Burn-out-Karrieren oder Sündenbockdynamiken (vgl. auch Happel 2017, S. 61). Freeman arbeitet darüber hinaus sehr klar heraus (ebd., S. 158), dass aufgrund der geringen Formalisierung sozialer Bewegungen zwar „viel Motivation“, aber „wenig Ergebnisse“ produziert werden. Organisationen mit einem geringen Formalisierungsgrad sind, so Freeman, gut darin ihre Mitglieder „zum Reden zu bringen“, aber schlecht darin „Dinge getan zu bekommen“. In diesen Organisationen werden Themen immer wieder an verschiedenen Orten besprochen, ohne dass Dinge endgültig entschieden werden. Die Kommunikation ist gekennzeichnet von der selbstverständlichen Forderung, dass möglichst alle Betroffenen dabei sind, was zu dysfunktionaler „Meetingitis“ führen kann. Wollen soziale Bewegungen also langfristig überleben und wirksam werden, müssen sie sich, so Freeman weiter, von der Ideologie der Strukturlosigkeit lösen und formale Strukturen wie z. B. Hierarchien einführen.

Interessant ist nun, dass sich trotz des breiten Diskurses über Netzwerke in Organisationen die Hierarchie durch ein beachtliches Maß an Resilienz auszeichnet. Für einen endgültigen Sturz der hierarchischen Ordnung in den Unternehmen gibt es, so eine Reihe empirischer Studien, keine fundierten Hinweise (Dittrich und Janning 2007; Hales 2002; Pries 2017). „Die Revolution ‚von oben‘, die ‚Eigenentmächtigung der Hierarchen‘ in den Unternehmen findet nicht statt“ (Dittrich und Janning, S. 179). Diese eigentümliche Beständigkeit der Hierarchie mag darauf zurückzuführen sein, dass die

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Unternehmen mit der Umstellung von Hierarchie auf Netzwerk zwar enorm an Reaktions- und Innovationsfähigkeit gewinnen, sich gleichzeitig jedoch ein Folgeproblem einhandeln: die soziale Integration der Organisation. So zeigen empirische Studien, dass hierarchielose Organisationen zu Desintegration und damit zu einem Rückgang ihrer Leistungsfähigkeit tendieren (vgl. Schreyögg und Sydow 2010). Bereits Burns und Stalker (1961) wie auch Mintzberg (1988) beobachteten, dass sogar die höchst motivierten Beschäftigten von Adhokratien, d. h. Organisationen mit extrem niedrigen Hierarchien, zeitweise eine sehr geringe Toleranz gegenüber Unsicherheiten, Ungewissheiten und Unordnung haben5. Es besteht in Netzwerkorganisationen die Gefahr, dass sie vor lauter Möglichkeiten (Kontingenz) den inneren Zusammenhang verlieren. „Die Organisationen sind der Gefahr ausgesetzt, über die Integration der unsicheren Umwelt und die Zuweisung von Autonomie an ihre Mitarbeiter sowohl nach innen als nach außen auseinanderzulaufen“ (Kühl 2015, S. 83). Demgegenüber können hierarchische Organisationen auch unpopuläre Entscheidungen schnell von oben durchzusetzen. Hierarchie ermöglicht es, mit vergleichsweise geringen Verhandlungskosten verhältnismäßig schnelle und eindeutige Entscheidungen zutreffen. Unter dieser Perspektive kann Hierarchie Organisationen nicht „nur“ unbeweglicher, sondern unter bestimmten Bedingungen sogar schneller und anpassungsfähiger machen (Kühl 2011, S. 74). Ein großer Nachteil von Netzwerkorganisationen besteht also darin, dass sie sich oft nur schwer auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten lassen. Die Konzentration von Ressourcen in Raum und Zeit, wie etwa in Armeen oder großen Fabriken, so muss selbst der Netzwerkforschers Castell feststellen, erfordern ein gewisses Maß an Hierarchie (ebd. 2001). Der zweite Weltkrieg, so die Analyse des Historikers Niall Ferguson, hätte nicht durch Netzwerke gewonnen werden können, auch wenn Netzwerke (von Atomwissenschaftlern oder Kryptographen) beim Sieg der Alliierten eine bedeutende Rolle gespielt haben (ebd. 2017, S. 68 f.). Dies verdeutlicht, dass es keine vollkommene Organisationsform gibt. Jede Organisationsform – ob Netzwerk oder Hierarchie – produziert, wenn auch in unterschiedlicher Art, Konflikte, Koordinationsaufwand, Informationsprobleme, Unklarheiten, Schnittstellenprobleme usw. Dieser Umstand wird in der aktuellen Diskussion leider viel zu oft ausgeblendet. Aus diesem Grunde finden in der empirischen Realität immer schon Mischformen von Hierarchie und Netzwerk statt, d. h. es gibt „Hybridgebilde“. Genau hier setzt die Idee der zwei Betriebssysteme von John Kotter (2014) an, der vorschlägt, in Unternehmen parallel zur hierarchischen Aufbauorganisation (erstes Betriebssystem) ein komplementäres netzwerkartiges System (zweites Betriebssystem) zu etablieren. Während die Aufbauorganisation mit dem Management des operativen Geschäfts beschäftigt ist, solle sich, so Kotter, die Netzwerkorganisation um die Erarbeitung und Umsetzung von Innovationsinitiativen kümmern. Nach Kotters Ansatz wird die formale Organisation

5Eine

gute Zusammenfassung der Diskussion über unterschiedliche Organisationsformen (von der mechanischen bis hin zur organischen) findet sich bei Hales (2002, S. 53 f.).

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vorerst nicht geändert, sondern nur um ein zweites System ergänzt. Kotter macht mit seinem Konzept die bereits bestehende Koexistenz von Hierarchie und Netzwerk vom impliziten Phänomen zum expliziten Element des Organisationsdesigns. Bei der Steuerung dieses dualen Betriebssystems spielt das Top Management, so Kotter, eine zentrale Rolle, weil von ihm die Initiierung und Aufrechterhaltung des Netzwerks ausgeht und die wechselseitige Befruchtung der beiden Betriebssysteme sicherzustellen ist. Kotters Ansatz stellt einen guten Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen zum Zusammenspiel von Netzwerk und Hierarchie dar. Das Konzept des dualen Betriebssystems bedarf jedoch dringend einer konzeptionellen Weiterentwicklung. Wir gehen davon aus, dass Hierarchie und Netzwerk zwei voneinander abhängige Phänomene sind, die in einem dialektischen Verhältnis zueinanderstehen. Hierarchie schränkt Netzwerkbildung einerseits zwar ein, ist aber andererseits auch deren Grundlage, indem sie stabilisierend und integrierend wirkt. So wie gute Bremsen es erst ermöglichen, schnelle Autos zu fahren, so ermöglicht erst die innere Stabilität eines Unternehmens die Einführung von produktiven Netzwerken. Wir gehen ferner davon aus, dass es sich bei Hierarchie und Netzwerk um Spannungspole handelt, die in einer dynamischen Balance aufeinander bezogen sind. Diese dynamische Balance ist gekennzeichnet durch sich bewegende Neuorientierung und nicht durch Statik. Indem widerstrebende Impulse permanent neu austariert und unter einen Hut gebracht werden müssen, kommt es zu Innovation und Entwicklung. Aus der historischen Forschung haben wir gelernt, dass Netzwerke immer wieder die Hierarchien herausgefordert und damit Entwicklung vorangetrieben haben. Gutes Organisieren ist diesen Überlegungen zufolge ein kontinuierliches Oszillieren zwischen den Spannungspolen von Hierarchie und Netzwerk. Anders formuliert: Es geht darum, zwischen „kontrollierter Unordnung“ und „unkontrollierter Ordnung“ zu wechseln und diesen Prozess dauerhaft am Laufen zu halten (Mintzberg 2011, S. 271). Ähnliche Konzepte gibt es in der modernen Physik. In der Thermodynamik gilt der Satz, dass alle Energie von der Ordnung zur Unordnung strebt und dabei Möglichkeiten für eine neue Ordnungsbildung schafft. Nach diesem Prinzip arbeitet beispielsweise der Verbrennungsmotor, wenn beim Verbrennen von Treibstoff (Wärme = Ordnung) eine Kraft (Kälte = Unordnung) entsteht und diese mittels neuer Ordnung zur Umsetzung in kreisförmige Bewegung geführt wird. Die Idee der dynamischen Balance von Gegensätzen ist alles andere als ein neues Denkmodell, sondern schon seit Jahrhunderten bekannt. Während es dem westlichen Denken außerordentlich schwerfällt, die Vorstellung der Einheit aller Gegensätze zu akzeptieren, ist die Erkenntnis der Relativität der Gegensätze, z. B. im taoistischen Denken, tief verwurzelt. Nach der taoistischen Philosophie enthält jedes Phänomen sein Gegenteil. Tag und Nacht, Hitze und Kälte, Gut und Böse, Wandel und Stabilität sind sich selbst definierende Gegensatzpaare. In all diesen Fällen hängt die Existenz des einen von der Existenz des anderen ab. Wir können nicht wissen, was kalt ist, ohne zu wissen, was heiß ist. Kein Schatten ohne Licht, keine Bewegung ohne Stillstand. Gegensätze befinden sich in einem Spannungsverhältnis, das gleichzeitig einen Zustand von Harmonie und Ganzheit definiert. Die taoistische Philosophie des alten Chinas lehrte, dass der

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Gang der Natur auf einem ständigen Fluss und auf Ganzheit beruht, die durch das dynamische Ineinanderwirken von Spannungspolen bestimmt wird. Nehmen wir diese Idee ernst, müssen wir den Zusammenhang von Hierarchie und Netzwerk radikal überdenken (vgl. dazu auch Gergs et al. 2018). Wir plädieren für ein integrierendes Modell, in dem Netzwerke und Hierarchen im Verbund gleichermaßen nach außen und innen wirken und so die Stärken beider Ansätze dem Unternehmen nutzen. Angesichts der zu beobachtenden Veränderungen und Beschleunigungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft werden Netzwerke in Unternehmen weiter an Bedeutung gewinnen. Die Hierarchie wird jedoch, so unsere These, in diesem spannungsvollen Wechselspiel nicht verschwinden, sondern sich im Sinne einer „bureaucracy-lite“ (Hales 2002) oder „fluktuierenden Hierarchie“ (Pries 2017) neu definieren. Die Kernaufgabe von Führung wird zukünftig darin bestehen, einerseits die Netzwerkbildung in den Unternehmen zu fördern und andererseits diese Netzwerke hierarchisch zu rahmen, um damit Identität und Strategiefähigkeit des Unternehmens zu bewahren (ebd., S. 142). Wie das spannungsreiche Zusammenspiel von Netzwerk und Hierarchie funktioniert und systematisch genutzt werden kann, darüber wissen wir gegenwärtig noch recht wenig. Insgesamt tut sich hier ein interessantes Feld für Forscher wie auch Berater und Manager auf, in dem es noch viele offene Fragen gibt.

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Dr. Hans-Joachim Gergs studierte an der Universität Erlangen -Nürnberg Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Psychologie. Er lehrt und forscht an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Heidelberg und der TU München zu den Themen Organisationstheorie und Change Management. Seit 15 Jahren arbeitet er als Organisationsentwickler in einem deutschen Automobilkonzern. Arne Lakeit  war über 30 Jahre in verschiedenen Führungsfunktionen in der Automobilindustrie und zuletzt zehn Jahre als Mitglied im Top-Management der AUDI AG für den Bereich Produktions- und Werkplanung veravrtlich. Seit 2015 ist er als freier Berater und Coach selbstständig tätig.

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Selbstorganisation in der Aktivgesellschaft – Konturen einer demokratischen Kultur Patrick Oehler

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird das im Kontext von Management und Organisation verhandelte Konzept der Selbstorganisation aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch beleuchtet und mit demokratietheoretischen Überlegungen zu einer demokratischen (Arbeits-)kultur verknüpft.

6.1 Ein erster Blick auf Selbstorganisation in der aktuellen Management-Literatur Als Einstieg und erste aktuelle Annäherung an den Begriff Selbstorganisation wähle ich das von Amazon.de am 12. März 2019 zum Suchbegriff „Selbstorganisation“ an oberster Stelle präsentierte Buch „Selbstorganisation braucht Führung. Die einfachen Geheimnisse agilen Managements“, das, da es den Nerv der Zeit gut trifft, bereits in der zweiten Auflage erschienen ist. Dieses Buch richtet sich gemäß der Beschreibung vor allem an Führungskräfte. Im Kapitel „Merkmale selbstorganisierter Systeme“ wird definitorisch auf den Begriff Selbstorganisation eingegangen. Dort steht: „Selbstorganisation ist das spontane Auftreten neuer, stabiler erscheinender Strukturen und Verhaltensweisen in Systemen. Ein selbstorganisiertes System verändert seine grundlegende

P. Oehler (*)  Fachhochschule Nordwestschweiz, Muttenz, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 O. Geramanis und S. Hutmacher (Hrsg.), Der Mensch in der Selbstorganisation, uniscope. Publikationen der SGO Stiftung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27048-3_6

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P. Oehler Struktur durch seine Erfahrung und Umwelt. Die interagierenden Teilnehmer (Systemkomponenten oder Agenten genannt) handeln nach spezifischen Regeln und erschaffen dabei ihre Ordnung, ohne eine Vision von der gesamten Entwicklung haben zu müssen. Die Erfahrungen zeigen, dass Selbstorganisationsprozesse weitaus produktiver, effektiver, nachhaltiger und für alle Beteiligten ergiebiger sind, als es über von aussen kontrollierte Manipulationen je möglicher wäre“ (Gloger und Rösner 2017, S. 23 f.).

Soweit so gut. Aufgrund dieser hier nicht näher beschriebenen „Erfahrungen“ scheint also das Thema Selbstorganisation im Kontext von Management und Führung vielversprechend zu sein. Die im Buchtitel „Selbstorganisation braucht Führung“ angekündigte Verknüpfung von Selbstorganisation und Führung wird schließlich weiter hinten im Buch vorgenommen: „Ohne Führung kann es keine Selbstorganisation geben. Führung muss immer wieder auf das System einwirken, damit es die nächste Entwicklungsstufe der Selbstorganisation erreichen kann. Sie schafft die Rahmenbedingungen, die Menschen dazu einladen, ein Vorhaben mitzugestalten“ (ebd., S. 109)

Damit ist in einem ersten Schritt aus diesem Buch klar geworden, dass aus Sicht des Managements Selbstorganisation vorwiegend dazu dienen kann, Menschen „einzuladen“ bzw. zu bewegen, ein bestimmtes Vorhaben – wahrscheinlich ein von außen gesetztes Ziel – mitzugestalten und der Vermutung nach effektiver zu realisieren. In einem zweiten Schritt stellte sich mir die Frage, woher das Konzept der Selbstorganisation eigentlich herkommt, wo es als wissenschaftliches Konzept seine Ursprünge hat. Hierzu bin ich dann auf die vor über 20 Jahren (1998) erschienene Habilitation „Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation“ von Elisabeth Göbel gestoßen, aus der wir noch mehr über das Phänomen der Selbstorganisation in Organisationen herausfinden können.

6.2 Zurück zu den Ursprüngen des Konzepts der Selbstorganisation und seinen Implikationen für die Organisationstheorie und das Management Nach Göbel hat der Ansatz der Selbstorganisation seine Ursprünge in der Selbstorganisationsforschung innerhalb der Naturwissenschaften1 wie Physik, Chemie, Biologie und Meteorologie, aus welchen er später in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie die (betriebswirtschaftliche) Organisationstheorie übertragen bzw. dort auch rezipiert wurde (vgl. Göbel 1998, S. 36 ff.).

1Dieser

naturwissenschaftliche Kontext impliziert die metatheoretische Annahme, dass Selbstorganisation ein grundlegendes Prinzip der Natur bzw. des Lebens insgesamt ist.

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Als gemeinsamer Kern dieses Begriffes oder Ansatzes, der in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Disziplinen verwendet wird (vgl. ebd. S. 85), kann herausgestellt werden, „dass es in allen Ansätzen um komplexe, dynamische Systeme geht, welche endogen2 Ordnung erzeugen. Das eigentlich interessierende und faszinierende Phänomen ist, wie sich in komplexen und dynamischen Systemen Ordnung bildet“ (ebd., S. 86). Die Theorie der Selbstorganisation behauptet also, dass Ordnungen weitgehend von innen heraus erzeugt und hergestellt, und weniger aus äußeren Gesetzmäßigkeiten und Vorgaben abgeleitet und determiniert werden, wodurch das bisherige gängige Führungsund Managementverständnis angezweifelt wird. So hat der Impuls aus der Selbstorganisationsforschung und -theorie für die Organisationstheorie, die sowohl die strukturelle als auch die kulturelle Ebene umfasst, die Frage angestoßen, inwiefern und wie die planvolle Gestaltung „von selbstorganisierenden Prozessen, welche die entstehende Ordnung mitbestimmen“ ergänzt oder sogar überlagert wird (vgl. ebd., S. 87). Das Verhältnis von planvoller Gestaltung und nichtbeeinflussbarer Dynamik oder Ordnungsbildung gilt es seit der Erkennung der Selbstorganisation (neu) auszuloten. Mit diesem historischen Rückblick wird deutlich, dass das Konzept der Selbstorganisation die Organisations- und Managementlehre bereits seit den 1980er Jahren nachhaltig beeinflusst und zu bemerkenswerten neuen Grundannahmen in der Organisationstheorie geführt hat (vgl. ebd., S. 88). So impliziert der Selbstorganisationsansatz für die Organisationstheorie, • dass Ordnung nicht nur von den definierten Organisatorinnen und Organisatoren geschaffen wird, sondern auch von „anderen“, • dass die Organisatorinnen und Organisatoren nicht „von außen“ agieren, sondern immer auch selbst ein Teil des Systems sind, das sie organisieren bzw. führen, • dass Ordnung – auf lange Sicht – nur in beschränktem Ausmaß mit Befehlen und Regeln (direktiv) hergestellt bzw. im Detail vorgegeben werden kann, • dass Vorgaben, welche der gewollten Ordnungsbildung dienen, immer auch in dem Sinne von den einzelnen Akteuren interpretiert und angenommen respektive akzeptiert werden müssen • und dass Ordnung auch „von selbst“ entsteht, also ausgehend von den Sichtweisen der einzelnen Individuen, von Gruppen usw. (vgl. ebd., S. 94–99). Das bisher leitende Verständnis von Organisation als bewusst geplante Fremdorganisation (durch das Management usw.) wird dadurch untergraben. Organisation wird nun zunehmend als etwas begriffen, das parallel oder komplementär – teilweise auch in Konkurrenz – zur Selbstorganisation gestaltet wird (vgl. ebd., S. 110): „Selbstorganisation kann einerseits Lücken der Fremdorganisation füllen, [andererseits] aber

2Von

innen verursacht, erzeugt.

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P. Oehler

auch fremdorganisierte Normen ‚eigensinnig‘ abändern.“ So betrachtet kann sich Selbstorganisation nicht nur als ein „sinnvolles Korrektiv und Komplement der Fremdorganisation“ erweisen, sondern ebenso als eine potenzielle „Fehlerquelle“ und als „Störfaktor“ (ebd., S. 105). Selbstorganisation ist für das Management also chancenreich und riskant zugleich, was darauf hindeutet, dass mit Selbstorganisation zu arbeiten und auf diese Einfluss nehmen zu wollen, eine experimentelle Herangehensweise erfordert. Das neue Credo heißt: Selbstorganisation(sprozesse) in die Organisationslehre ­miteinbeziehen. Da in diesem Beitrag über das Thema Selbstorganisation von Menschen (z. B. in Projektteams) in Unternehmen nachgedacht wird, stellt sich auch die Frage, wie Selbstorganisationsprozesse in sozialen Zusammenhängen zustande kommen, von wem diese schlussendlich ausgehen bzw. gestaltet und realisiert werden.

6.3 Spezifika sozialer Selbstorganisationsprozesse Zu dieser Frage, „wie“ soziale Selbstorganisationsprozesse zustande kommen, antwortet Göbel zu Recht aus einer handlungstheoretischen Position: Selbstorganisation in Organisationen, unabhängig davon, ob sich dies auf autogene oder autonome Selbstorganisation3 bezieht, vollzieht sich letzlich auf der Grundlage von individuellen menschlichen Handlungen, selbst wenn die sich „von selbst“ bildende Ordnung nicht erkenn- und benennbar auf einzelne Individuen und ihre Handlungen zurückgeführt werden kann, da alle (Beteiligten) den Prozess oder das System mit ihren Handlungen (laufend) mitbeinflussen (vgl. ebd., S. 102). „Eine individuelle Handlung kann beispielsweise, synergetisch gesprochen, gerade die kritische Fluktuation sein, die einen Symmetriebruch herbeiführt. Damit diese eine Handlung so wirkt, müssen aber zuvor viele andere Handlungen anderer Individuen den Symmetriezustand

3Nach

Göbel (1998) kann zwischen mehr autogener und autonomer Selbstorganisation ­unterschieden werden. „Der Typ der ‚von selbst‘ entstehenden Handlungsnormierung könnte auch als ‚spontane‘ Organisation bezeichnet werden, allerdings nur in der Bedeutung der spontanen Regelentstehung. Die Betonung liegt auf der gewachsenen Entwicklung der Regeln, welche im Gegensatz zur bewussten und absichtlichen Regelsetzung durch bestimmte einzelne Individuen steht (Autogenese)“ (ebd., S. 102 f.). „Der Typ der ‚selbstbestimmten‘ Verhaltensregulierung betont […], dass die von Regeln betroffenen Organisationsmitglieder selbst über diese Regeln bestimmen oder doch mitbestimmen. Es wird bewusst und zielgerichtet organisiert, allerdings nicht von wenigen autorisierten Organisatoren für andere, sondern von den Betroffenen selbst (Autonomie)“ (ebd., S. 103).

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herbeigeführt haben. Der einen Handlung kann man nicht alleine kausal zurechnen, dass sie ‚das Fass zum Überlaufen bringt‘. Aber trotzdem bleiben die individuellen Handlungen die Basis der Prozesse“ (ebd., S. 102).

Somit wird präzisiert, dass in sozialen Selbstorganisationsprozessen nicht das subjektlose „System entscheidet, sondern Individuen im System“ (ebd., S. 107; Herv. im Original). Das Individuum als ein handelndes und in gewissem Rahmen auch autonomes Subjekt ist in dieser Lesart von Selbstorganisation also nicht suspendiert oder für tot erklärt. Im Gegenteil, gerade die Erkenntnis, dass Entscheidungen eines selbstorganisierten Systems inhärent und an individuelle Entscheide rückgekoppelt sind, kann die entscheidenden Individuen „gegenüber dem System wieder ein Stück weit emanzipieren“ (ebd. S. 108), da eventuell genau ihre Entscheidungen bzw. Handlungen – ohne dass sie sich zwingend darüber bewusst sind – entscheidend für den weiteren Verlauf eines Prozesses innerhalb des Systems sein können, sie auf diesen also einen Einfluss haben. Damit soll zum Schluss dieses Exkurses zur (Theorie der) Selbstorganisation im Kontext von Management noch ein Punkt hervorgehoben werden, der aus sozialtheoretischer Perspektive sehr zentral ist. Humanes4, auf den Menschen und soziale Kontexte bezogenes Selbstorganisationsdenken verlangt nach einer doppelten Perspektive, die individuelles Handeln und systemische Strukturen in ihrer Wechselwirkung wahrnehmen, reflektieren und miteinander verschränken kann. Denn in der konkreten sozialen Situation treffen individuelle Handlung(en) und Struktur stets aufeinander. Hinzu kommt, dass das, was wir als (scheinbar zeitloses) System und permanente Objekte oder Strukturen wahrnehmen, und die zu relativ stabilen Bedingungen unseres Handelns w ­ erden, streng genommen ebenfalls nur ein Ereignis sind. Prozessphilosophisch betrachtet beruhen diese letztlich auf gleichsinnigen, weitgehend raumzeitlich bedingten Selegationen im Sinne ausgewählter bzw. ausgehandelter und damit eigentlich veränderbarer Ordnungen (vgl. Mead 1987, S. 310). „Individuelle Handlungen finden in einer Struktur statt, die über die Erfolgsaussichten dieses Handelns entscheidet. Der einzelne erlebt sich in seinen Handlungen durch constraints5 eingeengt, wenn nicht sogar zu bestimmten Handlungen gezwungen (…). Das System wirkt übermächtig und macht anscheinend, was es will. Die Handlungssituation setzt aber wiederum individuelles Handeln als Basis voraus; Handlungen und ihre Resultate sind systembildend. Heutige Systemzwänge sind irgendwann einmal handelnd etabliert worden, und soweit diese Zusammenhänge durchschaut werden können, muss der Handelnde nicht Gefangener in einem autopoietischen Kreislauf bleiben, der nur die identische Reproduktion der geltenden Ordnung zum Ziel hat“ (Göbel 1998, S. 200f.)

4Auch

im Sinne einer Achtung der Würde der Menschen. Zwang, Einschränkung, Restriktion; etwas das kontrolliert was du tust, indem es dich in bestimmten Grenzen hält.

5Beschränkung,

90

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Die menschliche Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, Prozesse zu reflektieren, sich kritisch von etwas Bestehendem zu distanzieren, zu neuen Erkenntnissen zu kommen und Dinge (anders) zu gestalten, sind Momente der schöpferischen Freiheit, die nur bedingt erzwing- und steuerbar sind. Dies bedeutet allerdings auch, dass „[d]as spontane Selbstinteresse der Individuen […] nur dann zur spontanen Ordnung [führt] [und die mit den übergeordneten Interessen der Gesamtorganisation in Einklang steht; Anm. P.O.], wenn sich spontan die ‚richtigen‘ Regeln entwickeln. Über diese richtigen Regeln nachzudenken und die Rahmenbedingungen für ihre spontane Entstehung zu setzen, sind Aufgaben, die das Tätigkeitsspektrum des ‚Organisators‘ erweitern“ (ebd.). Selbstorganisation aus Sicht des Managements heißt also, immer wieder eine Balance zu finden zwischen der Freiheit und Eigensinnigkeit der Individuen und der Gestaltung organisationaler Rahmenbedingungen. So führt die Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstorganisation im Kontext des Managements und die damit verbundene Aufgabenstellung des gezielten Gestaltens eines ermöglichenden und zugleich begrenzenden Rahmens schließlich zu einer um die Idee der Selbstorganisation angereicherten Aufwertung von Fremdorganisation (vgl. ebd., S. 300), sprich: Führung. Soviel zum etwas paradox6 anmutenden Verhältnis des Managements zur Selbstorganisation. Nachdem das Thema Selbstorganisation in Organisationen bisher vorwiegend aus der Innensicht der Organisations- und Managementlehre betrachtet wurde, wird der Betrachtungsrahmen in einem nächsten Schritt um eine Dimension erweitert und gesellschaftstheoretisch kontextualisiert.

6.4 Der gesellschaftliche Rahmen des neuen Selbstorganisationsdiskurses: die Aktivgesellschaft Betrachten wir das Thema der (Wieder-)Entdeckung von Selbstorganisation in Organisationen aus einem soziologischen Blickwinkel, ist die Aktualität des sich mittlerweile zu einem wirkmächtigen Diskurs entfalteten Themas der Selbstorganisation in Teams, Organisationen usw. vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Prozesse und darin eingewobener Programmatiken zu deuten. Diese gesellschaftlichen Bewegungen, Sprünge und Brüche finden sich jeweils auch in der Führung(sphilosophie) von Unternehmen und Teams wieder, wo sie übernommen und für die eigenen Kontexte passend modifiziert werden. So bilden sich, in Wechselwirkung mit der Gesellschaft, neue Sichtweisen auf das Management und Legitimationsmuster heraus, die schließlich auch wieder in arbeitsweltliche Zusammenhänge für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übersetzt werden und so auch wieder auf die Gesellschaft als Ganzes prägend zurückwirken. Wir sprechen hier also von einem wechselseitigen Prozess. Insofern ist, wenn z. B. auf der Ebene der Managementtheoriebildung und -praxis über Themen und (neue) Überzeugungen wie

6(spät)lateinisch paradoxus