Der Liber Singularis Responsorum Des Ulpius Marcellus 3428102711, 9783428102716

Originally presented as the author's thesis (doctoral)--Universitèat in Freiburg [Breisgau], 1999.

146 83 25MB

German Pages [252]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Liber Singularis Responsorum Des Ulpius Marcellus
 3428102711, 9783428102716

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Erster Teil: Grundlagen
§ 1. Der liber singularis responsorum
I. Einleitung
II. Umfang des Überlieferten und des ursprünglichen Werks
III. Formale Kennzeichen des lsr
1. Das Responsenschema
2. Die Sachverhalte
3. Die quaestio
4. Die Antworten Marcells
5. Die Zusätze
IV. Thematik; Stellung in den Digesten; innere Ordnung
§ 2. Die libri responsorum
I. Einführung
II. Die einzelnen Werke
1. Responsorum libri XV von Labeo
2. Responsorum libri II von Sabinus
3. Responsorum libri III von Neraz
4. Responsorum libri III von Papirius Fronto
5. Responsorum libri VI von Scaevola
6. Responsorum libri XIX von Papinian
7. Responsorum libri XXIII von Paulus
8. Responsorum libri II von Ulpian
9. Responsorum liber von Iulius Aquila
10. Responsorum libri XIX von Modestin
III. Zusammenfassung
Zweiter Teil: Exegesen
§ 3. Vorbemerkung zur Methode der Textkritik
§ 4. D 13.5.24 = Pal. 277
I. Der Sachverhalt
II. Die erste quaestio
III. Das erste responsum
IV. Die zweite quaestio
V. Das zweite responsum
VI. Die Begründung
§ 5. D 13.7.34 = Pal. 278
I. Ansichten, nach denen der Sachverhalt nur von zwei Personen handelt
II. Ansichten, die von einem Dreipersonenverhältnis ausgehen
III. Eigener Lösungsvorschlag
§ 6. D 17.1.38 = Pal. 279
A. Der Pfand-Fall
I. Der Sachverhalt
II. Die quaestio
III. Die Antwort Marcells
B. Die Parallele: Befreiungsanspruch des Bürgen
I. Die Aussage der Erläuterung
II. Verdachtsmomente gegen die Echtheit des Textes
III. Kein Befreiungsanspruch des Bürgen im klassischen Recht
C. Textgeschichte
I. Die Textveränderung ist nicht justinianisch
II. Die Textveränderung ist vermutlich frühnachklassisch
§ 7. D 24.3.38 = Pal. 280
I. Das Verlöbnis durch den pater nomine filii
II. Die culpa mulieris
III. Das Problem der Stelle
§ 8. D 26.7.21 = Pal. 281
I. Die Entscheidung
II. Die Einschränkung nisi forte... recepit
§ 9. D 28.5.54 = Pal. 282
I. Die Problemstellung
II. Marcells Entscheidung
§ 10. D 29.1.25 = Pal. 283
I. Die Entscheidung Marcells
II. Der Vorbehalt nisi... vellet
III. Die Begründung constitutionibus enim... declaravit
IV. Exkurs zur Datierung des lsr
§ 11. D 30.123 = Pal. 284
A. Pal. 284 pr.
I. Die Entscheidung Marcells
II. Der Vorbehalt nisi... probaretur
III. Die Erläuterung der Entscheidung
B. Pal. 284.1
I. Die Problemstellung
II. Die Antwort Marcells
III. Die Begründung
§ 12. D 32.96 = Pal. 285
I. Die Entscheidung in § 1
II. Die Rechtsregel im principium
III. Datierung der Textänderung in § 1
§ 13. D 34.2.6 = Pal. 286
A. Die Entscheidungen im principium und in § 1
I. Die Frage im pr.
II. Die Anschlußfrage in § 1
B. Die Entscheidung in § 2
I. Die Entscheidung
II. Die Begründung
§ 14. D 35.1.36 = Pal. 287
A. Die Entscheidung im principium
I. Das bedingte Vermächtnis
II. Marcells Entscheidung
B. Die Entscheidung in § 1
I. Quaestio und ratio dubitandi
II. Die Entscheidung Marcells
§ 15. D 37.15.3 = Pal. 288
I. Die Entscheidung
II. Textkritik
§ 16. D 39.6.28 = Pal. 289
I. Die Überlieferung
II. Hintergrund der Frage
III. Entscheidung und Begründung
§ 17. D 40.5.56 = Pal. 290
I. Frage und ratio dubitandi
II. Marcells Entscheidung
III. Die Begründung
§ 18. D 46.1.24 = Pal. 291
I. Rechtsproblem und ratio dubitandi
II. Marcells Entscheidung
§ 19. D 46.3.48 = Pal. 292
I. Sachverhalt und Prozeßsituation
1. Titia cum propter dotem bona mariti possiderit
2. Omnia pro domina egit
3. Die Prozeßsituation
II. Die Entscheidung
1. Reputationem... non iniquam videri
2. Begründung und Fortführung der Entscheidung
III. Das von Marcell entschiedene Rechtsproblem
1. Art und Weise der Verrechnung
2. Voraussetzungen der compensatio
IV. Datierung des Texteingriffs
Dritter Teil: Authentizität und Werkcharakter
§ 20. Textkritik
A. Spuren von Mündlichkeit?
B. Textkritische Analyse
I. Zusammenfassung der Befunde
1. Fragmente, die selbst keinen Verdacht rechtfertigen
2. Justinianische Textveränderungen
3. Sonstige Textveränderungen
4. Texte mit Interpolationsindizien
II. Formale Kennzeichen der Textveränderungen
III. Inhaltliche Kennzeichen der erwiesenen und vermuteten Bearbeitungen
1. Art und Zweck der Bearbeitungen
2. Niveau der Bearbeitung
3. Mehrere Bearbeiter?
IV. Ergebnisse
§ 21. Kennzeichen des ursprünglichen Werks
I. Stilistische Merkmale
II. Die Herkunft der Fälle
§ 22. Exkurs: Das Responsenschema als Darstellungsform in Marcells digesta
I. Knappe, auf die Fallentscheidung konzentrierte Fragmente
II. Ausführliche Problemerörterung
1. Anhand eines praktischen Falls
2. Nach unvollständiger Sachverhaltsangabe
3. Anhand eines akademischen Falls
III. Zusammenfassung und Folgerungen für den lsr
§ 23. Die Erstveröffentlichung des lsr und der Zweck des Werks
I. Veröffentlichung in klassischer Zeit
II. Zweck des Werks
III. Abschließende Bemerkungen zur Textgeschichte
Quellenregister
Sachregister

Citation preview

CARSTEN ZÜLCH

Der liber singularis responsorum des Ulpius Marcellus

Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.

Neue Folge · Band 37

Der liber singularis responsorum des Ulpius Marcellus

Von

Carsten Zülch

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Zülch, Carsten: Der liber singularis responsorum des Ulpius Marcellus I Carsten Zülch. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 37) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-1 0271-l

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6704 ISBN 3-428-10271-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Vorwort Diese Arbeit hat im Sommersemester 1999 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg als Dissertation vorgelegen. Sie wurde mit dem Carl-von-Rotteck-Preis 1999 ausgezeichnet. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer Professor Joseph Georg Wolf. Seine Vorlesungen und Seminare weckten mein Interesse am römischen Recht und prägten meine weitere juristische Ausbildung nachhaltig. Er gab die Anregung zu dieser Arbeit und unterstützte ihr Entstehen in vielfältiger Weise. Großen Dank bin ich auch der Gerda Henkel Stiftung schuldig, die mir durch ein großzügiges Promotionsstipendium die Möglichkeit gab, mich ganz der Arbeit an der Dissertation zu widmen. Dies und ein ebenfalls großzügiger Druckkostenzuschuß haben das Entstehen und Erscheinen der Arbeit sehr gefördert. Schließlich möchte ich meinem Freund und Mitdoktoranden Christian Emunds herzlich danken. Seine stete Bereitschaft zu Diskussion und Kritik hat mir an vielen Stellen geholfen. Während meiner Tätigkeit am Lehrstuhl von Professor J. G. Wolf war ich an der Transkription des Manuskripts des zweiten Bandes von Franz Wieackers Handbuch ,Römische Rechtsgeschichte' beteiligt; ich hatte darum das Privileg, vorab aus diesem Werk zitieren zu dürfen. Mannheim, im Dezember 2000

Carsten Zülch

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Grundlagen § 1. Der liber singularis responsorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Il. Umfang des Überlieferten und des ursprünglichen Werks . . . . . . . . . . . . . . . . 17 III. Formale Kennzeichen des /sr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1. Das Responsenschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Die Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Diequaestio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Die Antworten Marcells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 5. Die Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Thematik; Stellung in den Digesten; innere Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

§ 2. Die Ubri responsorum . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . .. . . . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung. . ......... . ....... . . . .. . .. . ...... . . . . . ..... . . . .......... . . . ..... Il. Die einzelnen Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Responsorum libri XV von Labeo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Responsorum libri II von Sabinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Responsorum libri II/ von Neraz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Responsorum libri lll von Papirius Fronto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Responsorum libri VI von Scaevola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Responsorum libri XIX von Papinian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 . Responsorum libri XX/ll von Paulus .. .. .. . .. .... .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. 8. Responsorum libri II von Ulpian .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 9. Responsorum liber von Iulius Aquila . . . ........................... . .. . 10. Responsorum libri XIX von Modestin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusanunenfassung . . . . . . . . . .. . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . .

25 25 25 25 26 27 29 30 36 38 41 43 43 44

Zweiter Teil Exegesen § 3. Vorbemerkung zur Methode der Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

§ 4. D 13.5.24 = Pal. 277 . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . .. .. . .. . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Der Sachverhalt .. . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . 50 II. Die erste quaestio..... ..... . ........ . . . . ...... . ... ... .. ...... . .. ..... . . . ... 51 III. Das erste responsum . . . . .. . . .. . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 52

8

Inhaltsverzeichnis IV. Die zweite quaestio . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . .. . .. . . . . . .. . . . . 53 V. Das zweite responsum .. . . . .. .. . .. . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . .. . . 54 VI. Die Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . 56

§ 5. 013.7.34 = Pal. 278 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. . . .. . . . I. Ansichten, nach denen der Sachverhalt nur von zwei Personen handelt . . II. Ansichten, die von einem Dreipersonenverhältnis ausgehen . . . . . . . . . . . . . . III. Eigener Lösungsvorschlag . . . . . . . .. .. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. .. .. . . . . . . . .. . .

59 60 63 67

§ 6. 017.1.38 = Pal.279 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . A. Der Pfand-Fall . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . I. Der Sachverhalt . . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . .. . .. . . . . .. .. .. . . . . .. . .. . . .. .. . . . . . .. II. Die quaestio . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . .. .. . . .. . .. . . .. .. . . .. . . . 111. Die Antwort Marcells . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . B. Die Parallele: Befreiungsanspruch des Bürgen .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... . I. Die Aussage der Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verdachtsmomente gegen die Echtheit des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kein Befreiungsanspruch des Bürgen im klassischen Recht . . . . . . . . . . . . . . C. Textgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . I. Die Textveränderung ist nicht justinianisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Textveränderung ist vermutlich frühnachklassisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 76 77 78 79 80 80 82 83 90 90 90

§ 7. 024.3.38 = Pal.280 . . . . . .. . . . .. . . ... .. . .. . . . . . . . . . . ... .. .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . I. Das Verlöbnis durch den pater nomine filii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die culpa mulieris . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . III. Das Problem der Stelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92 93 93 95

§8. 026.7.21=Pal.281 . . ....... . . . ........... . . . . . . . .......... . ...... . ..... . ... . .... . . 96 I. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Die Einschränkung nisiforte ... recepit ............... . ........... . . . . . .... 101 § 9. 028.5.54 = Pal. 282 ... ... . . ..... .. . ........ .. . . . ... . . ..... . . . .. . . . .......... . ...... 102 I. Die Problemstellung . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Marcells Entscheidung . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 10. 0 29.1.25 = Pal. 283 ... ...... . . . . . .. . . . . . . . . ... . .. .. ... . . . . . .. . . . . . . .. .. ... .. .. . .... I. Die Entscheidung Marcells ... . ............. . . . ........ . .............. . .... II. Der Vorbehalt nisi ... vellet .. . .. .. .. .. .. .. . . .. . . .. .. . .. .. . . . .. . .. .. . .. .. .. . . III. Die Begründung constitutionibus enim ... declaravit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs zur Datierung des lsr ... .. ........ . . .... . .. . . ................ .. ....

106 107 107 111 112

§ 11. 030.123=Pal.284 . . . . ...... . . . . . .... . .. . . . . ... . . ... . .. .. . ... .. . .. ... . ... . .... . .... A. Pa!. 284 pr... . ......... . .... . . . ........... .. .... . . . ..... .... . . . ....... . . . .... . ... I. Die Entscheidung Marcells .. . ...... .... ...... . . .. .............. .. . .... .... II. Der Vorbehalt nisi ... probaretur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Erläuterung der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . B. Pa!. 284.1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . II. Die Antwort Marcells .. . .. ... ................ .. .. . . .. ........... . ......... 111. Die Begründung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114 114 115 117 120 122 122 126 127

Inhaltsverzeichnis

9

§ 12. 0 32.96 =Pal. 285 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entscheidung in§ 1 . ................. . ... . ....................... . ... . II. Die Rechtsregel imprincipium ............. . . . .................. . ........ . 111. Datierung der Textänderung in§ 1 .......... . . . . . ................ . . . ...... .

128 129 131 132

§ 13. 034.2.6 = Pal.286 ................................... . . . . . ......... . ..... . .. . ....... A. Die Entscheidungen im principium und in § 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Frage im pr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Anschlußfrage in § 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Entscheidung in § 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 135 135 139 144 144 145

§ 14. 0 35.1.36 = Pal. 287 ........ . ... . ................... . . . ..... .. ........... . . .. . . . . . . . A. Die Entscheidung imprincipium ............... . . . ... . .............. . . . . . ...... I. Das bedingte Vermächtnis ................. . . . . ... . . .. . .... . . . ... .. ... . . . .. II. Marcells Entscheidung . ... . .. .. .. . ... : . ......... . ........... . .. . . . . . . . .... B. Die Entscheidung in§ 1 ..... . ...... .. . . ......... . . . . . . . .. ... . .... . ..... . . . ... .. . I. Quaestio und ratio dubitandi ....... .... ...... . . . . .. . . . .. ...... .. ..... . ... . II. Die Entscheidung Marcells ... .. .... . ........ . . . . . .... . . .. . ......... . . ... ..

146 147 147 147 150 151 152

§ 15. 037.15.3 =Pal.288 ......... . . . . . ............... . . . . . .............. . ..... . .. . . . .... 161 I. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II. Textkritik ........... . . . . . ..................... . ... . .............. . ........ . 167 § 16. 0 39.6.28 = Pa!. 289 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Überlieferung .. . . . . . ...... . . . .. ... ....... .. . . ........ . ...... .. ........ II. Hintergrund der Frage . .. .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. . .. .. . .. .. . .. . 111. Entscheidung und Begründung . ......... .. ............................ . ...

168 168 170 174

§17. 040.5.56=Pal.290 ................................................ .. ........ ...... I. Frage und ratio dubitandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Marcells Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 111. Die Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. .

174 176 177 178

§ 18. 046.1.24 = Pal.291 . . .... . .. . . . ......... . ........... .. ..... . ... . .. . . . ..... . .. . ... .. 180 I. Rechtsproblem und ratio dubitandi .. . .... . .................. .. .. . . . ..... . 180 II. Marcells Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

§ 19. 046.3.48 = Pal.292 ........ .... .. .. .......................... . ........... .... ...... I. Sachverhalt und Prozeßsituation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . .. .. . . .. . . . .. . 1. Titia cum propter dotem bona mariti possiderit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Omnia pro domina egit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Prozeßsituation . . . . . ....... . ........ . ............... . ..... . ........ II. Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . . . .. . .. . 1. Reputationern ... non iniquam videri .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. 2. Begründung und Fortführung der Entscheidung .... .. .. .... .. ........ III. Das von Mareeil entschiedene Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art und Weise der Verrechnung .. . .. .. . .. . .. . .. .. .. . .. .. . .. .. . . .. .. .. . 2. Voraussetzungen der compensatio .. . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. . . IV. Datierung des Texteingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

186 187 187 188 189 190 190 191 196 196 198 200

10

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil Authentizität und Werkcharakter § 20. Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

A. Spuren von Mündlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Textkritische Analyse ............................ . ... . ................ . .... . .... I. Zusammenfassung der Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragmente, die selbst keinen Verdacht rechtfertigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Justinianische Textveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonstige Textveränderungen .. . . . ......... . . . ................ . . . .. . .... 4. Texte mit Interpolationsindizien .......... . . . ................ . .... . .... II. Formale Kennzeichen der Textveränderungen . . ................ . . . .. . .... III. Inhaltliche Kennzeichen der erwiesenen und vermuteten Bearbeitungen . 1. Art und Zweck der Bearbeitungen ............................ .. .... .. . 2. Niveau der Bearbeitung ....................................... . .... . . . 3. Mehrere Bearbeiter? ........................................... .. ... ... IV. Ergebnisse . . . . .. ... . . . . . .................................. . ........ . .... . . .

202 205 205 205 206 206 207 208 210 210 211 212 214

§ 21. Kennzeichen des ursprünglichen Werks ................................. .. ...... 218

I. Stilistische Merkmale .. ............... . ........................... .. ...... 218 II. Die Herkunft der Fälle . . ..................... . .................. . .. ... ... .. 221

§ 22. Exkurs: Das Responsenschema als Darstellungsform in Marcells digesta . . . . . I. Knappe, auf die Fallentscheidung konzentrierte Fragmente ....... . ....... II. Ausführliche Problemerörterung .......................... . ....... . ...... . 1. Anhand eines praktischen Falls . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 2. Nach unvollständiger Sachverhaltsangabe .................... . ... . .. . 3. Anhand eines akademischen Falls ............................ .. ....... III. Zusammenfassung und Folgerungen für den lsr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224 225 226 226 229 231 234

§ 23. Die Erstveröffentlichung des lsr und der Zweck des Werks ............ . ...... . I. Veröffentlichung in klassischer Zeit ..... .. ...... ........ . ... . . . . .. . .. . ... . II. Zweck des Werks .. . . . . . ..... .. . ..... . . ................ ..... ....... . . ... ... III. Abschließende Bemerkungen zur Textgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235 236 238 240

Quellenregister .... . ................. . ......... . ........... . . . . . . . ..... . ........ . . . .. . . . ... 241 Sachregister . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . 250

Abkürzungen Romanistische Literatur, die im folgenden nicht aufgeführt ist, wird nach dem Abkürzungsverzeichnis der Handbücher von Kaser zitiert. Bechmann Bonfante, Corso I Bremer [Band, Halbband] Bretone, Geschichte Cujaz Czyhlartz Dulckeit/Schwarz/Waldstein Fitting Georges I, II Gradenwitz, Interp. lleumann/Seckel HLL4 llofmann/Szantyr Index Interp. Jörs/Kunkel Kalb Kalb, Spezialgrammatik

Karlowa, RG I, II Kaser, RG Kaser, RP I, li Kaser, RZ

A. Bechmann, Das römische Dotalrecht (1863) P. Bonfante, Corso di diritto romano, Bd. I (Neudruck 1963) F. P. Bremer, Iurisprudentiae antehadrianae quae supersuni (1898, Neudruck 1964) M. Bretone, Geschichte des römischen Rechts (1992) J. Cujacii Opera ad Parisiensem Fabrotianam editionem Bd.IV (1838) K. Czyhlartz, Das römische Dotalrecht (1870) G. Dulckeit, F. Schwarz, W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte (7.Aufl. 1981) II. Fitting, Alter und Folge der Schriften römischer Juristen von Hadrian bis Alexander (2. Aufl. 1908) K. E . Georges, II. Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch Bd. l, II (8. Aufl. 1913) 0. Gradenwitz, Interpolationen in den Pandekten (1887) ll.lleumann, E. Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts (1l.Aufl. 1971) R.llerzog, P.L. Schmidt, Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, 4. Bd. (1997) J. B. llofmann, A. Szantyr, Lateinische Syntax und Stilistik (1965) Index lnterpolationum quae in lustiniani digestis inesse dicuntur, Bd. l-111 (1935) P. Jörs, W. Kunkel, Römisches Privatrecht (3. Aufl. 1949) W. Kalb, Roms Juristen, nach ihrer Sprache dargestellt (1890, 2. Auflage 1975) W. Kalb, Spezialgrammatik zur selbständigen Erlernung der römischen Sprache und zur Wiederholung insbesondere für Rechtsstudierende ( 1923) 0. Karlowa, Römische Rechtsgeschichte Bd. I, li (1885, 1901) M. Kaser, Römische Rechtsgeschichte (2. Auflage [Nachdruck] 1978) M. Kaser, Römisches Privatrecht Bd. I, II (2. Aufl. 1972, 1975) M. Kaser, Römisches Zivilprozeßrecht (2. Aufl. 1996, Bearb. K. llackl)

12 Krüger

Abkürzungen

P. Krüger, Geschichte der Quellen und Litteratur des römischen Rechts (2.Aufl. 1912) Kühler B. Kühler, Geschichte des Römischen Rechts (1925) Kühner/Stegmann I, II R. Kühner, C. Stegmann Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Erster Teil, Zweiter Teil (4. Aufl. 1962) Kunkel, RG W. Kunkel, Römische Rechtsgeschichte (II. Aufl. 1985) Lenel, EP 0 . Lenel, Das Edictum Perpetuum (3.Aufl. 1927) Liebs D. Liebs, Römische Rechtsgutachten und ,,Responsorum Jibri"; in: Strukturen der Mündlichkeil in der römischen Literatur (1990) S.82-94 Mommsen/Krüger!Watson I-IV Th. Mommsen, P. Krüger, A. Watson (Hrsg.) The Digest Of Justinian (1985) Otto/Schilling/Sintenis 1-VI K. E. Otto, B. Schilling, K. F. F. Sintenis (Hrsg.), Das Corpus Iuris Civilis (Romani) Bd. I bis VI (1830, 1831, 1832) Oxford Latin Dictionary I, II Oxford Latin Dictionary Bd. I, II (1968) A. Pernice, Marcus Antistius Labeo. Das römische Privatrecht Pernice Labeo I im ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit Bd. l (1873) Puchta I G. F. Puchta, Cursus der Institutionen Bd. I (9. Aufl. 1881) RE [Band, Halbband] Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (1893-1980) Rudorff, RG I A. F. Rudorff, Römische Rechtsgeschichte Bd. I (1857) Savigny, System I F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. I (1840) Schanz!Hosius III M. Schanz, C. Hosius, G. Krüger, Geschichte der römischen Literatur, 3. Teil (3. Aufl. 1959) Schutz F. Schulz, Ein anonymer Notenapparat zu den Responsa des Marcellus in: Symbolae Friburgenses in honorem Ottonis Lenel (1935) S.236ff. F. Schulz, Classical Roman Law (1951) Schulz, CRL Schutz, Röm. Rechtswiss. F. Schutz, Geschichte der Römischen Rechtswissenschaft (1961) Voci, DER I, II P. Voci, Diritto ereditario romano; Bd. I Introduzione, Parte generale (2. Aufl. 1967); Bd. II Parte speciale (2. Aufl. 1963) Wieacker, RG I, II F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte; Bd. I Erster Abschnitt (1988); Bd.ll in Vorbereitung (s. Vorwort) Wieacker, Textstufen F. Wieacker, Textstufen klassischer Juristen (1960)

Erster Teil

Grundlagen § 1. Der liber singularis responsorum I. Einleitung 1. Das Responsenwerk des Ulpius Marcellus1 ist zuletzt vor 400 Jahren von Jacques Cujas2 vollständig untersucht worden. Der französische Rechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts beschränkt sich aber- nach wenigen Bemerkungen zur Person Marcells- auf die Exegesen der sechzehn erhaltenen Fragmente des liber singularis responsorum (fortan abgekürzt lsr); eine Gesamtwürdigung des Werks unternimmt er nicht.

Aus neuerer Zeitl sind nur zwei Äußerungen von einiger Tragweite zu nennen: In den "Symbolae Friburgenses in honorem Ottonis Lenel"4 vertritt Schulz die 1 Zu Herkunft, Leben und Stellung des Juristen vgl. Rastätter, Marcelli notae ad Iuliani digesta (1981) 1 ff.; dazu (teilweise kritisch) Liebs, Jura 32 (1981) 282. 2 J. Cujacii Opera ad Parisiensem Fabrotiana editionem Bd. IV (1838) 417ff. 3 Eine umfangreiche Bibliographie zu Mareeil gibt Casavola, Giuristi adrianei (1980) 394 ff. Einige der dort aufgeführten Werke, vor allem ältere, sind mir nicht zugänglich. Insbesondere bedauere ich, die Werke von Tydemann (De L. Ulpii Marcelli ICti vita et scriptis [1762]) und Vecsey (Lucius Ulpius Marcellus [1882]; dazu Kiss, SZ4 [1883] 156f.) nicht verwerten zu können, letzteres auch wegen seiner Abfassung in Ungarisch.- Außer den im Text genannten sind folgende Äußerungen zum liber singularis reponsorum festzuhalten: Chr.H. Schmid, Ulpius Marcellus (1768) 27f., hebt die Kürze der responsa hervor; wie in den meisten anderen Responsenwerken gebe der Jurist nur höchst selten Begründungen für seine Entscheidungen, die sich auf ea quae proponebantur beschränkten. Als Ordnungsprinzip des Werks vermutet Schmid das Ediktssystem. Karlowa, RG I 732, beschränkt sich auf den Hinweis, der liber singularis responsorum sei mit sechzehn Stellen "verhältnismäßig stark excerpiert" worden. Gradenwitz, lnterp. 208, meint, der liber singularis unterscheide sich "sehr wesentlich von den Responsenbüchern der Anderen". Er habe viel mehr Motive und Vergleiche, und nähere sich dadurch den quaestiones von Africanus. Fitting 62 datiert den liber singularis in die Regierungszeit des Antoninus Pius. Er beruft sich dabei auf Fragment Pal. 283, wo das aus D29.1.9.1 Ulp 9 Sab und D29.1.15.2 Ulp 45 ed bekannte Reskript dieses Kaisers noch nicht berücksichtigt sei. Diese Argumentation wird bei der Diskussion von Pal. 283 (u. § 10 111) überprüft. Nach Guarneri Citati, Annali Macerata 5 (1929) 287 f. Fn. 1, zeigt der liber singularis responsorum, daß die Responsen Marcells stilistisch denen des Scaevola nahestehen, insbesondere durch ihre konzise Abfassung. Er hält den Großteil der Entscheidungsbegründungen und -erläuterungen für interpoliert.

14

I. Teil: Grundlagen

These, der lsr enthalte so viele Zusätze aus nachklassischer Zeit, daß man von einem "Notenapparat" sprechen dürfe. Seiner Ansicht nach stammen in Marcells Responsenwerk fast alle Entscheidungsbegründungen von nachklassischen Bearbeitern. Schulz entwickelt diese These aber nicht aufgrund einer vollständigen Analyse der überlieferten Fragmente; vielmehr untersucht er nur einen Teil der Texte unter dem spezifischen Gesichtspunkt ihrer Veränderung. Später, in seiner "Geschichte der römischen Rechtswissenschaft", äußert er Vermutung, der lsr sei gar kein Werk Marcells, sondern eine nachklassische Epitome aus seinem Hauptwerk, den digesta.s Gegen die Annahme einer weitreichenden nachklassischen Bearbeitung des lsr wendet sich neuerdings Liebs6 • Wie in anderen libri responsorum findet er auch in Marcells Responsenwerk Spuren der ursprünglichen mündlichen Rechtsberatung. Stilistischen Auffalligkeiten erklärt Liebs aus der Diskussion des dem Juristen zur Entscheidung vorgelegten Falles: Über das vielleicht allzu vollständige Protokoll dieser Diskussion könnten sie in das- nach Liebs' Ansicht sparsam redigierte- Responsenwerk gelangt sein. Für Interpolationsannahmen bestehe angesichts dieser Erklärungsmöglichkeit kein Anlaß.7 2. Die Untersuchung der Juristenschriften auf ihre Eigenheiten, ihre Zielsetzung und nicht zuletzt auf ihre Authentizität geht vor allem auf Forderungen von Schulz8 und Wieacker9 zurück. Sie beruht zunächst auf der Einsicht, daß die Schriften der klassischen Juristen, aus deren Fragmenten wir unsere Kenntnis des römischen Rechts schöpfen, in Stil und Zielsetzung und oft auch hinsichtlich in ihrer sachlichen Aussage10 ausgeprägte Besonderheiten aufweisen. Ohne Berücksichtigung dieser autoren- und werkspezifischen Besonderheiten sind zuverlässige Erkenntnisse über ,das klassische römische Recht' nicht zu gewinnen11 • Astolfi, SD 25 ( 1954) 182 Fn. 32, widerspricht der Behauptung von Guarneri Citati, Mareeil sei ein Autor gewesen, der ähnlich wie Scaevola konzise Responsen verfaßt hat; er hält die zahlreichen Begründungen für echt. Wieacker, Textstufen 170, glaubt, daß die responsa Marcells wahrscheinlich zu denjenigen Schriften der sieben Hochklassiker gehörten, die "der vorjustinianischen Schule wirklich vertraut und geläufig waren". Diese These wird nicht begründet. Nach Mayer-Maly, RE IX AI (1961) 570, zeigen die Fragmente des Werks "besonders schön die Verbindung von Kasuistik und Problemdiskussion in der Responsenliteratur". 4 (1935), 236ff. (Beilage IV: Ein anonymer Notenapparat zu den Responsades Marcellus). s Geschichte 293. Zustimmend Solazzi, Scritti VI (1972) 92 Fn. 47; ablehnend Mayer-Maly in RE IX A, I S. 570 ("ohne überzeugende Beweise"). 6 Liebs 87 ff. 7 Vgl. auch Liebs, HLL4 (1997), §415.4B -Diese Thesen werden in §20A ausführlich diskutiert. s Röm. Rechtswiss.l69, 286. 9 Textstufen Einleitung III 3; § 2. 10 Zu Kontroversen unter den römischen Juristen: Schwarz in: Festschrift für Schutz li (1951) 201 ff.; Kaser, Zur Methodologie der römischen Rechtsquellenforschung (1972) 19ff. mwN.

§ 1. Der liber singu1aris responsorum

15

Vor allem aber muß die Wissenschaft vom römischen Recht nach wie vor die Frage nach der Authentizität ihrer Texte stellen. Da die originalen Juristenwerke aus klassischer Zeit nahezu ausnahmslos verloren sind, muß die Erforschung des klassischen Rechts anband von Quellen geschehen, die oft erst mehrere Jahrhunderte nach ihrer Niederschrift und Publikation hergestellt worden sind, insbesondere anband der Digesten Justinians. Die in diesem Gesetzgebungswerk enthaltenen Fragmente werden zwar als Auszüge aus klassischen Juristenschriften gekennzeichnet; damit ist aber nicht gewährleistet, daß sie in der überlieferten Form wirklich von dem Autor stammen, den die Inskription ausweist. Vielmehr steht fest, daß es im Lauf der 250 bis 500 Jahre zwischen Abfassung der Juristenwerke und Kompilation zu Eingriffen in die ursprünglichen Texte gekommen ist. Die Erforschung der ÜberIieferungsgeschichte dient - von ihrem historischen Eigenwert abgesehen - der Aufdeckung dieser Textveränderungen. Ohne Textgeschichte können lediglich Aussagen über das justinianische Recht gernacht werden, nicht aber über die Sachgeschichte des Rechts der klassischen Zeit. 12 Diese "Binsenweisheit der Historik" (Wieacker) wird heute- offenbar als Folge der zwischen den dreißiger und den sechziger Jahren geführten Diskussion über die Methoden derTextkritik13 -oft verdrängt. Nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß die radikale Textkritik der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sowohl in ihren Prämissen wie in ihren Folgerungen verfehlt war, wird gegenwärtig die Authentizitätsfrage vielfach mehr oder weniger bewußt ausgeklammert oder mit Wendungen wie "im Kern klassisch" umschifft. 14 Diese antikritische Tendenz ist aber ebensowenig sachgerecht wie der überwundene Hyperkritizismus. 1s So ist gerade die Behauptung eines ,klassischen Kerns' nur dann keine petitio principii, wenn sich die Klassizität des umstrittenen Rechtssatzes anband von anderen, unverdächtigen Textstellen16 feststellen läßt; und selbst in diesem Fall könnte ein Texteingriff eine klassische Kontroverse verbergen. So wenig ein Text von vomherein dem Verdacht 11 Das augenfalligste Beispiel für den Wert werkspezifischer Argumente ist die heute selbstverständliche Berücksichtigung des ,palingenetischen Kontextes', die oft das Verständnis eines aus dem Zusammenhang gerissenen Fragments erst ermöglicht. 12 Vgl. nur Wieacker, SZ91 (1974) I ff., 27. Auf dieser grundsätzlichen Ebene stimmt dem auch Kaser, Zur Methodologie der römischen Rechtsquellenforschung (1972) 9, zu ("Der ,Sachhistoriker' kann über die Zuverlässigkeit der Quellenaussagen nur dann gültig urteilen, wenn er auch die Methoden des Quellenforschers beherrscht." Vgl. auch S. 10 [Fn.2 von S. 9]). Auch Kasers umgekehrte Aussage, Textkritik sei ihrerseits nicht ohne Erkenntnisse der Sachforschung zu betreiben, kann nicht ernsthaft bestritten werden; dies betrifft jedoch schon die Art und Weise, wie Textkritik zu betreiben ist (dazu u. die Vorbemerkung zum zweiten Teil). 13 Anschauliche Überblicke bei Wieacker, Textstufen S. 9 ff., und RG I § 8 VI. 14 Vgl. stellvertretend Wieling, Testamentsauslegung im römischen Recht (1972) 2f. unter Berufung vor allem auf Kaser, Zur Glaubwürdigkeit der römischen Rechtsquellen, estr. Atti del II Congresso internazianale della societil. italiana di storia del diritto (1967). 15 Ebenso Kaser, Zur Methodologie der römischen Rechtsquellenforschung (1972) 99ff., 103; Johnston, On a singular book of Cervidius Scaevola (1987), im Vorwort. 16 Zu der mit diesem Begriff verbundenen logischen Schwierigkeit s. unten § 3 Fn. 4.

16

1. Teil: Grundlagen

der Überarbeitung ausgesetzt ist, so wenig ist ein ,blindes' Vertrauen in die Authentizität der Quellen zu rechtfertigen. Somit kann nur das ,Wie' der Textkritik in Frage stehen. Hier sind besonders die methodischen Vorzüge der patingenetischen Arbeitsweise hervorzuhebenP Bekanntlich steht die Kritik der römischen Rechtsquellen vor dem methodischen Dilemma, daß parallele Überlieferungen außerhalb des Corpus Iuris in der Regel fehlen und daß deshalb die Kriterien für die Beurteilung der Klassizität eines Textes innerhalb dieses Textes selbst gesucht werden müssen. Um die Gefahr einer petitio principii zu vermeiden, müssen Vergleichsstellen gefunden werden, die ein Höchstmaß an Widerspruchsfreiheit und damit die Übertragbarkeit der Ergebnisse gewährleisten. Es ist eine vernünftige Annahme, daß sich ein Autor jedenfalls innerhalb desselben Werks nicht widerspricht; Inkonsistenz der Aussagen ist daher ein starkes Interpolationsindiz. Weiterhin kann die palingenetische Methode davor bewahren, apriorische Stilmaßstäbe zu postulieren: Die Untersuchung eines Werks als Ganzes erlaubt, die Mittel und Ausdrucksformen seines Sprach- und Darstellungsstils kennenzulernen und so einerseits stilistische Brüche aufzudecken, die auf einen Texteingriff hinweisen können, andererseits aber auch Wendungen, die man bei isolierter Betrachtung - wie dies in den Wortmonographien der radikalen Textkritik geschah -für , verdächtig' halten könnte, als stilistische Eigentümlichkeit des Autors zu erkennen. Der werkgeschichtliche Ansatz ist sogar der allein erfolgversprechende, um vorjustinionische Textveränderungen herauszuarbeiten. In der nachklassischen Zeit waren die Juristenwerke im Zuge von Neuauflagen, Ab- und Umschriften unterschiedlichen Bearbeitungen ausgesetzt. Die Veränderungen, die sie dabei erfahren haben können, sind aber, soweit sie systematisch geschahen, charakteristisch gerade für das jeweilige Werk; dies vor allem unterscheidet sie von kompilatorischen Eingriffen. Nur die palingenetische Methode kann solche "Bearbeitungsschichten" oder "Textstufen" (Wieacker) sichtbar machen. Die Rekonstruktion einer nachvollziehbaren Werkgeschichte, die sich vor allem über Anlaß und Motive vermuteter Texteingriffe Rechenschaft ablegt, liefert eines der wenigen Kriterien, auf die ein Urteil über eine vorjustinianische Bearbeitung gegründet werden kann. 18 Welche Kriterien im einzelnen dieses Urteil bestimmen, wird in der Einleitung zur Werkexegese (§ 3) erörtert. 3. Marcells /sr bietet für eine solche Untersuchung besonders gute Voraussetzungen. Die überschaubare Anzahl von sechzehn Fragmenten läßt eine Exegese des gesamten überlieferten Materials im Rahmen dieser Arbeit zu. Schon das erste Durchlesen dieser Fragmente in Lenels Palingenesie offenbart eine erstaunliche formale Geschlossenheit dieser Schrift: Das Responsenschema, das als Darstellungsform für 17 Zum folgenden vgl. Krampe, Proculi Epistulae (1969) tOff.; Eckardt, lavoleni Epistulae (1978) llff.; Rastätter, Marcelli notae ad Iuliani digesta (1980) 17ff.; Manthe, Die libri ex Cassio des lavolenus Priscus (1982) 13 ff. 18 Wieacker, SZ91 (1974) 21 ff.

§ 1. Der liber singularis responsorum

17

die kasuistischen Werke klassischer Juristen äußerst beliebt ist, kommt fast ausnahmslos zur Anwendung; die Gutachten werden überwiegend ausführlich erläutert. Sachverhalte, quaestiones und responsa sind einheitlich gestaltet; schließlich herrscht auch in Wortwahl und Grammatik große Formstrenge und geradezu stereotype Gleichförmigkeit. Diese deutlichen äußeren Charakteristika, mit denen das Werk- wie noch zu zeigen ist- eine besondere Stellung innerhalb der Responsenliteratur einnimmt, geben besonderen Anlaß, seine Zweckbestimmung und sein Verhältnis zu den stilistisch ganz verschiedenen digesta Marcells zu untersuchen. Sie bieten aber auch für die Textkritik vielversprechende Ansatzpunkte: Wenn das Werk mehrere Textstufen hat, dann sollten sich diese bei der großen Einheitlichkeit des Werks auch formal kennzeichnen lassen. 4. Damit ergibt sich für unsere Untersuchung folgendes Programm: Im ersten Hauptteil werden allgemeine Fragen erörtert, zu denen der lsr und die Werkgattung responsa Anlaß geben: Zunächst der Umfangs des lsr, seine formalen Eigentümlichkeiten sowie die innere Ordnung des Werks; danach der Begriff des responsum in seinen verschiedenen Bedeutungen, insbesondere das Verhältnis des praktisch erteilten Gutachtens zur Literaturform der responsa. Im zweiten Hauptteil folgen die Exegesen aller überlieferten Fragmente des lsr. In einem dritten Hauptteil werden die gewonnenen Ergebnisse zusammengefaßt, um aus ihnen zunächst die Authentizität, dann den Werkcharakter des lsr zu klären. In diesem Zusammenhang werden responsa Marcells mit seinen digesta verglichen.

II. Umfang des Überlieferten und des ursprünglichen Werks Justinians Digesten überliefern sechzehn Fragmente aus dem /sr. 19 Gestützt auf die Angaben Birts20 soll grob bestimmt werden, welchen Bruchteil dies vom anzunehmenden Umfang des ursprünglichen Werks ausmacht.21 Ein liber hatte 1500 bis 2500 Zeilen. 22 Als durchschnittliche Länge einer Zeile werden 35 Buchstaben angenommen, ein Umfang, der sich offenbar in Anlehnung an die durchschnittliche Länge eines Hexameters eingebürgert hat. 23 In Lenels Palingenesie hat die Zeile im Mittel44 Buchstaben; sie ist also um den Faktor 1,25 länger als bei MareeiL Die 245 Zeilen, die die überlieferten Fragmente in der Palingenesie einnehmen, entsprechen mithin 300 Zeilen des Originalwerks. Pal. 277 bis Pal. 292. Th. Birt, Das antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Literatur (1882). 21 Dieselbe Vorgehensweise findet sich bei Johnston, On a singular book of Cervidius Scaevola (1987) 81 Fn. 2. 22 Birt 309. Es handelt sich hierbei um einen Durchschnittswert; erhebliche Abweichungen nach oben wie nach unten sind aber möglich. Das Spektrum reichte von 1100 bis über 5 000 Zeilen, vgl. Birt 310ff. n Vgl. Birt 197-204. t9

20

2 Zülch

18

1. Teil: Grundlagen

Nimmt man den Umfang des lsr mit 1500 Zeilen an, so macht das Überlieferte einen Anteil von zwanzig Prozent vom Originalumfang aus; bei einem Originalumfang von 2500 Zeilen wären es nur zwölf Prozent. Als Mittelwert (für 2000 Zeilen Originalumfang) kommt man auf sechzehn Prozent. Außer der Tatsache, daß wir weder die Zahl der Zeilen unseres liber noch die der Buchstaben pro Zeile kennen, besteht bei dieser Berechnung aber ein weiterer Unsicherheitsfaktor: Lenels Palingenesie gibt die Texte wieder, wie sie in Justinians Digesten überliefert sind. In dieser Fassung können sie aber sowohl zusätze nachklassischer Bearbeiter wie auch Zusätze der Kompilatoren enthalten.24 111. Formale Kennzeichen des lsr 1. Das Responsenschema Die 16 Fragmente des lsr enthalten 20 Entscheidungen konkreter Sachverhalte und die25 abstrakte Erörterung eines Rechtsproblems, die an eine Entscheidung anschließt; aus dem Rahmen fällt außerdem die Wiedergabe einer Rechtsregel, die einer Entscheidung vorangestellt wird.26 Die Entscheidungen folgen ausnahmslos dem Responsenschema und betreffen in aller Regel selbständige, abschließend dargestellte Fälle. Wir finden nur zwei Fallvarianten27, die beide mit item quaero eingeleitet werden. Sie knüpfen an den zuvor dargestellten Sachverhalt an, so daß die Darstellung der zweiten Entscheidung nur mehr quaestio und responsum erfordert; der Unterschied zum vorangehenden GrundfalJ28 wird in einem si-Satz innerhalb der quaestio mitgeteilt. Inhaltlich wird das Responsenschema gelegentlich insofern durchbrochen, als einzelne Sachverhaltsteile in derquaestionachgetragen werden.29 Formal herrscht aber die bereits erwähnte Einheitlichkeit. Die Elemente Sachverhalt - quaestio - responsum werden stets in dieser Abfolge und ohne syntaktische Verbindung aneinandergereiht Nur in sechs Fragmenten wird die Entscheidung in einem einzigen, durch Marcellus respondit eingeleiteten Satz mitgeteilt;30 in den übrigen schließen sich Erläuterungen, Begründungen oder Einschränkungen der Entscheidung an, die oft mehrere Sätze einnehmen. Der Einfachheit halber werden diese weiterführenden Passagen im Folgenden ,Zusätze' genannt. Mit diesem Begriff So auch Johnston, On a singular book of Cervidius Scaevola ( 1987) 81 Fn. 2. Pal. 279.1. 26 Pal285 pr. 21 Pal. 277 und Pal. 286.1. 28 Beide Fälle unterscheiden sich dadurch, daß es sich bei Pal. 286.1 um eine echte Sachverhaltsabwandlung handelt, während in Pal. 277 nur eine weitere Rechtsfrage gestellt wird. Der si-Satz ist hier durch die ihrerseits (scheinbar, vgl. u. § 4 III) bedingte erste Antwort Marcells motiviert und schließt eine der beiden von Mareeil angegebenen Möglichkeiten aus. 29 Pal. 280,281, 287.1, 289,290. In Pal.280 und 289 wird inderquaestioaußerdem Tod eines Beteiligten auch die Prozeßsituation klargestellt. 30 Pal. 278, 280, 282, 286pr., 287 pr., 291. 24

25

§ 1. Der liber singularis responsorum

19

soll nur klargestellt werden, daß sie sich an die üblichen drei Elemente des Responsenschemas anschließen; die Frage ihrer Herkunft wird mit dieser Bezeichnung in keiner Weise präjudiziert. Die Abgrenzung zwischen responsum und Zusatz erfolgt formal: Responsum ist nur der Satz, der durch das Verb respondit als Antwort gekennzeichnet ist; alles Weitere wird als Zusatz bezeichnet.

2. Die Sachverhalte Klarheit, Einfachheit und Formstrenge kennzeichnen die Darstellungen des Sachverhalts: Sie bestehen vornehmlich aus Hauptsätzen; allein 10 der 19 Schilderungen weisen - außer in den wörtlichen Zitaten schriftlicher Willenserklärungen - überhaupt keine Nebensätze auf.3 1 Auch die Darstellung mehrerer aufeinanderfolgender Handlungen erfolgt in Hauptsätzen. Zur Verdeutlichung der zeitlichen Reihenfolge, auf die größter Wert gelegt wird, werden sie gewöhnlich durch temporale Konjunktionen kopulativ beigeordnet, und zwar mit deinde (sechsmal), postea (sechsmal) und post (einmal); einfache beiordnende Konjunktionen wie et, atque und neque sowie unverbundene Aneinanderreibungen sind ebenfalls (aber seltener) zu finden. Dies führt zu einem Gleichlauf von realer Abfolge und literarischer Darstellung der Sachverhaltselemente; nur einmal wird ein zeitlich nachfolgender Sachverhalt in einem priusquam-Nebensatz mitgeteilt.32 Gleichzeitigkeit wird, soweit nicht beigeordnete Hauptsätze verwendet werden, durchweg in temporalen cum-Sätzen ausgedrückt; in einem Fragment33 finden sich zwei vorzeitige cum-Sätze. Verschachtelte Konstruktionen fehlen fast völlig; lediglich ein Fragment34 enthält eine umfangreichere Periode zur Schilderung eines komplizierten Sachverhalts. Das Tempus in den Hauptsätzen ist durchgehend Indikativ Perfekt, in den temporalen Nebensätzen Konjuktiv Imperfekt (Gleichzeitigkeit) oder Konjunktiv Plusquamperfekt (Vorzeitigkeit). Die consecutio temporum wird auch im übrigen streng beachtet. Die Sachverhaltsschilderungen beginnen regelmäßig mit dem Blankettnamen eines der Beteiligten.35 Offenbar sind an keiner Stelle reale Namen von Beteiligten überliefert. 36 Schriftliche Erklärungen werden grundsätzlich37 wörtlich wiedergegePa1.277, 279pr., 281 , 282, 284.1, 285, 286pr., 286.2, 287pr., 290. Pal. 283. 33 Pal. 278. 34 Pal. 278. 35 Ausnahmen Pal. 284.1 und Pal. 289; beim letzteren kann man sich aber ohne weiteres vorstellen, daß der voranstehende Blankettname gestrichen wurde. 36 Aus dem Rahmen fallen nur Pal. 282 und Pal. 286 pr. In Pal. 282 werden die Miterben (scherzhaft?) mit den Namen der spätrepublikanischen SchriftstellerCornelius, Sallustius und Varro bezeichnet. Ein Scherz könnte auch der Name Antonia Tertulla in Pal. 286 pr. sein: Tertulla ist nach einem Brief des Antonius (vgl. Sueton, August 69) eine Konkubine Oktavians. In Pal. 290, wo sich ansonsten Blankettnamen finden, wird auch Pau/a ein fiktiver Name sein. 37 Ausnahme wiederum Pal. 289. 31

32

20

1. Teil: Grundlagen

ben, und zwar auch dann, wenn ihr Wortlaut nicht - wie etwa bei Auslegungsfragen - entscheidungserheblich ist. Die wörtliche Wiedergabe letztwilliger Verfügungen wird fast immer mit der Wendung testamento/codicillis ita cavit/scripsit eingeleitet.38

3. Diequaestio Die quaestio beginnt ohne Ausnahme mit dem Wort quaero, das den Hauptsatz der Frage ausmacht. Erstaunlich ist, daß quaero selbst dann voransteht, wenn vor der eigentlichen Frage noch eine Ergänzung, etwa ein Sachverhaltsnachtrag, nötig ist. So lautet zum Beispiel in Pal. 29039 die Fallfrage: Quaero, c um l i b er i Luc i o Ti t i o n a t i non s in t, an ... servis confestimfideicommissa libertas praestari debeat. Als natürlicher würde man Cum liberi ... nati non sint, quaero, an ... debeat empfinden, denn der Inhalt des cum-Satzes löst die Frage erst aus. Der Satz hat also kausalen Sinn gerade auch in Bezug auf quaero, nicht nur bezüglich des abhängigen Fragesatzes. Man gewinnt den Eindruck, daß quaero vor allem zur klaren Gliederung des Fragments vorangestellt wird. Nebensätze, die den Sachverhalt ergänzen oder die Frage motivieren, finden sich in acht Fragmenten, viermal mit si, dreimal mit cum und einmal mit quia eingeleitet. In zwei der si-Sätze40 wird nicht nur der Sachverhalt ergänzt, sondern auch die Prozeßsituation deutlich gemacht; die beiden anderen enthalten eine Variation des Falls, die in einer Anschlußfrage (item quaero) erörtert werden.41 Die cum-Sätze42 und der quia-Satz43 enthalten (teils faktische, teils rechtliche) Motivationen der jeweiligen Fragestellungen. Der Inhalt der Frage wird stets in indirekter Rede, abhängig von quaero, mitgeteilt. Ganz überwiegend handelt es sich um Satzfragen, um Fragen also, die mit ,Ja' oder ,Nein' beantwortet werden können. 44 In 19 der 21 Fragen steht deshalb das Fragepronomen an;45 sonst finden sich einmal quantum#i und einmal a qua ... et in quam41. Auch in den Fallfragen wird die consecutio temporum strikt eingehalten.48 Pa!. 284pr., 285, 286.2, 287, 290; ähnlich Pa!. 282, 284.1, 286pr., 289, 291. Einen ganz parallelen Aufbau weist Pa!. 287.1 auf; ähnlich ist Pa!. 280. 40 Pa!. 280, 289. In beiden Fällen wird außerdem der Tod eines Beteiligten nachgetragen; jeweils ein wichtiges Sachverhaltselement. 41 Pa!. 277, 286.1. 42 Pal. 284.1, 287.1, 290. 43 Pa!. 291. 44 Vgl. Kühner!Stegmann II487. 45 In Pal. 281 in Verbindung mit et in quantum. 46 Pa!. 282. 47 Pa!. 285. 48 Falsch ist allerdings der Konjunktiv Plusquamperfekt successisset in der Anschlußfrage in Pa!. 277. Er wird, wie dort zu zeigen sein wird, auf einer falschen Übertragung von succes38

39

§ 1. Der liber singularis responsorurn

21

Als Prädikat der abhängigen Fragesätze taucht auffallend oft debeatldebeant (siebenmal) und possit/possint (sechsmal) auf; eine Häufung, die bei Rechtsfragen zwar verständlich ist, die aber dennoch einmal mehr zeigt, daß Variation in diesem Werk nicht angestrebt wurde. 4. Die Antworten Marcells Die responsa werden durch die Worte Marcellus49 respondit eingeleitet und als solche kenntlich gemacht. Mit zwei Ausnahmensa wird anschließend die Entscheidung Marcells in indirekter Rede, in einem Infinitivsatz, wiedergegeben; in den beiden Ausnahmefällen liegt der Verdacht nahe, daß der ursprüngliche Infinitiv durch einen Schreibfehler die überlieferte definite Indikativform verfälscht worden ist,51 denn die Verbformen der Nebensätze passen nur (oder doch besser)52 zu einem Infinitv im Hauptsatz. Im übrigen aber wird wie in den Fallfragen so auch in den responsa die consecutio temporum streng eingehalten. In sechs Fällen53 wird die Entscheidung durch si- bzw. nisi-Sätze von weiteren Tatsachen abhängig gemacht. Mehrfach54 taucht der Vorbehalt auf, daß die Entscheidung nur für den vorgetragenen Sachverhalt gelten soll, wobei stets das Verb proponere verwendet wird.ss Die Formulierung des responsum lehnt sich oft eng an die quaestio an; insbesondere wird häufig das Prädikat der Frage in der Antwort wieder aufgenommen.56 Dies serit beruhen.- Daß in Pa!. 279pr. (accommodavit), 286pr. (est), § 1 (jecit), 291 (exstitit) und 292 (percepit) in Relativ- und Kausalsätzen innerhalb der oratio obliqua der Indikativ steht, erklärt sich damit, daß in diesen Sätzen Tatsachen, die bereits im Sachverhalt als feststehend dargestellt worden sind, noch einmal aufgegriffen werden; vgl. Kühner/Stegmann II 542 f. 49 Ausnahme Pa!. 288, wo der Name Marcellus fehlt. 50 Pa!. 283 und Pal. 284.1. 51 Vgl. Schutz 239 zu Pa!. 283; vgl. auch ders., Überlieferungsgeschichte der Responsades Cervidius Scaevola, in Syrnbolae Friburgenses in honorern Ottonis Lenel, Leipzig 1933, 166. 52 In Pa!. 283 paßt der Konjunktiv Plusquamperfektfecisset im Relativsatz nur bei indirekter Rede. In Pa!. 284.1 sind die Konjunktive accommodasset und locutus esset in Abhängigkeit vorn regierenden Verb potest (Präsens!) zumindest ungewöhnlich; sie paßten hingegen vollständig zu dem seinerseits von einem Verbum der Vergangenheit (respondit) abhängigen Infinitiv passe. 53 Pa!. 277, 280,283, 284pr., 284.1, 288. 54 Pa!. 278: secundum ea, quae proposita essent; Pa!. 281: secundum ea quae proposita essent; Pa!. 292: reputationem eius quod proponeretur; in Pa!. 282 in einem Zusatz: sed secundum scripturam ... , quae proponeretur. 55 Nach Kalb 103, Heumann/Seckel sv proponere und Schulz, Syrnbolae Friburgenses in honorern Ottonis Lenel (1935) 166f., kommt die Klausel secundum ea quae proponerentur nur bei Scaevola vor. Dies ist zwar richtig; der Unterschied zu den von Mareeil und anderen Schriftstellern gebrauchten Wendungen (z. B. secundum ea quae proposita essent oder secundum scripturam ..., quae proponeretur) scheint mir aber nicht ins Gewicht zu fallen. 56 Insgesamt zehnrnal: Pa!. 277 (beide Antworten), 278, 286 pr., 286.1, 286.2, 287 pr., 288, 290, 291.

22

1. Teil: Grundlagen

ist bei der großen Anzahl von Satzfragen an sich nicht erstaunlich; aus anderen Werken - etwa in den Fragmenten mit Responsenschema in Marcells Digesten- scheinen aber derartige Wiederholungen geradezu vermieden zu werden. Hieran wird wiederum die Geradlinigkeit und Schmucklosigkeit der Responsen im lsr deutlich. Eine größere Variationsbreite besteht allerdings beim Satzbau der Antworten. Das Spektrum reicht von größter Schlichtheit57 bis zu recht komplizierten Perioden58; diese umfangreicheren Antwortsätze überwiegen. 5 . Die Zusätze Als Zusätze wurden diejenigen begründenden, erläuternden oder einschränkenden (Haupt-) Sätze bezeichnet, die sich an den mit respondit eingeleiteten ersten Antwortsatz anschließen. Diese Sätze sind überwiegend in direkter Rede verfaßt59 In diesen Fällen tritt also ein auffälliger Wechsel von der indirekten Rede des responsum zur direkten Rede im Zusatz auf.60 Welche Folgerungen aus diesem Wechsel der Konstruktion zu ziehen sind, wird eine der wesentlichen Fragen der textkritischen Analyse sein. Einige Zusätze stehen allerdings auch abhängiger Rede.61 Die meisten Zusätze sind Begründungen. Zehnmal werden sie mit enim oder etenim eingeleitet; am häufigsten ist das nachgestellte enim (siebenmal). Weitere fünf Sätze beginnen mit nam. In zwei der vier erläuternden Zusätze begegnet die Gegenüberstellung quidem!atquin- sed non est verisimile62; und zweimal werden, beginnend mit nec, Besonderheiten des Falles für unerheblich erklärt.63 Einschränkungen und Sachverhaltsalternativen (fünfmal) werden mit nisi forte 64 , sed65 , sed plane66 und sed si forte 61 eingeleitet. 57 Pal. 286pr.: Marcellus respondit non debere; Pal. 286.1: Marcellus respondit non posse; Pa!. 289: Marcellus repondit posse. 58 Z . B. Pa!. 279: Marcellus respondit, an et quando debeat liberari, ex persona debitoris itemque ex eo, quod inter contrahentes actum esset, ac tempore, quo res de qua quaereretur obligata fuisset, iudicem aestimaturum; Pa!. 290: Marcellus respondit condicionem, quae libertati eorum, de quibus quaereretur, sifilii heredes exstitissent, adposita esset, repetitam non videri ideoque confestim libertatem praestandam esse et a primis et a substitutis heredibus. S. auch Pa!. 280, 282, 283, 284 pr. und § 1, 285, 286.2. 59 Pal. 277, 279, 283, 284pr., 284.1, 285, 286.1, 286.2, 287.1 (ab et verba}, 288 (ab etenim), 289, 290, 292. 60 In Pa!. 283 und 284.1 liegt dieser Bruch freilich nur dann vor, wenn man, wie oben vorgeschlagen, die direkte Rede des Hauptverbs des responsum für einen Schreibfehler hält. 61 Pal.28l: nec multum v id er i (der Bruch liegt hier aber innerhalb des Zusatzes: der nisi-Satz fällt aus der Konstruktion); Pal. 282: sed oo• vi der i; Pal. 287.1: etenim v i der i oo.; Pa!. 288: namoo. in te resse oooO 62 Pal.287.1, 290. 63 Pal. 281, 287.1. 64 Pal. 281. 65 Pal.282. 66 Pal. 283, 284 pr. 000

§ 1. Der liber singularis responsorum

23

Sprachliche Ungereimtheiten finden sich in den Zusätzen weitaus häufiger als in den drei anderen Elementen. So stellt man teilweise einen überraschenden Gebrauch von Modi und Tempora68 sowie schwerfällige oder schwer verständliche Formulierungen69 fest. Insgesamt weisen die Zusätze trotz einiger wiederkehrender Elemente nicht dieselbe formale Homogenität auf wie die Antworten, an die sie angehängt sind. Durch die Erhebung dieses Befundes soll, wie schon gesagt, das Urteil über die Echtheit der ,Zusätze' nicht vorbestimmt werden. Die Analyse der Texte wird zeigen, daß einige der Zusätze als marcellinisch gelten müssen. Der hier verzeichnete Gesamtbefund wird bei der Analyse allerdings ein wertvolles Hilfsmittel sein. IV. Thematik; Stellung in den Digesten; innere Ordnung 1. Die Fragmente des lsr sind recht gleichmäßig über die Digesten verteilt; das erste70 findet sich im dreizehnten Buch71 , das letzte im sechsundvierzigsten72 • Nur zweimal stehen zwei Texte in ein und demselben Buch;73 daß zwei im selben Titel stehen, kommt nicht vor. Dieser gleichmäßigen Streuung entspricht eine relativ große Bandbreite der berührten Rechtsgebiete; ein deutlicher Schwerpunkt liegt aber auf dem Erbrecht, dem allein elf der 21 Entscheidungen Marcells zuzurechnen sind. Eine weitere Häufung liegt im Schuldrecht mit fünf Entscheidungen; die restlichen fünf verteilen sich auf Sachen-, Dotal-, Sklaven- und Vormundschaftsrecht. 74

2. Nach Honore wurde der lsr zwischen dem 5. und dem 20. Mai 532 exzerpiert.75 Er gehört zur Sabinus-Masse76 und steht hier relativ weit hinten, gefolgt nur von den membranae des Neraz und vielfaltigen kleineren Werken zu speziellen Themen, vor allem Monographien des Paulus.77 Dementsprechend finden sich die Fragmente des lsr stets unter den letzten aus der Sabinus-Masse des jeweiligen Digestentitels; kein 67 Pa1.292.

68 Beispiele Pa!. 279 pr. (expediatur - warum Konjunktiv?); Pa!. 284 pr. (audiendus erit- warum Futur?); Pal. 292 (debuerit- warum Futur li?). 69 Beispiele Pal. 284.1, 292. 70 Nach der Ordnung der Digesten. 7 ' Pal. 277 D 13.5.24. n Pal. 292 = D46.3.48. 73 Pal. 277 und 278 sowie Pa!. 291 und 292. 74 Diese Einteilung versucht lediglich, jedes Fragment einem Rechtsgebiet zuzuordnen. Selbstverständlich tauchen in vielen Fällen Probleme aus verschiedenen Rechtsgebieten auf. Häufig kommt es gerade in den erbrechtliehen Entscheidungen auf allgemeine Fragen - etwa aus dem Bedingungsrecht - an. 75 Honore, Tribonian (1978), 264f. 76 So schon 8/uhme, ZGRW 4 (1818), Tabelle zu S. 266 und Übersicht453. Zu Bluhmes sog. Massentheorie, die heute im Grundsatz anerkannt ist, vgl. nur Schutz, Röm. Rechts· wiss. 405 ff.; Dulckeit!Schwarz!Waldstein 282. 77 Vgl. die Übersicht im Anhang der kleinen Digesten-Ausgabe von Krüger.

=

24

I. Teil: Grundlagen

Fragment ist aus der Sabinus-Masse herausgelöst und in einen anderen Zusammenhang versetzt worden. 3. Im lsr werden andere Juristen nicht zitiert. Umgekehrt ist uns auch kein ausdrückliches Zitat des lsr bei einem anderen Autor bekannt. Auch wo Mareeil ohne Werkangabe zitiert wird,78 gibt es kaum Hinweise auf ein responsum des Marcell, und wo sie vorkommen, liegt ein Bezug gerade zum lsr eher fern. 79 4. Bei einem liber singularis können die Inskriptionen der Fragmente nicht für eine Rekonstruktion seines Ordnungsschemas fruchtbar gemacht werden können. Das übliche Verfahren einer Wiederherstellung80 kommt darum nicht in Betracht. Anhaltspunkte könnten aber gewonnen werden, wenn ein Fragment des lsr in eine Katene von Texten aus einem anderen Werk oder anderen Werken eingereiht worden ist. In diesem Fall könnte aus dem Ordnungsschema dieser Werke auf das System des lsr geschlossen werden kann. 81 Aber auch für dieses Verfahren ist die Überlieferungslage enttäuschend: Wir werden zwar sehen, daß Pal. 285 bewußt an das vorangehende Digestenfragment D32.68.3 angehängt wurde, um den dort am Schluß formulierten Gedanken weiterzuführen. Aber auch wenn man davon ausgeht, daß die Fragmente deshalb zusammengefügt werden konnten, weil das sie verbindende Problem in den beiden Juistenschriften im selben Sachzusammenhang behandelt wurde, so ist in diesem Fall doch nichts gewonnen. Denn auch in den Responsen Ulpians, denen D 32.68 entstammt, kann kein bestimmtes System festgestellt werden.sz Das Ordnungsschema des lsr kann damit nicht rekonstruiert werden. Lenels Palingenesie führt, wie stets in solchem Fall83 , die Fragmente in der Reihenfolge auf, in der sie in den justinianischen Digesten stehen. Da das Digestensystem das gängigste Aufbaumuster für Werke der Problemata-Literatur ist,84 gibt es keinen Grund, für die Untersuchung des Werks von dieser Reihenfolge abzuweichen.85 Lenel, Paling. I 637ff. "Marcellus laudatur non indicato libro". In D24.l.11.2 Ulp 32 Sab wird zwar ein dreiteiliger Fallaufbau wiedergegeben, in dem aber weder quaero noch respondit auftauchen. In 027.7.16 Paul6 Sab heißt es zwar Cum quaeritur ... , Marcellus putabat ... , aber die lange Antwort unter Wiedergabe eines Meinungsstreits ist atypisch für den liber singularis. Gleiches gilt für die lange Antwort in D35.2.l.19 Paul ad leg Falc, wo auch die Sachverhaltsschilderung fehlt. Nicht auszuschließen ist die Herkunft aus dem lsr in D 35.2.3.2 Paul ad leg Falc, doch sprechen die Frage cum de lege Falcidia quaeratur und die Antwort Marcellus putat eher dagegen. Nur Anklänge des Responsenschemas finden sich in 038.6.1.7 Ulp 44 ed und 040.5.28 pr. Ulp 5 fideicom. 80 Vgl. insbes. Manthe, Die libri ex Cassio des Iavolenus Pricus (1982) 259ff. 81 Zu dieser Methode Manthe aaO. 261 f. 82 Vgl. Lenel, Paling. II 1016 Fn. 2. 8J Vgl. Th. Kipp, Krit. Vierteljahresschrift N.F. Bd. 14, 493. 84 Schulz, Röm. Rechtswiss. 285. 85 Chr. H. Schmid, Ulpius Marcellus (1768) 27, vermutet, daß die Fragmente der Ordnung des Edikts folgten. 78

79

§ 2. Die libri responsorum

25

§ 2. Die libri responsorum I. Einführung Die Digesten enthalten Hinweise auf elf Werke mit dem Titel responsorum libri (oder liber): Labeo

responsorum libri XV

Sabinus

responsorum libri II

Neratius Priscus

responsorum libri /II

Marcellus Papirius Fronto Scaevola

responsorum liber singularis responsorum libri /II responsorum libri VI

Papinian

responsorum libri XIX

Paulus Ulpian lulius Aquila

responsorum libri XXIII

Modestinus

responsorum libri XIX.

responsorum libri ll responsorum liber (?)

Im folgenden sollen diese Werke kurz vorgestellt werden, um die Stellung des lsr innerhalb seiner Werkgattung zu verdeutlichen. Dabei muß sich die Darstellung weitgehend auf formale Aspekte beschränken mit dem Zweck, die Besonderheiten von Marcells lsr zu verdeutlichen. Wir folgen der Chronologie der Werke. II. Die einzelnen Werke I . Responsorum libri XV von Labeo86

Labeos Responsenwerk begegnet uns nur in einem einzigen Text, nämlich bei Ulpian Co1112.7.387; das wortgleiche Fragment D9.2.27.8 Ulp 18 ad ed endet, wo in der Collatio das Zitat folgt. Der Hinweis beschränkt sich auf den Satz et ita Labeo libro responsorum XV refert. Danach umfaßte das Werk mindestens fünfzehn Bücher; dies ist der viertgrößte uns bekannte Umfang eines Responsenwerks. Bei diesem Umfang ist es überraschend, daß das Werk nur durch ein einziges Zitat bezeugt ist. Dies erstaunt umso mehr, als Labeos sonstige Werke überdurchschnittlich oft von späteren Autoren zitiert werden. 88 Liebs89 bezweifelt deshalb, daß 86 Lit.: Bremer II, 1 145 ff.; Rudorff, RG I 179.; Pernice Labeo I 60ff.; Karlowa, RG I 669; Krüger 156; Jörs, REI,2, 2552; Schulz, Röm. Rechtswiss. 286; Liebs 85. 87 Pal. 241 zu Labeo. 88 Kalb, Roms Juristen (2. Auf!. 1975) 43. 89 Liebs 85.

26

1. Teil: Grundlagen

Labeo überhaupt Responsen veröffentlicht hat.90 Er vermutet, daß dem Zitat in Coll 12.7 .3 ein Schreibfehler des Kompilators der Collatio zugrundeliegt und Ulpian in Wirklichkeit aus Labeos libri posteriores zitiert. Dieser singuläre Titel sei dem Verfasser der Collatio möglicherweise nicht geläufig gewesen, so daß er beim Auszug des Ulpian-Textes versehentlich den bekannteren Titellibri responsorum geschrieben habe. Diese Vermutung wird nach Liebs durch die Wortwahl refert im Zitat gestützt.91 Andere92 erwägen, daß die Responsen mit den Episteln, die ebenfalls nur in einem einzigen Zitat93 erwähnt werden, identisch sein könnten.94 Keine dieser Hypothesen läßt sich beweisen. Es sind fünf Labeo-Zitate ohne nähere Herkunftsbezeichnung überliefert, in denen Labeo respondit vorkommt; 95 allerdings besagt dieser Befund nicht viel.96 Bei der gegebenen Quellenlage können die Existenz und die mögliche Gestalt dieses frühesten bezeugten Responsenwerks nicht geklärt werden. 2. Responsorum libri li von Sabinus91 Von den Responsen des Sabinus erfahren wir ebenfalls nur durch ein einziges Zitat, nämlich D 14.2.4 pr. Call2 quaest. Auch die Existenz dieser Schrift wird von Liebs98 in Frage gestellt: Es sei unwahrscheinlich, daß ausgerechnet der Provinzialjurist Callistrat, dem offenbar nur eine bescheidene Bibliothek zur Verfügung stand, als einziger aus den Responsen des Sabinus zitiert. Indessen ist nicht recht ersichtlich, wie das Fehlzitat in den Callistrat-Text gelangt sein soll. Daß ein Bearbeiter oder gar Callistrat selbst ein Responsenwerk erfindet, ist kaum vorstellbar. Außerdem zitiert Callistrat in § 1 Sabinus nochmals zum selben Rechtsgebiet, und wieder mit respondit. Es liegt nahe, daß beide Zitate aus demselben Werk starnmen.99 Schließlich wird in vielen der über 200 Zitate ohne Herkuftsangabe100 Sabinus mit dem Wort respondit angeführt. Es ist gut denkbar, daß ein Teil dieser Zitate aus den /ibri responsorum stammt, die Callistrat nennt. 101 Für unbedenklich halten das Zitat dagegen Pernice 61, Bremer II, 1 146 und Schutz 286. referre findet sich bei zwei Zitaten aus den libri posteriores (Pa!. 229 und 240), paßt aber weniger gut zum Zitat eines responsum. 92 Vgl. die Nachweise bei Bremer II, 1 145. 93 Pa!. 192 zu Labeo. 94 Dagegen Pernice, Bremer aaO. 95 Pal.275, 354,365.17,368 und 398. 96 Vgl. etwa die Verwendung des Responsenschemas in den digesta Alfens; dazu Roth, Alfeni Digesta ( 1997) 26 ff. 97 Lit.: Bremer II, 1 374f.; Krüger 166; Schulz, Röm. Rechtswiss. 287; Liebs 85f. 98 Liebs 85 f. 99 Bremer II, 1 375: "Hoc fragmentum ex eodem libro Responsorum petitum videtur''. 1oo Pa!. 18 bis 236 zu Sabinus. 101 V gl. Schulz 287. 90

91

§ 2. Die Jibri responsorum

27

3. Responsorum libri III von Neraz 102

Nach dem Index Floreminus umfaßt das Responsenwerk des Neraz drei Bücher; in den Digesten sind vierzehn Fragmente überliefert, die aus den ersten beiden Büchern stammen. Hinzu kommen acht Zitate bei Ulpian, die die Responsen ausdrücklich nennen, und zwar wiederum nur die beiden ersten Bücher. 103 Lenel 104 rechnet noch eine Reihe weiterer Zitate zu den libri responsorum; diese Zuordnung beruht jedoch nur auf der Verwendung von respondere, die keinen sicheren Schluß zuläßt. 105 Die direkt überlieferten Fragmente sind auffallend kurz; sie bestehen oft nur aus einem Satz. Einige beschränken sich auf eine sentenzartige rechtliche Aussage.106 Häufiger sind Sachverhalt und Entscheidung miteinander verbunden. 107 Fallfragen fehlen fast durchgehend. 108 Die Entscheidungen stehen in der Regel im Acl. Dabei fehlt meist das regierende Verb; nur in zwei Fragmenten steht respondit. 109 Die Entscheidungen werden nicht begründet. Ein einheitliches formales Gestaltungsprinzip des Werks läßt sich ebensowenig erkennen wie ein Gliederungsschema des Werks. 110 Nach Liebs 111 liegen den Responsen reale Rechtsfälle zugrunde. Das ist in dieser Allgemeinheit nicht zu beweisen. Die von Liebs angeführte Stelle Pal. 75 kann ebensogut ein akademischer Fall sein. 112 Bei anderen Fragmenten ist eine praktische Herkunft eher unwahrscheinlich, so etwa bei der in Pal. 82 dargestellten Auseinandersetzung mit Fulcinius. Zur Textgeschichte der libri responsorum des Neraz hatGreinereine interessante These aufgestellt: 113 Die Fragmente, die die Digesten unter der Inskription respon102 Lit.: Bremer II, 1 296 ff.; Berger, RE XVI,2, 2550; Schulz, Röm Rechtswiss. 289; Greiner, Opera Neratii, Drei Textgeschichten (1973) 137ff.; Honore, TS43 (1975) 238ff. (Rez. Greiner); Horak, SZ92 (1975) 321 ff. (Rez. Greiner); Liebs 86f. 103 Vat 75 U1p 17 Sab; Vat 79 = 07.2.3 pr. U1p 17 Sab; D 14.6.7 pr. Ulp 29 ed; D 15.1.9.1 Ulp 29 ed; D 19.1.11.12 Ulp 32 ed; D36.123.3 Ulp 5 disp. 104 Pa!. 72 bis 101 zu Neraz. 10s Greiner 137 Fn. 5. 106 So Pal. 78 und 88. 107 So Pal. 76, 83 u. a. 108 Eine Ausnahme ist nur Pa!. 89; hier fehlt aber der Sachverhalt. 109 Pal. 77 und 83. 110 V gl. Lenel, Pa!. 72 ff. Auch Greiner macht hierzu keine Angaben. Keinen Aufschluß hierüber geben die libri ad Neratium des Paulus. Zwar werden diese teilweise als Kommentar der responsa angesehen (Sicket, De Neratio Prisco [1788], zit. bei Krüger 188 Fn.68; Ferrini, Libri di Paolo ad Neratium, Memorie della R. Academia di Scienze, Lettere ed Arte di Modena X [1894] Sezione delle Scienze, 295ff. [zit. bei Greiner 139]; Liebs, ANRW 11,15 219f. Fn. 128). Auch der Aufbau der libri ad Neratium läßt sich aber nur unvollständig rekonstruieren, vgl. Lenel, Paulus Pal.1020ff. Vor allem aber ist nicht zu beweisen, daß Paulus ausschließlich aus den responsa des Neraz geschöpft hätte (Greiner 139ff.; zustimmend Horak 322). 111 Liebs 87. 112 Die Bezeichnung der Parteien mit tu und ego spricht eher hierfür. 11 3 Greiner 155 ff.

28

1. Teil: Grundlagen

sorum libri überliefern, stammen seiner Ansicht nach nicht aus dem Responsenwerk, das Neraz selbst verfaßt und veröffentlicht hat.' 14 Was den Kompilatoren vorgelegen habe, sei vielmehr eine spätnachklassische Sammlung von Neraz-Zitaten bei anderen klassischen Autoren gewesen. Ob es sich dabei nur um Zitate aus dem ursprünglichen Responsenwerk oder auch aus anderen Werken des Neraz gehandelt habe, sei nicht mehr feststellbar. Das Motiv für die Erstellung einer solchen Sammlung sieht Greiner in der Bestimmung des Zitiergesetzes von Valentinian III., nach der nicht nur den Werken der ,großen Fünf' Papinian, Ulpian, Paulus, Modestin und Gaius Gesetzeskraft zukam, sondern auch den Werken derjenigen Schriftsteller, die von den genannten Fünf zitiert werden.115 Wie aus der interpretatio zu dieser Bestimmung hervorgehe, seien zu dieser Zeit viele der klassischen Originalwerke der Klassiker schon nicht mehr verfügbar gewesen. Es sei deshalb das Bedürfnis nach Rekonstruktion dieser Werke aus dem noch vorhandenen Material aufgekommen. Der beginnende Klassizismus dieser Zeit habe diese Tendenz verstärkt. Greiner gründet seine Ansicht auf die dreifache Überlieferung des sog. AoßFalls116, einer Entscheidung des Neraz zur actio ad exhibendum und zur Sicherheitsleistung für entstandene und noch zu befürchtende Schäden. Diese Entscheidung wird von Ulpian an zwei Stellen zitiert, in D39.2.9.3 praktisch wortgleich mit der (primafacie) direkt überlieferten Stelle, in D 10.4.5.4 ausführlicher und in der Form des dreigliedrigen responsum. Greiner nimmt an, daß dieses Zitat dem ursprünglichen Neraz-Text entspricht. In 039.2.9.3 habe Ulpian denselben Neraz-Text in gekürzter und auf seine geänderte Absicht zugeschnittener Form nochmals verwendet. Diese gekürzte Version habe dann der nachklassische Epitomator übernommen, so daß sie in den Digesten als das ,Original' erscheine. Daß die beiden Zitate bei Ulpian auf zwei verschiedenen Fassungen derselben Entscheidung bei Neraz beruhen, schließt Greiner mit guten Gründen aus.' 17 Ob die Argumentation Greiners in allen Punkten stichhält, muß hier dahinstehen.'18 Sie legt großen Wert auf die Annahme, daß der Ulpian-Text D 10.4.5.4, der keine Herkunftsangabe enthält, die responsa des Neraz zitiert und deren ursprüng114 Daß es in der Klassik ein Neraz-Werk mit dem Titel responsorum libri gegeben hat, geht aus den Zitaten bei Ulpian und Paulus (D 15.3.19 Paul4 quaest) hervor. Honore glaubt allerdings, daß das Werk nicht von Neraz selbst veröffentlicht worden ist (TS43 [1975] 238). Er legt jedoch nicht dar, wer diese Veröffentlichung besorgt haben könnte und wie es zu den Verkürzungen der Fragmente, die auch Honore auffallen, gekommen sein soll. 115 CTh 1.4.3; dazu s. Nachw. bei Greiner 166 Fn. 83 ff. 116 Pa!. 91 zu Neraz =D39.2.9.3 Ulp 53 ed = D 10.4.5.4 Ulp 24 ed. 117 Greiner 155 ff. Besonders schwer wiegt dabei der Vergleich der fast wortgleichen Stellen Pa!. 91 und D 39.2.9.3: Das angebliche Original Pa!. 91 ist dem Zitat in D39.2.9.3 in einem wichtigen Punkt inhaltlich unterlegen, nämlich in der Auslassung des Wortes tollendi, das in D 39.2.9.3 den Bezug zur actio ad exhibendum klarstellt. 118 Ablehnend Liebs 86 Fn. 26. Auch Honore, TS 43 (1975) 239, bezweifelt Greiners Beweisführung und Ergebnis. Die von ihm angebotene Lösung ist jedoch den Gegenargumenten Greiners (156f.) ausgesetzt und in der Annahme von unveröffentlichten Neraz-Manuskripten (neben den responsa!) sehr spekulativ.

§ 2. Die libri responsorum

29

liehe Darstellungsform wiedergibt. Diese Annahme wird hauptsächlich damit begründet, daß der dreigliedrige Aufbau, den das Zitat aufweist, die übliche Darstellungsform für libri responsorum darstellt. Ein solcher Schluß ist sicherlich nicht zwingend, 119 insbesondere weil der Ulpian-Text, von seiner Dreiteiligkeil abgesehen, gerade nicht besonders ,responsentypisch' ist.l 20 Aber selbst wenn Ulpian hier aus einem anderen Werk des Neraz zitieren sollte, würde dies Greiners Theorie nicht erschüttern. Denn sie lieferte auch dann noch die einleuchtendste Erklärung einerseits dafür, daß das Zitat bei Ulpian ausführlicher und sein Inhalt klarer als der angebliche Originaltext ist, andererseits für die äußerst knappe, zuweilen geradezu unvollständige Darstellungsweise der Fragmente, die aus den responsa stammen sollen. 121 Für unsere Fragestellung ergeben sich folgende Konsequenzen: Es steht fest, daß es ein klassisches Werk libri responsorum Neratii gegeben hat; Ulpian hat es noch verwendet. Unsicher ist hingegen, ob die unter dieser Inskription in den Digesten überlieferten Fragmente aus diesem Werk stammen. Nach Greiners Rekonstruktion der Werkgeschichte ist das nicht der Fall. War das Werk, aus dem die Kompilatoren geschöpft haben, eine nachklassische Sammlung von Neraz-Zitaten aus Werken anderer Autoren, so steht vielmehr nicht einmal fest, ob die in diesen Fragmenten überlieferten Entscheidungen ursprünglich in den responsa oder in einem anderen Werk des Neraz standen. Ulpians Zitate aus den responsa bleiben dann die einzigen verläßlichen Zeugnisse des Originalwerks. Der lsr von Marcell, der zeitlich den responsa des Neraz am nächsten steht, wäre danach das früheste Responsenwerk, das in den Digesten mit Originalfragmenten vertreten ist. 4. Responsorum libri 111 von Papirius Fronto 122

Die responsa des Papirius Fronto werden durch zwei Zitate bei Callistrat belegt.123 Neben zwei weiteren Zitaten bei Marcian 124 sind sie die einzigen uns bekannten Äußerungen des Juristen. Nach einem der Zitate bei Callistrat hat Frontoseine Enscheidungen begründet; 125 mehr läßt sich über das Werk nicht sagen. Da über Vgl. Liebs, ANRW 11,15 219f. Fn.128. Die Gliederung Neratius scribit- unde quaerit Neratius- et ait kann ebensogut den Duktus eines akademischen Traktats nachvollziehen, vielleicht aus den membranae (vgl. z. B. D24.1.44 mit Greiner 13 f., 26f.). Dafür spricht insbesondere, daß der erste der drei Teile von D 10.4.5.4 nicht nur, wie sonst in responsa, die Schilderung des Sachverhalts, sondern auch schon eine erste rechtliche Aussage (posse eum conveniri ad exhibendum) enthält, auf der die folgende Rechtsfrage aufbaut. 121 Zustimmend auch Horak 323 f. 122 Lit.: Berger, REXVIII,3, 1059; Karlowa, RG 1735; Krüger 227; Kunkel, Herkunft 235. 123 D 50.16.220.1 und D 14.2.4.2 =Pa!. 1 und 2 bei Papirius Fronto; beim letzteren deutet nur respondit auf das genannte Werk hin. 124 Pa!. 3 und 4; ohne Herkunftsangabe. 12s Vgl. Pa!. 1:jilii enim ... placere. 119

120

30

1. Teil: Grundlagen

Fronto auch sonst so gut wie nichts bekannt ist, fallt selbst eine Datierung des Werks schwer. Weil Marcian ihn zusammen mit Scaevola zitiert, 126 nimmt man an, daß er dessen Zeitgenosse war, 127 doch ist diese Folgerung keineswegs zwingend. 128 5. Responsorum libri VI von Scaevola129 a) Mit 97 Fragmenten sind die 6 Bücher responsa des Cervidius Scaevola in Justinians Digesten recht umfangreich vertreten; 130 wie beim lsr Marcells sind knapp sechzehn Prozent dieser Sammlung überliefert. 131 Ihre Ordnung war das Digestensystem; die Bücher I bis V folgen dem Edikt, Buch VI ist den Ieges, SCta und Konstitutionen gewidmet. 132 Für die Datierung des Werks liegen zwei Indizien vor: Der in Pal. 247.4 erwähnte Titel praefectus legionis ist erst unter Septimius Severus als fester Begriff nachweisbar.1 33 Andererseits berücksichtigt Pal. 216.1 noch nicht die oratio Severi aus dem Jahr 195. 134 Zumindest das erste und das zweite Buch der responsa sind danach zwischen 193 und 195 n. Chr. geschrieben worden. Die Grundstruktur der Fragmente ist das Responsenschema, wobei sich neben dem dreigliedrigen hin und wieder auch ein fünfgliedriger Aufbau findet: An die Beantwortung der ersten Fallfrage schließt sich eine weitere, meist mit item quaerolquaesiit eingeleitete Frage an, die dann ebenfalls beantwortet wird. 135 Das RePal.4. So Berger, Karlowa, Lenel a. a. 0 . 128 Krüger a. a. 0 . 129 Lit.: CujaziV 443ff.; 8/uhme, ZGRW4 (1818) 325 Fn.47; Mommsen, ZRG7 (1868) 484; ders., ZRG 9 (1870) 115 f.; Pernice, Miscellanea zu Rechtsgeschichte und Textkritik (1870) 62ff., 80f.; Karlowa, RGI 733ff.; Schirmer, AcP78 (1892) 30; 79 (1892) 224; 80 (1893) 128; 81 (1893) 128; 82 (1894) 12; 84 (1895) 32; ders., SZ 15 (1894) 352; Jörs, REIII,2 1988ff.; Samter, SZ27 (1906) 151 ff.; Fitting 63f.; Krüger 216ff.; Kipp, Geschichte der Quellen des römischen Rechts (4. Aufl. 1919) 133 Fn.6; Kübler 276; ders., SZ28 (1907) 174ff.; Peters, SZ32 (1911) 213f.; Lotmar, SZ33 (1912) 317 bei Fn. 1; Koschaker, Studi in onore di Pietro Bonfante IV (1930) 9 Fn.6; Wieacker, Lex commissoria (1932) 7; Schulz, Überlieferungsgeschichte der Responsa des Cervidius Scaevola, in: Symbolae Friburgenses in honorem Ottonis Lenel (1935) 143ff. (in diesem Kapitel zitiert: Schulz); ders., Röm. Rechtswiss.294f.; Sciascia, Annali Fac.Giur. Univ. Carnerino 16 (1942-44) 85ff. (zit. nachHorak, SZ94, [1977] 419 Fn. 7; Archi, Una ,,nota" di Trifonino a Scevola, in: Festschrift Rabel II [1954] 7ff.; Wieacker, Textstufen 16; Klami, Entscheidung und Begründung in den Kommentaren Tryphonins zu Scaevolas Responsen [1975] passim; Horak, SZ94 [1977] 418ff.; Liebs 89f.; Wieacker, RGII §52Ill2a). 130 Pa!. 213 bis 314 zu Scaevola, davon vier Zitate aus den libri ad Vitellium von Paulus. 131 Zur Berechnungsmethode vgl. o. § 1 II; die Zitate sind in den Umfang des Erhaltenen nicht eingerechnet. Ihr Anteil ist kaum zu quantifizieren, weil meist nicht zu erkennen ist, welchen Umfang die zitierte Äußerung hatte. 132 Lenel, Pal. II S. 287 Fn. 6. 133 Vgl. Karlowa, RG 1734; Jörs 1989f.; Krüger 218 Fn.43. 134 Vgl. Jörs, Krüger (zweifelnd) aaO. mwN. 135 Z. B. Pal.221, 244,246. 126

127

§ 2. Die libri responsorum

31

sponsenschema wird aber nicht mit der Stringenz durchgehalten, die wir im /sr Marcells vorfinden; an zahlreichen Stellen wird es modifiziert, meist zugunsten einer knapperen Darstellung.•36 Oftmals fehlt der Sachverhalt oder die quaestio oder beides; oder die Elemente des Responsenschemas werden grammatisch verbunden. 137 Außerdem begegnen allgemeine, regelhaftformulierte Aussagen. 138 Drei Entscheidungen sind Noten angefügt; zwei von ihnen weisen Paulus 139, die dritte140 Tryphonin als Autor aus.•4 • In vielen Fragmente treffen wir auf Stilelemente, die wir aus Marcells /sr kennen: Sachverhalte, die einfach, aber nicht immer in äußerster Kürze geschilderte werden; letztwillige Verfügungen, die im Wortlaut wiedergegeben und mit Titius ita cavit o. ä. eingeleitet werden; indirekte Fragen, die in aller Regel von einer Form von quaerere abhängig sind; kurze Antworten, 142 zumeist im Aci formuliert, der von respondit (selten Scaevola respondit) abhängt; besonders häufig die Wendung secundum ea quae proponerentur. 143 Begründungen werden meist nicht gegeben. Aber auch hier gilt, daß die formale Gestalt der Texte weitaus weniger konsistent ist als in Marcells Responsenwerk; zu jedem der genannten Charakteristika finden sich zahlreiche Ausnahmen.I44 Inhaltlich f