Der Körper in der Postmoderne: Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn [1. Aufl.] 978-3-658-22281-9;978-3-658-22282-6

In diesem Band befassen sich die Autorinnen und Autoren mit der Thematik „Körper in der Postmoderne“ aus der Sicht unter

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German Pages X, 198 [201] Year 2019

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Der Körper in der Postmoderne: Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn [1. Aufl.]
 978-3-658-22281-9;978-3-658-22282-6

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Zur Einführung: Der postmoderne Körper als ambivalenter Topos (Minas Dimitriou)....Pages 1-10
Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks sportlichen Handelns (Günter Amesberger)....Pages 11-28
Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen (Elisabeth Ardelt-Gattinger, Nadine Steger, Susanne Ring-Dimitriou)....Pages 29-49
Jugendkörper im Netz. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Jugendliche und ihre fotografischen Selbstdarstellungen in digitalen sozialen Netzwerken (Birgit Bütow, Clarissa Schär)....Pages 51-61
Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness zwischen Gesundheitsorientierung, performativem Zwang und Optimierungslogik (Minas Dimitriou)....Pages 63-92
Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper in zeitgenössischer Perspektivierung (Nicole Haitzinger)....Pages 93-105
Warum ist die Keimbahn des Menschen auch in einem alten Körper jung? (Günter Lepperdinger)....Pages 107-121
Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper in den 1990er Jahren (Ulrike Reinert)....Pages 123-135
Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke im postmodernen Körper (Hans-Joachim Sander)....Pages 137-150
Rechtliche Grenzen im Umgang mit dem menschlichen Körper. Vom Folterverbot über die Knabenbeschneidung zu Pornografie und Datenschutz (Kurt Schmoller)....Pages 151-167
Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager in Journalismus und Werbung (Martina Thiele, Helena Atteneder)....Pages 169-183
Gesundheit, Lebensstil und Subjektives Wohlbefinden aus ökonomischer Perspektive (Hannes Winner)....Pages 185-198

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Minas Dimitriou Susanne Ring-Dimitriou Hrsg.

Der Körper in der Postmoderne Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn

Der Körper in der Postmoderne

Minas Dimitriou · Susanne Ring-Dimitriou (Hrsg.)

Der Körper in der Postmoderne Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn

Hrsg. Minas Dimitriou Universität Salzburg Hallein/Rif, Österreich

Susanne Ring-Dimitriou Universität Salzburg Hallein/Rif, Österreich

ISBN 978-3-658-22281-9 ISBN 978-3-658-22282-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung: Der postmoderne Körper als ambivalenter Topos. . . . . 1 Minas Dimitriou Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks sportlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Günter Amesberger Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Elisabeth Ardelt-Gattinger, Nadine Steger und Susanne Ring-Dimitriou Jugendkörper im Netz. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Jugendliche und ihre fotografischen Selbstdarstellungen in digitalen sozialen Netzwerken. . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Birgit Bütow und Clarissa Schär Der postmoderne Körper im Wandel: Sport, Fitness und Wellness zwischen Gesundheitsorientierung, performativem Zwang und Optimierungslogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Minas Dimitriou Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper in zeitgenössischer Perspektivierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Nicole Haitzinger Warum ist die Keimbahn des Menschen auch in einem alten Körper jung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Günter Lepperdinger

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Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper in den 1990er Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Ulrike Reinert Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke im postmodernen Körper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Hans-Joachim Sander Rechtliche Grenzen im Umgang mit dem menschlichen Körper. Vom Folterverbot über die Knabenbeschneidung zu Pornografie und Datenschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kurt Schmoller Zu jung, um alt zu sein? Visiotype der Best Ager in Journalismus und Werbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Martina Thiele und Helena Atteneder Gesundheit, Lebensstil und Subjektives Wohlbefinden aus ökonomischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Hannes Winner

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Assoz. Univ. -Prof. PD Dr. Mag. Minas Dimitriou ist Assoziierter Professor am Interfakultären Fachbereich Sport‐ & Bewegungswissenschaft/USI der Paris Lodron Universität Salzburg. Er ist Fachkoordinator des Masterstudiums „Sport‐Management‐Medien“ und Geschäftsführer des Universitätslehrganges Sportjournalismus. Seine Lehr‐ & Forschungsschwerpunkte sind kulturelle und zeitdiagnostische Aspekte des Sports sowie mediale, wirtschaftliche und politische Implikationen des Sports, Körper‐ und Freizeitsoziologie. Assoz. Univ. -Prof. PD DDr.in Mag.a Susanne Ring-Dimitriou  ist Assoziierte Professorin am Interfakultären Fachbereich Sport‐ & Bewegungswissenschaft/ USI der Paris Lodron Universität Salzburg. Ihre Forschungsinteressen und Lehrschwerpunkte liegen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention metabolischer Erkrankungen durch Bewegung und Sport in der Lebenswelt von Kleinkindern und Erwachsenen der zweiten Lebenshälfte.

Autorenverzeichnis Univ. -Prof. Dr. Günter Amesberger  ist Professor für Sportpsychologie und -pädagogik sowie Leiter des Interfakultären Fachbereichs Sport‐ & Bewegungswissenschaft/USI der Universität Salzburg und des ULG Handlungsorientierte Personal-, Team- und Organisationsentwicklung nach IOA®. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. psychologische Diagnostik und Beratung im Leistungssport, Exekutive

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Funktionen, Psychophysiologie/Biofeedback, handlungsorientiertes Lernen und kompetenzorientiertes Unterrichten. Univ. Doz. Dr. Elisabeth Ardelt-Gattinger ist Ao. Professorin in Ruhe. Ihre Forschungsinteressen, ihre Vortragstätigkeit sowie Präventions- und Erwachsenenbildungsmaßnahmen, Beratungen/Psychotherapien liegen im Bereich Adipositas und Essstörungen. Hinzu kommt eine etwa 30-jährige Tätigkeit als Gutachterin vor bariatrisch chirurgischen Interventionen von Jugendlichen und Erwachsenen. Mag.a Helena Atteneder ist Dissertantin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Ihre als Buch veröffentlichte Magistraarbeit (erschienen bei kopaed) widmet sich dem Desiderat Stereotyp, Alter/Generation und Medien aus transdisziplinärer Perspektive zu analysieren. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation zum Thema Geomedien und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, Überwachungsstrukturen und Bedeutungen von Privatsphäre. Univ. -Prof. Dr. Birgit Bütow ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron-Universität. Sie leitet den Schwerpunkt „Sozialpädagogik“. Ihre Forschungsprojekte beziehen sich auf Biografie-, Jugend- und Jugendhilfe- bzw. Genderforschung. Diese Schwerpunkte bilden auch den Kern ihrer Lehre, neben der qualitativen Methodenausbildung und der Vermittlung theoretisch-methodologischer sowie historisch-systematischer Grundlagen der Sozialpädagogik. Univ. -Prof. Dr. Nicole Haitzinger  ist Professorin am Fachbereich Kunst-, Musikund Tanzwissenschaft der Paris Lodron Universität Salzburg. Sie ist (Ko-)Leitung des Universitätslehrganges Kuratieren in den szenischen Künsten. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Theorie, Geschichte und Ästhetik der szenischen Künste vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Moderne als Plural, Antikenkonstruktionen und -rezeptionen (Inszenierungen und Verkörperungen des Tragischen, Bühnentode). Univ. Prof. Dr. Günter Lepperdinger ist Professor und Alternsforscher am Fachbereich Biowissenschaften der Universität Salzburg. Seine Arbeitsgruppe bearbeitet an humanbiogerontologischen Fragestellungen auch in enger Zusammenarbeit mit klinischen Forschergruppen und industriellen Partnern. Er setzt sich mit Aspekten der Regeneration von alternden Geweben im Menschen auseinander, vordringlich mit der Nische von mesenchymalen Stammzellen (MSC), welche die Gesundheit von Zellen und somit das endogene Regenerations- und Reparaturpotenzial von Geweben und Organen entscheidend beeinflusst.

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Mag. Dr. phil. Ulrike Reinert ist Lehrbeauftragte im Fachbereich Kunstgeschichte und für die Universität 55-Plus an der Paris Lodron Universität Salzburg mit Schwerpunkt neuere und neueste Kunstgeschichte. Sie arbeitet ferner als freie Kunstvermittlerin. In diesem Bereich langjährige Tätigkeit für das Museum der Moderne und das Domquartier Salzburg. Univ. -Prof. Dr. Hans-Joachim Sander lehrt Dogmatik an der katholischen Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und arbeitet am Fachbereich Systematische Theologie. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Zweite Vatikanische Konzil, Macht- und Ohnmachtrelationen in der Gotteslehre sowie topologische Verfahren in der Theologie. Clarissa Schär (MA) ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Sozialpädagogik des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Sie forscht und lehrt zu den Schwerpunkten Kinder- und Jugendhilfe insb. Kindesschutz, Kindheit und Jugend im Kontext neuer Medien, Körper- und geschlechtertheoretische Ansätze, Cultural Studies, Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Fotoanalysen. O. Univ. -Prof. Dr. Kurt Schmoller  ist seit 1993 Professor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Salzburg und seit 2010 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von 2004–2009 war er Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, 2014 erhielt er den Preis der Universität Salzburg für hervorragende Lehre. Er ist Autor mehrerer Bücher sowie von mehr als 200 publizierten Fachbeiträgen zu vielfältigen Bereichen des Strafrechts, des Strafverfahrensrechts und der Kriminalpolitik. Nadine Steger  (BSc) ist Masterstudentin der Psychologie an der Paris Lodron Universität Salzburg, in einer Betreuungseinrichtung für forensisch-psychiatrisches Klientel und als Coach für Positive Psychologie tätig. Ihre weiteren Interessen betreffen Essstörungen und Ernährungspsychologie, weshalb die Unterstützung bei wissenschaftlichen Publikationen sowie die Vorbereitung von Vorträgen und Trainings im Bereich von Adipositas und Essstörungen ein zusätzliches Beschäftigungsfeld darstellt. Assoz. Univ. -Prof. PD Dr.in Mag.a Martina Thiele  ist Assoziierte Professorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen Stereotypen- und Vorurteilsforschung, Kommunikationstheorien und -geschichte sowie Öffentlichkeiten. Sie ist Mitglied im Interdisziplinären ExpertInnenrat Gender Studies und Leiterin der Doctorate School geschlecht_transkulturell.

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Univ. -Prof. Dr. Hannes Winner  ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Salzburg, wissenschaftlicher Konsulent am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung und Research Fellow am Centre for Business Taxation an der Oxford University. Forschungsschwerpunkte: Finanzwissenschaft, Gesundheitsökonomik und angewandte Ökonometrie.

Zur Einführung: Der postmoderne Körper als ambivalenter Topos Minas Dimitriou

1 Einleitung Im Rahmen des sozialen Wandels erlebt der Körper in den letzten Dekaden eine bemerkenswerte gesellschaftliche Aufwertung („body turn“, Gugutzer 2006). Sowohl die Individualisierung und Singularisierung (Reckwitz 2017) als zentrale Kristallisationspunkte postmoderner Identität sowie der gestiegene Wohlstand und die Verbreitung der Konsumkultur, als auch die rasante medientechnologische Entwicklung, die Inszenierung und Eventisierung des Alltags und die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin führen zur intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Körper als soziales Gebilde. Parallel dazu entwickelt sich der Körper durch Body Art, verschiedene Körpertherapien, die Etablierung eines sport- und fitnessorientierten Lebensstils (Cederström und Spicer 2016), das Altern der Gesellschaft und auch die Entwicklung von Optimierungstechniken (Duttweiler und Passoth 2016) sowie rasanten Gesundheitsmoden zu einem Gegenstand des öffentlichen Diskurses und nimmt dadurch einen immer größer werdenden Stellenwert in der Gesellschaft ein (Gugutzer et al. 2017). Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes ist der Körper aus unterschiedlichen Perspektiven in einem bestimmten epochalen, ideologischen und stilistischen Rahmen, nämlich in der Postmoderne. Letztgenannter „Passepartoutbegriff“ (Eco 2003, S. 77) stellt als heterogenes Paradigma vielfältiger Theorien zweifelsohne ein komplexes und umkämpftes Terrain dar. Die Diskussion

M. Dimitriou (*)  Universität Salzburg, Hallein/Rif, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_1

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der Postmoderne ist in den unterschiedlichen Gebieten – wie z. B. Architektur, Literatur, Philosophie, Soziologie oder Kulturtheorie – erkennbar und lässt sich in wissenschaftlichen Disziplingrenzen identifizieren. Im Zuge der vorliegenden Arbeit wird dieser Topos im Sinne Baumans verwendet, als ein Phänomen, das von „[…] permanent and irreducible pluralism of cultures, communal traditions, ideologies, ‚forms of life‘ or ‚language games‘ […] or the awareness and recognition of such pluralism“ Baumans (1988, S. 225) geprägt wird. Somit rücken Aspekte, wie Relativismus, Vielfalt und Flexibilisierung in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Ein weiterer Gesichtspunkt des hier behandelten Begriffes bezieht sich auf den diskursiven und konstruierten Charakter der Postmoderne. Bauman spricht auch von Zunahme der Unsicherheit, der Fragmentierung sowie der Ambivalenz und meint, dass das postmoderne Individuum nomadisch in einer „fremdbestimmten, glück- und schutzlosen“ (Bauman 2008, S. 15) Gesellschaft lebt. Aktuell erlangt der Körper mit dem Übergang zur postmodernen Gesellschaft neue Bedeutungen in den Bereichen Freizeit und Konsum (Schroer und Wilde 2016). Während das funktional- mechanische Körperbild des Industriezeitalters mit der zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Wertsystemen und Lebensstilen konterkariert wurde, erfährt der postmoderne Körper eine beachtenswerte Wandlung im Informationszeitalter. Anstelle des rationalen „zivilisierten“ Körpers (Elias 1976) als Arbeitskraft in der Industriegesellschaft rückt ein polysemiotischer Körper als ein Instrument der Fitness in den Vordergrund: „The postmodern body is first and foremost a receiver of sensations; it imbibes and digests experiences; the capacity of being stimulated renders it an instrument of pleasure. That capacity is called fitness“ (Bauman 1995, S. 116). Im Rückgriff auf die theoretischen Positionen von Jean-Francois Lyotard (1999), in denen er „Metaerzählungen“ und „Metasysteme“ ablehnt, avanciert der Körper zum unübersichtlichen Phänomen, das von der deterministischen Absolutheit, Homogenität und Linearität der Moderne abgelöst wird. Im Zuge des aufkommenden Relativismus und Perspektivismus in der Postmoderne kristallisieren sich kultur- und zeitspezifische Entwicklungslinien auf den Körper, die alle gleich wahrhaft sind, heraus (Gugutzer 2015). Gerade postmoderne erkenntnistheoretische Positionen, die die Pluralität von Denkansätzen, Kunstrichtungen, Maßstäben und Handlungsmustern vertreten, finden im Körper ein ideales Feld, um die Suche nach der eigenen Identität, die Betonung der subjektiven Wahrnehmung und die Multiperspektivität des Sozialen zu akzentuieren.

Zur Einführung: Der postmoderne Körper als ambivalenter Topos

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Da der Topos Postmoderne hinsichtlich seiner zeitlichen Verortung und seines Inhaltes umstritten ist, stellt auch der im vorliegenden Sammelband unternommene Versuch, den Körper in diesem fragmentierten und fragilen Rahmen einzuordnen, eine große Herausforderung dar. Deswegen ist es notwendig, einen kurzen theoretischen Abriss zum Topos Körper zu skizzieren, um die im vorliegenden Sammelband angestrebten inhaltlichen Verbindungslinien zur Postmoderne zu verdeutlichen. Im soziokulturellen Diskurs wird der Körper weder als rein biologisches noch psychisches System betrachtet, sondern eher als Mittel, die Umgebung wahrzunehmen, auf sie zu reagieren und mit anderen Individuen in Verbindung zu treten. Der Körper ermöglicht eine Beziehung zur Außenwelt als Ganzes – Körper, Geist und Seele (Agstner et al. 1995). „Den Körper haben wir immer dabei“ konstatierte Erving Goffman (1994, S. 152), um die Omnipräsenz des Körpers zu betonen. Das Zusammenspiel von „Geist“ bzw. „Seele“ und „Körper“ bzw. „Leib“ formt den Menschen in seinem Fühlen, Denken und Handeln zu einer individuellen, einzigartigen Person (Schaufler 2002). Darüber hinaus besteht der menschliche Körper aus einer Zweiheit von Sein und Haben (Plessner 1981). Die Konjunktionen von Leib-Sein und Körper-Haben ergeben jeweils eine Einheit aus zwei Perspektiven, die untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen (Gugutzer 2006). In diesem Zusammenhang konstatieren auch Berger und Luckmann (1974, S. 53): „Die menschliche Selbsterfahrung schwebt also immer in der Balance zwischen Körper-Sein und Körper-Haben“. Der Leibbegriff „bezeichnet das unmittelbare, nicht-relativierbare innere Erleben“ (Villa 2008, S. 201) und steht mit dem lebendigen Körper in Verbindung. In diesem Kontext definiert Husserl den Körper als „the physical, objectified body studied by science“ und den Leib als „the lived sensation of embodiment“ (Husserl 1999, S. 25). Den Körper betrifft die physische Ausstattung des Menschen, der bestimmte objektive Merkmale wie Kopf, Arme, Beine, Muskeln und Organe umfasst (Gugutzer 2006). Die oben skizzierten Begriffserklärungen konturieren den Körper aus handlungstheoretischer und phänomenologischer Perspektive. Darüber hinaus orientieren sich praxeologische Ansätze an der Materialität (Dinge, Artefakte) und Körperlichkeit des Sozialen und nehmen vorwiegend den sichtbaren und aktiv einsetzbaren Körper unter die Lupe. Während im Rahmen der Praxistheorie „soziale Ordnungen über Bewegungen und Körperhaltungen sowohl angeeignet als auch hergestellt werden“ (Meuser 2006, S. 105), setzt sich die leibphänomenologische Betrachtungsweise mit dem wahrnehmenden, spürenden Leib auseinander. Die Analyse des Sozialen „ausgehend vom leiblich-körperlichen Wahrnehmen, Handeln und Interagieren“ (Gugutzer 2015, S. 124) rückt

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in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Dabei wird der Körper als „ein mittels Haltung, Gestik, Mimik, Kleidung, Schmuck, etc., soziale Zugehörigkeiten, Identitäten und Kompetenzen kommunizierendes Wissensmedium“ (Stadelbacher 2016, S. 12 f.) verstanden. Basierend auf phänomenologischen Überlegungen konzentrieren sich wissenssoziologische Betrachtungsweisen auf die reziproke Beziehung zwischen dem Wissen über den Körper und dem Wissen des Körpers an sich. Der erwähnte Prozess impliziert die Manifestation von unterschiedlichen „somatischen Kulturen“ (Boltanski 1976) innerhalb des sozialen Gefüges und wird durch die Aktivierung von „Kodes der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper“ (Boltanski 1976, S. 154) in Gang gesetzt. „Diese Kodes gelten gleichermaßen für das Erleben des eigenen und die Wahrnehmung fremder Körper“ (Keller und Meuser 2011, S. 13). Da die postmoderne Wissenskonstruktion einen provisorischen und kontextualen Charakter hat, sind in diesem Zusammenhang die Form der somatischen Kulturen und der inhaltliche Gehalt der erwähnten Kodes von Ambivalenz und Kontingenz gekennzeichnet. Ausgehend von der Prämisse, dass „die Gesellschaft aus postmoderner Sicht ihr Gesicht verliert […] und kann in dem spannungsreichen Nebeneinander von Staat, Wirtschaft, Kultur und Öffentlichkeit kein eindeutiges und alles übergreifendes Zentrum mehr ausmachen“ (Giesen 1991, S. 243), kann in diesem Zusammenhang von einer „radikalen Pluralität“ (Welsch 1987, S. 4) die Rede sein. Diese Entwicklung wirkt auch auf die persönliche Identitätssuche aus und verstärkt den Übergang von einer zeitstabilen zur situativen (Körper-)Identität (Rosa 2005, S. 362). Außerdem sind Körperbilder – in einer von neuen Kommunikationstechnologien geprägten postmodernen Medienkultur (Gergen 1996) – in ihrer Herstellung, wie in ihrer kollektiven und subjektiven Wahrnehmung und Rezeption in ihrer medialen Repräsentation verankert, die jene normativen Strukturen darstellt und in Umlauf bringt, an denen der eigene Körper, wie auch der der anderen, gemessen wird (Dimitriou 2015). „Die Mediengesellschaft produziert einen Körper, dessen Physis vor allem zur öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung des Subjektes dient und dessen Äußeres entsprechend gepflegt und gestylt werden muss“ (Klein 2008, S. 212). Die jeweilige Repräsentation zeigt das Vorbild, dem die Formierung des eigenen Körpers untergeordnet wird. Über das Fremdbild, das vom eigenen Körper vorerst abgekoppelte Ideal, werden soziale und kulturelle Regeln sowie Ordnungen transportiert, die der Imitation des somatischen Idealbildes einverleibt werden. Somit erweist es sich, dass der Körper einerseits eine „zentrale Rolle […] als Medium der Einverleibung und Verkörperung gesellschaftlicher Standards hat: Disziplin und Norm haben ihren

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Ort am und im Körper“ (Bublitz 2006, S. 342), anderseits „produziert er Gesellschaft“ (Gugutzer 2015, S. 8), denn die Körperlichkeit der sozial handelnden Individuen beeinflusst die Normsysteme der Gesellschaft, was auch als Indiz des zunehmenden Verfalls von linearen Werthierarchien interpretiert werden kann. So z. B. generieren in den letzten Jahren die medialen Altersdarstellungen vermehrt Stereotype (Wangler 2012), die den neoliberalen gesellschaftlichen Anforderungen (Best Ager) entsprechen. In diesem Kontext erscheinen einerseits die foto- und videografischen Selbstdarstellungen Jugendlicher oft als Reproduktionsfläche massenmedialer Körperlichkeit, die durch hegemoniale und geschlechtsstereotype Körperbilder charakterisiert wird (Schär 2013). Andererseits leisten die Jugendlichen mit ihren medialen Selbstdarstellungen einen erheblichen Beitrag zur performativen Veränderung der vorherrschenden Körperbilder, was auch als Zeichen der zunehmenden Subjektivierung in der Postmoderne betrachtet werden kann. Somit erscheint der Körper als Verbindungselement zwischen „dem (reflexiven) Selbst und der Welt“ (Rosa 2016, S. 145). Vor diesem Hintergrund ist es Ziel des vorliegenden Sammelbandes, die im Zuge einer sozial funktionalen Differenzierung entstandene konstitutive Beziehung zwischen Körper und Gesellschaft in einem kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontext exemplarisch zu untersuchen. In den Vordergrund des Interesses rücken neben der Frage nach der Art und Weise des Verständnisses des menschlichen Körpers als komplexes gesellschaftliches Phänomen auch die Erscheinungsformen und Artikulationslinien des postmodernen Körpers. Angesichts dieser Tatsache konzentriert sich die vorliegende Beitragssammlung auf eine beispielhafte Untersuchung des gesellschaftlichen Strukturwandels, in dem der postmoderne Körper als transkultureller und transmedialer Topos und als rekonstruierbare Instanz in den Betrachtungsfeldern Kunst, Lebensstil und Ästhetik behandelt wird. Außerdem werden normative, ethisch-philosophische, pädagogische, biologische, sportwissenschaftliche und kommunikationsspezifische Zusammenhänge, die Potenziale „einer postmodernen Neubewertung“ (Bauman 1991, S. 348) des Körpers ausnutzend, thematisiert. Ein weiterer Grund für die Auseinandersetzung mit diesen in den letzten Jahren in den Hintergrund geratenen theoretischen Diskursen stellt zweifelsohne die Ambivalenz postmoderner Positionen dar. Während die postmodernen ethischen Haltungen mit einem kompromisslosen Anti-Fundamentalismus in Verbindung stehen, kann im Gegensatz dazu „die weltweite Renaissance von Fundamentalismen diverser Couleur selbst wiederum als ein Symptom der postmodernen Zeit angesehen“ (Vester 1997, S. 129) werden. Dementsprechend will schließlich diese Beitragssammlung den Körper als multisemantischen Topos in (aktuellen) fragilen gesellschaftlichen Übergängen aufzeigen.

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2 Über diesen Band Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge entstanden anlässlich einer im Wintersemester 2016/2017 an der Universität Salzburg veranstalteten Ringvorlesung, wobei die Institutionen Uni 55-PLUS und der Interfakultärer Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaft/USI federführend hinsichtlich der inhaltlichen Konzeption und Organisation waren. Der erste Beitrag von Günter Amesberger setzt sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Wertsystemen und Lebensstilen der Postmoderne mit dem Umgang mit körperlich-emotionalen Wirkungen von Bewegung und Sport im Spannungsfeld Leistung und individueller Erfüllung auseinander. Dazu rücken einerseits Selbsterfahrungsprozesse, wie sie im Zuge körper-psychotherapeutischer Maßnahmen oder meditativer Zugänge und andererseits leistungssportliche Optimierungsprozesse in den Vordergrund. In Ihren Beitrag mit dem Titel „Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen“ gehen Elisabeth Ardelt-Gattinger, Nadine Steger und Susanne Ring-Dimitriou von der These aus, dass der äußeren Gestalt des Körpers als ein Kontinuum von dicken zu dünnen Menschen mit Unterstützung metrischer Verfahren gesellschaftlich etabliert wird. Adipositas und Essstörungen stellen pathogene Erscheinungen dar und führen im Rahmen interpersoneller Kommunikation als Symptomen der postmodernen Konstruktionen von Körperbilder zu Vorurteile und Stigmatisierungen. Die Autorinnen schlagen schließlich für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen vor, zum einen über die zahlreichen Varianten zwischen Perfektion und Unvollkommenheit zu diskutieren und zum anderen Optionen sowohl für ein selbstbewusstes und gewichtsunabhängiges Essverhalten als auch ein aus Spaß und Freude motiviertes Bewegungsverhalten offenzuhalten. Der anschließende Beitrag von Birgit Bütow und Clarissa Schär behandelt aus einer erziehungswissenschaftlichen Sicht die Art und Weise, wie Jugendliche sich mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen an die Gestaltung von Körper und Selbst auseinandersetzen. In ihrer Schlussfolgerung betonen die Autorinnen, dass Jugendliche mit ihren fotografischen Selbstdarstellungen in digitalen sozialen Netzwerken nicht nur hegemoniale, an medialen Vorbildern orientierte Körperbilder und Subjektformen reproduzieren, sondern diese auch verändern und überschreiben können. Minas Dimitriou untersucht in seinem Beitrag den (postmodernen) Körper sowohl als Objekt der Selbstoptimierung, als Fitnessdomäne und als Mittel zur Gesundheitserhaltung, Medium der Selbstdarstellung und -Inszenierung.

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Dabei rücken Körperkulturen, wie Fitness und Wellness sowie deren ästhetischer, gesundheitsorientierter und performativer Rahmen in den Vordergrund des Interesses. Die Analyse zeigt, dass während Fitness, Wellness und andere Körperstrategien einen erheblichen Beitrag zur Visualisierung von gesundheitsnormativen Idealen leisten, avanciert der Körper in der postmodernen und singularisierten Gesellschaft zu einer gestaltbaren Instanz und permanenten Kultivierungsfläche von Affekten und Sehnsüchten. Nicole Haitzinger beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Titel „Entblößungen: Postmoderne Tanzkörper in zeitgenössischer Perspektivierung“ mit der Modellierung von Körperlichkeit anhand von Anna Halprins Freilichtbühne „Dance Deck“ und der dort 1957 aufgeführten Performance The Branch und Simone Fortis performativer Skulptur Huddle (1961). Die Autorin weist in Ihrem Beitrag darauf hin, dass Entblößungen in der gegenwärtigen Perspektivierung von postmoderner Körperlichkeit in einem erweiternden Sinn verstanden werden können, nämlich als bloße Körper, die sich wiederholt anders konstruieren und für das Publikum Bedeutungsoffenheit generieren. Der biologische Körper im Alterungsprozess ist Gegenstand der Arbeit von Günter Lepperdinger. Ausgehend von der Tatsache, dass die Keimbahn nicht altert, geht der Autor der Frage nach den biologischen Besonderheiten, die es ermöglichen, die Vielzahl der körperlichen Alterungsprozesse zu umgehen. In seiner Schlussfolgerung betont Lepperdinger, dass wenn technische Entwicklungen auf verschiedenen Gebieten einsetzbar sind, um Alterungsmechanismen effizient einzuschränken, bislang unumkehrbare Schäden zu eliminieren und darüber hinaus Alterungsproblemen vorzubeugen und biologische Informationsinhalte zu verändern, sodass Reparatur, Resistenz und Resilienz zielgerichtet optimiert werden kann, scheint es in greifbarer Nähe, dass die Lebenserwartung des Menschen optimierbar oder auch die maximale Lebensspanne verlängerbar ist. Im Fokus des anschließenden Beitrages „Dekonstruktion und Rekombination – Der Künstlerkörper in den 1990er Jahren“ steht die Auseinandersetzung mit künstlerischen Positionen, welche die Verfasstheit des Menschen und diverse Vorstellungen von Körperbildern unter dem zentralen Aspekt von Selbstinszenierung und Selbstbefragung erörtern. Diese von Ulrike Reinert vorgelegte Arbeit beschäftigt sich konkret mit dem Werk von Künstlerinnen und Künstler wie Orlan, Sherman, Ray oder auch Stelarc, deren künstlerische Arbeit sich als Teil einer postmodernen Suchbewegung hinsichtlich Fragestellungen zur eigenen Standortbestimmung wie auch zur geschlechtlichen Identität erweist. Hans-Joachim Sander behandelt in seinem Beitrag „Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke im postmodernen Körper“ den Wandel der

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Sexualität von persönlichen zur öffentlichen Ressource. Der Autor unterstützt daher die These, dass Sexualität uns nicht von innen, sondern von außen erreicht. Infolgedessen ist auch der Körper unsere primäre Performance in der Öffentlichkeit. Der Grund für diese Entwicklung ist nach Sander eine Art der Relativierung, die vor allem in zwei Zeichen der Zeit ersichtlich wird: der Geständniszwang von Sexualität für den privaten Gebrauch und den Orgasmuszwang für ihren gesellschaftlichen Gebrauch. Im Rahmen einer kulturhistorischen Analyse untersucht der Autor Orgasmus- und Geständniszwang als christliche Erbstücke und zeigt, dass Sexualität in der postmodernen Gegenwart nicht zur Selbstbestätigung, sondern nur zur Analyse von Disziplinarmechanismen taugt. Kurt Schmoller analysiert in seinem Beitrag die (straf-)rechtlichen Grenzen im Umgang mit dem menschlichen Körper anhand aktueller Bereiche, wie z. B. Rettungsfolter, Zwangssterilisation, Knabenbeschneidung, Sterbehilfe, Organtransplantation, sexuelle Belästigung, Pornografie, Bildnis- und Datenschutz. Der Autor stellt fest, dass dem Schutz des menschlichen Körpers in der Rechtsordnung eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird, gleichzeitig aber auch der autonomen Entscheidung über den eigenen Körper eine höhere Bedeutung zukommt als früher. Martina Thiele und Helena Atteneder befassen sich in ihrem Beitrag mit Visualisierungen der sogenannten Best Ager sowohl in Anzeigen, die in Printmedien geschaltet werden, als auch in Pressefotos, die redaktionelle Beiträge zum Thema Alter illustrieren. In dieser kommunikationswissenschaftlichen Arbeit wurden verschiedenen Bildtypen und thematische Zusammenhänge identifiziert, auf die häufig in Journalismus und Werbung zurückgegriffen wird, wenn es um die Repräsentation und gezielte Ansprache Junger Alter bzw. euphemistisch Best Ager genannten 55–70-Jährigen geht. Die Autorinnen konzentrieren sich dabei auf das Aufkommen der Sozialfigur der Jungen Alten, über die Arbeit am Körper und das Schönheitshandeln in der Postmoderne. Gesundheit, Lebensstil und Subjektives Wohlbefinden aus ökonomischer Perspektive lautet die Überschrift des Beitrages von Hannes Winner, der den Band mit einer kritischen Literaturanalyse zum ökonomischen Zusammenhang des erwähnten Beziehungsgeflechtes abschließt. Dabei setzt sich der Autor einerseits mit zentralen Fragestellungen aus der Gesundheitsökonomik auseinander und anderseits befasst er sich mit den empirischen Problemen hinsichtlich der kausalen Interpretation des Zusammenhangs zwischen Lebensstil, Gesundheit und subjektivem Wohlbefinden.

Zur Einführung: Der postmoderne Körper als ambivalenter Topos

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Körper als Domäne impliziten und emotionalen Ausdrucks sportlichen Handelns Günter Amesberger

Zusammenfassung

Die Wechselwirkungen psychischer und körperlicher Phänomene treten im Bewegen besonders deutlich hervor. Bereits Merleau-Ponty (Phenomenology of perception, Routledge, London, 1945) betont in seinem anthropologischen Konzept der Leiblichkeit u. a. die Bedeutung des Leibes als Mittler zur Welt, ein Gedanke der von Grupe (Bewegung, Spiel und Leistung im Sport: Grundthemen der Sportanthropologie, Hofmann, Schorndorf, 1982) in der anthropologischen Sportpädagogik fortgeführt wurde. Hingegen wird in sportpsychologischen Kontexten zumeist kognitiven Aspekten in der Handlungsregulation zentrale Bedeutung beigemessen. Leiberleben und Emotionen werden eher als Nebenfaktoren betrachtet, manchmal sogar eher als störend (Vorstartangst, „choking under pressure“, …) eingestuft oder im Sinne der „individual zone of optimal functioning“ (Hanin, Handbook of Sport Psychology 3:22–41, 2007) funktional für die Leistungsoptimierung eingesetzt. In diesem Beitrag wird der These nachgegangen, dass die geringe Aufmerksamkeit auf das (phänomenologische) Wesen des körperlich-emotionalen Ausdrucks als Widerspiegelung des aktuellen in der Welt seins die differenzierten interaktionalen Phänomene etwa zwischen Sportler/innen und Trainer/innen und deren Wirkung in den Hintergrund treten lässt. Es wird diskutiert, wie emotionale und implizite Prozesse das Körpererleben und Handeln regulieren und wie damit in unterschiedlichen Kontexten umgegangen wird. Dazu werden einerseits Selbsterfahrungsprozesse, wie sie im Rahmen körper-psychotherapeutischer

G. Amesberger (*)  Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_2

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Maßnahmen oder meditativer Zugänge im Vordergrund stehen und andererseits leistungssportliche Optimierungsprozesse thematisiert. So greift der Beitrag einen Aspekt der Postmoderne auf, der neben einer massiven Zuwendung zum Körper auch von vielen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt ist, etwa zwischen Individualisierung und (medialer) Inszenierung von Körperlichkeit. Schlüsselwörter

Sportpsychologische Beratung · Körperwahrnehmung · Leiberleben ·  Interventionen · Emotionsregulation · Tiefenstrukturen von Emotionen

1 Leib und Bewegung im sportlichen und therapeutischen Kontext 1.1 Betrachtungsweisen des Körpers, des Leibes Der Blick auf den Körper in der Psychologie und Psychotherapie fällt sehr vielperspektivisch aus. Arbeitet man die Extreme heraus, so stehen auf der einen Seite Aspekte der kognitiven/gedanklichen „Analyse“ des Körpers, die sich in körperbezogenen Einstellungen wiederfinden. Als Beispiel hierfür können Fragen zum Körperkonzept genannt werden: „Ich bin mit meinem Körper ganz zufrieden.“; „Ich würde gerne einige Teile meines Körpers austauschen.“; „Mein Körper ist anfällig für alle möglichen Krankheiten.“ Dimensionen körperbezogener Einstellungen sind beispielsweise „Selbstakzeptanz des Körpers“, „Zufriedenheit mit dem Aussehen“, „körperliche Effizienz“ etc. (Brähler et al. 2000; ­Deusinger 1998; Mrazek 1983). Auf der anderen Seite wird Körper als existenzielles Phänomen thematisiert. Aus dieser Perspektive wird Leib als beseelter Körper, als das, was eine Person ausmacht, in all ihren Erlebnisformen von Gesundheit, Beweglichkeit, Schmerz, Lust, Sehnsucht, … gesehen. Körper ist dann existenzielle Zurückgeworfenheit und Voraussetzungshaftigkeit allen Seins (Reichel und ­Petzold 2011). Petzold (2012) verortet die Leiblichkeit in den fünf Säulen der Identität: • Leib/Leiblichkeit: Integrität, Sinne, Genussfähigkeit, Selbstliebe, Sexualität, • soziales Netzwerk, soziale Bezüge: Familie, Soziale Beziehungen, Freundschaften • Arbeit und Leistung: Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen, Selbstbestimmung, Autonomie

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• materielle Sicherheit: Mitwelt Absicherung, Arbeitsplatz, Wohnung, finanzielle Sicherheit • Werte: Sinn des Lebens, Moral, Bildung, Spiritualität … In diesem anthropologisch grundgelegten Konzept wird der Mensch, Mann und Frau, als ein Körper-Seele-Geist Subjekt in einem sozialen und ökologischen Umfeld und Zeitkontinuum betrachtet (Petzold 2003) und von einem materialistischen Monismus ausgegangen: allen Gedanken, Ideen, Gefühlen, Willensakten liegen zerebrale Prozesse mit ihrer materiellen Basis zugrunde, die als biologisches (biochemisches, bioelektrisches) Geschehen zu begreifen sind. Das biologische Geschehen bildet die Grundlage für die Konstruktion von Wirklichkeit. Dabei ist die grundlegende erkenntnistheoretische Differenz zwischen neurophysiologischen Prozessen und Bewusstsein, in unserem Fall Leibbewusstsein, zu betonen (Tretter und Grünhut 2010). Aus bioenergetischer Sicht wird von einer funktionalen Identität von Psyche und Körper gesprochen. Der Organismus wird als psychophysische Einheit betrachtet, der dem energetischen Prinzip der Aufladung und Entladung unterliegt. Bei psychischem Stress wird dieser Rhythmus blockiert, was zu entsprechenden Symptomen führt. Der Körper fungiert als biografisches Gedächtnis und trägt wesentlich zur Ausformung der Charakterstrukturen bei, die entsprechend körperlich sichtbar und diagnostizierbar sind. Diese finden ihr Äquivalent in (nicht erfüllten) Bedürfnissen, Emotionen und kognitiven Mustern (Lowen 2011). Umfassende Einblicke in unterschiedliche Körperpsychotherapiekonzepte liefern beispielsweise Marlock und Weiss (2006) oder das Journal „Body, Movement and Dance in Psychotherapy, An International Journal for Theory, Research and Practice.“

1.2 Implizit versus Explizit Im Kontext Körper, Leiblichkeit und Bewegung haben wir es immer mit expliziten und impliziten Phänomenen und deren Wechselwirkung zu tun: Unter implizit (nonverbal, handlungsbezogen) verstehen wir kaum – falls überhaupt – verbalisierbare (nicht deklarative), von Sprache relativ unabhängige, nicht bewusste und mit nicht bewussten Absichten verbundene Aspekte des Handelns. Implizite (Re)Aktionsmuster sind bereits vorsprachlich entwickelt und liefern situativ sehr schnelle, „unmittelbare“ Antworten (verankert in der Amygdala). Explizite Vorgänge (verbal, auf innere Vorgänge bezogenes Denken und Vorstellen) sind hingegen verbalisierbar (deklarativ), von der Sprache abhängig,

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bewusst, mit bewussten Absichten verbunden, langsam, und ab dem zweiten Lebensjahr verfügbar (zentral im Hippocampus verortet) (Geißler und Sassenfeld 2013). Im Folgenden werden zunächst in einer „schwarz-weiß-Technik“ Leistungssport und Körperarbeit zur Selbsterfahrung und Therapie einander gegenüber gestellt.

1.3 Körperwahrnehmung Vergleicht man den Zugang zu Körperwahrnehmung zwischen Leistungssport und Körpertherapie so werden folgende Aspekte deutlich: In der Körpertherapie wird die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper, das Körpererleben die damit verbundenen Erfahrungen und Emotionen gerichtet. Der Wert liegt darin, sich seines Leiberlebens gewahr zu werden, die Innenwelt zu aktivieren und das Erleben in der Sphäre des Spürens zu halten. Denken und Bewerten werden hintangestellt. „Leib sein“ wird aktualisiert (Geißler und Heisterkamp 2013). Im Leistungssport „passiert“ Körperwahrnehmung quasi als „Nebeneffekt“ (implizit) der sportlichen Tätigkeit. Dennoch ist diese hoch bedeutsam. Zum einen kennt der Sportler/die Sportlerin seinen/ihren Körper sehr genau. Dies bezieht sich aber vor allem auf sein Leistungspotenzial, seine Frische oder Ermüdung. Es zeigt sich auch, dass das Richten der Aufmerksamkeit auf den Körper – im Sinne internaler Aufmerksamkeit – in der Erbringung sportlicher Leistungen in der Regel leistungshemmend, die externale Aufmerksamkeit z. B. im Sinne der Bewältigung der Aufgabe oder Ablenkung leistungsförderlich ist (Ehrlenspiel und Maurer 2007). Der Körper rückt allenfalls dann in den Blick, wenn etwas nicht passt, Schmerzen auftreten oder Anforderungen nicht erfüllt werden. Der Aspekt des „Körper Habens“ und damit ein funktionales Körperverständnis rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Spannend ist allerdings, dass implizit die Entwicklung des Leib-seins durchaus auch stattfinden kann (siehe dazu das Unterkapitel Zwischenfazit und die Überschreitung des Trivialen).

1.4 Übungszentrierter Umgang mit dem Körper Sowohl in der Körpertherapie als auch im Sport kommt dem Üben, dem wiederholen gleicher Abläufe hohe Bedeutung zu. Dennoch werden grundlegend verschiedene Ziele verfolgt.

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In der Körpertherapie sind individuell optimaler Atemfluss, Rhythmisieren von Spannung und Entspannung sowie die ritualisierte Bewegung zur Intensivierung der Selbstaufmerksamkeit charakteristisch. Üben findet ihren Zweck in sich und entwickelt die körperbezogene Selbstwahrnehmung. Dazu werden Bewegungen wie etwa die bioenergetischen Grundübungen (Dietrich und Pechtl 1990), die „fünf Tibeter“ (Kelder 1992), Yoga Übungen (Patel et al. 2012) oder Achtsamkeitsübungen (Heidenreich und Michalak 2003) genutzt, die sehr regelmäßig, häufig täglich, geübt werden. Dies verbessert die Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit und Leiblichkeit im Sinne einer Präsenz im „Hier und Jetzt“. Letztlich dient das Üben auch dazu, das andere im gleichen zu erleben, die Bedeutsamkeit auch kleiner Unterschiede zu erkennen und zu nutzen. Das oft im Alltag implizite Körpererleben wird explizit und für die Regulation des Eigenzustandes nutzbar. „Bioenergetische „Übungen“ verstehe ich nicht als Anleitungen zur richtigen Haltung, Atmung oder Bewegung, sondern als Anhaltspunkte für das Seelische, als basale Anregungsbedingungen dafür, dass sich die Wirklichkeit des Patienten herausbilden und dass sie prozedural verstanden und operativ bearbeitet werden kann“ (Heisterkamp 2008, S. 11).

Im Sport dient das Üben zur technisch korrekten und leistungsoptimierenden Ausführung von Bewegungen. Die Wiederholung führt zur sogenannten Automatisierung der Bewegung, zur Entlastung auf kognitiver Ebene und damit zur Steigerung der Leistung. Die Bewegung soll wie von selbst ablaufen. Neben dem körperlichen Üben spielt auch mentales „Üben“, psychologisches Training (Beckmann-Waldenmaier und Beckmann 2012) eine zentrale Rolle. Hier werden (Beckmann und Elbe 2008) zwei wesentliche Zugänge unterschieden. Ersterer ist ein kognitiv akzentuierter Zugang (Eberspächer 2012), der die Bewegungsvorstellung in mehreren Schritten aufbaut (Detaillierte Beschreibung der Bewegung, Knotenpunkte, Symbolische Markierung und Rhythmisierung, Mentales Training der symbolisch markierten und rhythmisierten Knotenpunkte). Der zweite Zugang fokussiert im Sinne eines ganzheitlichen Vorstellungs- und Imaginationstrainings alle Sinne, um einen intensiven Bewegungseindruck zu erleben, ohne die Bewegung aktiv auszuführen. Dazu ist es wichtig, dass sich die Sportler/innen in der Vorstellung emotional-körperlich möglichst intensiv in die jeweilige Handlungssituation hineinversetzen, um ein „ganzheitliches“ Erleben dieser Situation zu ermöglichen.

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1.5 Erlebniszentriert stimulierende Körperarbeit Körpertherapie: Durch multiple Wahrnehmung und komplexen Ausdruck wird die Welt als Erlebnisraum erschlossen. Die Integrative Bewegungs- und Leibtherapie spricht von ökopsychosomatischen Erfahrungen z. B. „Green Exercises“. Der Körper wird damit als „zu mir gehörig“ erfahren, wird zum Leib, der ich bin (Merleau-Ponty 1945). Der Andere wird als „consors“, als Mitmensch und Zugehöriger erlebt. So entstehen einerseits Weltzugewandtheit und andererseits Zentriertheit. Die „gute Gestalt“ im Sinn von Ausgewogenheit und Prägnanz einer Person, Erlebnisreichtum und konviviale Bezogenheit auf den Anderen sind Ziel dieser Modalität (Reichel und Petzold 2011). Im Leistungssport stellen die leistungsthematischen Situationen in Training und Wettkampf die Herausforderungen und Erlebnisinhalte dar. Leistungen (individuell/absolut) und Ergebnisse (sozialer Vergleich) und deren Selbst- und Fremdbewertung moderieren das Erleben und hinterlassen entsprechende „Körperspuren“. Nach außen wird häufig von mangelndem bzw. hohem Selbstvertrauen gesprochen, wenn Sportler/innen gerade eine Serie von „Niederlagen“ bzw. „Erfolgen“ einbringen. Dies äußert sich in entsprechenden oft impliziten Körpergefühlen der Anspannung, Lockerheit und Reagibilität.

1.6 Konfliktzentriert-aufdeckend Die Körpertherapie thematisiert traumatische Erfahrungen, Störungen, Konflikte als Ausdruck des Leibes, in sichtbaren und spürbaren Verspannungen und Haltungen, Bewegungs- und Verhaltensmustern sowie psychosomatischen Reaktionen. Der Kontakt zu den Gefühlen und biografischen Atmosphären und Szenen erfolgt über die Wahrnehmung des Leibes. Die Bearbeitung kann narrativ oder durch körperlich konfrontative Methoden erfolgen. Die Aufarbeitung der in den Leib verdrängten Ereignisse erfolgt über den leiblichen Ausdruck (Szenen, thematisch konfrontativ-verstärkende Haltungen und Bewegungen) und das kognitive Durcharbeiten über verbale und aktionale Deutungen (Geißler und Heisterkamp 2013). Im Leistungssport konfrontieren Misserfolge, körperliche Grenzen und Verletzungen/Schäden den Sportler/die Sportlerin mit der Nichterreichung gesetzter Ziele und stark sozial imprägnierten Erwartungen. Die existenzielle leibliche Betroffenheit wird oft nur indirekt zum Thema, z. B. in der Frage: kann ich weiterhin Leistungssport betreiben? Oder wie ein Formel 1 Pilot anlässlich eines Bremsversagens bei 200 km/h verdeutlichte: Innerhalb von 10tel Sekunden dachte er, er sei gleich tot und dann, er müsse die Hände vom Lenkrad nehmen, ums sie sich nicht zu brechen, sonst könnte er beim nächsten Rennen nicht starten.

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1.7 Zwischenfazit und die Überschreitung des Trivialen Sport stößt ähnliche Dimensionen an wie Selbsterfahrung und Therapie – allerdings vor dem Hintergrund völlig anderer Zielperspektiven. So thematisiert man beispielsweise in der Körpertherapie: • • • • •

Wie ist das körperliche Erleben der Person? Was ist der Person in ihrer körperlichen Existenz wichtig? Wie werden körperlich Stress oder Angst spürbar? Wie sieht die Entstehungsgeschichte des Verhaltens und Erlebens aus? Was sind vor diesem Hintergrund Ziele der Veränderung, was ist das leibliche Bedürfnis?

In der sportpsychologischen Beratung werden folgende Fragen aufgeworfen: • Wie können Bewegungsausführungen optimiert werden? • Wie können dafür die kognitiven, emotionalen und körperlichen Voraussetzungen geschaffen werden? • Wie bleiben Leistungen unter Stress oder Angst stabil? • Wie beeinflussen Emotionen das Handeln? Diese durch innere und äußere Tätigkeitsstrukturen (Feld Leistungssport – Feld Selbsterfahrung/Therapie) induzierten Aufmerksamkeitsrichtungen können natürlich jederzeit aufgebrochen und in die andere Sphäre transformiert werden. Der trivialen, oben dargestellten Schwarz-Weiß-Welt von Psychotherapie und Sportpsychologie, von Körper- und Leiberleben als Ziel oder Folge sportlicher Aktivität steht natürlich eine viel komplexere Wirklichkeit/Phänomenologie gegenüber. Bereits Stelter (1996) konnte zeigen, dass das Körpererleben im Sport sehr unterschiedlich ist. Training kann völlig abgegrenzt/abgespalten vom Körpererleben sein – „… es ist wie Zähneputzen …“ sagt eine Sportlerin. Ein anderer Sportler berichtet davon, dass es wie das Schweben auf einer Wolke sei, wenn er so richtig in der Bewegung aufgehe. Zudem ist der Umgang mit dem Körper von Leistungssportlern auch vordergründig sehr widersprüchlich. So sagt beispielsweise ein Abfahrtsläufer: „Also mir ist der Körper schon total wichtig, er ist ja praktisch mein Kapital, wenn ich auf den nicht achte, … das wär’ ja verrückt. … Ich glaube auch, dass wir Sportler viel besser mit unserem Körper umgehen können, weil wir ständig damit konfrontiert sind ….“ Später im Interview angesprochen auf den Umgang mit Verletzungen meint derselbe Sportler „… ja manchmal, da

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darfst du nicht an deinen Körper denken, da musst du einfach durch und es ist einfach wichtig, so schnell wie möglich wieder dabei zu sein, sonst bist du weg vom Fenster.“ Dies verdeutlicht zum einen die Zerrissenheit in der sich der Sportler befindet: Der Körper ist sein Kapital ganz im Sinne des „Körper Habens“ (Plessner 1970). In der ständigen Konfrontation mit dem Körper wird das Leiberleben und das Leib sein vertieft, vieles davon auf impliziter Ebene. Letztlich ist der Sportler auch in der Lage, Gefühle und Leiberleben abzuspalten/zu dissoziieren, indem man „… nicht an den Körper denken …“ darf. Wie sehr dieses „Ausschalten“ des Leiberlebens kognitiv gesteuert ist, bzw. implizit quasi automatisch in entsprechend extremen Situationen abläuft, ist nach meiner Erfahrung in der Beratung von Leistungssportler/inne/n sehr verschieden und von Persönlichkeitsmerkmalen und der Bereitschaft, sich auf diese Erfahrungen einzulassen abhängig.

2 Zum Einfluss der Emotion im Kontext Bewegung und Körper Nitsch (1986) verweist in seiner handlungstheoretischen Betrachtung auf drei Ebenen der Handlungsregulation: die automatische, die emotionale und die kognitive. Unter phylogenetischer Perspektive sind die automatischen Regulationsmechanismen die ältesten. Sie umfassen insbesondere reflektorische und homöostatische Mechanismen. Kennzeichnend für dieses System ist, dass es nur auf bestimmte Reize anspricht, die zu vorprogrammierten Reaktionen führen. Das phylogenetisch jüngere emotionale Regulationssystem sieht er „als auf die individuelle Gesamtsituation bezogen“. Es beruht auf erworbenen Motiven und Befriedigungserfahrungen, die die Basis von „Bedeutungserlebnissen“ bilden (Nitsch 1986, S. 225). Daraus entstehen erfahrungsbezogene (implizite) Verknüpfungen von Bedeutungszuschreibungen, körperlichen Reaktionen und Verhaltensmustern. Sportliches Handeln vor diesem Hintergrund wird nicht „unmittelbar von Reizen, sondern mittelbar über und von Emotionen ausgelöst.“ (Nitsch 1986, S. 225). Das kognitive Regulationssystem wird als das phylogenetisch und ontogenetisch jüngste beschrieben und erweitert die menschlichen Handlungsmöglichkeiten nochmals erheblich. Es führt dazu, dass Menschen über abstrakte, sprachlich kodierte Modelle vergangene Erfahrungen, aktuelle Bewertungen und vorweggenommene, zukünftige Ereignisse in ihre Handlungsintentionen integrieren (Nitsch 1986, S. 226).

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Die evolutionäre Betrachtung ist auch hilfreich im Verständnis der leiblich-implizit treibenden Kraft der Emotion im scheinbar kognitiv gesteuerten Handeln. Diese phylogenetische Perspektive wird auch durch die neurobiologischen Erkenntnisse zu vergleichbaren Grundlagen der Emotion bei Tieren und Menschen vertieft (Panksepp und Biven 2012). Obwohl augenscheinlich ist, dass Emotionalität eng mit Körperlichkeit/Leiblichkeit und Handeln verknüpft ist, wird häufig eine mangelnde theoretische Durchdringung dieser Beziehung moniert (Downing 2003; Geuter und Schrauth 2006). Emotionen spiegeln sich implizit in Gestik und Mimik, sie regulieren Verhalten und soziale Beziehungen (Geißler und Sassenfeld 2013), werden aber auch durch Handlungen ausgelöst. Während die phänomenologische Ebene körperlich-emotionalen Erlebens insgesamt weniger beleuchtet wird, steigt das Wissen über die neuralen Bedingungen der Emotionalität (Celeghin et al. 2017; Roth und Ryba 2016). Vor dem Hintergrund der bisher angesprochenen Aspekte gehe ich von folgenden Annahmen aus: 1. Emotionen werden sehr früh vorsprachlich und damit in den Reaktionsmustern auch implizit grundgelegt. Auch wenn diese in der weiteren Sozialisation überformt werden, ist zu erwarten, dass sie insbesondere in Stresssituationen wirksam sind. → Körperliche Wirkungen 2. Diese körperlich-emotionalen Muster werden – insbesondere wenn dadurch Leidensdruck entsteht – von manchen Personen zum Anlass genommen, sich damit auseinanderzusetzen (Selbsterfahrung, Therapie). → kognitive Wirkungen 3. Betreiben Personen Leistungssport, werden diese Muster insbesondere in Wettkampf- und Stresssituationen wirksam. Diese werden aber nicht im engeren Sinn bearbeitet. Vielmehr wird versucht, deren Einfluss auf die sportliche Leistung zu minimieren. → Handlungsregulative Wirkungen Die Facetten der im Sport thematisierten Emotionen sind recht unterschiedlich. Vor dem Hintergrund der Relation Körper, Emotion und Handeln möchte ich drei wesentliche theoretische Positionen herausgreifen, um dann eine gewisse Integration der Ansätze zu versuchen. • Stress und Angst mit dem Focus „choking“ oder „cluch under pressure“ (Baumeister 1984; Weinberg und Gould 2011) • Flow (Csikszentmihalyi 1985) • „Individual zone of optimal functioning“ (Hanin 2000) • Der Versuch einer Integration auf einer Oberflächen- und Tiefenstrukturebene der Emotionsregulation anhand eines Fallbeispiels.

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2.1 Stress und Angst mit dem Focus „choking“ oder „clutch under pressure“ Die Themen Stress und Angst spielen in der Sportpsychologie eine tragende Rolle, vor allem in der englischsprachigen Literatur (Weinberg und Gould 2011). In Fortführung dieser Forschungsrichtung ist die Thematik „choking and clutch under pressure“ von zentralem Interesse geworden. „Choking“ beschreibt dabei das Phänomen des Leistungsabfalls, „clutch“ hingegen der Leistungssteigerung in Drucksituationen. Damit eng verknüpft ist der Begriff der „Emotionsregulation“. Damit werden Emotionen nicht wie in der Psychotherapie als existenzielle Lebensäußerung im Sinne ihrer Bedeutung für das Sein der Person betrachtet. Vielmehr wird die funktionelle Bedeutung der Emotion für die Leistungserbringung in den Mittelpunkt gerückt. Verkürzt gesagt versucht man, im Sinne der Leistungserbringung dysfunktionale Emotionen zu reduzieren und funktionale zu optimieren. Stanley et al. (2012, S. 159) stellen fest, dass in der Vorbereitung auf einen Wettlauf folgende Strategien angewendet werden: „Content analysis of responses identified 28 categories of emotion regulation strategy, with the most popular being goal setting (23 %), distraction (12 %), recall of past performance accomplishments (12 %), and anticipated pleasant emotions after running (10 %).“ Eine Untersuchung von Balk et al. (2013) zeigt, dass Ablenkung (distraction) die Leistung unter Druck verbessert. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Hill et al. (2013). Neben den Bewältigungsstrategien scheinen auch Persönlichkeitsmerkmale clutch und choking zu beeinflussen. Unter einem state-spezifischen Ansatz konnten Geukes et al. (2013) zeigen, dass es die situativen Bedingungen der Leistungserbringung sind, die Persönlichkeitsmerkmale wirksam machen. Eine hohe Ausprägung der Persönlichkeitsdisposition Selbstaufmerksamkeit beeinflusst die Leistung unter jener Bedingung negativ, in der die Versuchspersonen meinen, die zu erbringende Leistung sei ein wesentlicher Hinweis auf ihr Talent – umgekehrt formuliert: wenn sie befürchten, dass eine niedrige Leistung sie im Selbstbild ihrer Fähigkeiten gefährdet. Auf der anderen Seite bringen Personen, die von ihrer Persönlichkeit her stark auf Selbstpräsentation ausgerichtet sind, die sich also öffentlich durch ihre Leistungen präsentieren und in ein gutes Licht rücken wollen, tatsächlich in entsprechenden öffentlichen Drucksituationen bessere Leistungen als in druckfreien Situationen. Insbesondere bei komplexeren Aufgaben reduziert vermutlich Selbstaufmerksamkeit die prozedurale Kapazität (Beilock und Carr 2001).

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Diese Ergebnisse können als Hinweis für implizite Wirkung körperlich-emotionaler Bedeutungsmuster auf die Handlungsregulation interpretiert werden. Es ist daher auch nicht überraschend, dass eine niederschwellige Intervention, die auf der Handlungsregulationsebene und nicht auf der Tiefenstruktur der Emotionen ansetzt, am besten über Ablenkung (distraction) funktioniert. Es ist sogar zu erwarten, dass ein Lenken der Aufmerksamkeit auf das Körpererleben und die Emotionalität zunächst eine Verstärkung der („negativen“) Emotionalität erzielen würde.

2.2 „Flow“ als abiografischer Zustand des (Körper-) Erlebens im Hier und Jetzt Das Flow-Konzept (Csikszentmihalyi 1985) hat in der angewandten Sportpsychologie hohe Popularität erreicht. Es beschreibt einen emotionalen Zustand im Tun, der zu charakteristischen Phänomenen führt: Das reflexionsfreie gänzliche Aufgehen in einer glatt laufenden Tätigkeit, die man trotz hoher Anforderungen unter Kontrolle hat. Es kommt zur Verschmelzung von Handeln und Bewusstsein sowie einer Form von Konzentration die durch die Tätigkeit selbst generiert wird und keiner willentlichen Beanspruchung bedarf. Flow entwickelt sich insbesondere bei einer Passung zwischen Anforderung und Fähigkeiten. Es führt zu einem „loss of ego“; in dem keine Selbstreflexion und Selbstbewertung stattfindet und die Handlung auch völlig unabhängig von sozialen Verstärkern abläuft. Auf der motivationalen Ebene wird daher von stark intrinsisch getragener Tätigkeit ausgegangen. Das subjektive Zeitgefühl verändert sich. Manchmal werden auch körperliche Bedürfnisse wie Hunger oder Müdigkeit einfach nicht wahrgenommen. Flow wird auch mit dem Gefühl des Glückes assoziiert. Für unseren Kontext von Interesse ist, dass „Flow“ als eine Art „abiographisches“ Erleben beschrieben werden kann. Praktisch unabhängig von den jeweiligen Biografien von Personen, wird Flow-Erleben von jenen, die diesen Zustand erreichen können, nahezu ident beschrieben – nämlich so, als würde sich Vergangenes und Zukünftiges von einem lösen und man ist nur noch in der Tätigkeit, im aktuellen, zugleich zeitlosen Hier und Jetzt. In diesem Sinne ist „Flow“ auch eine besondere, ausgeprägte Form des Leib-seins. Man könnte nun vermuten, dass damit die „alten“ leiblichen Stressmuster „abfallen“ und Personen so in einem sehr autotelisch fokussierten Zustand kommen. Tholey (1984) sprach in diesem Kontext vom psychischen Gesamtfeld. Diese Idee integriert den Wahrnehmungsraum der Bewegungshandlung in die Leiblichkeit zu einer Handlungseinheit.

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Die praktische Beratungserfahrung zeigt, dass Flow-Erleben im Sport nicht in der oben beschriebenen idealtypischen Form auftritt, sondern sehr komplex in unterschiedlichste Kontrollmechanismen eingebunden ist. Diese laufen auf sehr niederschwelliger Bewusstheitsebene mit oder sind manchmal auch nur implizit wirksam. Ein Ruderer beschreibt beispielsweise wie er bei einem Schlusssprint in den Flow-Zustand kommt: Wenn der Gegner attackiere und er kontere, da tauche er ein in dieses Flow-Gefühl, das Boot scheine zu fliegen. Schlimm sei es aber, wenn er bemerke, dass der Gegner wieder zurückkontert und schneller ist, sofort spüre er den schmerzenden Körper und nur mit letzter Anstrengung und volitiver Disziplin könne er weiter kämpfen. Dieses Beispiel zeigt sehr klar, dass das Erleben immer noch stark an die Settingbedingungen des Wettkampfes und damit sozial eingebunden ist. Im Sport wurde diesem Zustand auch unterstellt, für maximale Leistungen verantwortlich zu sein (Csikszentmihalyi und Jackson 2000). Empirische Befunde deuten eher an, dass dies nicht oder nur bedingt der Fall ist. Letzteres ist auch von der Konzeption her nachvollziehbar, da es sich ja um ein Passungskonzept zwischen Anforderung und eigener Kompetenz handelt. Der noch sehr offene Forschungsstand kann der Arbeit von Koehn et al. (2014) entnommen werden, die zeigt, dass „Flow“ grundsätzlich trainiert werden kann, der Einfluss auf die Leistung aber sehr unterschiedlich ist und beides interindividuell stark variiert.

2.3 „Individual zone of optimal functioning“ Im Unterschied zu der oft trivial gesetzten Annahme im Sport, dass positive Emotionen günstig und negative ungünstig für die Leistung sind, geht Hanin (2000) von der Bedeutung der individuellen Erfahrungen aus, die mit emotionalen Zuständen gemacht wurden. Hier könnte vermutet werden, dass frühe leiblich-emotionale Erfahrungen im oben besprochenen Sinn eine bedeutende Rolle spielen. Er unterscheidet positive und negative, sowie in Bezug auf die Leistung funktionale und dysfunktionale Emotionen. Vor diesem Hintergrund hat er das Konzept der „individual zone of optimal functioning“ (IZOF) entwickelt. Den idealen Leistungszustand ermittelt er durch Emotionslisten vor Wettkämpfen mit anschließender Betrachtung der Leistung. Dann werden die Emotionsprofile des Vorstartzustandes der guten Wettkämpfe von denen der schlechten unterschieden. Eine Metaanalyse (Jokela und Hanin 1999) belegt, dass AthletInnen im Rahmen ihres optimalen emotionalen Leistungszustandes tatsächlich bessere Leistungen erbringen. Zudem kann die Wettkampfleistung mithilfe des IZOF-Profils sehr gut prognostiziert werden (Kamata et al. 2002). Dass ein ­ emotionaler

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­orstartzustand jedoch nicht nur „gut“ oder „schlecht“ im Sinne der nachV folgenden sportlichen Leistung sein kann, sondern mit dem sportlichen Handeln tiefgründiger in Beziehung steht, zeigen Ansätze, die das IZOF-Modell unter dem Aspekt der Sportverletzungen untersuchten. Diese liefern Hinweise, dass ein positiv-funktionaler emotionaler Vorstartzustand nicht unbedingt eine gute Wettkampfleistung nach sich ziehen muss, sondern auch die Verletzungswahrscheinlichkeit erhöht (Würth und Hanin 2005). Dies könnte wiederum so gedeutet werden, dass die Körperaufmerksamkeit durch ein rein funktionales Emotionstraining wenig sensibilisiert wird.

2.4 Oberflächen und Tiefenstrukturen im Umgang mit Emotionen Allgemein wird angenommen, dass in komplexen Sportarten eine gute Leistung und damit eine umfassende Regulation davon abhängig sind, dass Sportler/ innen sich optimal auf die Tätigkeit ausrichten können, da hohe Informationsverarbeitungskapazität verlangt wird. Im Folgenden werden anhand eines Fallbeispiels Überlegungen angestellt, wie Emotionsregulation auf mehreren expliziten und impliziten Ebenen stattfindet und letztlich auch mit einer entsprechenden Beziehungsdynamik gekoppelt ist (Amesberger 2014). Ein Sportler, der schon längere Zeit sportpsychologische Beratung in Anspruch nimmt, hat neben vielfältigen Gesprächen zu verschiedensten Themen der Leistungsentwicklung auch im Rahmen sportartspezifischer Feedbacktrainings gelernt, sich grundsätzlich gut zu regulieren. Ein latentes Thema ist ein Angstgegner. Von Außenstehenden, insbesondere dem Trainer wird vermutet, dass seine Leistung bei Anwesenheit eines bestimmten Gegners im Wettkampf deutlich einbricht. Er selbst hält dies für eine Fehleinschätzung durch den Trainer. In einer Biofeedbacksitzung wird im Rahmen einer durch den Berater angeleiteten Imagination eines Wettkampfes der Gegner ins Spiel gebracht („… von links kommt ‚X‘ …“). Der Sportler atmet – wie zuvor – ganz ruhig und regelmäßig. Er hat gelernt, seine Atmung zu regulieren, um mit belastenden Situationen umzugehen. Der Hautleitwert steigt überaus bedeutsam – weitaus stärker als bei kognitiven Beanspruchungen – an. Der Anstieg in diesem Ausmaß ist für den Sportler untypisch. Der Hautleitwert erholt sich wenig, was aufgrund der Regulationskompetenz eigentlich zu erwarten wäre. Auch eine Veränderung der Herzfrequenz (Steigerung der Herzfrequenz und Reduktion der Herzfrequenzvariabilität) ist zu erkennen. Die Hauttemperatur beginnt zumindest leicht zu

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sinken (ist bis dahin systematisch angestiegen). Nach der Sitzung unter anderem darauf angesprochen, wie die Vorstellung des Gegners ‚X‘ war, meinte der Sportler „ja, kein Thema, völlig problemlos“. Nach einem längeren Gespräch konnte Folgendes herausgearbeitet werden: Das erste Muster des Sportlers ist Abwehr und Widerstand. Es ist für ihn klar, dass der Trainer das so sieht, aber der habe ja (zumindest diesbezüglich) keine Ahnung. Damit wird auch die Meinung des Trainers und der Trainer selbst stark abgewertet. Auch in dem Sinne: „Statt mir klare Tipps und Hinweise zu geben, kommt er mit solchem Zeug daher.“ (Nebenbemerkung: Insgesamt ist die Beziehung zum Trainer intensiv, aber ambivalent.) Der Sportler selbst sieht darin zunächst kein Problem. „So etwas darf einem ja nichts ausmachen“. Das sind im Sport ganz typische Formulierungen, an denen deutlich wird, dass sich die Person nicht an der eigenen Wahrnehmung und am eigenen Empfinden und Erleben orientiert, sondern an den Sollensansprüchen für eine entsprechende sportliche Leistung: „Ein guter Sportler darf sich nicht stören lassen.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass der Sportler mit der Situation und der damit verbundenen Emotionalität kämpft. Den Sportler ärgert furchtbar, dass er immer mit diesem Thema konfrontiert wird. Und letztlich ist „natürlich“ etwas dran. Er will es nur nicht vom Trainer präsentiert bekommen. Der Trainer passt in diesen Aspekten gut zu dem Muster, das der Sportler seitens seines Vaters kennt, und gegen das er sich wehren muss. Dahinter steckt einiges an Wut und Angst. Diese Mischung aus Wut und Angst macht deutlich, dass es bei genauerer Beschreibung des körperlich-emotionalen Erlebens wesentlich um Scham geht: In der Wettkampfsituation dem Gegner unterlegen zu sein, Schwäche zu zeigen, beschämt gegenüber dem Trainer (Vater). Statt Stolz beim Trainer (jetzt geht es primär wirklich um den Vater) auszulösen, fürchtet er von diesem verachtet zu werden (Ausgrenzung, nicht dazu gehören). Im Unterschied zu den zumeist ausschließlich auf die emotionale Regulation des Sportlers/der Sportlerin bezogen sportpsychologischen Techniken wird hier sichtbar, dass Emotionen immer in sozialen Systemen reguliert werden. Indem Botschaften an den Sportler herangetragen werden, ist er gefordert, seine Emotionen interpersonal zu regulieren; und da emotionale Erfahrungen zu (oft eingeschränkten) Handlungsmustern führen, ist auch eine entsprechende intrapersonale Regulation der Emotionalität gefordert. Oerter und Montada (2008) beschreiben differenziert, wie Emotionen durch entsprechende Anlässe ausgelöst werden, beispielsweise Stolz durch die Wahrnehmung eigener Tüchtigkeit. Dies löst ein Gefühl der Zugehörigkeit aus (intrapersonalen Regulation). Bei signifikanten Anderen (Eltern, Freundeskreis) führt diese Interaktion beispielsweise zu Selbsterhöhung. Im sozialpsychologischen Kontext wird dies dann auch mit „basking in reflected glory“ beschrieben (Wann et al. 1995). Die entsprechenden

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Musterpassungen zwischen Personen führen vor diesem Hintergrund zu reichhaltigen Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen. Dass diese sozio-emotionalen Prozesse einiges an Verarbeitungskapazität des Gehirns binden und damit Bewegungsausführungen und Lernen erschweren sowie Musterwiederholungen verursachen, ist zu erwarten.

3 Schlussbetrachtung Der vorliegende Beitrag thematisiert vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Wertsystemen und Lebensstilen der Postmoderne den Umgang mit körperlich-emotionalen Wirkungen von Bewegung und Sport im Spannungsfeld Leistung und individueller Erfüllung. Dies ist eine typische Facette postmoderner Körper-Ambivalenzen wobei Instrumentalisierung und Selbstverwirklichung einander zu widersprechen scheinen, aber auch spontan ineinander übergehen können. So kann sportliche Höchstleistung als „Knechtung des Körpers“ gesehen oder erlebt werden und im nächsten Moment den Ausdruck totalen leiblichen Seins widerspiegeln. Einer scheinbar rational gesteuerten Welt der körperlichen Leistungsentwicklung steht eine hoch intuitive und emotionale Welt des emotional körperlichen Bewegungserlebens gegenüber und diese können auch ineinander – scheinbar unauflöslich – verschmelzen.

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Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen Elisabeth Ardelt-Gattinger, Nadine Steger und Susanne Ring-Dimitriou

Zusammenfassung

Stellt man sich ein Kontinuum der äußeren Gestalt des Körpers von dicken zu dünnen Menschen vor, so ist diese eindimensionale Vorstellung nur rein metrisch zutreffend. Eher passt das Bild von Körpern, das von unterschiedlichen Betrachtern geschaffen wird, zu einer Landschaft bestehend aus verschiedenen Formationen, die komplexen Entstehungs- und Veränderungsmechanismen in der Postmoderne unterliegen und oft tief eingegrabene Leidenswege aufweisen. Zudem überlagern sich die Bilder, da ein Teil der Menschen mit einem wesentlich überhöhten Fettanteil auch Vollbilder von Essstörungen aufweisen. Schlüsselwörter

Essstörungen · Schönheitsideal · Überflussgesellschaft

E. Ardelt-Gattinger (*) · N. Steger  Universität Salzburg, Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] N. Steger E-Mail: [email protected] S. Ring-Dimitriou  Universität Salzburg, Hallein/Rif, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Dimitriou und S. Ring-Dimitriou (Hrsg.), Der Körper in der Postmoderne, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22282-6_3

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1 Adipositas 1.1 Vorurteile und Stigmatisierung Adipositas wird von der WHO seit 1997 als chronische Krankheit (W.H.O. 2002) anerkannt. Der Anteil adipöser Menschen betrug 2004 bereits 315 Mio. und weist immer noch steigende Tendenz auf (Holler 2012). Medizinisch wird Adipositas über ein metrisches Maß, den sogenannten Body Mass Index (BMI in kg/m2), erfasst. Demnach gelten als krankhaft übergewichtig (adipös) mit dem Risiko massiver Begleiterkrankungen Menschen mit einem BMI ab 30 kg/m2 und als „morbid adipös“ jene mit einem BMI ab 40 kg/m2. Verglichen mit Personen mit körperlichen Behinderungen oder mit Normalgewichtigen mit hohem Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiko, trifft ein Mensch in einem adipösen Körper nicht auf Empathie. Adipöse Menschen schreiben sich die ‚Schuld‘ an diesem Körper, mit dem sie so unglücklich sind, selbst zu. Mit dem gleichen Unwissen und Unverständnis reagiert die ebenfalls durch das dünne Schönheitsideal geprägte Umgebung auf adipöse Personen. Bereits Kinder ab drei Jahren wurden wegen ihres Körperumfangs gehänselt (Latner und Stunkard 2003). Ihre Lebensqualität ist schlechter als jene an Krebs erkrankter Kinder (Warschburger 2015). Ähnliches gilt für Erwachsene, mit bisweilen massiven Konsequenzen für Lebensqualität, Partnerwahl, Beruf und soziale Netze (Legenbauer et al. 2007). Sie werden nicht nur gemobbt und gemieden, sondern als unkontrollierter, fauler, unbegabter und vor allem willensschwächer eingeschätzt. Keine Studie konnte diese Vorurteile stützen, aber viele die Auswirkungen der Ablehnung und Stigmatisierung belegen (Hansson et al. 2009). Unsympathisch dargestellte Menschen werden häufig von Karikaturisten dick gezeichnet, auch wenn sie dies tatsächlich nicht sind. Auch die in den letzten Jahren publizierten Artikel über die mit Adipositas assoziierten Leiden und Gesundheitsgefahren führten keine Änderung herbei, sondern verstärkten die vorhandenen Vorurteile in negativer Richtung (Saguy et al. 2014).

1.2 Adipositas als Suchterkrankung In Beratungen und Therapien wird Essen von den Betroffenen weniger als genussreiche Sättigung, sondern vielmehr als Befriedigung eines nicht steuerbaren Essensdrangs beschrieben (Mela 2006). In den seit 2000 durchgeführten neurophysiologischen Studien (Volkow et al. 2008) konnte ein eindeutiger Zusammenhang von Adipositas und Sucht nachgewiesen werden.

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Ähnlich wie bei Personen mit Nikotin-, Alkohol- und Drogenabhängigkeit wurden Veränderungen spezifisch im mesokortikolimbischen Dopaminsystem gefunden (Thorgeirsson et al. 2013). Je höher der BMI, desto geringer war die Anzahl der Dopaminrezeptoren im Striatum (Davis et al. 2011; Wang et al. 2010), wie auch Befunde bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomografie verdeutlichten (Volkow et al. 2008; Wallner‐Liebmann et al. 2011). Weiters konnte auch nachgewiesen werden, dass die Verringerung etwa des im Magen-Darmtrakt produzierten Ghrelins, eines Hormons, das die Dopaminfreisetzung und die Nahrungsaufnahme reguliert (Frommelt et al. 2013), wesentlich zur Erklärung der unterschiedlichen Gewichtsabnahme nach Magenbypass und Gastric Banding beiträgt (Cone et al. 2014).

1.3 Verbietend pathogenes Denken – der kurzzeitig kontrollierte Esser Bezüglich der gesellschaftlichen Vorurteile in Richtung mangelnder Kontrollfähigkeit und sogenannter Willensschwäche konnte gezeigt werden, dass sich Personen unterschiedlicher Gewichtsklassen signifikant in Bezug auf die kognitive Kontrolle des Essverhaltens unterschieden. Je höher das Gewicht, desto höher(!) war die gedankliche Kontrolle (Ardelt-Gattinger und Meindl 2010). Seit der Arbeiten zur elaborierten „Theorie der Gedankenunterdrückung“ (Erskine und Georgiou 2010; Wenzlaff und Wegner 2000) weiß man, dass es gerade diese hohe ‚Kontrolle‘ Adipöser ist, die zu eben dem führt, was man vermeiden will. Der unterdrückende Gedanke „ich darf das nicht essen, ich esse das jetzt/später/heute nicht… auf keinen Fall Schokolade etc.“ entspricht dem Phänomen des: „Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten!“ und führt zu dem von Wegner (Wenzlaff und Wegner 2000) so bezeichneten „peinlichen Gehirnschlamassel“. Im Falle der Unterdrückung von Essgedanken erhöht sich die – den vom Gehirn erwarteten Essensvorgang – einleitende Speichelproduktion und verstärkt die Auslösung der Handlung, die eigentlich vermieden werden sollte (Meindl et al. 2006).

1.4 Erlaubend salutogene Denk- und Handlungsweisen – der ‚Gesunde Adipöse‘ Die Lösung konnte in einer aus systemtheoretischen Überlegungen abgeleiteten Alternative gefunden werden: Nicht pathogen vermeidend unterdrücken, sondern salutogen erlaubend steuern. Bei diesem Vorgehen gilt es, an gemochte aber

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ernährungsphysiologisch günstige Speisen zu denken. Mithilfe ausführlicher Information durch ernährungswissenschaftlich ausgebildetes Fachpersonal kann und soll man genussvoll planen, was man bei der nächsten Mahlzeit alles essen wird. Studien zeigten, dass adipöse Menschen, die sich günstig ernährten und ausreichend bewegten, stabil gesünder sind, als jene Normal- bis maximal Übergewichtigen (bis BMI 30 kg/m2), die dies nicht taten (Weghuber 2015).

1.5 Bariatrische Chirurgie – der ‚rettende‘ Eingriff in den Körper Konservative Maßnahmen, wie Kalorienreduktion und ausreichende Bewegung, zeigen jedoch bei der progredient verlaufenden Krankheit Adipositas nur sehr geringe anhaltende Wirkungen (Ebbeling et al. 2002; Luca et al. 2015). Dauerhaft wirksame Gewichtsabnahme erzielen nur chirurgische Interventionen wie Magenband oder Bypass. Hier geht es aber primär nicht um den schlankeren, sondern den gesünderen Körper, d. h. um eine Senkung des Risikos frühzeitig zu versterben, das ab einem BMI von 40 kg/m2 bis zu 40 % gegenüber Normalgewichtigen erhöht ist (Ludwig et al. 2010).

2 Essstörungen Hat die starke Verbreitung des dünnen Schönheitsideals auf Adipositas eher indirekte Folgen, die die zu Übergewicht neigenden Menschen in die Falle der Diäten treibt, so ist die Norm des möglichst schlanken Model-Körpers zugleich ein Symptom und direkter Auslöser (Langer und Wimmer-Puchinger 2009) von Essstörungen aller Grade. Aus der Internalisierung dieses Ideals und der fehlenden Körperzufriedenheit resultiert eine Perversion lebenserhaltender Mechanismen von Hunger und Sättigung, eine Entfremdung des spontanen Essensgenusses und die Instrumentalisierung normaler Bewegungsfreude. Zur folgenden Darstellung des wissenschaftlichen Forschungsstandes wird ein weiterer Abschnitt der Selbstsicht der Betroffenen in Internetforen hinzugefügt. Die Grundaussagen der beiden Quellen weichen inhaltlich nicht voneinander ab, da Definitionen ja auf empirischen Fakten beruhen. Sie weisen aber kognitive und sprachliche Variationen auf, die die betroffenen Menschen nicht nur als Objekte der Forschung sichtbar machen, sondern auch ihre ganz eigene Stimme hören lassen, die unser Verstehen erweitert.

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2.1 Formen von Essstörungen aus der Sicht der Wissenschaft 2.1.1 Vorklinische Essstörungen – Norm abweichendes oder Norm erfüllendes Essen? Die starke – auch postmodern induzierte – gesellschaftliche Fixierung auf die zu erreichende Wunschfigur führte in den letzten Jahrzehnten zu immer einfallsreicherem Vorgehen, den normalen Ablauf von Hunger, Appetit, Sättigung und Völle in einer an Werbung reichen und notwendiger körperlicher Anstrengung armen Wohlstandsgesellschaft auszutricksen. Mit ähnlicher Geschwindigkeit versuchte die Wissenschaft neben den bekannten Essstörungsdiagnosen Kategorien zu finden, um den Variantenreichtum dieser „Tricks“ zu kategorisieren, und Behandlungsschemata zu erstellen. Das zentrale vorklinische „PWS“ (Preoccupied with Weight and Shape) genannte Symptom zeichnet sich durch Akzeptanz des dünnen Schönheitsideals, Überschätzung der Bedeutung dieses Körperbildes, übertriebene Sorgen über Gewichtszunahme, hohe gedankliche und tatsächliche Beschäftigung mit Essen und zahlreiche Diätversuche aus (Mitchison et al. 2017). Die Palette des gestörten Essverhaltens, mit dem versucht wird, dem Ideal des schlanken Körpers zu entsprechen, ist breit. Sie führen genau zum Gegenteil, so etwa zum „Überessen“, einem Vorläufer von Binge Eating Disorder (Ortega-Luyando et al. 2008). Um dies auszugleichen, kommt es zu gelegentlichem bulimischen Missbrauch von Laxantien, sowie selbst herbeigeführtem Erbrechen (purging) oder exzessivem Sporttreiben (Micali et al. 2013). Die normalerweise bei Anorexie auftretenden Wahrnehmungsstörungen, aufgrund derer der eigene Körper selbst bei Untergewicht als fett bezeichnet wird, gelten ebenfalls als vorklinisches Krankheitssymptom (Melve und Baerheim 1994). Ähnliches gilt für „Kauen und Ausspucken“ (Chewing & Spitting; CS). Es wurde zu Beginn als eher wenig krankheitswertig (McCutcheon und Nolan 1995) und quasi als Variante essgestörten Verhaltens in sehr jungem Alter bzw. als eine Variante von Binge Eating Attacken betrachtet (Guarda et al. 2004). Aber Zeitgleich ist es ein Zerrspiegel einer Wegwerfgesellschaft. Jüngere Publikationen weisen zunehmend auf die Schwere des Syndroms und die hohe Anzahl psychischer Komorbiditäten hin, wozu auch Vollbilder aller Essstörungen gehören (Durkin et al. 2014; Song et al. 2015). Bereits jede/r fünfte Jugendliche in der Pubertät, knapp der Kindheit entwachsen, weist irgendeine Form von gestörtem Essverhalten auf.

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E. Ardelt-Gattinger et al.

Die in Tab. 1 dargestellten Kategorien der Denkstrukturen und Verhaltensweisen, die um die Schlankheitsnorm kreisen und abweichendes Essverhalten bewirken, sind an den Diagnostischen und Statistischen Leitfaden mentaler (psychischer) Störungen (DSM-5) angelehnt. Sie stammen aus einer Untersuchung an 1650 deutschen Schülerinnen und Schülern der 7. und 8. Schulstufe (Durchschnittsalter: 13.4 Jahre) und differenzieren zwischen Anorexie, Bulimie und Binge Eating Disorder (BED), wie auch zwischen unterschiedlichen Ausprägungsgraden vorklinischer Syndrome (Hammerle et al. 2016; Smink et al. 2012). Sie enthalten Kategorien der atypischen OSFED (= Other Specified Feeding or Eating Disorders = Erfüllung einer geringeren Anzahl an spezifizierten Kriterien der Essstörungsvollbilder), den partiellen (Erfüllung einer gewissen definierten Anzahl an Kriterien) wie auch den sogenannten Subthreshold-Syndromen (Erfüllung aller Kriterien, jedoch mit geringerem Schweregrad bzw. ­geringerer Dauer). In Summe ist der Keim der erhöhten Sterblichkeit bereits in insgesamt 20 % der kindlich-jugendlichen Körper vorhanden. In der Prävalenz der Vollbilder unterscheiden sich Jugendliche (1,2 %) nicht wesentlich von Erwachsenen (1,4 %) (Jacobi und Paul 2013). Der Anteil der Mädchen ist hierbei wesentlich höher. Auch in einer Studie von Mohnke und Warschburger (2011) liegen die Mädchen etwa in Bezug auf Körperunzufriedenheit mit 54,7 % gegenüber den 31,5 % der Jungen signifikant höher. Das Ausmaß der Schädlichkeit dieser Fixierung auf bestimmte Körperbilder zeigt sich auch darin, dass subklinische Essstörungen stark mit depressiven und angstbezogenen Symptomen assoziiert sind (Chang et al. 2015), ebenso wie mit vermeidendem Coping-Verhalten (Amin et al. 2015). Tab. 1   Prävalenz der verschiedenen Syndrom-Kriterien nach DSM-5 für Jugendliche. (Adaptiert nach Hammerle et al. 2016) Anorexia nervosa (%)

Bulimia nervosa (%) Bed (%)

Klinisches Vollbild

0,3

0,4

0,5

1,2

OSFED

3,6

0,0

0,0

3,6

Partielles Syndrom

10,9

0,2

2,1

13,2

Subthreshold-Syndrom

0,8

0,3

0,2

1,3

Summe

15,6

0,9

2,8

19,3

Summe (%)

Der Körper zwischen Adipositas und Essstörungen

35

Man ging lange davon aus, dass alle genannten Phänomene im etwa gleichen Altersabschnitt wie die Vollbilder auftreten, d. h. frühestens ab 12 Jahren (Fisher et al. 2001). Der Höhepunkt der Inzidenz wird bei Anorexie zwischen 14 und 17 Jahren, bei Bulimie bei 16 bis 20 und bei BED bei ungefähr 16 (Hammerle et al. 2016) bis 20 (Hölling und Schlack 2007) Jahren angegeben. Tatsächlich wird bereits im Kindergartenalter das dünne Schönheitsideal einer Barbiepuppe schön gefunden. Befragt, welche von fünf nach Körperumfang gestaffelten Silhouetten aber DIE ‚Schönste‘ sei, wird noch nicht die Dünnste, sondern die Normalgewichtige gewählt (vgl. Brettschneider et al. 2006). Ab dem achten Lebensjahr wählen Mädchen auf einer nach Geschlecht differenzierten Skala aber bereits die dünnste Figur, Jungen hingegen den Normalgewichtigen (Ardelt-Gattinger et al. 2016). Letzteres bleibt stabil bis zum 18. Lebensjahr und spiegelt die Tatsache wider, dass Jungen und Männer zunehmend das Ideal des muskulös-wohlgeformten Körpers verfolgen (Berger et al. 2005). Beunruhigend ist, dass bereits einzelne 8-jährige „bulimisches Probierverhalten“ angaben, d. h. Erbrechen nach Essensmengen herbeiführten, die nicht für die Kriterien einer Binge Attacke (wesentlich mehr als bei einer normalen Mahlzeit gegessen wird) ausreichen, sondern lediglich als überflüssig oder ungünstig (z. B. ein Butterbrot zu viel) für die Wunschfigur angesehen wurden (Ardelt-Gattinger et al. 2016).

2.1.2 Vollbilder von Essstörungen Die in Tab. 2 dargestellten Prävalenzraten der Klinischen Vollbilder und der verschiedenen Syndrom-Kriterien Jugendlicher und Erwachsener entstammen einer repräsentativen englischen Studie mit 5540 weiblichen Teilnehmerinnen (Micali et al. 2017), einer australischen Studie die beide Geschlechter untersucht hat (Hay et al. 2015), sowie einer Überblicksarbeit europäischer Studien (Keski-Rahkonen und Mustelin 2016). Sie verweisen auf die Internationalität der Essprobleme und zeigen, dass die Gesamtzahl jener, deren Verhältnis zu einem menschlichen, mit Lust verbundenen Tab. 2   Prävalenzbereiche der Vollbilder von Essstörungen und verschiedenen Syndrom-Kriterien nach DSM-5 bei Jugendlichen und Erwachsenen (Hay et al. 2015; Keski-Rahkonen und Mustelin 2016; Micali et al. 2017) Anorexia nervosa (%)

Bulimia Nervosa (%)

Bed (%)

Klinisches Vollbild