Doing Health in der Gemeinschaft: Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm [1. Aufl.] 9783839422250

Gesundheit als soziales Produkt: Moderne prädiktive Brustkrebsgentests liefern heute gesundheitsrelevantes Wissen mit ei

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Doing Health in der Gemeinschaft: Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm [1. Aufl.]
 9783839422250

Table of contents :
Inhalt
Vorwort und Danksagung
1. Einleitung
2. BRCA-Gene, das genetisierte Subjekt und die molekulare Familie
2.1 Der Gen-Begriff als Kulturgut
2.2 BRCA, HBOC und HBOC-Zentrumspraxis
2.3 Das Subjekt der Gene und sein Gesundheitswissen
2.4 Die molekulare Familie
2.5 Das resultierende Anliegen der Arbeit
3. Familie als Verwandtschaft, Struktur, Solidargemeinschaft und Milieu
3.1 Familie als Verwandtschaftsgruppe
3.2 Familie als Struktur
3.3 Familie als Solidargemeinschaft
3.4 Familie als Milieu
4. Gesundheit als soziales Konstrukt
4.1 Die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheit
4.2 Bestimmung des Gesundheitsbegriffs der Arbeit
4.3 Die Familie als gesundheitsrelevanter sozialer Kontext
4.4 Der Körper in Beziehung
5. Material, Methode und Methodologie
5.1 Forschungsansatz: von der Frage zum Forschungsdesign
5.2 Datengewinnung
5.3 Analyse der Daten: Methodik, Triangulation, Methodologie
5.4 Grenzen der Studie
5.5 Zur Bewertung von Gütekriterien
5.6 Forschungsethische Überlegungen
6. Die Schall-Brauses: Familiale Gesundheit als Gemeinschaftsprojekt
6.1 Krebskrise Johannas und ihrer Herkunfts- und Wahlfamilie (A1)
6.2 Ressourcen des starr-verstrickten Familiensystems im Krebsmatriarchat (B1)
6.3 Die Gesundheitsregeln der Krebsmatriarchin und das bindende Deutungswissen (C1)
6.4 Das aktivitätsbasierte als entemotionalisiertes Familien-Coping (X1)
6.5 Die Genkrise der Schall-Brauses (A2)
6.6 Rollen und Beziehungsräume der BRCA-positiven Familie (B2)
6.7 Die präventiv-funktionale Familie: Gesundheit durch Kontinuität (C2)
6.8 Gesundheit: Gemeinschaftsprojekt der BRCA-positiven Familie (X2)
7. Gaby Böttcher: Ausgleich amibivalenter Potenziale
7.1 Mutter Böttchers Krebskrise (A1)
7.2 Ambivalenz des verwalteten Bindungsversagens in der starr-losgelösten Familie: Aushalten und Aktionismus (B1)
7.3 Krebs als soziale Zumutung, Widerstand als Manifestation von Stärke (C1)
7.4 Die ausgehaltene Krebskrisensituation (X1)
7.5 Gaby Böttchers Genkrise (A2)
7.6 Gabys Selbstwertproblem im sozialen Feld (B2)
7.7 Zwei Perspektiven des Körperlichen: Gesundheit & Weiblichkeit (C2)
7.8 Gabys Ringen um Gesundheit angesichts des BRCA-Status (X2)
8. Ursula-Magda Paasch: Autonomie als Balanceakt
8.1 Die Krebskrise der Mutter Martina Karg-Paasch (A1)
8.2 Familiale Ressourcen der Krisenbewältigung zwischen Separation und Grenzverletzung (B1)
8.3 Deutungen von Krebs und Krankheit zwischen individueller und relationaler Entwicklung (C1)
8.4 Coping: zunehmende Selbstannahme in der Lebensaneignung (X1)
8.5 Die Genkrise der Tochter Ursula Paasch (A2)
8.6 Das bezogene Leben im medikalisierten Beziehungsraum: Inspiration und Distanzierung als Handlungsressourcen (B2)
8.7 Das gefühlte Gen-Wissen und die Brust als Verbindungsorgan (C2)
8.8 Coping: Autonomie in der distanzierenden Balance (X2)
9. Diskussion: Dreidimensionalität, Normativität und gesundheitstheoretische Überlegungen
9.1 Gesundheitskonstruktion im dreidimensionalen Kontext
9.2 Konsequenzen für gesundheitstheoretische Überlegungen
9.3 Reflexionen zur normativen Dimension von Gesundheit
9.4 Implikationen, Zumutung und Ausblick
Literatur
Anhang
Transkriptionsregeln
Themenliste zu den Interviews
Die jeweiligen Personenensemble der drei Fälle
Darstellung des Sample
Genogramme der drei Fälle

Citation preview

Britta Pelters Doing Health in der Gemeinschaft

KörperKulturen

Britta Pelters (Dr. phil.), Pädagogin und Humanbiologin, forscht zu Theorien, Normen und Sozialisation von Gesundheiten. Sie lebt und arbeitet in Schweden.

Britta Pelters

Doing Health in der Gemeinschaft Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm

Bei diesem Buch handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung einer Dissertation, die im Februar 2012 am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit der Disputation abgeschlossen wurde. Gedruckt mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Britta Pelters Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2225-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Danksagung | 9 1. Einleitung | 13 2. BRCA-Gene, das genetisierte Subjekt und die molekulare Familie | 17

2.1 Der Gen-Begriff als Kulturgut | 17 2.2 BRCA, HBOC und HBOC-Zentrumspraxis | 18 2.3 Das Subjekt der Gene und sein Gesundheitswissen | 25 2.4 Die molekulare Familie | 39 2.5 Das resultierende Anliegen der Arbeit | 42 3. Familie als Verwandtschaft, Struktur, Solidargemeinschaft und Milieu | 43

3.1 Familie als Verwandtschaftsgruppe | 44 3.2 Familie als Struktur | 48 3.3 Familie als Solidargemeinschaft | 55 3.4 Familie als Milieu | 60 4. Gesundheit als soziales Konstrukt | 67

4.1 Die gesellschaftliche Bedeutung von Gesundheit | 67 4.2 Bestimmung des Gesundheitsbegriffs der Arbeit | 74 4.3 Die Familie als gesundheitsrelevanter sozialer Kontext | 78 4.4 Der Körper in Beziehung | 81 5. Material, Methode und Methodologie | 87

5.1 Forschungsansatz: von der Frage zum Forschungsdesign | 88 5.2 Datengewinnung | 90 5.3 Analyse der Daten: Methodik, Triangulation, Methodologie | 100 5.4 Grenzen der Studie | 112 5.5 Zur Bewertung von Gütekriterien | 114 5.6 Forschungsethische Überlegungen | 116 6. Die Schall-Brauses: Familiale Gesundheit als Gemeinschaftsprojekt | 117

6.1 Krebskrise Johannas und ihrer Herkunfts- und Wahlfamilie (A1) | 118 6.2 Ressourcen des starr-verstrickten Familiensystems im Krebsmatriarchat (B1) | 122 6.3 Die Gesundheitsregeln der Krebsmatriarchin und das bindende Deutungswissen (C1) | 142 6.4 Das aktivitätsbasierte als entemotionalisiertes Familien-Coping (X1) | 159

6.5 Die Genkrise der Schall-Brauses (A2) | 162 6.6 Rollen und Beziehungsräume der BRCA-positiven Familie (B2) | 166 6.7 Die präventiv-funktionale Familie: Gesundheit durch Kontinuität (C2) | 177 6.8 Gesundheit: Gemeinschaftsprojekt der BRCA-positiven Familie (X2) | 187 7. Gaby Böttcher: Ausgleich amibivalenter Potenziale | 193

7.1 Mutter Böttchers Krebskrise (A1) | 193 7.2 Ambivalenz des verwalteten Bindungsversagens in der starr-losgelösten Familie: Aushalten und Aktionismus (B1) | 195 7.3 Krebs als soziale Zumutung, Widerstand als Manifestation von Stärke (C1) | 199 7.4 Die ausgehaltene Krebskrisensituation (X1) | 201 7.5 Gaby Böttchers Genkrise (A2) | 202 7.6 Gabys Selbstwertproblem im sozialen Feld (B2) | 206 7.7 Zwei Perspektiven des Körperlichen: Gesundheit & Weiblichkeit (C2) | 218 7.8 Gabys Ringen um Gesundheit angesichts des BRCA-Status (X2) | 228 8. Ursula-Magda Paasch: Autonomie als Balanceakt | 239

8.1 Die Krebskrise der Mutter Martina Karg-Paasch (A1) | 239 8.2 Familiale Ressourcen der Krisenbewältigung zwischen Separation und Grenzverletzung (B1) | 244 8.3 Deutungen von Krebs und Krankheit zwischen individueller und relationaler Entwicklung (C1) | 259 8.4 Coping: zunehmende Selbstannahme in der Lebensaneignung (X1) | 266 8.5 Die Genkrise der Tochter Ursula Paasch (A2) | 269 8.6 Das bezogene Leben im medikalisierten Beziehungsraum: Inspiration und Distanzierung als Handlungsressourcen (B2) | 273 8.7 Das gefühlte Gen-Wissen und die Brust als Verbindungsorgan (C2) | 280 8.8 Coping: Autonomie in der distanzierenden Balance (X2) | 285 9. Diskussion: Dreidimensionalität, Normativität und gesundheitstheoretische Überlegungen | 291

9.1 Gesundheitskonstruktion im dreidimensionalen Kontext | 291 9.2 Konsequenzen für gesundheitstheoretische Überlegungen | 317 9.3 Reflexionen zur normativen Dimension von Gesundheit | 323 9.4 Implikationen, Zumutung und Ausblick | 338 Literatur | 345 Anhang | 375

Transkriptionsregeln | 375 Themenliste zu den Interviews | 376 Die jeweiligen Personenensemble der drei Fälle | 377 Darstellung des Sample | 383 Genogramme der drei Fälle | 384

„[M]an kann Gesundheit wie Krankheit nur von einer Erfahrung des Lebens aus verstehen, nicht aus sich selbst.“ VIKTOR VON WEIZSÄCKER 2008: 183

Vorwort und Danksagung

Das Vorangehende dieses Wortes auf eher ungewöhnliche Weise zitierend sollen der Nachrede, namentlich der üblen, wider Erwarten die ersten Zeilen dieses Buches gelten. War es doch meinem Vater, seines Zeichens aufgewachsen als uneheliches Arbeiterkind am katholischen Niederrhein der 50er und 60er Jahre, nach Abschluss meines Dissertationsprojektes ganz wichtig, seine heimische Welt auf eben jenen Vorgang hinzuweisen. Seine Absicht war es zu belegen, dass auch aus „kleinen Verhältnissen“ etwas werden kann. Dieser Vorgang weckt unmittelbar die Frage nach dem Einfluss „der Verhältnisse“, „der Leute“ u.ä. Gestalten auf das Werden des Selbst und seiner Sicht der Welt. Eingedenk Hardings Forderung, dass ein möglichst akkurates Wissen nur um den Preis eines reflektierten, offen gelegten Ausgangspunktes der Forschenden zu haben ist – sie spricht von „putting the subject or agent of knowledge in the same critical, causal plane as the object of her or his inquiry“ (Harding 1991: 161) – möchte ich daher die Gelegenheit nutzen, meinen Ausführungen einige persönlich kontextualisierende Anmerkungen voranzustellen, bevor ich mich dem Werden von Gesundheit als dem eigentlichen Thema des Buches widme. Als sowohl diplomierte Pädagogin, d.h. Sozialwissenschaftlerin, als auch Humanbiologin, d.h. Naturwissenschaftlerin, bin ich es gewohnt, in der Rolle der Anderen wahrgenommen zu werden. Diese Position erleichtert es, vermeintlich Selbstverständliches aus einer Außenperspektive wahrzunehmen, dadurch ein weniger „initiiertes“ und somit tiefer gehendes Verständnis der Konstruktion des „Normalen“ zu erlangen und es in Frage stellen zu können. Queering (vgl. Jagose 2001) als Strategie einer normkritischen Wirklichkeitsannäherung stellt für mich nicht nur in Bezug auf Geschlechter und Sexualitäten, sondern auch im Hinblick auf Gesundheit eine interdisziplinäre Querschnittsaufgabe und Handlungsstrategie dar. Als humanistisch orientierter Pädagogin liegt mir dabei getreu dem Motto „[d]ie Menschen stärken, die Sachen klären“ (vgl. Löhmer & Standhart 2008: 34) gerade die Seite der Klientel am Herzen. Diese Menschen beziehen sich auf ihr sog. lebensweltliches Laienwissen, welches jedoch mit einem Handikap belegt ist. Da es i.d.R. nicht (oder nicht ausreichend) als „wissenschaftliches Wissen“ klassifiziert wird, besitzt es laut Addelson (2003) keine kognitive Autorität. Die Autorität des wissenschaftlichen Wissens hingegen drückt sich in der Annahme aus, dass „the specialist offers the correct understanding of reality while the lay person struggles in the relativity of mere opinion“ (ebd., S. 170), wodurch lebensweltliches Wissen unweigerlich als unrichtiger bzw. unwichtiger und daher austauschbar verstanden wird. Dieser Anspruch einer kognitiven Autorität basiert auf der Annahme einer für alle einheitlichen

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| DOING HEALTH

Wirklichkeit, in der bestimmte Deutungen verbindlich richtig, andere falsch sein müssen. Ich möchte diese Annahme eingedenk der Ausführungen von Watzlawik (2001) in Frage stellen, was gleichzeitig die Deutungsmacht des biomedizinischen Wissens relativiert (jedoch nicht negiert). Es geht mir mit anderen Worten darum, Präsentiertes nicht von vornherein in wissenschaftlich richtig oder falsch einzusortieren und somit möglicherweise Zugänge zum verstehenden Nachvollzug einer singulären subjektiven Wirklichkeit zu verbauen. Diese hermeneutische Grundhaltung soll in der Arbeit eingenommen werden, da sie das für mich grundlegende pädagogische Postulat erfüllt, eine Person dort abzuholen, wo sie steht. Gleichzeitig bedeutet das auch, biomedizinisch-naturwissenschaftliche Fallbeschreibungen und medizinisch-psychologischen Termini soweit wie möglich zu umgehen bzw. nur äußerst vorsichtig zu verwenden, um immanente Bewertungen zu vermeiden. Ich bin mir dessen bewusst, dass dieses Vorgehen einen Verlust an Sicherheit und Selbstverständlichkeit für biomedizinische Berufsgruppen bedeutet. Trotzdem möchte ich gerade diese einladen, sich auf die jeweilige Wirklichkeit der hier versammelten Fälle einzulassen und die Personen mit dem Handwerkszeug ernst zu nehmen, mit dem diese ihren (Gesundheits-)Alltag gestalten, auch wenn hier aus naturwissenschaftlicher Sicht „Falsches“ angeführt wird oder gar Dinge zur Sprache kommen, die im Berufsalltag auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheinen. Von dieser Position aus mag es nicht überraschen, dass die Bemerkung meiner Genetik-Professorin Helga Rehder, psychosoziale Probleme spielten im genetischen Beratungsalltag eigentlich keine Rolle, wesentlich die Überlegungen motivierte, die letztlich zum Verfassen dieser Dissertation geführt haben. Zuvorderst möchte ich mich folgerichtig bei den BRCA-positiven Frauen bedanken, die mir ihre Geschichten anvertraut haben, sowie dem Verbundprojekt Brustund Eierstockkrebs, das mir den Zugang zu diesen eröffnete. Mein weiterer Dank gilt Frau Prof. Doris Schaeffer aus den Bielefelder Gesundheitswissenschaften für die Signaturarbeit sowie die gelungene Weiterleitung in die Soziologie, als der interdisziplinäre Spagat zu groß wurde, sowie Herrn Prof. Bruno Hildenbrand aus der Soziologie in Jena für sein Interesse an dieser Fächerakrobatik und die umsichtige Begleitung im Endspurt. Diese Arbeit wäre jedoch niemals gediehen ohne meine Betreuerin Dr. Claudia Peter, die mich inspirierte und anspornte und dann sogar die hunderte Seiten von Text las, die das zur Folge hatte, ohne ihr Engagement aufzugeben oder die LiteraturJukebox abzuschalten. Ebenso sei den Doktorand_innen-Seminaren1 und Interpretationsgruppen gedankt, die mir viele wertvolle Hinweise und Anregungen bescherten: Als da wären

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In dieser Arbeit werde ich den queer-sensitiven Unterstrich verwenden. Er basiert auf einem Verständnis von Geschlecht als Kontinuum zwischen männlich und weiblich, wodurch eine schier unendliche Anzahl von Geschlechtern im cis-, trans*- und/oder interModus denkbar wird (vgl. Hermann 2003; Voss 2010). Durch die Irritation beim Lesen macht der Unterstrich auf diesen inkludierenden geschlechtlichen Möglichkeitsraum aufmerksam und verbindet diese Wirkung mit einem emanzipatorischen geschlechterpolitischen Anspruch, der in der Sperrigkeit der Formulierung ständig neu erfahren wird.

VORWORT

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Claudia, Jochen, Karin, Christa und Hermann aus der Bielefelder sowie Ulf, Eli, Julia, Sören und Miriam aus der Hannoveraner Interpretationsgruppe. Hinzu kommen Sonja, Robert, Helena, Liz, Nicola, Petra und Marie-Luise bei den Pädagog_innen an der Universität Stockholm und Kerstin, Mariann, Ann-Sofie, Lena, Marie, Mia, Ruth, Berit, Tina und Linda von den Sozialarbeiter_innen am medizinischen Karolinska Institutet. Auch sei den diversen Personen gedankt, die sich trotz des einen oder anderen Bandwurmsatzes, „bösen“ geisteswissenschaftlichen Ansichten und Zitaten im Dialekt durch meine Kapitel gearbeitet und mir wertvolles Feedback gegeben haben: Katrin, Elke, Birgit, Ilona und ihre Kolleg_innen, Simone, Stephan, Julia, Ulf, Markus und Miriam. Und um das Thema Wissenschaft abzurunden, so sei an dieser Stelle auch der Rosa Luxemburg Stiftung gedankt, die mir mit solidarischen Beiträgen drei Jahre ermöglichte, mich auf das Dissertationsprojekt zu konzentrieren! Unter dem Stichwort „Deutschland, deine Sofas“ möchte ich es mir ebenfalls nicht nehmen lassen, all denen zu danken, bei denen ich mich über die Jahre so durchgeschlafen habe: Familie Spohn, Michael und Familie, Melanie, Markus und Susi, die Bielefelder WG, Bernhard und Evelyn, Alex, Sonja und Vogge, Beate, Frau Klose, Hotel Michaelsen, Annette, Miriam, Julia sowie meine Teilzeit-2er-WG Ulf (mit und ohne Christian nebst Wellensittichen) – es war immer spannend und meistens bequem, spätestens nach dem Abendprogramm! Auch meinen Eltern soll ein Dank zuteil werden, da sie mir auf ihre ganz eigene Art einen ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit eröffnet und damit ihren Beitrag zu diesem Projekt geleistet haben. Last but not least bedanke ich mich bei meiner Frau Marion Ehmann für Nahrung aller Art, hält ja bekanntlich Leib und Seele zusammen!

1. Einleitung

„Unter ‚Sünde‘ verstehen die meisten heute einen Verstoß gegen den Diätplan.“ EUGEN DREWERMANN1 „Ja soll ich mich in meiner Urne umgucken und dann seh ich nur Hunger…?“ AUSSAGE EINER STUDIENTEILNEHMERIN

Niemand ist alleine krank heißt ein Buch von v. Schlippe und Theiling (2005). Diese Aussage ist nicht nur für die dort beschriebenen Familien chronisch kranker Kinder zutreffend, sondern in besonderem Maße auch dann, wenn eine mit Erblichkeit assoziierte familiäre Erkrankung vorliegt. In dieser Situation zeigen sich oftmals Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Interessen, Handlungen und Deutungen sowohl von Einzelpersonen und Familien, als auch von Mediziner_innen sowie anderen gesellschaftlichen Akteur_innen, die im Rahmen von Begegnungen und Beziehungen virulent werden. Hier können Ambivalenzen und Definitionsprobleme zum Ausdruck kommen, die sich auf Themen wie Selbst- und Fremdbestimmung, Wahl und Verantwortung oder Gesundheit und Krankheit beziehen und den Umgang mit sowie das Verständnis von der eigenen Gesundheit maßgeblich bestimmen. Diese komplexe Situation ist Gegenstand der vorliegenden Studie. Die Frage nach der Definition von Gesundheit und Krankheit wird gerade im Bereich der prädiktiven Gen-Diagnostik besonders drängend. Hier wird bei (noch) gesunden Menschen mit Hilfe einer molekulargenetischen Untersuchung das Vorhandensein einer DNA-Sequenz festgestellt, die mit einer erhöhten Erkrankungswahrscheinlichkeit assoziiert ist. Zu dieser Form der Diagnostik gehört der sog. Brustkrebsgentest, der als Modellfall der prädiktiven Medizin eine Art Vorzeigeangebot in diesem Feld darstellt und sich vom Forschungsprojekt zu einem von den Krankenkassen getragenen Angebot entwickelt hat (vgl. Palfner 2009). Hier werden die DNA-Sequenzen an zwei Stellen des Genoms – den sog. Brustkrebsgenen BRCA1 und BRCA22 – untersucht, um eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das zukünftige Auftreten von Brust- und/oder Eierstockkrebs sowie von einigen weiteren Krebsarten

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Zitiert nach www.zitate-portal.com vom 21.04.2011. BRCA = BReast CAncer.

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bei allen Geschlechtern festzustellen. Dieses Krebssyndrom wird als Hereditary Breast and Ovarian Cancer (HBOC) bezeichnet und verweist i.d.R. auf eine Vielzahl von Krebsfällen in der Familiengeschichte. Die zugehörige Diagnose heißt BRCApositiv. Sie wird im Rahmen der Trias Beratung-Test-Beratung gestellt und ggf. von Früherkennungs- und Prophylaxe-Maßnahmen gefolgt, die zum Zeitpunkt der Studie in zwölf deutschen Zentren für familiären Brust- und Eierstockkrebs (ab hier: HOBC-Zentren)3 angeboten werden (vgl. Gerardus et al. 2005). Der Umgang mit den genetischen Daten, die die familiäre HBOC-Disposition belegen, stellt das Phänomen dar, welches als Untersuchungsfokus ausgewählt wurde, da hier die Themen Gesundheit, Familie und Genetik aufeinander treffen. Die genetischen Dispositionsdaten sind folglich als gesundheitsrelevantes Wissen zu charakterisieren. Dadurch gewinnen sie ihre Wichtigkeit, da dem Gesundheitsthema mit seiner impliziten Aufladung als Heilsversprechen und Verpflichtung im gesellschaftlichen Diskurs ein geradezu religiösen Charakter zukommt (vgl. BeckGernsheim 1994; 1999), was der Theologe Drewermann sehr anschaulich durch das o.g. Bonmot zum Ausdruck gebracht hat. Vor dem Hintergrund der Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), die den_die Einzelne_n mittels der ambivalenten Kombination aus Wahl und Verantwortung in die biografisch gestalterische Pflicht nimmt, erscheint Gesundheit als instrumenteller „Selbstverwirklichungswert“ (Gerlinger 2006: 43) mit Blick auf das gelungene Leben, der jedoch verstärkt intrinsischen Charakter gewinnt und damit zum „Wert an sich“ wird. Gleichzeitig breitet sich „Krankheit“ sowohl durch die Zunahme medial publizierter Gesundheitsrisiken als auch chronischer Krankheiten bedingt zunehmend in den Raum des „Gesunden“ aus (vgl. Wehling & Viehöver 2011), gefährdet die autonome Lebensgestaltung und richtet diese auf eine Art auf die gesundheitliche Zukunft aus, die Duden (1997) „Windschutzscheibenblick“ nennt. Fragen nach den Bedingungen von Gesundheitsentwicklung sowie Gesunderhaltung, wie sie auch in der Interdisziplin Gesundheitswissenschaften gestellt werden (vgl. Hurrelmann & Laaser 2003), in der diese Arbeit ihren Ausgang nahm, gewinnen vor diesem Hintergrund zunehmend an Bedeutung. Sie verweisen auf die Wichtigkeit von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung für die einzelne Person, aber auch für die Bevölkerung im Gesamten und damit auf deren Relevanz für das Gesundheitssystem: „Die Anforderungen, die sich aus der Verschiebung des Krankheitspanoramas hin zu den chronischen Erkrankungen ergeben, lassen sich strukturell durch eine auf Kuration und Therapie ausgerichtete Gesundheitsversorgung nicht ausreichend erfüllen. Sie verlangt eine erheblich stärkere Verankerung von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung im Versorgungssystem.“ (Hurrelmann, Klotz & Haisch 2004: 16)

Die prädiktive BRCA-Diagnostik und ihre Folgemaßnahmen fallen genau in dieses präventive Spektrum, was ihre über die individuelle Ebene hinausgehende Wichtigkeit unterstreicht. Jedoch stellt sich gerade vor dem Hintergrund der bereits ange-

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Derzeit existieren 15 HBOC-Zentren (vgl. www.krebshilfe.de/brustkrebszentren.html vom 03.07.2012).

E INLEITUNG

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sprochenen enormen gesundheitsbezogenen Erwartungshaltung immer auch die Frage nach der Macht von Prävention und Gesundheitsförderung als moralisch gebotene Handlungsnormen sowie nach dem Ziel des zugehörigen Maßnahmenkatalogs. Unter Berücksichtigung des Begriffs der Biomacht4 (Foucault 1976; 1977; Hardt & Negri 2002) erscheint eine gewisse Skepsis gegenüber der „schönen neuen Gesundheitswelt“ mit ihrer zunehmend schrankenlosen Produktion von Leben angebracht. Mit Beck-Gernsheim (1999: 47) ist somit immer auch zu fragen: „Welche Gesundheit wollen wir?“ Demnach wäre der Wunsch nach innersystemischer Selbstreflexion des Gesundheitssektors zu stellen, um das von Juli Zeh im Roman Corpus Delicti (2009) beschriebene Zukunftsszenario zu vermeiden, in dem gilt: „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.“ (Ebd.: 7/8) Von eminenter Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Definition der zu erzielenden Gesundheit, da diese das Instrumentarium gesundheitsbezogener Interventionen sowie deren Eingriffsberechtigung bestimmt. In der gesundheitswissenschaftlichen Landschaft Deutschlands wird an dieser Stelle für gewöhnlich das Salutogenese-Konzept von Antonovsky (1997) als praxisbestimmend angeführt, welches jedoch Gesundheit lediglich indirekt beschreibt und damit nur eine – wenn auch mit dem persönlichen Gesundheitsgefühl korrelierende – Annäherung an das Phänomen „Gesundheit“ an sich darstellt (Wydler, Kolip & Abel 2010). Auch den Fragen nach normativen gesundheitsbezogenen Potenzialen sowie nach einem adäquaten Gesundheitsbegriff soll daher nachgegangen werden. Die genetische Beratung als Vermittlungsinstanz von Wissen, das mit einer möglichen gesundheitlichen Zukunft und damit einer potenziellen Veränderung eines gesundheitlichen Selbstbildes verbunden werden kann, wird in dieser Arbeit als gesundheitssozialisatorische „Urszene“ angesehen. Sie soll stellvertretend für alle die Gelegenheiten stehen, bei denen als gesundheitsrelevant geltendes Wissen vermittelt oder zumindest vorgestellt wird. Diese Gesundheitssozialisation stellt das Erkenntnisinteresse der Arbeit da. Wie jeder sozialisatorische Vorgang beinhaltet sie ein kontextualisierendes Geschehen, bei dem eine alte Weltsicht durch eine neue im Rahmen einer Krise herausgefordert und ggf. transformiert wird. Im Rahmen der in Kapitel zwei vorzustellenden Literaturrecherche erweisen sich das erfahrungsbezogene lebensweltliche Wissen vor dem Hintergrund einer familialen Beziehungsstruktur sowie einer persönlichen Lebenssituation als mögliche relevante Kontextualisierungen. Aufbauend darauf lassen sich in einer ersten Annäherung die folgenden Forschungsfragen formulieren: • •

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Wie beeinflusst das BRCA-Ergebnis die Struktur der Familie sowie die Familie die Aufnahme des BRCA-Ergebnisses (relationale Dimension)? Welche Rolle spielt die Biografie der betreffenden Person (situative Dimension)?

Biomacht setzt den Körper kapitalistisch motiviert als Produktionsmittel und Arbeitskraft sowie Mittel der Kontrollausübung über Menschen ein und wird als Selbsttechnik individuell verinnerlicht und umgesetzt.

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| DOING HEALTH Wie interagiert das Testergebnis mit den gesundheitsbezogenen subjektiven und familialen Erfahrungen, Praktiken, Deutungsmustern u.a. Wissensbeständen (interpretative Dimension)? Wie sind relationale, interpretative und situative Dimension verbunden?

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Gesundheitsrelevanz wird folglich nach der Kontextualisierung des genetischen Gesundheitswissens als Vorgang der Gesundheitssozialisation und damit letztlich nach den mikrosoziologischen Formierungsbedingungen des Phänomens „Gesundheit“ gefragt, das – wie bereits Krankheit – als soziales betrachtet und aus der Perspektive der Familiensoziologie analysiert werden wird. Es wird mit anderen Worten angenommen, dass genauso wie niemand alleine krank, auch niemand alleine gesund ist. Diese sozialisierte Gesundheit als aktive Aneignung der Deutungs- und Handlungsangebote des Gesundheitssektors, speziell der Humangenetik (vgl. Lemke & Kollek 2011) gilt es im Rahmen von Fallrekonstruktionen (vgl. Oevermann 2002; Hildenbrand 1999) zu erkunden, die die Komplexität der zu analysierenden Situation erfassen können. Im zweiten Kapitel werden zunächst der Genbegriff als Kulturgut sowie die BRCA-Gene und HBOC inkl. der diesbezüglichen deutschen Praxis als Untersuchungsgegenstände erläutert, um Spannungsfelder des Umgangs mit der Diagnose „BRCA-positiv“ aufzuzeigen. Sodann wird der Forschungsstand zu eben jenem subjektiven wie familialen Umgang referiert und das Forschungsprojekt darauf aufbauend kontextuell konkretisiert. Im dritten Kapitel wird das begriffliche und analytische familiensoziologische Instrumentarium dargestellt, welches in Bezug auf den Forschungsfokus Familie zur Anwendung kommt. Neben der Familie als Struktur, Solidargemeinschaft und Milieu erfahren der Begriff der Krise und dessen Trajektbeschreibung mittels des ABCXModells gesonderte Aufmerksamkeit. Im vierten Kapitel erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff aus medizinsoziologischer sowie gesundheitswissenschaftlich-theoretischer Perspektive, aus der eine vorläufgige Gesundheitsannäherung resultiert. Des Weiteren wird die Rolle der Familie als (gesundheits-)sozialisatorische Instanz untersucht und der Körper als Akteur und Agent begrifflich gefasst. Im fünften Kapitel werden das im fallrekonstruktive Vorgehen angewandte methodische Spektrum und daraus resultierende Möglichkeiten und Begrenzungen der Studie dargelegt. In den Kapitel sechs, sieben und acht werden die drei Fälle Schall-Brause, Gaby Böttcher und Ursula Paasch als Kontextualisierungstrajekte nachgezeichnet. Im neunten Kapitel wird das Zusammenwirken von Familie, Lebenssituation und Wissensbeständen zunächst im Rückgriff auf vorhandene Forschungsergebnisse diskutiert und in seinem Wechselverhältnis dargestellt. Zudem wird die Vorstellung einer konstruktivistischen, zugleich subjektiven wie relationalen Gesundheitsdefinition entwickelt. Sodann wird ausgehend vom fallspezifischen sozialen Sinn des Umgangs mit der BRCA-Diagnose das Verhältnis gesellschaftlicher und subjektiv-sozialer Gesundheitsnormen diskutiert. Abschließend wird der Kontextualisierungsgedanke mit dem zuvor entwickelten Gesundheitsbegriff verzahnt.

2. BRCA-Gene, das genetisierte Subjekt und die molekulare Familie

2.1 D ER G EN -B EGRIFF

ALS

K ULTURGUT

Der von Wilhelm Johannsen 1909 eingeführt Begriff „Gen“ bezeichnete ursprünglich die inhaltlich hypothesenfreie wissenschaftliche Arbeitsannahme, dass irgendetwas in den Keimzellen die Eigenschaften eines Organismus (mit-)bestimmt. Er zeichnete sich folglich durch ein offenes Referenzpotenzial aus. Gerade wegen dieser „Uneindeutigkeit und Ungleichzeitigkeit“ (Müller-Wille & Rheinberger 2009: 10) konnte „das Gen“ je nach beteiligter humangenetischer Subdisziplin zeitgleich kontextuell Verschiedenes beschreiben (vgl. Samerski 2002) und fungierte als zentrales und produktives Organisationsprinzip der Biologie des 20. Jahrhunderts: „Etwas paradox kann man sagen, daß mit jeder definitorischen Festlegung weitere Anlässe für die Infragestellung des Gens geschaffen wurden und daß gerade hierin die wissenschaftliche Produktivität des Begriffs lag.“ (Müller-Wille & Rheinberger 2009: 12) Demgegenüber existiert ein alltägliches Gen-Verständnis in der Bevölkerung, welches „das Gen“ laut Duden und Samerski (2007; vgl. auch Sanner 2005) oft programmatisch als mächtiges Zukunftsomen und „Basta-Wort“ rahmt, das sich mit nahezu allen Eigenschaften verbinden lässt und somit ein großes Bedeutungsspektrum umfasst. Darüber hinaus stellen Gene eine quasi-körperliche zweite Natur dar, die besonders im Umfeld der genetischen Beratung als Bedrohung erlebt werden kann und z.T. mit einer völlig überzogenen und undifferenziert optimistischen Fortschrittshoffnung und -gläubigkeit verbunden wird (vgl. Samerski 2002; Nelkin & Lindee 1995; Sponholz, Allert & Baitsch 1995; Thum & Jansen 2003). Hier zeigen sich Überbleibsel der programmatisch-hierarchischen „ein Gen-ein Polypeptid“Hypothese, was mit einer fortgesetzten Berichterstattung im Stile der Entdeckung von „Genen für dieses oder jenes“ (vgl. v. Schwerin 2009) verbunden ist. Daneben existiert in der Öffentlichkeit ein Verständnis des Gens als nutzbares Potenzial (vgl. v. Dijk 1998; Weingart 2007; Bates 2005; Weingart, Salzmann & Wörmann 2003). Ein solches Verständnis ermöglicht der einzelnen Person ein aktives Umgehen mit genetischen Daten anstelle des passiven Erduldens derselben, enthält aber auch die Verpflichtung zu deren „ordnungsgemäßer“, d.h. verantwortlicher Ausnutzung (vgl. Lemke 2004a). Darüber hinaus finden sich im populärwissenschaftlichen Diskurs Anzeichen einer Auflösung des solide-solitären Gens in Richtung eines konstruktivistisch-systemischen Verständnisses (Stichwort Epigenetik), in dem DNA-

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Abschnitte und ihre Umwelten sich gegenseitig beeinflussende Teile eines molekularen Regulationsnetzwerkes sind. (vgl. Then 2008; Engels 1998; Fox-Keller 2009; Bahnsen 2008).1 Gene definieren folglich sowohl den Status Quo der menschlichen Existenz, beinhalten aber auch scheinbar die Chance zu dessen gentechnischer Selbstüberwindung und werden gleichzeitig mit Schicksal und Zufälligkeit sowie Kontrollversprechen und Vorsorgezwängen verbunden (vgl. Duden & Samerski 2007). Insofern lässt sich eine genetische Verantwortung jenseits politisch propagierter Eugenik konstatieren, an deren Entstehung eine Vielzahl von Akteur_innen gleichsam als Pastoralmacht im Foucault’schen Sinne (vgl. Kollek & Lemke 2008) mitwirken und sich Fremd- und Selbstführungskompetenzen, Wissensformen und Subjektivierungsprozesse ergänzen. In diesem Spannungsfeld formieren sich die Fälle.

2.2 BRCA, HBOC 2.2.1

UND

HBOC-Z ENTRUMSPRAXIS

Brustkrebsgene und der familiäre Brust- und Eierstockkrebs

BRCA1 und 2 sind als sog. Brustkrebsgene bekannt. Diese 1994 (BRCA1 vgl. Miki et al. 1994; BRCA2 vgl. Wooster et al. 1994) in die Diskussion gebrachten und sequenzierten DNA-Abschnitte funktionieren als Tumorsuppressorgene. Als solche kodieren sie für ein Proteinprodukt, das daran beteiligt ist, die DNA zu reparieren, den Ablauf der Meiose zu gewährleisten und als Garant der Genomstabilität einer Krebsentstehung vorzubeugen. Sie werden autosomal dominant vererbt und weisen eine hohe Penetranz auf. Bislang (2011) konnten mehr als 2600 Sequenzvarianten („Mutationen“2) beschrieben werden, die z.T. in bestimmten Populationen gehäuft vorkommen, i.d.R. jedoch familienspezifisch sind. In etwa der Hälfte der Fälle wurden diese Variationen mit der Entstehung von Krebs bei alle Geschlechtern in Verbindung gebracht. Des Weiteren existieren sog. Unspezifische Varianten und Polymorphismen einzelner Nukleotide (DNA-Bausteine), deren Krankheitsrelevanz bislang unbekannt ist (vgl. Carroll et al. 2008; Majdarek-Paredes & Fatah 2009). Es wird angenommen, dass jede 250. Frau BRCA1/2-Variationsträgerin ist (vgl. Steiner, Gadzicki & Schlegelberger 2009). Wie der Name andeutet, stellt Brustkrebs die am häufigsten mit einer krankheitsassoziierten BRCA-Variante in Verbindung gebrachte Krebsart dar. Das Risiko, bis zum 70. Lebensjahr an diesem Krebs zu erkranken, wird mit 65 Prozent (BRCA1) bzw. 45 Prozent (BRCA2) angegeben. Ebenfalls häufig ist eine Verbindung mit Eierstockkrebs, hier beträgt das Erkrankungsrisiko bis zum 70. Lebensjahr 39 Prozent (BRCA1) bzw. 11 Prozent (BRCA2) (vgl. Antoniou

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Diese Bandbreite spiegelt sich im metaphorischen Gehalt von „Gen“ in genetischen Beratungen (vgl. Kovács & Frewer 2009). Der Begriff „Mutation“ ist bei Laien häufig negativ konnotiert. Diese sprechen auf das wertneutralere „Variation“ positiver an (vgl. Condit et al. 2004), weshalb es im Folgenden Verwendung finden soll.

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et al. 2003). Diese Risikozahlen differieren erheblich je nach Population und Zeitraum der Referenz (vgl. Ramus & Gayther 2009). Weitere mit BRCA-Variationen in Verbindung gebrachte Krebsarten sind Erkrankungen des Kolon, Pankreas, Prostata sowie Uterus und Cervix (BRCA1) bzw. Magen, Gallenblase und Haut sowie männlicher Brustkrebs (BRCA2) (vgl. ebd.; Russo et al. 2009). Familiärer Brust- und Eierstockkrebs (HBOC) stellt die mit BRCA-Variationen hauptsächlich3 in Verbindung gebrachte klinische Manifestation dar. HBOC zeichnet sich i.d.R. durch das folgenden Erkrankungsspektrum aus: prämenopausaler Brustkrebs, Eierstockkrebs, bilateraler Brustkrebs, Vorkommen von Brust- und Eierstockkrebs bei der gleichen Person sowie Brustkrebs bei Männer. Sowohl der mit BRCA verbundene Brust- als auch Eierstockkrebs weist jeweils spezielle Eigenschaften auf und kommt familiär gehäuft vor. Zehn Prozent des Eierstockkrebses (EK), der in der Bevölkerung mit einer Häufigkeit von ca. ein bis zwei Prozent vorkommt, wird auf Vererbung zurückgeführt, wovon wiederum 90 Prozent mit BRCA-Variationen assoziiert sind. Die pathologischen Kennzeichen von BRCA-bedingtem und sporadischem EK unterscheiden sich den neuesten Forschungsergebnissen zufolge kaum, wobei jedoch eine im Vergleich zu sporadischen Fällen andere Pathogenese und höhere Aggressivität angenommen wird. Das wird daraus abgeleitet, dass BRCA-bedingter EK eine höhere Proliferationsrate aufweist sowie eher in fortgeschrittenerem Stadium diagnostiziert wird. Allerdings scheint gerade der mit BRCA1 assoziierte EK im Vergleich zum sporadischen auch eine bessere Prognose mit längerer Überlebensrate aufzuweisen und auf bestimmte Chemotherapeutika besser anzusprechen. BRCA2-bedingte Krebserkrankungen unterscheiden sich hinsichtlich des geringeren Erkrankungsrisikos sowie späteren Erkrankungsalters von BRCA1-bedingten. Die Früherkennung erfolgt i.d.R. mittels transvaginalem Ultraschall, wobei eine gleichzeitige Messung einer Serum CA 125-Probe eine frühere Diagnose verspricht, was aufgrund der Abwesenheit früher Symptome zu einer verbesserten Überlebensrate beitragen dürfte. Weitere Vorsorgemaßnahmen sind die effektive bilaterale Salpingo-Oophorektomie4, die nach dem Ende der Familienplanung bzw. nach dem 35. Lebensjahr angeboten wird und zu einer Risikoreduktion von 85-96 Prozent führt, sowie die eher fragwürdige Chemoprävention mittels oraler Kontrazeptiva (vgl. Lux, Fasching & Beckmann 2006; Ramus & Gayther 2009; Russo et al. 2009). Brustkrebs (BK) stellt laut Robert Koch Institut und Dt. Krebshilfe5 die häufigste Krebsart bei Frauen dar, an der ungefähr jede zehnte Frau im Laufe ihres Lebens6 erkrankt. Die Zahl der Neuerkrankungen liegt demnach in Deutschland jährlich bei über 59.000, die der Todesfälle bei rund 17.000 und das durchschnittliche Erkrankungsalter beträgt 64 Jahre. Zehn Prozent aller Erkrankungsfälle (v.a. die in jungen Jahren) gelten als erblich, von denen wiederum ungefähr 40 Prozent mit BRCA in Zusammenhang gebracht werden. Weitere als erblich geltende Brustkrebserkrankun-

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Ebenfalls Erwähnung findet der site-specific ovarian cancer (vgl. Russo et al. 2009). Prophylaktische Entfernung der Eierstöcke und Eileiter, in den Fällen als Ovarektomie oder Eierstockentfernung angesprochen. Vgl. www.krebshilfe.de/brustkrebs.html vom 11.08.2010. Gemeint ist damit i.d.R. eine Altersspanne bis zum 80. Lebensjahr.

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gen können bspw. bei Li-Fraumeni-Syndrom oder dem Hereditären Nicht-Polypösen Kolonkarzinom auftreten. Im Vergleich zu sporadischen Fällen weist der BRCAassoziierte BK spezielle histopathologische und immunohistochemische Eigenschaften sowie genetische Expressionsmuster auf: In beiden Fällen (BRCA1/2) ist eine erhöhte Proliferationsrate feststellbar, die bei BRCA1 noch durch eine hohe Mitoserate sowie eine geringe Differenzierung der Tumoren ergänzt wird. Dazu addieren sich Hinweise auf eine reduzierte Überlebensrate v.a. bei BRCA1. In Deutschland existiert keine spezielle Richtlinie zur Behandlung BRCA-bedingten BKs. Diese orientiert sich an der Behandlung des sporadischen BK, wie sich der interdisziplinären BK-Leitlinie der Dt. Krebsgesellschaft und der Dt. Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (2008) entnehmen lässt. Jedoch kann in jedem Fall eine Empfehlung zur Chemotherapie sowie zur bilateralen Brustentfernung (Mastektomie), evtl. sogar zur prophylaktischen Eierstockentfernung gegeben werden. Des Weiteren wird diskutiert, inwiefern der BRCA-positive Status zur Entwicklung spezieller Therapien ausgenutzt werden kann. Eine vorbeugende Mastektomie reduziert das Krebsrisiko um 90 Prozent und wird teilweise und dann v.a. jungen Frauen empfohlen, da chemopräventive Mittel kontrovers und nicht verlässlich sind und der Erfolg der intensivierten Überwachung bislang unbelegt ist (vgl. Carroll et al. 2008; Majdarek-Paredes & Fatah 2009; Lux, Fasching & Beckmann 2006; Rubinstein 2008; DKG & DGGG 2008). 2.2.2

Die Praxis der BRCA-Diagnostik in den deutschen Zentren für familiären Brust- und Eierstockkrebs

Bei der BRCA-Diagnostik handelt es sich um eine postnatal-prädiktive Diagnostik zur vorhersagenden Feststellung einer probabilistischen genetischen Disposition für ein bestimmtes Krankheitsereignis. In Deutschland existiert eine spezialisierte Struktur aus zum Studienzeitpunkt zwölf an Universitätskliniken angesiedelten HBOCZentren, die mit einem aus Vertreter_innen der Disziplinen Gynäkologie, Humangenetik und Psychologie bzw. Psychoonkologie bestehenden interdisziplinären Team arbeiten.7 Diese Stellen haben Beratung, Diagnostik und die nachfolgenden Präventionsmaßnahmen von 1997-2004 als Verbundprojekt der Dt. Krebshilfe im Rahmen einer Studie angeboten und weiterentwickelt. In diesem Zeitraum wurden über 7000 Frauen beraten und über 3000 Familien auf krankheitsassoziierte Varianten der Gene BRCA1 und 2 getestet sowie standardisierte Vorgehensweisen mit Empfehlungs- und Richtliniencharakter für Beratung, DNA-Diagnostik und strukturierte Prävention erarbeitet. Nach dem Ausstieg der Krebshilfe wurde das Angebot ab August 2005 als Kassenleistung weitergeführt (vgl. Schmutzler 2005). Der Ablauf einer solchen Beratung beinhaltet zunächst ein telefonisches Erstgespräch, um abzuschätzen, ob eine familiäre Disposition besteht, sowie evtl. die Zusendung eines Fragebogens, um einen Stammbaum zu erstellen. Hierbei wird abgeprüft, ob das für HBOC typische Erkrankungsspektrum bei Blutsverwandten einer

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Je nach Zentrum wird diese Vorgabe in simultanen oder sukzessiven Gesprächen umgesetzt, auch das Ablaufschema kann zwischen den Zentren variieren (vgl. Gerhardus et al. 2005). Mittlerweile (2012) wurde die Forderung nach Interdisziplinarität jedoch gelockert.

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Familienlinie in ausreichender Häufigkeit und damit eine Testindikation vorliegt (vgl. Mehnert, Bergelt & Koch 2003). Der Test wird durch genetische Beratungssitzungen gerahmt, die jeweils zwischen 30 Minuten und eineinhalb Stunden dauern. In einem ersten humangenetischen Informationsgespräch werden der Stammbaum und die familiäre Risikokonstellation besprochen, genetische Grundlagen vermittelt, das Angebot der molekulargenetischen BRCA-Diagnostik vorgestellt sowie mögliche Konsequenzen der Diagnostik für die weitere Lebensgestaltung der zu Beratenden benannt. Nach diesem Gespräch haben diese vier Wochen Bedenkzeit zur Entscheidung pro oder contra Testung. Nach dieser Zeit wird ggf. ein zweites interdisziplinäres Beratungsgespräch angeboten. Sollte die ratsuchende Person nicht mit der_dem Indexpatient_in identisch sein, so sollte sich auch diese Person zu einer Untersuchung bereit erklären, um den Krankheitswert einer gefundenen Sequenzvariante eindeutig belegen zu können, falls diese nicht zu einem verkürzten und damit eindeutig nicht funktionalen Proteinprodukt führt. In diesem Fall ist zusätzlich zur ursprünglich ratsuchenden Person auch der_die Indexpatient_in zu beraten und muss eine informierte Zustimmung zum BRCA-Test geben. Die molekulargenetische Diagnostik erfolgt nach der Bedenkzeit. Zwischen Blutabnahme und Ergebnis können zwischen zwei Wochen und sechs Monaten vergehen. Dies ist abhängig vom zu betreibenden Sequenzierungsaufwand. Liegt das Ergebnis vor, wird die ratsuchende Person zu einem weiteren Gespräch eingeladen, in dem das Testresultat mitgeteilt sowie bei positivem Befund Früherkennungs- und Vorsorgeoptionen thematisiert werden. Diese umfassen neben den o.g. prophylaktischen Operationen v.a. eine intensivierte Früherkennung (halbjährliche Untersuchungen mittels transvaginalem Ultraschall und Ultraschall der Brust sowie einmal jährlich jeweils im Wechsel Magnetresonanztomographie bzw. Mammographie ab 25 bzw. 30 Jahren). Ebenfalls Erwähnung finden Chemoprävention und Empfehlungen zur Lebensstiländerung bzgl. des Bewegungs-, Ernährungs- und Stressumgangs sowie das Thema der Information weiterer Familienangehöriger (vgl. Gerhardus et al. 2005). Die genetischen Beratungsgespräche folgen als psychoedukativer Prozess (vgl. Biesecker 2001) der Vorgabe, auf die zu beratende Person maßgeschneiderte Informationen (sog. tailored information) entlang der beraterischen Leitprinzipien der Nicht-Direktivität, Personenzentrierung und des informed consent anzubieten. Die autonome, selbstverantwortliche Entscheidung ist seit Mitte der 1970er Jahre Grundlage und Rechtfertigung jeder genetischen Testung sowie jeder weiterführenden Maßnahme nach Erhalt des genetischen Testergebnisses (vgl. Wüstner 2000; Schmidtke 1997; Jung 2004). Diese Praxis befindet sich im Einklang mit den standesrechtlichen Regelungen der Berufsorganisationen (vgl. Bundesärztekammer 1998; 2003; DFG 2003; Dt. Gesellschaft für Humangenetik [GfH] 2007; GfH & BVDH 2007), welche die prädiktive genetische Beratung unter Arztvorbehalt stellen und dies auch im Gendiagnostik-Gesetz (2010) verankern konnten. 2.2.3

Eine kritische Diskussion der BRCA-Praxis

Kritisch anzumerken ist zunächst, dass sich in der Konstruktion der BRCA-Diagnostik als Abfolge von Problem – Information – Entscheidung eben jene von Mol (2008) kritisierte lineare Entscheidungslogik spiegelt, die diese als dem tatsächlich

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eher zirkulär-redundanten Vorgehen widersprechend und daher als unrealistisch charakterisiert hat. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass „das BRCA-Gen“ in der o.g. deutschen Praxis eher „ein soziales Verhältnis, denn ein fixer Gegenstand“ (Palfner 2009: 314) und keineswegs nur personenbezogen festzustellen ist. Vielmehr wird es als Phänomen unter Beteiligung mannigfaltiger Praktiken und Akteur_innen (Wissenschaft, Medizin, Familien/-mitglieder) entdeckt/erfunden/konstruiert und ist mit einer Vielzahl von Begehrlichkeiten aufgeladen. Dieser komplexe Konstruktionsvorgang der relevanten materiellen Realität „BRCA-Gen“ hat zur Institutionalisierung medizinischer Brustkrebs-Gen-Praktiken geführt, wodurch die HBOC-Zentrumsstruktur als Modellfall der prädiktiven Medizin etabliert wurde und fortlaufend bestätigt wird (ebd.). Das verweist darauf, wie komplex der Umgang mit der BRCA-Variation aufgrund des aufscheinenden Interessenspektrums ist. Es trifft das zu, was Waldschmidt (1996) für die genetische Beratung formuliert hat: „Die genetische Beratung als Machtkörper […] produziert: Sie produziert genetische Abweichungen und genetische Normalität; sie produziert bestimmte Begriffe von Gesundheit, Krankheit und Behinderung. Sie produziert Wissen und Diskurse. Sie ist ein Verfahren, das einerseits zu Selektion und Diskriminierung führt, andererseits Planbarkeit und Vorhersagbarkeit herstellt.“ (Ebd.: 267)

Im konkreten Komplex der BRCA-Praktiken kommt der genetischen Beratung eine transformative und zugangsregelnde Funktion zu. Hier wird Familienwissen in Stammbaumwissen und schließlich in Wahrscheinlichkeiten umgewandelt. Das damit verbundene Versprechen, durch korrekte tailored information als „Therapeutikum“ gegen Unsicherheit zu wirkten, lässt sich jedoch hinterfragen. Obwohl eine Anzahl Studien (vgl. Gurmankin et al. 2005; Vos et al. 2010; Butow et al. 2003) darauf verweist, dass die Genauigkeit der Risikowahrnehmung durch die genetische Beratung verbessert wird, liegt sie auch nach der Beratung i.d.R. zu hoch: „The women’s postcounselling risk perceptions were signicantly lower than their precounselling risk perceptions (…) but were significantly higher than the actual risk information communicated.“ (Gurmankin et al. 2005: 523) Boenink (2008) bringt das damit in Zusammenhang, dass der Gentest nicht aus sich heraus, sondern nur unter Mithilfe der Klient_innen bei Informationsbeschaffung und -bewertung Ergebnisse liefert. Unsicherheit verschiebt und transformiert sich somit, anstatt sich zu reduzieren. Dies weist nicht nur auf eine relativ statische Risikowahrnehmung hin, sondern zudem darauf, dass die von den Beratenen angenommenen Ausgangswerte üblicherweise zu hoch sind. Hier zeigt sich das Thema gesundheitlicher Kontrolle und Verunsicherung. Schließlich ist die Annahme in Frage zu stellen, autonome Entscheidungsträger_innen würden die alleinige Vorstellung vom Klientel und damit den Ausgangspunkt genetischer Beratung darstellen: Palfner (2009) konstatiert, dass ein bestimmtes Bild von Patient_innen als Subjekten der BRCA-Diagnostik konstruiert wird: „die betroffene, hilflose und, ob des Vorhandenseins von Testmöglichkeiten beziehungsweise Testergebnissen, überforderte Frau“ (ebd: 317). Als zugleich Ratsuchende_r und Patient_in ist diese_r sowohl Teil der neuen Präventivmedizin als auch der alten Klinik, die sich in der disziplinären Doppelstruktur aus Humangenetik und Gynäko-

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logie, aus Beratung und lebenslanger Früherkennung im HBOC-Zentrum begegnen und z.T. überlagern. Während Ärzt_innen hierbei die Aufgabe zufällt, Selbsttechniken der eigenverantwortlichen Kontrolloptimierung zu (re-)präsentieren und einzuüben, wirken die Regelungen der Krankenkassen disziplinierend, da sie eine regelmäßige Früherkennungsteilnahme als Bedingung des Leistungsbezugs setzen (ebd.). Damit werden BRCA-Positive Teil eines möglicherweise lebenslangen Kontrollmilieus, in dem sich eine medizinisch kontrollierte Gegenwart ausdehnt, die aber an ein Fortschrittsversprechen für eine gesunde Zukunft und wider eine krankheitsgezeichnete Vergangenheit gekoppelt wird (vgl. Svendsen 2004). Diese synthetisierende Entzeitlichung spiegelt sich in der konkreten Beratung (vgl. Armstrong, Michie & Marteau 1998) und ist Teil allgemeiner Entgrenzungsdynamiken in der Medizin (vgl. Wehling & Viehöver 2011). Sowohl die Inklusion in ein Kontrollmilieu als auch der Gedanke der Erziehung zur Eigenverantwortung widerspricht dem Bild der Klientel als autonome „aktiv handelnde, selbständige und reflektierte Individuen“ (Waldschmidt 1999: 43), wie sie in Leitlinien o.ä. zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Palfner 2009). Im humangenetischen Diskurs ist also ein doppelter Prototyp des beratenen Subjekts als entweder defizitär-betroffene, fremdbestimmte oder kompetent-vernünftige, autonome Person feststellbar (vgl. auch Koch & Svendsen 2005), bei der kompetente Entscheidungsträger_innen als Ausgangs- und Zielpunkte humangenetischer Beratungspraxis8 gelten, während die Figur des_der hilflosen Ratsuchenden als dessen zu belehrendes „Larvenstadium“ erscheint, deren Existenz zwar schwer zu akzeptieren, jedoch – noch – real ist. Insofern stellt die Befähigung zu einer isolationistisch anmutenden Autonomie zwar eine anthropologische Grundannahme humangenetischer Praxis dar (vgl. GfH 2007)9 , die es aber im Beratungsalltag erst freizulegen und zu fördern gilt. Das kann in der Konsequenz edukative Energien freisetzen. Hier offenbart sich ein Fortschrittsgedanke, der auf den Präventionsdiskurs mit seinem Primat eines rationalen Zukunftsbegriffs verweist und auf Widersprüche zwischen wissenschaftlichem Präventionsanspruch und alltäglichen Präventionspraktiken treffen kann (vgl. Lengwiler & Madarász 2011). Entscheidungslogik, Interessenspektrum, Sicherheitsimago und autonomistische Fortschrittshoffnung können als quasi-institutionelle Herausforderungen verstanden werden, die den Umgang mit dem Gen-Wissen in den Fällen rahmen.

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Petersen (1999) beschreibt diese doppelte Vorstellung als Anlass und Voraussetzung einer erzieherisch wirkenden Beratung: Kompetenzdefizite aufweisende Klient_innen werden beraten = informiert, um so Autonomie zu erringen und als rationale, kompetente decision maker Entscheidungen entsprechend geltender präventiver Gesundheitsnormen treffen zu können. Die Strategie erschwert „eigensinnige“ Entscheidungen (vgl. O’Doherty 2009). Als Garanten dieser Autonomie gelten der aus der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Rogers abgeleitete Grundsatz der Nicht-Direktivität (vgl. Zoll 2009; Wolff & Jung 1994; Rechtien 1998) sowie das auf dem Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung basierte Recht auf Nicht-Wissen (vgl. Hildt 2009; Hartog & Wolff 1997). Beide Prinzipien sind umstritten, wobei v.a. letzteres aus ethischer (Husted 1997; Chadwick 1997; Rhodes 1998; Takala 1999; Andorno 2004; McDougall 2004; Wilson 2005) wie soziologischer (vgl. Wehling 2006) Sicht kontrovers diskutiert werden kann.

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EXKURS AUTONOMIE UND PERSON In dieser Arbeit wird ein relationaler Autonomiebegriff vertreten. Hierbei wird ein starker solcher (vgl. Donchin 2001) einem schwach relationalen (vgl. Hildt 2006; Beauchamp & Childress 2009) vorgezogen wird. Ersterer erlaubt auch den Einbezug familialer Erwägungen in Entscheidungsprozesse erlauben würde (vgl. Gilbar 2007; Ho 2008) und u.a. von Weil (2003) gefordert wird: „[B]ring the psychosocial component into every aspect of your work.“ (Ebd.: 207). Donchin (2000) beschreibt den stark relationalen Autonomiebegriff in der genetischen Beratung folgendermaßen: „[T]here is a social component built into the very meaning of autonomy. That is, the subjectcentred activities of reflecting, planning, choosing, and deciding that enter into selfdetermination are social activities […] Relational Autonomy in the strong sense is both reciprocal and collaborative.“ (Ebd.: 239)

Autonomie wird so zu einer dynamischen Balance zwischen allen interdependenten Beteiligten (Reziprozität), deren Einfluss auf Krankheits- und Gesundheitsdeutungen und -regeln, auf Erwartungen, Befürchtungen und Ressourcen von Berater_innen in Zusammenarbeit mit den zu Beratenden erarbeitet werden muss (Kollaboration). Dadurch entsteht im interaktiven Beratungsprozess ein inhärentes, relationales Wissen (vgl. Bergum 1994). Personen sind hierbei so lange als autonom zu verstehen, wie ihr Selbstbild erhalten bleibt und sie sich als authentisch erleben (vgl. Brahier 2009). Dies setzt voraus, dass die ethische Beziehung zwischen Berater_in und Klient_in drei Kennzeichen aufweist: Engagement, Anwesenheit und Dialog (vgl. Evans et al. 2004). Aus dieser relationalen Perspektive heraus ist die Forderung nach einem konsequenten Ausbalancieren von Machtbeziehungen sowie nach einem grundlegenden Ethos der Solidarität und Fürsorge zu stellen, wie es im Rahmen der feministischen Care-Ethik (vgl. Gilligan 1984; Stanford Encyclopedia 2009), aber auch im afrikanischen Ubuntu-Konzept (vgl. Louw 2001) formuliert wurde. UBUNTU beschreibt ebenfalls ein relationales Verständnis personaler Identität, da die Person von der Beziehung aus gedacht wird. Ubuntu lässt sich mit „(Mit-) Menschlichkeit“ übersetzen und vertritt die Annnahme „a person is a person through other persons“ (ebd.: 15). Es geht davon aus, dass Identität in reziproken Beziehungen vermittelt wird durch das, was Alter (oder eine Gruppe) und Ego jeweils voneinander über sich erfahren. Beide stellen somit füreinander interdependente Bewertungsfilter bzw. identitäre Möglichkeitsräume bereit, in denen sie sich gegenseitig relational zeigen und erfahren können. Louw spricht von „mutual exposure“ (ebd.: 23), wobei beide Subjekt und Objekt zugleich sind. In jeder Begegnung entsteht ein neues Ego in der dialogischen Vermittlung durch und Abgrenzung von Alter als partikulärem Anderen. Damit wird gleichzeitig der aktuell gültige Rahmen der Selbstbestimmung gesteckt. “We emerge as subjects from intricate networks of interrelatedness, from webs of intersubjectivity.“ (de Quincey 2005: 182) Die fortwährende Entwicklung beider gilt als Konstante, wobei jede Entwicklung von Alter auch notwendigerweise die nicht mehr subjektiv, sondern intersubjektiv gedachte Identität Egos betrifft, da sie zu einer Veränderung des Bewertungsfilters führt. Als explizit normativ wirksames Konzept gründet Ubuntu moralisches Verhalten auf empathische Perspektivenübernahme und Solidarität (vgl. Masolo 2004: Forster 2007).

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2.3 D AS S UBJEKT DER G ENE UND SEIN G ESUNDHEITSWISSEN Die Studien von Callon und Rabeharisoa (2004) zur erblichen Muskeldystrophie liefern einen Ansatz zum Verständnis des doppelten Prototypen: In einer öffentlichen Arena ist die Anerkennung genetisch-naturwissenschaftlichen Wissens mit einer bestimmten Form von Moralität – der Kombination von Autonomie und genetischer Verantwortung – und einem bestimmten Menschenbild – dem des sich freiwillig an Gesundheitsvorschriften haltenden rationalen decision maker – verbunden. Gleichzeitig wird diese Konstruktion durch eine Form der Kommunikation gestärkt, die sie double talk nennen. In dieser existiert ein Bereich des Denk- und Sagbaren neben einem des nicht zu Akzeptierenden.10 Hinter dieser Aufteilung der Kommunikationsbereiche tritt der doppelte humangenetische Prototyp zu Tage, der somit entscheidend mit der Anerkennung naturwissenschaftlichen Wissens verbunden scheint. 2.3.1

Das Subjekt der Gene

Die sog. psychosoziale Begleitforschung zur BRCA-Diagnostik fokussiert zumeist Fragen der psychischen Belastung, d.h. Angst, Stress und Depression, die i.d.R. mit Fragebögen quantitativ erhoben werden. Kollek und Lemke (2008; vgl. auch Hamilton et al. 2009; Hamilton, Lobel & Moyer 2009; Reichelt et al. 2008; Beran et al. 2008; Hayat Roshanai et al. 2009) fassen die Ergebnisse verschiedener, oftmals kurzfristige Effekte untersuchender Studien als inkonsistent zusammen: Manche Studien zeigen bei Variationsträger_innen wie auch Nicht-Variationsträger_innen keine Erhöhung, andere eine kurzfristige Steigerung negativer Effekte, die wieder abnehmen oder reduzierte Werte, die wieder ansteigen. Darüber hinaus finden sich ebenfalls Anzeichen für eine dauerhafte Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens. Aussagen zur Funktionalität wie bei Trask et al. 2001: „[a]nalyses revealed that approximately two-thirds of a high-risk breast cancer clinic sample perceived worries about breast cancer as interfering with their functioning across a variety of life domains“ (ebd.: 349), aber auch zum Leben mit dem Testresultat wie bei Hamilton et al. 2009: „[a]daptation to living with genetic test results indicating a disease-related mutation is an ongoing process of balancing the knowledge of risk with living a normal life.“ (ebd.: 276) lassen Fragen danach aufkommen, wie sich diese Balancierung bzw. Behinderung in der Lebensrealität tatsächlich gestaltet. Die vorliegenden quantitativen Arbeiten können jedoch ansatzbedingt nur ein unterkomplexes, perspektivisch eingeschränktes Bild der Lebensrealität bieten, da bspw. Fragebögen Themenfelder vorschreiben. Zwei qualitative deutsche Studien versprechen hier mehr Inspiration.

10 Callon und Rabeharisoa (2004) liefern zugleich ein Beispiel für eine Person, die diese Arena nicht akzeptiert und eine eigene Form von Moralität und Humanität repräsentiert. Auch Samerski (2002) verweist auf Menschen, die lachend eine pränataldiagnostische genetische Beratung und damit diese öffentliche Arena verlassen. In beiden Fällen geht die Verweigerung des Gen-Wissens notwendigerweise mit einer Verweigerung der Teilnahme an der zugehörigen Arena einher und kann daher auch nicht gleichartig verhandelt werden.

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Zur Nieden (2009) untersucht, wie BRCA-positive Frauen zum Subjekt ihrer Gene werden und stellt zwei Typen vor: die „informierte Risikomanagerin“ und die „ratsuchende Klientin“. Die informierte Risikomanagerin entspricht in weiten Teilen dem Bild der idealen autonomen und eigenverantwortlich handelnden Klientin des genetisierten Gesundheitsdiskurses. Sie entscheidet sich im Rahmen der vertragsartig gerahmten Arzt-Patientin-Beziehung nach einer rational-choice-Logik und managt das ihr bewusste Krebsrisiko präventiv proaktiv, obwohl sie trotzdem oftmals eine starke Krebsangst fühlt. Die ratsuchende Klientin hingegen erinnert eher an Palfner’s hilfloses Subjekt der BRCA-Beratung, das vor dem Testzyklus weder ein Bewusstsein seines Risikostatus aufweist, noch einen klaren Zusammenhang von Wissen und Handeln erkennen lässt (und daher gemäß der Lesart der Humangenetik einer Aufklärung bedarf). Dieser Typ weist jedoch eine indirekte agency11 auf: Obschon es die anderen (Mediziner_innen etc.) sind, die handeln und sie eher passiv bleibt, entsprechen die Geschehnisse einer grundsätzlicher Gewolltheit von Seiten der Klientin, deren aktiver Anteil die Suche nach guten, d.h. vertrauenswürdigen Mediziner_innen darstellt, denen sie sich im Rahmen einer paternalistischen Beziehung anvertrauen kann.12 Beide Typen weisen demnach „paradoxe Elemente“ auf: Während die Risikomanagerin trotz ihres proaktiven Gesundheitsverhaltens große Angst verspürt, beweist die Ratsuchende trotz ihrer vermeintlichen Passivität eine wenn auch indirekte agency. Diese Friktionen der ansonsten recht stringenten und mit dem humangenetischen Diskurs kongruenten Typologie werden jedoch nicht weiter untersucht, obwohl auf mögliche Klärungszugänge hingewiesen wird. Zudem findet in zur Niedens Arbeit der soziale Kontext der Gen-Subjekte nur minimale Berücksichtigung (s. auch zur Nieden 2008). Das empfiehlt sich jedoch eher nicht, wie Kollek und Lemke (2008) unter Rückgriff auf Chorea Huntington-Studien (vgl. Taylor 2004; Klitzman et al. 2007) feststellen: „Die Implikationen genetischer Tests für die Selbstwahrnehmung der Individuen und das menschliche Selbstverständnis im Allgemeinen müssen in einer Sprache der – sich verändernden – menschlichen Beziehungen beschrieben werden.“ (Ebd.: 76) Schmedders (2004) erstellt biografieanalytische Fallrekonstruktionen zum Leben mit einer FAP-Diagnose13 und -Erkrankung, wobei sie sich auf den Faktor der Bewältigung von Unsicherheit konzentriert, jedoch auch das in ihren Fällen auftretende Familienthema berücksichtigt. Sie kommt zu einer dreigeteilten Typologie: Der Typus „Verleugnung der Unsicherheit“ vermeidet Probleme im Zusammenhang mit Krankheitsprognose, -symptomen, -diagnose und Vererbungsmöglichkeiten konse-

11 Agency kann als selbstbestimmte Handlungsfähigkeit verstanden werden. Zu dem Begriff existiert eine ausführliche Diskussion, auf die hier aus Platzgründe nicht eingegangen wird. 12 Zur Nieden verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf die paranoide Struktur des genetischen Wissens, wonach eine Zunahme an Körperkontrolle und Wissen eine ebensolche der Abhängigkeit und des Unwissenheitsbewusstseins nach sich zieht, als auch auf die prekäre Anforderung des Risikomanagements hin, die eine gute Präventionsarbeit bei gleichzeitig geringer emotionaler Belastung fordert. 13 FAP: Familiäre Adenomatöse Poliposis, eine erbliche Darmkrebsform mit 100-prozentiger Penetranz.

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quent statt sich mit diesen auseinanderzusetzen. Krankheit und FAP-Disposition werden zum Geheimnis. Familienbeziehungen sind in allen Generationen konfliktgeladen und verleugnend, was das Bewältigungshandeln grundsätzlich prägt und familiale Unterstützung verhindert. Der Typus „konfrontativer Umgang mit der Unsicherheit“ zeichnet sich dadurch aus, das die FAP ins Selbstkonzept integriert und eine Balance zwischen Verleugnung und Umgang gefunden wird, was die konsequente Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, aber auch eine offene Auseinandersetzung im Familienkreis ermöglicht. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer über die Generationen offenen Atmosphäre der Kommunikation und gegenseitigen Verantwortungsübernahme, was mit einer Kontaktintensivierung durch die FAP einhergeht. Der dritte Typus heißt „instrumentelles Management der Unsicherheit“. Er basiert auf einem kompetenten, jedoch emotionsreduzierten Bewältigungshandeln, das im Rahmen schwieriger Familienverhältnisse entwickelt wurde, die beständige Anpassungsleistungen ohne emotionale Unterstützung erforderten, und mit einem mechanistischen Menschenbild verbunden ist. Die FAP trägt nicht zur familiären Kontaktintensivierung bei, da der paternalistische Kommunikationsstil abgelehnt wird. Im Hinblick auf die hier untersuchte Fragestellung lässt sich festhalten, dass Schmedders zwar familiale Zusammenhänge in ihrer Typenbildung vorstellt, diese jedoch nicht konsequent und mit familienbegrifflicher Trennschärfe vertieft. Durch ihre Konzentration auf den Unsicherheitsfaktor und das diesbezügliche Bewältigungsverhalten werden allgemeine gesundheitliche Deutungsmuster und Regeln, d.h. der Wissenshintergrund des Bewältigungsverhaltens, nicht ausgeleuchtet. Stattdessen arbeitet die Autorin mit einem psychologischen Inventar, das sich theoretisch an dem in der Humangenetik verwendeten orientiert und damit wenig neue Perspektiven eröffnet. Ihr erklärtes Ziel ist zudem die Unterstützung der Anpassung an die Krankheit FAP, ein Ziel das bei der „Nicht-Krankheit“ BRCA zumindest fragwürdig ist. Es ist jedoch auffällig, dass sich die dem humangenetischen Diskurs entstammenden Typen im Reigen von Verleugnung, Auseinandersetzung und Management der FAPbedingten Unsicherheit zwar wieder finden, aber nicht darin aufgehen. Dies verweist darauf, dass eine verbreiterte Perspektive und damit Offenheit bzgl. der Bedingungen des Umgangs mit genetischer Information offenbar zu einer Diversifizierung des Bildes führt. Aus dieser kurzen Zusammenschau lässt sich für die vorliegende Untersuchung der Auftrag ableiten, neben der bislang eher unzureichend berücksichtigten sozialen Dimension des Umgangs mit dem genetischen Wissen das Spannungsvolle, Ambivalente, z.T. Paradoxe zu beleuchten, das deutlich wird: ƒ ƒ ƒ

im von zur Nieden festgestellten, teilweise paradoxen Doppelbild von der ängstlichen Managerin und der indirekt initiativen Ratsuchende; in Lemkes Charakterisierung einer „aufgeklärten Ohnmacht“ (Lemke 2004a: 70) als Status BRCA-positiver Frauen; in der theoretischen Rede vom „gesunden Kranken“ (Scholz 1995: 48; Lemke & Kollek 2011) oder „unpatient“ (Jonsen et al. 1996: 622) und der entsprechend grenzwertigen Selbstpositionierung genetisierter Subjekte zwischen gesund und krank (vgl. Klitzman 2009), die auch als „potential sick role“ bezeichnet und wie folgt beschrieben wird: „a position in which the integrity of the body is left han-

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ƒ

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| DOING HEALTH ging in question whilst the individual is denied access to the privileges of both the unwell and the healthy“ (Scott et al. 2005: 1872); in der Spannung zwischen dem Gedanken, einen gefährlichen, risikobehafteten, zu kontrollierenden Körper zu besitzen und dem Gefühl, sich als feminines, natürlich geschlechtliches Körper-Selbst zu identifizieren sowie der daraus erwachsenden Notwendigkeit der Sicherung eines sozialverträglichen leiblichen Selbst mit Hilfe eines Körper-Managements (vgl. Hallowell 2000; Lemke 2004b)14; oder in der präventiven Balanceaufgabe zwischen Kontrollgewinn sowie Nutzen (z.B. bzgl. Gesundheit, familiärer Verpflichtungen, Risiko- und Angstreduktion) und Kontrollverlust sowie Schaden (z.B. bzgl. Weiblichkeit, Körperbalance, Beziehungen, Krebsschutz, Operationskomplikationen, Menopausenbeginn) im Hinblick auf aktuelle und zukünftige Selbstbilder (vgl. Hallowell 1998; Hallowell & Lawton 2002).

2.3.2

Die Integration genetischen Gesundheitswissens: Situierung, interpretative Kontextualisierung und Relationierung

Als Hinweis darauf, dass ein „persönlich-familiales Wissen“ Relevanz besitzt und mit „biomedizinisch-genetischem Wissen“ interferiert, können Studien gelesen werden, die einen als inadäquat gewerteten Umgang mit genetischen Risikozahlen auf Schwierigkeiten mit dem Konzept der Wahrscheinlichkeit (vgl. O’Doherty 2007; Bonke et al. 2005; Katapodi et al. 2010) oder ein fehlendes Verständnis für relevante Risiken und „falsche“ gesundheitsbezogene Kognitionen (vgl. Michie et al. 2005; Barth & Bengel 2003; Han et al. 2009) zurückführen. In genetischen Beratungen gegebene Informationen werden häufig als irrelevant eingeordnet oder uminterpretiert (vgl. Wolff & Jung 1994) und es kommt zu Missverständnissen beim Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturen von Wissenschaft und Lebenswelt mit ihrer je eigenen inneren Ordnung und Logik (vgl. Beck-Gernsheim 1995). Hier deutet sich eine Integrationsaufgabe an, bei der jeder Transfer von Gesundheitswissen15 das Potenzial zur Wissenstransformation beinhaltet. Diese Kontextualisierungen detailliert nachzuvollziehen dürfte zum Verständnis der fortgesetzten Eigensinnigkeit der nur

14 BRCA-bedingt veränderte Körperbilder werden häufig im Zusammenhang mit Mastektomien (inkl. Brustrekonstruktion) untersucht. Diese wirken sich i.A. mäßig negativ auf Körperbild und Weiblichkeitsgefühl aus, wobei jeweils eine Minderheit keine bzw. stark negative Effekte berichtet (vgl. Lodder et al. 2002; V. Oostrom et al. 2003; Lostumbo et al. 2004; Hopwood et al 2000). 15 Damit wird i.d.R. die Frage nach dem resultierenden Gesundheitsverhalten laut. Kollek & Lemke (2008: 88) weisen darauf hin, dass „bis heute […] keine überzeugende Evidenz für die Annahme vor[liegt], dass prädiktive Gentests Veränderungen im Gesundheitsverhalten tatsächlich fördern.“ Die Datenlage ist limitiert und verweist lediglich auf die intensivierte Inanspruchnahme von Früherkennung und eine mit dem Alter steigende Bereitschaft zur Entfernung gefährdeter Organe bei positivem Testergebnis (vgl. auch Beery & Williams 2007). Rees et al. (2007) haben festgestellt, dass prädiktive genetische Beratungen kaum Einfluss auf das allgemeine Gesundheitsverhalten haben.

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begrenzt genetisierten Subjekte und folglich auch zur Klärung der angesprochenen Ambivalenzen beitragen. Aus der Datenlage geht hervor, dass das biomedizinische Wissen in einem dreifachen Abgleichungsprozess mit bereits dem vorhandenen alltagsweltlichen Wissen in Beziehung gesetzt und dabei i.d.R. umgedeutet und in Handlungskonsequenzen übersetzt wird: Neues Wissen wird situiert, d.h. in die aktuelle Lebenssituation eingeordnet, im Rahmen von erworbenen, (familien-)biografisch narrativierten Erfahrungen und Deutungen interpretativ kontextualisiert sowie durch das familiale System und seine Beziehungen relationiert. Situierung Die Situierung von Wissen erfolgt auf der Grundlage der aktuellen biografischen Lebenssituation und deren narrativer Konstruktion (vgl. Kavanagh & Broom 1998; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003b), wobei primär16 Bezüge zur aktuellen Lebensplanung, d.h. zum Entwicklungsstandpunkt im Lebenslauf, diskutiert werden. Dieser kann gerade bei jungen BRCA-positiven Frauen im Hinblick auf die Dringlichkeit der Etablierung von Partnerschaften (mit der damit verbundenen Chance zur flexiblen Handhabung einer Kinderwunschrealisierung) komprimiert sein (vgl. Werner-Lin 2008). Dies wird von Hamilton und Hurley (2010) gestützt, die Datingstatus und Beziehungsdauer als Bedingungen resultierender Erfahrungen darstellen. Ob sich eine besondere „fatalistische“ Vulnerabilität junger Frauen in Bezug auf den Umgang mit Gen-Wissen andeutet, wird hingegen kontrovers beurteilt (vgl. d’Agincourt-Canning 2006 als Bestätigung, Hamilton et al. 2009; Bradbury et al. 2009 als Widerspruch). Werner-Lin (2007) beschreibt das Resultat der Risikowahrnehmung als „the experience of ‚the wait and the worry‘, in which participants felt increased urgency to achieve family development goals (i.e., child bearing) and limited control over environmental factors influencing when these goals could be met (i.e., meeting a life partner)“ (ebd: 335). Andere Autoren (vgl. Petersen 2006; Cox & McKellin 1999) bestätigen dies durch die Beobachtung, dass das (reproduktive bzw. Krankheits-)Potenzial genetischer Krankheiten und Dispositionen nicht beständig, sondern v.a. an bestimmten „critical junctures“ (Petersen 2006: 41) im Lebenslauf an Bedeutung gewinnt und (Risiko-)Wissen in sog. „zones of relevance“ (Cox & McKellin 1999: 125) oder „danger zones“ (Werner-Lin 2007, S. 335) im Rahmen eines Netzwerks verschiedener Interessen und Motivationen Bedeutsamkeit erlangt. Das ist der größte Gegensatz zur ansonsten vergleichbaren Erfahrung bei chronischer Krankheit. Kenen, ArdernJones und Eeles (2003b) schlagen daher vor, von chronic risk zu sprechen, dessen phasenartige Verlaufskurve ähnliche Herausforderungen bzgl. des Umgangs mit biografischen Unterbrechungen und einer unsicheren Zukunft beinhalte wie eine chroni-

16 Streng genommen wären hierzu auch aktuell gültige Verständnis-Phänomene zu zählen, wie die Einordnung prophylaktischer Maßnahmen als Nachahmung des Krankseins (vgl. Press et al. 2005 mit Bezug zur Mastektomie) oder die Bestätigung bzw. Widerlegung antizipierter gesundheitlicher Gefahren. Da diese jedoch auf biografisch erworbenen aufbauen, werden sie als Teil der interpretativen Kontextualisierung verstanden.

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sche Erkrankung. Dieser Ansatz wird als sinnvoller betrachtet als die Einführung eines neuen unpatient-Status, da Statusveränderungen in diesem Deutungsrahmen besser beschrieben werden können. Darüber hinaus zeigt sich in der Praxis, dass „the timing of the testing often coincides with developmental changes in the life of the family“ (McDaniel 2005: 35), wie dem Tod eines Angehörigen oder Hochzeits- bzw. Schwangerschaftsplänen, was ebenfalls den Blick auf Verlaufskurven lenkt. Die Kongruenz der aktuellen Lebenssituation wie der bisherigen Biografie mit dem vermittelten genetischen (Risiko-)Wissen entscheidet dabei maßgeblich über den Umgang mit diesem (vgl. Hallowell et al. 2004). Interpretative Kontextualisierung Die interpretative Kontextualisierung von Wissen im biografischen Rahmen bezieht sich einerseits auf die Relevanz der eigenen und der familiären lebensweltlichen Erfahrungen mit Krebs, auch im medizinischen Umfeld, und andererseits auf die diesbezüglich existierenden eigenen und familiären Deutungen, Metaphern und Erklärungsansätze für den Umgang mit und das Verständnis von genetischen Daten (vgl. bspw. Sontag 1980; Kavanagh & Broom 1998; Scott et al. 2005; Kenen, ArdernJones & Eeles 2003a; Rees, Fry & Cull 2001; Rees et al. 2007; d’Agincourt-Canning 2005; Hamilton et al. 2009; Katapodi et al. 2010). In familiäre Narrative, Skripte bzw. Deutungsmuster finden oftmals kulturell-gesellschaftliche Erklärungen (bspw. von Gesundheit und Krankheit) Eingang (vgl. Kavanagh & Broom 1998; Bouchard et al. 2004; Feuerstein & Kollek 2001). In individuellen Narrativen, Deutungen oder Trajekten spiegeln sich darüber hinaus auch die Erfahrungen einer bestimmten generationalen und historischen Kohorte sowie der eigenen Biografie (bspw. mit Pflege, mit Krebs als biografischer Unterbrechung oder mit der Realisierung einer familiären Krebsgefahr, vgl. zur Nieden 2009; Forrest et al. 2003; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003b), da auch Krebserfahrungen auf der Basis einer Situierung narrativiert werden (Rees, Fry & Cull 2001; Werner-Lin & Gardiner 2009). Erfahrungswissen kann dabei sowohl als empathisches, durch Perspektivenübernahme gebildetes als auch durch eigene Krankheitserfahrungen gewonnenes verkörperlichtes Wissen vorliegen und sich auf das Verstehen des Gen-Wissens auswirken (d’Agincourt-Canning 2005). Gerade bei HBOC als familiärem Krebs sind die familiär gültigen, oftmals über mehrere Generationen gesammelten krebsbezogenen Erfahrungsberichte, Deutungen und Erklärungen als „Vermächtnisse“ oder „Blaupausen“ für das auf das Gen-Wissen bezogene individuelle Verstehen und Handeln von besonderer Bedeutung (vgl. Werner-Lin & Gardiner 2009, s. auch Cox & McKellin 1999 im HD-Kontext; Schmedders 2004). Der (drohende) eigene Krebs gilt dann als Fortsetzung einer Familiengeschichte, die eine Art „road map“ (Werner-Lin 2007: 347) für den Verlauf der Erkrankung vorgezeichnet hat. Dies verweist einerseits auf die Schwierigkeit, multiple, oftmals gegensätzliche Erzählungen zu integrieren und das Vermächtnis der familialen Erfahrungen im naturwissenschaftlich-technologischen Feld unterzubringen (vgl. Finkler 2001; Werner-Lin & Gardiner 2009). Andererseits zeigen sich die in diesem Zusammenhang große Bedeutung der Familie und die daraus erwachsende Schwierigkeit, verschiedene Erfahrungsquellen zu unterscheiden.

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Bedeutsame Erfahrungen haben sich also in Form von Familiengeschichten sedimentiert (vgl. Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003a), welche Deutungen derselben beinhalten, die den Prozess des Geschichtenerzählens als interpretativen Vorgang enthüllen und zur normativen Erfahrung machen (vgl. Werner-Lin & Gardiner 2009): „Family narratives maintain stability and connection, emphasize shared meanings, and facilitate emotional communication in and outside families over multiple generations.“ (Ebd.: 201) Gerade bei Familien mit wiederkehrenden schweren Erkrankungen wie Krebs können diese Geschichten zu einer core illness narrative zusammengefasst werden, die zur Sicherung familiärer temporaler Kontinuität, Kohärenz und Kontrolle beiträgt, indem sie Bedeutungszuschreibungen vermittelt. Diese Erzählungen erklären konkret, wer warum krank wird, wie die Familie ihre kranken Mitglieder pflegt und nach welchen Kommunikationsmustern innerhalb der Familie, aber auch bei „Außenkontakten“ verfahren wird. Darüber hinaus regelt sie das Bewältigungshandeln, d.h. gesundheitsbezogene Entscheidungen und Handlungen ihrer Mitglieder. Neben Stigmatisierungen, die als Geheim- oder Teil-Erzählung erkennbar werden, treten Erklärungen in Erscheinung, die als eine Art Ergänzung des ebenfalls akzeptierten genetischen Deutungsmusters ein holistischeres oder existenzielleres Verständnis von Krebsursache und -anlass sowie der „Betroffenen“ vermitteln. Hierzu zählen Vorstellungen über krebsauslösende Faktoren (z.B. Stress) oder Anzeichen für besondere Vulnerabilität, wie z.B. übereinstimmende Erfahrungen oder körperliche Merkmale einer gesunden und einer erkrankten Person (vgl. Rees et al. 2007; Richards 1996; Scott et al. 2005). Diese Narrative werden ergänzt durch Erzählungen, in denen ein „Körnchen Wahrheit“ mit einem „Missverständnis“ vermischt wird, was häufig eine favorisierte Erklärung stützt. Diese Narrative betreffen oftmals die erinnerte Risikohöhe (z.B. in Abhängigkeit von der Anzahl der Erkrankten in der Familie), die Art der Vererbung (z.B. Krebs überspringt immer eine Generation) oder die diesbezügliche Rolle der Männer (z.B. in Form der Überzeugung, das Krebsrisiko wäre bei paternaler Vererbung der BRCA-Variation schwächer ausgeprägt). Geschichtlich festgehaltene Erfahrungen werden anhand verschiedener Aspekte als bedeutsam bewertet: Hierzu zählen v.a. die Anzahl sowie Art der Krebserfahrungen als positiv oder negativ (vgl. Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003a) in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung, dem Einfluss auf Lebensqualität und Selbstbild der erkrankten Person, der Kontrollierbarkeit, dem Alter bei Krebsausbruch und evtl. Pflege-Erfahrungen (vgl. Rees, Fry & Cull 2001; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003a). Gentests können diese illness narratives verstärken, indem sie die darin aufscheinende, erwartete Zukunft gleichsam bestätigen. „Genetic testing thus confirms membership in a family story, clearly separating those who have the gene alteration from those who do not.“ (Werner-Lin & Gardiner 2009: 203) Dies hängt selbstverständlich davon ab, was als familiale Kernerzählung verstanden wird. Laut Kenen, Ardern-Jones & Eeles (2003a) sowie Katapodi et al. (2010) fungieren auf (Familien-)Geschichten aufbauende individuelle Heuristiken als Ordnungsprinzipien, die unter der Bedingung der genetischen Unsicherheit Informationen bewerten und sortieren. Die solchermaßen ausgewählten Wissenselemente werden aus einem habitualisierten Zustand in einen kalkulierende Erwägungen zulassenden überführt, wo sie mit dem neuen naturwissenschaftlichen Wissen verschachtelt werden, um dieses in etwas subjektiv Bedeutungsvolles zu übersetzen und daraus Handlungs-

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konsequenzen abzuleiten (vgl. auch Cox & McKellin 1999). Letztlich dient das der Erstellung einer Erwartung, die von (Familien-)Erfahrung und Kontext abhängig ist. Die Autorinnen unterscheiden vier Heuristiken, die die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit von Ereignissen verstärken: zeitliche oder dramatische Verfügbarkeit von Erinnerungen, stereotypisierte Ähnlichkeit, die emotionale Hoch-, Tief- und Endpunkte betonende Peak and Ende-Rule sowie die eine krebsverhindernde Wirksamkeit suggerierende Kontrollillusion. Werner-Lin (2007) ergänzt danger zones als zeitliche Korridore erhöhter Anfälligkeit für Krebs. Diese Heuristiken lassen sich auch hinter den Prozessen der Wissensbildung entdecken, die Hamilton et al. (2009) als verschiedene Trajekte beschreiben, welche mit der Länge des Tradierungsverlaufs zunehmend emotionalisierte gesundheitliche Kontrollaktivitäten motivieren. Gerade die von Kenen, Ardern-Jones und Eeles 2003a beschrieben Heuristiken weisen trotz deren Aussage „each perspective makes sense from the perspective of the individuals involved“ (ebd.: 840) geradezu prototypisch auf einen Vergleich mit „korrekten Deutungen“, deren Richtigkeit sich an der Übereinstimmung mit naturwissenschaftlichem Wissen orientiert. Mit der zu Grunde liegenden Annahme der Wünschbarkeit eines top down Verfahrens zwischen Wissenschaft und Lebenswelt unterschätzen sie die Resistenz eines fortgesetzt relevanten familiären und/oder persönlichen Wissens und die Kreativität der Spannung zwischen lebensweltlichem Alltags- und wissenschaftlichem Wissen. Gerade diese Spannung oder Lücke („gap“) eröffnet jedoch laut Svendsen (2006) Möglichkeitsräume der Reflexion, Interpretation und Aktion mit Bezug zu genetischem Wissen, dessen soziale Einbindung die Autorin systematisch berücksichtigt und als Produkt und Produzent des Sozialen untersucht hat. „I argue that this gap constitutes a space for agency in which people make their own connections and interpretations. It is in this space that new social relations and understandings of bodies, health and kinship are crafted.“ (Ebd.: 139) „In the space in the gap between the dominant rationality about prevention and specific life circumstances it appeared that genetic information is understood through the social character of relationships and situated concerns. Rather than conceived through the lens of one specific conceptual framework, genetic information was conceived in terms of consequences and results.“ (Ebd.: 159)

Dieser von Svendsen engaging risk genannte Vorgang der Verbindung von genetischem Wissen mit anderen Bewertungsrahmen dient dazu, soziale Identitäten und Lebensperspektiven zu erkunden und eine eigene Zukunft zu imaginieren. Svendsen ist damit eine der wenigen, die eine Lebensperspektive annehmen (eingeschränkt auch Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003b) und das Hauptanliegen der BRCApositiven Menschen nicht als Kontrolle rekonstruieren (bspw. Lemke 2004a; Finkler 2001; Werner-Lin & Gardiner 2009). Die gegenseitige produktive Einflussnahme verschiedener Wissensbestände wurde von Waldschmidt, Klein und Korte (2009) anhand der Beiträge in einem OnlineForum untersucht. Interdiskursives Wissen als Prozess speist sich sowohl aus Alltags- als auch aus wissenschaftlichem Wissen, die sich dabei verbinden und zur Entstehen dieser auf Integration und Sinnstiftung ausgerichteten Wissensform beitragen.

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Im Interdiskurs werden aus dem Wissenschaftsdiskurs abgeleitet Folien der Subjektivierung bereitgestellt, deren Akzeptanz vom Alltagsdiskurs mit seiner engen Anbindung an subjektive Erkenntnisse abhängt. Dabei entstehen Brechungen des wissenschaftlichen Wissens, dessen Gestaltungskraft durch das (Alltags-)Wissen der Leute provoziert wird, was wiederum verändernd auf den wissenschaftlichen Diskurs zurückwirkt. „Das ‚Wissen der Leute‘ ist vielstimmig, komplex, eigenwillig und manches Mal auch widerspenstig; es zu ignorieren hieße, einen reichen Schatz an Erfahrungen und Kenntnissen auszublenden.“ (Ebd.: 304) Obschon diese Diskurs-Aussage nicht direkt auf persönliche Wissensverhandlungen BRCA-positiver Personen übertragen werden kann, weist sie doch in Kombination mit der geschilderten Vielfalt sowohl verschiedener familiärer Informationen und Deutungen als auch wahrscheinlichkeitsbewertender Ordnungsprinzipien und deren Interaktion mit dem naturwissenschaftlichen Wissen auf einen Umgang mit dem „neuen“ genetischen vor dem Hintergrund des „alten“ lebensweltlich-familiären Wissens hin, der als komplexer, multifaktorieller und extrem produktiver kontextualisierter (Re-)Konstruktionsprozess verstanden werden kann, in dem je nach (sozialer, lokaler, sprachlicher) Räumlichkeit unterschiedliche Wissensbestände aktiviert werden (vgl. Cox & McKellin 1999). Relationierung Die Relationierung von Wissen bezeichnet die Wichtigkeit familialer Strukturen für das Verständnis von und den Umgang mit dem Gen-Wissen – das sich im Anschluss wiederum auf die familiale Struktur auswirken kann. Hinweise hierfür finden sich in vielen Arbeiten, die sich mit unterschiedlichen Stufen des Testverfahrens beschäftigen, den relationalen Aspekt jedoch oft entweder implizit oder ohne detailliertere Erläuterung ansprechen (z.B. Werner-Lin & Gardiner 2009; Petersen 2006; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2003a; 2004a; McDaniel 2005) oder diesen anhand der Auswirkungen auf das sozial-relationale Selbst integrieren (vgl. d’Agincourt-Canning 2005). Es existieren jedoch auch eindeutigere Ergebnisse: So wird die Bedeutung eines Risikowertes für die Huntington’sche Chorea (HC) laut Cox und McKellin (1999) nicht nur in Abhängigkeit von der Familiengeschichte, sondern u.a. von Familienstruktur und Partnerschaftsbeziehung im lebensweltlichen familialen Netzwerk erzeugt. Diese Bedeutung strukturiert dann wiederum die Wahrnehmung von Begegnungen mit der Medizin sowie risikobedingte Handlungen wie die HCTestteilnahme. Die Bereitschaft zur Testteilnahme bzw. Ergebnismitteilung wird von Hallowell (1999) sowie Hallowell und Lawton (2002) mit der Wichtigkeit familiärer Verpflichtungen sowie mit familialen Beziehungen und deren Erhalt verbunden. Letzteres wird auch in dem von Douglas, Hamilton und Grubs (2009) zusammengestellten Forschungsüberblick deutlich, in dem Care-ethische Überlegungen die Ergebnismitteilung fördern oder auch verhindern können, je nachdem ob mit dieser Handlung eine autonomieförderliche Optionsvervielfältigung oder eine emotionale Gefährdung der Verwandten assoziiert wird. Auch die Reaktion auf das eigene Testresultat wird als abhängig von den Auswirkungen desselben auf andere Familienmitglieder beschrieben. Hier zeigen sich folgende Effekte: Schuld, Trauer, Ärger oder Scham angesichts der Vererbung der DNA-Variante an Kinder, Freude für diese aufgrund eines negativen elterlichen Testergebnisses, survivor guilt u.a. unter Geschwis-

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tern sowie ein gewisses Unverständnis dafür, dass andere Familienmitglieder dem Ergebnis weniger Aufmerksamkeit oder Bedeutung beimessen. Wenige Studien haben bislang explizit Effekte des Einflusses von Familienbeziehungen und Gen-Wissen aufeinander untersucht, so dass Bedarf nach weiteren Studien geäußert wird (vgl. V. Riper 2005; Douglas, Hamilton & Grubs 2009; V. Oostrom et al. 2007b; Peterson 2005). Besonders selten wurden dabei Einflüsse bestehender Familienbeziehungen auf die Auffassung und Umsetzung von Gen-Wissen betrachtet. Als einflussreich kann sich die im Zuge der Konfrontation mit dem BRCA-Test mögliche Reaktualisierung von Familienkonflikten und -geheimnissen erweisen (vgl. McDaniel 2005; Richards 1996). Darüber hinaus benennt Richards (1996) das oft anzutreffende familiale Deutungsmuster, nach dem Krankheitsanfälligkeit anhand von physischer oder charakterlicher Ähnlichkeit des als „künftig erkrankt“ Ausgewählten mit einem faktisch erkrankten Familienmitglied erkennbar ist. Diese „Vorauswahl“ spiegelt sich in den Beziehungen der beteiligten Familienmitglieder wider und kann sich sowohl auf die Bereitschaft zur Testteilnahme – Druck durch nicht Ausgewählte und Ablehnung durch ausgewählte „künftige Kranke“ – als auch im Anschluss an ein Testresultat in einer veränderten Beziehungsqualität äußern. Das Testresultat kann auch dazu beitragen, dass wiederkehrende Trauer oder Spannungen, die mit dem früheren Tod eines Familienmitglieds zusammenhängen, starke Gefühlsreaktionen auslösen, wobei diese vergangene Beziehung aufgrund des Testresultats evtl. retrospektiv geklärt wird (vgl. Sachs 1998; Douglas, Hamilton & Grubs 2009). McInerney-Leo et al. (2005), v. Oostrom et al. (2007b) sowie Stroup und Smith (2007) haben je eine von ganz wenigen systemisch ausgerichteten Studien durchgeführt. Alle Studien basieren auf Fragebögen. McInerney-Leo et al. (2005) schlussfolgern aus den vergleichsweise hohen Ausgangswerten der Dimension Kohäsion17 in ihrer Studienpopulation, dass Mitglieder von Familien mit hoher Kohäsion wahrscheinlicher einen BRCA-Test wählen und der Eindruck des Ergebnisses aufgrund dieses Faktors weniger gravierend ausfällt. V. Oostrom et al. (2007b) untersuchen prospektiv den Beitrag, den familiale Funktionalität, Abgrenzung gegenüber Eltern, familiale Kommunikation und Unterstützung in der Verwandtschaft auf individuelles psychisches Leiden angesichts eines BRCA-Tests haben. Letzteres zeigt sich verstärkt bei eingeschränkter familialer Kommunikation, losgelöst-rigidem oder verstrickt-chaotischem Familiensystem, einer wenig abgegrenzten Beziehung zur Mutter und einer geringen Unterstützung durch den_die Partner_in. Offene Kommunikation und Unterstützung in der Partnerschaft wurden hingegen als Puffer gedeutet, die eine psychologische „Anpassung“ erleichtern (vgl. auch Manne et al. 2004). Stroup und Smith (2007) befassen sich mit dem Effekt des BRCA-Testresultats auf Kohärenz und Adaptabilität. Neben gegenderten Effekten, die u.a. mit Pflegeverpflichtungen zusammenhängen, zeigt sich ein allgemeiner Trend zur Abnahme der familialen Funktionalität, für den jedoch gilt: „[T]here is no evidence to suggest that the decline is due to carrier status. In fact, it is other life circumstances that exist at the time of the genetic testing process that seem to influence the degree to which families adjust to the experience and test result.“ (Ebd.: 140) Dies verweist erneut auf die Notwen-

17 Diese misst das Ausmaß von Unterstützung, Verpflichtung und Engagement in der Familie.

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digkeit, einen größeren Kontextualisierungsrahmen in die Studie einzubeziehen, um das komplexe Geschehen nachvollziehen zu können, wobei Peterson (2005) den hohen Stellenwert einer systemischen Perspektive unterstreicht. McInerney-Leo et al. (2005) haben ebenfalls die wahrgenommenen Auswirkungen des BRCA-Testangebots und -Ergebnisses auf die systemischen Dimensionen Konfliktverhalten, emotionale Expressivität und Kohäsion untersucht, d.h. die Auswirkung von Wissen auf Beziehung. Sowohl bei Testteilnehmenden als auch NichtTeilnehmenden haben sich allein im Zusammenhang mit dem Testangebot die Kohäsionswerte erhöht, wobei das bei Nicht-Teilnehmenden sogar noch stärker der Fall war als in der anderen Gruppe. Dieser Umstand wurde von den Autor_innen als ein verbindender Einfluss gedeutet, der bereits vom bloßen Angebot eines BRCA-Tests auf Familienbeziehungen ausgeht. Auch die Expressivität hat sich bei ersteren verstärkt. Bei BRCA-Positiven hat diese sich im Gegensatz zu BRCA-Negativen vermindert. Dies wird entweder als gehemmte Kommunikation mit negativ getesteten Familienmitgliedern oder als Form der Bewältigung gedeutet, die mögliche negative Emotionen anderer Familienmitglieder verhindert, indem das Thema eher mit NichtFamilienmitgliedern besprochen wird. Der Aspekt der Informationszurückhaltung aus Sorge wurde auch in anderen Studien gefunden (vgl. Forrest et al. 2003; Clarke et al. 2005). Das Testergebnis hatte allerdings keine Auswirkungen auf die Kohäsions- und Konfliktdimension. Möglicherweise zeigt sich hier eine Schwäche quantitativer Daten. Ein weiteres systemisch orientiertes Team sind Sobel und Cowan (2000), die im Rahmen einer Interviewstudie mit Mitgliedern von HC-Familien Gebiete eingeschränkter familialer Funktionalität ermittelten. Zunächst einmal hat sich in einem Großteil (81 Prozent) der Familien gezeigt, dass der Gen-Test die Zugehörigkeit und Loyalität der Familienmitglieder zur Familie mit ihren Werten, Regeln und Ansichten abprüft. Darüber hinaus stellt die Hälfte der Studienteilnehmenden Veränderungen familialer Kommunikationsmuster fest. Schließlich haben 56 Prozent der Familienmitglieder Veränderungen von Familienbeziehungen berichtet, die mit dem Testresultat und antizipierten Pflegezukünften in Zusammenhang stehen. Weitere Beziehungsbeeinflussungen beschreiben Douglas, Hamilton und Grubs (2009): Innerfamiliär unterschiedliche Bewältigungsstile, Testinteressen, Lebenslagen, Ansichten zu den Testauswirkungen sowie Unsicherheiten oder divergierende Ansichten bzgl. der kommunikativen Behandlung des BRCA-/Krebs-Themas können Beziehungen schwächen. Allerdings können Beziehungen auch gestärkt werden, was mit einem Element des Trostes und der Verbindung aufgrund der geteilten familiären DNASequenz sowie der sich daraus ergebenden Möglichkeit der gemeinsamen Krebsbewältigung im Ernstfall assoziiert wird. Andere Studien haben auch Familien ohne Beziehungsveränderungen festgestellt, was ggf. mit einer bereits erfolgten Medikalisierung zusammenhängt (vgl. Horstman & Smand 2008). Douglas, Hamilton and Grubs (2009)18 haben eine detailliertere thematische Analyse der Auswirkungen eines BRCA-Testergebnisses auf Familiendynamik und

18 Ihre Funde werden durch weitere Quellen gestützt (vgl. Werner-Lin 2007; Horstman & Smand 2008; McDaniel 2005: Norris et al. 2009; zur Nieden 2008; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2004a; Steiner, Gadzicki & Schlegelberger 2009; V. Riper 2005).

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-beziehungen vorgelegt. Sie werden von den Autor_innen mit der familiären Krebserfahrung, den resultierenden Geschichten und Heuristiken, den Prä-TestBeziehungen, dem Bewältigungsverhalten und dem Kommunikationsmuster in Verbindung gebracht. „It appears that as BRCA testing impacts one aspect of a relationship between family members, a ripple effect occurs, influencing other aspects as well.“ (Ebd.: 430) Neben fehlenden Beziehungsveränderungen haben die Autor_innen folgenden Einflussnahmen aufgezeigt: Zunächst einmal werden eigene Überlegungen aus einer Familienperspektive neu gerahmt (z.B. Reflexion des Einflusses des individuellen BRCA-positiven Status’ auf die Familie), gestorbene Familienmitglieder wandeln sich zu Motivationsquellen für z.B. Verhaltensweisen und eigene Gefühle werden zum Schutz der eigenen Person, eines Verwandten oder einer Beziehung zurückgehalten. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sich die familiale Rolle der ersten BRCA-positiv diagnostizierten Person oftmals verändert. Diese Rolle ist allerdings in gewissem Ausmaß und aus gegebenem Anlass übertragbar. Sie beinhaltet die Verpflichtung, die Mitglieder der Familie zu informieren – was allerdings aufgrund der enormen Auswirkungen der Information z.T. als Bürde empfunden wurde – sowie in einigen Fällen die Verantwortung, als Vorbild für den Umgang mit BRCA/Krebs zu fungieren. Foster et al. (2004) und Hallowell et al. 2003 weisen in dem Zusammenhang darauf hin, dass normative Konflikte nicht nur die Index-Patient_innen, sondern auch andere Familienmitglieder betreffen. Als weiterer Effekt entstehen Gefühle der stärkeren oder schwächeren Verbundenheit einzelner mit bestimmten anderen Familienmitgliedern. So werden spezielle Verbundenheitsgefühle mit anderen – lebenden oder bereits toten – BRCA-positiven Familienmitgliedern benannt, wobei ein BRCA-positives Testresultat dann als Erleichterung empfunden werden kann, wenn bereits im Vorfeld eine starke Verbindung zu einer BRCA-positiven Person besteht. BRCA-positive Familienmitglieder können auch als Gruppe, als „Krebs-Club“, agieren und anderen BRCA-negativen Familienmitgliedern ein Gefühl der Isolation vermitteln, was offenbar nicht durch „Gegen-Gruppierungen“ BRCA-Negativer beantwortet und ggf. aufgehoben wird. Andererseits kann auch ein positives BRCA-Ergebnis Isolationsgefühle hervorrufen, wenn es innerfamiliär an der gewünschten Unterstützung mangelt, was mit einem unterschiedlichen Bewältigungsverhalten oder verschiedenen Gesundheitsentscheidungen zusammenhängen kann. Horstman und Smand (2008) weisen in dem Zusammenhang darauf hin, dass diesbezügliche Selbstbestimmung zwar i.d.R. generationsintern geachtet wird, sich dies jedoch ändern kann, sobald Nachkommen betroffen sind. Eltern gelten als verantwortlich für die Informierung ihrer Kinder. Diese Autorität kann im Bedarfsfall vertikal weitergegeben werden und obliegt den Frauen (vgl. Forrest et al. 2003). In diesem Fall, d.h. wenn die Zukunft der Familie als Verwandtschaftsverband auf dem Spiel steht, wird das Verantwortungstopos über das der Autonomie gestellt, was Beziehungen wiederum stark beeinflussen kann. Die im Zusammenhang mit dem Umgang mit Gen-Wissen nicht selten auftretende Anklage anderer ob der von den Betreffenden (vermeintlich) bewiesenen geringen Verantwortlichkeit dient letztlich auch der Selbstdarstellung und dem Nachweis von „responsible/moral selfhood“ (Arribas-Ayllon, Sarangi & Clarke 2008: 1521). Genetische Beratung fungiert ebenfalls häufig als Katalysator zur Veränderung von Familienbeziehungen und führt bspw. zur Etablierung neuer Kontakte (vgl. Svendsen 2006).

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Schließlich beeinflusst der BRCA-Test laut Douglas, Hamilton und Grubs (2009; auch Gaff et al. 2007; Wilson et al. 2004) Familiendiskussionen. Hierbei kann die Kommunikation offen verlaufen, wobei der Test Diskussionen speziell über Krebs, Krebsrisiko und dessen Bewältigung, aber auch solche allgemeiner Natur fördert und Beziehungsmöglichkeiten eröffnet. Offene Kommunikation kann aber auch auf bestimmte Teile der Familie beschränkt bleiben, da sie bei manchen Familienmitgliedern auf Ablehnung stößt. Somit wird die familiäre Kommunikation in manchen Fällen aufgrund des BRCA-Tests auch direkt oder indirekt geblockt und reaktiv oder proaktiv selbst zensiert oder verläuft über Dritte, was familiales Konfliktpotenzial birgt. Manche erleben die Familienkommunikation auch als unverändert (vgl. auch Kenen, Ardern-Jomes & Eeles 2004a; Forrest et al. 2003; Peters et al. 2011). Des Weiteren werden hier Krankheitserfahrungen narrativ fixiert und tragen so zur Ausbildung und Verdeutlichung einer Familiendynamik bei, die sich wiederum auf deren Narrativierung auswirkt (vgl. McDaniel 2005; Werner-Lin & Gardiner 2009; Kenen, Ardern-Jones & Eeles 2004b; 2003a). Gerade die familiäre Kommunikation wird häufig primär, geradezu stellvertretend untersucht, wenn von einer Familienbeziehungsstudie die Rede ist (vgl. McInerley-Leo et al. 2005). Der Blick auf Familienbeziehungen wird oftmals mit dem Anspruch verknüpft, die familiale Vermittlung von in der genetischen Beratung präsentiertem Gen-Wissen zu erleichtern, das Recht auf (Nicht-)Wissen der Familienmitglieder zu wahren und „Missverständnisse“ zu „beseitigen“ (vgl. Steiner, Gadzicki & Schlegelberger 2009). Allerdings fällt auf, dass „Familie“ im umfassenden Sinne in Deutschland trotz vorhandener Überlegungen (vgl. auch Sundermeier & Joraschky 2003) noch nicht in der Praxis angekommen ist, wenn selbst ein so versierter Verfechter sozialer Beratungskompetenz wie Gerhard Wolff (2007) eine Rückkehr zum Rogers’schen Beratungsansatz als den Bedürfnissen der Klient_innen ausreichend angemessen betrachtet. In englischsprachigen Beratungsansätzen (vgl. bspw. Eunpu 1997; Evans 2006) sowie in der dortigen Entwicklung und Anwendung spezieller diagnostischer und Forschungswerkzeuge (vgl. V. Riper 2005; Baumann 2006; McDaniel 2005; Werner-Lin & Gardiner 2009; Peters et al. 2004; Smith et al. 2011) findet der Familienaspekt hingegen mittlerweile Berücksichtigung. Hier scheint sich Kenens, Ardern-Jones’ und Eeles’ (2003a) Forderung bemerkbar zu machen, die Familie als „secondary clients“ (ebd.: 859) neben und in Beziehung zum Individuum als „primary client“ (ebd.) als Ressourcen in der genetischen Beratung zu berücksichtigen. Die vorgestellten Studien thematisieren Familienbeziehungen i.d.R. eher monolithisch, d.h. ohne zwischen einzelnen Untergruppierungen zu differenzieren. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass gerade diesen Subgruppierungen eine spezielle Bedeutung zukommt. Hierzu existiert lediglich eine Arbeit von Kenen, Ardern-Jones und Eeles (2004b), die ein Beziehungsspektrum von Frauen aus HBOC-Familien zu ihren Freundinnen, Schwester, Brüdern, männlichen Partnern und Kindern untersucht haben. Während sich Freundinnen als durchweg sehr unterstützend erweisen, werden die i.d.R. positiven Beziehungen zu den Schwestern bisweilen von der Schwierigkeit des familiären BRCA-/Krebs-Themas beschränkt. Die Brüderbeziehungen gestalten sich krebsbedingt als am schwierigsten, da Brüder geradezu an einem anderen Ort zu existieren schienen. Männliche Partner erweisen sich hingegen als weit mehr unterstützend, obwohl hier Einschränkungen auftreten (vgl. auch Manne et al. 2004). In den protektiv gestalteten Mutter-Kind-Beziehungen überwiegt die Sorge der Mütter

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darüber, wann ein Mädchen – Jungen werden weit weniger informiert – mit wie viel Informationen zum familiären Krebs umgehen kann. EXKURS BRCA ALS „FRAUENTHEMA“ Das BRCA-Thema wird i.d.R. als „Frauenthema“ angesehen. Das führt dazu, dass Frauen eine besondere diesbezügliche Aufmerksamkeit zuteil wird, die den gender bias in der genetischen Forschung und Praxis spiegelt (vgl. Happe 2006; Palfner 2009), ihnen aber auch mehr Verantwortung zuteilt. Diese beruht zumindest teilweise auf gegenderten allgemeinen moralischen Rollenvorstellungen (vgl. d’AgincourtCanning 2001). Laut Hallowell et al. (2003) suchen Frauen aber gerade auch im BRCA-Kontext eine Balance zwischen intra- und extrafamilialen Rollen und Verantwortlichkeiten, da sie sich nicht nur für sich, sondern auch für den Erhalt und die Pflege der Familienbeziehungen sowie des Gesundheitszustandes anderer Familienmitglieder aller Generationen verantwortlich fühlen. Als genetic housekeeper sind Frauen letztlich „die primären Adressaten des Diskurses der genetischen Verantwortung“ (Kollek & Lemke 2008: 253). Das führt zu einer Mehrheit von zwei Dritteln bei der Beratungsteilnahme und von 2:1 bei der Inanspruchnahme von Gentests. Ihnen fällt daher oftmals die Aufgabe zu, Testergebnisse sowie die Familiengeschichte der hereditären Erkrankung in die Familie zu tragen und dort horizontal und vertikal zu verbreiten (vgl. Bloch et al. 1989; Evans et al. 1997; Richards 1996; Cox & McKellin 1999). Diese Verantwortung bedeutet zugleich auch eine Steigerung der (familienbezogenen) Entscheidungsmacht (vgl. d’Agincourt-Canning 2001). Der Familienkontext, seine Dynamik und Beziehungsstruktur erweisen sich mithin als bedeutsam für die Annahme des BRCA-Tests sowie für den Umgang mit den erhaltenen Informationen. Beziehungen beeinflussen Wissen. Gleichzeitig bleibt das familiale System als Ganzes sowie die dieses konstituierenden Familienbeziehungen nicht unbeeinflusst von genetischen Informationen. Wissen beeinflusst Beziehungen. Jedoch ist die Datenlage hier in beide Richtungen wenig differenziert – Einflussfaktoren werden bspw. nebeneinander gestellt, ohne deren Querverbindungen ausführlich zu erhellen (vgl. v. Ostroom et al. 2007a; McDaniel 2005) – wobei der Einfluss von Wissen auf Beziehungen besser untersucht ist als umgekehrt (vgl. Kollek & Lemke 2008). Forschungsbedarf wird allenthalben angemahnt. Darüber hinaus ist nicht nur die schiere Datenmenge ungenügend, sondern auch die Genauigkeit von Begriffsbestimmungen zur Familie und die daraus resultierende Differenziertheit der Untersuchungen (vgl. Gerhardus et al. 2005; Mehnert, Bergelt & Koch 2003; Barth & Bengel 2003; Kerr 2004; Norris et al. 2009; Douglas, Hamilton & Grubs 2009). Zudem bleibt der situative Aspekt unberücksichtigt. Es fehlen des Weiteren Studien, die nicht nur kategorisierende Faktoren aufzählen, sondern auch systematisch sequenzielle Zusammenhänge untersuchen und Fallrekonstruktionen somit nicht nur illustratorisch, sondern strategisch anwenden. Diese Leerstellen der Forschung werden im Laufe der vorliegenden Studie angegangen. Da sich jedoch immer auch der gesellschaftliche Diskurs in konkrete Familienverhältnisse einschreibt, wird abschließend der zugehörige Forschungsstand zu Genetik und Familienkonzept referiert.

BRCA-G ENE

2.4 D IE

MOLEKULARE

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F AMILIE

Die Auseinandersetzung um das Familienkonzept verläuft auf einer medial inszenierten und medizinisch-institutionell inspirierten gesellschaftlichen Diskursebene. Das resultierende, als „medikalisiert“ bzw. „genetisiert“ charakterisierte biologistische – d.h. die Familie als rein biologische, nicht soziale Einheit konstruierende – Konzept wird als Angebot im Rahmen der BRCA-Praxis an die Klient_innen weitergereicht. Kollek und Lemke (2008) stellen dar, dass sich humangenetisch-technisches Wissen je nach Anwendung sowohl schwächend als auch stärkend auf ein rein biologistisches Familienkonzept auswirken kann: Im Rahmen der Reproduktionsmedizin lösen die Phänomene der Leihmutterschaft und der Inseminationskinder die biologische von der sozialen Elternschaft und entgrenzen – zusammen mit dem Vorgang der Adoption – biologische Familienbande (vgl. GID 2008), so dass „neue“ oder wie Funcke und Hildenbrand (2009) dies nennen „unkonventionelle“ Familien entstehen. Im Gegensatz dazu wird die biologische Elternschaft durch diagnostische, identifikatorische oder prädiktive Gentests betont. Letzteren scheint mehr Gewicht beigemessen zu werden, da Gentests „als eine Art Wahrheitsmaschinerie“ betrachtet werden, „die die ‚echten‘ Familienbande ans Licht bringt“ (Kollek & Lemke 2008: 162). Diese hat somit das Potenzial, eine durch die bloße Möglichkeit des Tests auf die Probe gestellte Genealogie zu bestätigen. In Hinblick auf die Vorstellung von „Familie als natürlich-biologische[r] Lebens- und Reproduktionseinheit“ wird genetischem Wissen eine „konservative Funktion“ (ebd.: 168) zugeschrieben, die auch gegen gesellschaftliche Individualisierungstendenzen gerichtet ist. Finkler (2001) stellt in ihrer Studie über BRCA-Positive, HBOC-Erkrankte sowie Donor-Inseminations-Kinder dar, dass die Verbreitung des Konzeptes der biologischgenetischen Familie über die genetische Beratungspraxis hinaus bis in die medizinische Basisversorgung dazu beigetragen hat, dass eine familienbestimmmende genetische Vererbungsideologie bedeutsam geworden ist, die mit dem Sonderstatus der DNA zusammenhängt: „In present-day American society […] DNA becomes a central repository of human memory by assuming agency and true ontological status with its alleged capacity to ‚remember‘ people’s ancestors in a way their living memories may have forgotten.“ (Ebd.: 245) Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine Medikalisierung von Familie und Verwandtschaft stattgefunden hat, der Medizin folglich die Deutungsmacht darüber zufällt, wer oder was Familie ist. Diese Überlegungen sind an zwei Punkten kritisiert worden: Richards (2004) weist darauf hin, dass die DNA historisch gesehen kein völlig neuartiges Gebilde mit einem ebenso neuen ontologischen Status sei, sondern vielmehr ein Nachhall der viktorianischen Kultur vom guten und bösen Blut. Darüber hinaus wurden medizinische Familiengeschichten unter Verwendung einer ähnlichen Symbolik in Stammbäumen im Rahmen der eugenischen Ideologie des 20. Jahrhunderts im Dienste von „eugenic moral tales“ (ebd.: 487) aufgestellt und veröffentlicht. Er bezeichnet es als unhistorisch, sich auf Stammbäume als entscheidende klassifizierende Technologie zu fixieren „to make visible the invisible knowledge of the family and thus constitute the family and ‚family disease‘ into an object of medical intervention“ (Sachs 2004: 26). Daher sei die Folgerung einer neuartigen Medikalisierung bzw. Genetisierung von Verwandtschaft abzulehnen. Dem ist zunächst zu entgegnen, dass geteilte DNA im

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Gegensatz zu geteiltem Blut wesentlich spezifischer und eine „genetifizierte“ Mitgliedschaft daher auch „exklusiver“ ist. Des Weiteren erscheint Richards’ Kritik auch daher als unzutreffend, da zum einen eine qualitative Umwertung von Stammbäumen weg von moralisch-psychologischen hin zu medizinisch-biologischen Kategorien und Lesarten stattgefunden hat. Zum anderen ist eine quantitative Ausweitung derselben angesichts der verstärkten Suche nach den genetischen Grundlagen sog. Volkskrankheiten einerseits sowie des Bedeutungszuwachses, der Gesundheit gesellschaftlich beigemessen wird, andererseits festzustellen. Es hat folglich sowohl ein stammbaumbezogener Bedeutungs- als auch Anwendungswandel stattgefunden. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass Stammbäume zwar das Potenzial besitzen, Individuen zu Elementen des „collective, diseased body“ (Sachs 2004: 27) eines rein biologisch determinierten familialen Beziehungsnetzwerkes zu machen und damit Praktiken des familialen In-Beziehung-Setzens und der Erfahrung und Wahrnehmung von Familie zu verändern. Das setzt jedoch die Realisierung des neuen Familienkonzeptes im Rahmen sozialer Kontakte zwischen konkreten Verwandten voraus, die Svendsen (2006: 154) „processes of kinning“ nennt. Hierdurch kann „das Biologische“ in Familienbeziehungen umgewandelt und als Kategorie signifikant werden, die un-/bekannte Familienmitglieder aufeinander verweist und zentripetal in das Familiensystem hinein zieht (sog. Refamilialisierung) oder diese voneinander trennt (vgl. Pelters 2008).19 Featherstone et al. (2005) weisen als weiteren kritischen Punkt darauf hin, dass „Medikalisierung“ ein relativ vage definierter Begriff ist, dessen Verwendung bei Finkler (2001) nahe legt, dass das „what Finkler claims to identify is less the ‚medicalisation of kinship‘ than the ‚geneticization of medicine‘“ (ebd.: 14), was – wie anzufügen wäre – den BRCA-Test zu einem Werkzeug eben dieser Genetisierung macht. Diese Kritik erscheint auch angesichts der obigen Ausführungen zur familiären core illness narrative überzeugend, die nahe legt, dass Familien bzw. Verwandtschaftskreise bereits durch die Erfahrung wiederkehrender schwerer Erkrankungen medikalisiert wurden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass prädiktive genetische Tests auf einem im gesellschaftlichen Diskurs gestärkten biologistisch-genetischen Familienkonzept basieren. Damit beinhalten sie das Potenzial der Genetisierung (oder angesichts der Anwendung eines molekulargenetischen Tests Molekularisierung) von Verwandtschaft. D.h. Mitgliedschaft wird mittels der Feststellung geteilter DNA-Sequenzen neu bestimmt, was sich auf die Qualität der Beziehungen auswirken kann sowie darauf, wer als zur Familie gehörend begriffen wird. Insofern wird der von Nelkin und Lindee (1995) eingeführte Begriff der molekularen Familie für die im Laufe der BRCA-Testpraxis präsentierte Familie übernommen. Der Prozess der Medikalisierung hingegen bleibt dem Vorgang der medizinisch inspirierten Familiendeutung an-

19 Das Verwiesen- oder gar Angewiesensein auf Verwandte wird bei der Informationsbeschaffung und -weitergabe während der Stammbaumerstellung (vgl. Richards 1996) genauso aktuell, wie bei der Suche nach Indexpatient_innen, der Risikowahrnehmung und Entscheidung für oder gegen den BRCA-Test bzw. für oder gegen die Kenntnis des Ergebnisses und dessen Veröffentlichung im Familienkreis sowie bei der Entscheidung bzgl. medizinischer Folgemaßnahmen (vgl. Douglas, Hamilton & Grubs 2009).

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gesichts von Krankheit vorbehalten und kann der Genetisierung der sodann molekularen Familie zeitlich wesentlich vorausgehen. EXKURS BIOSOZIALITÄT UND FAMILIE Das Konzept der Biosozialität (vgl. Rabinow 2004) scheint auch die molekulare Familie als genetisch überformte Gemeinschaft zu inkludieren (vgl. Svendsen 2004; Richards 2004), da hier die Gelegenheit zur Bildung neuer kollektiver Identitäten und Praktiken besteht: „In der Zukunft wird die Genetik […] sich […] in ein Zirkulations-Netzwerk von Identitätsbegriffen und Restriktionsstellen verwandeln, durch das eine neue Form von Autopoiesis entstehen wird, die ich >Biosozialität< nenne.“ (Rabinow 2004: 139) „[…] man [kann] sich soziale Gruppen vorstellen, die sich um Chromosom 17, Lokus 16.256, Position 654.376 und Allele mit Guanin-Vertauschung bilden. Solche Gruppen werden über medizinische Spezialisten, Labors, Geschichten und Traditionen ebenso verfügen, wie über eine ganze Anzahl pastoraler Betreuer, die ihnen behilflich sein werden, ihr Schicksal zu erfassen, zu teilen, zu beeinflussen und zu ‚verstehen‘.“ (Ebd.: 143/44).20

Die Mitglieder dieser neuen Vergemeinschaftungsformen entwickeln sowohl Repräsentationsmuster als auch eine Identitätspolitik, so dass sie eben keine passiven Objekte medizinischer Interventionen darstellen, sondern vielmehr aktiv an der Gestaltung der technologisch-wissenschaftlichen Verhältnisse teilnehmen, denen sie ihre Bildung verdanken (werden). Diese Kombination aus biomedizinischer Wissensproduktion, daraus erwachsender veränderter Selbstverhältnisse und politischem Aktivismus mit Lobbyarbeit und Richtlinienkompetenz wird mit dem Begriff biological oder genetic citizenship bezeichnet und verweist auf das Feld der Selbsthilfegruppen, Patient_innenorganisationen und Angehörigenverbände (vgl. Lemke 2007), d.h. auf sozial wenig tradierte Kollektive. Im Vergleich zur Familie besitzen diese neuen Vergemeinschaftungsformen damit keine über Generationen tradierten Strukturen, Milieus etc., welche die familiale Verbindungs- und Verpflichtungsbasis formen. Auch stellt gesellschaftspolitischer Aktivismus kein wesentliches Strukturmerkmal von Familien dar. Schließlich bestimmt in biosozialen anders als in familialen Gemeinschaften das technologischwissenschaftliche Wissen die Mitgliedschaft zum Kollektiv, was sich bei letzteren wohl auf die Integration anderer, lebensweltlicher Wissensbestände auswirkt. Insofern lässt sich festhalten, dass die molekulare Familie als Sonderfall einer biosozialen Gemeinschaft im Rabinow’schen Sinn zu betrachten ist.

20 Rabinow verweist mit dieser Angabe darauf, dass sich soziale Gruppen z.B. aufgrund des Austausch einer Base an einer von 3 Milliarden Stellen des Genoms bilden könnten.

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2.5 DAS RESULTIERENDE ANLIEGEN DER ARBEIT Das Subjekt der BRCA-Gene präsentiert sich in der Literatur als etwas Spannungsvolles und z.T. Paradoxes, das zwischen Macht und Ohnmacht, Gesundheit und Krankheit, Kontrolle und Kreativität frei zu flotieren scheint. Diese Spannungsfelder im Rahmen von Fallrekonstruktionen differenziert dazustellen und somit gesellschaftlich akzeptierte Wege nachzuzeichnen, wie mit dem prädiktiven Gesundheitswissen adäquat umgegangen werden kann, macht sich die Studie zur Aufgabe. Aus der Literatur geht hervor, dass ein BRCA-Testergebnis in Abhängigkeit von der Lebenssituation, den familiären und persönlichen Deutungen und Erfahrungen als Interpretationskontext sowie der Ausgestaltung familialer Relationen verstanden wird. Es kommt hier zu einem komplexen und produktiven (Re-)Konstruktionsprozess zwischen dem „neuen“ naturwissenschaftlichen und dem „alten“ lebensweltlichen Gesundheitswissen. Wissenstransfer (z.B. in genetischen Beratungen) kann somit nur Wissenstransformation sein. Die hierbei relevanten Dimensionen der Situierung, interpretativen Kontextualisierung und Relationierung von Wissen werden in dieser Studie im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der vorgestellten Studien alle bedacht und in ihrem konstruktiven Zusammenwirken untersucht, um zu einem besseren Verständnis der fluiden und veränderlichen Bedeutung des Gen-Wissens im Hinblick auf die „Gesundheit“ der befragten Frauen zu gelangen. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei der molekularen Familie sowie der Dimension der Relationierung zuteil werden, da Untersuchungen zum wechselseitigen Einfluss von Familienbeziehungen und Gen-Wissen als eindeutig fehlend markiert wurden. Die Untersuchung der Auswirkungen einer familialen Struktur und Deutung auf das Verständnis und den Umgang mit Gen-Wissen als auch der Wirkung von Gen-Wissen auf Familie unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen biografischen Situation der Beteiligten stellt mithin den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit dar. Im folgenden Kapitel wird daher der Begriff der Familie und das auf diese angewandte, familiensoziologisch orientierte analytische Handwerkszeug erläutert, dem somit aufgrund der obigen Schwerpunktsetzung der Vorzug vor einem wissenssoziologischen Instrumentarium eingeräumt wird – selbstredend ohne der Wissenssoziologie ihre grundlegende Deutungsberechtigung absprechen zu wollen.

3. Familie als Verwandtschaft, Struktur, Solidargemeinschaft und Milieu

Historisch gesehen gilt das Diktum von der Familiensoziologie als „Krisensoziologie“, die seit ihrer Herausbildung im 19. Jahrhundert familiale Veränderungen eher negativ als Verluste denn neutral als Wandel darstellt (vgl. Huinink & Konietzka 2007; Hettlage 1992; Wagner 2003), obschon auch positive Diagnosen – z.B. eine ungebrochenen Attraktivität von Familie (vgl. Beck & Beck-Gernsheim 1990) – vorliegen. Diese Spannbreite der Bewertung der Entwicklung von Familie verweist auf den hohen Grad ideologischer Färbung, die dem Thema zu Eigen ist. Letztlich stellt und stellte die Familie eine strukturell plural gestaltete und als solche wandelbare Lebensform dar (vgl. Bertram 2003), die symbolisch stark aufgeladen ist, jedoch auf invariaten Strukturmerkmalen basiert (vgl. Oevermann 2004). Wandel und Struktur stellen damit die zwei Polen dar, zwischen denen sich die Familie als Konzept und Konkretion entwickelt. Vor diesem Hintergrund wird die folgende, umfassende Familiendefinition angenommen: „Familien sind im Vergleich zu anderen Lebensformen gekennzeichnet: 1. durch ihre ‚biologisch-soziale Doppelnatur‘ (König 1946/2002), d.h. durch die Übernahme der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion neben anderen gesellschaftlichen Funktionen, die kulturell variabel sind, 2. durch die Generationsdifferenzierung (Urgroßeltern/Großeltern/Eltern/Kind(er)) und dadurch dass 3. zwischen ihren Mitgliedern ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis besteht, aus dem heraus die Rollendefinitionen festgelegt sind.“ (Nave-Herz 2006: 30)

Diese Definition benennt zwei Schwerpunkte: Einerseits weist sie durch die Nennung des Mehrgenerationenelements sowie familialer Rollen auf die strukturelle, familiale Zusammensetzung und Dynamik hin, andererseits führt sie eine funktionale Ebene ein, die aus gesellschaftlicher, interaktionistischer oder individueller Perspektive betrachtet werden kann (vgl. Huinink & Konietzka 2007). Verschiedene theoretische Fundamente sind dazu geeignet, unterschiedliche Aspekte des Funktions- und Strukturkanons zu beleuchten. Da in dieser Arbeit die Frage fokussiert wird, wie Familie als interaktionales System mit den aus einem positiven Gentestresultat erwachsenden neuen funktionalen Anforderungen umgeht, erscheint ein familiensystemtheoretischer Ansatz geeignet. Dieser erläutert, wie Fami-

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lie eine eigenen Wirklichkeit als soziales System herstellt und als Subsystem des Gesellschaftssystems im Austausch mit anderen Teilsystemen im Spannungsfeld von systemexternen und -internen Anforderungen, Erwartungen und Bedürfnissen durch die Umsetzung funktionaler Ansprüche zur eigenen wie auch zur Bestandssicherung der Gesellschaft beiträgt (vgl. Nave-Herz 2006). Der Zugang wird zum Nachvollzug des Bedingungszusammenhangs relationaler Sinnformen genutzt, die „in einzelnen Sozialbeziehungen als den kleinsten Einheiten der Netzwerke [emergieren]“ (Mützel & Fuhse 2010: 8).

3.1 F AMILIE

ALS

V ERWANDTSCHAFTSGRUPPE

Verwandtschaftsbeziehungen und andere soziale Netzwerke unterscheiden sich von Familienbeziehungen und bilden den Hintergrund für das, was als „eigentliche Familie“ betrachtet wird. 3.1.1

Formale Verwandtschaftsbeziehungen

„Die Verwandtschaft bezeichnet sowohl die mit uns verwandten Personen, […] ob es sich nun um [direkte oder indirekte, A.d.V.] Blutsverwandte oder um angeheiratete Verwandte handelt, als auch eine Institution, die in variabler Form den Gang des sozialen Lebens regelt.“ (Segalen 1990: 64) Hinsichtlich beider Bezugsgrößen stellt das Verwandtschaftssystem eine kultur- bzw. ethnienspezifische Struktur dar, welche primär als sozial definiertes Konstrukt1 gedacht werden kann, das die der Verwandtschaft innewohnenden biologischen Anteile reglementiert und einbettet. Diese Struktur ist variabel in Raum und Zeit sowie je nach Gesellschaftsform. In Verwandtschaftsterminologien gespiegelte verwandtschaftliche Ein- und Ausschlüsse gestalten sich interkulturell2 entlang gültiger Allianz-, Deszendenz- und Lokalitätsregeln, Herrschaftsformen (Matriarchat versus Patriarchat) sowie Zeugungserklärungen und sind darüber hinaus historisch variabel. „Die kulturelle Variationen in Bezug auf die Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit zur Verwandtschaft sind derart groß, dass man

1

2

Ein Verständnis von Verwandtschaft als soziale Tatsache widerspricht diametral den Annahmen der Soziobiologie, die Verwandtschaft und deren Abstufung als genuin reproduktionsbiologisches Phänomen adressieren. Ihre Protagonist_innen betonen die Wirkmacht der Funktionslogik des „egoistischen Gens“, das entweder durch eine direkte reproduktive Fitness oder eine indirekte Fitness der Verwandtenselektion das genzentrierte biologische Evolutionsgeschehen lenkt (vgl. Voland & Paul 1998). Neben der aus familialen Strukturvarianten resultierenden Erklärungsproblematik stellt sich jedoch die Frage nach der Definition des Genbegriffs (vgl. Then 2008), dessen Unschärfe das Erklärungspotenzial des Ansatzes minimiert. Der strukturelle Umfang der Verwandtschaft variiert in der BRD in Abhängigkeit vom betroffenen Rechtsgebiet. Hier zeigen sich die verschiedenen Ebenen, auf denen das Gebilde Verwandtschaft mit Leben gefüllt und diese gelebten Beziehungen im Rechtssystem abgebildet werden.

D IE FAMILIE

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generell konstatieren muss: Jede Gesellschaft bestimmt für sich, wer mit wem verwandt ist.“ (Nave-Herz 2006: 35; vgl. auch Segalen 1990; Lévi-Strauss 1993) Die Regeln der Deszendenz (Abstammung) müssen nicht mit biologischen Abstammungsvorstellungen übereinstimmen. Sie können sich sowohl auf eine (unilateral) als auch beide Verwandtschaftslinien (bilateral) beziehen. In europäischen Gesellschaften gilt gemeinhin letzteres in Form der bilinearen Deszendenz, d.h. beide Vorfahrenlinien werden als gleich bedeutsam erachtet. Laut Lévi-Straus (1993) müsste sie jedoch korrekterweise als undifferenziert mit z.T. deutlich patrilinearem Akzent beschrieben werden, was auf die oftmals größere Bedeutung der väterlichen Linie hinweist und stark mit der Wohnortwahl zusammenhängt (Lokalitätsregeln). Gleichzeitig ist der_die Einzelne hier Mitglied in so vielen Herkunftsfamilien, wie Vorfahren vorhanden sind, und kann bei demografischen Fluktuationen verwandtschaftliche Beziehungen flexibel aktivieren (vgl. Segalen 1990).3 Differieren Verwandtschaftsverhältnisse bzgl. der Vaterschaftsvorstellungen, so basieren sie oftmals auf komplexen Tauschsystemen von Personen zwischen Familien, die die Allianz (Heiratsregeln) bestimmen. Damit einher gehen unterschiedliche Vorstellungen zur Definition des Inzestverbots, wobei diese beziehungsregulierende Heiratsverbot-Regel als universelles Prinzip angesehen wird. (vgl. Hill & Kopp 2004; Huinink & Konietzka 2007; Wagner 2003; Nave-Herz 2006, Lévi-Strauss 1993). Die Regeln der Allianz, der Deszendenz, der Lokalität und des Inzestverbots sind Ausdruck des Prinzips der Reziprozität, das sich im Tausch realisiert und vermittels dessen zur Fortschreibung der Verwandtschaft durch Allianz führt. Dies gilt auch in komplexen westlichen Gesellschaften. Trotz des Verlustes des multidimensionalen Charakters des Tauschs als „totaler gesellschaftlicher Tatsache“ ist auch dort ein indirekter Tausch zwischen verschiedenen Verwandtschaftsgruppen noch immer eine zwangsläufige Voraussetzung für deren Erhalt in Gegenwart und Zukunft (vgl. Lévi-Strauss 1993). Der eingeschränkte Fortbestand des umfassenden Tauschcharakters zeigt sich hier darin, dass die mit der Zugehörigkeit zu einem Verwandtschaftskreis verbundenen Rechte und Pflichten (Bsp. Erbschaft) die soziale Position der Person noch beeinflussen. Aus den Konzepten der Deszendenz und Allianz ergibt sich die Unterscheidung zwischen der „ererbten“ Herkunftsfamilie und der „angeheirateten“ Wahlfamilie. 3.1.2

Gelebte Verwandtschaftsbeziehungen

Gelebte, d.h. nicht wie bislang beschrieben strukturell, sondern emotional und interaktiv bedeutsame Verwandtschaftsbeziehungen, sind (nach Goode 1963 in Schütze & Wagner 1998) als „askriptive Freundschaftsbeziehungen“ beschreibbar, da sie einerseits qua Geburt zugeschrieben werden, andererseits aus dem „biologisierten Kontakt-Angebot“ frei wählbar sind. Dadurch besteht eine gewisse Uneindeutigkeit bzgl. normativer Verpflichtungen, wobei diese ungeachtet dessen i.d.R. im Vergleich mit Freundschaftsbeziehungen höher eingeordnet werden (vgl. Schütze & Wagner 1998).

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Richards (1996) macht darauf aufmerksam, dass die Annahme genetischer Vererbungsdeutungen aufgrund der bilateralen Deszendenzvorstellungen westlicher Gesellschaften dort einfacher sein sollte.

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Segalen (1990) unterscheidet zwei relevante verwandtschaftliche Bezugsgruppen: Die gewählte Verbindung einer Person oder häuslichen Gemeinschaft mit ihrer Herkunftsfamilie als wahrgenommene vertikale Ausdehnung von Verwandtschaft in der Zeit wird als Stamm adressiert. Darüber hinaus existiert die horizontale Ausdehnung von Verwandtschaft im Sozialraum des Hier und Jetzt, die als enge Verwandtschaft bezeichnet wird. Diese wird individuumszentriert verstanden als „Gesamtheit der Verwandten, mit denen sie [die Mitglieder der Verwandtschaft, A.d.V.] all das erleben, was die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens ausmacht“ (ebd.: 88) und die als verwandt erinnert werden. Dieser flexiblen Gruppe kommt in den heutigen westlichen Gesellschaften eine große Relevanz bzgl. Solidarität und Unterstützung zu. Dazu noch einmal Nave-Herz: „Verwandtschaftsbeziehungen sind optionale bzw. potenziale Netzwerke, die genutzt werden können, aber häufig nur aufgrund von Sympathie aktiv erhalten bleiben oder in Notfällen aktiviert bzw. reaktiviert werden.“ (Nave-Herz 2006: 35) Die „eigentliche“ Familie soll im Folgenden als Teilgruppe der Verwandtschaft verstanden werden. Dabei orientiert sich das, was tatsächlich als Familie angesprochen wird, an den beiden Konzepten der engen Verwandtschaft sowie des Stammes nach Segalen (1990): Familie wird somit als der Teil der Verwandtschaft definiert, der im Hier und Jetzt, d.h. in der horizontalen Ausdehnung, von einem Individuum oder einer familialen Subgruppe als Teil der Familie wahrgenommen wird. Darüber hinaus existiert eine vertikale Ausdehnung von Familie, wobei auch hier diejenigen Personen aus der Gruppe der Vorfahren, die als Teil der Familie wahrgenommen und erinnert werden die vertikal ausgedehnte historische Familie ausmachen. Beides sind subjektive Definitionen und veränderbar. Sie bauen jedoch auf verwandtschaftlichen Verbindungen auf, die zwar flexibel lebbar, jedoch als Struktur unveränderlich sind. Exkurs: Freundschaft Unter Freundschaften werden Verbindungen nicht verwandtschaftlicher, beruflicher oder institutioneller Art verstanden. Mit Noack (2002) lassen sie sich als „Beziehungen einer gewissen Stabilität mit wechselseitigen Abhängigkeiten […], in die sich die Beteiligten freiwillig begeben“ (ebd.: 145) beschreiben. Neben Freiwilligkeit gilt eine gewisse Ähnlichkeit der Beteiligten (z.B. bzgl. Alter, Erfahrungshorizont, Entwicklungsstand, Interessen- und Problemlagen) als Voraussetzung ihres Aufbaus (ebd.). Es lassen sich heutzutage zwei gesellschaftliche Freundschaftsauffassungen unterscheiden, die auf unterschiedliche Traditionslinien zurückgehen: In der analytisch-systemischen Traditionslinie gilt Freundschaft als zu managende intime persönliche Beziehung, die mittels Techniken des autonomen Selbst als Produkt „individuell kalkuliert, initiiert, organisiert, verhandelt und terminiert werden kann“ (Schinkel 2003: 415). Flexibilität, Nutzenorientierung und Vorteilsgedanke bestimmen gemäß der Austauschlogik Aufbau und Abbruch von Freundschaften als Mittel zum Zweck der optimalen Bewältigung des individuellen Lebens in der enttraditionalisierten Gesellschaft. Die synthetische Traditionslinie beschreibt Freundschaft hingegen als Konstruktion einer gemeinsamen sozialen Wirklichkeit im Wechselspiel gemeinsamer Selbstentdeckungen im Vollzug der Freundschaft. Diese konkreativ hergestellte sog. freundschaftliche Selbstheit ist ein soziales Selbst, dass aus Wir-Selbst und Ich-Selbst besteht und in dem der Freund als „anderes Selbst“ geschätzt wird. Damit wird Freundschaft zum eigenlogischen gemeinschaftsgeprägten Zusammenhang. Voraus-

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setzung von Freundschaft sind Zeit, Freiheit, Sympathie sowie (im Anfang) Vertrauen bzw. (im Weiteren) Vertrautheit (vgl. Schinkel 2003). Intensität, Ausdehnung und Pflege von Freundschaftsbeziehungen sowie Zuneigung, Intimität und Unterstützung in diesen variieren mit soziodemografischen Daten (Beruf, Geschlecht, Bildung, Alter) und zwischen Freundschaften, die vor dem Hintergrund des Prototyps der dyadischen Beziehung ein großes Formenspektrum aufweisen und über die gesamte Lebensspanne zentral zum außerfamilialen Netzwerk beitragen (vgl. Noack 2002). Mit Hilfe der Netzwerkperspektive lassen sich wichtige Unterschiede zwischen verwandtschaftlichen und außerverwandtschaftlichen Beziehungsnetzen aufzeigen: Das außerverwandtschaftliche Netz ist im Vergleich zum verwandtschaftlichen gewählt, nicht gesetzt und i.d.R. zahlenmäßig größer. Daraus ergeben sich mehr Beziehungs-, Informations-, Wahl- und Brückenmöglichkeiten, es erfordert jedoch auch mehr Erhaltungsaktivität. Beziehungen in diesem Netzwerk sind im Vergleich oftmals weniger verbindlich, intensiv und emotional engagiert. Es handelt sich häufig um uniplexe Bindungen, die auf eine Transaktionsart und direkte Reziprozitäten beschränkt sind. Im Vergleich dazu stellen familiale Beziehungen häufig multiplexe Bindungen mit „aufschiebbaren“ Reziprozitäten dar, die den Aufbau einer Art „Support-Konto“ erlauben. Freundschaftsnetze zeichnen sich darüber hinaus durch eine geringere soziale Kontrolle aus. Hier werden daher eher neue Perspektiven vermittelt sowie neue Orientierungen gefördert als dies im Rahmen verwandtschaftlicher Netze möglich ist, welche stärker Konformitäts- und Tradierungstendenzen stabilisieren. Neben einer gemeinsamen Freizeitgestaltung zählen folglich die Förderung sozialer Kompetenzen und die Vermittlung sozialer Anerkennung zu den Hauptaufgaben außerverwandtschaftlicher Netze. Eine weitere wesentliche Funktion sozialer Netzwerke besteht in der Bereitstellung von Bewältigungshilfen bei Problemen. Während auf freundschaftliche Unterstützung jedoch eher bei akuten psychosozialen und psychischen Problemen zurück gegriffen wird, werden verwandtschaftliche Netze stärker bzgl. gesundheitlicher Pflege und materieller Sicherung in Anspruch genommen (vgl. Nestmann 1997). In der Adoleszenz kann das Verhältnis zwischen Freundschafts- und Elternbeziehungen durch kontextuelle Kontinuität oder Kompensation charakterisiert sein. Ein kompensatorischer Rückzug aus der Familie und die Suche nach Rückhalt, Anerkennung und Bestätigung in außerfamilialen bzw. außerverwandtschaftlichen sozialen Kontexten sind v.a. dann zu beobachten, wenn familiäre Beziehungen stark belastet, autoritär oder von Konflikt oder Desinteresse gekennzeichnet sind (vgl. Noack 2002) und daher ungeeignet erscheinen, ungünstige soziale Lebensbedingungen, kritische Lebensereignisse und andauernde Lebensbelastungen von Kindern und Jugendlichen abzupuffern (vgl. Hurrelmann 2002). Jedes Mitglied einer Familie ist in ein eigenes Netzwerk eingebunden, das über Kontakte in die Binnenstruktur der Familie hineinwirken kann. Eine Kompensationsfunktion sieht Nötzold-Linden (1994) auch über die Adoleszenz hinaus in gesamtgesellschaftlicher Perspektive gegeben: „Freundschaften leisten gesellschaftliche Integrationsarbeit“ (ebd.: 218) und kompensieren soziale Unsicherheiten sowie normative, emotionale und soziale Vakuen, die durch Freisetzungen, Überschreitungen und Transitionen als „Kollateralschaden der Individualisierung“ entstanden sind.

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3.2 F AMILIE 3.2.1

ALS

S TRUKTUR

Die strukturelle Pluralität der Familienformen

Auf der strukturell-deskriptiven Ebene findet sich eine plurale Realität von Familienformen, die sich anhand verschiedener Kriterien unterscheiden lassen: nach dem Familienbildungsprozess (z.B. biologische Eltern-Familie oder Pflegefamilie), nach der Zahl der Generationen (Kernfamilie oder extended family, d.h. eine Haushaltsgemeinschaft von zwei Generationen sowie weiteren oftmals seitenverwandten Einzelpersonen), nach der Rollenbesetzung in der Kernfamilie (z.B. Zwei- oder Ein-ElternFamilie), nach dem Wohnsitz (z.B. neolokale Familie, oder bilokale Familie mit zwei Wohnsitzen), nach dem Institutionalisierungsgrad (z.B. verheiratet oder nicht), oder nach der Erwerbstätigkeit der Eltern (z.B. Dual-Career-Familien im Gegensatz zu Familien mit männlichem Ernährer) (vgl. Nave-Herz 2006; Hill & Kopp 2004; Huinink & Konietzka 2007). In diesem Spektrum verliert das nach wie vor propagierte bürgerliche Familienmodell der neolokalen Kern- oder Gattenfamilie zunehmend an Bedeutung, während die multilokale Mehrgenerationenfamilie eben diese gewinnt. Letztere lässt sich laut Huinink und Konietzka (2007) wie folgt definieren: „Die verschiedenen Generationen wohnen nicht in einem gemeinsamen Haushalt, haben aber enge Interaktionsbeziehungen miteinander und praktizieren ein relativ eng aufeinander abgestimmtes Familienleben über räumliche Distanz hinweg.“ (Ebd.: 26.) Dabei ist darauf hinzuweisen, dass zwar eine Pluralität der Lebensformen besteht, die Variabilität der Familienformen jedoch kaum zugenommen hat, so dass die Behauptung der Pluralisierung der Familienformen relativiert werden muss (vgl. Peuckert 2008). Hurrelmanns (2002: 129) Feststellung, dass „im Lebenslauf der meisten Menschen ein Abwechseln zwischen Familienstrukturen auf Zeit und nicht familialen Formen des Zusammenlebens“ existiert, verweist darauf, dass Familienleben zu einer „transitorischen Lebensphase“ (Nave-Herz 2006: 76) wird. Die zeitliche sowie die personell-soziale und sachlich-inhaltliche Dimension familiärer Praxis haben sich verändert und generieren neue Strukturen des Verständnisses und Zusammenlebens von Familie heute, die Entwicklungsherausforderungen für Personen, Beziehungen und die Gesellschaft darstellen und aufgrund gestiegener Koordinationsanforderungen zu Ambivalenzen führen können (vgl. Lange & Lettke 2007). 3.2.2

Familie als in sich strukturiertes System

Familie gilt in der strukturell-systemischen, analytischen Perspektive der Studie als Zusammenhang interagierender Personen, d.h. als Einheit, deren Mitglieder durch Kommunikation und Interaktion verbunden sind, wobei personenspezifische Vorgänge und Themen durch Familienstrukturen (mit-)bedingt werden, auf die sie wiederum zurückwirken.4 Basierend auf dieser zirkulären Logik von Familienstruktur und Interaktion entsteht ein jeweils individuelles, in sich strukturiertes Familiensystem. Die prozesshaft verstandene Struktur entwickelt sich demnach ständig weiter. Als „Oberbegriff“ fasst sie sämtliche Eigenschaften zusammen, die sowohl Bezie-

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Sog. Aspekt der Ganzheitlichkeit in der Familiensystemtheorie (vgl. Schneewind 1999).

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hungen als auch Interaktionen ordnen. Mit Oevermann (2002) lassen sich diese als fallspezifisch gültiges Ensemble von Gesetzmäßigkeiten einer Lebenspraxis beschreiben. Die konkrete Struktur der Familie beinhaltet einerseits die Beziehungsstruktur und Binnenstrukturierung des familiären Systems und andererseits die Eigenschaften der Familie als System. Die systemische Blickfelderweiterung besteht laut Eder (2007) in der Fokussierung der zentralen Frage nach den Organisationsweisen und -prinzipien eines Problems bzw. einer Herausforderung in den familialen Beziehungs- und Interaktionsmustern. Diese Organisationsprinzipien sind Kennzeichen des Systems, die gleichsam die Rahmenbedingungen bestimmen, unter denen einer familiären Herausforderung handelnd und deutend begegnet wird. Im Fall des BRCA-Tests ist diese Herausforderung eine Kombinierte: Grundlegend besteht die idiosynkratische, d.h. für die Familie spezifische Belastung durch die Krebs-Geschichte. Diese wird aktualisiert und ergänzt durch den positiven BRCA-Test, der als belastender Kontakt eines oder mehrerer Familienmitglieder mit extrafamilialen Kräften verstanden werden kann, und evtl. überlagert durch Anforderungen, die aus Übergangsstadien in der (Familien-)Entwicklung resultieren (vgl. Minuchin 1987). Familien weisen eine (z.T. phasenabhängige) Zielorientierung auf, die dem Leben in der Gemeinschaft Sinn und Kontinuität geben soll. Es stellt sich die Frage danach, welches Ziel bzw. Gut organisiert wird. Die im Folgenden skizzierten Aspekte, die Beziehungs- und Interaktionsmuster umreißen, dienen ihrer Organisation. Mit Hilfe der Leitdifferenz lässt sich die Grundstruktur der Selektion eines Systems beschreiben, d.h. entlang welcher Leitlinien Handlungen gewählt werden. Diese befinden sich häufig im Spannungsfeld von Bezogenheit versus Autonomie. Die immer neue Bestimmung dieses Verhältnisses ist bezogenen Individuen als Aufgabe gegeben (sog. Konfliktorganisation). Die Beziehungen der Familienmitglieder verlaufen mit einer gewissen Regelhaftigkeit. Diese Regeln können implizit oder explizit sein und lassen sich aus familialen Interaktionen ableiten, die einer zirkulären Kausalität folgen. Diese transaktionalen Interaktionsmuster oder -zyklen (Regelkreise) beschreiben Beeinflussungsprozesse mindestens zweier Personen und können zu einer (spiralförmigen) Verstärkung oder Abschwächung der jeweiligen Interaktionsmuster beitragen. Ein Beispiel für einen Beeinflussungsprozess mit „langer Reichweite“ bietet das Phänomen der Delegation: Eltern erteilen implizite Aufträge an ihre Kinder, die unerfüllte Wünsche, Anteile oder andere Seiten der Eltern selbst repräsentieren. Mit diesen werden die Kinder in die Welt gesendet, gleichzeitig jedoch durch Loyalität an die Eltern zurückgebunden. Sie erfüllen vordergründig ein fremdes „Programm“, was Unabhängigkeit und Selbständigkeit verhindert (vgl. Simon; Clement & Stierlin 2004; Schmitz 2005), wirken dabei jedoch auch im Rahmen von z.B. Aushandlungsprozessen auf das Familiensystem zurück und beeinflussen dieses im zirkulären Geschehen bspw. stabilisierend. Verhaltensänderungen können somit durch den Prozess der Rückkopplung von den anderen Mitglieder der Familie entweder in Richtung einer Veränderung oder einer Stabilisierung beeinflusst werden, je nachdem ob eine eskalierende (positive Rückkopplung) oder eine deeskalierende (negative Rückkopplung) Strategie gewählt wird. Letztere dient der Aufrechterhaltung des familiären Kräftegleichgewichts, während erstere die Anpassung des Familiensystems an veränderte Bedingungen bezeichnet. Veränderungen innerhalb eines selbst invariant bleibenden Systems werden Wandel erster Ordnung genannt, wobei die Strategie hierbei in einem „mehr dessel-

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ben“ besteht und die Lösung selbst zum Problem wird. Führt die Änderung hingegen auch zu einer Veränderung des Systems, so wird von einem Wandel zweiter Ordnung gesprochen. Mit dem Merkmal der adaptiven Selbstorganisation wird die Selbstanpassungsfähigkeit an sich verändernde inner- und außerfamiliäre Gegebenheiten bezeichnet, die zu funktionalen oder dysfunktionalen Entwicklungsresultaten des Familiensystems führen kann (vgl. Schneewind 1999; Eder 2007). Des Weiteren wird das System Familie auch durch die Grenzen gekennzeichnet, die es gegenüber anderen internen oder externen Systemen aufbaut (Sub- bzw. Suprasysteme) und die sich in Abhängigkeit von der familiären Entwicklungsphase verändern können. Damit einher geht das Kriterium der Offenheit versus Geschlossenheit des Systems hinsichtlich eines Austauschs mit seiner Umwelt. Außengrenzen können dabei zwischen starr und durchlässig variieren. Über diese (beobachtbaren) Strukturen hinaus spielen wahrnehmungs- und erfahrungsbedingte Modelle von Familien bzw. deren Mitgliedern eine Rolle: Im internen Erfahrungsmodell eines Familienmitglieds findet sich das jeweilige subjektive Wissen über die Familienrealität, d.h. interne Repräsentationen von sich, den anderen Familienmitgliedern, deren Beziehungen sowie den eigenen Beziehungen zu diesen. Dieses internalisierte Beziehungsmuster kann auch als Familienrepräsentanz bezeichnet werden. Die in der Familienrepräsentanz fixierten Repräsentanzen einzelner Familienmitglieder führen dazu, dass diese durch starre mit ihnen assoziierte Bedürfnisse und Erwartungen emotional in ihren Rollen festgehalten werden (vgl. Schneewind 1999; Schmitz 2005). Davon zu unterscheiden ist der auf der Eigenwahrnehmung der Familie beruhende Erfahrungs- und Vorstellungskomplex, der als Familienselbstbild bezeichnet wird. Ein Teil dieses Selbstbildes wird als Familien-Mythos idealisiert und ist in dieser Zuspitzung handlungsbestimmend (vgl. Schmitz 2005). Bereits Minuchin (1987) hat darauf hingewiesen, dass die Klarheit familialer Grenzen einerseits sowie deren Fähigkeit, „alternative Transaktionsmuster zu mobilisieren, wenn innere oder äußere Umstände eine Neustrukturierung der Familie erforderlich machen“ (ebd.: 88), andererseits Indikatoren zur Beurteilung der Funktionalität des Familiensystems sind. Um die für diese Analyse zentralen auch o.g. Aspekte der Selbstorganisation und der Grenzziehung verlässlich und vergleichbar anzuwenden, erfolgt die Anlehnung an das sog. Circumplex-Modell zur Familientypisierung (vgl. Olson 1996; 2000). Dieses Modell wurde auf der Basis von über 50 familientherapeutischen Konzepten erarbeitet. Es ordnet Familien v.a. entlang den Dimensionen der Familienbindung oder Kohärenz sowie der Anpassungsfähigkeit oder Adaptabilität, wobei Kommunikation als unterstützendes Moment betrachtet wird. Beide Dimensionen sind kurvilinear gedacht: Familien im Mittelwertbereich gelten als funktional, während solche mit zu hohen oder niedrigen Werte als dysfunktional gelten. Kohärenz wird verstanden als „the emotional bonding that family members have towards one another“ (Olson 1996: 60) und ist durch den damit verbundene Grad individueller Autonomie jedes einzelnen Familienmitglieds gekennzeichnet. Vier Ausprägungsgrade werden unterschieden: losgelöst, getrennt, verbunden und verstrickt. Loslösung meint eine weitgehende Isolation der autonomen Familienmitglieder untereinander, einen Mangel an hierarchischen Strukturen sowie stark eingeschränkte Möglichkeiten der Kommunikation, gegenseitigen Beeinflussung und Unterstützung. Oft werden die fehlenden Beziehungen durch Beziehungen mit Außenstehenden kompensiert. Am entgegengesetzten Ende des Spektrums findet sich die Verstri-

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ckung. Hier liegt eine Überidentifikation des einzelnen mit seiner Familie vor. Gegenseitige Abgrenzung – bspw. über Generationengrenzen – ist gestört, individuelle Autonomie eingeschränkt und eindeutige Organisationsformen bzw. eine Hierarchie fehlen. Neben der Nähe-Distanz-Regulation weisen in beiden Fällen auch zentrifugale und zentripetale Kräfte ein gestörtes Gleichgewicht auf. Unabhängig von der eingenommenen Extremposition besteht sowohl bei Verstrickung als auch Loslösung eine grundsätzliche emotionale Verwicklung, d.h. eine gefühlsmäßige Abhängigkeit bzw. ein Angewiesensein auf Familienmitglieder auch als distanzierte Bezugspersonen. Adaptabilität ist definiert als „the amount of change in a family’s leadership, role relationships, and relationship rules“ (Olson 1996: 62) im Hinblick auf situationsoder entwicklungsbezogenen Stress. Auch hierfür existieren vier Ausprägungen: chaotisch, flexibel, strukturiert und starr. Während chaotische Familien auf kleinste Veränderungen mit drastischen, völlig unangemessenen Maßnahmen reagieren, leisten starre Familien gegen jede noch so kleine Veränderung großen Widerstand und beantworten auch deutliche Veränderungen so lange wie möglich mit den gewohnten Regeln und Verhaltensweisen. Auch hier weisen beide Extrempositionen ein gemeinsames Merkmal auf, nämlich eine grundsätzliche Rigidität in der Festlegung auf ständige Veränderung bzw. Fixierung der Struktur (vgl. Schneewind 1999; Schmitz 2005; Simon, Clement & Stierlin 2004; v. Schlippe 1985). Bei der Beurteilung konzeptioneller und empirischer Grundlagen des Circumplex-Modells wurde die fehlende konzeptionelle Fundierung kritisiert sowie eine Unklarheit bzgl. der kurvilinearen Konzeption der Adaptabilitätsdimension festgestellt. Zudem erfolgt die empirische Anwendung des Modells – entgegen der hier gewählten Operationalisierung – im Rahmen eines Fragebogens. Da das Modell empirisch jedoch als zureichend gilt und die Einschätzung von Familien auf relevanten Dimensionen familiären Funktionierens ermöglicht (vgl. v. Schlippe 1985), sollen die beiden Hauptvariablen Kohärenz und Adaptabilität in ihrer Kurvilinearität in dieser Arbeit als Orientierung zur Einschätzung familialer Strukturen dienen. Diese werden auch von anderen Autoren benannt (vgl. Minuchin 1987; Schmitz 2005; 2007; Eder 2007; Simon, Clement & Stierlin 2004) und erscheinen daher als zuverlässige Konzepte. Zur genaueren Einschätzung familialer Strukturen wird auf die folgenden, von Eder (2007) vorgestellten bipolaren, kontinuierlichen Beobachtungs- und Beschreibungskategorien zurückgegriffen: individuelle Grenzen (zwischen stark und gering ausgeprägt), Kohäsion (zentrifugale bis zentripetale Orientierung), Konfliktverhalten (zwischen herauf- und herabspielend), emotionale Expressivität (zwischen ausdrückend und unterdrückend), Wirklichkeitskonstruktion (chaotische Uneindeutigkeit versus starre Eindeutigkeit) sowie die Organisation von familialen Phasenübergängen und Rollen (starr versus flexibel). 3.2.3

Die Binnenstrukturierung des Familiensystems: familiale Subsysteme, Rollen und Generationen

Minuchin (1987) führt aus: „Das Familiensystem differenziert und vollzieht seine Funktionen durch seine Subsysteme. […] Jedes Individuum gehört verschiedenen Subsystemen an, in denen es jeweils unterschiedliche Macht besitzt und differenzierte Fertigkeiten erwirbt.“ (Ebd.: 72) Es ist daher zu erwarten, dass neue Aufgaben

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nicht nur das familiale System im Gesamten, sondern auch seine Subsysteme herausfordern und ggf. verändern. Um innerfamiliale Differenzierungen begrifflich fassen zu können, sollen hier familiale Subsysteme und „Rollen“ sowie der Generationenbegriff als interne Differenzierungsmerkmale vorgestellt werden. De Haen (1983) unterscheidet vier prototypische Familienmuster, die sich aus der Struktur der Beziehungen ergeben und Einfluss auf Beziehungen ausüben. „Im Patriarchat hat der Vater das absolute Sagen, ihm sind sowohl die Ehefrau als auch die Töchter ‚untertan‘.“ (Ebd.: 18) Autorität bis zur Arroganz, Strenge bis zur Brutalität und ein abweisendes Verhalten des Vaters charakterisieren die patriarchale Machtstruktur. Er strebt nach absoluter Kontrolle des Familienablaufs, Wohlergehens, Verhaltens und der sozialen Beziehungen der Familienmitglieder. Aufgrund der gleichzeitigen Unterordnung aller anderen ergibt sich dadurch wiederum die Möglichkeit der Koalitionsbildung untereinander. Im Matriarchat bestimmt eine oftmals durchsetzungsfähige Mutter, während der Vater unsichtbar bleibt. Ihre Kontrolle ist eine subtilere und richtet sich darauf, alle Beziehungen systematisch über die eigene Person zu vermitteln sowie (auch körperliche) Nähe und Distanz zu kontrollieren. Fürsorge und familiale „Atmosphärenkontrolle“ dienen als Machtmittel. Aufgrund der eher indirekten, beziehungsbasierten Machtausübung sind i.d.R. nur kleine, heimliche Koalitionen der Geschwister gegen die Mutter möglich. Eine Koalition bezeichnet „eine Beziehung, besser: eine Bindung mit Ausschließlichkeitscharakter, die dauerhafter, eindeutiger und stärker ist als die Beziehung zwischen Eltern und Kind normalerweise.“ (Ebd.: 58) Sie befriedigt Bedürfnisse nach Vertrautheit, Nähe, Überschaubarkeit und basiert auf Zuneigung. Koalitionen sind auch zwischen Geschwistern möglich und können bei den nicht-koalierenden Geschwistern Gefühle von Enttäuschung, Neid, Konkurrenz, Wut sowie Minderwertigkeitsgefühle auslösen. Notgemeinschaften sind Solidargemeinschaften, die in Bedrohungssituationen entstehen. Sie sollen Fürsorge, Sicherheit und Liebe vermitteln, zeichnen sich oftmals durch ein Fehlen von Konkurrenz bzw. Rivalität aus und können zu emotionaler Abhängigkeit der Beteiligten voneinander führen. Oft gehen Geschwister Notgemeinschaften ein, wenn Elternteile real oder innerlich abwesend sind. Familiale Beziehungen werden oftmals als „Rollenbeziehungen“ konstruiert. Hierbei handelt es sich um typifizierte gesellschaftliche Erwartungen an verschiedene einzelne familiale Rollen, die sich auf Einstellungs- und Verhaltensmuster beziehen. Als Sicherheitssystem strukturieren sie Interaktionen und machen diese berechenbar. Ein entsprechendes Konformitätsverhalten wird auf eine Passung zwischen den Rollenvorstellungen und den Bedürfnissen des Individuums bzw. auf das Vorhandensein einer Bezugsgruppe mit Sanktionsmöglichkeit zurückgeführt. Während die einen Rollen als Sozialisationsergebnis sehen und daher keine sinnvolle Trennung von Selbst und Rolle annehmen, sprechen andere von einer im Begriff angelegten, problematischen Entindividualisierung (vgl. Nave-Herz 2006). Stellvertretend für letztere sei Oevermann (2001) genannt. Er führt aus, dass es sich bei familialen Beziehungen in der Kernfamilie eben nicht um rollenförmige spezifische, sondern um sog. diffuse Sozialbeziehungen handelt, die als prototypisch für alle weiteren diffusen Sozialbeziehungen (z.B. Freundschaften) angesehen werden können. Diese beiden Formen sind anhand des verfügbaren Themenspektrums zu un-

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terscheiden: Während in diffusen Beziehungen grundsätzlich alles ansprechbar ist und daher Themenausschlüsse begründet werden müssen, umfassen spezifische Beziehungen ein eingeschränktes Themengebiet, dessen Ausweitung wiederum begründungspflichtig ist. In der ersten Beziehungsform begegnen sich s.E. ganze Menschen, während sich in der zweiten Rollenträger_innen, Vertragspartner_innen oder Marktteilnehmer_innen gegenüber stehen. Dem diffusen Potenzial familialer Beziehungen kann jedoch evtl. eine rollenförmig orientierte Praxis entgegenstehen, die zudem als Gradmesser der Adaptabilität des Familiensystems dient. Daraus erwächst die Notwendigkeit, sich zur Beurteilung familialer Beziehungen besagte Rollenvorstellungen zu vergegenwärtigen. Die instrumentelle Rolle des Vaters als „Versorger“ und Familienoberhaupt und die expressive Rolle der Mutter, Hausfrau und „Fürsorgerin“ sind komplementär angelegt. Als Ehepaar sind sie als intim-emotionale Gefährt_innen aufeinander verwiesen, als Eltern verstehen sie Erziehung als Team-Aufgabe. Diese Rollenvorstellungen unterliegen einem Entdifferenzierungsprozess (vgl. Nave-Herz 2006; Hurrelmann 2002). Kinder im Kindheits- und Jugendalter gelten als „selbständige Träger für die Sinngebung der Erfahrung der Eltern“ (Nave-Herz 2006: 194), die ihren Eltern (und Großeltern) Lebenserfüllung und persönliches Glück bescheren sollen. Erwachsene Kinder hingegen sollen sich den eigenen Eltern gegenüber loyal, solidarisch und unterstützend verhalten. Im Rahmen der Geschwisterbeziehung existieren Erwartungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft sowie typischerweise eine gewisse emotionale Ambivalenz, die mit einer grundsätzlichen Konkurrenz zusammenhängt, welche in Rivalität umschlagen kann. Bzgl. der Großeltern besteht eine unklare Rollendefinition. Als Teil der Familie besitzen jedoch auch sie die Aufgabe der physischen und psychischen Regeneration und Stabilisierung des Familiensystems, wozu zunehmend auch die Bekleidung einer Elternrolle minderen Rechts gehört. Mehrgenerationenbeziehungen werden dabei aufgrund der gestiegenen Alterserwartung wahrscheinlicher und intensivieren sich u.a. wegen der abnehmenden Anzahl der Enkel. Sowohl aus der Macht- als auch aus der Perspektive der Rollenbeziehungen wird deutlich, dass Familie grundsätzlich als Generationenzusammenhang, sprich altersstrukturiert, gesehen werden muss (vgl. auch Lange & Lettke 2007). Hierbei werden üblicherweise das Paar-/Elternsystem bzw. das Geschwistersystem als intragenerationale Subsysteme sowie das Eltern- und Großeltern-Kind-System als intergenerationale Subsysteme benannt. Mit Oevermann (2001) lassen sich zwei Generationenbegriffe unterscheiden: Zunächst existiert die Generation im Sinne der Abfolge von Nachkommenschaft bzw. Abstammung (Deszendenz). Hierbei handelt es sich um soziale Beziehungen, die durch die biologische Tatsache der Elternschaft gestiftet sind, wobei auch soziale Elternschaft darunter subsumiert wird, sofern sie sich an die biologische Ausformung anlehnt. Die in diesem Generationsbegriff beinhaltete Nachkommenschaftsbeziehung bildet zunächst einmal die Voraussetzung für die Entstehung von Mentalitätsgruppen und darüber hinaus zugleich deren zeitliche Begrenzung, da sie ihre maximale Ausdehnung auf einen Generationenabstand von 30 Jahren festlegt. Besagte mentalitätsähnliche Gruppen von Gleichaltrigen stellen den zweiten Generationenbegriff dar. Diese Gruppierungen entstehen als kollektive Gebilde in einer jeweils konkreten Gesellschaft auf der Ebene des Nationalstaats als historischer Schicksalsgemeinschaft. Die Amalgamierung von ontologisch universellen Krisen, von denen die Adoles-

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zenzkrise die wichtigste darstellt, mit jeweils historisch konkreten, unwiederholbaren Lagen der politischen und kulturellen Vergemeinschaftung formt die Mentalitätsgenerationen aus. Sie entstehen damit in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Diskurs und den zur Verfügung stehenden Formen der Vergemeinschaftung, die sich als Vorbilder und in familienstrukturellen Voraussetzungen konkretisieren. In Intergenerationenbeziehungen zwischen Erwachsenen wird von der nachfolgenden (Kinder-)Generation Loyalität und Solidarität gegenüber der Elterngeneration erwartet. Daraus entwickeln sich konkurrierende Legitimitäten zwischen (herkunfts-) familialen Solidaritäts- und Leistungserwartungen einerseits und individueller Autonomie andererseits. Transferprozesse repräsentieren die “lebenslange [intergenerationale, A.d.V.] Solidarität auf kurze Distanz“ (Szydlik 2000: 235). Die Art der Unterstützungsleistung wird von Opportunitäts-, Bedürfnis-, familialen und kulturellkontextuellen Strukturen determiniert. Transfers können affektiv, instrumentell oder materiell-monetär ausgeprägt sein. Austauschtheoretisch5 gelten Verwandtschaftsbeziehungen daher als besondere Form sozialen Kapitals: „Soziales Kapital wird durch das Eingehen sozialer Beziehungen kreiert und generiert gegenseitige Verpflichtungen, Erwartungen und Vertrauen, durch die soziale Güter getauscht und kollektiv kontrolliert werden können.“ (Nauck & Kohlmann 1998: 209) Hierzu zählen auch Erbschaften, die generationale Kontinuität und Identität wahren (vgl. Lettke 2007). Transferleistungen zu Lebzeiten können die Konkurrenz zwar nicht komplett beseitigen, fungieren jedoch als institutionelle Verbindung der Generationen, die aufgrund der „Vertikalisierung familiärer Beziehungen“ (Bertram 2003: 25) an Wichtigkeit gewinnen. Allerdings lässt sich eine generational ausgeprägte Perspektive auf die Generationenbeziehung feststellen: Eltern überschätzen i.d.R. ihr Verständnis und Einvernehmen mit ihren Kinder, während diese dazu tendieren letzteres zu unterschätzen und eher Konflikte hervorzuheben. Familiale Beziehungen sind folglich durch eine Vielzahl von Merkmalen (Unterstützung, Bindung, Spannung, Ängsten) gekennzeichnet und durch eine grundsätzliche Ambivalenz geprägt. Diese wird durch vier weitere Merkmale von Intergenerationsbeziehungen noch gefördert: das normative Konzept der Unauflöslichkeit der Beziehung, die unterschiedlichen persönlichen Entwicklungsstadien inkl. altersgemäßen Statusunterschieden, der generelle Widerspruch zwischen Autonomie und Abhängigkeit sowie Widersprüche zwischen verschiedenen weiblichen Rollenerwartungen. Das Konzept der Intergenerationenambivalenz findet als Bezeichnung für nicht zu vereinbarende Widersprüche auf der institutionell-strukturellen Dimension (Reproduktion versus Innovation der Beziehungsform) sowie der persönlich-subjektiven Ebene (emotionale Konvergenz versus Divergenz der Beziehungsgestaltung) in Beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern Verwendung. (vgl. Pillemer & Müller-Johnson 2007; Kohli 2007).

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Hierbei wird von subjektiven rationalen Akteur_innen ausgegangen, die einen maximalen Nutzen aus ihren beschränkten Ressourcen ziehen möchten. Handlungskosten und -nutzen werden zu einem positive oder negative Gewinn verrechnet, der handlungsleitend ist (vgl. Hill & Kopp 2004). Diese Perspektive erscheint jedoch zu sehr auf das Individuum beschränkt und daher aufgrund der Ausrichtung der Studie hier ungeeignet.

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3.3 F AMILIE 3.3.1

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Strukturale Grundlagen der Solidarität

Die somit angesprochene Familie als Solidargemeinschaft wurde bereits zu Beginn des Kapitels von Nave-Herz (2006) als handlungsleitend benannt. Auch Hurrelmann (2002) bezeichnet die Prägung der Beziehungsebene „durch Solidarität, persönliche Verbundenheit und Betreuung“ (ebd.: 130) als Kern von Familie. Dieser bestimmt die Funktionalität von Familie sowohl in Bezug auf die einzelne Person als auch auf die Gesellschaft6, was wiederum den Erhalt der familialen Funktionstüchtigkeit zentral (und voraus-)setzt (vgl. Schmitz 2005). Frauen werden dabei aufgrund der oft von ihnen gepflegten engeren Beziehungen i.d.R. stärker für die Aufrechterhaltung lebenslanger Solidarität verantwortlich gemacht (vgl. Szydlik 2000; 2003). Familiale Solidarität basiert auf vier Strukturmerkmalen, die sich im Laufe der Ausdifferenzierung von Ehe und Verwandtschaftssystem gebildet haben: die NichtSubstituierbarkeit der Personen, die Unkündbarkeit familialer Beziehungen (Unendlichkeitsfiktion), die je eigene Körperbasis der Paar- und der Eltern-Kind-Beziehung und die darauf beruhende erotische sowie affektive Solidarität als nicht an Kriterien gebundene, unbedingte Vertrauensbildung in der fortwährenden, thematisch offenen Interaktion diffuser Rollenbeziehungen (unbedingte emotionale Interdependenz) sowie die Ansammlung persönlichen Wissens voneinander in Form einer gemeinsamen Geschichte (vgl. Hildenbrand 1999; Bauer 2000; Oevermann 2004; Funcke & Hildenbrand 2009). Diese Strukturmerkmale bilden den Bedingungskontext für die Ausformung der Kernfamilie, genauer der sog. sozialisatorischen (bei Oevermann ödipalen) Triade, die im westeuropäischen Raum das normative Grundmuster und damit die dort – jedoch nicht universal – gültige Konvention der Gestaltung familialer Interaktionen darstellt. Dieses bildet wiederum den Rahmen für die Entwicklung von Familienmustern sowie für Sozialisation und die Bewältigung von (weiteren) Krisen. Die Triade bietet die Möglichkeit der Erfahrung von Einschluss und Ausschluss in verschiedenen Allianzen mit wechselnden 2:1-Konstellationen: Mutter + Kind – Vater; Vater + Kind – Mutter; Mutter + Vater – Kind sowie einer Dreierkonstellation als Übergangssituation. In diesen kooperativen Allianzen mit möglichst stabil balancierter triangulärer Struktur geschieht familiale und persönliche Entwicklung, wobei das Ergebnis jedoch gestaltbar bleibt (vgl. Oevermann 2004; Hildenbrand 2011b). Aufgrund des „Konventionsdrucks“ sind An- und Abwesenheit sowie der praktizierte Interaktionsstil in der Triade zu beachten, um die Entwicklung von familialen Überzeugungssystemen, Organisations- und Kommunikationsformen abzuschätzen, die als wichtig für die Resilienz-Entwicklung gelten (vgl. Funcke & Hildenbrand 2009).

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Dem einzelnen Menschen bietet die Familie die Erfüllung von altersspezifischen Bedürfnissen, die um die Punkte Wohlbefinden, Entwicklung sowie Erfahrung emotionaler Annahme kreisen. Gegenüber der Gesellschaft hat sie die Funktion der Reproduktion im Sinne von Fortpflanzung und Regeneration von Arbeitskräften sowie der Sozialisation (s.u.) (vgl. Schmitz 2005).

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Die in diesem Rahmen gebildeten Familienmuster können unter Bezug auf Reiss (1981) als „Familienparadigma“ bezeichnet werden. Hierunter versteht dieser modellhafte Vorstellungen, welche die Familie von sich und der sie umgebenden Welt bildet, indem sie interne und externe Informationen interaktiv organisiert und moduliert. Dies dient der Erlangung relativer Autonomie durch eine Einpassung gesellschaftlicher Handlungs- und Orientierungsmuster (z.B. milieuspezifische Vorgaben) in die eigene familiale Wirklichkeit und vermittelt Familie und Welt zugleich im Rahmen dreier Grundthemen: der gradweisen Alleinstellung der Familie von ihrer Umwelt, des „Erhalt[s] einer über Generationen tradierten Familienkultur“ (Funcke & Hildenbrand 2009: 23) sowie der Verschiedenartigkeit der Beziehungsgestaltung zwischen einer Familie und deren Umwelt. Dieser paradigmatische „set of explanations“ (Reiss 1982: 155) wird durch zwei Mechanismen aufrechterhalten: die formalen und repetitiven Muster von Zeremonien des Familienlebens, die das familiale Selbstbild formen, sowie hochroutinisierte Sequenzen der Regulatoren des Familienlebens, die der Organisation von inner- und außerfamilialen Grenzen (Raum-Ressource) sowie der Orientierung in und Regulierung von kurz- und langfristigen Zeitmustern (Zeit-Ressource) dienen. Beide Ressourcen bereffende Grenzüberschreitungen rahmen die Bildung einer autonomen familialen Lebenspraxis mit ihren Regeln, die im wesentlichen unbemerkt abläuft und zu Familienmustern führt, die sich ihrerseits als über Generationen stabil und für die Bewältigung krisenhafter Ereignisse bestimmend erweisen können (vgl. Reiss 1981; Funcke & Hildenbrand 2009; Hildenbrand 2011b). Das Familienparadigma beschreibt mit anderen Worten relational gebildeten Sinnformen als „Vorlagen“ einer interpretativen Wissenskontextualisierung. 3.3.2

Sozialisation und Krise

Zu diesen krisenhaften7 Ereignissen zählt auch die Sozialisation. Als solche wird der aktive lebenslange Auseinandersetzungsprozess mit allen Facetten seiner Umwelt bezeichnet, durch den ein Mensch zur Persönlichkeit und zum Mitglied einer Gesellschaft wird. Hurrelmann (2002) betont, dass die Sozialisierung in und durch Familien als ein lebenslanger Anpassungs- und Veränderungsprozess des Familiensystems betrachtet werden muss, der nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern- bzw. Paarbeziehung erfasst. Den kindlichen Sozialisationsprozess8 stellt Oevermann (2004) als vier Ablösungskrisen dar: Die erste Ablösungskrise ist die Geburt als Beendigung der Symbiose der fötalen Lebensweise, bei der ein struktureller Optimismus des Inhalts „im

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Die hier benutzten Begriffe der Krise wie auch des Traumas sind soziologischer Provenienz, nicht psychologischer Natur, was deren Psycholog_innen ggf. „inflationär“ und „ungenau“ erscheinende Verwendung erklären mag. In der Entwicklungspsychologie werden Phasen- oder Stufenmodelle nunmehr zugunsten differentieller, ökologischer und transaktionaler Ansätze zurückgestellt (vgl. Oerter & Montada 2008). Die nachfolgende Darstellung im Fließtest wie im Exkurs ist daher lediglich als Reflexionsrahmung ohne absolute Gültigkeit zu lesen, was ebenfalls durch die bereits erfolgte Betonung transaktionaler Regelkreise gestützt wird. Die Wahl des Oevermann’schen Ansatzes ist dabei durch seine zentrale Stellung für die Studie motiviert.

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Zweifelsfall geht es gut“ in das Körpergedächtnis des Kindes integriert wird. Die zweite Ablösungskrise besteht in der Ablösung von der frühkindlichen Mutter-KindSymbiose, gefolgt von der dritten ödipalen Krise mit der Ablösung „von der Alleinzuständigkeit der Sozialform der ödipalen Triade“ (ebd.: 164) und dem Anschluss an die peer group. Die abschließende vierte Krise realisiert sich in der Adoleszenz, in der eine bestimmte eigene Habitusformation mit Deutungsmustern und Lebensstil herausgebildet wird, welche Bewältigungskarrieren in den Bereichen Leistung und Beruf, sexuelle Reproduktion (Elternschaft und Sozialisation) sowie Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl (Staatsbürgerschaft) ermöglicht.9 Im Gegensatz zu Oevermann beschreibt Erikson (2003) weitere Stufen der psychosozialen, jedoch nicht mehr sozialisatorischen Entwicklung: Im jungen Erwachsenenalter steht die Entwicklung von Intimität und Solidarität versus Isolierung an, im mittleren dann die Entwicklung von Generativität versus Stagnation und Selbstabsorption und für das späte Erwachsenenalter lauten die Entwicklungsmöglichkeiten Integrität versus Verzweiflung. Individuelle oder familiale entwicklungsbezogene, transformatorische Krisen werden als ontologische oder normative Krisen bezeichnet und von den spontan auftretenden nicht-normativen Krisen (z.B. Krankheit) unterschieden. Exkurs Lebenszyklus und Lebensentwurf Stufenmodellen der Entwicklung liegt die Annahme eines ursprünglich auf körperlicher Reifung beruhenden Lebenszyklus oder Lebenslaufs zwischen Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Tod zu Grunde. Aus soziologischer Sicht gilt der Lebenslauf als „durch das ‚Timing‘, den Abstand und die Reihenfolge von Ereignissen in der Lebenszeit strukturiert bzw. differenziert“ (Huinik & Konientzka 2007: 42), wobei Alters- und Generationsdifferenzierung sowie soziale und historische Komponenten als bestimmend gelten. Lebensläufe stellen daher komplexe, multidimensionale Handlungszusammenhänge dar. Die Annahme einer „Normalbiografie“ entsprach dabei dem korrespondierenden Konzept des Familienzyklus, bei dem ein personenbezogenes normiertes Lebenslaufregime in einen mehrphasigen „Normalverlauf“ der Familienentwicklung – von der Paarbildung über die Geburt des/der Kinder, Adoleszenz des/der Kinder, deren Abschied vom Elternhauses, dem Älterwerden des Paares bis zum Tod der Partner – mit korrespondierenden familiären Entwicklungsaufgaben übertragen wurde. Durch die Auflösung von Normalbiografien und die Entwicklung hin zu pluralen familialen Lagen kann ein derart strukturierter Familienzyklus jedoch nicht mehr zu Grunde gelegt werden. Vielmehr empfiehlt es sich, den „Familienverlauf in den breiten Kontext der Dynamik der Lebensformen und darüber hinaus des Lebenslaufs“ (ebd.: 41) zu stellen. Persönliche Entwicklungen werden von der betreffenden Person selbst als „Lebensentwurf“ konzipiert. Dieser stellt das „Gesamt der gedanklichen und handelnden Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen“ dar und beinhaltet „Kognitionen und Emotionen von unterschiedlicher Bewusstheit und mit unterschiedlichem Handlungsbezug“ (Ortmann-Bless 2006: 9). Er geht aus einer Bilanzierung der eigene Biogra-

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Diese Autonomie wird ebenfalls als relationale gedacht. Ablösung zielt so nicht auf „autonomistische“ Unabhängigkeit, sondern auf eine Verschiebung der relational-sozialen personalen Bezugslandschaft.

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fie und dessen Verrechnung mit dem Spektrum an personalen und soziokulturellen Chancen, Ressourcen, Werten und Intentionen hervor und übersteigt folglich eine bloße Zeitplanung. Lebensentwürfe sind damit nicht nur Zeugnisse planender Lebensgestaltung, sondern auch der Selbstwahrnehmung, also sehr komplexe Gebilde. Sozialisation gilt Oevermann (2004) letztlich als „Ablauffigur der systemischen Erzeugung des Neuen par excellence“ (ebd.: 156). Dieser Prozess ist krisenhaft zu denken, „damit sich aus ihm eine autonome Lebenspraxis der Chance nach entwickeln kann“ (ebd.: 163). Diese autonome Lebenspraxis als Ziel der Sozialisation zeigt sich sowohl in personalen Existenzen wie auch der triadischen familialen Praxis, und lässt sich definieren als Bewältigung der „widersprüchliche[n] Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung [Herv.i.O.]“ (ebd.: 160) im Angesicht der Zukunftsoffenheit von Entscheidungssituationen, die von ihr selbsttätig erzeugt werden. In der Offenheit der Bewährung einer dennoch zu begründenden Zukunftsentscheidung wird Krise als konstitutives Ereignis für Strukturtransformationen jeder Art sichtbar. Ein auf Entwicklung statt Stagnation ausgerichtetes Lebensverständnis muss daher Krise als theoretischen Normalfall annehmen, während dessen polarer Gegensatz, die Routine, als theoretischer Grenzfall (wiewohl praktischer Normalfall) zu betrachten ist, der sich aus bewährten Lösungen krisenhafter Entscheidungssituationen ableitet, denn: „Wenn wir statt dessen die Krise für einen Grenzfall hielten, dann hätten wir theoretisch […] das konkrete Leben zu einer bloß durch Routine fremd bestimmten Reaktionsinstanz gemacht.“ (Ebd.: 161) Krise wird demnach nicht negativ konzipiert, sondern als Entwicklungsanlass gesehen, an dem Strukturen und Identitäten ereignisbedingt in Bewegung geraten, was Rüger (2007: 26) aufgrund des umfassenden Charakters als „kontextuelle Krise“ zusammengefasst hat. Mit v. Gebsattel (zitiert nach Hildenbrand 2011a: 4) lässt sich Krankheit daher als „Einbruch in die Stagnation des Werdens“ bezeichnen. Das krisenauslösende Ereignis wird als Vorgegebenes zur Gestaltungsaufgabe, die gemäß lebenszyklisch und -geschichtlich relevanter, sog. problematischer Möglichkeiten sowie individueller, familialer, verwandtschafts- und gemeinschaftsbezogener Ressourcen interaktiv handelnd bewältigt wird. „Zentral ist dabei, in welcher Form das Trajekt (der Bewältigungsverlauf) eingespurt wird und welche Arbeit […] in den Verlauf gesteckt wird.“ (Ebd.: 6) Oevermann (2004) unterscheidet drei verschiedene Krisenvarianten. Die traumatische Krise kennzeichnet eine Situation, in der ein unvorhergesehenes Ereignis der leiblichen, sozialen oder physischen Natur auftritt, auf das man „nicht nicht reagieren [Herv.i.O.]“ (ebd.: 165) kann. Die Entscheidungskrise als typische Krise der autonomen Lebenspraxis tritt in selbsterzeugten Wegscheiden-Situationen mit mehr als einer Handlungsmöglichkeit auf, deren Ergebnis nur bedingt antizipierbar ist. Diesem Typus ist eigen, „dass man sich nicht nicht entscheiden [Herv.i.O.] kann“ (ebd.: 166). Reflexive Krisen durch Muße schließlich werden vom Subjekt herbeigeführt und folgen aus der Betrachtung eines Gegenstandes um seiner selbst willen unter der Bedingung der Handlungsentlastung. Wird die Person in diesem Rahmen auf etwas bislang nicht Bemerktes aufmerksam, so erwächst daraus die Forderung, „das man nicht nicht reagieren kann auf ein X, das der Bestimmung harrt [Herv.i.O.]“ (ebd.: 168). Dies entspricht der Vorgehensweise wissenschaftlicher Erkenntnis.

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Am Ende des Bewältigungsverlaufs als Zyklus von Krisenauslöser, Stabilitätsstreben, Zusammenbruch, Chaos und Reintegration in ein neues Gleichgewicht wird die (Krankheits-)Krise aus einer Futur-II Perspektive heraus einen Sinn gehabt haben und darüber hinaus den Umgang mit weiteren Krisen rahmen (vgl. Hildenbrand 2011a). So ist die Bewältigung nicht-normativer Krisen von der erfolgreichen Bewältigung normativer Krisen abhängig, was durch eine Überschneidung und Verschränkung dieser beiden Krisentypen kompliziert werden kann (vgl. ders. 2011b). Eine Art individuelle lebenslange Verlaufskurve der Krisenbewältigung scheint zu entstehen, in der der Umgang mit chronifizierten Zuständen (Krankheit, Risiko) ggf. als „Unterlinien“ gesondert zu betrachten ist, d.h. aktuelle Krisen durch reaktualisierte ältere krisenhafte Ereignisse „verzeitlicht“ werden. Jedoch gilt es zu beachten, dass bzgl. chronischer Risiken letzten Endes keine Chance besteht, die Krise abzuschließen. 3.3.3

Das ABCX-Modell von Stress und Coping

Eine genauere Vorstellung vom Ablauf der Krisenbewältigung vermittelt das ABCXModell (vgl. Hill 1949; Welter-Enderlin 1989; DeMarco et al. 2000), das in dieser Arbeit als Heuristik an die Fälle herangetragen wird. A: Ausgangspunkt des Bewältigungsprozesses und Aufforderung zur Veränderung ist ein als kritisch eingeschätztes Ereignis, hier die Diagnose eines chronischen Risikos. Dieses kann sich mit anderen aktuellen, horizontal-kritischen Lebensbedingungen (sog. pile-up) sowie reaktualisierten, vertikal-kritischen Erfahrungen zu einer komplexeren stressauslösenden Situation entwickeln, die zu einer Krise führt, in der sich die Linearität von Zeit als brüchig erweist. A trifft sowohl auf die Lebenssituation (B) als auch die Bedeutungswelt (C) der Beteiligten und wird von diesen in ihrer Wahrnehmung und Auswirkung beeinflusst. B: Die Lebenssituation (sog. Coping-Landschaft) beschreibt allgemeine physikalische, ökonomische, soziale und entwicklungsbezogene Ressourcen der Familie und ihrer Mitglieder, welche die subjektiven und objektiven Handlungsspielräume im Umgang mit dem kritischen Ereignis gestalten. Dies verweist auf die Dimensionen der Situierung und Relationierung. C: Die Bedeutungslandkarte beinhaltet themenspezifische individuelle und familiale Konstrukte des chronischen Risikos. Darunter fallen sowohl das nicht direkt abrufbare Familienparadigma (s.o.) als auch die abrufbaren privaten Theorien und Bedeutungszuschreibungen, die eine Einordnung des Geschehens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit eine Orientierungshilfe im Umgang mit dem chronischen Risiko bieten sollen (vgl. interpretative Kontextualisierung). B und C definieren „Coping-Welten“, vor deren Hintergrund der Coping-Prozess X abläuft und das Neue als Entwicklungsergebnis entsteht, aber auch B und C selbst im Zuge einer ersten Regulierung und finalen Adaptation Veränderungen erfahren und weiterentwickelt werden. X: Coping beschreibt einen Auseinandersetzungsprozess mit dem chronischen Risiko, der sowohl konkrete aktiv-beeinflussende als auch symbolische passivakzeptierende Anteile enthält und nur anhand seines Ergebnisses bewertet werden kann. Der Prozess verläuft in Phasen und umschließt das Ereignis, die Angleichung,

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die Krise sowie die Anpassung10. Er beinhaltet die Aufgabe, „immer wieder eine Balance zwischen der Neuorganisation der wichtigsten familiären Dimensionen und der individuellen Entwicklung jedes Mitglieds“ (Welter-Enderlin 1989: 70) herzustellen (sog. familiäres Coping). Es ist im vorliegenden Fall von enormer Wichtigkeit zu verstehen, dass sich die stabil wirkenden Konzepte „Landschaft“ und „Landkarte" in einem ständigen Entwicklungsprozess befinden. Auch der Coping-Begriff darf im Zusammenhang mit einem chronischen Risiko nicht als scheinbar abgeschlossene bzw. abschließbare „Bewältigung“, sondern muss als ein flexibleres „Umgangsweisen finden“ gelesen werden.

3.4 F AMILIE

ALS

M ILIEU

In diesem Abschnitt wird Familie „als Verweisungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt- und Selbstauffassung“ (Hildenbrand 1999: 12) thematisiert. Gesellschaftliche und familiale Strukturen und Funktionen verdichten sich zu objektiven Anforderungen an das Familiensystem, die im Alltag familienspezifisch beantwortet und umgesetzt werden müssen. In der interaktiven Gestaltung des Alltags wird somit eine vertraute „Familien-Welt“ geschaffen, die aus Innenwelt, Außenwelt und dem Übergang zwischen diesen beiden besteht. Die Gestaltung der sozial-personellen, zeitlichen und sachlich-inhaltlichen Dimension der Familienpraxis verleiht dieser zugleich Sinn (vgl. Lange & Lettke 2007). Familie als Milieu lässt sich mit Schulze (1987) auch als Familienkultur bezeichnen. Diese Familienkultur beinhaltet ausagierte „Wertvorstellungen, Denkweisen, Rituale, Umgangsformen, Entscheidungsleitlinien und -verfahren und Gepflogenheiten“ (ebd.: 30), die als Familienbesonderheiten das Spezifische des Familienlebens und damit die subjektive Umsetzung objektiver Anforderungen ausmachen. Die jeweiligen familialen Milieus können jedoch aufgrund des Materialfundus der Arbeit nur kursorisch dargestellt werden (vgl. Hildenbrand 1999). Hierzu werden primär die Bücher von Rosenbaum (1982) und Vester et al. (2001) genutzt, um die jeweilige Familie – soweit das möglich ist – einerseits historischen Familienformen zuzuordnen und andererseits in das Schema sozialer Milieus der westdeutschen Gesellschaft einzuordnen. Die von Rosenbaum (1982) im Hinblick auf Familienformen spezifizierten Besonderheiten sozialer Schichten stellen dabei den Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung dar, an deren Ende die von Vester et al. (2001) beschriebenen sozialen Milieus der Gegenwart liegen, die wiederum zur pluralen Ausprägung des Phänomens „familiale Lebensform“ beitragen. Gleichzeitig gilt weiterhin, wenn auch eingeschränkt, das Familienideal der bürgerlichen Kernfamilie, das sich als normativ wirkendes Gebilde11 im 19. Jahrhundert herauskristallisiert hat und sich als „so etwas wie eine Familienkultur im Sinne der Gleichheit aller Orientierungsgrundlagen für die Familie“ (Schulze 1987: 29) darstellt.

10 Angleichung und Anpassung werden unter Rückgriff auf die systemische Sichtweise als Wandel erster und zweiter Ordnung verstanden. Damit kann eine Krise auch langfristig durch eine Angleichung beantwortet werden. 11 Dies verweist auf den Norm-Praxis-Unterschied in der Gesellschaft (vgl. Segalen 1990).

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3.4.1

Familienformen im 19. Jahrhundert

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12

Die Bauernfamilie mit Familienbesitz zeichnet sich durch die Einheit von Produktion, Konsum und Familienleben aus. Erhalt und Vermehrung des Hofes besitzen Priorität vor den Personen der aktuell lebenden Generation, die ohne Privatsphäre als „ganzes Haus“ mit dem Gesinde zusammenleben. Auch das Selbstbewusstsein des Bauern beruht wesentlich auf diesem Besitz, jedoch auch auf seiner umfassenden und uneingeschränkten männlichen Autorität als Hausherr, die es auf jeden Fall gegen die diffuse Macht der Weiblichkeit aufrecht zu erhalten gilt. In der Bauernfamilie besteht eine traditionalistische Einstellung zu Welt und Arbeit sowie eine starke Determinierung des einzelnen und seines Lebensschicksals. Rollenkonformes Verhalten wird gefordert und durch strenge soziale Kontrolle abgesichert. Beziehungen zeichnen sich durch Institutionalisierung und Instrumentalisierung, nicht durch Affektivität und Nähe aus. Dies gilt einerseits für die Wahl der Ehefrau entlang der Kriterien Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Mitgift, die zu einer als Arbeitsbeziehung zu charakterisierenden Ehebeziehung führe. Beide haben ihre Arbeitsbereiche, sind jedoch tendenziell im gleichen Produktionszweig tätig und weibliche Produktivität und Mutterschaft stellten keine Gegensätze dar. Andererseits bestimmt diese Sicht auf Beziehung die ausschließliche Wahrnehmung der Kinder in ihren Funktionen als Erben, billige Arbeitskraft und Unterstützung im Alter. Ihre Erziehung verläuft nebenbei als eine Erziehung zur Arbeit, die durch die Prinzipien Befehl und Gehorsam gekennzeichnet ist. Die empirisch-traditionalistische Wirtschafts- und Lebensweise der Bauernfamilie hat sich erst nach dem zweiten Weltkrieg durch Marktorientierung verändert. Bohler und Hildenbrand (2006) weisen jedoch darauf hin, dass zwischen Südund Norddeutschland differenzierende Unterschiede historischer Agrarverfassungen existieren, die zur Ausprägung spezifischer Milieus geführt haben. So trägt speziell im südlichen Deutschland die Realteilung zur Ausbildung einer auf Leistung, Bildung, Arbeit sowie Selbstverantwortung und -bestimmung orientierten Mentalität bei, die zudem die Ausprägung eines dichten familialen Solidarsystems mit genauer, pragmatischer Partnerwahl erforderlich macht, um durch Kombination von Betrieben oder Gewerben ein Auskommen zu sichern (vgl. auch Ilien & Jeggle 1981). Im Nordwesten hingegen werden Höfe ungeteilt übergeben, was neben der Autonomie abhängiger Nicht-Erb_innen auch die Ausbildung einer defensiver auf Überlebenssicherung ausgerichteten Mentalitätsstruktur fördert. Diese Kombination aus Patriarchat, fehlender Intimität und Personenbezogenheit der instrumentellen, arbeitsbezogenen Ehebeziehung, entsprechender Auswahlkriterien bzgl. der Ehefrau, fehlender Kindorientierung, Rollenkonformität, Traditionsbewusstsein und beruflichem Selbstbewusstsein gilt auch für die Familie im alten Handwerk. Unterschiede bestehen darin, dass erstens die Notwendigkeit einer spezifischen Ausbildung existiert, die den Wert der Kinder mindert sowie die Basis des Berufsstolzes bildet und sich mit einer ehrlichen und ehelichen Herkunft zum Selbstbewusstsein des Zunft-Handwerkers ergänzt. Zweitens richtet sich die Auswahl der Ehefrau auch nach Häuslichkeit und Ehrbarkeit, was u.a. auf die grundlegende Ar-

12 Diese Ausführungen beziehen sich falls nicht anders gekennzeichnet auf Rosenbaum 1982.

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beits- und Bereichsteilung zwischen den Eheleuten verweist. Drittens und letztens wandelt sich bereits im 19. Jahrhundert durch eine zunehmende Marktorientierung das Bild. Die Handwerkerschaft teilt sich in arme Alleinmeister-Betriebe und Menschen mit dauerhaftem Gesellenstatus einerseits und reiche, kapitalistisch agierende Unternehmen andererseits auf. Erstere kommen der proletarischen Familie nahe, letztere bewegen sich auf das Bürgertum und dessen Familienideal zu. Die bürgerliche Familie ist eine Neubildung des 19. Jahrhunderts und zeichnet sich durch die Trennung eines kapitalistischen, rastlosen Arbeitsbereichs und eines selbstbestimmten, regenerativen Wohnbereichs aus, wobei die materiellen Verhältnisse als gesichert gelten. Die bürgerliche Mentalität wird durch Individualismus und Aufstiegsorientierung bestimmt. Konkurrenz, Risikobereitschaft, Erfolgsstreben sowie ein Bewusstsein von der und Vertrauen auf die eigene Leistungsfähigkeit dominieren. Der gleichzeitige Mangel an politischer Mitbestimmung und sozialer Bestätigung als sich konstituierende soziale Klasse soll durch persönliche Beziehungen aufgehoben werden, woraus der Freundschafts- und Familienkult erwächst. Das Familienideal beschreibt die Intensivierung, Individualisierung und Intimisierung der Ehebeziehung, die auf Freiwilligkeit, Zuneigung/Liebe und gegenseitiger Achtung beruht. Familie und Heim werden zu Privatsphäre und Refugium und sind durch Häuslichkeit und Gemütlichkeit gekennzeichnet. Sie sind das Reich der wesenhaft keuschen Frau, die für dessen Organisation sowie für die Kindererziehung und Repräsentation zuständig ist, während der Mann als Ernährer, Vermögensverwalter und Vertreter in der Öffentlichkeit fungiert und in der außerhäuslichen beruflichpolitischen Sphäre wirkt. Dazu addiert sich eine Orientierung auf das Kind, das als Produkt der intimen Ehebeziehung eine Besonderung erfährt. Die Eltern-KindBeziehung gilt als von Vertrauen und Zuneigung kennzeichnet und die Kernfamilie, d.h. die Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern, wird zur bewussten Erziehungsund Bildungsveranstaltung, deren Ziel der vernünftige Mensch ist. Dieses Bild wirkt bis in die Gegenwart fort. Die familiale Lebenswirklichkeit zeichnet sich in der Folge durch die zunehmende Umsetzung der Personalisierung einer intimen ehelichen Beziehung sowie der Kindorientierung und des Verständnisses der Kernfamilie als Erziehungsveranstaltung und deren Abkapselung als Privatsphäre von der politischsozialen Öffentlichkeit aus. Dezidiert männliche und weibliche Rollenerwartungen führen jedoch zur Etablierung einer Machtbeziehung anstelle einer geistigen Gemeinschaft. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt die proletarische Familie13 massiv in Erscheinung. Deren Familienleben ist durch die Trennung von Erwerbsarbeitsplatz und Wohnraum bei extrem prekärer wirtschaftlicher Lage bestimmt. Dadurch entsteht ein proletarisches Lebensgefühl, das von Lohnabhängigkeit, existenzieller Unsicherheit, Ersetzbarkeit, Perspektivlosigkeit und Fremdbestimmung im Betrieb gekennzeichnet ist und zu einem geringen sozialen Selbstbewusstsein führt. Frühe, auf Zuneigung basierende Familiengründung ist selbstverständlich, wobei das gesellschaftliche Leitbild der patriarchalischen Dominanz des Mannes sowie entsprechende Geschlechterrollen gelten. Kinder bewertet man zwischen Zuneigung, finanziellen Sorgen und Kinderarbeit ambivalent.

13 Diese lässt sich nicht zweifelsfrei im Material identifizieren und wird nur kurz vorgestellt.

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3.4.2

Soziale Milieus im Deutschland der Jahrtausendwende

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14

Grundlegend sind drei vertikale Milieu-Stufen zu unterscheiden: das hegemoniale Milieu sowie das respektable und das unterprivilegierte Volksmilieu. Zwischen den ersten beiden verläuft die sog. Grenze der Distinktion, zwischen den letzten beiden die Grenze der Respektabilität. Innerhalb dieser Stufen lassen sich wiederum je drei Traditionslinien unterscheiden. Veränderungen zwischen den Generationen verlaufen i.d.R. entlang der Traditionslinien, nur eine kleine Gruppe von Personen weist eine Inter-Milieu-Mobilität auf. Die oberen hegemonialen Milieus teilen sich auf in das konservativ-technokratische (KONT), das liberal-intellektuelle (LIBI) und das postmoderne Milieu (POMO). Das KONT-Milieu (neun bis zehn Prozent der Gesellschaft) gründet im ehemaligen Besitzbürgertum. Hier finden sich häufig im Ruhestand lebende Menschen mit hohen und höchsten Bildungsabschlüssen, die mittlere und gehobene Einkommen aufweisen und sich aufgrund eines ausgeprägten Elitebewusstseins ihrer eigenen Machtstellung bewusst sind. Ihre Mentalität basiert auf einer humanistischen Tradition und ist gekennzeichnet durch Disziplin, Innerlichkeit, Pflichterfüllung sowie einer gönnerhaft gelebten sozialen Verantwortung. Kennerschaft, Exklusivität und Qualitätsbewusstsein charakterisieren einen auf die Hochkultur ausgerichteten Geschmack. Das LIBI-Milieu (neun bis zehn Prozent) basiert auf dem früheren Bildungsbürgertum. Seine Mitglieder stellen die intellektuelle Fraktion der herrschenden Klasse dar. Sie weisen überwiegend hohe und höchste Bildungsabschlüsse sowie mittlere und hohe Einkommen auf und zeichnen sich durch Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung, Betonung von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit, realistische Reformbereitschaft und eine individualisierte Lebensweise aus. Es existieren zwei Teilmilieus. Die ältere progressive Bildungselite inkludiert das alte alternative Milieu und zeichnet sich durch Trendsetter-Anspruch, kultivierte Kennerschaft, Understatement, politisches Engagement sowie Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein aus. Die moderne Dienstleistungselite besteht aus Aufsteigern aus den Milieus der qualifizierten Facharbeiterschaft, die weniger an Hochkultur und „großer Politik“ interessiert sind und sich durch einen ungezwungenen Lebensstil abgrenzen möchten. Beim POMO-Milieu (fünf Prozent) handelt es sich um die ehemaligen „schönen Künste“, die nunmehr die ästhetische Avantgarde ausmachen, um die sich auch ihr Selbstverständnis zentriert. Es beinhaltet viele Jüngere mit gehobenen Bildungsabschlüssen und Neigung zu unkonventionellen Karrieren. Hier konzentrieren sich ein ichbezogenes Bedürfnis nach Erlebnis, Konsum, Abwechslung sowie der Drang nach Autonomie und Unabhängigkeit von Hierarchien. Die respektablen Volksmilieus stellen den Kern der Arbeitnehmergesellschaft dar. Die drei Grundlinien der Facharbeit/praktischen Intelligenz, der kleinbürgerlichständischen Arbeitnehmer_innen sowie der Hedonist_innen sind differenziert nach Bildungskapital und basieren auf verschiedenen kulturellen Traditionen. Die Linie der Facharbeit und praktischen Intelligenz gründet auf der Gruppe der freie Bäuern_innen, Handwerker_innen und Stadtbürger_innen, die nach dem Prinzip „Leistung gegen Leistung“ bzw. Hilfe bei unverschuldeter Not verfahren. Sie grenzt

14 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Vester et al. (2001).

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sich durch eigenverantwortliche und qualifizierte Facharbeit sowie durch ein Misstrauen gegenüber der Obrigkeit ab. Autonomie, Mutualismus, Arbeitsethos, Leistungsorientierung sowie Bildungsstreben zählen zu ihren Kennzeichen. Zu dieser Traditionslinie gehören das traditionelle Arbeitermilieu (TRA), das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu (LEO) und das moderne Arbeitnehmermilieu (MOA). Das traditionelle TRA-Milieu (fünf Prozent) umfasst die körperlich Arbeitenden und ist entsprechend geschrumpft und gealtert. Seine Mitglieder zeichnen sich durch eine Gerechtigkeits-, Arbeits-, Bescheidenheits- und Gemeinschaftsethik aus. Zusammenhalt und Anerkennung in Gemeinschaften wie der Familie sind ihnen wichtiger als individueller Aufstieg. Die Mitglieder des LEO-Milieus (18 Prozent) weisen gute Schul- und Fachausbildungen auf und arbeiten i.d.R. als qualifizierte Angestellte oder Facharbeiter. Sie zeichnen sich durch ein ausgeprägtes und asketisches Leistungs- und Anerkennungsstreben aus, bei dem Selbstbewusstsein aus der Identifikation mit der Fachtätigkeit gewonnen wird. Diese zielt auf den Gewinn von Anerkennung und entsprechendem Wohlstand und geht häufig mit einer Aufstiegsorientierung einher, für die Familie und Freizeit zurückgestellt werden. Die Erfahrung von Wirtschaftskrisen führt zu einer Differenzierung in Ungebrochene Asketen, die weiterhin an Aufstieg durch Leistung glauben, und (verbitterte) Geprellte, die dies nicht mehr tun. Das MOA-Milieu (sieben Prozent) ist durch hohe und moderne Berufsqualifikation gekennzeichnet und bildet oftmals die Berufsgruppen moderner technischer und sozialer Fachintelligenz mit Bereitschaft zu Verantwortungsübernahme, Weiterbildung und Mobilität. Sie zeichnen sich aus durch Hedonismus und Individualisierung sowie eine Ethik der methodischen und realistischen Lebensführung. Gesucht wird die Balance zwischen Aufgeschlossenheit und Aufstieg einerseits sowie Zufriedenheit und (auch familialer) Geselligkeit andererseits. Ca. die Hälfte engagiert sich in politischer Basis- und Bildungsarbeit. Die kleinbürgerlich-ständische Linie umfasst Angestellte und Arbeiter, denen Pflichterfüllung und Autorität wichtig ist, und die sich dann bereitwillig in Hierarchien einordnen, wenn ihnen daraus ein Anspruch auf Fürsorge nach dem Prinzip „Treue gegen Treue“ erwächst. Das ’Patron-Klient-Verhältnis’ dominiert ihr Denken. Zu dieser Traditionslinie zählen das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu (KLB) und das moderne kleinbürgerliche Milieu (MOBÜ). Das KLB-Milieu (15 Prozent) weist solide, aber begrenzte, wenig moderne Schul- und Ausbildungsabschlüsse vor. Seine Mitglieder finden sich i.d.R. in unteren bis mittleren Positionen in der Berufshierarchie. Arbeit dient nicht der Selbstverwirklichung, sondern der sozialen und materiellen Sicherheit. Die Mentalität zeichnet sich durch eine oft restriktive Pflichtmoral aus, bei der Disziplin, Ordnung und Obrigkeitshörigkeit priorisiert werden. Demzufolge richtet sich ihre soziale Verantwortung auch allein auf die Familie als Hort der Geborgenheit, nicht auf die Gesellschaft. Die Zufriedenheit mit dem durch begrenztes Statusstreben erreichten Platz in der sozialen Ordnung zeugt von einer zu Grunde liegenden Angst vor erneuter Deklassierung. Das MOBÜ-Milieu (acht Prozent) weist solide Fachausbildungen und sichere Positionen in handwerklichen und kaufmännischen Berufen mit mittlerem Einkommen auf. Obwohl auch hier die Hierarchieordnung noch dominiert, wird sie durch Elemente der individuellen Selbstverwirklichung und des Hedonismus aufgelockert. Im Umgang mit Veränderungen bevorzugen seine Mitglieder jedoch noch mehrheitlich Autorität statt Toleranz.

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Die Jugend beider respektablen Linien (MOA und TRA) lässt sich im Milieu der Hedonist_innen (HED) verorten. Ihre Mitglieder (zehn bis elf Prozent) befinden sich noch nicht im Berufsleben und weisen ein großes Spektrum sozialer Lagen auf. Ihr Fokus liegt auf Selbstverwirklichung in Freizeit und Konsum, nicht auf Arbeit. Wichtig ist ein Abgrenzungsstreben gegenüber der angepassten Elterngeneration und deren Leistungs- bzw. Pflichtethik, wobei es Hinweise auf eine innere, später reaktivierbare Bindung an diese Werte gibt. Die unterste Stufe (zwölf Prozent) umfasst das unterprivilegierte traditionslose Arbeitnehmermilieu (TLO) mit Wurzeln im ehrlosen Proletariat ohne traditionelle Sicherheit. Hierzu zählen gering Qualifizierte in prekärer sozialer Lage, die Gelegenheits- und Routinearbeiten annehmen und oft fatalistisch von sozialstaatlichen Netzen abhängen. Entlastung und Genuss im Hier und Jetzt stehen anstelle von Stabilität, Arbeit, Selbstverantwortung und -kontrolle im Vordergrund.

4. Gesundheit als soziales Konstrukt

4.1 D IE 4.1.1

GESELLSCHAFTLICHE

B EDEUTUNG

VON

G ESUNDHEIT

Die Rolle der Gesundheit in der Risikogesellschaft

Gesundheit gilt aufgrund des mit ihr verbundenen hohen Erwartungshorizonts als Leitwert der individualisierten modernen Gesellschaft. Ihre zunehmende Bedeutung zeigt sich „in der Anwendung des grundlegenden Gesundheitsbegriffs […] auf immer höhere Ebenen und breitere Bereiche der Organisation menschlicher Handlungssysteme“ (Parsons 1999: 446) sowie in der Zunahme der unter diesem Begriff versammelten Phänomene (ebd.). Der v.a.1 von Kickbusch (2006) geförderte Begriff der „Gesundheitsgesellschaft“ bringt diese Bedeutungszunahme zum Ausdruck. Die Autorin führt aus, dass Gesundheit expandiere, in dem sie trotz der strukturellen gesellschaftlichen Zuständigkeit der Mediziner_innen für Gesundheitsprobleme (vgl. Parsons 1999) auch den Laien als zunehmend durch eigene Aktivitäten machbar erschiene. Des Weiteren nähme Gesundheit in der heutigen Gesellschaft trotz ihrer schwierigen Greifbarkeit einen immer größeren Geltungsbereich ein, aus jeder Alltagswahl werde zunehmend eine Gesundheitswahl. Die Gesundheitsgesellschaft besitzt folglich ein individualisiertes, aktives, ganzheitliches und expansives Gesundheitsverständnis und betrachtet Gesundheit als politisch, ökonomisch, sozial und persönlich treibende Kraft. „As a consequence […] the health society carries within it three promises of health: health as an ultimate value, health as a product on the market place or health as a project of empowerment.“ (Kickbusch 2008: 159) Eine Kritik dieses „Gesellschaftslabels“ liefert bspw. Pelikan (2008). Er führt aus, dass die Behauptung des Primats eines gesellschaftlichen Sektors gegenüber anderen eine im Vergleich zu Kickbuschs These besser ausgearbeitete Theorie erfordert hinsichtlich der Funktionen, der Logik, den Gesetzen u.a. determinierender Faktoren dieser Gesellschaft erfordert. Hier wird s.E. ohne viel zu erklären eine Überlegenheit oder ein Fortschritt behauptet, bei dem es sich jedoch vielmehr um eine hypostasierende, legitimierende Selbstbeschreibung handelt, die zudem gemeinsam mit anderen „A-Z-Gesellschaften“ zu einer multimorbiden Gesellschaftsdiagnose beiträgt.

1

Zwar benennt Behrens (2008) das Jahr 1983 als Entstehungszeitpunkt (ohne Quelle) und auch Pelikan (2008) erwähnt eine andere Erstnennung (Bauch 1996), jedoch wird „Gesundheitsgesellschaft“ erst durch Kickbusch als diskursiv relevanter Begriff prominent.

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Nichtsdestotrotz passt Kickbuschs Beschreibung im Wesentlichen zur Analyse von Armstrong (1995), der die Existenz einer sich fortgesetzt entwickelnden Surveillance Medicine konstatiert. Diese sog. Überwachungsmedizin richtet ihre Aufmerksamkeit vordinglich auf die Aufdeckung multipler, miteinander vernetzter Risikofaktoren in Alltag, Gemeinschaft und Lebensstil, womit das Gesundheitsthema Eingang in diese findet. Armstrongs Paradigma korrespondiert solchermaßen mit den Ausführungen zur Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), als deren Symptom und Ausdruck sie gelesen werden kann. Diese Zeitdiagnose begreift das (scheinbar) objektivierbare, quantifizierbare Risiko als strukturbildendes Moment einer zweiten, reflexiven Moderne (vgl. Beck, Giddens & Lash 1996). In ihr haben gesellschaftliche Enttraditionalisierungsprozesse und Entgrenzungen sowohl die Freiheit zur Gestaltung des eigenen Lebens gefördert als auch die diesbezügliche Verantwortung erhöht. Neuartige Entscheidungszwänge bedingen die Ausbildung von „Bastelexistenzen“, deren feste Ordnung lediglich zeitlich begrenzt existiert, und lassen die Sorge um das Selbst zentral werden. Als Ausdruck der erweiterten Handlungsmöglichkeiten dieser reflexiven Moderne wird eine Unsicherheit zu ihrem konstitutiven Merkmal, die sowohl Chancen als auch Risiken beinhaltet. In der Armstrong’schen Surveillance Medicine kommt dies durch eine Pathologisierung des Normalen sowie die Existenz eines Zustands generalisierter Wachsamkeit zum Ausdruck. Eine zugehörige neue Identität entsteht, das sog. risky self, das ständig auf der permeablen Grenzlinie zwischen prekärer Normalität und Krankheitsgefahr wandelt, so dass gilt: Durch das Aufkommen der Surveillance Medicine werden Krankheit und Gesundheit folglich zunehmend nicht mehr als die durch das biostatistische Modell (vgl. Boorse 1977) beschriebenen binären Zustände verstanden, sondern stellen Pole eines Kontinuums dar, dessen Extreme des nur gesunden bzw. kranken Menschen nicht mehr existieren. Die damit einhergehende Unschärfe kategorialer Unterscheidungen verweist auf eine Auflösung von Leitdifferenzen – auch dies ein Kennzeichen der reflexiven Modernisierung. Gleichzeitig ist mit Latour (1998) darauf hinzuweisen, dass diese Entwicklung eine Mixtur von vormodernen und modernen kollektiven Denkmustern zur Folge hat, die zusammen mit der Konzentration auf gesundheitliche Risiken einen Möglichkeitsraum des Gesundheitlichen eröffnen. Die diesem Raum eigene temporäre Dimension erlaubt sowohl ein Verständnis der wechselnden Aktualität einer chronischen Krankheit als auch der prolongierten Bedrohung einer prädiktiven Erkrankungsmöglichkeit. Krankheiten bekommen so eine Lebensgeschichte und werden wiederum zu Knoten einer unendlichen Kette von Risikofaktoren. „[I]n Surveillance Medicine illness becomes a point of perpetual becoming.“ (Armstrong 1995: 402) Medizinische Interventionen zielen nun darauf ab, die Zukunft zu verändern, indem sie eine gesteigerte Einflussnahme auf das Leben der (Noch-Nicht-)Patient_innen im Hier und Jetzt ausüben, die sich sowohl praktisch (durch medizinische Maßnahmen) als auch kognitiv realisieren kann (ebd.). Letzteres beschreibt die „selbstbestimmte“ Gesundheitsorientierung der Nicht-Mediziner_innen, die auf eine neuartige, risikobasierte Entscheidungssituation zurückgeht, welche als nicht erfüllbare Rationalitätszumutung zu verstehen ist: „[M]an muss entscheiden, ohne die ‚richtige‘ Lösung zu kennen bzw. in der Gewissheit, dass es die beste Lösung gar nicht geben wird.“ (Bogner 2005: 51)

G ESUNDHEIT

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Lemke (2003a) bezeichnet dieses Gesundheitsgeschehen als „Virtualisierung“. Damit meint er „eine quantitative Ausweitung und qualitative Umwertung der Medizin“ (ebd.: 2), wodurch „Nichtkrankheiten“ medizinische Aufmerksamkeit erfahren und durch das prädiktive Paradigma „Krankheiten nicht mehr länger den Ausnahmezustand symbolisieren, sondern den Regelfall“ (ebd.: 3).2 Die Grenze zwischen Gesundheit, Noch-Nicht-Krankheit und Krankheit wird verwischt/überschritten/verschoben/pluralisiert, so dass (realisierte wie nicht realisierte) Krankheit mittels verschiedener Entgrenzungsdynamiken in den „gesunden Raum“ expandiert (vgl. Wehling & Viehöver 2011; Karsch & Viehöver 2008; Wehling 2005). Diese Entwikclung wird von Clarke et al. (2003) als Resultat der zunehmenden Einbeziehung von technoscience beschrieben, die zur Biomedikalisierung führt. Sowohl die Erfahrung von Gesundheit, aber auch die manifester Krankheiten wird zunehmend durch Risikowahrnehmung geprägt, so dass ein Kontinuum einer mehr oder weniger starken Risikoexponierung den früheren Gegensatz gesund versus krank ersetzt hat (vgl. Aronowitz 2009). Das damit verbundene gesellschaftliche Paradigma des „Präventionismus“ in der Überwachungsmedizin zielt dabei einerseits auf die Verhinderung von Krankheit, bestätigt damit jedoch andererseits ihre ubiquitäre Anwesenheit und legitimiert ihre „totale Logik“: „Prävention zu Ende gedacht, bedeutet die Notwendigkeit absoluter Kontrolle.“ (Ulrich 2009: 57)3 Jedoch scheint sich nicht nur Krankheit in die Gesundheit, sondern auch Gesundheit an sich „ausgedehnt“ zu haben (s.o.) und (fast) alle Lebensbereiche zu kolonialisieren. Dies wird an Phänomenen wie fitness, wellness, enhancement oder anti-aging festgemacht, die einen Eigenwert besitzen, der in der Steigerung von Lust liegt (vgl. Bauman 1998) und auf Optimierung ausgerichtet ist. Die Diskussion einer wunscherfüllende[n] Medizin (vgl. Kettner 2006; Buyx & Hucklenbroich 2009) weist ebenfalls in diese Richtung, wiewohl diese subtile gesellschaftliche Gesundheitszwänge zu verkennen scheint. Die Ausweitung der Gesundheit lässt sich letztlich auch in der Bewegung feststellen, die der Forschung zu BRCA und HBOC innewohnt: „Das Leben im Gefüge der Brustkrebsgene flieht vom Familiären Brustkrebs hin zum Menschen mit sporadischem Krebs, hin zum Menschen in der prädiktiven Medizin, hin zum Menschen mit gesunden Genen.“ (Palfner 2009: 311) Die Wichtigkeit der Prävention als „grundlegende Sozial- und Kulturtechnik der Moderne“ (Lengwiler & Madarász 2011: 13) im Bemühen um gesundheitliche Absicherung überwiegt jedoch (vgl. Schnabel 2009) im aktivierenden Sozialstaat, in dem

2

3

Diese Beobachtung wird von anderen Autor_innen geteilt, so wies Illich bereits 1975 auf die „Medikalisierung des Lebens“ hin und Schmacke (2001) spricht mit Bezug zur Brustkrebsfrüherkennung von der „Besetzung der Gesundheit durch die Medizin“ (ebd.: 91). Kollek und Lemke (2008) sehen eine Weiterentwicklung und Veränderung der präventiven hin zu einer prädiktiven medizinischen Rationalität, so dass die Überwachungsmedizin als überholt einzuschätzen wäre. Als Argumente führen sie die verstärkte Form der Kontrolle und Verantwortungszuschreibung an den_die Einzelne_n, eine Sichtweise vom Körper als Knotenpunkt in Informationsnetzwerken sowie die Verlagerung eines genetischen Risikos in den Körper hinein an. Da bis auf die Verkörperung von Risiko (vgl. auch Kavanagh & Broom 1998) jedoch keine wirklich neue Ausrichtung erkennbar ist, wird die beschriebene Entwicklung hier als Weiterführung von Armstrongs präventivem Paradigma eingeordnet.

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persönliche und familiäre Selbstversorgungskompetenzen gefordert und gefördert werden, um öffentliche Solidarleistungen zu reduzieren (vgl. Schmidt 2010a). Das Präventionsprimat im Verantwortungsdiskurs wird u.a. anhand des Modellcharakters der BRCA-Praxis deutlich (vgl. Palfner 2009). Das erscheint wenig zufällig, hat doch bereits die „Brustkrebsvorsorge“ Frauen früh ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und zur Entstehung des sog. Windschutzscheibenblicks beigetragen: Die Aufgabe der möglichen Beeinflussung eines zukünftig erwarteten, festgelegt scheinenden Ergebnisses durch ein Handeln in der Gegenwart richtet eben dieses Handeln auf eine Zukunft aus und lenkt vom Hier und Jetzt ab, so dass die Gegenwart verschwimmt und ihre Wahrnehmung hinter die der Zukunft zurücktritt (vgl. Duden 1997). Diesen Wahrnehmungstrend sieht Duden erneut in genetischen Kontexten gegeben, deren Konvergenz- und Kulminationspunkt die „Brustkrebsgendiagnostik“ ist (vgl. Duden 2004). Hier jedoch – so lässt sich anfügen – wird nun der Windschutzscheibenblick um einen Blick in den Rückspiegel ergänzt, indem die Testteilnehmenden beständig mit der Vergangenheit ihrer Familie konfrontiert werden, die nun ebenfalls zu beachten ist (vgl. Pelters 2008). Dies geschieht, obschon auch Fachvertreter_innen unklar ist, wie sinnvoll und effektiv Präventionsmaßnahmen für die Reduktion von Mortalität und Morbidität wirklich sind (vgl. Feuerlein 2009; Berg 2007). Aufgrund der suggerierten und verpflichtenden Verhinderbarkeit von Krankheit, aber auch aufgrund ihrer Definition als Arbeitsunfähigkeit und damit „Schmarotzertum“ (vgl. Keil 1988), wird eine manifeste Krankheit moralisch verwerflich und darf somit entweder nicht gezeigt werden oder ist mit der Verpflichtung zur baldigen Gesundung verbunden. Hier zeigt sich die fortgesetzte Wirksamkeit der Krankenrolle4 (vgl. Parsons 1951): Der Krankenstatus kombiniert demnach die Befreiung von Alltagsverantwortungen mit der Verpflichtung zu Gesundungsengagement und Compliance mit den Anweisungen der Mediziner_innen. Das wird durch die prekäre Grenze von Gesundheit und Krankheit in der Surveillance Medicine sowie dadurch erschwert, dass für Gesundheit im Gegensatz zu Krankheit gesellschaftlich „keine allgemein anerkannte Definition“ (Schwarz, Siegrist & v. Troschke 1998: 9) existiert. Die Krankenrolle und damit auch die zugehörige „Krankheitsarbeit“ (Corbin & Strauss 1985) scheint damit als ständig Aufgegebene unwiderruflich zu einem Teil von Gesundheit zu werden, was eine analoge „Gesundheitsarbeit“ erfordert. Diese zitiert zwar vordergründig die Kennzeichen des in der Krankenrolle geforderten Engagements, scheint jedoch aufgrund der medial und technologisch gestützten Wissenspluralisierung und -verundeutlichung ungleich schwerer zu verfolgen. 4.1.2

Persönliche Gesundheit als gesellschaftlich forcierte Erwartung

Vor allem das Versprechen der Leidensfreiheit trägt in der Gesundheitsgesellschaft dazu bei, dass persönliche Gesundheit als verborgenes und somit geschenktes, aber

4

Der strukturfunktionalistische Ansatz ist im Hinblick auf Patientenautonomie sowie chronische Krankheiten als zu einseitig und die Patient_innen als zu passiv darstellend kritisiert worden. Parsons beschreibt jedoch eine gültige gesellschaftliche Erwartungshaltung wie sie im sickness-Konzept zum Ausdruck kommt (vgl. Schwarz, Siegrist & v. Troschke 1998).

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nicht gestaltetes „Wunder der Selbstvergessenheit“ (Gadamer 1993: 126) immer weniger existiert und diese stattdessen in der säkularisierten und individualisierten Risikogesellschaft zur profanen, herstellbaren Heilserwartung hochstilisiert wird. Letztere wird mit hohen Ansprüchen an Wohlbefinden sowie Störungsfreiheit und Handlungsfähigkeit, kurz Funktionalität, verbunden und mischt sich mit der Tendenz zur Planbarkeit und Rationalisierung der individuellen Lebensführung (vgl. BeckGernsheim 1994;1999; Bauman 1998). Gesundheitshandlungen erfüllen somit die Definition der von Foucault beschriebenen Selbsttechnologien, da sie „[…] permit individuals to effect by their own means or with the help of others a certain number of operations on their own bodies and souls, thoughts, conduct, and way of being, so as to transform themselves in order to attain a certain state of happiness, purity, wisdom, perfection or immortality.“ (Foucault 1988: 18)

Gesundheit dient dabei i.d.R. der Absicherung der individuelle Gestaltung eines gelingenden Lebens (vgl. Mordacci 1998; Komduur, Korthals & te Molder 2009), so dass sich der pursuit of happiness zum „pursuit of health“ (Crawford 2006: 401) zu wandeln scheint. Sie stellt damit ein basales Entwicklungsziel in der Risikogesellschaft dar, kann sich aber auch zum Selbstzweck entwickeln und ist folglich sowohl als instrumenteller als auch intrinsischer Wert denk- und lebbar. Crawford (2006) charakterisiert Gesundheit daher als persönlicher „super value; that is, a concept hat subsumes under its expansive reach all that is good in the personal search for wellbeing or ‚wellness‘.“ (Ebd.: 411) Gesundheitliche Sorge und Vorsorge stellen mithin zentrale Lebensthemen dar. Jeder Person wird ein einklagbares Recht auf, aber auch eine Pflicht zur Gesundheit suggeriert, die diese zur Frage der Wahl, der moralischen (Verantwortungs-)Kompetenz, zur Ware, zum sozialen Kapital sowie zum Statusund Selbstwert-Marker macht und unter das Primat der Leistung einordnet. Sie gerät damit letztlich zur persönlichen, funktionalen, ästhetischen und fast unbegrenzt steigerbaren Herstellungsleistung5 autonomer Bürger_innen (vgl. Lemke 2004a; Ammicht-Quinn 2001; Metzl 2010). Der Einfluss des Sozialen macht sich für die einzelne Person subtil aber bestimmt als „freiwilliger Zwang“ (Beck-Gernsheim 1999: 48) bemerkbar, d.h. als nicht konkret erzwungene, aber auch nicht ganz freiwillig gewählte Verhaltensvorgaben, die eine verantwortliche und rationale Lebensführung basierend auf der Kenntnis der eigenen, auch genetischen Gesundheitsdaten veranlassen. Dabei impliziert der Verantwortungsbegriff nicht nur den in diesem Sinne „sozial verantwortbaren“ Handlungsvollzug, sondern fordert auch eine innere Zu- und Überstimmung mit diesem (vgl. Kollek & Lemke 2008). Verantwortlich handelt demnach, wer sich aus eigener Überzeugung um gesundheitliche Absicherung bemüht. Und diese Absicherung richtet

5

Der suggerierten Herstellbarkeit von Gesundheit korrespondiert eine ebensolche gesunder Körper (vgl. Rittner 1982). Gesundheit, Ganzheit, Schönheit, Heil, Fitness, Jugendlichkeit – alle diese Bedürfnisse werden durch die selbstverpflichtende Beschäftigung mit dem Körper, seiner Kultivierung und „Verkultung“ als Körper-Optimierungsprojekt in der „somat-oupischen Gesellschaft“ angesprochen und zu befriedigen gesucht (vgl. Chrysanthou 2003; Ammicht-Quinn 2001).

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sich eben nicht nur gegen manifeste Krankheiten, sondern auch gegen die Unsicherheit diagnostizierter Noch-Nicht-Krankheiten und publizierter Gesundheitsrisiken. Diese „responsibilization“ gilt Rose (1999: 74) als Kennzeichen eines Phänomens, das erstmals von Crawford (1980) als healthism bezeichnet wurde und sowohl gesundheitliche Probleme als auch Lösungen beim alleinverantwortlichen Individuum verortet. Die Doktrin, des healthism, die „public objectives for the good health and the good order of the social body with the desire of individuals for health and well-being“ (Rose 1999: 74) verbindet, führt laut Skrabanek (1994) zu einer Art lifestylism, demgemäß die meisten Krankheiten als Ergebnis einer ungesunden Lebensweise aufgefasst werden. Das trägt zu einer beständigen Einteilung von Verhaltensweisen entlang der Dimensionen gesund-ungesund, verantwortlich-unverantwortlich, vorgeschrieben-verboten bei. Diese Bewertungsweise wird laut Skrabanek von den Bürger_innen kapitalistischer Gesellschaften dank deren „Überredungstechniken“ (z.B. Werbung) internalisiert und „selbständig“ angewendet und muss ihnen folglich nicht mehr „aufgezwungen“ werden. Gesundheit wird somit unschwer als Phänomen erkennbar, in dem sich das Foucault’sche (1991) Konzept der governmentality realisiert. Da biomedizinischen Deutungen eine besondere Autorität zukommt, kann die ständige Bemühung um und „Anhäufung“ von Gesundheit auch als Form der Medikalisierung bezeichnet werden, in der sich Surveillance Medicine im Alltag äußert. Dieser „Gesundheitskapitalismus“ mit seiner medikalisierenden, konsumeristischen, stigmatisierenden, kolonialisierenden und normativierenden Rethorik (vgl. Metzl 2010) harmoniert sehr gut mit der neoliberalen Wirtschaftsordnung sowie der Arbeitsethik der Mittelklasse (vgl. Crawford 2006) und verfestigt diese gesellschaftlichen Phänomene zugleich. Der Begriff healthism stellt hier eine kritische Distanzierung von diesem Phänomen dar: Diese Form der Verantwortungsüberantwortung wird in eine Reihe mit Sexismus, Rassismus usw. gestellt, wodurch auf das kränkende und diskriminierende Potenzial (beobachtbarer) gesundheitlicher Mängel hingewiesen wird. Die Botschaft der eigenverantwortlichen Gesundheitsoptimierung und -kompetenz ist dabei auf einen derart fruchtbaren Boden gefallen, dass ein Phänomen entstanden ist, „what many health professionals see as a common, increasingly uncontainable and personally stressful problem: the beliefs, behaviour and expectations of the articulate, healthaware and information-rich middle-classes.“ (Greenhalgh & Wessely 2004: 197) Die Forderungen der „übertrieben“ kenntnisreichen „Gesundheitskundschaft“ scheinen folglich ersten Vertreter_innen der medizinischen Zunft bereits zauberlehrlingshaft aufzustoßen. Auch dieses Phänomen firmiert unter der Bezeichnung Healthism. Die Vermittlung gesundheitlicher Kenntnisse unterschiedlichster Provenienz (vgl. Latour 1998) sowie die damit einhergehende Erweiterung diagnostischer Virtuosität und Deutungskompetenz der (sowohl laienhaften als auch professionellen) Person können letztlich jedoch auch zu einer gesteigerten Sensibilität für Gefahren führen, was zur Steigerung von Ratlosigkeit und Überforderung und damit genau der Unsicherheit beiträgt, die sie eigentlich vermindern sollen (vgl. Lengwiler & Madarász 2011). Die Sensibilisierung kann dann auch in eine Risikomüdigkeit mit Banalisierungstendenz umschlagen (vgl. Aronowitz 2009) oder zu Ansätzen des Reclaiming der Normalität vermeintlicher Risikozustände führen (vgl. Freiman & Lönn 2010). Die individualisierungsbedingten Erwartungen an persönliche Wahl und Verantwortung bleiben jedoch ganz überwiegend bestehen und steigern ihrerseits wiederum die

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Konstruktion von Gesundheit als Heilserwartung (vgl. Wüstner 2000). Das macht sich gesellschaftlich als „Sozialpflichtigkeit“ von Körpern bemerkbar, ohne dass diese durch eine entsprechende (strukturelle, soziale) Kontextsensibilität ergänzt wird, da alle den gleichen Maßgaben folgen sollen, ohne die gleichen Voraussetzungen zu haben (vgl. Lemke 2003a). In der Folge rückt eine „optimale“ Gesundheit so sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dass die heutige „Gesundheitskundschaft“ jede kleinste Abweichung davon bereits als krankhaft wahrnimmt., was Dörner (2002) am Beispiel der gesteigerten Schmerzwahrnehmung und Medikation festmacht. Hintergrund scheint eine generalisierte Ablehnung von Abweichungen zu sein, die ungeachtet erworbener Kenntnisse mit einer Verbesserungsorientierung koinzidiert. Als Beispiel kann das Zusammentreffen einer Abnahme der Geburtenrate von Menschen mit Down-Syndrom mit einer Verbesserung ihrer Behandlung und damit ihrer (vermuteten) Lebenswirklichkeit gesehen werden (vgl. Spiewak 2009): Einerseits wird an der „Optimierung“ des „Schwangerschaftsergebnisses Kind“ gearbeitet, andererseits wird nach dessen Geburt eine „nachbessernde Lebenswirklichkeitsoptimierung“ realisiert. Stünde eine Optimierung nicht im Zentrum, wäre es schwer verständlich, warum eine „Lebenswirklichkeitsverbesserung“ keine Steigerung der Geburtenrate zur Folge hat. Diese Tendenz zur verminderten Gesundheitszufriedenheit geht zugleich einher mit einer statistisch verbesserten Gesundheit auf Populationsniveau, was als Gesundheitsparadoxon (vgl. Barsky 1988) bekannt ist. Exkurs: Die Rolle der Genetik in der Gesundheitsdebatte Die Gentechnisierung benutzt das Gesundheitsthema einerseits als „Brückenkopf“ zur Expansion in den sozialen Raum (vgl. Beck-Gernsheim 1994), andererseits ist sie dazu geeignet, die Gesundheitsverheißungen und das Niveau der Ansprüche zu erhöhen. Die sog. genetisierte Medizin verspricht nicht nur die Verhinderung von Krankheit und Leiden, sondern auch eine Zunahme der Planbarkeit und Gestaltbarkeit des Lebens und so eine Steigerung der individuellen Autonomie (vgl. Opitz 1997; Wade 2001). In dieser Lesart wird genetische Diagnostik zum „Motor der Individualisierung“ (Scholz 1995: 64) und zur Repräsentation der gesundheitlichen Verheißung. Entsprechend beinhaltet gesundheitsverantwortliches Verhalten im Kontext eines evtl. genetischen Risikos die Aufforderung an Individuen, eine genetische Diagnostik in Anspruch zu nehmen und mit den erhaltenen Informationen bewusst umzugehen. Dies wird als autonome Eigenverantwortungsübernahme gewertet (vgl. Wüstner 2000; Beck-Gernsheim 1999), die sich auch positiv auf die (Herkunfts- und Wahl-) Familie auswirken kann (vgl. Kollek & Lemke 2008). Darstellung und Rezeption der BRCA-Diagnostik beinhalten genau dieses Doppelmotiv: Als individuelle Wahl repräsentiert sie Freiwilligkeit, jedoch auch gesundheitsverantwortliche Selbstwirksamkeit, in ihren Auswirkungen auf die Familie hingegen soziale Verantwortungsüber6 nahme, die dem_der Nächsten wiederum Wahlmöglichkeiten eröffnet. Allerdings sind auch paradoxe Effekte feststellbar, da die Autorität des Präventionsgedankens durch genetische Unabänderlichkeit unterhöhlt wird (vgl. Niewöhner 2011).

6

Siehe z.B. folgende Selbsthilfegruppen: www.facingorurisk.org; www.brca-netzwerk.de.

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4.2 B ESTIMMUNG 4.2.1

DES

G ESUNDHEITSBEGRIFFS

DER

A RBEIT

Die Schwächen einer bio-psycho-sozialen Faktoren-Gesundheit

Üblicherweise wird in westlichen Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland von einer handlungsleitenden Gesundheitsdefinition ausgegangen, die Gesundheit bzw. Krankheit als bio-psycho-soziales Geschehen betrachtet. Diese Betrachtungsweise – auch als holistisch bezeichnet (vgl. Seedhouse 2001) – beinhaltet eine Faktorendifferenzierung, welche sich in sämtlichen Definitionen zeigt, die einzelne Bestimmungsbereiche von Gesundheit benennen (z.B. WHO 1946; Hurrelmann 2000; Hafen 2007; Pschyrembel 1998) und Gesundheit damit gerade nicht ganzheitlich betrachtet, sondern potenziell in handlungsleitende „Häppchen“ zerlegt7 und im doppelten Sinne diszipliniert, in dem Personen sowie deren Körper einer bestimmten Form von Kontrollregime unterworfen (vgl. Foucault 1976) und Gesundheitszuständigkeiten auf bestimmte Disziplinen aufgeteilt werden. Dieses Vorgehen ist zudem beliebig fortsetzbar (z.B. durch Inklusion von Kultur, Ökologie etc.). Die entsprechenden Konzepte werden im Folgenden als Faktoren-Gesundheit adressiert. Sie beinhalten allesamt die Potenz zur Förderung einer persönlichen Kontrolllogik, die suggeriert, dass eine Erfüllung aller faktoriellen Anforderungen zur Gesundheit führt. Damit entstehen sowohl eine Art persönliche Checklisten-Mentalität als auch die genannte gesellschaftliche Auffassung von Gesundheit als zu erbringender Leistung. Die Definitionen, die der Faktoren-Gesundheit zugerechnet werden, wirken zudem normativ: I.d.R. wird eine gute Gesundheit als einzig denkbares Ziel fokussiert. Besonders deutlich wird dies in der utopisch anmutenden WHO-Definition von Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“8, der Gesundheit als eine Art Eden erscheinen lässt, in dem alle Unlustquellen beseitigt sind. Die axiomatisch anmutende Wiederholung einer guten Gesundheit als wünschenswertes Ziel aller Bemühungen und Grundlage eines guten, „lustvollen“ Lebens findet sich jedoch auch in anderen Definitionsansätzen. Beispielhaft soll dies anhand der oftmals in den deutschen Gesundheitswissenschaften zitierten Definition von Hurrelmann (2000) aufgezeigt werden, dessen WHO- und salutogenetisch9 inspirierter Gesundheitsbegriff zunächst sehr selbstbestimmt wirkt: „Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorgaben und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt und bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann

7 8 9

Dies wird in der Tendenz auch für das Salutogenese-Konzept mit seinen praxisrelevanten Schutz- und Risikofaktoren angenommen (vgl. Antonovsky 1997). WHO 1946, zitiert nach Franke 2006: 29. Antonovsky selbst hat aus dem Anspruch heraus, nicht fremd zu bestimmen, wie Menschen ihre Gesundheit sehen, keine Gesundheitsdefinition angeboten.

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sich, muss sich aber nicht, in Symptomen der sozialen, psychischen und physischphysiologischen Auffälligkeit manifestieren.“ (Ebd.: 8)

Positiv an dieser Definition ist der grundsätzlich subjektive statt objektive Zugang zu Gesundheit, dem sich die Autorin anschließt.10 Kritikwürdig erscheint jedoch v.a., dass Gesundheit durch Nicht-Erfüllung und Nicht-Bewältigung von oder Anpassung an Anforderungen beeinträchtigt wird.11 Das Verlassen einer Balance zwischen Risiko und Ressource wird so zum Versagen, aus dem sich Symptome ergeben können. Dies beinhaltet ein Leistungsdenken sowie eine Bewertung, durch die Gesundheit positiv, ihre Beeinträchtigung negativ erscheint, wobei „gute Gesundheit“ anhand des Entwicklungsbezugs ggf. doch wieder „objektiv“ durch Dritte beurteilbar wird. Gerade vor dem Hintergrund der beschriebenen gesellschaftlichen Ausweitung von Krankheit in den „gesunden Raum“ erscheint dies jedoch geradezu als perfide: Eine positive „Koexistenz“ von Gesundheit und (chronischer) Krankheit bzw. „Risikostatus“ ist erschwert und dem beteiligten Individuum wird die Möglichkeit genommen, eigene Wertungen einzubringen.12 Damit wird das gesellschaftlich diagnostizierte Verständnis von Gesundheit als „moralischer Komplex“ unterstrichen, oder wie Borck (2003) es nennt: die „Fetischisierung von Gesundheit“ (ebd.: 136). Anders gesagt: Gesundheit wird weniger definiert, als vielmehr als wünschenswerter Zustand fest- und vorgeschrieben und somit moralisch aufgewertet. Diese Feststellung spiegelt sich in der Analyse Luptons (1995), die den Gesundheitswissenschaften durchgängig die Strategie attestiert, Gesundheit als moralisches Gebot zu definieren. Ein weiterer Punkt wird deutlich, wenn zwischen den Konzepten Risiko und Bedrohung unterschieden wird: Während genetische Berater_innen ein kalkulierbares und kontrollierbar Risiko vermitteln, wird diese Information von den BRCApositiven Personen oftmals als Bedrohung aufgefasst, die als persönlich überwältigend und per se nicht kontrollierbar erlebt wird, mit der sie jedoch nichtsdestotrotz umgehen müssen. Es besteht folglich eine konzeptionelle Betroffenheitsdifferenz (vgl. Bogner 2005). Bei Hurrelmann bleibt eine Differenzierung aus, die es ermöglichen würde, Situationen mit nicht erfüllbaren jedoch bewältigten Anforderungen zu berücksichtigen, zu denen genau diese Erfahrungen chronischen Risikos gehören. Eine positive, der Lebensrealität der Beteiligten eher gerecht werdende, „offene“ Sichtweise von „Kategorienkonfusionen“ zwischen den Polen gesund und krank, d.h. von Situationen, in denen disease und illness nicht übereinstimmen und möglicher-

10 Unklar bleibt hierbei, ob der benannte „Zustand des objektiven […] Befindens“ auf die Annahme einer medizinisch gesehen „objektiven Gesundheit“ hindeutet, was nicht geteilt wird. Auch die sog. „objektiven“ medizinischen Daten unterliegen einer Deutungsnotwendigkeit durch das medizinische Personal, was zu variablen Ergebnissen führen kann. 11 Das widerspricht der von ihm an anderer Stelle (2000: 91/92) geforderten Demokratisierung des Verhältnisses von Gesundheit und Krankheit mittels der „Eigendefinition von Menschen“. Gesundheit scheint damit auch für Expert_innen schwer bestimmbar zu sein. 12 Unbeantwortete Fragen sind z.B.: Kann es nicht geradezu ein Ausdruck von Gesundheit sein, in bestimmten Situationen krank zu werden? Ist man weniger krank, wenn man Krankheit gut akzeptiert?

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weise von verschiedenen Beteiligten unterschiedlich gewertet werden, erfordert einen kreativeren Definitionsansatz. Bei Hurrelmann wie auch Antonovsky (1997) ist zudem die Dimension der Subjektivität sehr prominent gehalten. Sowohl die vagen „äußeren Lebensbedingungen“ als auch das ereignisbasierte Kohärenzgefühl erscheinen nur begrenzt sozial fundiert bzw. auf eine Relevanz interdependenter Sozialbeziehungen hinzuweisen. Beides erscheint fragwürdig, da sich hier der Schritt zur Übertragung der alleinigen Verantwortung an das Individuum anbietet und die Berücksichtigung von Sozialität aus dem Blick gerät, die eine kontextualisierte Sicht der Gesundheit Einzelner inkludieren müsste (vgl. Wiencke 2011). Aus den Ausführungen ergibt sich die folgenden Liste kritisierter Eckpunkte der faktorgesundheitlichen Definition, die hier explizit nicht vertreten werden. • • • •

Kontrolllogik, Anpassungs- und Leistungsdenken in der Faktorendifferenzierung das finale Dogma einer wünschenswerten guten Gesundheit als Wertvorstellung die Annahme einer „objektiven Gesundheit“ als subjektiv bedeutsames Konzept die alleinige Betonung des Subjekts und die Vernachlässigung sozialer Kontexte

4.2.2

Eine erste Annäherung an Gesundheit als Ergebnis einer subjektiv-sozialen Konstruktion im Rahmen des Labelling-Modells

In dieser Arbeit wird Gesundheit daher zunächst ganz allgemein als soziale Konstruktion (vgl. Gawatz & Novak 1993) sowie analog zu Krankheit und Kranksein als im Bedeutungsprozess entstehende Wirklichkeit verstanden, einem in den 1980er Jahren in der Ethnomedizin13 diskutierten Verständnis (vgl. Good & DelvicchioGood 1981). Das Konzept der Faktoren-Gesundheit wird somit zugunsten einer Fokusverschiebung verworfen, durch die der lebensweltlich eingebundene individuelle Vorgang der subjektiven Gesundheitsbewertung und seine Umsetzung im Handeln als zentral angesehen wird. Dabei ist Gesundheit ein zugleich unscharfer wie normativer Begriff, der einer kulturellen Überformung unterliegt und trotzdem einen scheinbar objektivierbaren Gehalt aufweist. Die verschiedenen Ebenen des Geschehens wie auch seine Unschärfe und Normativität werden u.a. durch die Aufteilung in drei Bezugssysteme deutlich, die sich bezeichnenderweise lediglich hinsichtlich des verwendeten Krankheitsbegriffs auch verbal differenzieren lassen: Auf der subjektiven Ebene der Personen stehen Fähigkeiten und Befindlichkeiten im Zentrum und Krankheitserleben wird als illness adressiert. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird Gesundheit als Grundwert, Leitbegriff und unter einem Produktivitätsimperativ gesehen und Krankheit im Hinblick auf eine „Krankenrolle“ als sickness bezeichnet. Auf der Ebene des Medizinsystems schließlich wird Gesundheit bzw. Krankheit – die hier disease genannt wird – anhand von (scheinbar) objektiven, quantitativen Messwerten auf der Grundlage eines biologischen Paradigmas bestimmt (vgl. Rösler, Szewczyk & Wildgrube 1996; Beckmann 2000; Schwartz, Siegrist & v. Troscke 1998; Beck-Gernsheim 1999).

13 Für eine Übersichtsdarstellung der ethnomedizinischen Diskussion vgl. Lux (2003).

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Da gerade dem Ansatz von Good und Delvicchio-Good (1981) mangelnde Berücksichtigung der sozialen Beziehungsdimension durch Fokussierung auf das Individuum (vgl. Young 1982) vorgeworfen wurde, wird das sog. Labelling-Modell der Krankheitsentstehung (vgl. Franke 2006) trotz gewisser Schwächen vorläufig als konkreter Ansatz zum Verständnis der Gesundheitsformation herangezogen. Es zählt zu den interaktionstheoretischen soziokulturellen Krankheitsmodellen, die Krankheit als Abweichung von der sozialen Norm thematisiere und vermittelt einen ersten Eindruck davon, wie gesundheitliche Zuschreibungen interaktiv funktionieren und zu Krankheit führen. Gesundheit wird somit als sowohl subjektive wie soziale Wirklichkeit konzipiert. Diese Herangehensweise wird im Lichte der Studienergebnisse weiter auszuführen sein. Das Labeling-Modell geht davon aus, das Krankheit ein Produkt der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit ist. Sie resultiert aus der Einschätzung einer Handlung als Verhaltensauffälligkeit. Die Entscheidung über die Bewertung dieser regelverletzenden Handlung liegt beim sozialen Umfeld. Familienmitgliedern wird dabei eine Bewertungsautorität als Beobachter_innen zugesprochen. Je nachdem, ob dieses als „primäre Abweichung“ identifizierte Verhalten von Vertretern eines Expert_innensystems als tolerierbar oder sanktionswürdig angesehen wird, folgt eine identitäre Anpassung der handelnden Person um dieses Merkmal herum als „sekundäre Abweichung“ oder nicht. Bei drohender Unveränderlichkeit wird die anerkannte Abweichung wiederum durch Gegenmaßnahmen einzudämmen oder zu verhindern versucht. Die Etikettierung bleibt dem gesellschaftlich zuständigen Expert_innensystem vorbehalten, die (tatsächlich) betroffene Person folgt dieser lediglich, d.h. eine Selbstetikettierung als „krank“ erfolgt erst als Reaktion auf die soziale Reaktion. Dieses Interaktions- und Zuschreibungsmodell wird primär im Zusammenhang mit psychischen Störungen und Behinderungen, aber auch zur Kennzeichnung anderer sozio-normativer Abweichungen wie der Herausbildung der prototypischen Figuren des Armen, Außenseiters, Ausländers oder Kriminellen beitragen (vgl. Mercer 1973; Ericson 1975; Moncrieffe & Eyben 2007). Das Modell ist zunächst insofern problematisch, als nicht Gesundheit sondern Krankheit zentral ist, die zudem einem bestimmten Formenspektrum angehört. Zudem setzt eine Selbstetikettierung ein labelling durch Experten voraus, d.h. die Person füllt lediglich eine zugewiesene Rolle aus, ohne an deren Zuweisung aktiv-kreativ beteiligt zu sein – was auch die Veränderung der gespielten Rolle erschweren dürfte sowie eine Unterscheidung eines pathischen „Nicht-Anders-Könnens“ vom „Auch-anders-Können“ Gesunder bzw. „Unauffälliger“ verhindert (Blankenburg 1997: 25). An diesem Modell erscheint jedoch die Kombination aus Etikettierung und Performanz im Rahmen der Studie als attraktiv, da sie interaktiv Wirklichkeit bildet, d.h. einer Gesundheits- bzw. Krankheitskonstruktion zu Grunde liegt. Zwei hierbei bedeutsame interaktiv-performative Praxen heißen outing und passing. Outing beschreibt das selbst initiierte bzw. durch andere erzwungene Bewusstwerden eines identitären Patient_innenstatus und dessen evtl. Veröffentlichung, z.B. als Folge des Erkennens einer Allergie. Es beinhaltet das Element des (sich) Eingestehens und damit ein Erkenntnishindernis. Passing beschreibt die (un-)bewusste Zurschaustellung von Charakteristika einer dominanten Patient_innenidentität, um Stigmatisierungen und Diskriminierungen abzuwehren oder Status bzw. Normalität

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zu gewinnen. Situationen, in denen passing beabsichtigt wird, beinhalten immer die Gefahr des Fehlschlags und des daraus folgenden Zwangsoutings als „unpassend“ (vgl. Brueggeman 2006; Walker 2001). Als klassisch gilt in diesem Zusammenhang Garfinkels Darstellung der intersexuellen Agnes, deren passing als beispielhaft gelten kann und wie folgt beschrieben wird: „The work of achieving and making secure her rights to live as a normal natural female while having continually to provide for the possibility of detection and ruin carried on within socially structured conditions I call Agnes ‚passing‘.“(Garfinkel 1984: 137)

4.3 D IE F AMILIE ALS GESUNDHEITSRELEVANTER SOZIALER K ONTEXT Der Familienfokus der Studie ergibt sich als Konsequenz ihrer Gesundheitsrelevanz, denn: „Der Familie wird bei der Verhütung, Entstehung, Entwicklung und Bewältigung von Krankheiten eine zentrale Rolle zugesprochen.“ (Kolip 2003: 497) Als Solidargemeinschaft stellt die Familie den Kern eines gesundheitsbezogenen „sozialen Immunsystems“ mit sowohl protektiver als auch pathogener Potenz dar. Emotionale und praktisch-pflegerische Transferleistungen vermitteln jene Erfahrungen von Rückhalt und Unterstützung, die besonders im Zusammenhang mit dem Erhalt der Gesundheit bzw. der Bewältigung von Krankheit von Bedeutung sind (vgl. Nestmann 1997; Nave-Herz 2006), Familien aber auch durch überzogene politische Anforderungen überlasten können (vgl. Schmidt 2010a). Als primäre Sozialisationsinstanz lehrt sie zudem „Gesundheit“ und „Krankheit“ bzw. Befindlichkeit und deren Störung. Die Gesundheit des einzelnen Familienmitglieds wird somit zum interaktiven Sozialisationsprodukt unter Ko-Autor_innenschaft aller Beteiligten. Mannigfache Analysen haben multiple Einflussfaktoren bzgl. der beiden funktionalen Aspekte Solidarität und Sozialisation festgestellt, z.B. die Wirksamkeit als Belastungspuffer, die Einübung einer gesundheitsförderlichen Lebensweise oder Einflüsse von Familienständen, Arbeits- und Wohnverhältnissen (vgl. Kolip 2003; Schnabel 2001). Familiale und familiäre Einflüsse bilden die Voraussetzung zur Herstellung einer persönlichen „Gesundheitsfähigkeit“ einzelner Familienmitglieder, unter der das „Vermögen, sich mit den unvorhersehbaren bis riskanten Herausforderungen des Privat- und Arbeitslebens auf möglichst gesundheitsdienliche Weise […] auseinanderzusetzen“ (Schnabel 2010: 42) verstanden wird. Demzufolge wird die Familie hier letztlich als Dienstleistungskontext zur Förderung individueller Gesundheit konzipiert. In der vorliegenden Studie sollen primär die latent, d.h. präreflexiv vorliegenden Handlungs- und Deutungsdispositionen und -kompetenzen inkl. der diese bedingenden familialen Beziehungsstrukturen als interdependente und kontextualisierende Bedingungen von Gesundheit als sozialem Konstrukt14 untersucht werden. Auf deren Wichtigkeit weist u.a. die Arbeit von Borbe (2006) hin, die durch die Verdeutlichung und Spielraumerweiterung von systemischen Beziehungsdeterminanten und familia-

14 Im Gegensatz dazu zielt das Modell der Familiensalutogenese (vgl. Schnabel 2001) eher auf die Explikation der Entstehung individueller Gesundheit ab und wird daher als weniger geeignet betrachtet.

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len Deutungsmuster gute therapeutische Erfolge bei der Gesundheitsberatung und Behandlung chronisch kranker Kinder vermelden konnte. Schönberger und von Kardorff (2010) belegen im Rückgriff auf Bourdieus Habitus-Konzept die große Bedeutung transgenerational tradierter milieu- und schichtabhängiger Referenzmaßstäbe, Einstellungen, Handlungsmuster, Wissensbestände und genereller Orientierungen als allgemeine Landkarte des Gesundheitskapitals sowie für den Umgang mit einer aktuellen Krise. Die Autor_innen zeigen zudem, dass das Thema gesundheitlicher Verantwortung vor dem Hintergrund der Anforderung an Familie, ein moralisch als gut bewertetes Lebensführungsmuster zu vermitteln, mit dem der Fürsorglichkeit, Pflichterfüllung sowie der Reziprozitätsnorm verbunden ist. In diesem Kontext verlieren lebensweltliche Wissensbestände jedoch im Vergleich zu wissenschaftlichen zunehmend an Autorität. Einen ähnlichen transgenerationalen Effekt konnte Adamaszek (1996) bzgl. der Wirksamkeit familialer Strukturen auf Gesundheit belegen, wobei sich in ihrer Studie Beziehungsmuster als besonders wirksam herausstellten. V.a. Verlust-, Mangel- und Ausschlusserfahrungen wurden durch präreflexive intersubjektive Vollzüge sinnkonstitutiver gemeinsamer Tätigkeiten in Form gemeinsamer latenter Handlungs- und Sprachmuster von einer Generation zur nächsten weitergegeben, so dass dadurch leibliche Orientierungen entstanden, in denen delegationsbedingt Wohlbefinden gestört war. Um in den Blick zu nehmen, wie ein grundlegender gesundheitlicher Bewertungsfilter in der familialen Interaktion entsteht, die Dimensionen der Beziehungen und Dispositionen einander folglich bedingen, wird von den folgenden Grundannahmen der Familienmedizin ausgegangen: „1. Jeder Mensch hat eine Ursprungsfamilie, auf die er sich mehr oder weniger bezieht. 2. Jede Familie leistet einen Beitrag zur Gesundheit, genetisch und emotional.“ (Hegemann, Asen & Tomson (2000), zitiert nach Borbe 2006, S. 66).

Hier wird die Familie als Potenzial und/oder Risiko betrachtet und versucht, sie in den Behandlungsprozess zu integrieren, um familiale Selbsthilfe zu ermöglichen. Gleichzeitig gilt es, das Bedeutungssystem des_der Patient_in in Auseinandersetzung mit dem familialen herauszuarbeiten, um zu beeinflussende bzw. zu akzeptierende Aspekte festzustellen. Die systemische Familienpsychosomatik wird als Ausgangsmodell gewählt. Ursprünglich entwickelt, um die Ätiologie psychischer bzw. psychosomatischer Krankheiten verstehen und behandeln zu können (vgl. Simon, Clement & Stierlin 2004), erscheint es unter Bezug zum Konzept der Filtergesundheit grundsätzlich geeignet, auf somatische bzw. genetisch bedingte Erkrankungen ausgedehnt zu werden. Diese Krankheitstheorie beschreibt Wechselbeziehungen zwischen familialsystemischen Prozessen und dem individuellem Körpergeschehen. Dabei wird von den konstitutiven individuellen Systemen Psyche und Soma ausgegangen, die jeweils operational geschlossen und autopoietisch verfasst sind. Das Verhältnis von Psyche und Soma ist als Partnerschaft konzipiert: „Die Psyche-Soma-Beziehung ist lebenslang, ununterbrochen, unausweichlich und […] unkündbar.“ (Eder 2007: 29). Sie sind durch Ko-Evolution sowie Interpenetration verbunden und haben ein dialogisches Verhältnis zueinander. Gesundheitsbeeinträchtigungen können daher als Stö-

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rung dieses Dialogs „etwas über den Weg der Sprache des Körpers [ausdrücken], wofür eigentlich das Bewusstsein, die Psyche den adäquaten (Mit-)Ausdruck finden müsste.“ (Ebd.: 43) Psyche und Soma bilden eine Einheit, die mit der sozialen, kulturellen und familialen äußeren Umwelt als drittem System kommunikativ in Verbindung steht. Die Familie als engster sozialer Nahraum ist dabei von besonderer Bedeutung, da dortigen Interaktionen oftmals höchste affektive Bedeutung zukommt. Interaktionsstile können demzufolge leicht die Ausprägung bestimmter symptomatischer Phänomene verstärken oder unterdrücken. Diese Verbindung ermöglicht eine Übersetzung soziokultureller Normen, Informationen etc. in innere Zustände, die dann via Delegation von Psyche an Soma ebenfalls zur Symptombildung führen können (ebd.). Problematisch erscheint an diesem Ansatz sowohl der top-down-artige Zusammenhang zwischen dem ‚ausführenden’ Körper und den anderen Systemen als auch, dass Psyche und Soma trotz Interpenetration und Ko-Evolution als selbstreferentielle und geschlossene Systeme15 konzipiert werden. Dies kann sowohl von „somatischer Seite“ durch den Zusammenhang biomaterieller Komponenten (z.B. Hormone) und psychischer Zustände in Frage gestellt werden, als auch von „psychischer Seite“ durch die Orbach’sche Beschreibung des gelernten Körpers (2010), die Butler’sche des inszenierten Körpers (1995) sowie phänomenologisch z.B. durch Phantomglieder. In Abschnitt 4.4 erfolgt daher eine Auseinandersetzung mit dem Körperbegriff.16 Begrüßt wird hingegen, dass das Erleben, Verstehen und Umgehen mit gesundheitsbezogenen Symptomen und damit Materialisationen von Gesundheit und (NochNicht-)Krankheit17 als soziale Konstrukte im Verweisungszusammenhang von Person und Familie theoretisch erfassbar werden (vgl. Simon, Clement & Stierlin 2004), ohne eine familiale Verschuldung zu postulieren. Hier wird die Bedeutung von Familien als „Erzählgemeinschaften“ (Schönberger & v. Kardorff 2010: 197) für die performative Gesundheitskonstruktion verdeutlicht. Dabei gelten eine soziale Verstärkung durch transaktionale Regelkreise sowie die familialen Dimensionen der Adaptabilität und Kohärenz (vgl. Schmitz 2007; Minuchin, Rosman & Baker 1981; Wood 1994) als besonders wichtig für die Ausformung dieser Materialisationen in mehr oder weniger „funktionalen“ Familien, was die Eignung des im vorherigen Familienkapitel beschriebenen Analyseinstrumentariums unterstreicht. Familie wird nun als im doppelten Sinn gesundheitsrelevant angesehen: Sie gilt sowohl als wichtigste (wenn auch nicht einzige) Quelle als auch Bewährungsraum entsprechender Handlungs- und Deutungsdispositionen und -kompetenzen. Diese

15 Von Luhmanns Systemeinteilung gehen auch verschiedene konstruktivistische Gesundheitsansätze aus (vgl. Hafen 2007; Bauch 2004; Pelikan 2008; Simon 1995). Aufgrund der interaktionistischen Theoriegrundlage der Arbeit, werden diese jedoch nicht berücksichtigt. 16 Darüber hinaus erscheint es auch „taktisch“ nicht geboten, Körper und Psyche als unterschiedlich operierende Systeme zu verstehen, da hierdurch sehr leicht eine Art gegenseitige Verantwortungszuweisung von Medizin und Psychologie etabliert wird. Die Anerkennung eigener Kompetenzgrenzen ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, verlangt aber mit Blick auf die Qualität medizinischer Interventionen eher nach einer Kompetenzerweiterung als nach einer weiteren zu koordinierenden Instanz. 17 Hier bedarf der enge, allzu statische Krankheitsbegriff des Modells einer Ausweitung.

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entfalten ihren Einfluss vor dem Hintergrund familialer Beziehungen, die mit systemischen Mitteln beschrieben werden können. Es besteht somit ein doppeltes Set von „regelnder Strukturen“: einerseits die „inhaltlichen“ gesundheitsbezogenen Deutungs- und Handlungskompetenzen sowie -dispositionen, andererseits die systemischen Eigenschaften der familialen Beziehungsstruktur als fördernder bzw. hemmender Rahmen der Gesundheitsdefinition, -sicherung und -wiedererlangung. Darauf aufbauend lässt sich thesenartig eine Verbindung von BRCA-Status und Präventionsverhalten postulieren, wobei der BRCA-Status ein Label repräsentiert, dass v.a. durch das jeweilige Präventionsverhalten als in historisch gewachsenen familialen Beziehungs- und Interaktionsmustern organisiertes sichtbares „Symptom“ vor dem Hintergrund familialer Gesundheitsdeutungen performativ als real konstruiert und in seiner Gültigkeit für den einzelnen und die Familie bestätigt wird. So realisiert sich die Integration der systemischen und sozialkonstruktivistischen Perspektive im konkreten BRCA-Fall auf mikrosoziologischem Niveau.

4.4 D ER K ÖRPER IN B EZIEHUNG 4.4.1

Körper, Leib und Körperbeziehung

In Abgrenzung von der systemischen Psychosomatik einerseits sowie vom Descarte’schen Dualismus andererseits erfolgt die Bestimmung des Körperbegriffs ausgehend von Plessner (1975).18 Dieser ist der philosophischen Anthropologie zuzurechen. Ihm zufolge entfaltet sich alles Lebendige in Umweltbeziehungen, in denen je charakteristische Grenzvollzüge den Organismus von seiner Umwelt scheiden und in dieser positionieren, wobei die jeweilige Reflexionsfähigkeit des Organismus seine Positionalität bestimmt. Der Mensch besitzt exzentrische Positionalität. Das beinhaltet, dass er nicht nur zwischen sich und seiner Umwelt unterscheiden, sondern auch sich selbst und seinen Standpunkt in der Umweltbeziehung reflektieren kann: Das menschliche Individuum „hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich.“ (Plessner 1975: 290) Diese Fähigkeit zur Selbsttransparenz versetzt den Menschen in die Lage, sich selbst als duale Einheit aus einem Körper, den er hat, und einem Leib, der er ist, zu erfahren. Als Körper erfährt er sich als Objekt in Gegenstandsstellung, als (Körper-)Ding unter anderen Dingen, das er (und andere) von außen sinnlich erfassen können. Der Körper als objektive Tatsache kann expressiv oder instrumentell genutzt und in unterschiedliche raumzeitliche Szenarien versetzt wahrgenommen und „verplant“ werden. Er besitzt im Gegensatz zum Leib eine relative, lokalisierbare Örtlichkeit sowie eine teilbare Ausdehnung. Als Leib hingegen erfährt er sich als Subjekt, das keine Selbstdistanzierungsmöglichkeit hat: Er bleibt in Selbststellung in einer zentrisch auf sich als absoluter Mitte bezogenen Umweltbeziehung im Hier und Jetzt verhaftet. Ergänzend (Schmitz gemäß Gugutzer 2004) lässt sich der Leib als eigenleibliches

18 Dies erlaubt eine differenziertere und produktivere analytische Unterscheidung von Körper und Leib als dies bspw. Merleau-Pontys Ansatz (vgl. Merleau-Ponty 1966; Mörth 1997) ermöglicht.

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Spüren charakterisieren, das als subjektive Tatsache nur von innen her wahrgenommen werden kann. Er ist absolute Örtlichkeit ohne äußere Orientierung und bspw. in Freude, Angst oder Schmerz absolutes, d.h. unmittelbares und unteilbar ausgedehntes Spüren, obschon es sich oftmals als lokalisierte „Leibesinseln “ wahrnehmen lässt. Enge und Weite sind die Hauptkategorien dieses Spürens. Körper und Leib sind als zwei duale Daseins- und Wahrnehmungsweisen einer körperlichen Einheit zu sehen und nicht als dualistisch existierende Systeme o.ä. eigenlogische Entitäten. Zur Verschränkung der beiden Erfahrungsweisen des Körperlichen wird auf Lindemann (1993) zurückgegriffen, der es gelingt, die leiblich-affektive Dimension bzw. die Materialität in den Körper als performativ-diskursivem Produkt zu integrieren (vgl. Jäger 2004). Lindemann versteht Körper und Leib als Körperwissen und Leiberfahrung. Das historisch-kulturell-gesellschaftlich konstruierte Körperwissen steht dabei in einem normativen Verhältnis zum Leibspüren: Der Körper, den man hat, legt das Gefühls- und Verhaltensprogramm fest, nach dem der Leib gespürt wird. Auf diese Weise ist der Leib symbolisch durchdrungen. Das Leibspüren wird in jeder sozialen Interaktion durch die Aktion des umgebenden Feldes gleichsam performativ als Erfahrung im Hier und Jetzt bestätigt und ist für den Fortgang der Interaktion entscheidend. Wiederholte gleichförmige Leiberfahrungen (re-)produzieren soziale Konstruktionen von Wirklichkeit wie Geschlecht oder auch – wie angenommen wird – Gesundheit. „Die besondere Realität des Leibes ist für die Konstruktion von Wirklichkeit insofern relevant, als dass dieser Leib einerseits ein Reservoir von unhintergehbaren Empfindungen darstellt, die aber andererseits immer schon gesellschaftlich geprägt sind, weil sich immer schon ein bestimmtes historisches Körperwissen zwischen mich und meine Leibeserfahrung schiebt.“ (Jäger 2004: 166)

Diese Sicht wird ergänzt um die Annahme, dass auch das Leibspüren auf das Körperwissen einwirkt, wodurch das auf- und als relevant angenommene Wissen beeinflusst wird, so dass der Leib nicht nur passive Ausführungsinstanz von Körperwissen ist (vgl. Gugutzer 2004). Im Folgenden werden die Begriffe Körper/-wissen und Leib/-spüren gemäß der vorgestellten auf Plessner, Schmitz und Lindemann basierenden Beschreibung verstanden und verwendet. „Sein“ (Leib) und „Haben“ (Körper) werden als wichtige zugehörige Grundmetaphern verstanden, die gleichsam als Ausrufungszeichen auf die jeweils vorliegende Dimension des Körperlichen hinweisen. Als umfassender Begriff für den Körper-Leib-Komplex kommt der Begriff Körperbeziehung zur Anwendung, der aufgrund der Integration des Beziehungsaspekts in mehrfacher Hinsicht vorteilhaft erscheint: Zunächst einmal deutet er an, dass hierbei mehrere „Parteien“ beteiligt sind, welche die zuvor genannten Erfahrungsweisen „Körper“ und „Leib“, aber auch soziale, interaktive Einflüsse durch andere soziale Akteure bis hin zur Gesellschaft als Ganzes einschließen, die sich auf die Präsentation der Körperbeziehung auswirken können. Damit ist das Körperliche niemals als Natur ohne Geschichte zu sehen, sondern Ergebnis der sozial vermittelten Einverleibung von Gesellschaft bzw. Kultur (vgl. Lock & Scheper-Hughes 1996; Hsu 2003). Des Weiteren verweist er auf eine (Beziehungs-)Dynamik, die einerseits die Notwendigkeit der Auseinandersetzung des „Körperbewohners“ (Eder 2007, S. 31) mit Körperlichkeit

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betont, andererseits unumgängliche Veränderungen im biografischen Verlauf umreißt, die zwischen Momenten der „Entkörperung“ und des völligen leiblichaffektiven Daseins im Hier und Jetzt variieren können. Darüber hinaus wirkt diese wie jede Beziehung identitätsstiftend. 4.4.2

Öffentliche und private Körper

Die soziale Darstellungspraxis der Körperbeziehung lässt sich als „zwischen einer Zeige- und Offenbarungstendenz und einer Scham- und Verhüllungstendenz hin und her gezogen“ (Plessner 1924: 74 zitiert nach Herzog 1997: 69) betrachten. Dieses Spannungsverhältnis wird unter Rückgriff auf Goffmans (2008) „dramaturgische Körper“ in den Blick genommen: Die zu spielende soziale Rolle beinhaltet eine körperliche Komponente, d.h. ein bestimmtes körperliches Ausdrucksvermögen, das als existenziell wichtiger Faktor der Herstellung einer gemeinsamen Wirklichkeit gilt. In der Ausfüllung dieser körperlichen Rolle zeigen sich Akteur_innen als Selbstdarsteller_innen, die nicht nur soziale Wirklichkeit, sondern auch Identität bzw. eine bestimmte identitäre Facette darstellen möchten – nämlich jene, die zur jeweiligen Situationsdefinition passt. Zu diesem Zweck legen sie sich eine „persönliche Fassade“ zu, die eben nicht die gesamte Person, sondern nur bestimmte Aspekte beinhaltet. Die Arbeit an der persönlichen Fassade umfasst immer auch eine bewusst kontrollierend, disziplinierend und inszenierend wirkende Arbeit an Erscheinung und Ausdrucksvermögen des Körpers. Durch die Beherrschung einer Reihe von Techniken des Image- und Körpermanagements sowie ihre Kenntnis von Körpersymbolik und -regeln versetzen sich Akteur_innen in die Lage, auf sozial erwartbare Weise zu kommunizieren und die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Solche sozial erwünschten Eindrücke werden i.d.R. auf „Vorderbühnen“ erzielt, zu denen Beratungszimmer oder Arbeitsplatz gehören können, während auf zugehörigen „Hinterbühnen“ – z.B. in der eigenen Wohnung oder im Labor – das zum Ausdruck kommt und kommen darf, was auf der Vorderbühne den erwünschten Eindruck stören würde. Unterschiede der körperlichen Selbstdarstellung ergeben sich mithin in Abhängigkeit von der „Bühne“, auf der sich der Mensch bewegt. Die soziale Darstellungspraxis der Körperbeziehung wird daher in einen privaten und einen öffentlichen Körper geteilt konzipiert, die jeweils Wissens- und leiblich-affektive Anteile integrieren. Während der öffentliche Körper die auf der jeweiligen Vorderbühne zur Situationsdefinition und Identitätssicherung benötigten und erwünschten Anteile des Körperlichen präsentiert, bietet der auf der zugehörigen Hinterbühne lebbare private Körper Spielraum für die unpassenden, widerständischen, unerwünschten Anteile. U.a. darf hier auch die Körperkontrolle aufgegeben werden, ohne die soziale Ordnung oder die eigene Identität zu gefährden (vgl. Goffman 2008; Gugutzer 2004; Williams 2003). Dabei wird davon ausgegangen, dass der öffentliche Körper eher Anteile ausgedrückt werden, die mit Perfektion, Verantwortung, Erfolg und Zufriedenheit sowie dem Körper in Gegenstandsstellung in Verbindung gebracht werden, während die private Körperperformance eher Anzeichen von Schwäche, Anfälligkeit, eingeschränkter Perfektion und Widersprüchlichkeit sowie vom Leib in Selbststellung zeigt. Gesundheit als Teil der soziale Ordnung wird als Produkt vieler verschiedener Bühnen verstanden, die jeweils unterschiedliche Anforderungen an geglückte soziale

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Wirklichkeitsinszenierungen stellen. Somit kann sich auch die Körperbeziehung in variierenden Graden von Öffentlichkeit über eine Reihe unterschiedlicher Körperinszenierungen erstrecken und je nach Kontext verschiedene Anteile ausdrücken. Die Körperbeziehung ist damit Produkt und Produzent sozialer Wirklichkeit und kann bei unpassender Präsentation stigmatisierend wirken. Exkurs Stigma Stigmata als Zeichen einer ungewollten Verschiedenheit entstehen dann, wenn reale (vgl. Goffman 1975) oder sozial konstruierte Markierungen mit einer negativen Einstellung zu den „markierten“ Personen verbunden werden. Das Konzept des Stigmas bezieht sich auf jede dauerhafte Eigenschaft eines einer Minderheitengruppe angehörenden Individuums, die eine negative oder strafende Reaktion anderer hervorruft, welche diese Eigenschaft als Mehrheitsgruppe nicht besitzen. Stigmata werden mithin abhängig vom sozialen Kontext und den dort erwünschten persönlichen Merkmalen durch relativierende Vergleiche künstlich definiert und konstruiert. Demnach sei Stigma eben „not primarily a property of individuals […] but a humanly constructed perception, constantly in flux and legitimizing our negative responses to human differences“ (Coleman 2004: 149). Das Konzept vereint drei primäre Komponenten: soziale Kontrolle auf der Verhaltensebene, Angst und Abneigung auf der affektiven und die Wahrnehmung von Unterschiedlichkeit und soziale Kategorisierung auf der kognitiven Ebene. Sie dienen der Sicherung einer kollektiv verbindlichen Moral sowie der Stabilisierung von Systemen, Herrschafts- und Produktionsstrukturen von Gesellschaft, jedoch nicht zuletzt auch der Selbstaufwertung: „Stigmatized people are needed in order for the many nonstigmatized people to feel good about themselves.“ (Ebd.: 142) Stigmatisierung bezeichnet den „Prozeß einer Diskreditierung, in dem einem Individuum oder einer Gruppe von der stigmatisierenden Gesellschaft die Akzeptanz im Sinne eines positiv vorgestellten Normalseins verweigert wird“ (Bichler 2001: 1449). Als Folge erscheinen Stigmatisierte den Nicht-Stigmatisierten als nicht ganz menschlich sowie evtl. Angst und Abscheu erregend, was zur Segregation der Stigmatisierten beiträgt. Dabei wird die Entwicklung eines Stigmas (z.B. einer Krebserkrankung) von der Umgebung oftmals als Vertrauensbruch gewertet. Coleman (2004) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass “given the dilemma of difference that stigma reflects, it is not clear whether anyone can ever feel ‘normal‘” (ebd.: 148), so dass aktuell diskreditierte und potenziell diskreditierbaren Personen existieren. Genau in dieser Unvorhersagbarkeit und fehlenden Kontrollierbarkeit liegt der Grund für die große, auf Stigmata bezogene Angst. Die Stigmatisierten selbst nehmen ihre vermeintliche Minderwertigkeit oftmals an und empfinden sich auch als unterlegen oder etablieren eine interne, ebenfalls stigmatisierende Hierarchie. Dies kann zu vermindertem Selbstwert, aber auch zur Auflehnung gegen stigmatisierende Kategorisierungen führen (vgl. Bichler 2001; Coleman 2004). Der Grad der Stigmatisierung hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab: „These factors include the type of disability, the perceived responsibility of the individual for the disability, the perceived consequences of the disability for others, the outward manifestations of the disability, and the perceived impact of the disability on an individual’s level of so-

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cially valued competence. Research also shows that the permanence of the disability affects others’ perceptions and responses.“ (Westerholm et al. 2005: 5)

Ein positiver BRCA-Test kann als Stigma verstanden werden, wobei das Ausmaß der Stigmatisierung im deutschen Kontext i.d.R. vom sozialen Beziehungskontext sowie dem kulturellen Hintergrund der positiv getesteten Personen abhängt (vgl. Kollek & Lemke 2008) und Praktiken der vorsorglichen Geheimhaltung hervorruft (vgl. Lemke 2006). Das größte Problem der Stigmatisierbaren liegt in der permanenten Informationsfilterung und -kontrolle zur Verhinderung der Aufdeckung und des dadurch bedingten Übergangs in den Status der stigmatisierten Person. Als Lösung wird oftmals eine Doppelstrategie verwendet, bei der eine Vermeidung von Situationen mit Aufdeckungsgefahr kombiniert wird mit kontrolliertem Erzählen im begrenzten und dadurch sozial aufgewerteten Personenkreis. Als „Defekt“ gelesene genetische Variationen können jedoch nicht nur mit (u.a. familiären) Erfahrungen von Ausschluss, Benachteiligung oder Schuldzuschreibungen einhergehen, sondern gelegentlich auch eine Entlastungsfunktion ausüben (vgl. Kollek & Lemke 2008). 4.4.3

Abendländische Bedeutung und Symbolik von Brust und Eierstöcken

Die Brust gilt als das Symbol für und sichtbarstes Zeichen von Weiblichkeit schlechthin. Sie besitzt nicht nur für die einzelne Frau, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext der medial inszenierten „Busokratie“ (Chalda 2006: 7) eine große Bedeutung. Brüste sind in den zwei großen symbolisch-funktionalen Bereichen des Nährens und der Lust bedeutsam, innerhalb deren sie verschiedene Funktionen erfüllen: Neben einer Beziehungs- bzw. Kontaktfunktion existieren die der Potenz – verstanden als weibliche Fähigkeit des Nährens und des Lustempfindens – sowie Macht, die gerade im Kontext des Nährens eine „Vollmacht“ darstellt, „die letztlich über Sein oder Nichtsein des Einzelmenschen – der Menschheit – entscheidet“ (Olbricht 2002: 121). Gleichzeitig besitzt die Frau dank ihrer Brust Macht über sexuelle Erregung und Lust. Darauf aufbauend lässt sich die Brust auch mit Aggressivität assoziieren, was sich u.a. in der in früheren Zeiten praktizierten Präsentation der Brust als Waffe und Machtsymbol spiegelt. Hier sei auf das „Busenattentat“ auf Adorno durch drei barbusige Studentinnen im Jahr 1969 verwiesen. Des Weiteren benennt Olbricht den eher symbolisch-visuellen Aspekt der Veränderung. Dieser zeigt sich durch Wandlungen der Brust im weiblichen Lebenslauf, in dem sich die „dreigeteilte“ Vorstellung von Weiblichkeit als junges Mädchen, reife Frau und Mutter sowie weise Alte im Sinne eines pars pro toto der Brust spiegelt, was erneut auf die „Stellvertretungsfunktion“ der Brust für die Frau verweist. Im Zusammenhang mit der nährenden Milch beinhaltet dieser Aspekt die symbolische Vorstellung der Vermittlung von Weisheit, Gesundheit und Heilung (vgl. Olbricht 2002). Alle symbolisch-funktionalen Aspekte werden bewertend in das Korsett einer „guten“ und einer „bösen“ Brust verpackt: „Wenn die ‚gute Brust‘ den bestimmenden Einfluss ausübt, liegt die Betonung auf ihrer Kraft, dem Säugling Nahrung zu spenden, oder – allegorisch – der gesamten religiösen oder politi-

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schen Gemeinschaft. […] Wenn die ‚böse‘ Sichtweise dominiert, ist die Brust ein Instrument der Verführung und sogar der Aggression.“ (Yalom 1998: 11)

Der Gegensatz zwischen „guter“ und „böser“ Brust äußert sich darüber hinaus auch im Kontext von Krebs als Gegensatz von Leben und Tod/Krankheit. Neben der Todesdrohung birgt hier v.a. auch die Technisierung und Pathologisierung weiblicher biologischer Funktionen und der im Zusammenhang mit Erkrankungen erlebte Gegensatz zwischen der Subjekthaftigkeit der Frau und ihren selbstverantwortlichen Bewältigungsstrategien einerseits und dem objektivierenden Blick und Habitus einer kontaktarmen Apparatemedizin andererseits Konfliktpotenzial. Mit der Gesundheit geht die körperliche Integrität und oftmals auch die Handlungsfähigkeit der Frau verloren (vgl. Olbricht 2002). Im Laufe der Geschichte hat sich ein Wandel der konkreten Darstellungsperspektive und Bedeutungspriorität der Brust vollzogen, was als Ausdruck veränderlicher gesellschaftlicher Diskurse zu verstehen ist. In heutigen westlichen Gesellschaft stellt sie primär ein oftmals misogyn-pornografisch gefärbtes Erotikobjekt dar, was zum gehäuften Vorkommen von Körper- und Selbstwertproblematiken beiträgt (vgl. Yalom 1998). Dies wird dadurch unterstützt, dass die präsentierte erotisierte Idealbrust eine stilisierte, virtuelle Brust als Verkörperung von Makellosigkeit darstellt, deren „beauty Quotient“ als Teil eines bestimmten Körperbildes am Computer errechnet wird (vgl. Kirschning 2001), also völlig unrealistisch und damit unrealisierbar ist. Der symbolischen Ambivalenz der Brust entspricht folglich eine wahrgenommene, die häufig auf das mit Scham, Gefahr und sozialem Konkurrenzkampf, aber auch Stolz aufs Erwachsenwerden verbundene Erleben in der Adoleszenz zurückgeht, wo sich Wünsche nach Unterdrückung/Zurückhaltung und Sichtbarkeit/Betonung abwechseln (vgl. Müller-Rockstroh & Gannon 2002). Dieses Verhältnis zu sich und zur eigenen Körperlichkeit ist jedoch weder notwendig negativ noch biografisch unveränderlich und wird primär in sozialen Beziehungen gestaltet (vgl. Olbricht 2002). Zu den Eierstöcken ist wenig Literatur zu finden, sie gehören offensichtlich auch hier zu den „verborgenen Körperteilen“. Auf der symbolischen Ebene findet sich ein Vergleich zwischen dem Eierstock und dem Granatapfel, der seinerseits als Symbol der ewigen Jugend und der Fruchtbarkeit gilt. Auch werden Eierstöcke von Shannon (1999) mit dem Lebensbaum als Quelle des physischen und metaphysischen Lebens in Verbindung gebracht. Im weiteren Sinne assoziiert Dahlke (2003) Eierstöcke mit Kreativität und bringt sie speziell mit der Erfüllung einer weiblichen Rolle in Verbindung. Entsprechend „enthüllen“ s.E. entsprechende gesundheitliche Probleme „Weiblichkeitsprobleme“. Angier (2002) beschreibt eingehend ovariale Funktionen, berührt jedoch lediglich mit der Umschreibung „graue Trauben von Familienperlen“ (ebd.: 235) metaphorisch deren symbolische Bedeutung.

5. Material, Methode und Methodologie

Das mit dieser Arbeit verfolgte Erkenntnisinteresse betrifft eine Erscheinungsform der Gesundheitssozialisierung. Diese wird als in Auseinandersetzung mit gesundheitsrelevantem Wissen erfolgende Entwicklung sozial verantwortlicher und verantwortbarer gesunder Menschen verstanden, wobei die Studie die gesundheitssozialisatorischen Effekte genetischer Informationen fokussiert, die im Rahmen eines Gentests mitgeteilt werden. Dieses Gen-Wissen wird wiederum als Form eines gesundheitsbezogenen Wissens mit familiärem Hintergrund definiert. Untersucht wird demnach ein Transformationsgeschehen, das beim Aufeinandertreffen „alten“ und „neuen“ gesundheitsbezogenen Wissens vor dem Hintergrund einer unkündbaren Beziehungsstruktur erfolgt. Im Fokus der Untersuchung steht demnach übergreifend die Frage nach den Formierungsbedingungen des Phänomens „Gesundheit“, in dem Fall der Gesundheit sog. Risikopersonen1, in diesem Spannungsfeld aus Wissens- und Beziehungskontexten. Als konkrete Untersuchungsgegenstände werden Familienbeziehungen und -dynamik, die persönliche Lebenssituation des Selbst im Kontext (Benhabib 1995) sowie die Verhältnisse der verschiedenen Wissensformen in den Blick genommen, in dem mehrgenerationelle Familienverbände einer Fallrekonstruktion unterzogen werden. Das führt zur Aufteilung der konkreten Fragestellung der Studie in vier Aspekte: •

• • •

1

Interpretative Perspektive: Welche Wechselwirkungen ergeben sich zwischen dem „neuen“ Wissen um ein positives prädiktives BRCA-Testergebnis und den „alten“ persönlichen sowie familialen Deutungs- und Handlungsmustern von Krankheit und Gesundheit? Situierungsperspektive: Welche Rolle spielt die aktuelle Lebenssituation der Getesteten? Relationale Perspektive: Wie entwickeln sich soziale, v.a. familiale Beziehungen, Systeme und deren erlebte Dynamik im Umgang mit HBOC und BRCA? Welche Interdependenzen bestehen zwischen diesen drei Perspektiven mit ihren Dimensionen Wissen, Beziehungsstruktur und Lebenssituation?

Die Festlegung eines stereotypen Personenkreises über ein Risiko erscheint fragwürdig, da die Entwicklung des Risikobegriffs hin zu einer zahlenmäßig festgelegten Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen eines unerwünschten Ereignisses (vgl. Luhmann 1991) die Einflüsse einer Vielzahl anderer Wissensformen verschleiert, die gemeinsam Effekte zeigen.

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Familie und Gesundheit stellen dabei die inhaltlichen Schwerpunkte der Arbeit dar, so dass die Ergebnisse nicht oder nur geringfügig im Hinblick auf andere denkbare Themen wie bspw. Autonomie oder Geschlecht diskutiert werden, was an anderer Stelle erfolgen kann.

5.1 F ORSCHUNGSANSATZ : VON ZUM F ORSCHUNGSDESIGN

DER

F RAGE

Angesichts der Subjektivitäts- und Gesundheitsperspektive (vgl. Gerhardt 1993) der Studie empfiehlt sich die Wahl qualitativer Forschungsmethoden, da die Fokussierung der erlebten Familie sowie der persönlichen Umgangsweise mit Gesundheit auf die Notwendigkeit verweist, die Untersuchung flexibel und offen auf den Einzelperson bzw. Familie und ihr je eigenes Ausdrucks-, Handlungs- und Deutungsrepertoire auszurichten, die ins Zentrum des interpretativen Vorgehens zu stellen sind. Ziel ist dabei nicht Explikation, d.h. die Beantwortung der Frage nach dem „Wie“ bzw. „Warum“, sondern das Sinnverstehen und somit eine Untersuchung der Frage „Was passiert hier?“ (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr 2009; Lamnek 2005). Der qualitative Ansatz berücksichtigt darüber hinaus systematisch die Möglichkeit unterschiedlicher Sinnsysteme von forschender und beforschter Person. Die Person der Forscherin wird im Forschungsprozess eine aktive, jedoch reflektierte Rolle einnehmen müssen, die eben nicht durch eine unabhängige Beobachtungsposition gekennzeichnet ist, wie sie für einen quantitativen Ansatz typisch wäre. Schließlich bedingt die Komplexität der Forschungsfrage, dass diese nur schwerlich umfassend mit standardisierten Instrumenten und quantitativen Verfahren zu beschreiben ist (vgl. Helfferich 2005). Um der Forderung der Gegenstandsangemessenheit der Methoden nachzukommen, ist zu überlegen, welche konkreten Anforderungen sich aus der Forschungsfrage für die Datenerhebung und -auswertung ergeben. Dazu ist zunächst zu klären, was unter dem zentralen Forschungsgegenstand Gesundheitsdeutung zu verstehen ist.2 Diese werden als auf Deutungsmustern basierend betrachtet. Hierbei handelt es sich um „relativ selbständig operierende, weitgehend unbewusst bleibenden Routinen der Interpretation von wiederkehrenden Problemlagen“ (Franzmann 2007: 191). Deutungsmuster entstehen in Auseinandersetzung mit einer als krisenhaft erlebten Problemlage, in der sie sich als Lösungsansatz bewähren. Sie strukturieren nicht nur die Deutung, sondern auch die zum Umgang mit der Situation notwendige Handlung. Da eine Person nicht in jeder Krise eigenständig Deutungsmuster entwickeln kann, greift sie im Laufe ihrer Ontogenese auf das Deutungsmusterangebot der jeweiligen Gemeinschaft zurück, als deren Teil sie sich sieht und die sie zugleich stärkt. Deutungsmuster stellen somit gemeinschaftsspezifische Formen kollektiven Bewusstseins dar (z.B. bzgl. des Milieus oder der Generation) und dienen auch der Bildung des Kollektivs. Sie sind kognitive Gebilde, die als organisierendes Prinzip fungieren und im Gegensatz zu konkret geäußerten Deutungen und zu beschreibenden Handlungen nicht direkt abgeleitet werden können. Sie werden vielmehr erst durch eine sequenzielle Analyse sinnstrukturierter Texte rekonstruierbar, d.h. offen-sichtlich

2

Bzgl. der Familie als zweitem Forschungsfokus wird auf das zugehörige Kapitel verwiesen.

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und stellen eine Art Leitfaden zur Wissens- und Lebensorganisation dar, obwohl sie nur sehr begrenzt Aussagen zu spezifischen Deutungs- und Handlungsweisen in konkreten Problemlagen erlauben. Hier zeigt sich der Gegensatz zwischen dem latenten bzw. sozialen Sinn, der in i.d.R. nicht offen verbalisierbaren Deutungsmustern steckt, und dem subjektiven Sinn, der als mitteilbare Deutung einer inhaltlichen Aussage direkt entnommen werden kann. Aus den Forschungsfragen ergeben sich folgende Anforderungen an das Design: • •

• • •

Rekonstruktion eines Transformationsprozesses (bzw. dessen Ausbleiben) über die Zeit, Rekonstruktion des latenten sozialen Sinns der Deutungs- und Handlungsmuster, die den strukturgesetzlichen Rahmen sowohl individuellen als auch familialen Agierens bilden, aber auch deren Verdichtung anhand einer inhaltlichen Füllung mittels subjektiver Sinnzuschreibungen auf der Ebene konkreter Deutungen und Handlungen, Berücksichtigung der drei verschiedenen Ebenen von Struktur, Handlung und Sinn im Rahmen des Transformationsprozesses, Berücksichtigung der familialen und je individuellen Perspektive, Rekonstruktion der „Interaktion“ zwischen der individuellen und familialen Komponente sowie zwischen den verschiedenen o.g. Ebenen.

Es bieten sich Fallrekonstruktionen an, die eine sequenzielle Analyse der Deutungsmuster sowie des Transformationsprozesses erlauben, jedoch durch textaufbrechende Verfahren zu ergänzen wären. Dies geschieht, um inhaltliche Aussagen zu konkreten Deutungen tätigen zu können und Begriffe kategorial zu verdichten, so dass die Wirkung der Deutungsmuster in der Deutung aufgezeigt werden kann. Dieses Verfahren wäre zudem sozial kontextsensibel. Die Konzentration auf Fallrekonstruktionen erlaubt es darüber hinaus, aus dem Material heraus für den Fall spezifische komplexe Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Ebenen (Person – Familie, soziale Wirklichkeit – Struktur, Gesundheit – Gemeinschaft) zugänglich zu machen, ohne die einebnende Wirkung eines über mehrere Fälle hinweg erstellten theoretischen Modells. Als sequenzielles, diese Herausforderungen erfüllendes Verfahren (vgl. Lamnek 2005; Franzmann 2007) kommt der Ansatz der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002; Wernet 2000) zur Anwendung, der den latenten Sinn von Texten untersucht, um aus der fallspezifischen Konstellation der geronnenen Lebenspraxis die Fallstrukturgesetzlichkeit abzuleiten.3 Die Objektive Hermeneutik wird durch die Verwendung der beiden kategorialen, textaufbrechend vorgehenden Methoden der

3

Transformationsprozesse in Lebensgeschichten sind auch mittels Biografieforschung analysierbar. Diese fokussiert jedoch allein das Subjekt in seiner Lebenswelt, ohne deren systemische Überformung in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus konstruiert sie „eigentliche“ historische Ereignisse, von denen eine sinngebende Überformung entlang einer bestimmten Deutungsstruktur abgeschieden wird (vgl. Marotzki 2003; Schmedders 2004), obschon beide sprachlich-reflexive Konstruktionen sind. Auch wird ein hierarchisierend wirkendes Ringen um die Deutungsmacht zwischen forschender und beforschter Person entlang des Themas „Präsentationsinteresse“ erkennbar. Daher wird der Zugang verworfen.

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systematischen Metaphernanalyse (vgl. Lakoff & Johnson 2007; Schmitt 2003) und Teile der Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin 1996) komplettiert, um auch den subjektive Sinn zu berücksichtigen. Diese beiden nehmen jedoch die Stelle von „Serviceverfahren“4 ein und werden nur in Ansätzen angewendet. Ergänzt wird das Spektrum durch das Verfahren der Genogrammanalyse (vgl. Hildenbrand 1999; 2007, z.T. McGoldrick & Gerson 2005), das die Analyse allgemeiner sowie als Gesundheitsgenogramm auch gesundheitsbezogener Vorgehensweisen und Handlungsmuster ermöglicht und so familiale Tradierungen erfassbar macht. Als Datenbasis dienen Familien- sowie Einzelerzählungen und Einschätzungen, die aus episodischen Interviews wechselnder Konstellation stammen (vgl. Flick 2002, Helfferich 2005). Kontakte per E-Mail, Telefon etc. und Beobachtungen während der Anbahnung und Durchführung der Einzel- bzw. Familieninterviews ergänzen das analysierte Datenspektrum, wobei letztere im Gegensatz zum verbalisierten und somit reflektierten Wissen einen direkten Zugang zur Familiendynamik ermöglichen (zur fallrekonstruktiven Familienforschung vgl. Hildenbrand 1999).

5.2 D ATENGEWINNUNG 5.2.1

Feldzugang

Die Etablierung eines Feldzugangs erfolgte auf zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen, von denen sich letztlich nur einer als erfolgreich erwies. Der Weg über Selbsthilfegruppen umfasste Versuche, sowohl über die einzig bekannte zum damaligen Zeitpunkt existierende deutsche BRCA-Selbsthilfegruppe als auch über verschiedene Brustkrebs-Selbsthilfeorganisationen (z.B. Frauenselbsthilfe nach Krebs, WIR ALLE, mamazone) potenzielle Studienteilnehmer_innen5 zu erreichen. Auf diesem Wege konnte eine Studieninteressierte gewonnen werden, die jedoch BRCA-negativ getestet war und daher letztlich nicht in die Studie aufgenommen wurde. Alternativ dazu wurde zu den damals (2007) zwölf deutschen HBOC-Zentren Kontakt aufgenommen. Zu diesem Zweck wurden die von der Dt. Krebshilfe benannten Zentrumsverantwortlichen angeschrieben und um Kooperation ersucht. Eine Rückmeldung kam zunächst nur von einem kleineren süddeutschen HBOC-Zentrum, bei dem sich die dortigen Beraterin erbot, ein Informationsblatt an die in der Patient_innenkartei befindlichen Personen zu schicken, die sich dann selbsttätig mit der Forscherin in Verbindung setzen sollten. Hier lag also eine sekundäre Fallselektionsstrategie6 vor. Der Vorschlag wurde aufgegriffen und ein „Informationsblatt zur Studie ‚Auswirkungen genetischer Informationen auf Körperbild und Gesundheitserle-

4 5 6

Der Begriff „Serviceverfahren“ ist nicht pejorativ zu verstehen, sondern beschreibt lediglich den Stellenwert der Verfahren in der hier vorliegenden Studie. Zu Beginn der Studie war die Entscheidung, die Zielgruppe auf Frauen zu beschränken, noch nicht gefallen, so dass zunächst Teilnehmende aller Geschlechter gesucht wurden. Sekundäre Fallselektion liegt bei eigener Meldung von Studieninteressierten vor, primäre Selektion, wenn sie gezielt durch Forscher_innen ausgewählt werden (vgl. Merkens 2003).

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ben‘“ versendet, das „eine Untersuchung der Zusammenhänge zwischen genetischen Informationen, Körperbild und Gesundheitserleben“ ankündigte, „um die Effekte humangenetischer Beratungsangebote besser zu verstehen und diese Angebote besser als bisher auf die Bedürfnisse der Ratsuchenden abstimmen zu können.“ Zu diesem Zweck sollten „Einzelinterviews sowie Gespräche im Familien- und Freundeskreis“ durchgeführt werden, „um Ihr persönliches Erleben ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und darüber hinaus auch die entsprechenden Ansichten im sozialen Umfeld kennen zu lernen.“ Inhaltlich sollte den Fragen nachgegangen werden „welche Umgangsweisen, Einstellungen, Informationen, Wertungen, Vorstellungen etc. zu Körper und Gesundheit bestehen, wie sich diese im Lebenslauf entwickeln und wie sie sich durch die Auseinandersetzung mit allgemeinen humangenetischen Informationen bzw. Ihren eigenen genetischen Daten evtl. verändert haben.“7 Es wurde sodann um Kontaktaufnahme mit der Forscherin via Mail oder Telefon gebeten. Auf das Schreiben meldeten sich vier Personen per E-Mail und eine telefonisch. Alle wurden telefonisch kontaktiert und auch interviewt, wobei es bei diesen Selbstmelderinnen auffällig war, dass sie bereits im Telefonat inhaltliche Aussagen tätigten und nicht nur demografische Fragen beantworteten bzw. organisatorische Absprachen trafen. Im Anschluss an das Telefonat wurde allen – auch den im weiteren Studienverlauf noch hinzukommenden Teilnehmenden – die von der Forscherin erstellte Themenliste zugestellt. Im Folgenden konnte auf den Jahrestagungen der Dt. Gesellschaft für Humangenetik 2007 und 2008 je ein weiterer Zentrumskontakte8 hergestellt werden, wobei die drei schließlich kooperierenden Zentren sich sowohl durch den Umfang ihres Klientels als auch durch ihre geographische Lage (Süd-, Nord- und Westdeutschland) unterschieden. Die beiden zuletzt gewonnenen Kontakte führten dann mittels einer primären Fallselektionsstrategie zur Akquisition von Studienteilnehmenden, deren Kontaktdaten der Forscherin von der Beraterin mitgeteilt wurden. Dabei fragte die kooperierende Beraterin des Zentrums „West“ nach den Fallwünschen der Forscherin, während letztere im Zentrum „Nord“ selbst aktiv auf den für sie interessanten Fall hinweisen und vor dem Kontaktaufbau die ethische Verträglichkeit ihrer Studie als „Zugangsberechtigung“ nachweisen musste. Im Vergleich der drei HBOC-Zentren zeigt sich folglich ein eindeutiger gatekeeper-Effekt bzgl. der Zugänglichkeit von Studienteilnehmenden. Es kam zu Telefonaten mit acht potenziellen Studienteilnehmenden – sieben aus dem zweiten, einer aus dem dritten Zentrum – die sich auffällig von den telefonischen Kontakten mit den Selbstmelderinnen unterschieden. Nach einer Erläuterung der Studie, über die sie bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige, von der genetischen Beraterin mitgeteilte Informationen besaßen, ging es i.d.R. um organisatorische Absprachen (Termin und Umfang des Interviews), ohne dass von Seiten der Teilnehmenden bereits inhaltlich auf das Studienthema eingegangen wurde. Dies spiegelt höchstwahrscheinlich das Eigeninteresse der Frauen aus dem ersten Zentrum

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Alle Zitate stammen aus dem versendeten Informationsblatt. Sämtliche HBOC-Zentren sowie deren genetische Beratungen wurden von der Forscherin besucht, die getätigten Beobachtungen und Gespräche mit den Beraterinnen jedoch nicht systematisch ausgewertet. Sie dienten der Orientierung im Feld. Kurze Beobachtungssequenzen finden allerdings als illustrative Anekdoten in Fußnoten Eingang in die Arbeit.

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an einer Studienteilnahme wider, welches im zweiten und dritten Zentrum aufgrund der umgedrehten Interessenspriorität bei der Forscherin und nicht bei den Teilnehmenden lag. Für die Auswertung ergaben sich aus diesen verschiedenen Rekrutierungsstrategien jedoch keine Probleme, da die analytische Fallauswahl dem Vorgehen des theoretical sampling entsprach (vgl. Strauss & Corbin 1996) und die Kontaktanbahnung darüber hinaus in der Analyse berücksichtigt wurde. Nach diesen acht Telefonaten waren fünf weitere Personen-/kreise zu einer Studienteilnahme bereit, wobei vier – darunter ein Mann – aus dem zweiten, eine (bzw. genauer eine Familie) aus dem dritten Zentrum stammten. In allen fünf Fällen kam es zum Interview, wobei der Mann aufgrund einer Re-Definition der Zielgruppe nicht in die Studie aufgenommen wurde. 5.2.2

Zielgruppe

Die Zielgruppe wurde auf prädiktiv BRCA-positiv getestete Frauen westdeutscher Herkunft beschränkt, die sich im aktiven Kontakt mit dem HBOC-Zentrum befanden, an dem sie eineinhalb bis vier Jahre vor dem Interview den BRCA-Test durchführen ließen. Der Kontakt bestand i.d.R. aus der Teilnahme an der intensivierten Früherkennung, zu der ggf. die Inanspruchnahme prophylaktischer Operationen hinzu kam. Des Weiteren wurde die BRCA-Variation über die maternale Linie vererbt, wobei die Mütter den Krebs lange überlebten. Dieses Vorgehen stellt zunächst einmal eine Eingrenzung auf die Hauptgruppe der den BRCA-Test in Anspruch Nehmenden dar, die sich zum einen aus der regionalen Verteilung der HBOC-Zentren in Deutschland, zum anderen aus der höheren Teilnahme von Frauen an Gentests i.A. und am BRCA-Test im Speziellen ergab, wobei die Frauen vermutlich durch den maternalen „weiblichen“ Brust- und/oder Eierstockkrebs zusätzlich für den Test sensibilisiert wurden. Darüber hinaus handelt es sich um ein sog. long-term follow-up (vgl. Braithwaite et al. 2006). Für diese Untersuchungsgruppe wird eine mehrheitlich stattfindende „psychosoziale Restabilisierung“ der Testteilnehmenden im Zeitraum eines Jahres konstatiert. Da die Frauen zudem über längere Zeit Zentrumskontakt haben, d.h. in das als best practice geltende interdisziplinäre Angebot der HBOC-Zentren eingebunden sind, können sie als bestens betreut und dadurch bzgl. negativer Konsequenzen „abgefedert“ gelten. Das dürfte auch durch das lange Überleben der Mütter gestützt sein. Aufgrund ihrer Treue zum HBOC-Zentrum sind sie als „gesundheitsbewusst“ einzuordnen. Alle Faktoren verweisen darauf, dass die Studie Zustände beschreiben dürfte, die nicht von „Schock“ oder „Angst“, sondern „Verarbeitung“ und einem „selbstbewussten Umgang“ mit der BRCA-Variation geprägt sind, d.h. den Optimalfall des Umgangs der präventiven Gesundheitskundin mit dem Gen-Wissen. Zu diesen inhaltlichen Gründen kamen Kapazitätsgründen, welche die Berücksichtigung weiterer Kontrastierungskriterien – denkbar wären Migrationshintergrund oder Geschlecht – verhinderte. Das lässt jedoch Raum für Folgestudien. 5.2.3

Datenerhebung

Die Erhebung des Kontaktverlaufs umfasste alle Kontakte zwischen Forscherin und Studienteilnehmer_in: Schriftliche Kontakte vor und nach dem Interview fanden

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i.d.R. via E-Mail statt und konnten so übernommen werden. Fernmündliche Kontakte wurden unter Angabe von Rahmenbedingungen (Datum, Länge) und Inhalt protokolliert. Bei ersten Telefonaten wurden i.d.R. objektive Daten der Studienteilnehmerin (Alter, Familiensituation, Ausbildung/Beruf, Datum und Ergebnis des BRCA-Tests) dokumentiert, so diese nicht bereits anderweitig erhoben worden waren. Des Weiteren wurde eine Einschätzung des Kontakts (inklusive eines reflexiven Anteils) festgehalten. Das Protokoll zur eigentlichen Interviewsituation bestand aus Angaben zu Wohn- und Gesprächssetting sowie zum Kontaktverlauf vor und nach dem Interview, zu Auffälligkeiten während des Gesprächs sowie den notierten NachfrageStichwörter und Angaben zum „somatischen Echo“, d.h. zur emotionalen Verfassung der Forscherin. Eine vorläufige Einschätzung des Falls schloss das Protokoll ab. Schließlich fand auch Berücksichtigung, wie auf die Frage nach verschiedenen Daten reagiert wurde, welches Datenmaterial bereitwillig zur Verfügung gestellt und welches zögerlich oder evtl. gar nicht freigegeben wurde. Da im Übrigen gerade auch das Zurückhalten bzw. Fehlen von Daten als Datum gewertet und berücksichtigt wurde, müssen nicht alle Daten immer zur Verfügung stehen, um den Fall rekonstruieren zu können. Der Kontaktverlauf lieferte solchermaßen Hinweise zu individuellen Deutungs- und Handlungsmustern sowie zur Strukturierung sozialer Beziehungen. Dieser Verlauf lässt sich methodisch am ehesten als teilnehmende Beobachtung klassifizieren. Sie gilt als Feldstrategie und kombiniert als solche die Analyse verschiedener Datenquellen wie Interviews, Introspektion, direkte Teilnahme und Beobachtung, wie dies im vorliegenden Fall gegeben war. Sie zielt darauf ab, die Innensicht der im Feld beobachteten Personen zu erschließen, ohne gleichzeitig mit dieser Perspektive zu verschmelzen. Interaktionen und Bedeutungen werden durch einen fallorientierten Zugang sowie ein ebensolches Design im Hier und Jetzt alltäglicher Situationen erhoben. Beobachtungen werden anhand von Offenheit, Systematik, Feldauswahl und der aktiven Feldteilnahme und Reflexivität der Forschenden differenziert (vgl. Flick 2002). Von teilnehmender Beobachtung zu sprechen, erscheint deshalb als gerechtfertigt, weil die Forscherin aktiven Anteil an der Gestaltung einer Situation hat, die durch Verlauf und Inhalt der Interaktion zwischen Studienteilnehmer_in und Forscherin erste Hinweise gesundheitsthematischer und systemischstruktureller Art liefert, also dem Studienzweck entspricht. In der vorliegenden Untersuchung erfolgten Beobachtungen i.d.R. unsystematisch und nicht offen, wobei versucht wurde, das Umfeld möglichst natürlich zu halten – so wurden bspw. die Interviews bei den Beteiligten zuhause durchgeführt, um eine möglichst vertrauensfördernde Atmosphäre zu gewährleisten. Zudem wurden direkte Kontakte zwischen Forscherin und Studienteilnehmer_in von ersterer im Rahmen des zugehörigen Protokolls reflektiert. Um dem narrativ vorgetragenen subjektiv Erlebten, aber auch direkt geäußerten Bewertungen der Studienteilnehmerinnen Raum zu geben, wurden die Interviews an der Methode des episodisches Interviews (vgl. Flick 2002; Helfferich 2005; Lamnek 2005) orientiert. Da sowohl die Perspektive einzelner Frauen als auch die der Familie interessierte und die aktuelle Familiendynamik und Beziehungsstruktur so direkt in der Interaktion abgebildet und beobachtet werden konnte und damit nicht nur retro-

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spektiv als relevant erachtetes reflektiertes Wissen zur Analyse zur Verfügung stand, wurden neben Einzel- auch Familieninterviews9 durchgeführt. Im episodischen Interview wird die Generierung einer Narration mit zielgerichteten Bewertungsfragen verbunden. Durch auf Situationen ausgerichtete Erzählaufforderungen und die Verwendung eines Themenkatalogs gelingt es, Erzählungen und Argumentationen zu erheben und systematisch zu verbinden. Das Ergebnis kann wahlweise als Protokoll von Meinungen, Sichtweisen und Einstellungen oder als (Handlungs-)Protokoll einer sozialen Praxis aufgefasst werden. Der resultierende Text ist somit sowohl auf gesundheitliche Deutungen als auch Deutungsmuster, aber im Familieninterview auch auf Interaktionsmuster hin analysierbar, was einerseits die parallele Erfassung des subjektiven und latenten Sinns, andererseits Aussagen zum familialen System und zur Beziehungsstruktur ermöglicht. Das jeweilige Interview wurde mit einer offenen Erzählaufforderung begonnen, die jedoch weniger eine konkrete Frage darstellte, sondern eher einen thematischen Raum aufspannte, den die interviewten Frauen dann nach Belieben nutzen und mit eigenen Erzählungen füllen konnten. Sie orientierte sich an folgender Formulierung: „In dieser Studie geht es mir darum zu gucken, wie humangenetische Informationen sich auf Körperbilder, Körpererleben und auf das Gesundheitsverhalten und Gesundheitserleben und so weiter auswirken und wie sie das sozusagen [hier in der Familie (im Familieninterview, A.d.V.)] erlebt haben, wo an welcher Stelle körperliche oder gesundheitliche Dinge eben wichtig geworden sind, wie da diese ganze humangenetische Testung mit hineingespielt hat, ob sie an anderen Stelle vielleicht auch schon mit Genetik irgendwie in Berührung gekommen sind und so weiter.“ (aus der Einleitung zum Familiengespräch Schall-Brause)

Im Folgenden wurden primär die Themen aufgegriffen und ausgebaut, die die Interviewten während der Eingangs- und weiterer Erzählungen selbst aufbrachten. Um den Erzählfluss nicht künstlich zu stoppen, wurden dazu Stichworte festgehalten, die dann nach und nach abgefragt wurden. Eine im Vorfeld von der Forscherin erstellte Themenliste (s. Anhang), die Stichworte zu den Bereichen Körper, Gesundheit, BRCA-Test/Beratungserlebnis sowie Genetik/Wissenschaft enthielt, diente als weitere Quelle zur Generierung von Erzählungen und Einschätzungen. Den Abschluss des Interviews bildete die Abfrage von Assoziationen zu folgenden Stichwörtern: genetische Beratung, eigene Gene, Brust, Gesundheit und Körper. Dieses Vorgehen zielte auf die Erfassung spontaner und pointierter Aussagen zu den zentralen Studienthemen ab. Grundsätzlich, jedoch bevorzugt im ersten, stärker erzählenden Teil des Einzel- bzw. Familieninterviews zeichnete sich die Haltung der Forscherin während des Interviews durch aufmerksames, aktives Zuhören aus. Eine Rückfragemöglichkeit an die Forscherin wurde nach Abschluss des Interviews gegeben. Im Verlauf der Studie wurden insgesamt elf Einzel-, fünf Familien- und ein Interview mit einer besonderen Freundin durchgeführt, die sich zu insgesamt elf Fällen ergänzten. Als „Fall“ wird dabei je nach eigener Logik bzw. Fallstruktur eine Familie mit ihren Mitgliedern oder

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Die Frage nach dem im Rahmen der BRCA-Testgeschichte relevanten Familienteil wurde von den Beteiligten selbst beantwortet, bestimmte die Interviewkonstellation und wurde als Datum protokolliert.

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eine Einzelperson vor ihrem familialen und sozialen Hintergrund verstanden. Insofern ist die Definition dessen, was der Fall ist, bereits ein Analyseergebnis. Genogramme sind bildliche Darstellungen von Familienstammbäumen, die auf Personen bezogene und/oder beziehungsrelevante Daten über die im Familiengedächtnis erinnerten, im Schnitt drei bis vier Generationen festhalten und dazu dienen, familiengeschichtliche Entwicklungen zu erfassen. Sie wurden zur Analyse der allgemeinen wie auch der spezifisch gesundheitsrelevanten Handlungs- und Entscheidungsmuster der Familie herangezogen, was die Erfassung unterschiedlicher Datensätze verlangte. Die grundsätzliche Handlungslogik wird auf der Basis allgemein zugänglicher, objektiver Daten untersucht. Die objektiven Genogramme beinhalten für die erinnerten Generationen soweit bekannt Namen, Bildungsweg und Beruf, Familiensituation (Partnerschaft bzw. Ehe, Scheidung oder Trennung, Kinder), Mobilitätsverhalten sowie Geburts- und Sterbedaten (vgl. Hildenbrand 1999). Im Kontakt mit den Selbstmelderinnen wurden diese Angaben Telefonaten oder Interviewdaten entnommen und bei Bedarf (wenn möglich) durch weitere Informationen ergänzt, die im Rahmen eines speziell auf das zu erstellende Genogramm ausgerichteten Informationsgesprächs erhoben wurden (vgl. McGoldrick & Gerson 2005). Im zweiten Studienabschnitt wurden die benötigten Angaben von den angesprochenen Frauen direkt im Anschluss an das (erste) Interview strukturiert und zielgerichtet abgefragt und durch Interviewaussagen lediglich ergänzt. Das gesundheitsbezogene Genogramm wurde mit Hilfe der chronologischen Angaben aus dem bzw. den Interviews erstellt. Die hierzu festgehaltenen Daten umfassen eigene Krankheit bzw. BRCA-Diagnose und Umgang damit sowie Reaktion auf die Krankheiten und BRCA-Diagnosen anderer, Körperdaten sowie Informationen zum Gesundheitsverhalten und ggf. Todesart. Beide Genogramm-Varianten bilden somit die erinnerte Familiengeschichte ab und sind insofern subjektiv. 5.2.4

Datenaufbereitung

Der aufgezeichnete Kontaktverlauf besteht aus mehreren Teilprotokollen, wobei sämtliche Einzelkontaktdaten vor, während und nach dem oder den Interview(-s) zu einem gemeinsamen chronologischen Verlaufsdokument zusammengefasst wurden. Die episodischen Einzel- und Familieninterviews wurden digital aufgenommen und mit Hilfe der im Anhang der Arbeit aufgeführten Transkriptionsregeln vollständig von der Forscherin transkribiert. Anschließend wurde eine Synopsis des Interviewverlaufs erstellt, in der der thematische Ablauf sowie Stichwörter zum Inhalt des Gesagten festgehalten wurden. Die Genogramme wurden mit Hilfe des Programms Genograph® gezeichnet. Die ihnen zu Grunde liegende Chronologie wurde den Studienteilnehmerinnen abschließend zur Korrektur vorgelegt, soweit dies möglich war. Zwischenergebnisse von Analyseschritten wurden in Form von Memos festgehalten. (vgl. Hildenbrand 1999; Strauss & Corbin 1996). 5.2.5

Fallauswahl mittels Theoretical Sampling

Der Forschungsprozess sowie die Auswahl der einzelanalytisch zu untersuchenden Fälle orientierten sich am Verfahren des theoretical sampling (vgl. Strauss & Corbin 1996; Hildenbrand 1999). Dieses Verfahren des Sammelns und Auswählens von Da-

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ten verläuft idealer Weise so, dass das nächste zu erhebende bzw. auszuwertende Material im Laufe des Forschungsprozesses zunehmend aufgrund von Kriterien gewählt wird, die sich aus der Analyse der Daten selbst ergeben und nicht aus theoretischen Vorüberlegungen stammen. Der Forschungsprozess wird somit durch die sich abzeichnenden theoretischen Erkenntnisse intrinsisch gesteuert und nicht durch vor Beginn der Datenerhebung festgelegte, invariate und somit möglicherweise den zu untersuchenden Sachverhalt nur unzureichend abbildende Kriterien. Theoretical sampling existiert in zwei Varianten: In fallrekonstruktiven Untersuchungen erfolgt die Auswahl des nächsten zu untersuchenden Falles anhand von Kriterien, die aus der Studie selbst entwickelt wurden (vgl. Hildenbrand 1999). Im Rahmen der Grounded Theory (u.a. textaufbrechender Verfahren) werden Dichte und Tiefe von Kategorien „gefüllt“, d.h. umfassender beschrieben, und deren Beziehungen untersucht, indem Daten aus dem Materialkorpus ausgewählt (bzw. neu erhoben) werden, die den dazu passenden kategorialen Kriterien entsprechen (vgl. Strauss & Corbin 1996). Der Endpunkt der Sammlung gilt als erreicht, wenn eine theoretische Sättigung erzielt wurde und neue Daten keine neuen Erkenntnisse mehr beinhalten (vgl. Böhm 2003; Titscher 1998). Innerhalb der Fallanalyse kann auch das nächste feinanalytisch zu untersuchende Material mittels dieser Variante des theoretical sampling ausgewählt werden. In der vorliegenden fallrekonstruktiven Arbeit wurden die zu analysierenden Fälle mittels der von Hildenbrand (1999) beschriebenen Vorgehensweise der maximalen Fallkontrastierung ausgewählt, konnten jedoch aufgrund der speziellen Ausprägung des Feldzugangs mit seiner Kombination aus primärer und sekundärer Fallselektion (s.o., vgl. Merkens 2003) nur z.T. auch so erhoben werden. Diese Technik sieht vor, dass der erste Fall aufgrund von Kriterien ausgewählt wird, die theoretischen Überlegungen vor Studienbeginn entstammen. Diese Kriterien werden sodann am Material geprüft und entsprechend revidiert, so dass die nächste Fallauswahl eine diesbezügliche maximale Kontrastierung zum ersten Fall beinhaltet. Alle weiteren Fälle werden dann anhand der gefundenen internen Kriterien ausgewählt, so lange bis keine neuen Erkenntnisse, d.h. neue Ausprägungen der Fallstruktur mehr gefunden werden. Zunächst wurden hier die fünf Fälle der Selbstmelderinnen aus dem süddeutschen HBOC-Zentrum erhoben, bevor kontrastierende Kriterien entwickelt und zur weiteren Fallauswahl eingesetzt wurden, da dieses Vorgehen den Frauen und ihrer spontan geäußerten Bereitschaft zur Studienteilnahme gegenüber fair erschien. Sodann wurde der erste zu analysierende Fall anhand der aus theoretischen Vorüberlegungen stammenden hypothetisch relevanten Kriterien Alter, Bildung und Milieu ausgewählt. Es handelte sich hierbei um den Fall der Familie Schall-Brause, die einen Bildungsaufstieg innerhalb der Traditionslinie der Facharbeit und der praktischen Intelligenz aufwies und sich zunächst im Rahmen eines Familieninterviews präsentierte, das unter Beteiligung von drei Generationen stattfand. Da sich die Möglichkeit zu anschließenden Einzelinterviews ergab, konnte das Datenmaterial entsprechend ausgeweitet werden. Bereits anhand einer ersten Falleinschätzung auf der Basis des Kontaktverlaufs sowie des Interviewprotokolls zeigte sich, dass die genannten externen Kontrastierungskriterien durch das Kriterium der systemischen Familienstruktur zu ergänzen waren. Gemäß des Circumplex-Modells erwiesen sich die Schall-Brauses als starr-verstrickte Familie.

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Der nächste maximal kontrastierende Fall sollte demnach in möglichst vielen Dimensionen vom ersten abweichen, wobei besonderes Augenmerk auf eine Familienstruktur gelegt wurde, die nicht wie bei den Schall-Brauses verstrickt und damit extrem kohärent sein sollte. Um die Auswahl zu erhöhen, wurden Fälle erhoben, die eine „zerrüttete“, d.h. gelöste Familienstruktur aufwiesen. Die Analyseauswahl fiel sodann auf die zum Interviewzeitpunkt 40-jährige Gaby Böttcher, die Teil einer starrgelösten Familienstruktur war. Da die Familienangaben derart vage blieben, lässt sich aufgrund von Indizienbeweisen lediglich annehmen, dass in der Familie kein deutlicher Bildungsaufstieg vorlag. Eine Schichtzugehörigkeit ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Ein während des initialen Einzelinterviews geplantes Freundschaftsinterview wurde jedoch abgesagt und der Kontakt vollständig beendet. Als Kontrast dazu wurde dann wiederum der aus dem Bildungsbürgertum stammende Fall der beim ersten Interview 27-jährigen Ursula Paasch erhoben und ausgewählt, deren strukturiert-getrenntes Familiensystem sich im mittleren Bereich von Kohärenz und Adaptabilität befand. Als Medizinerin und angehende Gynäkologin hatte Frau Paasch zudem einen ganz anderen Bildungshintergrund wie Frau Böttcher, von der sie auch vom Alter her um eine Generationendauer abgegrenzt ist. Hier kam nach dem Einzelinterview noch ein dyadisches Familieninterview zusammen mit der Mutter von Frau Paasch zustande. Ein weiterer erhobener Fall, der im Gegensatz zum Fall Paasch aus dem Arbeitermilieu stammte, brachte keine weiteren Erkenntnisse, so dass die Fallauswahl damit abgeschlossen wurde. Eine Darstellung des Sample unter Berücksichtigung von Lebensphasen und Interviewzeitpunkten findet sich im Anhang. Die folgende Tabelle vermittelt hingegen einen Eindruck, wo im Spektrum zwischen dysfunktionalen und funktionalen Familienformen des Circumplex-Modells (vgl. Olson 2000) die Fälle zu lokalisieren sind. Tabelle 1: Die drei Fälle im Spektrum des Circumplex-Modells10 Kohärenz Adaptabilität

Losgelöst

Getrennt

Verbunden

Verstrickt

Chaotisch

chaotischlosgelöst

chaotischgetrennt

chaotischverbunden

chaotischverstrickt

Flexibel

flexibellosgelöst

flexibelgetrennt

flexibelverbunden

flexibelverstrickt

Strukturiert

strukturiertlosgelöst

strukturiertgetrennt

strukturiertverbunden

strukturiertverstrickt

Fall Paasch

Starr

starr-losgelöst Fall Böttcher

starrgetrennt

starrverbunden

starr-verstrickt Fall SchallBrause

10 Dargestellt werden dysfunktional unbalancierte, mittelmäßig balancierte und funktional balancierte Familien.

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5.2.6

Zur Frage der Generalisierung

Oevermann (2002) erläutert, dass im Rahmen objektiv hermeneutischer Fallrekonstruktionen keine subsumtionslogischen Aussagen einer empirischen Generalisierung getätigt werden können, sondern vielmehr das Konzept der Strukturgeneralisierung zum Tragen kommt. Dieses besagt, dass Einzelfälle, um als solche existieren zu können, immer auch eine sozial anerkannte Praxis darstellen müssen, da sie auf (gesamtoder teil-)gesellschaftlich gültigen Regeln der Strukturerzeugung basieren. „Jede konkrete Fallrekonstruktion führt also zu einer Strukturgeneralisierung bzw. der Bestimmung eines allgemeinen Typus.“ (Ebd.: 14) Eine augenscheinlich nicht akzeptierte Praxis kann sich daher nur etablieren, wenn eine soziale Gruppe existiert, in der diese Praxis gelebt werden kann – die somit wiederum auf die Existenz dieser Gruppe schließen lässt. Eng damit verbunden ist die Annahme der Doppelnatur des Falles, in dessen sequentiellem Nachvollzug sich sowohl die spezielle Natur dieses Falles als auch die allgemeine Natur einer allgemeingültigen sozial anerkannten Praxis spiegelt. Vor diesem Hintergrund repräsentieren die gewählten Fälle nicht nur spezielle, sondern auch allgemeingültige Praxen des Umgangs mit der BRCA-Variation vor dem Hintergrund familialer Gesundheitssozialisation. Gleichwohl ist zuzugeben, dass hier nicht alle familiensystemisch möglichen Fälle des BRCA-Umgangs rekonstruiert werden konnten: Es ist auffällig, dass die Fallauswahl eher innerhalb der Kohärenzdimension als in der der Adaptabilität variiert. Daraus folgt eine Fallbegrenzung der Studie. Während McInerney-Leo et al. (2005) zu dem Schluss kamen, dass Mitglieder von Familie mit hoher Kohäsion11 wahrscheinlicher einen BRCA-Test wählen, konnte dieser Eindruck in der vorliegenden Studie12 nicht bestätigt werden. Von allen erhobenen Fällen wiesen etwa die Hälfte auf wenigstens separierte Familiensysteme hin – ganz zu schweigen davon, dass ein BRCA-Test auch in eher verbundenen Familien nur dann gewählt werden dürfte, wenn er zur Familienerzählung passt und darüber hinaus durchaus auch als Mittel der Lösung von der Familie genutzt werden kann. Die große Kohärenz-Variabilität dürfte mit diesen unterschiedlichen Kontextualisierungen des BRCA-Tests zusammenhängen. Auffällig ist hingegen das Übergewicht auf Seiten starrer bzw. strukturierter Systeme. Dieses Phänomen könnte ein Effekt der Fallauswahl sein, die auf Familienmitglieder fokussierte, welche Maßnahme der HBOC-Zentren wahrnahmen. Diese Maßnahmen können als Kombination aus Kontrolle und Disziplinierung verstanden werden (vgl. Palfner 2009). Eine regelmäßige Teilnahme erfordert daher nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Fähigkeit, sich erfolgreich zu strukturieren. Gerade dies wird Familien durch die Zuordnung zur „regelhaften“ Seite des CircumplexModells (vgl. Olson 2000) attestiert. Daher erscheint es logisch, dass genau diese Familien und ihre Mitglieder in der vorliegenden Studie – aber möglicherweise auch unter den Teilnehmenden des BRCA-Programms – überrepräsentiert sind. Die vorliegende Falleinschränkung liegt somit aller Wahrscheinlichkeit nach darin, dass sie lediglich eine Darstellung der Gesundheitskonstruktion derer zulässt, die sich als

11 Definiert als Unterstützung, Verpflichtung und Engagement im Rahmen der Familie. 12 Im Rahmen der eingeschränkten Vergleichbarkeit der verwendeten Referenzpunkte.

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„medizinsystemkonform“ erweisen. Damit wird auf diesem Wege, wenn auch unintendiert die Zielgruppendefinition beibehalten. Um die Frage nach dem Stellvertretungscharakter des BRCA-Status für andere informationelle gesundheitliche Herausforderungen beantworten zu können, ist es notwendig, die Kennzeichen eines positiven BRCA-Status’ in den Blick zu nehmen: Ein positives Testresultat ist gleichbedeutend damit, Kenntnis von medizinisch anerkannten, statistisch hohen Gesundheitsrisikozahlen für eine potenziell tödliche Krankheit zu haben, dessen Realisierung zwar sehr wahrscheinlich ist, jedoch nicht 100 Prozent beträgt. Diese Kenntnis basiert also auf keiner eigenen unmittelbaren Krankheitserfahrung, sondern ist i.d.R. mit der Geschichte der Herkunftsfamilie verbunden und kann sich auf eine evtl. Wahlfamilie auswirken. Die Diagnose wird als Hypothese über die Zukunft im Rahmen eines kommunikativen Aktes und einer spezialisierten institutionellen Struktur vermittelt. Sie ist mit einem Angebot vorbeugender medizinischer Maßnahmen verbunden, deren präventive Wirksamkeit und Reichweite eingeschränkt und nicht garantierbar ist. Sie stellen jedoch einen z.T. starken Eingriff in die körperliche Integrität der positiv getesteten Personen dar und/oder sehen regelmäßige medizinisch-fachliche Überwachungsmaßnahmen vor. Diese Beschreibung könnte so oder so ähnlich für viele der sog. Volkskrankheiten formuliert werden. Neben Krebs i.A. zählen hierzu zuvorderst die ebenfalls tödlich endenden Diabetes- und Herz-/Kreislauferkrankungen.13 Auch in diesen Fällen können im Rahmen von Gesundheitschecks ermittelte Messwerte ein erhöhtes statistisches Risiko für eine drohende Manifestation anzeigen. Der Unterschied dürfte jedoch darin liegen, dass zwar von einem „Risiko für XY“ gesprochen wird, die zugerechneten Risikozahlen jedoch meist nicht vermittelt werden und auch kaum die Höhe der BRCA-Ziffern erreichen. Allerdings ist anzunehmen, dass sich die Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken durch die populärwissenschaftliche Berichterstattung über Volkskrankheiten verschärft hat, so dass auch diese bei den präventiv agierenden Bevölkerungsteilen präsent und mit der Dramatik des „vorzeitigen Todes“ aufgeladen sind. Da auch in diesen Fällen in der hausärztlichen Praxis i.d.R. nach einer familiären Geschichte gefragt (vgl. Finkler 2001) oder in der Presse davon berichtet wird (vgl. Tagesspiegel 2011), ist davon auszugehen, dass der Erblichkeitsaspekt der Volkskrankheiten bewusst ist. Die empfundene Dramatik dürfte jedoch auch vom Vorhandensein einer familiären (core) illness narrative abhängen (vgl. Horstman & Smand 2008) sowie vom persönlichen Erfahrungswissen (vgl. d’Agincourt-Canning 2005). Der forcierte Ausbau institutioneller Strukturen zur „Verhütung von Volkskrankheiten“, die an die HBOC-Angebot erinnern, wird vermutlich die wahrgenommene Dramatik dieser Krankheitsgruppe erhöhen. Hier sei bspw. auf die von den Krankenkassen bezahlten, ab einem bestimmten Alter angebotenen regelmäßigen Früherkennungsuntersuchungen erinnert (vgl. bspw. www.barmer-gek.de). Zudem wird vielfach auf die Bildung medizinischer Zentren hingearbeitet, die offenbar als bevorzugter Umgang mit einem bestimmten Krankheitsbild betrachtet werden. Insofern wird

13 Siehe z.B. eine Artikelserie in Dagens Nyheter ab 28.01.2011, die wöchentlich zum Thema „Unsere Volkskrankheiten“ berichtete (vgl. www.dn.se/insidan); Google-Suche vom 07.03.2011 zu diesen Krankheiten mit 180.000 Treffern.

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angenommen, dass der erläuterten Struktur der HBOC-Zentren eine Vorbildfunktion14 in den Bereichen der kräftebündelnden Kooperation und Qualitätssicherung zukommt, bei der Psychosoziales, Prädiktion, Prävention, Therapie und Forschung in einer institutionellen Struktur vereint werden. Das weist zumindest auf eine Verallgemeinerbarkeit der Entwicklung in Richtung Zentrumsbildung hin. Zusammenfassung erscheinen die Kennzeichen des Status „BRCA-positiv“ durchaus mit denen vergleichbar, die mit Volkskrankheiten sowie deren Prävention und Zentrumsbehandlung einhergehen. Der Umgang mit der BRCA-Herausforderung kann daher als „prototypisch“15 hinsichtlich der Hantierung gesundheitsrelevanter Risiko-Informationen betrachtet werden, obwohl die empfundene Dramatik bei anderem Gesundheitswissen (zunächst) vermutlich geringer ausfallen dürfte.

5.3 A NALYSE DER D ATEN : M ETHODIK , T RIANGULATION , M ETHODOLOGIE 5.3.1

Das Primärverfahren der Objektive Hermeneutik (OH)

Die von Oevermann (2002)16 entwickelte OH ist gleichermaßen Sozialisationstheorie, Methodologie und Methode, deren namensgebende Objektivität der Textauslegung auf der Regelgeleitetheit und Nachvollziehbarkeit ihres Ablaufs beruht. Ihrer sozialisationstheoretischen Grundannahme entsprechend beschreibt sie ein sequenzielles Auswertungsverfahren und somit eine horizontale Art des Zugangs zu sämtlichen textförmigen Daten (hier: Interviewdaten, protokollierte Beobachtungen und Mails). Sie untersucht die Regelgeleitetheit sozialer Lebenspraxen, die sie als Fall bzw. Fallstruktur rekonstruiert. Eine spezielle Lebenspraxis, d.h. ein Einzelfall bildet sich in krisenhaft verstandenen Entscheidungssituationen durch die lebenspraktisch realisierte Selektion einer Handlungsoption aus den im Rahmen gültiger sozialer Regeln eröffneten Möglichkeiten. In der als Textprotokoll vorliegenden Entscheidungsabfolge zeigt sich die Selektivität der Fallstruktur. Sie wird durch das Nachvollziehen der getroffenen Entscheidungen und die Analyse der sich darin zeigenden Sinnstruktur geklärt. Diese Fallstrukturen repräsentieren keine subjektiven Intentionen und Motive von Personen, sondern die latenten Sinnstrukturen von Fällen, die zu Fallstrukturgesetzlichkeiten verdichtet werden. „Latente Sinnstrukturen [...] sind also jene abstrakten, d.h. selbst sinnlich nicht wahrnehmbaren Konfigurationen und Zusammenhänge, […] die in ihrem objektiven Sinn durch bedeutungsgenerierende Regeln erzeugt werden und unabhängig von unserer subjektiven Interpretation objektiv gelten.“ (Ebd.: 2)

14 Vgl. www.krebsgesellschaft.de/wub_zertifizierung.77534.html (zertifizierte Brustzentren); www.uk-essen.de/wdhz/67/ (zertifiziertes Herzschmerzzentrum); www.bmbf.de/pub/ gesundheitsforschung.pdf (Forschungszentren), sämtliche vom 07.03.2011. Es hapert aber derzeit an einer flächendeckenden Realisierung. 15 Das Wort „prototypisch“ steht in Anführungszeichen, da das im Fall gegebene Typische nicht davon befreit, den Einzelfall und dessen spezifische Genese zu rekonstruieren. 16 Die Darstellung basiert wenn nicht anders beschrieben auf Oevermann und Wernet (2000).

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Latente Bedeutungen können selbst durch maximale Selbstreflexion nicht zu bewussten, intentionalen werden, und sind erst durch die sequenzielle Analyse nachvollziehbar. Subjektive, intentionale Dispositionen hingegen gelten als Bedeutungsschicht, deren Aussagekraft von der Kenntnis der latenten Sinnstrukturen abhängt. Im Rahmen dieser Arbeit ermöglicht die OH die Erfassung gesundheitsbezogener individueller Fallstrukturgesetzlichkeiten sowie des prozessuralen Moments eines möglichen, durch den BRCA-Test ausgelösten Transformationsgeschehens (vgl. auch Lamnek 2005) als typisierbare Ausprägung des Falles. Dieser Fall ist der gesundheitssozialisatorische Effekt einer BRCA-Diagnostik, die als Beispiel einer wirkmächtigen prädiktiven Gesundheitsinformation mit familiärem Hintergrund verstanden wird. Das konkrete analytische Verfahren der objektiv hermeneutischen Fallrekonstruktion (vgl. Wernet 2000) beruht auf fünf verschiedenen Prinzipien und drei interpretativen Kernprozeduren: Das Prinzip der Kontextfreiheit besagt, dass eine erste Interpretation unabhängig vom aktuellen Kontext der zu analysierenden Äußerung erfolgen soll, um nicht nur Vorannahmen zu bestätigen. Das Prinzip der Wörtlichkeit schärft die Sensibilität für das, was der Text wörtlich tatsächlich sagt und verhindert die Orientierung an einer Annahme dessen, was der Text wohl gemeint haben könnte. Das Prinzip der Sequenzialität besagt, dass die Analyse dem Text nachfolgend verläuft, d.h. dem sich als Abfolge von Entscheidungen prozesshaft entwickelnden Text in eben diesem Bildungsvorgang Schritt für Schritt folgt, um aus der entstehenden Textstruktur die sich dahinter verbergende fallspezifische Sinnstruktur zu rekonstruieren. Das Prinzip der Extensivität verpflichtet die Forschenden, alle möglichen sinnlogisch unterschiedlichen Lesarten gedankenexperimentell zu erfassen und kein Protokollsegment als unbedeutend zu betrachten. Das Prinzip der Sparsamkeit soll redundante und nicht sinnvolle (sog. nicht wohlgeformte) Lesarten verhindern helfen. Die Gültigkeit von Lesarten hängt dabei von ihrer Überprüfbarkeit am Text ab. Die Fallrekonstruktion beginnt mit einer Fallbestimmung, die Vorwissen, Forschungsfrage und Erkenntnisinteresse expliziert, gefolgt von der Interaktionseinbettung des zu interpretierenden Textprotokolls, die klärt, welchen Aufschluss das Protokoll für den Fall bieten kann. Das nachfolgende Interpretationsschema des Textprotokolls sieht im Weiteren einen sich wiederholenden Dreischritt vor, der aus den Kernprozeduren Geschichtenerzählen, Lesartbildung und Bedeutungsüberprüfung am Text besteht: Das Erzählen von Geschichten dient dem Auffinden von Kontexten, in denen die zu interpretierende Textsequenz einen wohlgeformten Sinn ergibt. Diese Gedankenexperimente zielen darauf ab, verschiedene fallunspezifische Lesarten, d.h. Bedeutungstypen des Textsegments aufzufinden. Durch eine kontextualisierende Bedeutungsüberprüfung mittels Konfrontation mit dem Folgetext wird aus der Auswahl fallunspezifischer kontextfreier Lesarten die passende textspezifische Bedeutung ausgewählt, die die Besonderheit der Fallstruktur repräsentiert. Aus den Lesarten werden möglichst früh Fallstrukturhypothesen gebildet. Sie sind dann am weiteren Text nach und nach zu überprüfen und zu verfeinern, bis sie zu Fallstrukturgesetzlichkeiten gerinnen. „Die Rekonstruktion einer Fallstrukturgesetzlichkeit ist dann abgeschlossen, wenn es gelingt, eine Textsequenz als motivierte Gestaltbildung zu fassen, ohne dass in dieser Sequenz mit der rekonstruierten Gestalt unvereinbare Sinnkonstellationen aufgetaucht sind.“ (Berger, Gamperl & Hagmair 1998: 80)

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Während dieses Prozesses orientiert sich die Auswahl der zu interpretierenden Textsequenz daran, welcher Ausschnitt einen strukturellen Informationsgewinn verspricht und kann von Wörtern bis zu Satzteilen oder Sätzen reichen. Dabei wird zwischen der (groben) Sequenzanalyse und einer Feinanalyse17 unterschieden, wobei letztere im Gegensatz zur ersteren kleinste Textsegmente extensiv interpretiert, um die Konturierung von Fallhypothesen zu schärfen (vgl. Wernet 2000). Schlüsse werden bevorzugt nicht induktiv oder deduktiv, sondern abduktiv gezogen. Abduktion bezeichnet das Finden einer neuen Erkenntnis, die darauf beruht, bewährte Sichtweisen nicht einzuhalten. Aus dem Resultat dieses „geistigen Sprungs“ folgen sowohl Fall als auch Regel (vgl. Reichertz 2003). Mithilfe des Interpretationsschemas der OH kann somit ein Bogen gespannt werden, der von der Darstellung einer Fallbestimmung über Fallstrukturhypothesen zur Erfassung einer Fallstrukturgesetzlichkeit führt, deren Rückbezug auf die theoretischen Vorüberlegungen eine Fallstrukturgeneralisierung entstehen lässt. Diese bildet den Typ (im Einzelfall) ab, dem der Fall (als Gesamtheit der zugehörigen sozialen Praxis) angehört und hat eine über diesen Typ hinausweisende Potenz, da sie zum Ausgangspunkt weiterer Textinterpretationen werden kann, die neue Typen rekonstruieren. 5.3.2

Die „Serviceverfahren“: systematische Metaphernanalyse und Grounded Theory

Die vertikal-zergliedernden Verfahren der Metaphernanalyse und der Grounded Theory wurden bedarfsgerecht zur Auswertung der Interviewteile bzw. Mails herangezogen, die entweder zuvor einer objektiv hermeneutischen Analyse unterzogen worden waren oder Erkenntnisse bzgl. während dieser Analyse zu Tage tretender Deutungsmuster versprachen. Die systematische Metaphernanalyse in ihrer textaufbrechenden Ausprägung18 (vgl. Schmitt 2003 mit Bezug zu Lakoff & Johnson 2007) ermöglicht die Erfassung einer vertieften Erkenntnis des Gesagten durch systematische Vergleiche zwischen Quell- und Zielbereich aller im Text auffindbaren Strukturmetaphern, die den assoziativen Sprachintergrund beleuchten. Aufgrund der Funktionalisierung der Methode im Zuge der Studie entfallen die ersten beiden sowie der letzte Schritte der regulären Methodenanwendung.19 Der durchgeführte Analyseschritt wird von Schmitt (2003) als systematische Analyse einer Subgruppe bezeichnet: Hierbei wird das Material zu-

17 Einige Autoren (Lamnek 2005; Berger, Gamperl & Hagmair 1998) sprechen von einem von Oevermann ausgearbeiteten achtstufigen Verfahren der Feinanalyse, dem in der für die Arbeit relevanten methodischen Handreichung Wernets (2000) jedoch nicht gefolgt wird. 18 Es existiert auch eine prozessurale Methode (vgl. Buchholz & v. Kleist 1997), die jedoch den der Metaphernanalyse zukommenden Zweck der Abklärung von Strukturmetaphern nicht erfüllen würde. 19 Diese würden die Identifikation des Themas der Metaphernanalyse, eine unsystematische breite Sammlung der Hintergrundmetaphern sowie schließlich die Erstellung einer individuellen Landkarte der Bedeutung beinhalten. All dies ist ausreichend durch die Objektive Hermeneutik abgedeckt.

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nächst aufgebrochen, d.h. alle metaphorischen Ausdrücke werden themenspezifisch20 identifiziert und in Metaphernlisten neu gruppiert. Übrig bleibt ein Texttorso. Im Anschluss daran erfolgt die Rekonstruktion metaphorischer Konzepte, die einen übereinstimmenden Quell- und Zielbereich aufweisen. Die Arbeitsanweisung für diesen Schritt lautet: „Alle metaphorischen Wendungen, die der gleichen Bildquelle entstammen und den gleichen Zielbereich beschreiben, werden zu metaphorischen Konzepten unter der Überschrift ‚Ziel ist Quelle‘ geordnet.“ (Ebd.: 5). Dabei wird das Material in einer Kreisbewegung so lange komplexitätsreduzierend geordnet, bis alle metaphorischen Äußerungen je einem metaphorischen Konzept zugeordnet wurden. Die Verdichtung der o.g. Deutungsmuster durch den „Sprachvordergrund“, sprich durch die im Interview tatsächlich geäußerten Deutungen, werden schlussendlich mithilfe des offenen und axialen Kodierverfahrens der Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin 1996) ergänzt. Diese zielt in ihrer Gesamtheit auf die Bildung einer gegenstandsverankerten Theorie ab, welche „durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das zu untersuchende Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt“ (ebd.: 7/8) wird. Daten werden parallel ausgewertet, indem Texte aufgebrochen, mittels Kodierung und Kategorisierung neu gruppiert und durch Konzeptualisierung unter Rückgriff auf ein Kodierparadigma zur Theorie verdichtet werden. Das methodische Kernstück der zur Exploration geeigneten Grounded Theory wird durch drei Kodierungsarten gebildet, die zur Identifikation von Kategorien (offenes Kodieren), zu ihrer Verdichtung und Verhältnisbestimmung (axiales Kodieren) und letztlich zur Herausfilterung einer Kernkategorie sowie deren Vernetzung mit anderen Kategorien, d.h. zu einer Theorie führen (selektives Kodieren) (vgl. ebd.; Böhm 2003). Die Auswahl der zu analysierenden Teildatenmenge erfolgt mittels des bereits beschriebenen fallinternen theoretical sampling. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden lediglich Elemente des offenen und axialen Kodierens verwendet, um die durch die objektiv hermeneutische Analyse entdeckten Deutungs- und Handlungsmuster näher zu bestimmen und auszubauen. Die im ersten offen Kodierungsschritt eigentlich aufzufindenden Kategorien liegen also in dieser Anwendung bereits vor, werden dann jedoch durch offenes und axiales theoretical sampling, d.h. die Suche nach Eigenschaften und deren Ausprägung über das gesamte vorliegende Textmaterial hinweg, mit Informationen angereichert und sozusagen „aufgefüllt“. Dies stellt eine extrem reduzierte Verwendung der Grounded Theory dar, was jedoch durch deren Gegenstandsbegründetheit und dadurch grundsätzlich fehlende Abgeschlossenheit implizit sanktioniert wird. 5.3.3

Genogrammanalyse

Genogramme können auf zwei unterschiedliche Arten analysiert werden: Aus der systemischen Familientherapie stammt eine Lesart, in der Beziehungsstrukturen fokussiert werden. Die Grundfrage lautet „Was bedeutet es für die Handlungsweise einer Person, dass genau diese Person an dieser Stelle der Familienstruktur steht – und

20 Die Themen sind durch die Fragestellung der Studie gegeben und werden anhand der objektiv hermeneutisch gefundenen Deutungsmuster nochmals modifiziert.

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wie wirkt das auf die Familienstruktur zurück?“ (vgl. McGoldrick & Gerson 2005). Der zweite, soziologische Ansatz untersucht die familiale Entwicklungsgeschichte von Handlungslogiken, d.h. hier werden die milieuweltlichen Gegebenheiten der zugleich strukturierten und zukunftsoffenen familialen Entscheidungslogik zwischen den Polen Autonomie und Heteronomie rekonstruiert. Das erfolgt im Rahmen einer sequenziellen Untersuchung der Generationen und deren Bildungs-, Familien- und Mobilitätsentscheidungen vor dem Hintergrund des jeweils milieubedingt, historisch etc. zur Verfügung stehenden Entscheidungsspielraums. Ziel ist die Erfassung der Logik der jeweiligen persönlichen Lebensentscheidungen und deren Beitrag zur familialen Strukturlogik von Entscheidungen. In dieser Lesart lautet die Leitfrage „Wieso entscheidet sich die Person in dieser Situation so, wie sie es tut, und was sagt das über die familiäre Art aus, Entscheidungen zu treffen?“ (vgl. Hildenbrand 1999). In beiden Fällen werden Hypothesen zur Familie aufgestellt, die im ersten Fall eher „positionalen“, im zweiten eher „intentionalen“ Ursprungs sind und eine je entsprechende Aussage erlauben. 21 Da Genogramme an dieser Stelle dazu eingesetzt werden, um losgelöst von den Interviewdaten sowohl die allgemeine als auch gesundheitsspezifische Handlungslogik der Familie – sprich die „intentionale“ Dimension – zu untersuchen, wird die zweite Methode der ersten gegenüber bevorzugt. Das auf objektiven Daten beruhende Genogramm dient dabei der Hypothesenbildung bzgl. der allgemeinen Entscheidungs- und Handlungslogik der Familie und damit eher der Erfassung des familiären Hintergrunds. Das gesundheitsbezogene Daten auflistende Genogramm hingegen wird herangezogen, um Hypothesen zu spezifischen familiären Handlungsregeln im Gesundheitsumgang abzulesen. 5.3.4

Typisierter Ablauf

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einer Einzelfallrekonstruktion

Als grundsätzliche Fallbestimmung sind die vorab stattfindenden Klärungen zu bezeichnen, die in dieser Monographie als Theorie- und Methodenkapitel fixiert sind. Eine erste Besonderheiten herausstellende Falleinschätzung auf der Basis der Dokumentation des Kontaktverlaufs und des Beobachtungsprotokolls zum Interview, sprich der Interaktionseinbettung, entscheidet durch Kontrastierung mit den anderen Fällen darüber, welcher Fall im Weiteren ausführlich analysiert wird. Zunächst werden das objektive und das gesundheitsbezogene Genogramm des ausgewählten Falles analysiert, um die allgemeine familiäre Handlungs- und Entscheidungslogik als Hintergrundinformation sowie ihre gesundheitsbezogene als eine erste Fallstrukturhypothese zu ermitteln. Sodann wird der Kontaktverlauf in der In-

21 Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass diese Entscheidungen nur in Ausnahmefällen bewusst gemäß der familiären Logik getroffen werden. Es wirken wieder latente Sinnstrukturen. Das Wort „intentional“ ist daher in Anführungszeichen zu setzen und dient lediglich der Illustration des Unterschieds zwischen dem systemischen und dem soziologischen Ansatz der Genogrammanalyse. 22 Da jeder Fall anders ist und einen anderen Datenkorpus aufweist, unterscheidet sich auch der Analyseweg von Fall zu Fall. Der o.g. Ablauf kann daher nur eine orientierende Annäherung an den jeweiligen Analyseverlauf anbieten.

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terpretationsgruppe objektiv hermeneutisch analysiert, wobei besondere Betonung auf die Kontaktaufnahme bis zum (ersten) Interview gelegt wird. Der Vorgang dient der Erstellung einer weiteren Fallstrukturhypothese, die Hinweise auf wichtige Deutungsmuster, aber auch auf familiale Strukturen sowie allgemein zum Aufbau von Beziehungsmustern beinhalten kann. Im nächsten Schritt beginnt die Auswertung der Interviewdaten. Hierbei wird jeweils – ebenfalls im Rahmen einer Interpretationsgruppe – mit der Eingangserzählung begonnen, die zunächst objektiv hermeneutisch, danach aber auch metaphernanalytisch untersucht wird und damit ebenfalls zur Bildung von Hypothesen familialer und deutungsmusterbezogener Art beiträgt. Auf der Basis aller bisher im Analyseprozess erstellten Fallstrukturhypothesen und Deutungsmuster werden nun mittels fallinternem theoretical sampling weitere Stellen aus dem Interviewmaterial zur Analyse ausgewählt, die den Hypothesen zu ent- oder widersprechen scheinen und damit weitere Informationen zur Musterverdichtung bieten. Diese werden einerseits einer objektiv hermeneutischen Grobanalyse unterzogen, andererseits aufgebrochen und kodiert bzw. auf Strukturmetaphern untersucht. Besonders bedeutsame Stellen werden sodann ausgewählt und erneut mittels Objektiver Hermeneutik feinanalytisch untersucht. Sämtliche Verfahren dienen dazu, die Muster bzw. Hypothesen zu füllen und schärfen, bis die Deutungsmuster nicht weiter ausbaubar sind und die Fallstrukturgesetzlichkeit feststeht, so dass die Fallrekonstruktion abgeschlossen ist. Im abschließenden Präsentationsschritt werden alle via Memo festgehaltenen Verdichtungsschritte reflektiert und so lange komplexitätsreduzierend komprimiert, bis der entstehende Text nur die letzte Rekonstruktionsstufe der Deutungsmuster und Fallstrukturgesetzlichkeit zusammenfasst, die zwecks Nachvollziehbarkeit durch entsprechende Textbeispiele zu illustrieren ist. Exkurs zur visuellen Präsentation der Beziehungsstruktur Die Form der visuellen Präsentation von Beziehungsstrukturen orientiert sich an der Idee der Skulpturenmethode der Familienrekonstruktion (vgl. Satir 1995): Berücksichtigung: Die Mitglieder der in einer bestimmten, zu spezifizierenden Erzählung auftauchenden erlebten Familie (sowie ggf. weiterer sozialer Kontexte) werden im Bild dargestellt. Personensymbol: Das einzelne Personen darstellende kreisförmige Symbol besteht aus einem inneren und einem äußeren Kreis. Diese Darstellungsart orientiert sich am sog. Kerndiagramm, das aus dem Bereich der Körpertherapie stammt und verschiedene Schichten des Selbst visualisieren soll (vgl. Boynton & Dell 1997). Der Doppelkreis repräsentiert die je nach sozialem Zusammenhang unterschiedliche Selbstpräsentation als körperliche_r Akteur_in mit einem öffentlichen und privaten Körper (vgl. Goffman 2008). Er verweist somit darauf, dass die aktuelle Vorstellung innerhalb des Familienensembles nicht die einzig mögliche oder gar umfassende darstellt. Eine durchbrochene Doppelkreisstruktur weist schließlich darauf hin, dass die Positionierung der Person Unklarheiten aufweist, d.h. aufgrund der Datenbasis schwer einschätzbar ist. Die relative Größe des Symbols repräsentiert die tendenzielle Wichtigkeit der Person im jeweiligen Sozialkontext.

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Beziehungsqualität: Das Ausmaß an Nähe bzw. Distanz zwischen den Personsymbolen spiegelt die Qualität der Beziehung dieser Beteiligten wider, die Konstellation der Symbole repräsentiert somit die reale familiale Beziehungskonstellation. Grenzen: Der im alltäglichen Erleben bindende Familienzusammenhang wird innerhalb einer kreis- oder elipsenförmigen Struktur dargestellt, deren randförmige Begrenzung mehr oder weniger dick gezeichnet ist, je nachdem wie abgeschlossen das System nach außen erscheint. Die innere Bindung zu den im Kreis befindlichen Personen ist größer als die zu den Außenstehenden, die zwar nicht aus dem Alltag verschwunden sind, aber eine distanziertere Position besetzen (z.B. als negatives Beispiel). Es ist auch eine randständische Positionierung möglich, die auf eine bewegliche Position zwischen dem Innen und Außen der erlebten Familie hinweist. 5.3.5

Praktische Triangulation der Datenauswertung

Die folgende Operationalisierungsübersicht zeigt, welche Daten zu welchem Zweck mittels reaktiven (Interview, Beobachtung) sowie nicht reaktiven Verfahren (Genogramm) erhoben wurden und mit welchen Verfahren welches Phänomen erfasst werden konnte (sog. praktische Triangulation). Tabelle 2: Operationalisierungsübersicht zur Verdeutlichung der praktischen Triangulation Methode

Datum

Auswertung

Phänomen

Episodisches Einzelinterview

subjektive gesundheitsbezogene Erzählungen und Deutungen Schilderungen relevanter sozialer Systeme und diesbezüglicher Gesundheitserzählungen

Objektive Hermeneutik Systematische Metaphernanalyse Ergänzt durch Kodierung in Anlehnung an Grounded Theory

Subjektive gesundheitliche Deutungs- und Handlungsmuster (reflektiertes Wissen) Erlebte familiale Struktur Reflektierte Interaktion zwischen familialer und individueller Ebene

Episodisches Familieninterview

Erzählungen von (gesundheitlichen) Familiengeschichten und Deutungen Beobachtungen diesbezgl. sozialer Aushandlungsprozesse und systemischer Variablen (z.B. individuelle Grenzen, Rollenorganisation)

Objektive Hermeneutik Systematische Metaphernanalyse Ergänzt durch Kodierung in Anlehnung an Grounded Theory

Familiale gesundheitliche Deutungs- und Handlungsmuster Erlebte und gelebte familiale Struktur (Narrationen und interaktive Erzähldynamik) Interaktion individuelle – familiale Ebene

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Teilnehmende Beobachtung des Kontaktverlaufs: Interviewanbahnung, -situation und - verlauf sowie ‚Datenfluss’

Texte (E-Mails) sowie Telefonatund Beobachtungsprotokolle Erste themenbezogene Erzählungen Erste Hinweise auf systemischstrukturelle Verhaltensweisen

Texte mittels Objektiver Hermeneutik Ethnographie23

Hinweise zu: Individuelle Deutungs- und Handlungsmuster Strukturierung sozialer Beziehungen

Genogramm mit objektiven Familiendaten (z. B. Beruf, Namen, Geburtstag)

Daten zu regenerativen, familialen, bildungs- und mobilitätsbezogenen Entscheidungen Daten zur Beziehungsstruktur

Genogrammanalyse nach Hildenbrand (ergänzt durch McGoldrick & Gerson) Milieuzuordnung nach Vester et al.

Allgemeine Handlungslogik der Familie und der Verwandtschaft als Hintergrund Familiale Strukturund Milieuinformationen

Genogramm mit gesundheitsbezogenen Daten (z.B. BRCA-Diagnose, prophylaktische Maßnahmen)

Daten zu erinnerten gesundheitsund körperbezogenen Entscheidungen und Ereignissen

Angelehnt an Genogrammanalyse nach Hildenbrand

Gesundheitliche Handlungslogik

Methode

Datum

Auswertung

Phänomen

Die Notwendigkeit der Triangulation sowohl bei der Datenerhebung als auch bei deren Auswertung ergibt sich aus der Komplexität der Fragestellung. „In der Sozialforschung wird mit dem Begriff der ‚Triangulation‘ die Betrachtung eines Forschungsgegenstandes von (mindestens) zwei Punkten aus bezeichnet.“ (Flick 2003: 309). Die Kombination verschiedener Datentypen, Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der Studie spiegelt damit das Bemühen, neue Facetten der Fälle sowie unterschiedliche Perspektiven aufzuzeigen, die als folgenreich für die Rekonstruktion der sozialen Praxis eingeschätzt werden, um diese in größerer Tiefe und Breite zu erfassen. 5.3.6

Theoretische Triangulation und Methodologie

Der Vorgang, die methodologisch verschiedenen Theorieansätze der verwendeten Verfahren aufeinander abzustimmen (vgl. Flick 2003; Lamnek 2005), wird theoretische Triangulation genannt. Da jede Methode das Phänomen in eigenen Begriffen betrachtet und diese aufgrund konfligierender theoretischer Grundlagen nicht ohne

23 Die Ethnografie zielt auf die Erfassung von Regelmäßigkeiten im individuellen und sozialen Verhalten. Diese strukturelle Orientierung hat sie mit der OH gemein. Das führt zu einem daran angelehnten Vorgehen und bedingt den Verzicht einer gesonderten Darstellung.

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weiteres ineinander überführbar sein können (vgl. Denzin 1978), ist deren Kombinierbarkeit darzulegen. Die Möglichkeit und Notwendigkeit der Kombination ergibt sich aus der grundlegenden Anschlussfähigkeit von Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin 1996) und systematischer Metaphernanalyse (vgl. Schmitt 2003) sowie des bekannten blinden Flecks der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 2002). Ausgangspunkt sind methodologische Überlegungen. Abbildung 1: Rekonstruktive Operationen und Wirklichkeitsvorstellungen der drei Verfahren

WirklichkeitsEbene

Objektive Hermeneutik

Metaphernanalyse

Grounded Theory

Latente/soziale Sinnstruktur

Subjektiver Sinn

Subjektive Sinnstruktur/ Dispositionen

AusdrucksGestalten

Wirkungsrichtung der Sinnstrukturen

Rekonstruktion Sinnstrukturen

Wirkung & Rekonstruktion Strukturmetapher

AusdrucksGestalt

Die Objektive Hermeneutik stellt als „Leitmethode“ der Untersuchung ein Verfahren zur Rekonstruktion von Fällen bzw. Fallstrukturen dar, die aus ihrer in Texten und Protokollen vorliegenden Ausdrucksgestalt sequenziell nachvollzogen werden. Ein Fall wird definiert als „jegliche Aggregierung von Handlungsinstanzen, die eine eigene, historisch gebildete Identität haben“ (Oevermann 2002: 10), die als autonom verstanden wird und somit Personen, Gruppen (wie z.B. die Familie) oder unterschiedlich komplexe Organisationen umfassen kann. Seine Fallstruktur repräsentiert eine soziale Lebenspraxis, die im Rahmen fortlaufender interaktiver Bildungsprozesse als Kombination kulturell akzeptierter Anschlüsse und eigenlogischer Auswahlmaxime sequenziell angeeignet wird. Sie ist damit gleichzeitig besonders und allgemein, d.h. sowohl als Einzel-Fall als auch als überindividueller und damit ‚objektiver’ Typ zu betrachten. Was der Fall ist, wird im Rahmen dieser Analyse je einzeln festzulegen sein. Diese die Lebenspraxis bestimmenden latenten Sinnstrukturen sind für die Herausbildung subjektiver Sinnstrukturen oder Dispositive, zu denen bspw. Emotionen oder Meinungen zählen, insofern von Bedeutung, als sie deren Rahmen abstecken und somit für die Ausprägung der konkreten beobacht- und protokollierbaren Ausdrucksgestalt entscheidend sind, also für das, was als soziale Wirklichkeit erlebbar ist (vgl. Oevermann 2002). Der hermeneutische Anspruch der Methode liegt somit im verstehenden, nicht erklärenden Nachvollzug der Lebenspraxis als Fallrekonstruktion. Seine theoreti-

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schen Wurzeln liegen jedoch in Interaktionismus und Strukturalismus, die allerdings unterschiedlich gewichtet werden: Der Interaktionismus ist für den sozialisationstheoretischen Ansatz der O und seine Sicht auf Bildungsprozesse von Fallstrukturgesetzlichkeiten bedeutsam. Jedoch kommt dem latenten, objektiven gegenüber dem subjektiven, intentionalen Sinn als analytischem Ziel eine bevorzugte Stellung zu.24 Dies verweist auf die Priorität der strukturalistischen gegenüber der interaktionistischen Perspektive (vgl. Schröer 1994), was Wernet (2000) illustriert: „[…] eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion [beruft sich] immer auf die Selbstauffassungen des Handlungssubjekts, die Handlungsintentionen usw. Sie erblickt darin aber nur eine Bedeutungsschicht, die aussagekräftig erst dann wird, wenn die Schicht der latenten Sinnstruktur aufgedeckt wird.“ (Ebd.: 18)

Als Folge dieser Priorität zielt die Analysemethode systematisch auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen ab, ohne sich mit gleicher Regelhaftigkeit den subjektiven Dispositionen zuzuwenden. Letztere werden somit von der Methode nur mangelhaft erfasst. Ein Blick auf die diesen Sinnstrukturvarianten zu Grunde liegenden Theorietraditionen enthüllt Unterschiede bzgl. der Sichtweise sozialer Wirklichkeit, die hinsichtlich der Freiheitsgrade von Konstruktionen und der Frage der Urheberschaft von Sinn und sozialer Wirklichkeit, mithin der Stellung des einzelnen sozialen Akteurs, differiert: Die subjektive Sichtweise phänomenologisch-interaktionistischer Provenienz betrachtet soziale Wirklichkeit als primär durch die Deutungen des einzelnen, den subjektiven Sinn, bestimmt. Der subjektive Akteur ist Produkt und Produzent sozialer Wirklichkeit, d.h. dem Einzelnen kommt eine Art Wirklichkeitshoheit zu, die in sozialen Interaktionen gebotenen Sinn-Angebote zu bestimmen, neue zu nutzen und damit ggf. zu transformieren. Soziale Wirklichkeit wird interaktiv von diesen sozialen Akteuren herstellt. Die objektive Perspektive mit strukturalistischem Hintergrund beschreibt das Soziale als Produkt eines inter- und überindividuell existierenden Regelkanons. Sinnstrukturen sind objektiv, unhintergehbar und ein „quasi strukturelles Äquivalent anthropologischer Konstanten menschlicher Existenz“ (Peter 2006: 30; auch Lamnek 2005; Abels 1998). Die beiden „Servicemethoden“ können jeweils unterschiedlichen TheorieStrömungen zugeordnet werden. Das theoretische Fundament der systematischen Metaphernanalyse liegt im Bereich der verstehenden, hermeneutischen Soziologie (vgl. Buchholz & v. Kleist 1995). Zur weiteren theoretischen Fixierung empfiehlt sich ein Blick auf den verwendeten weiten Metaphernbegriff, der sich am Ansatz des philosophisch-linguistischen Autorenteams Lakoff und Johnson (2007) orientiert und von Schmitt (2003) wie folgt formuliert wird:

24 Auch die Genogrammanalyse fragt nach latenten Sinnstrukturen biografischer Entscheidungen im Rahmen der Familie (vgl. Hildenbrand 1999). Sie folgt damit einer ähnlichen Logik wie die OH, kann als deren Quasi-Erweiterung in der Zeit angesehen werden und wird als verschränkungstechnisch unproblematisch nicht weiter vorgestellt.

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„Eine Metapher liegt dann vor, wenn a) ein Wort/eine Redewendung in einem strengen Sinn in dem für die Sprechäußerung relevanten Kontext mehr als nur wörtliche Bedeutung hat; und b) die wörtliche Bedeutung auf einen prägnanten Bedeutungsbereich (Quellbereich) verweist, c) der auf einen zweiten, oft abstrakteren Bereich (Zielbereich) übertragen wird.“ (Ebd.: 19)

Quell- und Zielbereiche sind nie 100 Prozent kongruent und daher interpretationsbedürftig, wobei dem Quellbereich eine Kulturspezifität und bedeutungserzeugende Potenz zukommt (vgl. Buchholz & v. Kleist 1997; Schmitt 2003). Die Metapher als Transferereignis, die in der Form „X ist Y“ vorliegt, kann dabei anhand ihrer Sichtbarkeit in strukturell-latente und manifest-ontologische Metaphern eingeteilt werden (vgl. Lakoff & Johnson 2007; Buchholz & von Kleist 1997), wobei die Analyse primär auf die Erfassung von Strukturmetaphern abzielt. Diese werden als experience based mental facts beschrieben, d.h. als kognitive Konzepte oder Strategien, die durch reflexive Denkakte und Imaginationen des Subjekts beeinflusst und in sozialinteraktiven Szenarien gefestigt werden. Eine ihrer wesentlichen Quellen ist der Körper als „Bedeutungsspender“ (Buchholz & v. Kleist 1995: 94, vgl. auch Johnson 1987), jedoch nicht ihre einzige (vgl. Kövecses 2002). (Struktur-)Metaphern besitzen einen die Wahrnehmung, das Handeln und die eigenen Identität präfigurierenden, deutungsbestimmenden Charakter. Durch metaphorische Verknüpfung kann sowohl Neues auf Bekanntes reduziert als auch Altes durch eine Erweiterung dieser Verknüpfungen in Neues verwandelt werden, dessen Bedeutung die Wortebene übersteigt. Die operative, evaluative, kreative, selektive und transzendente Funktion von Metaphern ist ihren Benutzer_innen i.d.R. nur begrenzt bewusst, d.h. eine relativ bewusste Auswahl ist mit einer zumindest teilweise unbewussten Wortbedeutung verbunden, der eine unbewusst zu Grunde liegende Strukturmetapher entspricht. Schachtner (1999: 51) charakterisiert diesen Zustand durch den Begriff der „schlummernden Metapher“. Die Parallele zum Deutungsmuster (vgl. Franzmanns 2007) ist offensichtlich, so dass anzunehmen ist, dass diese in metaphorisierter Form vorliegen und auch so erfasst werden können. Gleichzeitig erinnert die Suche nach Strukturmetaphern an die Rekonstruktion von Fallstrukturen, was auf die Anschlussfähigkeit der Metaphernanalyse an die OH verweist. Die Verschränkungsfähigkeit scheint aufgrund zweier Aspekte gegeben: Zum einen schließt sie sich direkt an die Aufforderung Oevermanns an, die Struktur innerhalb der „Sprache des Falls“ (Oevermann 2002: 21) zu rekonstruieren, wozu auch die Aufforderung gehört, das Gesagte so zu deuten, wie es wörtlich gesagt wurde, also auch „Versprecher“ u.ä. ernst zu nehmen. Die Metaphernanalyse setzt diese Aufforderung lediglich systematisch und in einem Bereich fort, der jenseits des Offensichtlichen liegt. Zum anderen basiert sie wie die OH auch auf einer – in dem Fall sprachlichen – Idee von Struktur, die im Hauptforschungsgegenstand verankert ist, nämlich in der Suche nach Strukturmetaphern. Diese sind jedoch – und hier führt die Metaphernanalyse eine neue, subjektive Sinnebene ein – offen für kreative Neuschöpfungen, welche sich aufgrund einer gemeinsamen kulturspezifischen Sprachlogik auch Außenstehenden erschließen können. Damit bereichert sie die mit Hilfe der OH gefundenen Deutungsmuster durch Informationen, die aus der Einführung eines assoziativen Sprachhintergrundes stammen.

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Das Halbbewusste sowie die Einführung einer subjektiven Sinnebene leiten über zur Grounded Theory. Der Metaphernanalyse fällt somit gewissermaßen eine „Brückenfunktion“ zu. Die Grounded Theory beruft sich theoretisch auf den symbolischen Interaktionismus (vgl. Titscher 1998). Das bietet trotz großer Spannungen auch Anschlussmöglichkeiten an die interaktionistischen Wurzeln der OH, namentlich in Bezug auf die interaktive Vermittlung sozialer Wirklichkeit sowie auf die zentrale Rolle von Symbolisierungen. Diese Faktoren sind allen drei Verfahren gemein. Die Spannungen zwischen Grounded Theory und OH beruhen auf der Annahme latenter Sinnstrukturen, die die OH vertritt und zentralisiert, die Grounded Theory jedoch ablehnt. Sie operiert auf der Ebene der subjektiven Sinnstrukturen und Dispositionen und sieht dies als bestimmend für die soziale Wirklichkeit an. Auch die Rolle des Prozesskonzeptes25 ist eine andere: Der objektiv-hermeneutische Ansatz ist in der Lage zu erklären, was das im Prozess entstandene Neue ist, jedoch nicht, wie es zustande kommt. Das Prozessuale ist für diesen Ansatz jedoch absolut grundlegend. Der sozialphänomenologische Ansatz der Grounded Theory vollzieht das „Wie“ der Entstehung des Neuen nach, ohne auf das „Was“ ausreichend Antwort geben zu können. Prozesse gelten jedoch auch hier als wichtiges zu berücksichtigendes Moment (vgl. Peter 2006). Beide Methoden lassen sich trotz des Trennenden auf den Prozess als konstituierendes Moment verpflichten. Da die Fragestellung die Einflussmöglichkeit einer neuen Komponente auf ein vorhandenes Konstrukt fokussiert und das Element des Prozesses daher von besonderer Wichtigkeit ist, erscheint eine ergänzende Wahl der Grounded Theory empfehlenswert. Im Gesamten stellt die Grounded Theory weniger eine Methode als vielmehr ein ganzes Forschungsprogramm mit eigener Forschungslogik dar. Ihr Ziel ist die Theoriebildung im Wechsel zwischen induktivem und deduktivem Vorgehen (vgl. Böhm 2003, Titscher 1998). In dieser Arbeit kommen Teile von ihr zur inhaltlichen Bestimmung theoretischer Konzepte aus den Daten heraus zur Anwendung. Wenn die solchermaßen gefundenen Konzepte und Kategorien den Beteiligten auch nicht vollständig bewusst sein müssen, so repräsentieren sie doch kommunizierbare Wissensbestände, die den Akteur_innen bewusster sind, als die mit Hilfe der OH gefundenen strukturellen Deutungsmuster und die durch die Metaphernanalyse aufgezeigten Strukturmetaphern. Im Gegensatz zu den anderen beiden Methoden dient diese daher im Rahmen der Arbeit eher zur „Deskription“. Berührungspunkte und Spannungen sowie Stärken und Schwächen der verschiedenen Konzepte wurden vorgestellt. Voraussetzung jeder Triangulation ist jedoch die Verschränkung der angewandten Methoden. Zu diesem Zweck wird auf die von Oevermann (2001) betriebene Hierarchisierung von sozialem und subjektivem Sinn zurückgegriffen: Es „soll gesagt sein, daß die sprachlich erzeugten objektiven Bedeutungen den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen und nicht umgekehrt der subjektiv gemeinte bzw. intendierte Sinn die objektive Bedeutung von Ausdrücken erzeugt.“ (Ebd.: 1) Wie Oevermann das Subjektive dem Objektiven, Latenten unterstellt und in der von ihm entwickelten Methode/Methodologie das gesetzartige Latente rekonstruiert und den subjektiven Sinn vernachlässigt, so sollen auch die subjektive Sinnstrukturen

25 Die systematische Metaphernanalyse besitzt keine prozesshafte Komponente.

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erfassenden Verfahren der Grounded Theory und der Metaphernanalyse der OH untergeordnet26 werden und damit als eher deskriptive Verfahren die Leerstelle derselben aufheben, in dem sie subjektive Dispositionen unterschiedlicher Art beschreiben. Auf diese Art kommen die aufgezeigten Spannungen weniger zur Geltung als die genauso vorhandenen Berührungspunkte. Die Konstruktion dieser Konstellation spiegelt sich sowohl in der Theoriebildung zur Gesundheit als auch in den verschiedenen zu betrachtenden Familiendimensionen wider.

5.4 G RENZEN

DER

S TUDIE

Aus der Operationalisierung der Studie ergeben sich eine Reihe von Spezifikationen, die als Begrenzung aufgefasst werden können und daher zu diskutieren sind. Die primär textbasierte Datengrundlage und Analyse der Studie macht aus der Erfassung der Gesundheitskonstruktion ein diskursiven Unterfangen, so dass hier keine Ergebnisse zu einer „gelebten“ oder „gefühlten“ Gesundheit geliefert werden, was eine phänomenologisch orientierte Datenerhebung und Analyse erfordert hätte. Das erscheint jedoch insofern angemessen, als dass der Effekt einer gesundheitsrelevanten Information untersucht werden sollte, die als Information über „die Gene“ selbst virtuell ist und somit lediglich als diskursives Produkt erfahrbar und verarbeitbar erscheint. In den berichteten Gesundheitskonstruktionen aufscheinende Potenziale gefühlter Gesundheit weisen darüber hinaus sowohl auf einen möglichen textlichen Ausdruck gefühlter Gesundheit (vgl. Lindemann 1993) als auch auf eine gegenseitige Ergänzung der diskursiven und gefühlten Gesundheiten hin, welche mit der Dopplung von Leib und Körper und deren gegenseitiger Vermittlung vergleichbar, wenn nicht sogar zusammenhängend erscheint. Die gewählte Operationalisierung bringt es mit sich, dass von vornherein eine soziale Dimension in die Analyse getragen wird. Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern das eine Qualitätsminderung im Sinne einer self-fulfilling prophecy ist oder im Gegenteil eine Bereicherung der Studie darstellt. Da ein Einbezug dieser Dimension von einer Reihe fallspezifischer Referenzen (bspw. Schmedders 2004; v. Riper 2005; Douglas, Hamilton & Grubs 2009; v. Oostrom et al. 2007b) gefordert wird und auch ausgehend vom Phänomen BRCA/HBOC geboten erscheint, wird davon ausgegangen, dass ein entsprechendes Studienergebnis kein Operationalisierungsartefakt, sondern vielmehr einen Gewinn darstellt. Als eine weitere Begrenzung der Studie mag die stringente Art der Fallrekonstruktion erscheinen, d.h. die strukturierte und strukturierende Rekonstruktion von Regeln als „Leitlinien“ des Falles im Rahmen einer Fallstrukturgesetzlichkeit, die keine Variabilität und Ambivalenz zuzulassen scheint. Hierbei handelt es sich sowohl um eine Stärke als auch Schwäche der OH: Sie rekonstruiert genau diese invariant erscheinenden Regeln, die es einerseits erlauben, die jeweilige Lebenspraxis des Falles nachzuvollziehen, andererseits immer auch eine Festschreibung darstellen. Diese

26 In Anlehnung an den Hinweis, dass „kein Verfahren von sich behaupten könne, wissenschaftlicher zu sein als das andere“ (Lamnek 2005: 276) wird damit jedoch keine inhaltlichen Überordnung verbunden.

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Festschreibung passiert jedoch auf der Basis aller erhobenen Daten, d.h. sie ist erst dann abgeschlossen, wenn sämtliche unterschiedlichen Arten getroffener Entscheidungen an allen verfügbaren Entscheidungsknoten berücksichtigt und in das „Regelwerk“ integriert worden sind, ohne das Widersprüche auftreten. Dies schließt das Vorhandensein anderer Entscheidungsregeln nicht grundsätzlich aus und begrenzt die Aussage auf das vorliegende Material, von dem jedoch angenommen wird, dass es das behandelte Thema aufgrund seiner Vielfältigkeit vollständig abzubilden in der Lage ist. Da jedoch grundlegend in jeder neuen Entscheidungssituation die Möglichkeit der Neubestimmung besteht, wird von einer grundsätzlichen Offenheit der Zukunft ausgegangen. Damit müssen objektiv hermeneutische Analysen immer Momentaufnahmen bleiben, die jedoch für diesen Moment und dieses Material ein vollständiges Verstehen für sich in Anspruch nehmen. Oevermann (2002) leitet aus dem auf latente Sinnstrukturen gerichteten Erkenntnisinteresse ab, dass die Forschenden besser als die den Fall ausmachende(-n) Person(-en) wissen, wie deren Lebenspraxis aufgebaut ist. Diese Annahme einer überlegenen Forscherin mit Deutungshoheit in der Forschungsbeziehung wird kritisch gesehen. Mit Kristensson Uggla (2005) wird dem entgegnet, dass in hermeneutischen Untersuchungen eine Vielzahl möglicher Deutungen bestehen, deren Gültigkeit nicht abschließend bestimmbar ist. Es wird somit davon ausgegangen, dass die Forscherin weder als durchgängig wissender noch unwissender als die beforschten Personen gelten kann, jedoch eine andere Stellung zu den präsentierten Daten einnimmt und daher in der Lage ist, andere diesbezügliche strukturlogische Schlüsse zu ziehen. Das Problem einer grundsätzlich asymmetrischen Forschungsbeziehung mit einem monodirektionalen Datenfluss bleibt jedoch bestehen. Neben der Forderung der Selbstreflexion im Forschungsprozess (vgl. Harding 1991) wird auf das methodische Spektrum (d.h. inkl. Grounded Theory und systematische Metaphernanalyse) als perspektivisch ausgleichendes Moment verwiesen. Darüber hinaus ist die Studie retrospektiv angelegt. Veränderungen können damit nicht durch den Vergleich von Interviewaussagen an unterschiedlichen Zeitpunkten direkt nachvollzogen werden, sondern zeigen sich indirekt, bspw. in Form von vorher-nachher-Übergängen oder den Rekurs auf verschiedene Deutungsmuster, im Laufe der Erzählung. Damit werden diese auch retrospektiv in der Rekonstruktion erfassbar, wobei die OH dazu insofern besonders geeignet erscheint, da sie die Krise als Regel und die Routine als Ausnahme konzipiert, so dass in jeder Situation Neues entstehen und durch den Nachvollzug seiner Bildung analytisch erfasst werden kann (vgl. Overmann 2002). Da die Arbeit auf das Verstehen des Umgangs mit einem vorhersagenden und damit langfristig bedeutsamen BRCA-Testergebnis als gesundheitssozialisatorischer Herausforderung ausgerichtet ist, liegt der Fokus des Weiteren auf der Erfassung möglichst konstanter Effekte auf die personale Gesundheitskonstruktion. Daher erschien es notwendig, Fälle auszuwählen, bei denen das Ergebnis längere Zeit zurückliegt. Die retrospektive Anlage in Kombination mit der gewählten Methode ermöglichte es, einen zur Beantwortung der Frage erforderliche Zeitraum diskursiv zu überschauen, der sonst im Rahmen einer Dissertation nur auf Kosten einer Verlängerung derselben hätte abgedeckt werden können. Insofern erscheint die Wahl der retrospektiven Studienperspektive als Notwendigkeit, nicht als Einschränkung. Der deutsche Untersuchungskontext birgt ein die Studie begrenzendes Potenzial, das sich aus dem historisch-kulturellen Hintergrund ergibt und sich hier am augen-

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scheinlichsten auf den Zugang zum Datenmaterial ausgewirkt hat. Wie z.B. anhand der Abwehrbewegungen im Positionspapier der GfH (2007) erkennbar, stellt die Umsetzung rassenhygienischen Gedankenguts im „Dritten Reich“ bis heute eine Hypothek für deutsche Humangenetiker_innen dar (vgl. Weingart, Kroll & Bayertz 1992). Aus dieser wird eine besondere Sorgfaltspflicht, aber auch Unentspanntheit im Umgang mit genetischen Tests abgeleitet, welche auf den Bedeutsamkeitsanspruch der Disziplin trifft. Damit entsteht ein Spannungsfeld, in dem Mediziner_innen z.B. den Arztvorbehalt als Garant einer professionellen, qualitativ hochwertigen und ethisch verantwortungsbewussten Arbeitsweise ansehen. Gleichzeitig kann dies zu einer Fixierung auf Mediziner_innen als vertrauenswürdige Kolleg_innen beitragen, die Vertreter_innen anderer Disziplinen den Zugang zu forschungsrelevantem Datenmaterial erschweren kann, was im Laufe der Datensammlung deutlich wurde. Darüber hinaus besteht auch in der Bevölkerung eine Skepsis humangenetische Angebote betreffend, die Nüsslein-Vollhard (2009) folgendermaßen auf den Punkt brachte: „[D]ie Deutschen […] mögen Gene nicht so.“ (Ebd.: 2) Eingedenk der Tatsache, dass während der Nazi-Zeit eine Form der politisierten „biologischen Familienbestimmung“ auf der Basis des sog. Arierparagraphen mit den bekannten verheerenden Folgen für Nicht-Arier stattgefunden hat (vgl. Weingart, Kroll & Bayertz 1992), die Herkunftsfamilie also der einzelnen Person vor dem Hintergrund staatlicher Maßnahmen gefährlich werden konnte, mögen sich hier Vorbehalte sowohl der Humangenetik als Autorität als auch dem Gen-Wissen gegenüber fortpflanzen. Diese könnten ein Grund dafür gewesen sein, dass sich in Deutschland – im Vergleich bspw. zu den USA27 – so lange keine Selbsthilfegruppe mit bejahendem identitärem BRCA-Selbstbild gegründet hat und der direkte Zugang zu BRCA-Positiven daher auf Zentrumskontakte beschränkt ist. Gleichzeitig mag aufgrund einer gewissen historisch gegründeten Vorsicht der Herkunftsfamilie gegenüber die Wahlfamilie damit noch dringlicher als Gegenrealität benötigt und konzipiert zu werden, wie dies in den Fallrekonstruktionen ja auch z.T. deutlich hervortrat. Diesen Hintergrund gilt es an dieser Stelle zu akzeptieren, jedoch ließe sich die Forderung nach komparativen, ländervergleichenden Arbeiten ableiten.

5.5 Z UR B EWERTUNG

VON

G ÜTEKRITERIEN

Durch die nachfolgend diskutierten Maßnahmen entspricht die Arbeit den Gütekriterien qualitativer Forschung (vgl. Steinke 2003) und vermeidet analytische Willkür und Beliebigkeit. Das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses beinhaltet die Dokumentation desselben sowie Interpretationen in Gruppen und die Anwendung kodifizierter Verfahren. Die Dokumentation des Forschungsprozesses erfolgt primär im Methodenkapitel: Erhebungsmethode und -kontext, Analysemethoden und Gütekriterien werden vorgestellt, die Irritierbarkeit des Vorverständnisses

27 Während die US-Gruppe FORCE seit ca. 2006 aktiv ist (vgl. www.facingourrisk.org), hat sich erst ca. 2008 ein gesamtdeutsches BRCA-Netzwerk gegründet, deren Angebote v.a. in auffälliger lokaler Nähe zu HBOC-Zentren stattfinden (vgl. www.brca-netzwerk.de).

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der Forscherin anhand der erwähnten Reformulierung der Zielgruppe angesprochen. Transkriptionsregeln finden sich im Anhang. Die Originaldaten sind unter Berücksichtigung des Datenschutzes bei der Forscherin gespeichert und können auf Anfrage eingesehen werden. Gemäß dem kodifizierbaren Verfahren der Objektiven Hermeneutik erfolgte die Analyse u.a. mit Hilfe von Interpretationsgruppen. Darüber hinaus wurden Teilergebnisse in diversen Doktorand_innen-Seminaren diskutiert. Weitere kodifizierbare Verfahren kamen mit Grounded Theory, systematischer Metaphernanalyse, Genogrammanalyse und dem episodischen Interview zur Anwendung. Eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit kann daher angenommen werden. Das Kriterium der Indikation des Forschungsprozesses beschreibt die Frage nach der Gegenstandsangemessenheit des qualitativen Ansatzes, der Methodenwahl (auch im Zusammenspiel von Datenerhebung und -auswertung sowie bzgl. einer abduktiven Grundhaltung), der Transkriptionsregeln, sampling-Strategien und Bewertungskriterien. Diese Fragen sind im vorliegenden Methodenkapitel beantwortet worden. Die empirische Verankerung der Studienergebnisse ist durch die Verwendung kodifizierter Verfahren (s.o.) sowie durch Textbelege in den Analyseteilen und während der Analyse gebildeter und am Text verifizierter (Fallstruktur-)Hypothesen und Prognosen gesichert worden. Das in dem Zusammenhang ebenfalls diskutierte Verfahren der kommunikative Validierung ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die mittels Objektiver Hermeneutik generierten Fallstrukturgesetzlichkeiten „jenseits der Zustimmungsfähigkeit der untersuchten Personen liegt“ (ebd.: 329). Limitationen der Geltung bzw. der Verallgemeinerbarkeit der generierten Erkenntnisse wurden im Methodenkapitel reflektiert und diskutiert. Die Kontrastierungsstrategie zielte darauf ab, eine Oevermanns Verständnis der Strukturgeneralisierung entsprechende breite Abdeckung der möglichen Fallvariabilität zu erreichen. Zusätzlich denkbare Fälle wurden ebenfalls im Methodenkapitel erwähnt, um das Spektrum zumindest theoretisch zu komplettieren. Das Problem der Relevanz der Ergebnisse, die ausgehend von einer relevanten Fragestellung erzielt wurden und sich möglichst sowohl theoretisch als auch praktisch als nützlich erweisen sollten, steht in engem Zusammenhang mit den von Avis (1998) angeführten Forderungen. Diese zielen auf eine Offenlegung des Zusammenhangs zwischen den gewonnenen Erkenntnissen und abstrakten Konzepten und eine Plausibilität der Erkenntnisse im Kontext anderer Theorien und Forschungsergebnisse, d.h. sie fordern eine Kontextualisierung im Rahmen des bereits darzustellenden Bekannten. Die bereits vorliegenden theoretischen Erkenntnisse und die theoretischkonzeptionelle Basis der Arbeit sowie eine sich daraus ergebende Relevanz der Fragestellung werden in den jeweiligen Theoriekapiteln vorgestellt, diskutiert und abgeleitet. Die Konzepte kommen dann im Analyseteil zur Anwendung und werden abschließend gemeinsam mit den sich daraus ergebenden Implikationen im Diskussionsteil vor dem Hintergrund bereits bestehender Erkenntnisse reflektiert und weiterentwickelt. Dem Kriterium der reflektierten Subjektivität wird mittels einer Positionierung der Forscherin im Vorwort genüge getan, die auf Selbstbeobachtung (u.a. im Forschungsprozess) basiert.

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5.6 F ORSCHUNGSETHISCHE Ü BERLEGUNGEN Unter diesem Punkt werden laut Hopf (2003) alle diejenigen Prinzipien und Vorgehensweisen diskutiert, welche die Gestaltung der „Beziehungen zwischen den For-

schenden auf der einen Seite und den in den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen einbezogenen Personen auf der anderen Seite“ (ebd.: 590) regeln. Diese Regeln zielen einerseits auf die Sicherung der freiwilligen Teilnahme der Teilnehmenden an der Studie ab, andererseits auf die Vermeidung ihrer Schädigung im Laufe des Forschungsprozesses. Die Werkzeuge der Anonymisierung und informierten Einwilligung bezwecken die Wahrung der Persönlichkeitsrechte, insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und kamen auch in der vorliegenden Studie zur Anwendung. Das informierte Einverständnis wurde je nach Feldzugang im Rahmen einer schriftlichen und/oder (fern-)mündlichen Information der Studieninteressierten zu Beginn des Kontaktes sichergestellt, so dass die Freiwilligkeit der Teilnahme als gewährleistet betrachtet werden kann. Die Anonymisierung der Daten vor der Veröffentlichung betraf die Namen sowie weitere personenbezogene Daten, die unter Erhalt der Grundaussage variiert wurden, um eine analytische Verzerrung zu verhindern. Eine weitere Dimension möglicher Schädigung eröffnet sich durch die bei der Durchführung von Interviews unabwendbare erzählerisch-reflexive Reaktualisierung der eigenen Erfahrungen. Hierzu wurde bei Bedarf ein dem Interview folgendes beraterisches Gespräch angeboten, um diese aufzufangen. Das Studiendesign wurde der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vorgelegt, die am 4. Oktober 2007 ein positives Votum abgab. Exkurs: Lesehinweise zu den Fallrekonstruktionen Im Folgenden werden drei Fallrekonstruktionen vorgestellt. Diese sind explizit auf den Nachvollzug der Lebenspraxis des Falles ausgerichtet. Sie stellen damit die subjektiven Deutungsweisen der für den Fall relevanten Personen vor, ohne diese durch die Brille einer anderen, namentlich biomedizinischen Perspektive „gegenzulesen“ oder gar anhand dieser Wirklichkeit zu „korrigieren“. Insofern ist auszuhalten, dass Ansichten vorgestellt werden, die nach aktuellen biomedizinischen Maßstäben weder eingeordnet noch „korrekt“ sind. Die Darstellung orientiert sich am ABCX-Modell, variiert dieses jedoch insofern, als dass die Doppelstruktur der jeweils aus der Krebs- hervorgegangenen Genkrise einen doppelten Modell-Durchlauf erfordert. Transkriptionsregeln, Abbildungen der besprochenen Genogramme sowie eine Liste des jeweiligen Personenensembles des Falles inklusive einer Nennung verwandtschaftlicher Verhältnisse finden sich im Anhang.

6. Die Schall-Brauses: Familiale Gesundheit als Gemeinschaftsprojekt

Abbildung 2: Verlauf der Krebs-/BRCA-Krise bei den Schall-Brauses

Urgroßmutter Agatha erkrankt an Brust- und Gebärmutterkrebs, stirbt um 1979

Späte 60er

19731975

Eierstockkrebs bei Elfriede, stirbt 1980

1979/ 1980

Gebärmutterkrebs Karin, stirbt 1975 Früherkennungsbeginn weibliche Familienmitglieder 1975: 1. Krebs Johannas: Eierstockkrebs

BRCA2-Test: April 2004: Anke positiv, danach: Entfernung Ovarien/Uterus Juli: Lisa, Daniel und Lydia positiv Ab Sept. 2004 in C-Stadt: gemeinsame Vorsorge Lisa, Anke und Lydia

Hautkrebs Johanna

1985

Brustkrebs Johanna

1997

1999

BRCA1-Test der Familie: negativ

2003/ 2004

Ab Herbst: Daniel will mit zur Brustvorsorge nach C-Stadt

2005

2007

Prophylaktische Entfernung Ovarien/ Uterus bei Lydia

Der als „die Schall-Brauses“ adressierte Kern der Familie Schumacher-SchallBrause, welche die „BRCA-Vorzeigefamilie“ des HBOC-Zentrums Süd darstellt, umfasst die drei Mal an Krebs erkrankte Großmutter Johanna Schumacher (70)1 sowie zwei ihrer vier Kinder, Lydia Schall (51) und ihre Jüngste Anke Brause (45), sowie die Enkelin Lisa Aziza Schall (23), die Lydias Tochter und Ankes Patenkind ist. Diese vier Frauen werden in einem ersten Familiengespräch (FI) am 15. März 2007 interviewt, die drei Jüngeren zwischen dem 28. und 30. Mai 2007 jeweils zusätzlich in einem Einzelinterview (EI) befragt. Dazu addieren sich Johannas Ehemann Karl-Herbert Schumacher, seines Zeichens Landwirt, Heizungsbauer und multimorbide, Ankes Ehemann, der 19 Jahre ältere Versicherungskaufmann Gerd, sowie Lydias drei (Ex-)Ehemänner. Ihr aktueller Ehemann Bernd Schall ist elf Jahre jünger als seine Frau und arbeitet als Softwareentwickler. Lydia besitzt darüber hinaus eine Wäscherei und hat zwei weitere Kinder, den ebenfalls BRCA-positive Ingenieur Daniel (33) mit eigener Familie sowie den 16-jährige Mark, dessen BRCA-Status unbe-

1

Die Altersangaben beziehen sich auf das Familieninterview, bei dem Johanna (J), Lydia (Ly), Anke (A), Lisa (Li) und die Forscherin (F) anwesend sind.

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kannt ist. Anke hat keine leiblichen Kinder. Sie arbeitet als EDV-Programmiererin. Lydia und Anke haben eine ältere Schwester, Rose Brunner, sowie einen Bruder, den zweitjüngsten Jonas Schumacher, beide mit Familie. Dieser Personenkreis stellt das Fallensemble der Schall-Brauses dar.

6.1 K REBSKRISE J OHANNAS UND IHRER H ERKUNFTS - UND W AHLFAMILIE (A1) Die familiale Krebsgeschichte der Schall-Brauses beginnt mit dem Unterleibskrebs der Urgroßmutter Agatha in den 1960er Jahren, wird jedoch erst durch den 1975 letal endenden Gebärmutterkrebs von Johannas Schwester Karin als mehrere Generationen betreffende bewusst erlebt – ein Bewusstsein, dass durch den Krebstod Agathas 1979 sowie den schnellen Eierstockkrebs-bedingten Tod einer zweiten Schwester Johannas, Elfriede, im Jahr 1980 noch gesteigert wird, was von Lydia als „also s war ne schlimme Zeit do [leise]“(FI) beschrieben wird. Auf die vielfachen Krebserkrankungen reagieren die volljährigen Frauen der Familie mit dem Besuch von Vorsorgeuntersuchungen. Johanna und Lydia kümmern sich darüber hinaus um Elfriede (und vermutlich auch um die zuvor Erkrankten), die im Laufe der Krankheit immer weniger von Ehemann und Kindern besucht wird, jedoch „bis zur letzten Minute, wo sie noch schwätze hat könne, […] gesagt [hat], sie wird wieder gesund“ (Lydia, EI). Anke Brause hingegen weigert sich, die Tante zu besuchen, da sie niemanden besucht, der stirbt – eine Weigerung, für die sie in dieser Situation von Lydia am nächsten Bahnhof „ausgesetzt“ wird. Dieses in der Ablehnung erkennbare latent co-traumatisierte Moment der auf sich übertragenen Todesdrohung kann Anke erst nach ihrem 40. Geburtstag ablegen. Allerdings nimmt auch sie ab 1981 die jährlichen Vorsorgeuntersuchungen wahr, kann sich dem Thema also nicht ganz entziehen, was ggf. durch die Hochzeit mit Gerd gefördert wird, der bei einer Krankenkasse angestellt ist. Durch die nach außen eher faktenorientierte Behandlung dieser Vorgänge werden die ersten Krebserkrankungen nicht als traumatische, sondern als Entscheidungskrisen gerahmt. Das Emotionale des Reaktionszwangs wird scheinbar durch das rationale Element der Entscheidungsnotwendigkeit „abgelöst“, die sich als Unterstützungshandlung und Vorsorgeentschluss und damit medizinisch-rational realisiert. Auffällig ist jedoch, dass diese Entscheidungen (soweit bekannt) alle Schall-Brause Frauen einbeziehen, indem diese sich dazu wenigstens positionieren müssen, sprich nicht nicht darauf reagieren können. An dieser Stelle weitet sich die traumatische persönliche Krebskrise der Erkrankten zur familienweiten persönlichen traumatischen CoKrise, der sich die weiblichen Familienmitglieder als Mitglieder der „Krebsfamilie“ nicht entziehen können. In der Motivation des frühen Vorsorgebeginns wird dieses persönlich traumatisch krisenhafte Moment erkennbar: „Ly: ich! .hab schon mit 18! zweimal im Jahr Krebsvorsorge mache lasse . F: warum? Ly: weil i’s g’wisst! hat . > weils eufach- weils eufach mir sin zwei Tante g’storbe mit 40, ge? . >A [laut]: Oma, Tante und und und […] Ly: un:-un da hat mer dann natürlich scho äh .immer da nachguckt“ (FI)

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Im Zuge einer dieser Vorsorge-Untersuchung wird bei Johanna 1975 Unterleibskrebs entdeckt. Damit hat die Krebskrise endgültig den Schumacher-Schall-Brause Zweig der Verwandtschaft erreicht. Im Laufe der Krebserkrankungen ist ein stetiges Aufsummieren einer kumulativen Krebskrise festzustellen, die sich in Lydias Schilderung spiegelt: „ich glaub ich war 17, da: isch des denn uffkomme mitm Krebs, da hat a Tante! Krebs g’het, dann hat die andere! (wieder?) g’het und dann hat mer so . des gehört, der isch gestorbe an krebs in der Familie [leieriger Unterton] und als ich 20 war hat dann mei Mutter öh Unterleibskrebs g’habt, des war natürlich dann .. des war dann die erste nähere! Verwandtschaft, na gut, mei Oma hat des au! gehabt, aber ich hab keu son Kontakt g’het zu meiner Oma, also zur ihrzu meiner Mutter ihrer Mutter . und da war mer des nett so! wichtig jetzt als das des mei Mutter jetzt g’het hat“ (FI)

Auch in Johannas Fall wird die traumatische Krise handelnd als Entscheidungskrise konstruiert: Sie kommt ins Krankenhaus und wird operiert: „raus .alles, Gebärmutter raus, Eierstöck“ (Johanna, FI). Gerade in diesem vermeintlich nur handlungsbezogenen „raus“ liegt jedoch auch der geradezu panikartig anmutende Versuch, das Bedrohliche des Krebses wegzuoperieren. Ihr Mann Karl-Herbert verlangt daraufhin von seiner Tochter Lydia, zu ihm zurückzuziehen und seinen Haushalt zu versorgen, denn „er hat .fest! damit g’rechnet, dass se stirbt . dass er dann versorgt! isch.“(Lydia, FI). Diese geht nicht auf den Versuch der Refamilialisierung ein, woraufhin er das Nämliche von seiner jüngsten Tochter Anke verlangt, die zu dem Zeitpunkt noch bei den Eltern wohnt, jedoch „dr ganze G’schichte ausm Weg gange“ ist, indem sie gelernt hat „un das hat er akzeptiert“ (Anke, FI). Die Ersterkrankungssituation löst sich schließlich durch die Gesundung der Mutter, ohne das weitere Maßnahmen genannt werden. Mit der Erkrankung Johannas wird die Schwelle zur potenziellen Gefährdung des als relevant verstandenen Familienverbandes überschritten, die durch Karl-Herberts Agieren an Lydia und Anke herangetragen wird. Diese implizite Drohung beinhaltet eine durch den drohenden Tod der Mutter ausgelöste normative Familienkrise, die alle Familienmitglieder involviert. Hier offenbart sich damit das traumatische Potenzial der Situation erneut nicht nur im persönlichen, sondern auch im kollektiven Erleben, was Lydia als „Schock“ in Erinnerung bleibt: „mei Mutter isch ja bei uns in dr Familie wie so e Sonne un mir kreise da drumrum […] die eune weiters, die andre nähers . gell? un öh, dass sie! jetzt da praktisch so’n Ausfall! hat, also des war scho schlimm . also des war für uns scho schlimm, ja [leiser]“ (FI). Diese herkunftsfamiliäre Krise überschneidet sich sowohl für Lydia als auch Anke mit einer jeweils anderen: Die Ehe der zu diesem Zeitpunkt 20-jährigen Lydia ist bereits während der Erkrankung der Mutter „schwierig“ (EI), was ein Jahr nach dem Eierstockkrebs in einer Scheidung von ihrem damaligen Ehemann Fritz mündet. Lydia muss sich also neben der herkunftsfamiliären auch mit einer wahlfamiliären Krise auseinandersetzen. Denkbar ist, dass Karl-Herbert deshalb gerade sie um die Haushaltsübernahme ersucht und nicht ihre ältere Schwester Rose, die eine erfolgreiche und bis zum heutigen Tage (2007) bestehende Ehe führt. Die damals 14-jährige Anke befindet sich zeitgleich in ihrer ontologischen Adoleszenzkrise und empfindet die

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erste Krebserkrankung der Mutter als Zäsur der vormals behüteten Welt, in der sie aufgewachsen ist: „so ne betreute Welt hat dann schon e starke Riss kriegt“ (EI), obwohl sie die Krankheit zunächst einmal eher wie einen Knochenbruch eingeordnet hat und auch noch im Familieninterview betont: „aber das se sterbe könnt [lauter], des: .hat’s nie gebbe . mei Mutter kann net sterbe [leiser]“. Dieser Gesamtsituation aus Adoleszenz, mütterlicher Erkrankung und väterlichen Forderungen kann sie sich wie gesagt entziehen. Neben der noch zwei Mal reaktualisierten familiären Krebskrise mütterlicherseits scheint der bis dato existierende „männliche Familienfluch“ der Familie Schumacher zu verblassen: „seit 1347 gibt es immer nur einen männlichen Schumacher, der das 18. Lebensjahr erreicht“.2 Das latente traumatische „Damoklesschwert“ wechselt offenbar die Gestalt, da der „weibliche Krebsfluch“ und damit die (Groß-)Mutter hernach im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. 1985 erkrankt Johanna erneut, diesmal an Brustkrebs. Es wiederholt sich das bekannte Muster der als Entscheidungskrise gerahmten traumatischen Krebskrise als persönliche Gefahr für die Familienmitglieder sowie drohende normative Familienkrise, deren latenter „Betroffenheitsgehalt“ für alle Familienmitglieder spürbar wiewohl kaum auslebbar erscheint. Darauf verweist u.a. die Feststellung der zum Zeitpunkt des Brustkrebses zwei Jahre alten Lisa, Krebs sei wie eine „Hintergrundmusik“ im Grunde „in meiner Familie immer da“ gewesen, wobei diese Traurigkeit zugleich nur mit dem Tod anderer krebskranker Familienmitglieder in Verbindung bringen kann. Der Brustkrebs führt diesmal allerdings zu verstärkten familiären Bemühungen um Johanna, was auch innerhalb der Familie Schumacher auf einen kumulativen Effekt schließen lässt. Lydia fungiert als Johannas primäre Ansprechpartnerin, die sich um die Reaktivierung der Mutter bemüht und sich so doch „refamilialisiert“. Gemäß der Parole „da komscht durch und fertig, du wirscht wieder g’sund“ (Lydia, EI) sowie „da ins Bett liege, da wird man net g’sund davo“ (Lydia, EI) organisiert diese nach der Amputation der betroffenen Brust eine familieninterne Unterstützung der Mutter bei deren Aufgaben, nachdem dieser die „Bruscht weg“ (Johanna, FI) operiert wurde. Im Gesamten verhält sich Johanna laut Lydia kämpferisch und jammert nicht, wobei ihr die Botschaft, gebraucht zu werden, geholfen hat. Als negativ erlebt Johanna jedoch Karl-Herberts Verhalten, der ihr vorwirft, nach der Brustabnahme keine richtige Frau mehr zu sein und darüber hinaus in der Nachbarschaft die Brustabnahme öffentlich thematisiert. Auch die Paarbeziehung ist demnach durch die Familienkrise betroffen. Das durchaus latent vorhandene persönlich Traumatische wie auch das Kumulierte der Krebskrise wird anhand von Johannas emotionalisiert wahrgenommener Krebserwartung deutlich, die Lydia wie folgt beschreibt: „Ly: 95 hast g’sponne . des war 75 Unterleib, > 85 Brust und 95 hascht denkt > jetzt kommt >J: mhm [zustimmend] mhm [zustimmend] wieder irgendwas > aber is nix komme, es war 97 >J: mhm [zustimmend]“ (FI)

2

Aus Zeitleistenkorrektur Lydia Schall, Datei vom 25.09.2007.

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Das Lydia hier für Johanna sprechen kann zeigt, dass sowohl imaginierter wie auch realer Krebs gemeinschaftlich bearbeitet werden. 1997 erkrankt Johanna also ein drittes Mal, diesmal an einem als „Nasenkrebs“ (Lisa, FI) bezeichneten Hautkrebs an der Nase. Diese Erkrankung wird aufgrund ihrer Sichtbarkeit von allen Beteiligten als nicht so schwerwiegend erlebt: „des isch .was, was mer gesehe hat, des war nach-

her weg un-un da isch des nit so schlimm als wenn irgendwas innerlich isch, denn die innerlich .. des: öh . ich weiß nitte, des-des des kann mer eufach net so greife“ (Lydia, FI). Als wahre Krise wird demnach die Situation wahrgenommen, in der kein konkreter, bekannter „Gegner“ existiert, was insofern mit dem zielorientierten Aktivitätsansatz der Entscheidungskrise harmoniert, als dass letzterer nur bei bekanntem Ziel effektiv sein kann. Dem „Nasenkrebs“ wird in den Familienerzählungen kein weiterer Platz eingeräumt, was darauf schließen lässt, dass nach dessen operativer Entfernung keine weiteren Aktivierungsmaßnahmen ergriffen werden. Die zum damaligen Zeitpunkt 14-jährige Lisa hingegen scheint eine gewisse krisenhafte Sensibilität für diese Krebserkrankung zu besitzen, da sie ungefähr zum Zeitpunkt der großmütterlichen Erkrankung mit Teak-Wan-Do beginnt und nur unwesentlich später eine Magersucht entwickelt, sprich um Körperkontrolle ringt, was evtl. auf eine besondere Vulnerabilität aufgrund der Überschneidung von Krebs- und Adoleszenzkrise hinweist. Bis zu den Interviews 2007 erkrankt Johanna kein weiteres Mal an Krebs. Allerdings ist sie mittlerweile nur noch schwer zu Vorsorgebesuchen zu überreden. Sie kann sich jedoch den Motivationsversuchen ihrer Töchtern auch nicht entziehen. Auch im Rahmen von Öffentlichkeitsauftritten, die im Zusammenhang mit der genetischen Disposition stattfinden, wird Johanna durch die Aussage: „hör mal zu Mut-

ter, du muscht da mitmache, mir wollet alle! andere helfe und da muscht du einfach dabei sein, mir sind nur dann! ne interessante Familie, wenn mir drei Generatione sind“ (Anke, EI) integriert. Die mittlerweile genetisch „weiterentwickelte“ familiale Co-Krise inkludiert folglich nun Johanna, obwohl sie sich – wie vermutlich zuvor die anderen Familienmitglieder – nicht (mehr) als Hauptperson sieht. Denn obwohl Johanna die familiäre BRCA2-Variante weitervererbt hat, geht das Wissen um diese nicht auf sie, sondern vielmehr ihre älteste Tochter Rose zurück, die den BRCA-Test veranlasst hat. Das dreht in gewisser Weise das bisherige Verhältnis von Krisen-Ursache und -Wirkung um und stellt Johannas latente Krebskrise mitsamt der damit verbundenen Handlungsnotwendigkeit auf Dauer, obwohl sie der Ansicht ist, dass sie ihr Leben nun gelebt hat. Zudem addiert das Testresultat die Dimension des sich wohl mit jedem positiv getesteten Familienmitglied verstärkenden Schuldgefühls, das Johanna nur mit Hinweis auf neue Handlungsmöglichkeiten abschwächen kann: „Hah Lisa, mit deine Vorsorge, wo du hascht, brauscht keu Angscht han“ (Johanna, FI). Die Krebskrise erweist sich somit durchgängig als kumulative familiäre Co-Krise, deren traumatisches Potenzial, das familiär ein normatives ist, durch ihre Rahmung als Entscheidungskrise eingefriedet zu werden scheint.

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6.2 R ESSOURCEN DES STARR - VERSTRICKTEN F AMILIENSYSTEMS IM K REBSMATRIARCHAT (B1) 6.2.1

Selbstbestimmte Sicherheit und Leistung als transgenerationale Milieuressourcen in der Traditionslinie Facharbeit/praktische Intelligenz

Die folgende Genogrammanalyse fokussiert die Gruppe der BRCA-positiven Frauen, die für den Fall bestimmend ist. Eine Abbildung des Genogramms steht im Anhang. Urgroßeltern Schumacher und Lepperle: Aufstieg, Pflicht, Selbständigkeit Die Urgroßeltern Lepperle: Aufstieg ins Bürgertum Heinrich Lepperle wird ca. 1906/07 geboren. Er arbeitet beim großen Autokonzern X in der nahen Großstadt B-Stadt, wird dort Werksmeister und wohnt mit seiner Familie (vermutlich) in der Kleinstadt Hirschingen. Ca. 1981/82 stirbt er im Alter von 75 Jahren. Er heiratet Agatha, die zwischen 1935 und 1945 fünf Kindern gebiert. Ihr Geburtsjahr liegt nicht als Datum vor. Vorausgesetzt, dass sie wie üblich ein paar Jahre jünger als ihr Mann ist, wird eine Geburt um 1910 wahrscheinlich. Sie ist Hausfrau und stirbt 1979 an Krebs. Heinrich Lepperle gründet seinen modernen Aufbruch in die zukunftsträchtige Automobilindustrie auf die traditionellen Tugenden der evangelischen Arbeitsethik und der heimatlich-schwäbischen Zusammenhänge, Verlässlichkeit, Einsatzbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein, denen er verbunden bleibt. Gleichzeitig ist Heinrichs Werdegang durch Aufstiegswillen gekennzeichnet: Bei dem von ihm ausgeübten Beruf des Werksmeisters handelt es sich um eine erarbeitete Position, die heutzutage eine abgeschlossene handwerkliche Meisterausbildung sowie Kenntnisse im Personalführungs- und betriebeswirtschaftlichen Bereich voraussetzt und die Verantwortung und Begleitung eines vollständigen Fertigungsprozess umfasst. Sie dürfte schon zu Heinrichs Zeiten eine fordernde, wichtige und respektable Stellung dargestellt haben. Er erarbeitet sich somit eine relativ selbständige Position, welche die mögliche Spannung zwischen handwerklichem Selbständigkeitsstreben und industrieller (Lohn-)Abhängigkeit auflöst und ein gutes Einkommen sowie sozialen Aufstieg und Integration beinhaltet. Heinrich ist demnach begehrter Spezialist (vgl. Rosenbaum 1982), was ihn in die Nähe der selbständigen kapitalistisch orientierten Handwerksmeister rückt, deren Familienleben sich im Zuge der Industrialisierung zunehmend am bürgerlichen Familienideal orientiert. Als Mann mit Führungsrolle befindet er sich so in der Lage, seine Familie zwar erst spät zu gründen, dann aber ernähren zu können, ohne dass seine Frau arbeiten muss. Das deutet eine traditionelle Haltung in Geschlechter- und Familienfragen an, die sich auch im Reproduktionsmuster spiegelt. Agatha vermittelt durch das Fehlen weiterer Informationen sowie durch den Verweis auf ihre Position als Hausfrau und Mutter von fünf Kindern das Bild einer Frau, die eine traditionell bürgerliche Frauenrolle lebte. Sie erscheint als dienstbarer,

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jedoch unscheinbarer Geist im Hintergrund, der Haushalt und Kindererziehung erledigt und sich durch Arbeitsamkeit, Dienstbarkeit und Unauffälligkeit auszeichnet. Die Urgroßeltern Schumacher: Erhalt der bäuerlichen Selbständigkeit Angelika Schumacher muss sowohl den Verlust eines Sohnes durch Unfalltod als auch den ihres Mannes, des im Zweiten Weltkrieg gefallenen Landwirtes Markus, hinnehmen. Als Kriegswitwe mit Landwirtschaft und nur einem verbleibenden Sohn, der zum Todeszeitpunkt des Vater zwischen sieben und 13 Jahren alt ist (je nachdem in welcher Kriegsphase der Ehemann starb), führt sie den Hof zumindest zeitweise alleine und heiratet nicht wieder. Angelika Schumacher muss große Verluste hinnehmen, was sie sicherlich härter und eigenständiger gemacht hat. Als Kriegswitwe und Landwirtin mit eigenem Hof tritt sie in die Fußstapfen ihres Mannes und beweist eine aus der Not geborene, d.h. „pseudomoderne“ Selbständigkeit, die sich in ihrem Entschluss gegen eine Wiederverheiratung fortsetzt. Das stellt eine zumindest auch von Eigenständigkeit und Tatkraft gekennzeichnete Entscheidung dar, in der ein Moment echter Individualisierung liegt, obschon sie als Frau am Ende ihrer reproduktiven Phase bei dem nachkriegsbedingten Männermangel trotz funktionierender Landwirtschaft als „Mitbringsel“ auch nicht zu viele Chancen gehabt haben dürfte. Markus Schumacher setzt offensichtlich mit seiner Berufswahl die bäuerliche Tradition der Familie fort. Wie auch seine Kriegsteilnahme spricht dieses für Arbeits- und Einsatzbereitschaft sowie ein gewisses Pflichtbewusstsein als handlungsleitende Prinzipien. Großeltern Schumacher: Tradition und Moderne Johanna Schumacher, geborene Lepperle wird am 04.04.1936 als zweites Kind von Heinrich und Agatha geboren. Mit ca. 17 Jahren heiratet sie den Landwirt und Heizungsbauer Karl-Herbert Schumacher und bekommt 1953 (Rose), 1955 (Lydia), 1960 (Jonas) und 1961 (Anke) vier Kinder von ihm. Johanna arbeitet als Haushaltshilfe und Verkäuferin. Mittlerweile ist sie in der Wäscherei ihrer Tochter Lydia beschäftigt und vermietet zwei Zimmer in Parterre an ihre Enkelin Lisa und deren Verlobten Juan. Sie lebt immer noch mit ihrem Mann in Weinhausen-Brestlingsacker. Johannas Berufstätigkeit als Haushaltshilfe und Verkäuferin wie auch ihre frühe Hochzeit betonen die Wichtigkeit vernunftgeleiteter Versorgungsentscheidungen, die zwar ein Stück Unabhängigkeit bieten, jedoch die traditionelle Frauenrolle nicht in Frage stellen. Obwohl Karl-Herbert Schumacher, ein Landwirt und Heizungsbauer aus dem Dörfchen Weinhausen-Brestlingsacker, nicht ganz standesgemäß erscheint, passt er insofern, als dass er eine doppelte Lebensgrundlage und damit solide Versorgung bietet. Durch die Heirat gelangt Johanna in ein völlig neues soziales Umfeld, das eine Unterordnung unter Ehemann und Schwiegermutter, aber auch die Einordnung in die nur einige hundert Mitglieder zählende dörfliche Gemeinschaft erfordert. Aufgrund ihrer auf Arbeitsamkeit, Dienstbarkeit und Pflichterfüllung gründenden Erziehung dürfte sie die Aufgabe gemeistert haben, da diese Eigenschaften im bäuerlichen Umfeld und damit in der Gemeinde sicherlich gewertschätzt werden. In der Folgezeit wiederholt sie das traditionelle Reproduktionsmuster der Mutter fast kom-

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plett. Sie bekommt zwischen 1953 und 1961 vier Kinder in acht Jahren, was auf ein klassisches Familienbild und eine Orientierung am mütterlichen Frauenbild hinweist. Deren handlungsleitende Prinzipien Fleiß und Pflicht werden zudem durch die modernisierende Öffnung des Hofes betont, da dieses die milieubedingte Abhängigkeit von außerhäuslicher Erwerbsarbeit erhöht. Karl-Herbert Schumacher wird am 21.05.1932 als Kind von Markus und Angelika Schumacher geboren. Er ist das einzige überlebende Kind der beiden, da sein Bruder im Kindesalter durch einen Unfall stirbt. Karl-Herbert übernimmt zwar den Hof, macht aber auch eine Lehre als Heizungsbauer und arbeitet zunehmend in diesem Beruf. Der Hof wird zur Subsistenzlandwirtschaft. Ca. 1953 heiratet er Johanna, mit der er vier Kinder bekommt. Die Besonderung als überlebender Stammhalter und faktisches Einzelkind ohne Vater wird Karl-Herbert in den Augen der Mutter wertvoll gemacht, aber evtl. auch von seinen Altersgenossen abgehoben haben. Hierin deutet sich eine soziale Absonderungstendenz an. Die klassisch männlichen autoritären Anteile seiner Rolle werden zusätzlich zunehmend durch weibliche Präsenz (Mutter, Ehefrau, Töchter) herausgefordert. Ohn-/Macht und soziale Integration werden als Spannungsfelder erkennbar. Diese zeigen sich darüber hinaus im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, das sich im Rahmen seiner wohl realteilungsbedingten Abkehr von traditioneller Landwirtschaft und Hinwendung zum modernen Beruf des Heizungsbauers sowie in seiner Heiratsentscheidung für eine Nicht-Bäuerin entfaltet, mit der er seine berufliche Wahl unterstreicht. Die Orientierung im Feld von Tradition und Moderne stellt allerdings ein ambivalentes Geschehen dar, das sich v.a. in Fragen der (Versorgungs)Sicherheit sowie der sozial modulierten Selbstbestimmung und Sozialkontrolle bemerkbar macht: Tradition ist verbunden mit der Landwirtschaft, in der Karl-Herbert Stabilität, Sicherheit, aber auch Ohnmacht und (versuchten) sozialen Rückzug erlebt und in der er mit der herausgeforderten traditionell männlichen Autorität als Alleinstellungsmerkmal konfrontiert wird. Die Moderne hingegen ist gekennzeichnet durch das Handwerk als eigenmächtigem beruflichem Aufbruch und sozialer Öffnung, die aber auch eine Abhängigkeit vom sozialen Ruf und demnach ein gewisses Maß an Unsicherheit beinhaltet. Obwohl Karl-Herbert grundsätzlich versucht, von der Basis der Tradition aus Schritte in die Moderne zu tun, sind beide Bereiche weder durchweg positiv noch negativ besetzt und interagieren in ihrer Ambivalenz, so dass für Karl-Herbert die Gefahr besteht, sich in diesem Spannungsfeld auch weiterhin ohnmächtig gegenüber sozialen Einflüssen zu erleben. Durch die Ehe von Johanna und Karl-Herbert werden bäuerliche und bürgerliche Familientraditionen kombiniert, wobei die patrilinear akzentuierte Deszendenz dafür spricht, die bäuerliche Traditionslinie in süddeutscher Realteilungsausprägung als Referenz für die Familienform der Schumachers anzunehmen. Die Kinder der Schumachers: Selbstbestimmung und Sicherheit Lydia Schall, geborene Schumacher wird am 09.09.1955 als zweites der vier Kinder von Karl-Herbert und Johanna geboren. Sie macht eine Ausbildung bei der Landesversicherungsanstalt (LVA), arbeitet dann in verschiedenen Jobs und besitzt seit einigen Jahren eine Wäscherei, in der ihre Mutter und ihre Tochter arbeiten. Mit 17 Jahren heiratet sie Fritz, der Alkoholiker und mittlerweile an Krebs verstorben ist.

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Die Ehe besteht 1973-76. Von ihm bekommt sie 1973 ihr erstes Kind Daniel. Von 1980-83 ist sie dann mit Peter verheiratet, diese Ehe bleibt kinderlos. In der Trennungsphase lernt sie Oliver kennen, von dem sie 1983 die Tochter Lisa Aziza bekommt. Die nichteheliche Verbindung hält nur kurz. 1987 lernt sie schließlich den elf Jahre jüngeren Bernd Schall kennen, den sie 1991 heiratet. Im selben Jahr bekommt sie von ihm ihr drittes und letztes Kind Mark. Die Ehe besteht fort (Mai 2007). Lydia kann in ihrer Entwicklung auf zwei ambivalente Potenziale zurückgreifen: Zum einen ist sie das mittlere Kind in der Schwesternreihe. Mit dieser Position kann sowohl eine starke Tendenz zu kämpferischem Verhalten und bis zur Unnachgiebigkeit gehender Durchsetzungsfähigkeit verbunden sein, als auch eine sich eher zurückstellenden, konventionsgerechten Handlungsweise und Vermittlungshaltung. Zum anderen verfügt Lydia über zwei unterschiedliche weibliche Vorbilder. Auf der einen Seite stehen Johanna und Agatha mit ihrem eher traditionellen Frauenbild, auf der anderen die eher selbständige Bäuerin Angelika. In beiden Fällen vermitteln diese Frauengestalten Arbeitsbereitschaft, Leidensfähigkeit und Pflichterfüllung als Basisfähigkeiten, unterscheiden sich jedoch im Ausmaß der gelebten Selbständigkeit. Lydias Erwerbsbiografie ist von Suchbewegungen und Aufbruch gekennzeichnet, womit sie die Entwicklungsbewegung ihrer Eltern fortsetzt und intensiviert. Realisiert sie durch ihre solide Erstausbildung bei der LVA noch einen traditionellen Aufbruch mit starker „Sicherheitshypothek“, der gerade soviel Selbstbestimmung enthält, wie das eher traditionelle Umfeld erlaubt, wird der Aspekt der Selbstbestimmung und des vermutlich pragmatisch konnotierten Wagnisses durch die nachfolgende Suchbewegung deutlicher: Sie gibt sich nicht mit dem erstbesten Job, der erstbesten Sicherheit und Stabilität zufrieden. Ernstgenommene Unzufriedenheit und Hartnäckigkeit führen auf lange Sicht zum Erfolg: Mittlerweile ist sie vom Angestellten- ins Selbständigen-Milieu gewechselt und hat sich damit eine gewisse Selbstbestimmung und Versorgungssicherheit zugleich gesichert. Das Motiv der Suche ist auch kennzeichnend für Lydias Beziehungsbiografie: Ausgehend von der Wahl des traditionell weiblichen Weges zur Realisierung eines eigenen Lebens durch die frühe Heirat mit Fritz und die damit verbundene Schwangerschaft, bei dem sie ihren Körper als „Befreiungsinstrument“ einsetzt, zeigt sie ausgeprägte Suchbewegungen in Bezug auf eine geglückte, befriedigende Partnerschaft. Diese scheitern immer wieder, werden jedoch nie eingestellt, und führen schließlich offenbar zum Erfolg, da die Ehe mit Bernd seit 1991 Bestand hat. Das belegt die Wichtigkeit sowohl von traditionellerweise in der Ehe gesuchter Sicherheit als auch von Selbstbestimmung bei der Wahl eines passenden Partners sowie bei der Lösung von solchen, die als unpassend empfunden werden. Hier zeigt sich eine sehr moderne Beziehungsauffassung, die auch ein modernes Verständnis weiblicher Möglichkeiten voraussetzt und von persönlicher Stärke und Durchsetzungskraft zeugt, die sicherlich einerseits von dem besagten Willen zur Selbstbestimmung gespeist wird, andererseits wohl auch durch die vielen Konventionsbrüche hart erarbeitet ist. Dem gegenüber steht die durch die Suchbewegungen verdeutlichte Auffassung, dass ein Leben ohne Mann nicht vorstellbar ist. Das wiederum verweist auf die traditionellen weiblichen Wurzeln, auf die sich Lydias Beziehungsbiografie gründet. Sowohl das Feld des Berufs als auch das der Beziehung verweisen auf Lydias generelle Ausrichtung auf andere als herkunftsfamiliale Beziehungen und damit auf ei-

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ne Öffnung ins soziale Außen zum Zweck der Selbstentfaltung bzw. Individuation. Gerade die Beziehungsbiografie lässt zudem darauf schließen, dass Beziehungen – sowohl zu Männern als auch zu ihren Kindern – eine Tendenz zur Funktionalisierung im Sinne dieser individuellen Verselbständigung und Aufwertung enthalten, wofür bspw. der jetzige, elf Jahre jüngere Partner spräche. Diese Selbstrealisation geschieht jedoch auf Kosten einer Verwundbarkeit, die mit der dazu notwendigen sozialen Öffnung verbundenen ist, wobei sich funktionalisieren und funktionalisiert werden, Gelingen und Scheitern abzuwechseln scheinen, wie die Wechselhaftigkeit der Beziehungen andeutet. Allgemein zeigt Lydia in ihrer Biografie damit ein ausgeprägtes, quasi rebellisches Ringen um moderne weibliche Selbstbestimmung versus traditionelle Sicherheit und Stabilität, das von großer Handlungsfähigkeit, jedoch weniger von sorgfältiger Planung geprägt ist und letztlich zum Erfolg in den klassischen Feldern Beruf und Partnerschaft führt, in denen sie eine Sicherheit in Selbstbestimmung erzielt. Anke Brause, geborene Schumacher ist das am 18.05.1961 geborene jüngste der Kinder von Karl-Herbert und Johanna. Sie macht die mittlere Reife, besucht eine Wirtschaftsschule und absolviert schließlich aufbauend auf einer Ausbildung zur Bürogehilfin eine Weiterbildung zur EDV-Programmiererin beim Autokonzern X. In diesem Beruf arbeitet Anke seitdem. 1980 heiratet sie ihren Mann Gerd, der 19 Jahre älter ist als sie. Die Ehe hält, bleibt jedoch kinderlos. Anke wird Patentante von Lydias Tochter Lisa. Als jüngstes der vier Kinder stehen Anke alle Möglichkeiten offen und sie scheint keinen Vorgaben genügen zu müssen, da ihre Geschwister bereits alle Aufstiegsvarianten zwischen Rebellion (Schwester Lydia), moderater Modernisierung (Bruder Jonas) und Tradition (Schwester Rose) bedient haben. Diesen „funktionslosen“ Ausgangspunkt versteht Anke zu nutzen. Sowohl ihre Erwerbs- als auch ihre Beziehungsbiografie scheinen von enormer Konsequenz und Konstanz geprägt. Alles passt zumindest scheinbar logisch zusammen und erscheint kaum kämpferisch. Entscheidungen werden eher sicherheitsbasiert gefällt, Freiheiten vorsichtig ausgebaut, was sich daran zeigt, dass sie nach der Wirtschaftsschule zunächst eine Ausbildung als Bürogehilfin absolviert – d.h. auf einer sehr niedrigen Gehaltsebene, die als traditionell weiblich bezeichnet werden kann – bevor sie mit der Weiterbildung zur EDVProgrammiererin eine modernere Arbeitsausrichtung wählt und den Schritt in Richtung Aufstieg geht. Dieses sicherheitsbasierte Handeln scheint sich auch in der Wahl des viel älteren Gerd als Ehemann widerzuspiegeln. Das Ergebnis repräsentiert einen sozialen Aufstieg, der sowohl bzgl. des Bildungs- als auch des Einkunftsniveaus das ausbaut, was die Eltern als Basis zur Verfügung haben, ohne das es Überraschungen gibt. Damit wird die familiale Tendenz zur vorsichtigen Nutzung von Modernisierungschancen bestätigt. Diese konsequente und gebilligte Verfolgung eines Pfades entfernt Anke damit potenziell nicht so von ihrer Familie, wie dies bei Lydia der Fall ist. Anke muss sich dem außerfamiliären Sozialraum anscheinend nur begrenzt öffnen, um ihren individuellen Handlungsspielraum zu vergrößern und durch ihre Erfolge in Ehe und Beruf einen rein privaten Verantwortungs- und Freiraum der begrenzten Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu eröffnen. Zusammenfassend lässt sich dieser Zustand als Selbstbestimmung in Sicherheit bezeichnen. Einzig die fehlenden Kinder stören das (familial-traditionell)

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erfolgreiche Bild, können es aber offenbar nicht ernsthaft gefährden, zumal mit Lisa zumindest ein Patenkind existiert. Lisa Aziza Schall: Individualisierung zwischen Risiko und Stabilität Lisa Aziza Schall wird am 07.10.1983 als zweites der drei Kinder und einzige Tochter von Lydia Schall geboren. Ihr Vater ist Oliver, der jedoch bald wieder aus dem Leben Lydias und damit auch Lisas verschwindet und mit dem Lisa zum Interviewzeitpunkt im Rechtsstreit um Unterhaltszahlungen liegt. Sie macht Abitur, studiert Biologie und gibt als Berufswunsch Profilerin im kriminaltechnischen Dienst an. Nebenbei jobbt sie zusammen mit ihrer Großmutter Johanna in der Wäscherei der Mutter Lydia. Seit 2004 ist Lisa mit Juan verlobt, einem ursprünglich aus der Dominikanischen Republik stammenden Ex-US-Marine, mit dem sie in der Parterre-Wohnung ihrer Oma Johanna wohnt. Lisa stellt für ihre Mutter als einzige Tochter etwas Besonderes dar, worauf auch ihr afrikanischer Zweitname hinweist, der „die Wertvolle, Kostbare“ bedeutet. Sie wächst mit drei verschiedenen weiblichen Vorbildern auf: dem risikohaften, sozial offenen und selbstbestimmten, dabei letztlich erfolgreichen der Mutter Lydia; dem weitestgehend traditionellen, bestenfalls unterschwellig selbstbestimmten der Oma Johanna sowie dem sicherheits- und familienbasierten, dabei erfolgreich selbstbestimmten der Patentante Anke. Die letzteren beiden stehen für Stabilität und Kontinuität und stellen so einen Gegensatz zu den Suchbewegungen der Mutter Lydia dar. Lisas Berufsentscheidungen sind stärker durch eine relative zukunftsbezogene Offenheit sowie durch Aufstiegsorientierung gekennzeichnet und erinnern folglich eher an die Mutter als an die Tante, setzen im Gesamten allerdings den familiären Modernisierungstrend fort. Lisa erreicht die nächste Bildungsstufe, d.h. sie macht Abitur und beginnt ein Biologie-Studium, das zum Interviewzeitpunkt (2007) noch nicht abgeschlossen ist. Risikobereitschaft und Aufstiegsorientierung treten damit deutlicher zu Tage, da sie auf ein Studium setzt, das vielfältige berufliche Möglichkeiten, aber auch ein höheres Risiko bietet. Jedoch beschreibt die Abfolge von Abitur und Studium einen allgemein anerkannten Karriereweg und verweist in dieser Folgerichtigkeit auf ein geplantes Vorgehen. Damit ließe sich das Studium als kalkuliertes Risiko vor dem Hintergrund einer gesteigerten Aufstiegsorientierung verstehen. Ihr moderner Jobwunsch „Profiler“ (polizeiliche Fallanalytikerin) verweist auf Lisas Ausrichtung auf moderne Arbeitszusammenhänge, eine herausfordernde und befriedigende Tätigkeit sowie beruflichen Aufstieg. Allerdings fällt auf, dass ein BiologieStudium eher nicht als Qualifikationsvoraussetzung gilt. Vor dem Hintergrund der medialen Berufspräsentation zeugt dies weniger von durchdachter Planung, als vielmehr vom „realitätsfernen“ Wunsch nach Anerkennung und Abenteuer jenseits der schwäbischen Provinz.3

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Das BKA bezeichnet die landläufige Berufsvorstellung als durch CSI-Serien medial realitätsfern verzerrt und erklärt das Betätigungsfeld als gerade für externe, biologisch bzw. rechtsmedizinisch ausgebildete Arbeitskräfte extrem begrenzt (vgl. www.bka.de/lage bericht/weitere/profiler.pdf vom 09.04.2009). Da Lisa im EI betont, dass sie Genetik langweilig findet, erscheint der Berufswunsch doppelt unrealistisch.

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Vor allem ihre Beziehungsentscheidungen stellen hingegen eher eine durch Stabilisierung angestrebte Abgrenzung von der mütterlichen Risikobereitschaft dar. Lisa schafft sich eine sichere familiäre Nische, indem sie verlobt ist, bei der Oma wohnt und bei der Mutter jobbt. Sie wählt somit einen Aufbruch aus der Stabilität heraus, der wie bei der Patentante nur eine begrenzte soziale Öffnung erfordert. Obwohl ihr Verlobter einen doppelten Migrationshintergrund hat, bestätigt sie mit dieser „sekundären Weltöffnung“ qua Partnerwahl tatsächlich nur eine familiale Handlungslinie, da Bernd ein „Urlaubsmitbringsel“ mit familiärer Vertreibungsgeschichte ist und Gerd aus einer norddeutschen Großstadt stammt. Lisa akzentuiert diesen Trend lediglich stärker. Dass sie nach dreijähriger Verlobungszeit immer noch nicht geheiratet hat, kann zwar als Zeichen von Flexibilität gelesen werden, aber auch als Suche nach der Sicherheit, die – wie bei Anke – darin läge, den „Richtigen“ zu ehelichen. Lisas Selbstbestimmung liegt letztlich darin, die Entscheidungslogiken der beiden primären weiblichen Vorbilder (Mutter und Patentante) auf eine Art zu kombinieren, die ein Höchstmaß an selbstbestimmtem Aufstieg mit einer möglichst umfassenden Sicherheit verbindet, und bestimmte Trends – Ehe als Weltöffnung, Aufstieg als Realisierung von Bildungschancen – forciert fortzusetzen. Dieses Hin- und Herwechseln zwischen den zwei Entwürfen stellt gesteigerte Anforderungen daran, die eigenen Vorstellungen nicht aus dem Blick zu verlieren und bezüglich konkreter Lebensentscheidungen nicht im Ungefähren (Verlobung) oder Unrealistischen (Jobwunsch), d.h. in einem Möglichkeitsraum, der die Krise auf Dauer stellt, stecken zu bleiben. Das ist die grundsätzliche Ambivalenz, die sich hinter diesem familiären Balanceakt verbirgt. Folglich liegt Lisas Individuationsherausforderung im Ringen um den eigenen, selbst entwickelten Weg angesichts zweier unterschiedlicher, jeweils erfolgreicher Vorbilder. Zusammenfassung Die Mitglieder der Familie Schumacher-Schall-Brause befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen traditioneller Sicherheit, die i.d.R. im sozial zurückgezogenen Kreis der Familie zu finden ist, und einer mit sozialem Aufstieg verbundenen selbstbestimmten Modernisierung, die mit einer oftmals beruflichen Öffnung in die Gesellschaft hinein verbunden ist. Generell zeichnet sich diese Familie durch einen Trend zur vorsichtigen Modernisierung aus: In den Felder Beruf und Familie ist modernisierende Veränderung im Sinne von sozialem Aufstieg und Öffnung immer mit einer Sicherheit verbunden und kontrastiert, auch wenn diese nur temporär ist. Geht die Sicherheit verloren, gefährdet das auch den restlichen Lebensentwurf. Dann hängt das weitere Schicksal davon ab, wie selbstbestimmt die Person sich wahrnimmt. Selbstbestimmung hat folglich einen moderierenden Effekt. Ziel dieser Entwicklung im dreidimensionalen, durch die Variablen Selbstbestimmung, soziale Öffnung und Modernisierung/Individuation definierten Raum ist ein Zustand der Selbstbestimmung in Sicherheit. Neben diesem ist eine klare Leistungs- und Aufstiegsorientierung erkennbar. Daraus folgt, dass Bildungs- und Einkommensstufen innerhalb der Traditionslinie der Facharbeit und der praktischen Intelligenz des respektablen Volksmilieus zwar nur generationenweise, jedoch stetig erklommen werden. Die Familienmitglieder folgen der vorgegebenen Traditionslinie: vom traditionellen Arbeitermilieu (Eheleute Schumacher) über das leistungsorientier-

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te Arbeitnehmermilieu (Anke Brause und Lydia Schall) bis zum modernen Arbeitnehmermilieu (Lisa Aziza Schall). Des Weiteren bleibt eine völlige Lösung von traditionellen Verhaltens- und Deutungsmustern bislang aus. Dieser Trend gilt sowohl für die Männer als auch für die Frauen der Familie. Die Familie Schumacher-SchallBrause baut damit auf der Tradition der bäuerlichen Familie in ihrer süddeutschen, realteilungsbedingten Ausprägung auf, deren Duktus und Mentalität der Leistungsbereitschaft, Selbstbestimmung und Versorgungssicherung vor dem Hintergrund eines stark reziproken familialen Solidarsystems sowie eines Funktionalitäts- statt Emotionalitätsfokus handlungsleitend sind. 6.2.2

Familienrepräsentanz und -system angesichts des neuen Familienfluchs

Die Entwicklung der horizontalen und vertikalen Familienrepräsentanz Vor dem Krebs: patriarchale Ausgangssituation Die ursprüngliche Familienrepräsentanz der Schumachers gestaltet sich gemäß den Vorgaben der bäuerlichen Familienform. Zentral ist der Erhalt des Familienbesitzes über die Zeit, der eine gegenseitige Verpflichtung zum Arbeitseinsatz aller sowie eine starke Betonung von Traditionen beinhaltet. Aufgrund des patrilinearen Akzents gesellt sich eine Betonung der männlichen Linie dazu, die sich durch den „männlichen Familienfluch“ des eingeschränkten Stammhalter-Überlebens noch verschärft haben dürfte. Damit wird nicht nur männliche Autorität betont, sondern auch der bloße Erhalt des (einzig vorhandenen) Mannes zu einem wichtigen Anliegen. Das geht mit einer instrumentellen Gattenwahl jenseits personbezogener Zuneigung einher, die gleichfalls am Besitz oder im Fall der Schumachers mit ihrer partiellen Abkehr von der Landwirtschaft am Erhalt der Familie als der der Person übergeordneten Instanz orientiert ist. Eingedenk des „Familienfluchs“ lässt sich letztlich der Mann als doppelt erhaltenswerter Teil der Familie bzw. als deren Äquivalent annehmen, auf den die Gattenwahl und -beziehung ausgerichtet ist. Sowohl die Gatten- als auch die Eltern-Kind-Beziehung ist hier durch geringe Emotionalität gekennzeichnet. Anzunehmen ist folglich eine prinzipiell pyramidale Struktur mit Karl-Herbert an der Spitze der Hierarchie, vor Johanna als wichtiger, aber eben als Frau untergeordneter Arbeitskraft und den Kindern, die als Erben und in der Reihenfolge ihrer Geburt auch unterschiedlich „brauchbare“ Arbeitskräfte den Grund der Pyramide bilden. Diese ist kurz vor der erste Krebserkrankung Johannas zum einen durch die Ehen von Lydia und Rose, zum anderen durch Karin als der ersten Krebstoten der Familie (sowie die nicht dargestellte krebskrankte Agatha) modifiziert. Die Ehen von Lydia und Rose haben dazu geführt, dass beide aus dem Kreis der im Alltag unmittelbar erlebbaren Familienmitglieder ihrer Herkunftsfamilie ausgeschieden sind, da sie eine Wahlfamilie gegründet haben, die nun ihre primäre kleine Lebenswelt darstellt. Die Krebserkrankungen und v.a. die erste Krebstote Karin deutet einen neuen „Familienfluch“ und damit eine neue Traditionsrichtung in der Familie an, die nun anstelle der männlichen einer weiblichen Linie folgt und quasi eine Konkurrenz zum eingeschränkten Stammhalterüberleben darstellt.

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Abbildung 3: Die Familie vor der ersten Krebserkrankung Johannas 19754 Bruder KH, †

Lydia, geb. 1955

Karin, † 75

Karl-Herbert, geb. 1932 Johanna, geb. 1936

Jonas

Rose, geb. 1953

geb. 1960

Anke, geb. 61

Ab 1975: Krebsmatriarchat Karl-Herberts Versuch, Lydia während des Klinikaufenthaltes der Mutter Johanna in seinen Haushalt zurückzuholen, erscheint im Rahmen einer bäuerlichen Handlungslogik als adäquat, in der sein Erhalt synonym mit dem Erhalt der Familie als Besitz ist. Das belegt die durch den „männlichen Familienfluch“ betonte patriarchale Grundeinstellung und Tradition. Das von Lydia beschriebene Bild der Familie als Sonnensystem mit Johanna als zentraler und damit alles zusammenhaltender Kraft verweist darauf, dass Karl-Herberts patriarchale Vorstellungen jedoch bereits nicht mehr ganz der Realität entsprechen. Das Bild spricht vielmehr für eine latente matriarchale familiale Struktur, die jedoch erst bei dieser Machtprobe offensichtlich geworden sein dürfte. Insofern wird durch die Krebserkrankung Johannas eine Veränderung der horizontalen familiären Beziehungsstruktur manifest, die als „Krebsmatriarchat“ zu bezeichnen ist. In der Folge versucht Karl-Herbert, Macht (bspw. durch Aufmerksamkeit aus dem sozialen Außen) zurückzugewinnen. Diese Versuche scheitern offensichtlich auf Familienebene vollständig, so dass Karl-Herbert vom zentralen Platz an der Spitze der Pyramide immer weiter in eine randständige familiale Lage gerät. Die zentrale Position Johannas ist jedoch keine Spitzenposition wie in der alten pyramidalen Ordnung. Deutlich wird dies zum einen daran, dass Johanna Unterstützung benötigt, folglich als „zentrale Person“ nicht nur durch den Kampf Stärke, sondern auch durch die Krankheit Schwäche repräsentiert, also ambivalent erscheint. Zum anderen bedingt diese Ambivalenz eben keine Umkehr des Verweisungszusammenhangs zwischen Karl-Herbert und Johanna, sonst hätte er sie pflegen müssen, anstatt dass Lydia u.a., die außerhalb der Paarbeziehung stehen, Johanna bei ihren Aufgaben unterstützen. Karl-Herbert erhält also sein männliches Aufgabenspektrum und daher vermutlich – allerdings rein nominell – seine Position, scheint jedoch nicht

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Diese wie auch die folgenden Darstellungen sind kollektiv-subjektive Präsentationen des Familienensembles, welche in der Rückschau der BRCA-positiven Familienmitglieder im Rahmen der Interviews sichtbar werden.

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ins familiale Sonnensystem aufgenommen zu werden. Zusammenfassend stellt diese Entwicklung folglich keinen bloßen Austausch der wichtigsten Position im Rahmen der bestehenden Struktur dar, sondern eine wirkliche Veränderung hin zum Krebsmatriarchat. In diesem besetzt Johanna die durch den Krisenfokus auf sie als Erkrankte gefestigte zentrale „Sonnenposition“. Der Wechsel in der Beziehungsstruktur verläuft jedoch so wenig strukturinvasiv wie möglich und greift ein latent vorhandenes Potenzial auf, so dass der Vorgang eher einer Verdeutlichung als einem Wandel entspricht. Diese geht mit einer Umdeutung dessen einher, was als Erhalt der Familie gilt. Hierunter wird nunmehr der Erhalt Johannas als wichtigstem Bezugspunkt gesehen, deren Umgang mit der Krankheitssituation somit Vorbildcharakter gewinnt, während Karl-Herberts selbstzentrierte Sicht als Egoismus gewertet wird. Die Umdeutung basiert auf der nunmehr direkten Relevanz von Brust- und Unterleibskrebs als Familienthema und zweitem „Familienfluch“ der Familie Schumacher. Dies wird gestützt durch die Krebstoten der Familie, Karin, Agatha und Elfriede, die durch ihre Existenz im Hintergrund der Familiengeschichte das Gewicht des „weiblichen Krebsfluchs“ steigern. Durch die Entscheidung für Krebs als wichtigerem „Familienfluch“ und zentraler Verkörperung von Familie erfolgt daher eine Umorientierung in der vertikalen Familienstruktur weg von einer patrilinearen hin zu einer matrilinearen Ausrichtung. Darüber hinaus können Familie und Krebs aufgrund der hohen Erfahrbarkeit der Familie im Krebs fast schon als gleichbedeutend gesetzt werden. Hierbei ist die starke, gerade auch verbalisierte Ausrichtung auf Gesundheit sowie die Aufnahme von Vorsorgeuntersuchungen als pragmatische Umsetzung derselben auffällig. Das repräsentiert eine deutliche Perspektivenwahl, die passend zur Logik des Erhalts Gesundheit statt Krankheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt und somit als zu organisierendes Gut und Zielorientierung betrachtet. Durch Vorsorge als allgemein anerkannte und umgesetzte Handlungsregel weist der weibliche Familienteil auch über die einzelne Erkrankte hinaus auf die Familie als letztlich zu schützende Einheit – und auf die Wichtigkeit gerade des weiblichen Teils zur Erreichung des Ziels, wodurch die Männer der Familie verstärkt Nebenrollen zu besetzen scheinen: Damit werden jedoch auch sie letztlich aufgrund der gesundheitlichen Entwicklung sozial positioniert und sind somit betroffen. Die Inklusion der gesamten Familie durch familiale Positionierungen und Forderungen im Rahmen des Krebs verweist auf die Leitdifferenz der Bezogenheit als zentripetal wirkende Kraft, die die Autonomie des einzelnen Familienmitglieds notfalls einschränkt und diese – auch wie bei Lydia gegen ihren Willen – wieder in die Herkunftsfamilie zurückzuholen versucht. Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Johannas Krebs entwickelt sich die folgende Beziehungskonstellation der restlichen Familienmitglieder: Lydia wird durch eine aktive Rolle bei der Gesundung Johannas in die Familie hineingezogen, während sich Anke selbst ausschließt, jedoch durch ihre Arbeitsorientierung in Berührung bleibt. Roses Position ist fragil, auch sie scheint durch Unterstützung der Mutter in die Familie hineingezogen zu werden, jedoch sind die Aussagen hierin nicht ganz konsistent. Ebenfalls unklar ist die Rolle des Bruders Jonas: Es lässt sich zumindest vorübergehend eine deutliche Verstärkung seiner Randständigkeit feststellen, die jedoch durch Unterstützungsaktivitäten (sprich durch die Erfüllung der „Pfle-

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gepflicht“) relativiert wird. Das neue Thema Krebs wirkt sich folglich beziehungsbestimmend aus. Das führt zu einer „Invasion“ der Herkunftsfamilie in den individuellen bzw. wahlfamliären Lebensraum. Abbildung 4: Positionierung der Familienmitglieder nach der ersten Krebserkrankung Johannas

Jo

Ly

K J

R A

Das rigide-verstrickte Familiensystem und seine familialen Ressourcen Starre Organisation von familialen Phasenübergängen Die Prinzipien von Arbeits- und Leistungsorientierung, pragmatische Emotionslosigkeit und die familiale Pflicht zur reziproken Unterstützung bleiben auch während der als familiale Übergänge zu bezeichnenden Ereignisse rund um Krebs- und Genkrise grundlegend. Es lassen sich folglich lediglich Wandlungsprozesse erster Ordnung feststellen, durch die die Handlungslogik nicht grundsätzlich, sondern nur graduell verändert wird. So wird z.B. die bäuerliche Zielorientierung des Besitzerhalts lediglich in Richtung der Gesunderhaltung der Familie weiterentwickelt. Das wird als Privatprojekt im Rahmen der Familie angegangen, worin sich die bürgerliche Idee der Intimität fortschreibt. Die Organisation familialer Phasenübergänge lässt sich insgesamt als eher starr charakterisieren, da zwar Veränderungen passieren, die aber gegenüber der grundsätzlichen Logik der familialen Organisation lediglich minimal invasiv sind. Die Sicherheit einer statischen familialen Organisation wird nur geringfügig durch Modernisierungen angepasst. Starre Eindeutigkeit der Wirklichkeitskonstruktion In der folgenden Passage aus dem Familieninterview wird sichtbar, wie die Schilderung eines „familiär-vereinenden“ Krankheitsspektrums Krankheit als starres Phänomen beschreibt und die „Betroffenen“ sodann in zwei ebenso eindeutige Kategorien eingeteilt werden, die einer „Alles oder Nichts“-Logik folgen, nämlich ganz oder gar nicht krank:

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„F: Wie ist es denn mal abgesehen vom Krebs überhaupt mit Krankheit und Gesundheit in der Familie, wie geh’n sie damit um? Li: dr Opa hat alles, deshalb ham wir > nix! [amüsiert, lauter] >Ly: Mei- ja! . Mein Vater, der hat alles, grundsätzlich, un . ansonschten isch:- ah, wir sin eigentlich .so g’sund . mer henn mal e Schnupfe oder so, aber des hat jeder Mensch, aber so, sonschtige KrankheiteLi: ich hab > Hüftprobleme! > aber des isch .da-n- jetzt >Krankheit >Ly: ja gell isch ja keine Krankheit Li: ja . nö, i hab sonscht- i hab/ Herpes hamm wer alle! (lauter), außer du net, gell A: doch! Li: au Ly: >ja, (gut, man kennt des?) >Li: wir hab’n alle >Herpes [lacht auf] >J: (i?) darf’s net sei, i krieg nidde jede Grippe un-un-un so, i monLi: also, nö mir sin eigentlich/ J: mir sin e g’sunde . > Schar >Li: also entweder wir sind richtig! krank, so’n Norovirus5 oder sowas, oder gar net“ (FI)

In dieser Einteilung zeigt sich die starre Eindeutigkeit der Wirklichkeitswahrnehmung, die definiert, was als Krankheit gilt: kurze Krankheitsepisoden, die alle weiteren Aktivitäten stark einschränken oder verhindern, jedoch schnell und vollständig ausgeheilt werden können. Knochenbrüche werden diesbezüglich als paradigmatische Beispiele benannt (bspw. im EI Anke). Es ist zu vermuten, dass auch Krebserkrankungen dieser Definition entsprechend als einmalige, schlimmstenfalls serielle Ereignisse und nicht als chronische Erkrankung verstanden werden. Gerade dieser vorübergehende Charakter fördert die pragmatische Gesundheitshaltung der Familie. Diese Eindeutigkeit gilt auch für die Organisation familialer Rollen, die funktional orientiert ist, wie am angesprochenen Beispiel Karl-Herberts deutlich wird. Die Funktion des Großvaters besteht darin, „alles“, sprich sämtliche Krankheiten zu haben, was als Grund formuliert wird, dass die anderen Familienmitglieder „nichts“ haben. Karl-Herbert befreit somit die anderen quasi von Krankheit. Nun ist es schlicht nicht möglich, sozusagen als professionell_e Kranke_r anderen Menschen Krankheiten auf eine Art abzunehmen, wie dies bei alltäglichen Tätigkeiten (z.B. kochen oder putzen) möglich ist. Die Befreiung betrifft daher eher nicht den „körperlichen Ausnahmezustand“ Krankheit an sich, sondern scheint auf anderem Gebiet zu erfolgen. Die nachfolgende Anmerkung Lydias, dass Karl-Herbert „grundsätzlich“ alles hat, scheint zum einen darauf zu verweisen, dass Großvater Schumacher alle „Krankheitsgelegenheiten“ auf sich bezieht und das auch (gemäß Familienmeinung zu) ausführlich kommuniziert. Zum anderen deutet das „grundsätzlich“ ebenfalls darauf hin, dass der Großvater von den anderen prinzipiell als krank wahrgenommen wird, was eine Delegation der anderen Familienmitglieder andeutet, die dem Großvater keinen alternativen Handlungsspielraum oder keine alternative Wahrnehmung seiner Person (zu-)lassen. Er wird folglich innerfamilial klar als krank stigmatisiert.

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Noroviren sind Auslöser eines mehrere Tage andauernden Brechdurchfalls.

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Karl-Herbert wird von den anderen Familienmitgliedern letztlich aufgrund seines Verhaltens zur Projektion sämtlicher Krankheitsereignisse und -erlebnisse heran gezogen, so dass nur die schmale Bandbreite der schlimmen, kurzfristigen Erkrankungen für diese als Krankheiten wahrnehmbar bleiben und erlaubt sind. Damit übernimmt der Vater die eindeutige und eindimensionale Rolle des absoluten gesundheitlichen Blitzableiters, Sündenbocks und Negativbeispiels der Familie, die es den anderen erlaubt, sich im Spiegel des „grundsätzlich Kranken“ als „grundsätzlich Gesunde“ zu erleben. Das erklärt auch, warum sein Stigma der grundsätzlichen Krankheit den Grund für die Gesundheit der restlichen Familienmitglieder liefert. Dieses stützt wiederum die Zielorientierung des Gesundheitserhalts, von der Karl-Herbert offensichtlich abgespalten ist. Die Rolle Karl-Herberts wird eingehender untersucht werden, um gültige gesundheitliche Handlungsregeln näher zu beschreiben (s. C1). Dieser Vorgang der „Krankheitszuweisung“ an den (Groß-)Vater schildert keine einmalige funktionale Wahrnehmung eines Familienmitglieds, wie die bereits zitierte Aussage Lydias beweist, in der sie ihre Mutter als familiale „Sonne“ beschreibt, die durch den Krebs einen „Ausfall“ (FI) gehabt hätte. Als solcher werden Funktionsverluste beschrieben, bspw. von Systemen wie Elektrizitätsnetzwerken oder von Fußballspieler, die ihre Position auf dem Spielfeld nicht einnehmen können. In beiden Fällen geht es darum, dass Aufgaben nicht erfüllt werden, die – um beim letzten Beispiel zu bleiben – zwar mit der Persönlichkeit von Spieler_innen zusammenhängen, jedoch zuallererst technisch definiert werden. Auch Johanna besitzt folglich eine (offenbar extrem wichtige) „technische“ Aufgabe, die sie erfüllen sollte, um das System nicht zu gefährden. Das verweist erneut auf die normative Krisendimension. Zentripetale Orientierung der Kohäsionskraft Eine Tendenz zur zentripetalen Orientierung der familialen Kohäsion geht bereits aus der Krisenbeschreibung hervor. Diese lässt sich als Rückführung in den Dienst der Familie beschreiben, wie sie Lydia z.B. angesichts verschiedener Krebsdiagnosen oder Johanna mit Blick auf Öffentlichkeitsaufgaben im Zusammenhang mit dem BRCA-Testergebnis erfährt. Eine zweite Äußerung der zentripetalen Orientierung kann als Rückführung in die Vernunft der Familie bezeichnet werden. Als Beispiel hierfür dient die folgende Passage zur Brustabnahme6, in der Anke Brause von Lisa und Lydia unisono – wenn auch mit anderen Mitteln – die Notwendigkeit, ja schon fast eine Art moralische Verpflichtung zur Brust-Rekonstruktion nahe gelegt und damit generelle Zweifel an der Vernünftigkeit einer prophylaktischen Brustabnahme verbunden werden. „F: „Eben ham sie [Anke, A.d.V.] gesagt, wenn sie da [zum Zeitpunkt der Brustreduktion, A.d.V.] schon gewusst hätten, das sie die Disposition hätten, hätten sie sie [die Brüste, A.d.V.] direkt ganz abnehmen lassen? A: ja! Ly: aber wieder uffbaue, oder? A: nein! Li: ja > ohne Busen, oder was?

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Sie illustriert ebenfalls emotionale Expressivität, Konfliktverhalten und familiale Grenzen.

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>Ly: ach ganz weg! [lauter Ausruf] A: ja:! . türlich! Li: wie sieht denn das aus? A: Ebe! Habt ihr! mal füt-fünefetzwanzig Jahr lang so ein Teil, da seid ihr froh dann, wie des weg isch [erhobene Stimme] Ly: ja, scho, >aber/ >Li: aber doch net >ganz weg! >A: weil ich nämlich dann ohne BH rumlaufe könnt und keine! BHs mehr bräucht und dann auch die Flatterkleidle anziehe könnt, wo da ene/ Li: ja un wie sieht denn das aus ohne Busen? > dann hast n Bauch und kein Busen oder >A: was weiß’n i wie? [vorwurfsvoller Ton] A: ja und? (Ly, Li lachen) . Li: is ja schrecklich Ly: nee, also das würd ich nicht A: weil der grö-, 80 Prozent vom Krebs isch ja im obre Teil von der Bruscht . deswegen hat die reduzier- also für des! gar nix g’nützt Li [leise]: ha, dafür war’s ja auch damals net A: Neu, natürlich net . aber da hätt mer vielleicht au mehr weg’macht, anderscht wegg’macht, mehr .aus.se obre Teil raus > Schmerze! Hab ich keine! g’het! [lauter] nach der OP, von dem >Ly: ja, also (.zum Beispiel saget sie ja?)/ her kann mer des: . > (dazu nur rate? leiser) >Ly: na iss ja so, dasse- dasse saget, 100 prozent isch des ja net, wenn d’Bruscht weggemacht wird, weil in dem Gewebe! in der Haut! drin kann ja immer! noch was sei, also .was soll des no? I me wns, wenn sie sage tätet ‚100 Prozent!‘, na wär’s wenigschtens .sicher! aber so! . bloß das des jetz, pf, na-na lieber untersuche!“ (FI)

Lassen sich Familienmitglieder weder in die Vernunft, noch in den Dienst der Familie einbinden, so zeigt sich eine zentrifugale Orientierung, die die Umsetzung der starren Wirklichkeitskonstruktion dergestalt unterstützt, dass sie familial „unpassende“, d.h. der familialen Handlungslogik nicht ausreichend folgende Personen ausstößt. Diese Kraft findet auf Karl-Herbert Anwendung, der als „familial disqualifiziert“ betrachtet werden kann, aber auch auf Anke, deren fehlende Bereitschaft, ihre krebskranke Tante im Vorbeifahren zu besuchen dazu führt, dass Lydia sie bei der gemeinsamen Fahrt einfach am „aussetzt“ und die Tante alleine besucht. Hier zeigt sich die geringe Abweichungstoleranz die „Familienlinie“ betreffend. Herabspielendes Konfliktverhalten Obschon das BRCA-Testergebnis zum Zeitpunkt des Interviews bereits ca. zweieinhalb Jahre bekannt ist, vermittelt die Spontaneität von Lydias Überraschung und Lisas Missbilligung in der Brustreduktionssequenz nicht den Anschein, als hätten die positiv getesteten Frauen diese Möglichkeit jemals zuvor gemeinsam thematisiert. Das weist nicht daraufhin, dass offene Auseinandersetzungen über derlei offensichtlich empfindliche Themen üblich wären. Im Einzelnen weist der Konflikt eine Erregungskurve auf, in der jede einzelne Person jeweils individuell auf Ankes Ankündigung reagiert, sich prophylaktisch die

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Brust entfernen zu lassen. Allein die Tatsache, dass Lydia einen möglichen Brustaufbau vorschlägt, scheint bereits zu zeigen, dass sie hier ein eigenes Thema einbringt, was sich durch den Abschluss mit der Abwägung bzgl. der generellen Möglichkeit einer prophylaktischen Brustabnahme zu bestätigen scheint. Sie kann Ankes Ansatz offensichtlich in keiner Weise nachvollziehen, stattdessen scheint sie diesen eher als Anfrage an sich zu werten und geht ebenso wenig auf Ankes Motivation ein wie Lisa. Diese reagiert mit einer Vehemenz auf Ankes Eröffnung, die ebenfalls vermuten lässt, dass sie nicht zu der für ein Verständnis notwendigen Perspektivenübernahme oder Selbstdistanzierung fähig ist, sondern dass vielmehr ihr eigenes Erleben für sie im Vordergrund steht. Ihre Betroffenheit verpackt sie jedoch anders als ihre Mutter in eine Reaktion, die bestenfalls als Vorwurf, schlimmstenfalls als Beleidigung aufgefasst werden kann und betreibt so eine aggressiv erscheinende Art von „Vorwärtsverteidung“. Sowohl in Lydias als auch in Lisas Fall ist das Thema nach dem ersten explosionsartigen Druckabbau – der gleichzeitig einen Rechtfertigungsdruck auf Anke aufbaut – sehr schnell abgehandelt. Dadurch wird die Beschäftigung mit diesem Thema zwar nicht zur heraufspielenden Obsession, es erfolgt aber auch keine echte Auseinandersetzung, in der nicht nur wie im vorliegenden Fall Positionen dargestellt, Argumentationsunschärfen benannt und Abweichungen von eigenen Ansichten kritisiert werden, sondern auch Verständnis füreinander entsteht und ein Eingehen aufeinander erfolgt. Jede der drei Sprecherinnen verbleibt somit quasi in ihrer eigenen Welt, die sie vermutlich ohne das Interview auch kaum verlassen hätte, und belegt gleichzeitig durch die als Anfragen verstandenen Diskussionsbeiträge Abgrenzungsprobleme und damit Bezogenheit. Das Konfliktverhalten wirkt in gewisser Weise wie ein „Sprühpflaster“, dass zwar die Wunde abdeckt, aber auch den Heilungsprozess verzögert, wenn nicht gar verunmöglicht. Das hier gezeigte Konfliktverhalten kann insofern als herabspielend charakterisiert werden, als diese Form der Auseinandersetzung dazu angetan ist, eben genau dies, die Auseinandersetzung und die damit notwendigerweise erfolgende Begegnung und evtl. Veränderung, zu vermeiden. Ein solches Konfliktverhalten trägt also zur Starre des Systems bei und sichert gleichzeitig die (oberflächliche) Bezogenheit. Unterdrückende emotionale Expressivität In der obigen Interviewsequenz zeigt Anke Brause durchaus Emotionen, die jedoch durch die Reaktionen Lydias und Lisas (fast) nicht anerkannt werden. Allerdings sind die Gefühle in eine metaphorischen Darstellungsform verpackt, die diese Gefühle wiederum schwer erkennbar macht und damit – als vorauseilender Gehorsam, als Schutz, aus Unfähigkeit? – selbst bereits unterdrückt. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um Folgende: Ihre „ursprüngliche“ Brust erscheint als Belastung, die „Flatterkleidle“ verweisen auf den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Der Wunsch wird durch die sich anschließende Nennung der Wahrscheinlichkeiten auch auf das medizinische Feld übertragen und belegt letztlich eine verbleibende Restbelastung durch das BRCA-Testergebnis. Belastende Gefühle und der daraus resultierende Wunsch nach Entlastung, Freiheit, Selbstbestimmung scheinen somit in der Familie nicht offen ansprechbar, was insofern logisch ist, als sie sich als durchaus gefährlich für den familiären Zusammenhalt und damit Erhalt erweisen könnten, d.h. letztlich die familiale Zielorientierung bedrohen.

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Daher erscheinen die entgeisterte Reaktion Lydias sowie die vorwurfsvollbeleidigende Reaktion Lisas als vermutliche Schutzmaßnahmen die Familie betreffend auch in dieser Massiertheit gerechtfertigt. Gleichzeitig erklärt dieses Verhalten, warum diese Gefühle offen und unverhüllt gezeigt werden dürfen, während Ankes Anliegen metaphorisiert präsentiert und durch scheinbar sachliche „Fehlermeldung“7 auf einer anderen als der Gefühlsebene disqualifiziert wird. Natürlich lassen sich sowohl Lydias als auch Lisas Reaktionen auch als je individuelle begreifen, die neben hier nicht fokussierten eigenen Anliegen aber eins ganz deutlich zeigen: einen Mangel an Empathie, der zur Ebenenkonfusion beiträgt. Dieser Mangel an Empathie und die geringe „Fehlertoleranz“ bezüglich sachlichlogischer Zusammenhänge zeigt sich auch im folgenden Beispiel, das sich aus einer Erläuterung der Wichtigkeit von Haustieren entwickelt. Es ist auch als Hinweis dafür zu lesen, dass keine der Beteiligten je vor Kritik im Rahmen wechselnder Koalitionszusammenhänge geschützt ist – wie im vorliegenden Fall, in dem Lisa durch die ihr eigentlich wohlgesonnene Patentante Anke korrigiert wird – und Selbstbestimmung ein offenbar gefährliches, zu vermeidendes Thema darstellt, da die Kritik darauf abzielt, den Glauben an „Freiheit als Gesundheitslösung“ zu unterminieren. Eine Öffnung wirkt somit auf beiden Seiten bedrohend: Zum einen verunsichert diese die einzelne Person, da sie als „Einfallstor“ für scharf vorgetragene negative Kritik genutzt wird und durch die fehlende Trennung zwischen Person- und Sachebene die Person als solche angreift. Zum anderen bedroht sie die Familie, deren Bezogenheit und Zusammenhalt durch Individualisierungstendenzen Einzelner in Gefahr gerät. Darüber hinaus wird ein weiteres Mal vorgeführt, wie Konflikte unterdrückt werden. „Li: aber des isch au . ähm .Katze . des is au grad deswegen, weil Katzen so, so eigensinnige Tiere sind, also die würden . au .nie Krebs kriegen, glaub ich J: Freili, d’Sissi hat g’het Li: ja! Nein, ich >mein ja nur vom/ >A: also des is e Ammemärchen Li: vom Charak- des mein ich jetzt net, aber so von- . die sind so selbschtbewusst einfach . und das find ich ganz toll . und so, [ganz leise] ich glaub es gibt/ A [zu F]: Hend Sie n Hund?“ (FI) Danach spricht Lisa Schall nicht weiter über das Thema.

Es lässt sich folglich konstatieren, dass eine unterdrückende Emotionalität bzgl. „belastender“, d.h. Leid und Betroffenheit nahelegender Gefühle vorliegt. Das ist (zumindest Teilen) der Familie auch bewusst, wie Lydias Aussage belegt: „die Gefühle! ausdrücke, des isch bei uns in der Familie net so arg“ (EI). Dieses Fazit lässt sich im Übrigen bereits für die Krebsperiode ziehen, in der die familiäre Unterstützung Johanna vermitteln soll, dass sie „gebraucht“, nicht dass sie gemocht wird – was diese als hilfreich empfindet. Damit ist nicht gesagt, dass sich hinter dem pragmatischinstrumentellem Ansatz keine Emotionen verbergen, sondern vielmehr, dass diese nicht thematisiert bzw. reflektiert werden. Offen gezeigte „belastende“ Emotionen hingegen tauchen lediglich in einem negativen Kontext auf: entweder als Karl-

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Als solche kann Lisas Bemerkung „ha, dafür war’s ja auch damals net“ gelesen werden.

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Herberts „Mitleidheischen“, als „falsches“, wenig hilfreiches Mitleid der Nachbarn oder als „Rumgejomere“ (Lydia, EI), also als Klage ob des erfahrenen Leides, wodurch zugleich auch Mitleid als Handlungsmotivation der Familienmitglieder abqualifiziert wird. Gering ausgeprägte Binnengrenze bei starrer Außengrenze Wie die Krebskrise an mehreren Stellen belegt, sind die Grenzen des Familiensystems zum sozialen Außen gerade in empfindlichen Momenten, sprich in Situationen, die von Krankheit oder manifesten medizinischen Maßnahmen gekennzeichnet sind, starr geschlossen. Auf der individuellen Ebene hingegen verhält es sich gegensätzlich. Wie in den obigen beiden Beispielen beobachtet werden kann, werden Grenzen hier auf vielfältige Art überschritten und nicht respektiert. Wenn Lisa Schall ihre Tante Anke offen ob ihrer Einstellung kritisiert, wird sowohl die Generationengrenze als auch die der Höflichkeit verletzt. Lydia bewertet die Aussage Ankes als Anfrage an sich selber und überidentifiziert sich dadurch mit dieser, was wiederum Grenzen der Empathie überschreitet. Durch die Ebenenkonfusion im Katzen-Beispiel wird Lisas Anliegen letztlich nicht gesehen, wodurch diese nicht ernst genommen wird. Auch hierdurch wird eine Grenze überschritten. Ganz drastisch wird das auch im „Machtkampf“ zwischen Johanna und Karl-Herbert deutlich, wenn er ihren Zustand und damit im übertragenen Sinne sie selbst quasi an die Nachbarschaft verrät. Lisa wiederum berichtet Lydia vom positiven BRCA-Testergebnis trotz deren erklärter Entscheidung für das Nicht-Wissen und überschreitet damit die Grenze der Selbstbestimmung. Lydia wiederum geht auf eine ähnliche Weise mit ihrem ältesten Sohn Daniel um, der von ihr zur Teilnahme am Vorsorge-Ausflug überredet und durch eine fast schon effeminierte Darstellung als immer brav, sauber und sich als Kind freiwillig und begeistert um seine zehn Jahre jüngere Schwester Lisa kümmernd (vgl. EI Lydia) der Gruppe der weiblichen BRCA-Positiven angepasst zu werden scheint. Dies geschieht, obwohl er sich ansonsten er abgrenzt, worauf bspw. die nicht erfolgte Interviewteilnahme hinweist.8 Letztlich ist die Reaktion auf die vielfältigen Grenzverletzungen genauso entscheidend wie diese selbst: Die „Übergriffe“ werden in keiner Weise kommentiert oder gar korrigiert. Als Fazit lässt sich daher feststellen, dass individuelle Grenzen in diesem Familiensystem als gering ausgeprägt charakterisiert sind. Eine weitere Variation des Grenzthemas betrifft die Frage der Grenzen zwischen Koalitionen und die Verlässlichkeit derselben. Sie ist eine Frage der Binnendifferenzierung des Systems. In der Familie Schall-Brause finden sich extrem unsichere Koalitionen. Das soll am Beispiel der Beziehung zwischen Lisa und ihrer Patentante Anke erläutert werden. Beide bescheinigen sich unabhängig voneinander in den Einzelinterviews gegenseitig ihre Wichtigkeit: Für Anke, die keine leiblichen Kinder hat, ist Lisa Tochterersatz und „ein Mensch, den mer liebe muss“ (EI). Für Lisa ist ihre Patentante am wichtigsten aus der Familie und auch eher eine Mutter für sie als ihre eigene Mutter (vgl. EI). Trotzdem haben die beiden Beispiele gezeigt, wie gnadenlos beide jeweils der anderen „in die Parade fahren“ und sich nicht oder missverstehen. Im Allgemeinen werden dyadische und triadische Koalitionen, aufbauend auf einem

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Über Daniel ist sonst wenig bekannt, so dass nicht weiter auf ihn eingegangen wird.

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Grundstock an Sympathien und Konflikten, hier jedoch eher bedarfsgerecht aktiviert und deaktiviert, was im Endeffekt zu der Situation führt, dass sich keine der Beteiligten auch innerhalb der Familie je einfach nur angenommen und sicher vor persönlich herabsetzender oder inadäquater Kritik fühlen kann. Diese Nulltoleranz für Fehler enthüllt die bereits als transgenerationale Handlungsressource benannte Leistungsorientierung als weiteres Kennzeichen des Familiensystems. Das führt zusammen mit den Kennzeichen der unterdrückten emotionalen Expressivität sowie des herabgesetzten Konfliktverhaltens zur scheinbar paradoxen Situation, dass trotz eines extrem aufeinander bezogenen, grenzüberschreitenden Familiensystems „Räume der Stille“ entstehen, in denen keine oder eine nur eingeschränkte verbale oder nonverbale Kommunikation und Verbindung existiert. Die Berührungsfläche zwischen den einzelnen wird also gleichsam eingeschränkt. Als Beispiel wird eine Beschreibung Lydia Schalls präsentiert, die sie anführt, um zu demonstrieren, dass die Familie zwar emotional verbunden ist, dies jedoch nicht durch körperliche Nähe zum Ausdruck bringen muss: „Ly: mir waret- .e zeitlang .sin mer- Jahre lang jeden Monat in B-Stadt . des glaubet sie aber net, dass wir da viel mitenander g’schwätzt ham, wir sin da nebrenander g’sesse: . > un henn >J: des war Kaffee trunke: un > so, des:- .des: . brauche! mer eigentlich net!, dass mer sich jetzt schö: [lacht] ja oder- oder so irgendwas“ (FI)

Diese Kombination ist jedoch mitnichten paradox, sondern führt vielmehr zur Bildung von „Pufferzonen“ individueller Meinungsbildung, deren Einhaltung dazu beiträgt, dass alle Beteiligten zu einem Konsens allgemeine Regeln betreffend kommen, dem sie theoretisch und in der direkten Begegnung zustimmen können. Diese Zonen brechen jedoch – siehe Brustrekonstruktionsbeispiel – zusammen, sobald einzelne Ausdeutungen formuliert werden, so dass es zu Konfliktausbrüchen und Kritik an einzelnen kommt. Insofern handelt es sich bei den „Räumen der Stille“ nicht um autonome, sondern nur schein-autonome Zonen. Das bedingt zweierlei: Zum einen stärken die Pufferzonen die Gemeinschaft und stützen die auf Erhalt ausgerichtete Zielorientierung, zum anderen bleiben der Einzelnen auf der Deutungs- und Handlungsebene jedoch je individuelle Freiräume, die es ermöglichen, eigene Überzeugungen in den allgemeinen Möglichkeitsraum zu projizieren. Die prekären, von Überschreitung bedrohten Binnen- und Außengrenzen des Systems verweisen auf eine generelle Nähe-Distanz-Problematik, durch die Grenzverhandlungen um eigene Sozialräume letztlich zu Verhandlungen um Selbst- versus Fremdbestimmung im verstrickten familialen Raum werden. Zusammenfassend stellen die Schall-Brauses ein geschlossenes Familiensystem dar, das eine hohe Kohärenz aufweist. Die Leitdifferenz heißt Bezogenheit, nicht Autonomie. Die Kombination aus leistungsabhängigen, unsicheren Beziehungen, durchlässigen individuellen Grenzen, fehlender Offenheit hinsichtlich Emotionen und Konfliktaustragung bei gleichzeitiger grundsätzlicher Wichtigkeit der Familie als zentralem Bezugspunkt, der in verschiedenen Arbeitsroutinen (z.B. Wäscherei, Feld-

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arbeit) immer wieder neu konstruiert und durch zentripetale Kräfte unterstützt wird, bewirkt eine verstrickte Familienstruktur. Diese ermöglicht jedoch gleichzeitig die Ausbildung von „Pufferzonen“ persönlicher Handlungs- und Deutungsräume im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, ohne das Familiensystem zu gefährden – deren Vorhandensein wiederum stabilisierend auf das gesamte Familiensystem zurückwirkt. Darüber hinaus ist die Adaptabilität des Systems gering ausgeprägt. Sowohl Wirklichkeitskonstruktion als auch Phasenübergänge und Rollen werden relativ starr gestaltet. Die Kombination von Kohärenz- und Adaptabilitätsdimension ermöglicht die Charakterisierung der Schall-Brauses als starr-verstricktes Familiensystem, das auf die Zielorientierung des Gesundheitserhalts ausgerichtet ist. 6.2.3

Individuelle Handlungslogiken des BRCA-positiven Familienkerns

Die folgenden allgemeinen wiewohl oft gesundheitsbezogen geschilderten Handlungslogiken der Schall-Brauses finden im Umgang mit der Krebs- wie auch der Genkrise Anwendung. Lydia entwickelt im Laufe der fortgesetzten Krebs- und Genkrise die pragmatische und „gefühllose“ Handlungslogik der präsentablen Bilanzierung, bei dem körperliche u.a. Nützlichkeitserwägungen zu nüchtern und realistisch durchkalkulierten (Gesundheits-)Entscheidungen beitragen, Emotionen folglich rationalisierend beherrscht werden. Trotz der sie in gewissem Ausmaß unvermeidlich passivierenden, begrenzenden Potenziale ihres Körpers und ihrer sozialen Umgebung zeigt Lydia damit ein aktives Lebensaneignungsverhalten. Das bringt sie z.B. bei ihrer Überlegung zu prophylaktischen Operationen zum Ausdruck, in der sie Eierstockentfernungen befürwortet, Brustamputationen jedoch ablehnt: „Ja also, wo des [das positive BRCA-Testergebnis, A.d.V.] dann klar war, da hann ich dann auch .g’sagt ‚ok, die brauch ich ja nimmer‘ . war 49 . ‚die .Eierstöcke kommet raus‘ . Gebärmutter han i denkt, des isch eh net so schlimm, des kann man besser untersuche?, aber der Arzt hat ebbe g’sagt ‚wenn mer Eierstockkrebs hat, bis mer des! feststellt isch meistens zu spät‘ also .raus damit, aber da hab i e Myom! g’het und da ha i denkt ‚na gut alles raus, fertig‘ . und des isch ja .was, was mer net sieht! […] i hann da [prophylaktische Brustentfernung, A.d.V.] au! mit meim Mann drübber gesproche und hab i g’sagt ‚was meinscht denn du?‘ un secht er ‚ha also, des: . langts mer wenn’s wirklich nötig isch‘ gell? also es isch: scho auch so, dass des was isch was mer sieht un was: auch: net unbedingt . so einfach verheilt“ (FI)

Gefühle von Gefährdung oder Schwäche werden nicht thematisiert und damit gleichsam durch Negation beherrschbar gemacht. Die Gefühle an sich verschwinden jedoch durch dieses abgrenzende Vorgehen nicht, weshalb es unerlässlich erscheint, diese nicht durch Mitleid zu reaktivieren – und damit eine „Kettenreaktion der Schwäche“ zu produzieren, an deren Ende womöglich Krebs steht. Die (familiale) Vermeidung des Krankheitsthemas wird in dieser Lesart zum (sozial eingebetteten) Schutz vor der Krankheit, denn „jeder hat mal irgendwas, aber die eune gehen trotzdem ins G’schäft un die andre, die horchet halt in ihrn Bauch na und sin krank“ (EI). Gleichzeitig erfordern die negierten Gefühle immer wieder neue Beruhigung, weshalb Lydia ständig

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neue Gesundheitstipps ausprobiert: „also ich sag mir immer . ‚schade tut’s auf jeden Fall net‘“ (FI). Dieses Bewältigungsmuster schützt sie nicht nur vor akuten Zusammenbrüchen, sondern baut auch eine Art „Sozialkonto“ auf. Das letztendliche Ziel ist es, ihre latente Angst vor ohnmächtiger Einsamkeit zu beruhigen und das darauf aufbauende Sicherheitsbedürfnis im Hinblick auf eine mögliche Krebserkrankung zu befriedigen. Es entsteht ein Tauschhandel, bei dem herkunftsfamilial z.B. zwischen Lydia und Johanna die Güter emotionale Beherrschtheit gegen Anbindung und damit Kraft gegen Sicherheit ausgetauscht werden. Im Gegensatz dazu verfolgt Anke eine Handlungslogik der Abgrenzung: Wenn sie mit einer Herausforderung konfrontiert wird, die sich potenziell strukturierend auf ihr Leben auswirkt und somit als grenzwertige Situation bezeichnet werden kann, wird das darin enthaltenen „Handlungsangebot“ von ihr anerkennend oder ablehnend bewertet. Diese Bewertung erfolgt gefühlsbasiert, nicht reflektiert. So verabschiedet sie sich bspw. von ihrem vorherigen Frauenarzt, nachdem dieser nach dem BRCAErgebnis mit den üblichen Früherkennungsuntersuchungen fortfahren wollte und im Gegensatz zu Anke der Ansicht war, dass dies ausreichend sei, und begründet die Entscheidung wie folgt: „ich weiß es nicht besser [als der Frauenarzt, A.d.V.], aber ich hab kei gut’s G’fühl mehr und deswege . lassen mir’s eifach“ (EI). Die grenzwertige Situation wird mit einer entsprechenden eigenen Strukturierung beantwortet, d.h. handelnd gestaltet. Es führt i.d.R. entweder zu einem konsequent akzeptierenden Verhalten, wie im Angesicht des positiven BRCA-Test: „ich bin derjenige der sagt, ich hab des Ding, jetzt muss ich es auch durchziehe und gucke, dass ich auch des beschte draus mach“ (EI). Ebenso ist ein sich zurückziehendes Verhalten möglich, wie es bspw. während Johannas erster Krebserkrankung auftrat. Das wird durch eine gerichtete Umdeutung möglicher Einflussfaktoren unterstützt. Das Handlungsmuster kann durch seinen pragmatischen Charakter mögliche traumatische Krisen entschärfen, wird aber ob seiner impliziten „Alles oder Nichts“-Logik als radikal wahrgenommen, obwohl Ambivalenzreste erhalten bleiben. Es handelt sich demnach um ein durch einen äußeren Auslöser hervorgerufenes reaktiv-aktives Bewältigungsverhalten, das dem Erhalt einer bedingten Selbstbestimmung dient. Die Aussage Lisa Schalls „also es verleiht einem unheimlich viel Selbstbewusstsein, des Karate, […] des is wie Bio studieren, des kann nicht jeder! und Karate kann auch net jeder“ verweist wie auch ihre Lesart des biomedizinischen Deutungsmusters als Kontrollaufforderung auf Lisas grundsätzliche proaktive Leistungsorientierung, mit der sie versucht, Situationen selbständig zu gestalten, um keiner Form von Ohnmacht ausgeliefert zu sein. Selbsterziehungsprogramme gegen ein mögliches Leiden bspw. am Kranksein oder an eigenen Grenzen wie ihrer Prüfungsangst verweisen auf den Versuch, nicht durch „falsche“ Emotionen behindert zu werden: „ich hab halt voll Angst vor .Prüfungen und so und wenn ich dann da steh und so zitter, des isch halt blöde [lacht auf] also- ja, ich hab schon Angscht vor- ich hab halt Angscht vor Angscht hab ich […] also es hält mich net ab, gerade deswegen würd ich’s dann machen“ (EI).

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Ihrem Handeln liegt damit eine Handlungslogik der rational gesteuerten Kontrolle mittels (Wett-)Kampf zu Grunde. Als Gesundheitsleistung soll diese Logik Krankheit auf Abstand halten und wirkt somit auch distanzierend bzw. im Ernstfall eine krankheitsbedingte „Passivierung“ abwendend. Insofern stellt das Handlungsmuster eine Art Vorwärtsverteidigung dar, dem die Überzeugung zu Grunde liegt: „ich glaub daran, dass „mer bis zu einem gewissen Grad durch öh, seine Psyche seinen Körper schon im Griff hat“ (EI). Großmutter Johanna besitzt eine passiv-aktive, aushaltende Handlungslogik, die sich in ihrem Umgang mit der Krebskrise ausdrückt. Dieser ist für die Familie als Ganzes wegweisend und wird daher ausführlich im nächsten Abschnitt geschildert.

6.3 D IE G ESUNDHEITSREGELN DER K REBSMATRIARCHIN UND DAS BINDENDE D EUTUNGSWISSEN (C1) 6.3.1

Regeln in der gesundheitserhaltenden und gesundheitsrekonstruierenden Familie

Wie schon in der Diskussion der Familienrepräsentanz deutlich wurde, stellt die Dynamik der Fokusverschiebung zwischen Karl-Herbert und Johanna eine wesentliche Einflussgröße für die Familienstruktur dar. Das ist in ähnlichem Ausmaß auch für die Handlungsebene anzunehmen9, auf der Karl-Herbert als gesundheitliches Negativbeispiel gilt (vgl. Abschnitt zur starren Wirklichkeitskonstruktion), während Johanna aufgrund ihrer „Krebskarriere“ zu einer Art Gesundheitsikone avancierte, da sie im Gegensatz zu allen anderen Krebskranken der Familie den Krebs erfolgt bekämpft und überlebt hat. Beider im Folgenden vorgestelltes Gesundheitshandeln hat damit gerade aufgrund des Kontrastes zwischen den beiden positiv bzw. negativ konnotierten Strategien die Handlungsanforderungen des gesundheitlichen Passings der Familie geprägt und verweist zugleich auf die bereits erwähnte „Alles oder Nichts“-Regel, die die grundsätzliche Verhaltensorientierung der Familienmitglieder charakterisiert.10 Karl-Herbert Schumacher: Gesundheitsfeindbild Karl-Herbert ist der überlebende Erbe und damit Stammhalter. Bei Johannas Unterleibskrebserkrankung 1975 fordert er Lydia und Anke zur Übernahme seines Haushalts auf, da er vom baldigen Tod seiner Frau ausgeht. Während der Brustkrebserkrankung 1985 erzählt er in der Nachbarschaft von ihrer Brustamputation und erwähnt Johanna gegenüber, dass sie mit der einen Brust keine richtige Frau mehr sei.

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Handlung und Struktur spiegeln sich als gegenseitiger Verweisungszusammenhang, da die Strukturebene auf der Handlungsebene erfahrbar wird, deren Rahmung und Ausbildung sie bestimmt. 10 Die folgenden Ausführungen beruhen primär auf dem Gesundheitsgenogramm, das jedoch aus Platzgründen nicht in Gänze vorgestellt werden kann.

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Andererseits fordert er sie auf, sich auch weiterhin vor ihm umzuziehen. 1990 erleidet Karl-Herbert einen ersten Schlaganfall, dem 2007 ein zweiter folgt. Er hat darüber hinaus Alters-Diabetes und neue Kniegelenke. Er wird innerfamiliär als „gerne krank“, d.h. häufig klagend und über seine Krankheiten sprechend beschrieben. Sein Bewegungs- und Essverhalten gilt zudem als ungesund, so dass seine Beschwerden als selbstverschuldet und daher nicht als echte Krankheiten eingeordnet werden. Mit dem Unfalltod des Bruders rückt Karl-Herbert auf die Position des „auserwählten Stammhalters“, dessen Überleben den alten „Familienfluch“ bestätigt und fortsetzt. Seine diesbezügliche Funktion ist die der Sicherung des Familien- und damit Besitzerhalts, welche durch seine Person garantiert werden. Diese Position ist gerade vor dem Hintergrund bäuerlicher Prioritäten eine extrem wichtige, wobei es sich jedoch eben nicht um eine erarbeitete und verdiente, sondern eine durch Schicksal zugewiesene Position handelt. Der Karl-Herbert damit traditionsgemäß zuerkannte patriarchale Machtanspruch ist folglich von vornherein durch den „Schatten der Vorsehung“ verdunkelt, wird aber gleichzeitig durch den „männlichen Fluch“ auch unterstrichen. Diese Situation bedingt einen paradoxen Handlungseinfluss, der eine Passivierung auf der Ebene der eigenen Körperlichkeit kombiniert mit der Aktivierung eines autoritären Bestimmungsanspruchs über „sein Familienpersonal“, das auf ihn als „Familienreferenz“ ausgerichtet zu sein hat. Er besitzt mit anderen Worten ein Bestimmungsrecht über die Körper der anderen, aber nicht über den eigenen und damit eine Macht, die auf Ohnmacht gründet. Beides macht sich auf der Gesundheitsebene bemerkbar. Karl-Herberts angenommenes Bestimmungsrecht über die Körper anderer wird v.a. im Rahmen der Brustkrebserkrankung seiner Frau deutlich, wo er ihren Zustand auf unterschiedlichen Bühnen veröffentlicht. Seine Handlungsweise folgt offenbar einer Logik der öffentlichen Behandlung von funktional verstandenen Körpern. In dieser Perspektive werden Körper aufgrund fehlender Intimsphäre als öffentliches Gut verhandelt (Erzählungen gegenüber der Nachbarschaft), deren Funktionalität in dieser Arena diskutierbar ist und sich bspw. in ihrer Vollständigkeit äußert. KarlHerberts Bemerkung zu Johannas Weiblichkeit wird damit zur bloßen Feststellung des Zustandes eines Körpers als „Werkzeug“, der aufgrund dessen instrumentellen Charakters auch nicht verheimlicht werden muss (Auszieh-Aufforderung). Diese Lesart wäre eine direkte Anwendung bäuerlicher Logik, die einen instrumentellfunktionalen Körperansatz mit fehlender Intimsphäre kombiniert. Das kommt ebenfalls in der Lydia betreffenden Rückrufaktion im Rahmen von Johannas Unterleibskrebs zum Ausdruck, mit der sich Karl-Herbert bereitwillig von Johanna abwendet und eine instrumentelle, wenig emotionale Gattenwahl erkennen lässt. Gleichzeitig stellen die Krebserkrankungen seiner Frau eine Herausforderung seiner traditionellen männlichen Macht dar, da sie durch die auf Johanna zielenden regenerativen Maßnahmen die tatsächliche Sonnensystem-artige Familienstruktur enthüllen und darüber hinaus im Rahmen eines neuen, diesmal „weiblichen Familienfluchs“ der Lepperles auftauchen, der das Primat des alten väterlichen „Familienfluchs“ der Schumachers in Frage stellt. Seine Frau wird hier als weitere Überlebende einer Familienkatastrophe zur Konkurrenz im eigenen Haus. Insofern besitzt KarlHerberts Veröffentlichungsstrategie zumindest auch Untertöne einer Machtprobe, in deren Rahmen er versucht, seine Frau mittels Bloßstellung wieder in die gewohnte

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Familienstruktur ein- und damit unterzuordnen, sowie die eigene Versorgung durch seine Töchter als weibliche Familienmitglieder und damit seine angestammte Position als Mann zu sichern. Diese verborgene Konkurrenzsituation behandelt letztlich die Frage, welches der Elternteile als wichtiger für den Erhalt der Familie angesehen wird. Sie wird – gemäß der Familienstruktur – durch die Töchter zugunsten der Mutter entschieden, womit eine Wertung des väterlichen Verhaltens als abzulehnender Egoismus einhergeht, den bspw. Anke als Sicherung seiner „Bequemlichkeit“ (FI) beschreibt. Für Karl-Herbert bedeutet dieses, dass hiermit ein Verlust an „Männlichkeit“ und sozialer Einbindung einhergeht, der das familiale Umfeld, ggf. auch die soziale Einbindung in die Dorfgemeinschaft, betrifft und als Ohnmachtserfahrung und Kränkung zu verstehen ist. Diesen Status- und Anbindungsverlust versucht er bis zum heutigen Tag (2007) unter Rückgriff auf die eigenen schwindenden Körperkräfte wieder wettzumachen, die er – wie auch Johannas Krebs und den Unfalltod des Bruders – als körperliche Widerfahrnisse einordnet. Entsprechend ohnmächtig-unbewusst und passiv erlebt und verhält er sich in Bezug auf den eigenen Körper, was sich darin spiegelt, dass alle von ihm entwickelten Erkrankungen typische Alterserkrankungen darstellen, die aufgrund ihres massierten Auftretens nicht für einen kontrollierten Körperumgang sprechen, sondern eher dafür, dass er seine Verbitterung ob der erfahrenen Kränkungen in sich „hineinfrisst“, was dann wiederum z.B. zur Entstehung von als „Fressund Saufzucker“ (Lydia FI) adressiertem Diabetes geführt haben könnte. Das wird im Familieninterview folgendermaßen präsentiert: „F: „aber sie informieren sich schon! drüber, was das is: öh, wer was hat oder: ? Ly: nee . also Krankheit, des is . isch ja keuner krank außer mei Vatter [lauter, abwertend] un des, was der hat, des isch- [Lisa lacht laut auf] des hat er sich nag’fresse, > des isch eufach . >J: ja [lacht] wenn der .g’sund! .lebe! tät, na hätt er des alles net, na hätt er keun .Fress- un Saufzucker, na hätte er keun Bluthochdruck, wenn er sich bewege tät, na däte dem au seine Knie! net so weh, aber er .bewegt sich halt nimmer un er isst! gern, un er isst viel!, un/ A: un er isst falsch Ly [leiser]: un des au no . > ja >Li: un dr/ deswegen isch er net krank, weil der is selber schuld! Ly: er hat sich .krank .gesse [einzelne Wörter betonend] A: der hat von mir ma e Buch kriegt ‚der kleine Hypochonder‘ na hatt er g’m ‚ja!, des hätte er auch‘ [alle lachen]“ (FI)

Karl-Herberts Verhalten deutet folglich deutlich auf eine instrumentell-funktionale Deutungsweise des Körpers hin, die dadurch zum Ausdruck zu kommen scheint, dass der Körper unbeachtet bleibt und als gegeben betrachtet wird, so lange er funktioniert. In dem Moment, in dem Karl-Herbert allerdings körperliche Probleme entwickelt, wird der Körper offenbar wieder thematisiert. Das unterstützt zum einen die Annahme einer Körperveröffentlichungslogik, da er genauso seine Körperprobleme äußert, wie er das auch mit Johannas getan hat. Zum anderen verweist es jedoch eben auch auf eine weitere Funktion des Körpers als Mittel zur Erzielung von Aufmerksamkeit und Wichtigkeit, d.h. Statusgewinn und Anteilnahme. Sein eigenes Leiden erscheint daher einerseits resignativ-ohnmächtig, andererseits fast trotzig aufmerk-

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samkeitsheischend, was sich mit der ihm entgegengebrachten Ablehnung zu einem Regelkreis entwickelt haben dürfte: Je mehr Aufmerksamkeit Karl-Herbert für seine diversen Gesundheitsprobleme fordert, desto stärker wird der familiale Eindruck, er wolle nur Mitleid erheischen, die Familie buchstäblich in Mitleidenschaft ziehen, was zu seiner Ablehnung durch Nichtbeachtung beiträgt, die wiederum dazu führt, dass er nur noch stärker auf seine Probleme hinweist usw. Die familiale Haltung beschreibt Lydia: „mei Vatter tät des [Gesundheitsprobleme thematisieren, A.d.V.] scho gern, aber des wille mer ja alles net wisse“ (FI). Damit wird die im Abschnitt zur Wirklichkeitskonstruktion beschriebene stigmatisierende familiale Projektion und Delegation verfestigt, dass Karl-Herbert gesundheitliche persona non grata ist und dadurch die anderen zu „grundsätzlich Gesunden“ macht. Die Familie definiert dadurch ihre Gesundheitsleitlinien – und zwar negativ, was wiederum der einzelnen Person einen größeren persönlichen Freiraum zur positiven Gestaltung lässt. In diesem Sinne ist es absolut inakzeptabel, die folgenden „Gesundheitsregeln“ zu befolgen: •







Da der Körperzustand schicksalhaft gegeben ist, macht gesundheitsbewusste Körperkontrolle keinen Sinn. Es besteht ein instrumentell-ohnmächtiges Verständnis vom Körper als hinzunehmendes, unkontrollierbares „Übel“ (passiver Kontrollverlust). Im Gegensatz dazu ist es völlig unproblematisch, den Körper und seine „Wehwehchen“ als Gesprächsgegenstand im sozialen Kontext innerhalb und außerhalb der Familie zu verhandeln (Veröffentlichungsstrategie). Es ist zulässig, die Aufmerksamkeit auf gesundheitliche Probleme und den daraus resultierenden Leidenszustand zu richten, um Anteilnahme zu erzielen (offensichtliches Leiden und öffentliche Anerkennung). Selbsterhalt gilt als Priorität, auch im Sinne des Familienerhalts. Somit ist ein Statusgewinn durch Krankheitskonkurrenz zulässig (Egoismus).

Johanna Schumacher: Gesundheitsikone Johanna erkrankt nach der ersten Krebserkrankung der Mutter († ca. 1979) in den 1960ern sowie der letalen Erkrankung der älteren Schwester Karin 1973-1975 im letztgenannten Jahr selbst im Alter von 39 Jahren an Unterleibskrebs. Dieser wird im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung festgestellt. Johanna kommt am nächsten Tag ins Krankenhaus, wo Gebärmutter und Eierstöcke entfernt werden. Obwohl ihr Mann Karl-Herbert sie bereits als letal erkrankt betrachtet und „abgeschrieben“ hat, gesundet Johanna wieder. 1980 erkrankt die jüngere Schwester Elfriede und stirbt innerhalb eines Jahres an Gebärmutterkrebs. Johanna übernimmt zeitweise Pflegeaufgaben. 1985 wird bei Johanna Brustkrebs festgestellt. Die betreffende Brust wird entfernt. Die nachbarlichen Nachfragen nach einer Veröffentlichung ihres Zustands durch Karl-Herbert muss Johanna aushalten. Ihre Tochter Lydia versucht, die Mutter zusammen mit Teilen ihrer Geschwister schnellstmöglich wieder zu reaktivieren, indem sie sie wochenweise zu Hause bei ihren dortigen Haushalts- und Betreuungsaufgaben unterstützen. In der zugehörigen Rehabilitationsmaßnahme wird Johanna vermittelt, dass Nein-Sagen zu Forderungen anderer Krebs verhindert. Johanna verwirft

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dieses Deutungsmuster, da ihr die Wünsche ihrer Kinder wichtiger sind. Ihre Tochter Lydia attestiert ihr, dass Johanna nicht jammert, sondern kämpft und nie ganz aufgegeben hat. 1997 bricht bei Johanna schließlich die dritte und letzte Krebserkrankung, ein Hautkrebs an der Nase, aus. Aktuell (2007) versucht Johanna, keine VorsorgeMaßnahmen mehr zu besuchen, da sie laut Anke (EI) „ihr Leben gelebt“ hätte. Ihre Kinder Lydia und Anke hingegen achten nun darauf und versuchen, die Mutter zum Vorsorgebesuch zu motivieren. Darüber hinaus hat das positive BRCA-Testergebnis bei Johanna Schuldgefühle hervorgerufen. Sowohl der Umgang mit der eigenen als auch den Krebserkrankungen ihrer Verwandten verweist auf das Handlungsmuster des Aushaltens als Johannas primärer Bewältigungsstrategie, die offensichtlich besonders dann greift, wenn Situationen als in einem extrem beschleunigten Zeitrahmen ablaufend erlebt werden. Die Strategie beinhaltet zwei Handlungsanforderungen: Zum einen verweist Johannas Aushalten auf eine primär pragmatische Orientierung, bei der getan wird, was getan werden muss, ohne diese Aktivität durch Reflexionen oder Gefühle zu behindern. Dieser Ansatz zeigt sich sowohl im Umgang mit sterbenden Familienmitgliedern, als auch darin, dass Johanna nie aufgibt oder jammert, was sich im Hinblick auf ihre Diagnosen auch im Familieninterview spiegelt: „J: i bin zur V!orsorge gange un-un na hat er g’sagt ‚dr andre Tag ins Krankehaus‘ . F: mhm, das war .die Unterleibsgeschichte, ge? J: ja . und Bruscht .war 10 Jahr später F: ja . und dann sind sie operiert worden .oder .was ist da >gemacht worden? >J: jawohl, natürlich, ha- .v-raus .alles, Gebärmutter raus, Eierstöck . Bruscht weg“ (FI)

Johannas (scheinbar) emotionsloser Pragmatismus dürfte hingegen nicht nur der Reduktion einer Aktivitätsbehinderung, sondern möglicherweise auch einer Gefühlsambivalenz geschuldet sein, die sich aus der Situation der überlebenden familiären Gesundheitsikone ableitet: Die Erleichterung über das Nicht-Betroffensein von Tod dürfte an eine Art survivor guilt gekoppelt sein, die sich v.a. in ihren Schuldgefühle gegenüber der nächsten und übernächsten Generation spiegelt, an die sie die familiäre BRCA-Variante weitergegeben hat. In dieser Logik hat sie sozusagen auf Kosten der Familie überlebt, so dass es weniger gefährlich erscheinen mag, möglichst keine und damit auch keine unpassenden Emotionen zu haben und die Familie nicht vor den Kopf zu stoßen. Hier deutet sich bereits das bei Johanna deutliche Primat der Familie gegenüber dem Individuum an. Das Bewältigungsmuster des Aushaltens ist zum anderen mit der Handlungsanforderung der Folgsamkeit verbunden, die Johanna gegenüber beiden Institutionen an den Tag legt, die ihr Überleben sichern: dem Medizinsystem mit seinen radikalen kurativen und rehabilitierenden Angeboten sowie der Familie mit ihrer reaktivierenden Interventionsstrategie. Bezüglich medizinischer Angebote hat Johanna vermutlich keine andere Wahl gehabt, als entweder die Mitarbeit zu verweigern – was durch die Krebsfälle in der Familie verunmöglicht wurde – oder eben im Rahmen ihrer Möglichkeiten „mitzuspielen“, d.h. durchzuhalten. Diese Alternativlosigkeit dürfte zu einem Erleben der Situation beigetragen haben, das gekennzeichnet war von Ohnmacht, Passivität, mit

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der extrem beschleunigend wirkenden Diagnose verbundene Gefühle der Überforderung sowie ggf. Angst aufgrund der Erfahrungen mit Mutter und Schwester. Insofern ist Johannas pragmatische Art der Krisenbewältigung vermutlich eben dieser Alternativlosigkeit geschuldet, in der Nachdenken oder Reden im Gegensatz zu Mitmachen keine Optionen sind oder gar neue Wege zu eröffnen scheinen. Das Bewältigungsmuster des folgsamen Aushaltens bewährt sich durch ihre jeweilige Gesundung bei allen Krebserkrankungen und festigt sich somit. Im Gegensatz zu diesem eher ohnmächtigen Pragmatismus im Rahmen des medizinischen Systems steht die aktivhandelnde Krisenbewältigung, die in der familiär als „Reaktivierung“ organisierten Rekonvaleszenz zur Anwendung kommt. Aber auch diese scheint alternativlos und erfordert somit Folgsamkeit von Johanna. Die Reaktivierung repräsentiert noch ein weiteres Handlungsmuster Johannas: Gesundheit bzw. Gesundung ist eine aktiv herstellbare Leistung, die stark mit persönlichen, familial eingebundenen Nützlichkeitserfahrungen zusammenhängt. Indem sich Johanna nach der Brustkrebsoperation von ihrer Tochter Lydia aus dem Bett holen, aktivieren und von dieser gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern bei der Erfüllung von Haushalts- und Betreuungsaufgaben unterstützen statt ersetzen lässt, hat sie das Muster der aktiv-handelnden, nicht verbalisierenden Bewältigung einer gesundheitlichen Herausforderung im Rahmen des Familienalltags als zentral für ihr Gesundheitshandeln implementiert, was durch den Erfolg der Strategie verstärkt wird. Auch mit ihrer Vorsorge zeigt Johanna ein gesundheitsverantwortliches Verhalten, das vermutlich durch die anderen Krebsfälle, d.h. familiär inspiriert wurde und – obschon individuell ausgeführt – ein gesamtfamiliär gültiges Konzept repräsentiert. Die „erfolgreiche“ Entdeckung des Unterleibskrebses bestätigt erneut die Chance einer aktiven Gesundheitssicherung, in diesem Fall durch „Vorbeugung“ im Sinne einer rechtzeitigen, d.h. noch im heilbaren Stadium geschehenden Krankheitsentdeckung, die damit als Vorsorge gegenüber der Letalität der Erkrankung zu verstehen ist. Die Schilderung der recht bewussten Abkehr vom Nein-Sagen und dem sich dahinter verbergenden individualverantwortlichen Deutungsmuster der Krebspersönlichkeit belegt, dass neben dem akuten, alternativlosen Pragmatismus durchaus die Möglichkeit der Reflexion sowie des stillen Widerstands anstelle der bislang demonstrierten Folgsamkeit besteht, wenn ein entsprechender Handlungsraum existiert: „J: do! in jedre Reha! isch g’sagt worre öh . mir muss ‚nein‘ sage! lerne . un-und ‚Leit, wo net nein-sage kennet, die- die tätet Krebs kriege‘ henn die domals g’sagt F: und was hamm se .davon gehalten? . J: i hann überlegt un hann denkt ‚i s- i sag nie nei-‘ i sag au heut! net neu, wenn irgendeus von meine Kindre ebbes secht un .es (1?) mer net so nei, das fällt mir ganz schwer! neu zum sage . also i bring des eufach net, no i will’s halt .immer jedre Recht mache“ (FI)

Dieser stille Widerstand ist ebenfalls in Johannas Verhalten während des Familieninterviews spürbar, zu dessen Anfang sie bekundet: „i-i-i will bloß zuhöre!“. Der Bezug auf ihre Kinder als Verweisungszusammenhang belegt dabei eine weitere Handlungsrichtlinie Johannas: Anstelle des Individualverantwortung fokussierenden medizinischen Angebotes setzt sie auf familiale Einbindung und Reziprozität.

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Dadurch tritt sie zwar scheinbar zurück, tatsächlich entsteht jedoch eine Ambivalenz in der Johannas Wichtigkeit gerade durch die Familie gefördert und belegt wird, zu deren Gunsten sie zurücksteckt. Es entsteht das Wechselspiel einer persönlichen Bedeutung in Beziehung, die handelnd vermittelt wird. Johannas eigene Familienpriorität führt zu einer familiären Priorität Johannas (was sich in dem bereits geschilderten Bild von der Familie als um Johanna kreisendes Sonnensystem spiegelt). Diese wird zum Selbstläufer und hört auch dann nicht auf, wenn Johanna familiären Handlungsmustern nicht mehr folgen möchte (siehe Vorsorgebesuche in der Gegenwart). Insofern ist die Einbindung „total“ und der Körper einem familialen Zugriff und einer familialen Obrigkeit unterstellt. Johannas „Körperruhestand“ als „Ruhe vom Familienkörper“, der hinter „Vorsorgestopp“ und „gelebtem Leben“ zu stehen scheint, wird von der Familie nicht akzeptiert, deren Einfluss sich offenbar aufgrund des positiven Gentestergebnisses noch vergrößert hat. Familiale Gesundheit wird hier „genetisch verstärkt“ als „unwiderstehliches“ Lebensthema erkennbar, womit letztlich die Lebensführungsrelevanz des familialen Gesundheitsthemas chronifiziert wird. Die unterstützende Familie kann folglich leicht zur fordernden Familie werden, bleibt aber immer zentral für das Individualverhalten. Diese familialen Veröffentlichungen von Krankheits- oder Körperinformationen ermöglichen folglich den Zugriff der Familie auf den individuellen Körper, werden aber i.d.R. von Johanna als gerechtfertigt erlebt, da Individuen im Dienst der Familie stehen. Das bildet einen Gegensatz zum nachbarschaftlichen „Zwangsouting“ durch Karl-Herbert, dessen außerfamiliale Informationsverbreitung als verletzend gilt, da dieses Wissen den geschützten Raum der familialen Intimsphäre nicht hätte verlassen sollen. Die Verletzung ist hierbei eine doppelte: zum einen durch den Vertrauensbruch Karl-Herberts, zum anderen durch die „Betroffenheit“ zeigende, als invasiv erlebte Nachbarschaft. Gesundheitliche Informationen sind als höchstvertraulich einzustufen und gewissenhaft nach zugehörigen, potenziell invasiven „Berechtigungssphären“ zu sortieren. Hierbei ist ein Muster erkennbar, nachdem biologische Verwandtschaft und damit von der jüngsten Generation11 aus betrachtet die Herkunftsfamilie am ehesten vertrauenswürdig und hilfreich einzuschätzen ist. Aus diesen Ausführungen lassen sich Gesundheitsregeln destillieren, denen aufgrund der Verkörperung durch die Figur Johannas als Gesundheitsikone eine positive Bedeutung zukommt. •

• •

Gesundheitliche Herausforderungen müssen emotional ausgehalten und pragmatisch durchgestanden werden. Dazu ist zu tun, was getan werden muss, ohne darüber (laut) nachzudenken oder behindernde Gefühle zuzulassen (Pragmatismus und „Leidenschaftslosigkeit“). Gesundheit und Gesundung sind verpflichtend aktiv herzustellende Leistungen (Leistungsorientierung und -pflicht). Gesundheit ist dabei eine individuell zu erbringende Leistung, die jedoch familial durch solidarische und reziproke Unterstützung eingebunden ist (Familiensolidarität und -reziprozität).

11 In der Krebsperiode sind dies v.a. Johannas Kinder, die sich als unterstützend erweisen.

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Gesundheitsinformationen sollen den Kreis der vertrauenswürdigen und hilfreichen biologischen Verwandtschaft bzw. Herkunftsfamilie nicht verlassen (Veröffentlichungsrestriktion). Der entsprechend hilfreichen Institution Familie, aber auch dem Medizinsystem ist Folge zu leisten. Sie bestimmen über das Individuum in akuten, als alternativlos erlebten Situationen (Folgsamkeit). Es besteht jedoch die Möglichkeit der Reflexion und des daraus erwachsenden stillen Widerstandes, wenn die Priorität der Familienorientierung in Gefahr gerät. Das betont die Familie als auch in Bedrängnis funktionalem (Über-)Lebensraum gegenüber dem familialen Außen.

Fazit Im Vergleich erweisen sich Johanna und Karl-Herbert als direkte „gesundheitliche Antagonist_innen“, deren Verhalten in der Familienerzählung als gegensätzlich konstruiert wird, so dass der Eindruck einer Art „aufgeteilten Intergenerationenambivalenz“ entsteht, die zu dieser positiven oder negativen Vereindeutlichung führt. So wird letztlich ein impliziter familialer Gesundheitsverhaltenscodex mit Geboten (Johannas Regeln) und Verboten (Karl-Herberts Regeln) gebildet, mit dem der Krebsherausforderung in der Familie begegnet wird. Tabelle 3: Vergleich von Johannas und Karl-Herberts Gesundheitsverhalten Gesundheitsikone Johanna: vorbildliches Verhalten

Leistungsorientierung und -pflicht: folgsamer Pragmatismus & „Leidenschaftslosigkeit“ Veröffentlichungsverbot, allenfalls stiller Widerstand altruistische Familiensolidarität & Familienreziprozität

Gesundheitsfeindbild Karl-Herbert: abgelehntes Verhalten

passiver Kontrollverlust, offensichtliches Leiden Veröffentlichungsgebot, Chance zu öffentlicher Anerkennung und Anteilnahme Egoismus

Die Schall-Brauses bilden mithin eine aktiv-pragmatische Umgangsweise mit dem Krebs aus, die eine möglichst unbelastet wirkende öffentliche Präsentation einschließt. Gesundheit und Gesundung werden so zu familial gestützten individuellen Leistungen, die aber nicht selbstbezüglich zu realisieren sind. Insofern ist es die Herkunfts- bzw. biologisch verbundene Familie, nicht die Einzelperson, der die Erhaltungsorientierung gilt, wodurch gerade die Krebskrise Johanns zur normativen Familienkrise wird. Die Gesundheitsregeln beschreiben als Passing-Aufgabe eine familiale Verpflichtung, die als Familien-Compliance12 bezeichnet werden kann.

12 „Unter dem Begriff ‚Compliance‘ versteht man den Grad, in dem das Verhalten einer Person in Bezug auf die Einnahme eines Medikamentes, das Befolgen einer Diät oder die Veränderung des Lebensstils mit dem ärztlichen oder gesundheitlichen Rat korrespondiert.“ (Haynes 1986: 12) Familiale und weniger strikte medizinische Compliance ergänzen sich.

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In den Handlungsgeboten und -verboten findet sich zudem eine klare Kontinuität der milieuabhängigen transgenerationalen Handlungsressourcen der Leistungsorientierung, der Reziprozität sowie des Funktionalitäts- statt Emotionalitätsfokus als Referenzrahmen der aktivitätsorientierten Gesundheitsherstellung. Zusätzlich vereinigt sich die aus der Realteilungslandwirtschaft bekannte Mentalität der „lebenspraktische[n] Autonomie“ (Bohler & Hildenbrand 2006: 238) mit dem nach Rosenbaum (1982) eher bürgerlichen Verständnis der Familie als intimem Rückzugsort zu einem auf Repräsentierbarkeit ausgelegten Umgang mit der Öffentlichkeit. Leistung und Präsentation als Strukturgesetzlichkeiten des Gesundheitsumgangs der SchallBrauses sind folglich beide maßgeblich durch das Herkunftsmilieu beeinflusst. 6.3.2

Das familiale Deutungswissen als Interventionssteuerung

Die Schall-Brauses verfügen als aktivitätsorientierte Familie nur über eher vage gemeinsame Deutungsmuster, deren Musterhaftigkeit auf die Erfassung von Gesundheitsgefährdungen und daraus erwachsenden Interventionsnotwendigkeiten ausgerichtet ist, ohne Erkrankungserklärungen zu bieten. Dem Medizinsystem kommt in diesem Szenario die Aufgabe eines Dienstleistungsunternehmens ohne echte familieninterne Deutungshoheit zu, dessen biomedizinisches Deutungsmuster lediglich im Rahmen von Überwachung, Gefährdungsvermittlung und „Reparatur“ in Anspruch oder auch in Kauf genommen wird. Herkunftsfamilie Johannas Reaktivierung im Rahmen der Krebserkrankung deutet auf eine Parallelität zwischen Körperlichkeit und Familie hin, die auf beider Erhalt zugleich ausgerichtet ist. Hierbei gilt es, den Raum zu verhandeln, den die Familie einnehmen darf, damit die individuelle wie auch familiale Gesundheit erhalten bleibt. Krebs fungiert hierbei als einschränkender „Familienagent“. Herkunftsfamilie und Krebs werden folglich ebenfalls als parallel, fast gleichgesetzt wahrgenommen, da beiden eine kombinierte und darin zunehmend handlungsbestimmende Bedeutung zukommt. Diese Parallelität spiegelt sich u.a. in der bereits zitierten Annäherungsgeschichte, in der Lydia berichtet, wie „des denn uffkomme [isch] mitm Krebs“ (FI). Allerdings gilt es, deren Einflusssphäre bspw. durch Raumzuschreibungen einzuschränken, wie sie in Lydias Überlegungen auftreten, bei denen sie abwägt, ob sie bei einem zu Hause bemerkten Krebs aktiv werden oder sich sagen würde, sie mache sich „noch eine gute Zeit“, während sie bei einem im HBOC-Zentrum entdeckten klar eine Operation durchführen ließe. Hierin kann ein Verweis auf das letztlich entscheidende Ringen um Selbstversus Fremdbestimmung gesehen werden, das sich auch in die maternal-familialen Krankheitsregeln eingeschrieben hat. Die Herkunftsfamilie wird somit für die Einzelne zu einem ambivalenten (Über-) Lebensraum in Krisenzeiten, der durch ein verpflichtendes Regelwerk gleichzeitig Handlungsräume verschließt und eröffnet. So kann u.a. eine Gegenrealität in Form einer Wahlfamilie aufgebaut werden, welche die Einflusssphäre der Herkunftsfamilie einschränkt.

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Gesundheit und Krebs Gesundheit steht im Zentrum individueller wie kollektiver Mühen und wird instrumentell als Voraussetzung eines – im Laufe der Generationenfolge zunehmend selbstbestimmt erlebten – Lebens der einzelnen, aber auch der Familie verstanden. Gesundheitserhalt ist demnach Lebenserhalt, hinter dem der Familienerhalt als Motiv erkennbar wird. Das verweist erneut auf den allumfassenden Lebenseinfluss des Themas, der sich auch im zugehörigen Gegensatzpaar zeigt, das Gesundheit und Tod, nicht Gesundheit und Krankheit lautet. „F: Gesundheit, was fällt ihnen dazu ein? A: . schmerzfrei leben, alles tun können, was man möchte, bewusst leben, nicht krank sein, nicht eingeschränkt […] F: Was würde passieren, wenn sie nicht gesund wären? A: Mein Mann war ja- hatte en Herzinfarkt g’habt und: war ja tot und das ist das Gegenteil von nicht gesund . also tot oder krank und das isch: wär-wär nicht gut“ (EI)

Mit Blick auf Johannas Geschichte sowie die familialen Gesundheitsregeln ist Gesundheit insofern noch auf eine weitere Art mit dem Element des Sozialen verbunden, als dass eine soziale Einbindung in die Familie wohl als „Lebensgrundlage“ gilt. Damit wird letztlich eine doppelte Gesundheitsanstrengung wahrscheinlich, die sowohl den eigenen Lebensstil als auch die familiale Beziehungspflege inkludiert und „freiwillige“ Gefährdungssuche und Intervention als pflichtgemäße (schein-)individuelle Priorität fixiert. Aufgrund seiner Parallele zur Familie kann Krebs als Krankheit unter Rückgriff auf die Ausführungen zu Karl-Herbert im Abschnitt zur Wirklichkeitskonstruktion beschrieben werden als zeitlich und lokal begrenzte Funktionseinschränkung sowohl der Einzelnen als auch der Familie, hinter der eine Erhaltsbedrohung lauert. Dieses Deutungsfeld zeigt sich in der Spannung zwischen der Aussage „wenn was isch! […] na kommt des raus und .fertig“ und „mir sin zwei Tante g’storbe mit 40, ge? un:- un da hat mer dann natürlich scho äh .immer da nachguckt“ (beide Lydia, FI). Krankheiten treten schicksalhaft auf, müssen jedoch in beiden Fällen eigenverantwortlich beseitigt werden, d.h. sie verläuft als familiäres Unterstützungsprojekt für ihre einzelnen Mitglieder, die jedoch eine „Grundaktivität“ zeigen müssen (s. Vergleich zwischen Johanna und Karl-Herbert). Hierin besteht die Nichthintergehbarkeit von Krebs und Familie als für die Einzelne relevante Akteur_innen. Darüber hinaus existiert eine weitere Parallele zwischen sozialen und körperlichen Räumen13, in der sich erneut die abgrenzungsbezogene Dimension der Veröffentlichung zeigt. Das Innere des Körpers, aber auch der Familie wird im Gegensatz zum Äußeren als durch den Krebs gefährdeter betrachtet, was sowohl auf das Übergriffige des Systems als auch auf das Invasive des Krebses als potenzieller Zerstörung des (Familien-)Körpers von innen heraus verweist – man merkt laut Lisa „wie einen das [Ärger, A.d.V.] zerfrischt“ (FI). Diese Sichtweise betont die Notwendigkeit eines kontrollierenden Einflusses, der dem potenziell Selbstzerstörerischen des Kreb-

13 Anke folgt dem als Einzige nur bedingt und wird in der Familie als Ausnahme konstruiert.

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ses entgegen wirkt. Daraus resultiert auf jeden Fall eine belastende Fremdbestimmung, entweder durch eine manifeste Krankheit oder Krankheitskontrolle, welche im Grunde die Erkrankung vorwegnimmt, indem die individuelle Entfaltung bereits „vorsorglich“ vor Krankheitsausbruch reduziert wird. Spezielle Bedeutung kommt daher der Oberfläche zu, die als Repräsentant des Inneren gilt: Ist sie vorzeigbar, ist auch das Innere in Ordnung. Das gilt gleichermaßen für die visuelle wie soziale Performance und belegt die Wichtigkeit der Präsentationsleistung. Individuelle erklärende Deutungsmuster von Krebs Das Verhältnis des Sozialen und Körperlichen spiegelt sich auf unterschiedliche, je typische Art in den individuellen Deutungsmustern, die alle innerhalb der Familie bekannt sind. Johanna erlebt Krebs als dringliches, gleichsam beschleunigendes und schicksalhaftes Ereignis, das den Alltag durchbricht und sie von einem auf den „andre Tag ins Krankehaus“ (FI) bringt. Diesem ist sie genauso ohnmächtig ausgeliefert wie den nachfolgenden medizinischen Maßnahmen, so dass sie nur noch im passivaushaltenden Sinne handlungsfähig ist. Dieses ohnmächtige Ausgeliefertsein ist das größtmögliche Unglück und damit das eigentliche Krebsleiden: „Ly: also so-so-e so Leidenszeit, wie jetzt meine Mutter ihre jüngere Schweschter- .die isch a Johr lang g’storbe, des isch furchtbar J: und hat’s g’wiesst“ (FI)

Im Gegensatz dazu kann sich Johanna während der als Reaktivierung konzipierten familialen Rekonvaleszenz wieder als eigenmächtig erleben und legt in dieser Zeit ein als vorbildlich aufgefasstes kämpferisches Bewältigungsverhalten an den Tag. Dieser Impuls ist jedoch insofern zu befolgen, als eine Leistungsverweigerung familial keine akzeptierte Alternative darstellt. Johannas Verhalten ist also als passivaktiv zu charakterisieren. Vor dem Hintergrund der familialen Krebsgeschichte, aber auch des Stammhalter-Fluchs und der Multimorbidität Karl-Herberts wohnt dem Krebs damit ein doppeltes lebensveränderndes Potenzial inne: Er kann sowohl Leben zerstören, als auch jemanden durch Überleben zu etwas Besonderem machen, also in gewisser Weise „Leben aufwerten“: „damals war des so, wenn do! is Krebs, na war des immer

scho so arg! . dass mer nimme viel helfe hat kenne, aber mir hat mer helfe kenne“ (FI). Das dreimalige und alleinige Überleben der Krebserkrankungen betont daher die familiale Sonderstellung Johannas als ambivalenter Gesundheitsikone, in der die Repräsentation einer (Über-)Lebenshoffnung mit der Annahme einer fortgesetzten Anfälligkeit kontrastiert und verbunden ist: Ankes „des war für mich dann immer der .Angelpunkt, mei Mutter is ja au schon so! alt, hat des Gen un isch .relativ gesund“ (EI) bringt die Hoffnung auf den Punkt. Lydias „da [BRCA1-Test, A.d.V.] het’s keiner! g’het, auch net mei Mutter“ (FI) formuliert die unterschwellige Anfälligkeit.

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Johannas Verletzlichkeit wird bis heute (Mai 2007) dadurch Rechnung getragen, dass eine Art kollektive Inbesitznahme von Johannas Körper als zu schützendem Familienbesitz stattfindet, was sich bspw. in Ankes Sorge um Johannas Vorsorgebesuche und deren diesbezügliche „Vogel-Strauss-Taktik“ (EI) äußert. Das verweist erneut auf das Spannungsfeld zwischen familialer Selbst- und Fremdbestimmung, in dem sich Johanna seit Beginn der Krebserkrankungen befindet. Dass sich Johannas Handeln dabei sehr an der Familie orientiert, zeigt sich im von ihr als unpassend empfundenen, durch die Einführung als einzige angesprochene Erklärung jedoch zugleich aufgewerteten Deutungsmuster der Krebspersönlichkeit (vgl. Schwarz 1994). „J: und do! in jedre Reha! isch g’sagt worre öh . mir muss ‚nein’ sage! lerne . un-und Leit, wo net nein-sage kennet, die- die tätet Krebs kriege henn die domals g’sagt F: Und was hamm se .davon gehalten? . J: i hann überlegt un hann denkt ‚i s- i sag nie nei-’ i sag au heut! net neu, wenn irgendeus von meine Kindre ebbes secht un .es laust mer net so nei, das fällt mir ganz schwer! neu zum sage . also i bring des eufach net, no i wills halt .immer jedre Recht mache“ (FI)

Hierbei handelt es sich um eine individualisierte Deutung, die die Verantwortung für die Krebserkrankung den Krebskranken anlastet, deren „mangelhafte Persönlichkeit“ und „inadäquate Lebensführung“ im unabgegrenzten Umgang mit anderen als Krebsauslöser dargestellt werden. Dieses Deutungsmuster ist Johanna offenbar von medizinischer Seite angeboten worden, wird von ihr jedoch letztlich als unpassend empfunden und indirekt abgelehnt. Durch die Zurückweisung individueller Verantwortung entscheidet sie sich für die Familie als Priorität ihrer Handlungen und zentrale Instanz ihres Lebens. Durch die Deutungsabweisung wird zudem ein Bild von Krebs als nicht zu verantwortendes Schicksal fortgesetzt, dessen Unberechenbarkeit Johanna durch den zugleich nahe liegend-pragmatischen wie oberflächlichen Ansatz einer Berechnung des Krebserscheinens in Zehnjahresschritten zu begrenzen sucht. Johanna ist durch ihre familienorientierte Deutungsentscheidung Repräsentantin einer Familie, die für sie sowohl als heilendes wie auch mit einem „Gesundheitsfluch“ beladenes Umfeld in Erscheinung tritt. Diese Parallelität unterstreicht die Ambivalenz als Rück-, aber auch Hinterhalt, als Sorge- und Kontrollinstanz gleichermaßen, die auch Johanna selber trifft. Die Ambivalenz kommt in der Einführung der Oma während des Familieninterviews zum Ausdruck, in der das von der Oma angestrebte „aufpassen“ als Sorge, aber auch als Kontrolle und sogar als aufmerksame Folgsamkeit gelesen werden kann: „J: mm . nei-nei, i will, i will i will bloß aufpasch do [lautes Lachen im Hintergrund] Li: Des isch’t Oma [alle lachen]“ (FI)

Zugleich verweist das Lachen darauf, dass Johanna stärker zu Sorge und Rückhalt tendiert. Die große bidirektionale Relevanz zwischen Johanna und ihren Nachfahren manifestiert sich in einer starken, emotionalen Bindung zwischen diesen:

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„J: also, i brauch meine Kinder, un was di mitnander hennt isch mir egal! [lauter] > darf bloß>Ly: isch dir net egal no, is mir net egal, aber es darf keus: .ebbes verzähle, sag immer ‚i halt mi raus‘ Ly [lachend]: (was meinscht?) denn da, Mamma? Li [lachend]: also- . du bist (1?) dr Informationsumschlagplatz F: ok, ok, mhm [lachen hört langsam auf] J: also d’[Rose, A.d.V.] verzählt! mir nix . > weil, derre hann i eumal g’sagt ‚du i will da nix >Li: ja davo wiss!‘ un seither isch des g’schwätzt!“ (FI)

Der Krebs gefährdet diese intensiven, von Johanna gebrauchten Beziehungen, so dass die gesund zu erhaltende Familie Johannas eigener „Körper“ zu werden scheint, der folglich eine Art kollektiver Beziehungskörper ist, mit dem sie sich nahezu identifiziert. Lydia greift primär auf ein Körperformen-Deutungsmuster zurück, um sich gegen den Krebs und den damit assoziierten Familienteil abzugrenzen. Das zu verhindernde „Leiden“ ist also von vornherein ein doppeltes und betrifft sowohl das Körperliche als auch das Soziale: „seit ich 18 war bin ich immer zweimal im Jahr zur Krebsvorsorge gange, hab mer aber nie! . denkt, dass ich des auch krieg, weil ich von der Figur her net in die Richtung schlag [jedes Wort einzeln betont] und da hab ich denkt, ‚des isch net mei Richtung, i krieg des net‘, weil ich hab so der dicke Arsch g’het von meiner Oma: .auf der andre Seite, von der andre Verwandtschaft und die ham alle solche Mordsbuse, des hab i au net, i hann en- mei Schwester segt n Spielzeugbuse und da hab ich denkt, ich komm da: dr-drumrum, ich bin da in dr andre Richtung, gell“ (FI)

Dieses Deutungsmuster besagt, dass die äußere Erscheinung eine innere KrebsAnfälligkeit enthüllt. Damit zeigt sich, dass für Lydia eine bestimmte äußerliche körperliche Selbstpräsentation ein gesundheitlich entscheidendes Kriterium darstellt, obwohl diese das potenziell Gefährliche des Inneren nicht alleine in Schach halten kann – daher die Vorsorge-Notwendigkeit. Die dem Körperformen-Deutungsmuster zu Grunde liegende Idee von sich beeinflussenden äußeren und inneren Sphären ist mit Lydias Konzept des Fassadenkörpers verbunden, der sowohl als Objekt leistungs- und „barrierefähig“ gemacht werden muss, als auch in verschiedenen sozialen Lagen auf unterschiedliche Art und Weise zu präsentieren ist, um sein positives Potenzial als Basis und Aushängeschild einer möglichst makellosen Lebensleistung zu entfalten. Diesen Körper als optimierbares Objekt gilt es für Lydia zu trainieren, per Diät zu verschlanken, per prophylaktischer Operation von „unnötigem Organballast“ zu befreien und per gedanklicher Suggestion gegen Gesundheitsgefahren abzuschotten: „Ly: dass vielleicht scho so isch, dass wenn mer . zu allem .sagt ‚ohje, womöglich hab i des‘, dass die Leut des eher krieget, denk i . F: warum?

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Ly: weil se eufach anfällig sind . un wenn mer von vornherei sagt, ‚da dagege kämpf i, das kann’s net sei‘, un da denk i eufach dass: das vielleicht auch die Krankheitskeime denket ‚oh, da han i net so gute Chancen, lass mer glei bleibe‘ . vielleicht“ (EI)

Lydias Körper wird so zum funktional betrachteten Statusobjekt, das als soziale Tauschware und Medium des beruflich wie privat erfolgreichen Lebens verfügbar ist und Attraktivität und Einbindung gegen Engagement vermittelt. Diese Sicht betrifft nicht nur den eigenen, sondern auch den Körper anderer Personen, die damit alle (zumindest auch) funktional betrachtet werden: „ich sag immer ‚n Ma isch wie’n schöner Hund‘, du kannscht die ganze Männer mit e- mit irgend ene Hund vergleiche, irgend e Rasse sieht dann scho so ähnlich aus, und es isch eufach schee, mir gefällt des un deswege will i gern au e bissle schlanker sei, dass i au vielleicht . n schönerer Hund wär“ (EI)

Dieser selbstbestimmten Körperpräsentation steht jedoch eine Abhängigkeit von sozialem Feedback und damit eine Fremdbestimmung gegenüber. Lydias Körper ist mit anderen Worten ihr Verbindungspunkt zur sozialen Welt, mit dem sie sich diese eröffnen kann, ihr gleichzeitig aber auch ausgeliefert ist. Positiv wirkt sich der soziale Einfluss dann aus, wenn es Lydia gelingt, ihren Fassadenkörper so überzeugend als leistungsfähig, vorzeigbar und schützend zu präsentieren, dass das Bild durch soziales Feedback bestätigt und verstärkt wird. Negative Verstärkungen eines abwertenden oder nicht bestätigenden Feedbacks sind jedoch auch möglich, so dass diese von Lydia biografisch bevorzugte Strategie des going public als „Tauschgeschäft“ gefährlich ist. Diese Körperpräsentation findet auf einer Vielzahl sozialer Bühnen statt, die von der Herkunftsfamilie über die Vereinsebene bis hin zur Dorfgemeinschaft oder zum Brustzentrum mit seinen Fragebögen reichen und lässt sich sogar auf der Paarebene ihrer Wahlfamilie feststellen, wenn sie sich müht, für ihren Mann ein „schöner Hund“ zu sein. Körperliche und damit gesundheitliche Selbst- und Fremdbestimmung liegen bei den verschiedenen Präsentationen eng beieinander und bilden ein ambivalentes Spannungsfeld. Um die Einflüsse des sozialen Außen zu kontrollieren, wird ein privater Körperbereich abgeschieden und damit dem sozialen Zugriff entzogen, was zu einer Unterscheidung von privaten und öffentlichen Körpern führt: In Abhängigkeit vom Grad der Vertrautheit und des Vertrauens in die Verschwiegenheit der jeweiligen Person oder des Personenkreises werden Körperaspekte enthüllt, so dass tatsächlich mehrere Körper zu existieren scheinen, die von Lydia selbstbestimmt auf den verschiedenen Bühnen veröffentlicht werden. Die Extreme werden gebildet von einem öffentlichen Körper, der möglichst vorzeigbar dargestellt wird, d.h. als gleichbleibend gesund, leistungsstark, vollständig, natürlich attraktiv, sexuell aktiv, glücklich, zufrieden und auch sozial erfolgreich, und einem privaten Körper, der anfällig oder krank, schmerzend, alternd, unattraktiv, bedrängt, unvollständig sowie sich um einen möglichen Krebs sorgend ist. „das [Durchführung der prophylaktischen Operation, A.d.V.] hat niemand g’wusst . außer mei Mutter . un die hat’s Maul net halte könne . die hat’s ma verzähle müsse [beleidigter Tonfall],

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na hab i g’sagt ‚Mamma, das näschte Mal erfährst du nix mehr‘ […] un-un sie hat’s ma erzählt un isch natürlich, die Anrufe sin dann kumme, von meim Sohn! ‚du gohscht ins Krankehaus un sagscht nix‘ [wütend], sa i ‚du, i komm au wieder, i drei Tag bin i wieder daheum! . braucht mer überhaupt keun! Theater mache‘ weil i-ich find des einfach ganz: blöd, mer muss net hausiere mit seine Krankheite“ (EI)

Die Körperpräsentation betrifft dabei Lydias gesamtes Leben und nicht „nur“ den Bereich des Gesundheitlichen, der vielmehr als Grundlage eines selbstbestimmten Lebens gilt. Eine in dem Sinn verstandene Gesundheit bedeutet, „dass mer uneingeschränkt alles mache kann, was mer will“ (EI). Das Körperformen-Deutungsmuster wird durch das der Krebspersönlichkeit ergänzt. Analog zum präsentablen Körperäußeren referiert dieses auf eine präsentable Lebensbilanz, d.h. eine erfolgreiche und selbstbestimmte Lebensgestaltung, die als Schutz gegen eine mögliche Krebserkrankung positiv zurückwirkt: „ich glaub des auch net, dass ich des krieg, da han i gar keu Zeit dafür […] deshalb guck ich eufach druff, dass ich- dass ich, öh-öh, en wohlsortiertes Lebe han . weischt?“ (FI). Mit diesem Ansatz wählt Lydia folglich eine Deutung, die ihr einen handelnden Bewältigungsansatz eröffnet: Sie muss Körper und Leben so gelungen wie möglich gestalten und mit diesem zufrieden sein, um dem Krebs keinen Zugang zu ermöglichen. Da sie jedoch genauso betont „da kann kein Mensch was dafür, wenn er das kriegt“ (EI) erscheint Krebs nicht einfach als aktiv abwendbares Übel, sondern immer auch schicksalhaft – wie auch das eigene Leben immer durch soziale Einflüsse mitgestaltet wird. Krebs und Sozialität werden folglich analog und als unvermeidlich und sich in ihren Effekten ergänzend, d.h. interdependent, wahrgenommen. Das wird durch Lydias bereits mehrfach erwähnte familiäre „Krebs-Annäherungsbiografie“ gestützt. Krebs versteht Lydia als ein grundlegend traumatisches, doppelten, d.h. sowohl körperliches als auch soziales Leiden, bei der sich bereits einmal der private Körper, der gleichzeitig ein mitleidender Familienkörper ist, zwischen sie und ihren selbstbestimmten Lebensentwurf zu drängen drohte, da er ihren öffentlichen Körper gefährdete: „da hend mir d’Elfriede dann b’sucht . ha, da war der ganze Rücke offe [angeekelt] . mei Mutter hat sie mal dreht! . wo i dort war, un sie- mei Mutter ‚komm, hilf sie mir rumdrehe‘, ja? . un die lupft die un da isch des ganze Fleisch hat rausguckt . sa ‚Mamma, mir wird schlecht‘! [lauter] . i bin naus, bin im Gang g’sesse in [Stadt] im Krankehaus, mir wars elend, Krankeschweschter hat mi a’guckt, isch aber weiter gelaufe . un na bi i .zum Uffzug . des näschte was i g’merkt hann, das Leut wegsprunge sin, da bin i ohnmächtig worde, mitt im Krankehaus, Leut si noch wegsprunge, also muss Bsuch gewese sei, weil die: hann bloß e (1?) sehe un es näschte Mal bin i wieder uffgewacht unte bei- Keller . i sag bei die Leiche unte, im Krankhaus! bin i zwei Mal! ohnmächtig g’wese, niemand, gar niemand! [laut] hat mir irgendwie geholfe . bin da ganz alleu g’lege, die eine sin weg’sprunge, wo i d’Auge wieder uffgemacht hann . un im Keller bi i sowieso alleu g’lege . ja . i weiß net wie i in den Keller nunterkumme bin un vor die Tür, kei Ahnung . un da war mir’s aber wieder gut, da han i g’schwitzt un da war mir’s wieder gut“ (EI)

In dieser Episode wird das körperliche Leiden am Krebs genauso deutlich, wie die Abhängigkeit von anderen, die darin steckt. Leiden macht folglich doppelt ohnmäch-

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tig. V.a. wird deutlich, dass gezeigte Schwäche nicht zur Hilfe führt – und zwar von niemandem: weder von der eigenen Mutter noch von anderen Besuchern, aber auch nicht vom Krankenhauspersonal. Vielmehr wird Lydia damit allein gelassen und muss sich selber helfen. Krebs ist für Lydia folglich gleichbedeutend mit Leid, Ohnmacht, Verlassenheit, wobei das in dieser Episode zugelassene Leid gefühlt zum Tod führt, worauf ihre Landung „bei die Leiche unte“ hinweist. Für Anke als „mordsbusiger“ Frau bietet das Körperformen-Deutungsmuster keinen Schutz gegen den Krebs. Sie vertritt ein Altersgrenzen-Deutungsmuster: „in unsrer Familie hat es [Krebs, A.d.V.] jede mit 40 kriegt, die Frauen, mir sind über 40, wir krieget’s nimmer“ (FI). Dieses Deutungsmuster liefert genau genommen lediglich eine Altersschwelle, die als „Ziellinie“ gesund zu überqueren ist, um auch im restlichen Leben gegen Krebs gefeit zu sein. Krebs selbst versteht sie im Grunde als Lebensgefahr, vor der sie ihr Leben schützen will, indem sie sich einer Konfrontation verweigert. Das wird deutlich, als sie die Krankheit der Mutter zwar wie einen Knochenbruch versteht, jedoch trotzdem als „Riss“ ihrer betreuten Welt einordnet. Auch die Anekdote, nach der sich Anke einem Besuch bei der sterbenden Tante Elfriede entzieht eben weil sie stirbt, belegt, dass Anke Krebs als zu umgehende Leerstelle in ihrem Leben konstruiert, was aber genau dessen enorme Bedrohlichkeit belegt. Hier wird eine Todesangst sichtbar, die sich bis zu Ankes erster BRCA-Vorsorge erhalten sollte, von der sie sagt: „da war ich furchtbar! nervös und furchtbar! ängschtlich . als ob des Wissen, dass ich des Gen hab, auch gleich: bewirken würde, dass ich Krebs hab“ (EI). Lisa präsentiert sich im Zusammenhang mit ihrem Studium der Biologie als Anhängerin des biomedizinischen Deutungsmusters: „ich studier Biologie? also, ich weiß! was Krebs ist und hab dadurch n Vorteil, ich versteh des mit der Vererbung und so wie des funktioniert“ (FI). Ihre Deutung des Krebses als „einfach nur Zellen […], die keine Kontrolle haben, keine Wachstumskontrolle“ (EI) offenbart, was sie hier eigentlich versteht: Gesundheit gilt in dieser Lesart primär als veränderliche Körperkontrolle, die durch das Erscheinen von Krebs als Krankheit verloren geht, aber auch zurückerobert werden kann: „ich hab des mal gelesen, das ne Frau, die Krebs hatte . sich immer vorgestellt hat, sie schickt kleine Männle in den Körper aus, die den Krebs zerstören und die isch dann g’sund worden und des! denk ich- also .im übertragenen Sinne, des funktioniert schon, also mit Gedankenkraft geht schon viel“ (FI)

Die Stelle weist gleichzeitig daraufhin, dass das Ringen um Körperkontrolle tatsächlich kampfartigen Charakter besitzt und von Lisas Seite aus mit Gedankenkraft geführt wird. Das führt bei ihr zu Selbsterziehungsszenarien, in denen sie bspw. das Krebs-Mantra „du wirscht gesund, du bischt net krank“ einübt und sich damit zum Kampf ermahnt, denn Leiden „bringt ja nichts, das macht’s ja nur schlimmer, wenn man sich so krank fühlt“ (beide Stellen: EI). Dieser Kontrollgedanke wird unter Rückgriff auf die anderen in der Familie vorhandenen Deutungsmuster verstärkt. Einerseits wirkt hier Lisas Lesart der Krebsper-

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sönlichkeit, in der ihr Wille als Leitmedium konstruiert wird: „also sie [Johanna, A.d.V.] hat mir ma erzählt, ihr Arzt hat g’sagt, die Leute, wo immer zu allem ja sagen und immer alles machen und so, die kriegen des und deswegen denk ich mir auch, ich würd .nie im Leben irgendwas machen, was ich ums verrecken net will“ (FI). Andererseits zitiert sie das Körperformen-Deutungsmuster: „ich hab auch glaub ich mehr Busen wie meine Mutter, ich weiß net, des isch dann doch irgendwie zu mir übergesprungen von meinen Tanten wahrscheinlich!“ (EI). Obwohl sie das an anderer Stelle mit „nee isch halt Zufall“ (EI) wieder abwertet, kann sie dieses folglich nicht ignorieren, so dass es fraglich ist, ob ihr das mit dem Altersgrenzen-Deutungsmuster gelingt. Da aber ihre Körperform in Richtung „Mordsbusen“ geht und sie zudem das andere Kriterium der überschrittenen Altersgrenze ebenfalls nicht erfüllt, erscheint sie somit als wahrscheinlichste innerfamiliäre Kandidatin für eine Krebserkrankung, was die Notwendigkeit der Kontrolle betont. Krebs ist für Lisa ein unvermeidlicher „Feind“, der als Thema in der Familie „immer da“ war, sie folglich Zeit ihres Lebens begleitet. Dieser Feind wird als zukünftiges mögliches Leiden vorgestellt, wobei diese Vorstellung sehr virtuell wirkt: „kürzlich isch ja die Sängerin gestorben die [Name]?, mit 40 an Brustkrebs un da denk ich mir auch . ‚Oh Gott! und das krischt vielleicht auch!‘ und so aber ich hab halt . also ich gegenüber meim große Bruder hab den Vorteil, das ich ja nie g’sehen hab . w-wie jemand Krebs hatte, also wo- sie hatte ja n Nasekrebs? das hab ich jetzt aber nicht so als .Krebs empfunden oder überhaupt so mitkriegt […] ich hab noch niemand .jetzt leiden sehen so in dem Sinn“ (FI)

Bislang stellt Krebs für Lisa eher eine Art Planungsspiel dar, das sie mit den o.g. Selbsterziehungsmaßnahmen anzugehen sucht. Dabei ist sie bereits jetzt so sehr mit dem Kampf gegen den Krebs beschäftigt, dass sein angsteinflößendes Potenzial erkennbar wird. Lisas Angst richtet sich dabei offensichtlich gegen eine Art „Leiden“ als das Krebs gedacht wird, welches sich als Todesangst (s. das Beispiel der Sängerin) offenbart und – ganz in Linie mit den Familienregeln – als unproduktiv sowie der Gesundung abträglich gilt. Vor genau dieser krebsbedingten Unproduktivität scheint Lisa Angst zu haben – sie scheint mit anderen Worten Krebs mit der Angst vor der (Todes-)Angst zu assoziieren und sich eher davor wappnen zu müssen, durch diese handlungsunfähig zu werden, als vor Krebs als manifester Krankheit mit ihren Begleiterscheinungen. Das erklärt auch die Vehemenz ihrer Verneinung möglicher Angstgefühle: „Ich hab ja auch keine! Angscht [laut] […] Ich hab ja auch keine Angscht!“ (FI). Der von ihr o.g. „Vorteil“ kann insofern auch als Nachteil gelten, da sie Johannas Überwinden des Krebses nie mitbekommen hat, so dass ihr ein praktisches Vorbild fehlt, das eben gerade nicht Handlungsunfähigkeit repräsentiert. 6.3.3

Fazit: Gesundheit als Bindungsproblem

Neben den von Johanna gesetzten Gesundheitsregeln existieren folglich individuelle Deutungsmuster und Handlungsregelauslegungen, die der Einzelnen im Tausch gegen eine generelle handlungsbezogene Familien-Compliance zugesprochen werden. Dergestalt gelingt es den Frauen, innerhalb der Familie eigene „Deutungsinseln“ zu besetzen, aufgrund derer sie das geforderte, jedoch persönlich abgewandelte Hand-

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lungsmuster aufrecht erhalten. Damit können sie sowohl ihren Beitrag zum Umgang mit der Krebsherausforderung als auf Johanna fokussierter Krise leisten, als auch sich selbst von einer möglichen eigenen Krebserkrankung abgrenzen. In der parallelen Gestaltung des familialen Sozial-, Handlungs- und Deutungsraum mit seinen „Zonen der Unbestimmtheit“ ist dabei die Grenzproblematik der Spannungsfelder von Nähe versus Distanz und Selbst- versus Fremdbestimmung im starr-verstrickten Familiensystem (re-)präsentiert. Präsentation und Leistung als Strukturgesetzlichkeiten des Gesundheitsumgangs tragen in diesem Rahmen dazu bei, angesichts von Krebs als Funktionseinschränkung und Familienagent sowohl die persönliche Selbstbestimmung in (sozialer und gesundheitlicher) Sicherheit zu verhandeln als auch den Erhalt der ganzen Familie zu sichern und so mit der doppelten persönlichen und familialen Krise umzugehen. Die beiden Strukturgesetzlichkeiten stehen dabei in transaktionaler Wechselwirkung zueinander, wobei die geleistete entemotionalisierte Präsentation insofern die Voraussetzung für ihre weitere Aufrechterhaltung darstellt, als dass sie die pragmatisch-rationale Gesundheitsleistung gemäß den Familienregeln fördert. Das erlaubt den Familienmitgliedern, weder in zu große, sich evtl. fremdbestimmend auswirkende Nähe zum Krebs noch zur Familie zu geraten, die dem Erhalt abträglich wäre. Die Wechselwirkung von Leistung und Präsentation dient folglich dazu, sich die verstrickende, d.h. vereinnahmende Familie in wahrstem Sinne „vom Leib zu halten“ und somit Gesundheit – verstanden als transgenerational zunehmend selbstbestimmtes Leben – zu sichern. Gesundheit erscheint hier letztlich als Bindungsproblem, dass durch familiales Passing gelöst wird.

6.4 D AS

AKTIVITÄTSBASIERTE ALS ENTEMOTIONALISIERTES F AMILIEN -C OPING

(X1)

Die Krebskrise wurde als fortgesetzte, kumulierte und als Entscheidungskrise gerahmte familiale Co-Krise beschrieben, deren traumatischer Hintergrund in der normativen Herausforderung des drohenden mütterlichen Todes wie der auf sich übertragenen Todesdrohung der Mitglieder der „Krebsfamilie“ liegt. Hier ergänzen sich die jeweiligen, sich z.T. mit anderen Krisen überschneidenden traumatischen Krebskrisen der Familienmitglieder sowie ihre entdramatisierenden Eingrenzungsbemühungen zu einer familiären Krise und Umgangsweise. Beides – Ursachen- und Umgangsweisen-Übertragung – verweist auf die Verstrickung des Systems. Grundsätzlich verfahren die Familienmitglieder auf ihre jeweils eigene Art dabei so, dass die traumatische durch die Rahmung als Entscheidungskrise gebändigt wird, was familiär durch die stärkere Vorstrukturierung der Handlungs- im Vergleich zu den Deutungsmustern gebahnt wird. Die Bändigung beruht auf einem Passing der Familienmitglieder hinsichtlich der familialen Gesundheitsregeln, woraus eben dieses „Krisen-Passing“ der Familie, aber auch das Passing ihrer Mitglieder als legitime Teile der Familie resultieren. Aufgrund des Krisenfokus der Familie liegt der offensichtliche Primat der Bemühungen ihrer Mitglieder auf dem Erhalt Johannas. Die Betonung des Erhalts verweist auf milieuspezifische Handlungsressourcen als Grundlage des Copings der Familie, welches trotz der krisenbedingten Anpassung der Familienrepräsentanz prinzipiell eine Angleichungsstrategie offenbart. Die vermeintliche „An-

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passung“ enthüllt horizontal bereits latent vorhandene Strukturen und wandelt die tradierte Handlungslogik mit Blick auf das Gesundheitsthema ab. Tatsächlich wird lediglich die vertikale Familienrepräsentanz tatsächlich umgestaltet und dem Krebsthema angepasst. Für Anke fallen die diversen Krebserkrankungen der 70er und Anfang der 80er Jahre mit ihrer Adoleszenzkrise zusammen. Dem durch ihre eigene Pubertät besonders drängenden Traumatischen der krebsbedingten Todesdrohung wie auch der Versorgungsforderung des Vaters als potentiell fremdbestimmende, refamilialisierende Einflüsse entzieht sie sich durch ihre auf Abgrenzung ausgerichtete Handlungsstrategie. Die Abgrenzungsstrategie stellt letztlich ihre beste Schutzmöglichkeit zur Bewahrung ihrer in der Adoleszenzkrise verhandelten Selbstbestimmung im Sinne der Bereitstellung eines darauf ausgerichteten Möglichkeitsraums dar, da sie als „mordsbusige“ Frau eben nicht auf das Körperformen-Deutungsmuster vertrauen kann. Hier zeigt sich die Parallelität von Körper, Sozialität und Gesundheit. Ihr Rückzugsort ist das Lernen und die Vermeidung der Krebskonfrontation, womit sie zwar familiale Solidarität (s. Besuch bei der Tante) verweigert, jedoch das Leistungsgebot wahrt und die Familie auch nicht öffentlich bloßstellt, d.h. dem Veröffentlichungsverbot folgt. Darüber hinaus gelingt es Anke so, emotionale Betroffenheit zu vermeiden. Durch ihr Handeln befolgt Anke die familiale Leistungs- und Präsentationsrichtlinie weitestgehend und kann damit als Teil der Familie passen, wird also nicht an deren Rand gedrängt wie Karl-Herbert. Zudem stützt sie den Funktionalitäts- und Leistungsprimat im Umgang mit Krebs im Krisenfokus auf Johanna, da Anke kein (sowohl inner- als auch außerfamiliäres) Mit-Leiden provoziert und damit die familiäre Rahmung der traumatischen als Entscheidungskrise und des mütterlichen Krebses als Handlungsproblems unterstützt. In Kombination mit dem Einfluss ihrer Heirat mit Gerd dürfte diese Abgrenzungslogik gegenüber dem Mit-Leiden auch dazu beigetragen haben, dass Anke ab dem 20. Lebensjahr ebenfalls gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen wahrnimmt, obwohl dahinter letztlich die Angst vor dem Krebs als Todesdrohung und der Einfluss der Familie erkennbar ist. Wie groß die von Anke empfundene Bedrohung durch den Krebs wirklich ist, zeigt sich an ihrem 40. Geburtstag, der laut dem Altersgrenzen-Deutungsmuster die Schwelle zwischen möglicher Krankheit und gesicherter Gesundheit darstellt: „also, wo ich 40 worde bin, war des für mich ‚jawoll!, jetzt hast’s geschafft, alle andere waret vorher krank, du krischt sowas net‘“ (EI). Durch das Überschreiten der Schwelle ist dieses traumatische persönliche Krebspotenzial dank ihrer Abgrenzungslogik mithin für Anke Vergangenheit: „mir sin über 40 . mir krieget’s nimmer“ (FI). Lydia hingegen gelingt es zunächst, das persönlich potenziell Traumatische der Krebskrise dank ihres Körperformen-Deutungsmusters abzuwehren, durch das sie als „nicht-mordsbusige“ Frau aus der Gefahrenzone der Krebserkrankung gelangt. Über diesen „figürlichen Schutz“ verfügt sie als einzige der Töchter Johannas. Die daraus resultierende „emotionale Unberührtheit“, die in ihre öffentliche Körperpräsentation inkludiert ist, ist dann wiederum auch einer pragmatischen Handhabung der Krise zuträglich, welche ihrerseits auf Lydia entemotionalisierend wirkt. Zugleich ist Lydia, deren Wahlfamilie nicht so erfolgreich ist, offenbar eher dem refamilialisierenden Zugriff der Herkunftsfamilie zugänglich, da auch Lydia familiale als Spezialform sozialer Solidarität wertschätzt, die sich durch die Ehekrise erneut auf die Herkunfts-

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familie richtet. Diese wird auch durch die Erfahrung mit der von ihrer Wahlfamilie zunehmend verlassenen Elfriede bedeutsam, wodurch die Herkunftsfamilie gerade als Rückhalt in der Krankheitskrise besondere Autorität gewinnt. Kann sie sich von der Forderung ihres Vaters als „unsolidarisch“ und fremdbestimmend abgrenzen, gelingt ihr dies im Hinblick auf den Krankheitsumgang der Mutter nicht in gleichem Maße. Das wird durch Lydias pragmatische und entemotionalisierte Handlungslogik der Bilanzierung gefördert, gemäß der sich die „Investition“ in die Reaktivierung der Mutter nach deren „Ausfall“ durch die besondere Stellung der „Sonne“ sicherlich „gerechnet“ haben dürfte. Durch Körperform und Bilanzierung als emotionale Distanzierungswege kann Lydia die sich im Erkrankungs-„Schock“ offenbarende Sorge um die Mutter in einen diese unterstützenden und reaktivierenden Handlungsantrieb gemäß den familialen Gesundheitsprämissen Leistung und Präsentation verwandeln und auf die Mutter entemotionalisierend wirken. Im Kleinen zeigt sich letzteres in ihrem Versuch, sich ihr Erschrecken über die amputierte Brust Johannas, die sie als „des isch ma so eine Wüschtenei, ganz schlimm“ (EI) wahrnimmt, nicht anmerken zu lassen und die Mutter trotzdem bei ihrer Prothesenwahl zu begleiten. Insofern verhindert Lydia ein Mit-Leiden ihrer Mutter und fördert als Vertraute durch ihre eigene Art Johannas pragmatisch-reaktiven Umgang mit der traumatischen Krise, die so zur „ungefährlicheren“ Entscheidungskrise umdeklariert wird. Damit ist Lydia diejenige, die während der Krebskrise aktiv gesundheitsförderlich gegen die drohende normative Krise des mütterlichen Todes arbeitet, wobei sie die familialen Handlungsrichtlinien des Leistungs- und Solidaritätsgebots und Veröffentlichungsverbots gleichzeitig befolgt und (re-)produziert. Zugleich erlaubt ihr die Bilanzierungslogik, sich auch nach dem traumatischen Erlebnis der „Betroffenheitsohnmacht“ im Krankenhaus gegen das aus ihrer Sicht augenscheinlich Lebensbedrohliche veröffentlichter Emotionen, aber auch die vom Vater unbotmäßigerweise publizierte normative Familienkrise und Fremdbestimmung zu behaupten und ihren vulnerablen privaten Körper abzuschirmen. Die Abqualifikation von Mitleid als Handlungsmotivation betont die Wichtigkeit des emotionalen Schutzes. Hierbei rechnet sie Krebsangst gegen Figurberuhigung auf und begreift die eigene Reaktivierungsaber auch Vorsorgeaktivität als eine ausreichende Umsetzung familialer Gesundheitsregeln vor dem Hintergrund der unvermeidlichen herkunftsfamilialen Krankheitsautorität. Damit investiert sie in ein „Sozialkonto“, dessen „Ertrag“ ihr als Familienunterstützung im Falle einer eigenen Erkrankung zugute käme, jedoch aktuell eine darüber hinausgehende Selbstbestimmung ermöglicht, da die normative Krise abgewendet wird, die sie evtl. noch tiefer in ihre Herkunftsfamilie zieht. Die Annäherung der Krebsdrohung, aber auch die Annäherung der Familie durch den Krebs wird verhindert. Durch beides sichert sie ihren wie auch den Gesundheitserhalt der Familie basierend auf der Ressource ihres Fassadenkörpers und das persönliche Passing im Sinne der Gesundheitsregeln unterstützt das Passing Johannas und der Familie als „Gesundheitsgarantie“. So zeigt sich auch hier die verstrickte Interdependenz von Sozialität, Körperlichkeit und Gesundheit. Ausgelöst durch die reaktualisierte Krebskrise versucht schließlich auch Lisa – zusätzlich sensibilisiert durch die sich überschneidende Adoleszenzkrise – durch ein stellvertretendes Ringen um Körperkontrolle im Taek-Wan-Do als wettbewerbsorientiertem Kampfsport zugleich auch ihre stellvertretende Angst vor der (Todes-)Angst

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zu bekämpfen, die mit Krebs als für sie lebenslang vorhandenem familiärem Hintergrund verbunden ist. Da der „Nasenkrebs“ jedoch innerfamiliär nicht als richtige Krebskrise gewertet wird, verschwindet die Aktivität erfordernde aktuelle Krise recht zügig. Es deutet sich so lediglich eine kurze Zeit lang die proaktive Handlungslogik der Kontrolle mittels Wettkampf an. Dabei fördert auch dieser gesundheitsbezogenen Aktivismus als Ausgestaltung der familialen Passing-Aufgabe prinzipiell sowohl die Eingrenzung von Lisas wie Johannas latenter traumatischer Krise und deren Umgang mit Krankheit. Johanna als „Ziel“ der Krebskrise und Mittelpunkt der Familie in dieser Krise bedient sich einerseits im Milieu transgenerational tradierter leistungsbezogener und familiensolidarischer Handlungsressourcen, um auf ihre damit verbundene passivaktive Art sowohl mit der eigenen als auch der Erkrankung der anderen Familienmitglieder umzugehen. Das beinhaltet in ihrem Fall, die ihr medizinisch wie familiär gemachten Angebote anzunehmen, so sie zu ihrer Familienorientierung passen, und diese innerhalb der Familie umzusetzen. Die sie umgebenden pragmatisch-aktiven, entemotionalisierten Umgangsweisen mit der Krise unterstützen Johanna andererseits darin, das potenziell traumatische der krebsbedingten Todesdrohung für sich und die Familie einzugrenzen, Krebs als Abfolge einzelner Funktionseinschränkungen zu rahmen und durchzuhalten. In der Wechselwirkung von persönlicher und familialer Leistung und Präsentation gelingt der Gesundheitserhalt Johannas als Bedrohungsabwehr in der und für die Familie. Gleichzeitig setzt Johanna durch ihre handelnd, nicht jammernd präsentierte Gesundheitsleistung die Standards gesundheitlicher Krisenbewältigung im ambivalenten (Über-)Lebensraum der Schall-Brauses, womit auch Gesundheitserhalt und Bedrohungsabwehr der Familie(-nmitglieder) gesichert werden. Durch Johannas familiär gerahmtes Handeln wird die familiale PassingAufgabe somit zugleich gestellt und erfüllt.

6.5 D IE G ENKRISE

DER

S CHALL -B RAUSES (A2)

1999 liest Johannas älteste Tochter Rose etwas über die Möglichkeit des BRCAGentests in der Zeitung und animiert sowohl ihre als auch die Generation von Johanna dazu, einen BRCA1-Test wahrzunehmen: „da warn mer alle dort“ (Lydia, FI). Während Lydia bei dem von ihr als „Peepshow“ (EI) beschriebenen Vorgang teilnimmt, gibt Anke lediglich Blut ab. Lisa ist minderjährig, damit laut Statuten der GfH vom BRCA-Test ausgeschlossen und findet im Zusammenhang mit diesem Test keine Erwähnung. Das Testergebnis lautet BRCA1-negativ: „da hets keiner! g’het, auch net mei Mutter“ (Lydia, FI). Die latente, kumulierte Krebskrise reaktualisiert sich somit erneut als eine die Familie zusammenführende Genkrise, die jedoch nun sichtbar den Johanna betreffenden Krisenfokus und damit die Generationengrenze überschreitet. Sie wird zur offen persönlich bedrohlichen Situation mit Blick auf die Gesundheit, aber auch Familienanbindung der Person. Das ist in den persönlichen „Annäherungsmodi“ der Schall-Brauses an den Test repräsentiert. Diese Bedrohung löst sich dann durch das negative Testergebnis zumindest vordergründig auf. 2003 wird der Familie vom HBOC-Zentrum in C-Stadt der BRCA2-Test angeboten. Bei Johanna wird eine gesundheitsrelevante BRCA2-Variation entdeckt, woraufhin sich zunächst Rose testen lässt. Diese begleitet dann Jonas, Anke und deren

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Tante Dagmar zur Beratung. Anke fährt im nächsten Durchlauf mit Lisa und Daniel nach C-Stadt. Nachdem Lisa ihr von ihrem positivem Ergebnis berichtete, lässt sich zum Schluss auch Lydia testen, obwohl sie das eigentlich nicht möchte. Damit ist die familiäre „Test-Stafette“ als sukzessives Familien-Outing abgeschlossen (2007) und die Genkrise als familiär gerahmtes und familial inkludierendes persönlich krisenhaftes Ereignis und Familienkrise zugleich etabliert. Rose wird negativ getestet. Sie erklärt 2005 öffentlich14 und in Anwesenheit der BRCA-positiv getesteten Frauen, dass sie ihr negatives Ergebnis gefeiert hätte. Daraufhin brechen diese den Kontakt weitestgehend ab. Für Rose beinhaltet folglich die endgültige Abwehr von einem potenziellen Krebs als latenter traumatischer Krise auch eine aktive Distanzierung von ihrer im „Krebszusammenhalt“ erfahrbaren Herkunftsfamilie. Da auch sämtliche anderen Familienmitglieder (z.B. Jonas) u.a. relativ zur gezeigten Familiensolidarität relational neu bewertet werden, betrifft die persönliche traumatische Krise alle und wird zur Familienkrise. Vor dem Hintergrund ihrer Befreiung von der Krebsangst an ihrem 40. Geburtstag nimmt Anke diesmal an der gesamten Test-Beratungs-Prozedur teil. Sie erhält als erste bislang Gesunde der Familie ein positives Testresultat, ist dann für ca. 15-30 Minuten geschockt, um sich im Anschluss der Frage zu widmen, ob sie bei einer prophylaktischen Eierstock- und Gebärmutterentfernung ein Nachthemd im Krankenhaus benötigt. Die Operation, zu der sie sich bereits während des Wartens auf das Ergebnis entschließt, wird entsprechend zügig durchgeführt. Eine weitere prophylaktische Operation wird nicht ausgeschlossen. Des Weiteren nimmt Anke – beim ersten Mal begleitet von Johanna, ab September 2004 als Familien-„Ausflug“ (FI) gemeinsam mit Lisa und Lydia – das Angebot der halbjährlich stattfindenden intensivierten Früherkennung in C-Stadt wahr, bei der sich der Reihe nach alle BRCA-positiven Familienmitglieder den Untersuchungen unterziehen. Anke selbst fühlt sich dort „in guten Händen“, denn „die [Personal in C-Stadt, A.d.V.] passet auf mich auf“. Gemeinsam mit Lisa fungiert sie zudem als Kontaktperson zwischen den Schall-Brauses und dem HBOC-Zentrum. Anke versucht ihrer Mutter darüber hinaus Schuldgefühle zu nehmen, indem sie die mit dem Gen-Wissen zugänglichen medizinischen Maßnahmen als „Vorteile“ präsentiert. Diese Einstellung wird deutlich in der folgenden Äußerung der negativ getesteten Rose gegenüber, mit der Anke Johanna i.E. beruhigen kann: „Zumindescht ab dem Augeblick, wo ich mein’re ältre Schweschter gesagt hab, wie Scheiße es ihr eigentlich geht, […] ‚du der Arzt, dr- für den bisch du Nullachtfuffzehn-Patient, wenn ich! komm da gucket alle ‚da isch Frau Brause!, die: musch mer besonders gucke!‘ und bei dir, ja du bisch einer von viele‘“ (Anke, EI)

Für Anke besitzt die Genkrise somit wie bereits die Krebskrise traumatische Anteile, wobei die damit verbundene krebsbezogene Todesangst nach dem „Stichtag“ ihres 40. Geburtstags nur noch bei einzelnen Gelegenheiten, wie der Ergebnismitteilung oder dem ersten Vorsorgetermin in C-Stadt, bedrohlich erscheint. Ansonsten gelingt es Anke überzeugend, die traumatische Krise nicht nur als Entscheidungskrise zu

14 Details dazu können aus Gründen der Anonymisierung nicht genannt werden.

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rahmen, sondern als solche auch positiv umzudeuten und auch im außerfamiliären Kontakt so zu handhaben. Das ermöglicht Anke eine Wiederannäherung an Teile der Herkunftsfamilie nach den familialen Exklusionsbewegungen während der Krebskrise, da die Leerstelle der Familiensolidarität vermindert wird und verweist zugleich auf die Relevanz dieser Krise als Referenz für das aktuelle Erleben. Sie erlebt somit den kombinierten Themen- und Familienanschluss als erwünschte Refamilialisierung positiv, was das krisenhafte Potenzial der Situation stark einschränkt. Auf das positive Testresultat reagieren Lydias Kinder Daniel und Lisa zunächst damit, dass ihnen die bzw. der jeweils andere leid tut und sie keine Fragen mehr an die Beraterin haben. Auf der ansonsten eher stillen Rückfahrt nach der Ergebnismittelung witzeln die beiden dann darüber, dass sie nun „X-Men“ (EI) seien. Die Disposition wird somit als am jeweils anderen erlebte und damit gemeinsame Krise gerahmt, welche die „Betroffenen“ in die innerfamiliäre Gruppe der „Mutant_innen“ einordnet. Zu Daniels weiterem Umgang mit der Genkrise ist wenig bekannt. Jedoch kann auch er sich dem familialen Einfluss nicht entziehen und stimmt schließlich den Überredungsversuchen Lydias zu, ab Herbst 2007 gemeinsam mit Anke, Lydia und Lisa am Familien-„Ausflug“ zur Brustkrebsvorsorge nach C-Stadt teilzunehmen. Es ist jedoch unklar, ob dieses Vorhaben umgesetzt wurde. Auch Daniel wird damit durch das Testresultat von seiner Herkunftsfamilie „eingeholt“. Lisa erzählt ihrer Mutter am Tag nach der Ergebnismitteilung von dem positiven Befund, welcher für die wissensunwillige Lydia eine Art Zwangs-Outing darstellt, da dieser auch ihr den Status „BRCA-positiv“ bescheinigt. Lisa begründet das damit, dass die Information in der Familie sowieso nicht geheim zu halten wäre. Sie besucht in der Folge zusammen mit Tante Anke und Mutter Lydia die Vorsorgeuntersuchungen in C-Stadt und will sich später ebenfalls prophylaktisch die Eierstöcke entfernen lassen. Als Studentin der Biologie präsentiert sie sich darüber hinaus als innerfamiliäre Expertin für das neue Gen-Wissen, die z.B. Johanna zu erklären versucht, was Krebs ist, oder von Anke als Referenz herangezogen wird, wenn diese ein Gen erklären soll: „wenn ich jetzt e Gen beschreibe müsst, würd ich jetzt ans Telefon gehen und würd sagen, ‚Lisa da isch jemand, der will wisse, was en Gen! isch, erzähls ihm‘“ Lisa macht zudem Karate „für dein Körper un gegen den Krebs“ (FI) und lebt gesundheitsbewusst, was jedoch i.E. keinen Unterschied zur Zeit vor der Kenntnis des Gen-Wissens darstellt, denn „was man noch hätte besser machen können mit Gesundheit oder so hab ich eh scho alles g’macht“ (FI). Lisas darüber hinausgehende Versuche, sich durch weniger Ärger und selbstbestimmtes Handeln vor Krebs zu schützen, gelingen jedoch angesichts der vielfältigen Herausforderungen in der Familie sowie an der Universität nur schwer. Sie präsentiert das Testergebnis als Planungschance und die Untersuchungen als Vorteil, wobei dieser rationale Ansatz immer wider durchbrochen wird: „manchmal is schon . [stöhnt auf] unangemehm, sagen wer unangenehm!, aber das vergeht auch wieder“ (FI) Der wiederholte Hinweis auf die Unmöglichkeit der Beeinflussbarkeit der „verhandlungsresistenten“ Gene, die sich in der Äußerung „sie [die Gene, A.d.V.] reden net mit mir“ (EI) spiegelt, lässt die Genkrise als für Lisa vordringlich traumatische Krise erscheinen. Hier setzt sich das Unausweichliche des schon immer familiär vorhandenen Krebses fort. Lisa sucht die traumatische in bewährter Familienmanier als rationale Entscheidungskrise sowie Handlungsaufforderung und -anlass auf vielen Ebenen zu entschärfen, was aufgrund des Eindrucks der fast rastlosen Anstrengung

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deren traumatisches Potenzial unterstreicht. Dieses wird durch die sich damit überschneidende ontologische Adoleszenzkrise Lisas verstärkt, in der die von Oevermann (2004) benannten Bewältigungskarrieren im Rahmen von Studienbeginn, Verlobung und Auszug aus dem Elternhaus in vollem Gange sind und als critical life junction die Bedeutung des Testresultats als implizite Ablösungshoffnung erhöht. Das wirkt insofern krisenverstärkend, als die Genkrise Lisa wieder an ihre Herkunftsfamilie anschließt, somit gegen das Ringen um einen von dieser losgelösten selbstbestimmten Lebensentwurf arbeitet. Allerdings zeigt auch Lisa selbst refamilialisierendvereinnahmende Ansätze, wenn sie Lydia trotz deren erklärter „Wissensunwilligkeit“ mit dem diese in die Gruppe der „Mutant_innen“ inkludierenden Gen-Wissen konfrontiert. Das kann aufgrund der gegebenen Erklärung fast schon als Kapitulation vor der Herkunftsfamilie gelesen werden und deutet wie auch ihre Rolle als Expertin darauf hin, dass Lisa nun auf die Erlangung einer selbstbestimmten Autorität in der statt von der Familie abzielt. Lisas Krise ist damit durch das Thema Selbst- versus Fremdbestimmung in der „Entfernungsbestimmung“ zur Herkunftsfamilie und zur zugehörigen Gesundheitsgefahr gekennzeichnet. Sie kann aufgrund ihres biografischen Hintergrundes als genetisch verschärftes Drama der Adoleszenz beschrieben werden, in dem sich Lisa seit ihrer Kenntnis der Diagnose befindet. Lydias Einstellung bzgl. der Möglichkeit des BRCA2-Tests lautet: „nu wollt ich’s gar nett wisse, mir is des wurscht […] i hat eufach g’sagt ‚Was soll i da jetzt noch rummache? I henn des eune net g’kriegt, werd i des andere au net hann‘“ (FI). Auf das von Lisa mitgeteilte BRCA-Ergebnis und ihr Drängen, den Test zwecks Aufnahme in die Früherkennung nachzuholen, kann sie jedoch nicht nicht reagieren. Insofern setzt das Ergebnis eine familial verstärkte traumatische Krise in Gang, in der sich Lydias Erfahrung aus der refamilialisierend-inkludierenden Krebskrise reaktualisiert und die insofern zu dieser kumulativ beiträgt. Gerade die relationale Komponente wird durch Lydias Betonung der Ärgervermeidung in sozialen Kontexten als für sie besonders „krisenträchtig“ erkennbar, so dass sich die persönliche als relationale, v.a. familiale Krise bemerkbar macht. Lydia holt den BRCA-Test nach und entschließt sich ebenfalls zu einer prophylaktischen Eierstock- und Gebärmutterentfernung: „da ha i denkt ‚na gut alles raus, fertig’“ (Lydia, FI), die sie wie alle übrigen, als vorteilhaft konstruierten gynäkologischen Maßnahmen in C-Stadt durchführen lässt und so aus ihrem Alltagsleben ausschließt. In der fortgesetzten Bemühung um gesundheitsförderliche Maßnahmen – die vom Rückgriff auf den Mondkalender bis zu Selbstuntersuchungskurse der Krankenkasse reichen – wie auch einer sozialen Distanzierung von erkennbarer Schwäche – Operationen werden bspw. noch nicht einmal innerfamiliär veröffentlicht – wird das persönlich traumatische der refamilialisierenden Krise erkennbar, die zugleich als auf Handlungen ausgerichtete Entscheidungskrise gerahmt wird. Die neue familiäre Relevanz der Krebsdrohung erfasst schließlich auch Johanna und inkludiert sie als Teil der „interessante[n] Familie“ (Anke, EI) in Familienaktivitäten, die im Zusammenhang mit der Disposition stehen (s. A1). Letztlich stellt die Genkrise für sie jedoch eher eine traumatische Co-Krise dar, die an das Gefühl der Unabwendbarkeit der kumulierten Krebskrise anschließt und von ihr durch ihr vererbungsbedingtes Schuldgefühl erfahren wird.

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In der Genkrise setzt sich bei den Schall-Brauses erkennbar die Krebskrise fort, da neben den Reaktionsweisen auch die „krisentypologische Rahmung“ der einzelnen Familienmitglieder weitestgehend mit der Krebskrise übereinstimmt. Erneut zeigt sich eine persönliche traumatische Krise, die als scheinbar rationale und handlungsbestimmte Entscheidungskrise gerahmt wird und letztlich die ganze Familie betrifft. Das hierbei erkennbar stärkere persönliche traumatische Potenzial aufgrund des persönlichen Gemeintseins mittels des BRCA-Resultats verweist auf die Entwicklung der familialen Krise hin zur Sorge um mehrere vulnerable Personen. Diese Doppelstruktur wirkt zugleich refamilialisierend (s. Daniel, Lydia) und mittelbar familienerhaltend, da das Achten auf den Einzelnen ein Achten auf die Familie bedeutet. So können sich die BRCA-positiven Familienmitglieder noch schwerer von Familieneinfluss und damit verbundenem Bewusstsein der Krebsgefahr abgrenzen, was das persönliche traumatische Potenzial der Krise verschärft und ein noch stärkeres aufeinander Achten erfordert. Hier besteht folglich ein Regelkreislauf, der offenbar nur durch erfolgreiche Abgrenzung von Krebsgefahr und Familie im „geregelten Leben“ durchbrochen werden kann. Lydia, Anke und selbst Johanna besitzen daher im Vergleich zu Lisa einen „Lebensstandortvorteil“.

6.6 R OLLEN UND B EZIEHUNGSRÄUME DER BRCA- POSITIVEN F AMILIE (B2) 6.6.1

Familiensystem und Familienrepräsentanz nach dem BRCA2-Test: die BRCA-positive Familie

Durch den positiven BRCA2-Test haben sich die durch die Krebserkrankung ausgelösten Tendenzen bestätigt und z.T. verstärkt: In der vertikalen Orientierung steht nun Krebs als relevanter „Familienfluch“ mit matriliniearer, weiblicher Traditionslinie klar im Vordergrund, was gleichzeitig die Relevanz der Vorsorgeuntersuchungen erhöht. Auch darüber hinaus ist eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der pragmatischen Reaktion auf die Krebs- wie auch auf die Gendiagnose feststellbar: In beiden Fällen werden die verdächtigen Organe operativ entfernt, was z.T. sogar mit den gleichen Worten beschrieben wird: Johanna verbalisiert ihre Behandlungserfahrungen „raus .alles, Gebärmutter raus, Eierstöck . Bruscht weg“, während Lydia im Vergleich dazu ihre Entscheidung zur Eierstock- und Gebärmutterentfernung mit „’na gut alles raus, fertig’“ beschreibt und Anke die Möglichkeit einer prophylaktischen Brustentfernung mit „fertig, weg, Schluss“ (alle Stellen FI) kommentiert. Auch Lisa schließt sich zumindest theoretisch dieser Option an, da sie bemerkt, sie würde sich „irgendwann“ (FI) einen guten Termin für die Operation aussuchen. Das impliziert eine Wahrnehmungsparallelität zwischen dem positiven BRCA-Resultat und einer Krebsdiagnose. Auch die relative Emotionslosigkeit, mit der jenes geschieht, ist eine Widerholung dessen, was bereits im pragmatischen Umgang mit dem Krebsresultat deutlich wurde. Beides impliziert eine Reaktion als Wandel erster Ordnung. Zugleich wird auch eine Unsicherheit erkennbar, da zwar inwendige, nicht jedoch sichtbare Körperteile bereitwillig entfernt werden: „des isch was, was dann .dein Mann auch sieht“ (Lydia, FI). Das verweist auf einen möglichen Konflikt zwischen

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den Strukturlogiken der Leistung und Präsentation in der Genkrise, welche das krisenhafte Potenzial relational verstärken kann. Auf der horizontalen Ebene aktueller familialer Strukturen ist hingegen eine Transformation feststellbar. Hier findet sich gleichzeitig eine Verbreiterung und Zuspitzung der familialen Beziehungsstruktur. Wo Johanna bislang als „Krebsmatriarchin“ relativ allein im Zentrum des familialen Sonnensystems kreiste, hat sich durch den BRCA-Test der Kreis der direkt Angesprochenen erweitert. Die frühere Strategie der seriellen Krisenfokussierung muss nun zugunsten einer parallelen Dauerstrategie des Familienerhalts aufgegeben werden, die als Präventionsfokus zu bezeichnen ist. Als solche erscheint der kollektive Vorsorge-„Ausflug“ nach C-Stadt, bei dem der gefährdete Teil der Familie nacheinander durchgecheckt wird, als handle es sich hierbei um einen Körper. Wo also bislang Johanna gleichsam die Familie verkörperte, steht nunmehr die Gruppe der BRCA-positiven Frauen als Familientorso im Fokus. Damit verschiebt sich die Zielorientierung leicht von familiärer Gesunderhaltung hin zu einem gesunden Familienkörper, den es zu erhalten gilt, d.h. sie nimmt eine noch stärker Bezogenheit betonende, integrative Form an. Das wird auch im Verhalten der „BRCA-Fokusgruppe“ deutlich, die sich müht, weitere BRCA-positive Familienmitgliedern einzubeziehen, indem sie diese wie Lisas Bruder Daniel auf den Familienausflug mitnimmt, oder wie Johanna sowohl zur eigenen Vorsorge überredet als auch bei Öffentlichkeitsauftritten als notwendigen Teil der „interessanten Familie“ anspricht und dadurch zur Teilnahme verpflichtet. Hier werden folglich erneut zentripetale Kohäsionskräfte wirksam, die vom positiven BRCA-Testergebnis ausgehend verstärkt über die Generationen hinweg eine Pflicht zur familialen Kooperation und Solidarität aufbauen. Damit wird die Basis derer verbreitert, die als Familie erlebbar sind und die offensichtliche Familienrepräsentanz bilden, so dass aus dem „Krebsmatriarchat“ die „BRCA-positive Familie“ wird, die sich auch über den BRCA-Zusammenhang hinaus in Besuchs- und Arbeitsroutinen trifft: „A: also wir, die wir hier so sitzen! [betont] sehen uns relativ oft Li: ja, aber der Rescht eigentlich net so“ (FI)

Gleichzeitig geht damit eine Zuspitzung des Familienverständnisses einher, da zunächst einmal BRCA-positive Personen als Familienmitglieder wahrgenommen werden. Das System wird nun im Gesamten vom BRCA-Thema bestimmt. Ein Indiz dafür liefert die Wahrnehmung noch nicht diagnostizierter Familienmitglieder, über deren Status die BRCA-Positiven als Gruppe zu wachen scheinen. So sagt Lisa über ihren Bruder Mark: „beim Mark wissen mer’s net, also es dritte Kind, da wissen wir net ob er’s hat, weil er noch unter 18 ist“ (FI). Dieser Eindruck der Gleichsetzung von Familie mit BRCA-positiv wird durch die Wahrnehmung des BRCA-negative Familienteils verstärkt, der sich wie folgt aufspaltet: Auf der einen Seite steht Lydias und Ankes Bruder Jonas, der als mitfühlend-hilfsbereit beschrieben wird und eine Art „BRCA-Unterstützungsbereitschaft“ besitzt, auf der anderen die „Großschwester“ bzw. Tante Rose sowie Karl-Herbert, die sich beide aufgrund ihres Verhaltens als Familienmitglieder disqualifiziert haben. Solidarität mit der vom BRCA-positiven Familienteil definierten Zielorientierung und dem Selbstbild und Mythos des gesunden Familienkörpers als „gesunde Schar“ (Johanna, FI) scheint somit familiale Zuge-

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hörigkeit zu regeln. Die Veränderung der horizontalen Familienausrichtung angesichts der BRCA-Herausforderung stellt jedoch einen eher minimalen Wandel erster Ordnung dar, da das bekannte Thema der gesund zu erhaltenden Familie lediglich verdeutlicht wird. Das verweist darauf, dass die Schall-Brauses auch weiterhin ein starr-verstricktes Familiensystem darstellen, in dem ein Wahrnehmungskontinuum zwischen Krebs und BRCA erkennbar ist. Abbildung 5: Familienensemble nach dem positiven BRCA-Testergebnis Jo Ag

Ly

K E J

D

K

Li A R

6.6.2

Die BRCA-forcierten Gesundheitsrollen der Schall-Brauses

Die Situation des Familieninterviews vermittelt, wie die BRCA-positiven Familienmitglieder im Umgang mit dem Krebs-/BRCA-Thema gemeinsam agieren und diesen organisieren. Zum Setting des Interviews sowie dessen Vorlauf lässt sich folgendes festhalten: Das Interview findet statt in Ankes Eigenheim, einem neuen Reihenhaus in Pflugstadt, das sonst keinen Treffpunkt der Familie darstellt. Initiatorin des Kontakts und Informationsübermittlerin ist Lisa, deren Zahlendreher in der Hausnummer (91 statt 19) das Auffinden des Hauses erschwert und bei der Forscherin für eine kurze Irritation vor dem Gespräch sorgt, da in der Straße keine 91 existiert. Bei der Ankunft öffnet Lisa Schall und stellt die Anwesenden vor, die die Forscherin alle freundlich begrüßen. Neben den beiden angekündigten Gesprächspartnerinnen Lisa und Anke haben sich unerwartet auch Johanna und Lydia zum Gespräch eingefunden. Die Forscherin drückt ihre Überraschung über die Anzahl der Teilnehmerinnen aus, woraufhin Lydia äußert „es soll sich ja für sie auch lohnen“ und im Gegensatz zur sich nicht einbringenden Johanna Smalltalk mit ihr betreibt. Anke erkundigt sich nach deren Getränkewunsch, dann gehen alle Gesprächsteilnehmerinnen ins Esszimmer im ersten Stock, wo der Interviewerin ein Platz am Esstisch zugewiesen wird.

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Abbildung 6: Sitzordnung während des Familieninterviews Lydia

Treppenhaus

Esstisch Johanna

Tür

Anke

Lisa

Forscherin

Während des Familieninterviews unterscheiden sich die Gesprächsanteile sehr stark. Johanna bringt sich ausgehend von Lisas Ankündigung „da muss ich noch was einwerfen, mei Oma sagt was, wenn sie will“ nur sporadisch ins Gespräch ein und wird selten angesprochen, verweigert sich jedoch den wenigen direkten Fragen nicht. Lisa zeigt sich sehr bemüht, alles zu beantworten, erläutert gelegentlich Zusammenhänge, die der Forscherin nicht klar sein könnten und ist strukturierend und kommunikativ am stärksten auf diese bezogen. Sie kommentiert auch ausführlich die Äußerungen der anderen. Lydia ist oftmals diejenige, die als erste auf eine Erzählaufforderung reagiert und detaillierte Berichte abliefert, während ihre Schwester Anke zurückhaltend erscheint und eher kurz, aber offen auf direkte Fragen antwortet. Ihre Katze möchte während des Gesprächs öfter in den Raum und wieder hinaus, wofür Anke verantwortlich zeichnet. Sie macht darüber hinaus während des Gesprächs deutlich, dass ihr Essen um 20:00 Uhr fertig sei und sie dann auch zu essen gedenke. Die überraschende Anzahl der Anwesenden, die z.T. nicht angekündigt waren, weist das BRCA-Thema als ein primär in der weiblichen Familiengruppe Bearbeitetes aus, von dem sich deren Mitglieder nur schwer abgrenzen können. Durch das Setting des Interviews präsentieren sich die Schall-Brauses zudem als eine im Umgang mit dem BRCA-Testergebnis erfolgreiche Familie, die das Thema zwar innerhalb vorstrukturierter (Zeit-)Räume bearbeitet, jedoch lebensweltlich auf Distanz hält und ihm dadurch einen „angemessenen“ Platz einräumt. Die verschiedenen Familienmitglieder übernehmen im Rahmen dieser Bemühungen unterschiedliche Rollen, die individuelle Bewältigungsumsetzungen und Bedeutungen des Themas beinhalten und damit letztlich in den Dienst der Familie stellen. Die vier „Positionsinhaberinnen“ funktionieren als solche ausreichend zusammen, um die gewünschte Außenwirkung zu erzielen, produzieren jedoch immer wieder Irritationen (z.B. im Hinblick auf die Adresse), die auf das unterschwellig Unabgeschlossene und damit Unsichere und Ambivalente des BRCA-Themas hinweisen. Lisa Schall besitzt eine ambivalente familiale Brückenfunktion: Einerseits präsentiert sie sich durch ihre Rolle und Positionierung vor und während des Gesprächs als familiäre „Organisatorin“ mit Zuständigkeit auf der inhaltlichen Ebene, die deren Zugang zum Thema regelt. Andererseits öffnet sie der Forscherin auch den Zugang zur Familie, was eine Annäherung an die Forscherin und eine Transzendierung ihrer

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Rolle als „Betroffene“ beinhaltet, die als familiale Distanzierung individuierend funktioniert. Damit gelingt es ihr, sich als hilfs- und mitteilungsbereite Gesundheitsexpertin der Familie zu präsentieren und so als jemand Besonderes darzustellen, obwohl sie ihre distanzierte Rolle nur begrenzt durchhält. Lydia Schall tritt durch Gesprächsverhalten, Zugänglichkeit und Sitzposition als außerfamilial wirkende Gesundheitschronistin der Familie in Erscheinung. Diese Position beinhaltet sowohl die Möglichkeit der thematischen Deutungshoheit als auch die Präsentation eines positiven Selbst- und Familienbildes entsprechend ihrer präsentablen Bilanzierungsstrategie, was nicht ohne eine bereits im Zusammenhang mit der Krebskrise konstatierte starke familiale Einbindung funktioniert. Diese Konstellation bestätigt ihre Sozialkompetenz, beinhaltet aber auch eine Tendenz zur Instrumentalisierung von Sozialbeziehungen und offenbart eine bewertungs- und leistungsbezogene Sichtweise auf Personen. Anke Brause übernimmt die Funktion der aktiv-pragmatischen Strukturierung des Gesprächs, zeichnet also für die Handlungsebene verantwortlich. Sie legt den vom BRCA-Thema eingenommenen (Zeit-)Raum fest, verweist durch Sitzplatz und Gesprächsverhalten auf einen wenig betroffenen, ruhigen Umgang mit dem BRCAThema und kann daher innerhalb der Familie als Gesundheitsberuhigte gelten. Zugleich zeigt sich eine gewisse familiale Randstellung. Für Johanna Schumacher stellt das BRCA-Thema eine offenbare Belastung dar, der sie mit an Desinteresse grenzendem stillen Widerstand gegen das veranstaltete „Gesprächstheater“ begegnet, obwohl sie sich diesem nicht entziehen kann. Sie tut mit anderen Worten ihrer „Schuldigkeit“ genüge, aber nicht mehr. Aus dem ihr bezeugten Respekt wie auch aus der Krebskrise folgt, dass sie die familiale Funktion einer Gesundheitsautorität oder -ikone besetzt, die in genau dieser durchgehaltenen Anwesenheit begründet liegt. 6.6.3

Die Familien- und Sozialrepräsentanzen der BRCA-positiven Frauen unter Berücksichtigung des damit verbundenen Deutungsraumes

Johanna Für die familienorientierte Johanna stellen v.a. ihre BRCA-positiven Nachfahren das für sie relevante Umfeld aus Kontrolle ausüben und kontrolliert werden, umsorgen und umsorgt werden dar. Die Beziehung zu Lisa gestaltet sich ambivalent, wird von Johanna jedoch im Großen und Ganzen positiv bewertet, was das ambivalente Potenzial mildert. Einerseits gibt es viel Sympathie und Nähe zwischen den beiden: „J: ah, mi darfste ja au knete Li: ja: ich schnuckel au mei’d Oma hin“ (FI, beide sprechen über das Umarmen, A.d.V.)

Andererseits existiert ein Unverständnis zwischen Gesundheitsikone und Gesundheitsexpertin, das sich am unterschiedlichen gesundheitsbezogenen Verhalten und Verstehen sowie an der Kombination aus Lisas Gesundheitsbelastung und Johannas Schuldthema festmacht.

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Johannas Beziehung zu Anke ist belastet. Hintergrund ist der von Johanna als Verletzung erfahrene Krebs-bedingte Rückzug Ankes. Anke bleibt auch nach dem positiven BRCA-Test und der von dieser empfundenen „körperlichen Annährung“ in Johannas Augen die „typische“ verantwortungslos agierende Jüngste, was sie durch den Satz „ah, das tuscht du sowieso, (1?) was du möschtescht“ (FI) formuliert. Johanna als pflichtbewusste und familienorientierte Person lässt eine Mischung aus Unverständnis und Enttäuschung spüren, hinter der Sehnsucht erkennbar ist. Das lässt eine implizite emotionale Intergenerationenambivalenz erkennen, welche die Distanz zwischen beiden perpetuiert. Hier existiert eine klassische Mutter-KindBeziehung weiter, obwohl Anke erwachsen ist. Zwischen Johanna und Lydia hingegen besteht trotz der zu erwartenden Diskrepanzen aufgrund von Lydias Beziehungsbiografie die größte Nähe, was sich z.B. im stillschweigenden Übereinstimmen bei den zitierten Café-Besuchen in B-Stadt ausdrückt. Diese Nähe ist mit einer großen Übereinstimmung im pragmatischen, auf Privatsphäre und Leistung bedachten gesundheitlichen Handlungsansatz verbunden, den die beiden im Grunde in Kooperation etabliert haben: Abbildung 7: Johannas Beziehungsgefüge

Lydia Lydias Familien- und Sozialrepräsentanz umfasst im Vergleich mehrere Beziehungsräume. Entsprechend ihres sozial eingebetteten Gesundheitsverständnisses sind für Lydia sämtliche Beziehungen immer auch relevant in Bezug auf Krebs/BRCA, weshalb sie aus dem BRCA-Testergebnis für sich v.a. die Berechtigung zur sozialen Ärgervermeidung abgeleitet hat: „das einzischte was ich: sp-ganz: .. für mich g’macht hab, is dass ich mich mit niemand! mehr rumärger, die Leut, die ich net mag, denen geh i aus dem Weg und fertig“ (FI). Das ist der Teil der Anregungen aus C-Stadt, den sie sich „wichtig genomme“ (FI) hat. Die folgende Aufzählung verdeutlicht Lydias grundsätzliche gesellschaftliche Einbindung wie auch deren „Ranking“: „also .. tanze tu ich mit meim Mann! . und mein Mann im Arm halte, das isch fascht so schö wie Sex [alle lachen] doch, des isch eufach schön, mir könne des .sehr gut mitnander, mir- des isch eufach schön, des Tanze, des Singe isch toll, weil ich da .so viele .nette Fraue, da isch also

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nur eun Aus!fall dabei, aber alle andre sind wirklich! ganz arg nett, mit dene kommt mer gut klar . isch wunderbar . und’s s Fitness isch mehr unpersönlich! also, des isch nur für mich!, also da .kennt mer wohl die Leute und schwätzt mal e paar Worte, aber .so persönlich isch des jetzt net, wie jetzt: Tanze un Singe“ (FI)

Als Lydias „körperprivateste Beziehung“ stellt sich die zu ihrem Mann Bernd dar, der i.E. ihr einziger echter Vertrauter ist: „da hann ich denkt, ‚auf wen kannscht dich verlassen? nur auf dein Ma‘, un das isch tatsächlich so“ (EI). Er teilt ihre Auffassung und Leistungsorientierung und repräsentiert den Endpunkt einer Entwicklung, in der Lydias Männer sich vom Alkoholiker zum elf Jahre jüngeren Sportler „verbessern“. Während die Partner also immer gesünder werden, „verkrebst“ ihre Herkunftsfamilie zunehmend. Damit hat sich Lydia in ihrer Wahlfamilie eine Umgebung geschaffen, die von Gesundheit statt Krankheit gekennzeichnet ist und so eine Gegenrealität zu ihrer Herkunftsfamilie sowie einen privaten Rückzugsraum darstellt. Ähnlich nahe steht ihr nur ihre jedoch nicht weiter beschriebene beste Freundin. Die ambivalenteste Beziehung besteht zur Tochter Lisa, die Lydia als „Wolf im Schafspelz“ (EI) beschreibt. Obwohl die beiden ähnliche Gesundheitsleistungstendenzen und objekthafte Körperbeziehungen zeigen sowie viel gemeinsam unternommen haben (bspw. Bauchtanz, Reisen), ist diese Nähe von extrem konflikthafter Konkurrenz gekennzeichnet: „Ly: mir gehen ins Fitness, mein Mann und ich und dann [atmet ein], ha Gott un da, naja, mei Ma, der god natürlich, des isch klar, und dann gang i halt mit! […] aber hinterher denk i ‚pf, hascht wieder was do, klasse‘ . also isch au! fürs Wohlbefinden [ruhiger] […] ja na isch des eufach klasse dann hinterher, > also is eufach schee >Li: aber ja aber ich geh bewusst! hin, weil ich sag, ‚ich muss was für mein Körper tun‘, also ich geh net hin, weil ich halt denk ‚haja, jetzt gehscht halt hin‘ sondern ich mach des schon bewusst [leiser]“ (FI)

Jedoch kommt Lydia zu dem Schluss „trotzdem lieb ich die unendlich, ehrlich“ (EI), so dass von einer bewussten Intergenerationenambivalenz gesprochen werden kann. Zugleich scheint diese die engste der Beziehungen zu ihren Kindern darzustellen. Zu ihrer unvermeidlichen Herkunftsfamilie (s. BRCA-Zwangs-Outing) hat Lydia eine Verbundenheit in Distanz konstruiert, die sich in der Rolle der Gesundheitschronistin äußert. Die größte Nähe besteht sowohl persönlich als auch inhaltlich zu Johanna, der Lydia aufgrund ihres fehlenden „Rumgejomere“ (EI) und Gesundheitskampfes während der Krebserkrankung Bewunderung entgegen bringt, die sie aber andererseits auch nicht aus der „Vorsorgepflicht“ entlässt, denn immer noch gelte „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“ (EI). Die Beziehung zu Anke basiert auf akzeptierter Gegensätzlichkeit: Ankes Betonung von Körpergefühl und deren Radikalität widerstreben Lydias objekthafter Körperbeziehung und Bilanzierung. Dazu addieren sich offensichtlich alte Kränkungen, wie Ankes Beschreibung von Lydias Brust als „Spielzeugbusen“ (FI). Andererseits verweist das auf große Vertrautheit, die sich auch in übereinstimmenden Bewertungen der ehemaligen Zimmergenossinnen bspw. den positiven BRCA-Test betreffend äußert. Im Gesamten scheinen die beiden zu wissen, was sie aneinander haben und wo ihre Differenzen liegen.

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Während der Bruder Jonas, den Lydia „ganz arg mag“ (FI), als unterstützend erfahren wird, ist ihr Vater Karl-Herbert, mit dem laut Lydia „niemand en enges Verhältnis“ (EI) hätte, mit seinem „unverantwortlichen“ Gesundheitsverhalten fast aus dem Blickfeld verschwunden. Völlig den Kontakt abgebrochen hat sie zu ihrer „Großschwester“ Rose, deren Verhalten nach dem BRCA-Test ähnlich negativ gesehen wird wie das väterliche Zwangs-Outing der Mutter nach der BrustkrebsOperation: „das-das mer sich natürlich selber freut, dass mer’s net hat, das isch ja ganz klar, das streit ja a niemand ab, aber ich würd es ja net sage, wenn da jemand dabei sitzt!, der’s hat! mer kann scho sage ‚ich war erleichtert, dass ich des net hab‘ aber das i denn sage muss ‚ich hann e Flasch Sekt! köpft‘ .also des find ich-des find ich .hammerstark […] i hab keu Kontakt mehr“ (FI)

In anderen sozialen Kontexten, die sich als Vereinsleben zusammenfassen lassen (u.a. Tanzen, Fitness), achtet Lydia streng auf ihre Außenwirkung als attraktive und aktive Frau, indem sie bspw. eine notwendige Operation in eine Sommerpause zu legen versucht oder sich unter der Dusche mit anderen Frauen vergleicht und zu dem Schluss kommt „da kannscht di scho ma sehe lasse“ (EI). Die Rückmeldungen bestätigen folglich dieses Bild, wobei jungen Männern eine besondere Wichtigkeit zukommt:„e Bekannte vom- öh beim Singe un dere ihrer . Freund oder Lebensgefährte [fragend], wenn die kummet, der gibt mir n Kuss! [ungläubig], aber der isch jung, des gaht no [kokett]“ (FI). Der Kontakt zum HBOC-Zentrum bringt Lydia keine Perspektivenerweiterung. und damit keinen neuen Deutungs- oder Handlungsraum. Abbildung 8: Lydias Beziehungsgefüge und Deutungsräume

Wahlfamilie mit Bernd Juan

Vereinsleben

Anke Zu Lydia scheint auch von Ankes Seite aus eine Mischung aus bekannter Verschiedenheit, Kränkung und Vertrautheit zu bestehen. Die resultierende Beziehung besitzt folglich eine Nähe im Bewusstsein der Gegensätzlichkeit.

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Die Beziehung zu Lisa basiert auf einer soliden Sympathiebasis: „Lisa is n Mensch, den mer liebe muss […] Lisa hat e gewisse Charme, den hab ich noch nie bei nem Mensche erlebt“ (EI). Sie lässt sich als stabile Koalition beschreiben, auch wenn wie demonstriert nicht immer Verständnis zwischen Anke und ihrer konsequent leistungsorientierten Patentochter vorliegt. Johanna ist für Anke eine unheimlich wichtige Person. Die Beziehung ist von Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit gekennzeichnet. So fragt sie diese bspw. nach Begleitung bei der ersten BRCA-Vorsorge, was andeutet, dass Anke ihr gegenüber fast schon in einen kindlichen Status zurückfällt, also eine gewisse „Refilialisierung“ erfährt. Gleichzeitig versucht sie, die Mutter zur Vorsorge zu bewegen, sprich Verantwortung für diese zu übernehmen und sie, die für Anke „net sterbe“ (FI) kann, zu erhalten. Jedoch überwiegt bei Johanna Unverständnis Anke betreffend. Ankes Sehnsucht bleibt damit letztlich unerfüllt, die Beziehung etwas distanziert und die Ambivalenz zwischen den Generationen bestehen. Die Beziehung zu ihrem Vater Karl-Herbert ist auch von Ankes Seite aus gestört. Auf die Frage nach ihrer Sichtweise auf den Vater antwortet sie „wie soll man das ausdrücken, ohne das mer en Vatermörder isch?“ (EI). Die Beziehung zur großen Schwester Rose erscheint neutral, wiewohl in deren Beschreibung als „08/15-Patientin“ unterschwellige Aggressionen stecken. Abbildung 9: Ankes Sozialrepräsentanz und Deutungsräume

Wahlfamilie

HBOCZentrum

Außerfamilialer Kontext: Arbeit, Nachbarschaft, Rückenkurs u.a.

Die weitreichenden Konsequenzen des Herzinfarkts von Gerd, die Anke als „bewusst lebe tu ich eigentlich erscht- . oder richtig! seit mein Mann n Herzinfarkt g’het het, da hat sich bei uns viel umgestellt“ (FI) beschreibt, belegen die große Wichtigkeit der Wahlfamilie als Gegenrealität und Rückzugsort vom familialen Krebs der Herkunftsfamilie. Im Sprechen über das HBOC-Zentrum zeigt sich Ankes sehr positives Bild von diesem, zumal deren operativ-kontrollierende Art gut zu ihrem pragmatischen Abgrenzungsverhalten passt. Sie bringt den dort Angestellten, v.a. der Beraterin Großhuber als „Ersatzmutter“, ein kindlich anmutendes, jedoch aktives Vertrauen entge-

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gen. Anke kommt zu dem Fazit: „die sind alle furchtbar nett“ (EI) und vermittelt das Gefühl der Geborgenheit in der Vorsorge. Im außerfamilialen sozialen Kontext (z.B. Nachbarschaft, Arbeit) veröffentlicht sie ihren Körperzustand nur kontrolliert, indem sie bei Konfrontationen die Aufmerksamkeit von sich ablenkt: „es läuft immer auf des hinaus: macht ihr Vorsorge? . Macht’s! Leut“ (EI). Sie bekommt damit die gewünschte Unterstützung, grenzt sich aber zugleich in ausreichendem Maße ab, so dass keine neuen Impulse oder echten „Berührungspunkte“ entstehen. Lisa Im Verhältnis zu Johanna stößt Lisa des Öfteren auf „Verständnisbarrieren“, da diese bspw. trotz Lisas Erklärung deren Lesart der biomedizinischen Krebsdeutung nicht versteht, Lisas Autorität also an der Stelle nicht würdigt. Das Verhalten der Oma wird i.d.R. resigniert hingenommen, führt aber auch zu wenig schmeichelhaften Beschreibungen Johannas: „Oma isch e Leider“ (FI). Zugleich hat Johanna Lisa sowohl in deren Jugend als auch jetzt zusammen mit Juan Unterschlupf gewährt. Die beiden sehen sich fast täglich. Die Beziehung beinhaltet folglich eine Spannung zwischen Nähe und Distanz mit Tendenz zu Intergenerationenambivalenz und Autoritätskonkurrenz, wird aber auch von Lisas Seite her positiv konstruiert. Im Gegensatz dazu ist das Verhältnis zu Lydia von einer ausgeprägten Spannung geprägt, die auch zwischen Konkurrenz und Unterstützung changiert, aber viel problematischer in Hinsicht auf ein respektvolles Miteinander erscheint. Hier existiert eine deutlich negativ konnotierte Intergenerationenambivalenz. So respektiert Lisa bspw. Lydias Entschluss gegen die Testteilnahme nicht, was hinsichtlich all der Probleme – Essensverhalten, schlechtes Gedächtnis, finanzielle Situation usw. – die sie ursächlich mit ihrer Mutter in Verbindung bringt, als „Revanchefoul“ erscheint. Trotz gemeinsam verlebten guten Zeiten (z.B. Urlaub) überwiegt Lisas ins Aggressive rutschende negative Sichtweise der Mutter: „meine Mutter hasst Kinder und vor allem ihre eigenen“ (EI). Diese hängt mit dem auf den Körper bezogenen Ringen um Autonomie zusammen. Das lässt sich anhand von Lisas Entscheidung für den BRCA-Test dokumentieren, die sie mit „da diskutier ich nicht wegen sowas“ (EI) kommentiert. Einzig zu Anke hat Lisa trotz gelegentlichem Unverständnis ein sehr positives, nahes Verhältnis, das sowohl über die Jahre im Verhältnis von Patentochter und tante als auch im gemeinsamen Umgang mit der genetischen Disposition als Koalition gelebt wurde/wird: „ich würd auch immer eher zu Dotte [Patentante, A.d.V.] gehen, wenn ich irgendwas brauch! oder hab! und irgendwie so was und ihr des erzählen als zu meiner Mutter“ (EI). Ermöglicht wird dieses Verhältnis dadurch, dass Anke Lisas Autorität bzgl. des biomedizinischen Wissens völlig anerkennt und zugleich keinen Anlass zu körperlicher Konkurrenz und Wettbewerb bietet. In ihrer werdenden Wahlfamilie bestätigt Juan einerseits die körperliche Kontrolllogik, da er bspw. sehr sportbegeistert ist und ebenfalls keinen Wert auf zu viel emotional getönte Veröffentlichung legt: „‚ja:, er will jetzt net, dass das immer’n Thema isch’“ (EI). Andererseits kommt er aus einer Familie „die haben kein Platz für

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Krankheit“ (EI). Insofern bedeutet die Wahlfamilie auch für Lisa einen gewissen gesundheitlichen Freiraum und Gegenentwurf. Im HBOC-Zentrum werden Lisas Prämissen im Umgang mit Gesundheit sowie ihr Status als kontaktverantwortliche Expertin weitestgehend bestätigt, was ihr suggeriert, alles unter Kontrolle zu haben. Dazu gesellt sich eine gewisse Erleichterung des Drucks, indem Lisa z.B. keine prophylaktische Mastektomie angeboten wird: „also mir ham sie das natürlich auch net g-g’sagt, ich soll mir d’Bruscht abnehmen lassen“ (FI). An der Universität bestätigt sich zum einen ihr Ansatz des KörperkontrollWettbewerbs, wenn sie z.B. die genetische Disposition gegen eine leidende Kommilitonin in Stellung bringt: „ja: ich hab ne Kommilitonin, die hat was weiß ich Rheuma und die haben- sind alles Milbenpatienten? und da hat sie mir das so erzählt und die hat scho so’n leidenden Gesichtsausdruck [amüsierter Unterton] und dann hab ich g’sagt ‚du, es könnt schlimmer sein‘! [abwertend] und also die wusste, dass ich des Krebsding hab, es war jetzt net so unverschämt! [lauter] und guckt sie mich an . ‚ja‘ [ruhig]“ (FI)

Andererseits wirkt eine kompetitive Deutung naturwissenschaftlichen Wissens als „kleine Zuflucht“, ohne damit jedoch den Rahmen der biomedizinischen Logik an sich zu weiten: „mein Professor […] den hab ich au so gefragt, was er davon hält, der hat gem-, nee, er denkt net, dass des jetzt so tragisch is wie das j- wie die des jetzt meinen!“(EI). Abbildung 10: Lisas Beziehungsgefüge und Deutungsraum

Ag

K

E

Ly J

D

Li Universität

A Juan

HBOC-Zentrum

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6.7 D IE PRÄVENTIV - FUNKTIONALE F AMILIE : G ESUNDHEIT DURCH K ONTINUITÄT (C2) 6.7.1

Gesundheitsregeln der präventiv-funktionalen Familie

BRCA-bedingte Zuspitzung und Verbreiterung des Handlungsansatzes Es zeigt sich, dass das „Muster der Selbstverantwortung im Rahmen einer regionalen Leistungsgesellschaft“ (Bohler &Hildenbrand 2006, S. 238) als milieubedingter Handlungsduktus vor dem Hintergrund der systemischen Entwicklung der SchallBrauses im Zuge der BRCA-Herausforderung und der zunehmende gesellschaftlichen Individualisierung auch im Umgang mit der Genkrise umgesetzt wird. Gerade die zunehmende Individualisierung der Gesundheitsgefahr erfordert nun verstärkt ein persönlich aktives und selbstreferentielles Leistungsverhalten als pflichtgemäß zu erbringender Gesundheitserhalt, mit dem zugleich eine möglichst makellose (Selbst-)Präsentation erzielt und erhalten werden soll. Besonders deutlich wird diese Kopplung aus Leistung und Präsentation angesichts des Essverhaltens des BRCA-positiven Familienkerns: Der familial geforderte verantwortliche Umgang mit dem Körpergewicht als Gesundheitsleistung wird entweder in Form ständiger Nahrungsmittelkontrolle (Lisa) oder temporärer Maßnahmen wie Diäten (Lydia) oder Fasten (Anke) umgesetzt, was auf die familial zulässige Individuallogik der Frauen verweist. Damit wird Gewicht als gesundheitsrelevante Größe individuell hergestellt, aber familial überwacht und kommentiert, wie bspw. wenn Lydia Ankes Verhalten als „dieses Radikale“ bezeichnet. Das lässt sich als innerfamiliale Leistungspräsentation beschreiben, die durch eine eher außerfamilial inszenierte Präsentationsleistung ergänzt wird. In Zeiten des BRCA-vermittelten Familienzugriffs bleibt die Gesundheit der Schall-Brauses jedoch angesichts der systemischen Zielorientierung eine ganz entscheidend herkunftsfamilial zu bewältigende Aufgabe, bei der Bewahrung durchaus mit einer Einschränkung der Autonomie der einzelnen Familienmitglieder kombiniert sein kann. Leistung und Präsentation werden somit individualisiert, dürfen jedoch keine egoistischen Tendenzen fördern, die den Bestand der Familie als Gemeinschaft gefährden könnten. In dieser Form der Gesundheitsleistung steckt demnach eine die bestehenden Gesundheitsleitlinien zugleich auf das Individuum „zuspitzende“ und „verbreiternde“ Tendenz, wie schon bzgl. der Familienstruktur. Die Verbreiterung liegt darin, dass der zu verantwortende Bereich nicht mehr „nur“ eine aktuelle Krebskrise, sondern aufgrund der präventiven Zeit- und Verhaltensperspektive im Prinzip das ganze Leben in allen Bereichen betrifft. Es ist eine umfassende Lebensführungsrelevanz des Gesundheitsthemas zu konstatieren, deren familial eingefasster individueller Leistungscharakter von den Schall-Brauses wie folgt formuliert wird: „F: Welche Bedeutung hat für sie als Familie! jetzt tatsächlich diese genetische Disposition? Ly: ja gut, des mer einfach danach guckt! . > das mer alles Mögliche, was möglich isch macht, >Li: ja>

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das mer Vorsorge macht, das mer wenn was isch!, dass es rechtzeitig erkannt wird, na kommt des raus und fertig A: ja Li: ja“ (FI)

Die familiale Bedeutung des BRCA-Wissens besteht damit vordergründig einzig und alleine in einer umfassenden Handlungsverpflichtung aller BRCA-positiven Familienmitglieder. Handlung ist damit strukturell gerahmte Bedeutung und wird nicht etwa auf eine offensichtlich gültige Familiendeutung zurückgeführt. Das bestätigt die Eröffnung eigener Interpretationsräume der Familienmitglieder innerhalb des primär aktiv-pragmatischen Bewältigungsansatzes der Familie. Gleichzeitig vermittelt der Kulminationscharakter der Bemerkung ein unterschwelliges Verständnis der Disposition als latenter Krebs. Das BRCA-Testergebnis scheint also vom Krebs her interpretiert zu werden und nicht als Erkenntnis für sich zu stehen. Diese Gleichstellung ermöglicht einerseits eine gleichartige Umgangsweise mit Krebs und BRCATestergebnis, d.h. eine Anwendung des bekannten Regelwerks. Während Krebs als einmaliges beendbares Geschehen betrachtet wird, dessen Behandlung durch Entfernung „fertig“ ist, gilt das andererseits für die genetische Disposition eben nicht. Daher ist der als latenter Krebs verstandene Zustand gleichsam auf Dauer gestellt, weshalb die genetische Disposition eben auch das gesamte Handeln und Orientieren sowohl in der alltäglichen als auch medizinischen Lebenswelt bestimmt und als ständige Anfrage an den (bisherigen) Lebensentwurf betrachtet werden kann. Die dergestalt zum Ausdruck gebrachte allumfassende Gesundheitsorientierung der Familienmitglieder wandelt und komprimiert die bewährten Gesundheitsregeln der Großelterngeneration zu vier handlungsleitende Regeln, in denen sich die Anleitung zum Erhalt des gesunden Familienkörpers und zur Abwehr der individuellen Krebs-/Gen-bedingten Lebens(entwurfs-)Gefahr konkretisiert. Die Passing-Aufgabe besteht in der Befolgung dieser Regeln zum Beleg der Familienzugehörigkeit und der Sicherung von Gesundheit. Eine Nichtbefolgung ist gleichbedeutend mit einem Familienausschluss, was als Gesundheitsgefährdung übersetzt wird. Die resultierenden Gesundheitsleitlinien der Schall-Brauses 1. Krebsursachen bzw. -erkrankungen stellen Handlungsaufgaben dar, die durch eine (re-)aktiv-pragmatische Strategie zu bewältigen sind. Das Grundprinzip besteht darin, gemäß der „Alles oder Nichts“-Regel dann zu handeln, wenn die Notwendigkeit besteht und sich nicht verrückt zu machen. Eine (theoretisierende) Auseinandersetzung oder Reflexion ist hingegen nicht hilfreich und angeraten. Diese reaktive Strategie gilt der Abwehr von Ohnmacht, Alternativlosigkeit oder Bewertungsambivalenzen im Handlungs- oder Gefühlsbereich. Sie erhält Funktionalität, ohne die zu ergreifenden pragmatischen Maßnahmen zu sehr zu fixieren, trägt aber auch zur Ausbildung oberflächlicher Deutungsmuster bei. 2. Gesundheit und Gesundung ist durch ausdauernde Leistung, nötigenfalls Kampf zu erhalten bzw. wiederzuerlangen. Jede Person hat mit ihrer „KörperMaschinerie“ verantwortungsvoll umzugehen. Das beinhaltet die Gestaltung von

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Ernährung, Bewegung und Stress und bezieht sich im Besonderen auf die Pflicht, regelmäßig an medizinischen Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen. Gesundheit ist somit eine aktiv herzustellende, aber auch herstellbare Leistung. Welche konkreten Maßnahmen als „verantwortungsvoll“ betrachtet werden, bleibt der individuellen Definition überlassen, gerade die medizinische Vorsorge bietet jedoch ein „Einfallstor“ für familiale Interventionen im verstrickten Familiensystem. 3. Es ist angezeigt, in sozialen Kontexten seine visuelle und emotionale Präsentation zu kontrollieren. Eine spezielle Betroffenheit, wie Leiden, Angst oder Schwäche, aber auch Freiheits- oder Selbstbestimmungssehnsüchte sind nicht zu äußern. Diese Regel zielt auf die Abwehr eines Leidensausdrucks, der in der verstrickten Familie als Abwehr von Mit-Leid und einer daraus resultierenden Abwärtsspirale gedacht werden kann. Speziell die Suggestion eines Leidens an der Familie wird nicht toleriert. Die Vermeidung fehlerhafter Selbstpräsentationen verhindert darüber hinaus Interventionen anderer und dadurch einen Autonomieverlust der Einzelnen. Diese Regel hat damit auf die Mitglieder wie auch auf die Familie als Gesamtes den gleichen Effekt: In beiden Fällen verhindert sie den Verlust selbstbestimmter Handlungsfähigkeit und dient der Abgrenzung im verstrickten Familiensystem, aber auch gegenüber anderen sozialen Einflussquellen und damit dem Erhalt des Status Quo. 4. Es besteht die Pflicht zum kollektiven familialen Krisenmanagement inkl. der Verhinderung öffentlicher Exposition. Im Fall einer eigenen Krise beinhaltet diese den Rückzug aus dem potenziell bloßstellenden außerfamiliären in ein fürsorgliches innerfamiliäres Umfeld. Im Fall der Krise eines anderen Mitglieds beinhaltet diese die Notwendigkeit familialer Solidarität sowie ein Krisenprimat der Herkunftsfamilie. Die Solidaritätsregel ist eine deutliche Weiterentwicklung, bei der nun weniger die Pflege Erkrankter als vielmehr die Überwachung eines verantwortungsvollen Körperverhaltens der Gesunden im Vordergrund steht, wobei zwischen unterschiedlichen sozialen Kontexten Gestaltungsspielraum besteht. Hierbei handelt es sich um eine Abgrenzungsstrategie zur Verhinderung familialer und individueller Verletzungen sowie zum Aufbau eines „Krankheitsschutzes“ durch Expositionsverhinderung. Unklar bleibt jedoch, was in diesem Zusammenhang als unterstützendes familiäres Umfeld definiert wird. Auch hier existiert Gestaltungsraum. Damit garantiert diese Regel folglich ebenfalls „Pufferzonen“. Gleichzeitig sichert sie die Funktionalität der Familie Schumacher-Schall-Brause als Solidargemeinschaft und die Aufrechterhaltung des Selbstbildes als offene, hilfsbereite und gesunde Familie. Der BRCA-positive Kern der Familie Schumacher-Schall-Brause präsentiert sich hiermit als präventiv funktionale Familie, deren Ausrichtung auf Systemerhalt von einer Handlungslogik der Leistung gestützt wird, in der sich das Familienerbe des bürgerlich-bäuerlichen Milieus erhalten hat. Es besteht eine hohe Forderung nach familialer Compliance. Bei der kollektiven Überwachung des Regelwerks treten reihum alle beteiligten Familienmitglieder als Anwält_innen der Familie in Erscheinung und arbeiten dabei sowohl mit Beruhigungen, Korrekturen, scharfen Zurück-

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weisungen als auch Ausschluss. Die systemischen Pufferzonen und die allgemein gehaltene Formulierung des Regelwerkes erlauben jedoch eine Vielzahl möglicher individueller Verhaltens- und Deutungsinterpretationen. 6.7.2

Familiäre Deutungsmuster

Die Wahrnehmung von Krebs als Familienagent und die grundsätzliche Parallelität zwischen Sozialität (Familie) und Körper (Krankheit) mit Blick auf Erhalt und Veröffentlichung setzt sich im Zusammenhang mit BRCA fort. Das verweist auf das entscheidende Ringen um Selbst- versus Fremdbestimmung in der Familienannäherung, das sich in die familialen Gesundheitsregeln eingeschrieben hat. Ein Gen erweist sich dabei grundsätzlich als unvermeidliche Rückbindung an die Familie. Ihm wohnt eine Verpflichtung zur handelnden Verwaltung des Erbgutes und damit ein Fremdeinfluss inne. Diese Ohnmacht spiegelt sich in einer gewissen Unbegreiflichkeit, die auch resignative Züge trägt. „Ly: Gar nix . gar nix, wie sollt mer e Gen definiere, definieret sie mir eins F: na, ich frag ja sie, das . ist ja was, was man in diesen Beratungen ja eventuell auch erklärt bekommt Ly: Nee F: nee Ly: nee F: ok Ly: ja i mein, ich weiß scho, was ein Gen isch, aber wie soll ich d-das definiere? F: was ist es denn . wie würden sie’s > erklären, sagen wir mal >Ly: e Gen des is n Teil, des mer – des mer eufach weitergibt oder weiterkri- weitergebe kriegt hat von die Eltern, en Teil eufach . weiß net wieviel Gene gibt’s denn, keine Ahnung, eufach en kleiner Teil . e Erbsubschtanz F: was heißt dieses Teil für sie persönlich? Ly: mei Erbe“ (EI)

Hier enthüllt die vermeintlich „bloß“ biologische Erbsubstanz ihr Identität, soziale Reproduktion und generationale Kontinuität hervorbringendes Potenzial und damit die in den Genen liegende Mehrdimensionalität der Erbschaftsbeeinflussung. Neben der Deutung eines Gens als (potenziell) fremdbestimmte Handlungsnotwendigkeit existiert zudem auch eine Interpretation als „Auszeichnung“, die aus den SchallBrauses eine „interessante Familie“ (Anke, EI) macht, was sich in der Wahrnehmung der BRCA-Vorsorge in C-Stadt als Stress und Eliteangebot spiegelt. Die genetische Disposition gilt wiederum als latente Krebsvorstufe15 mit unklarer Krankheitsqualifikation, die lokal und zeitlich entgrenzt ist. BRCA erscheint daher als durchgängig „lebensinvasiv“, d.h. der potenzielle Einflussbereich der Disposition ist ausgeweitet, was die o.g. Verwaltungsverpflichtung zusätzlich betont.

15 Der Krankheitscharakter der Disposition zeigt sich u.a. darin, dass ihr Schweregrad im Familieninterview unwidersprochen mit dem manifester Erkrankungen verglichen wird.

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Durch den BRCA-Test wird die Gleichsetzung von Krebs und Herkunftsfamilie inkorporiert, so dass spätestens ab diesem Datum aus dem individuellen Körper ein vulnerabler Teil des Familienkörpers wird, in den die Krebsgefahr als „Familienerinnerung“ quasi eingebaut ist: „Das ist einfach in unserem Körper schon drin“ (Lisa, EI). Dieser führt sodann ein Doppelleben: Einerseits gilt der Körper weiterhin als Medium der Selbst-Aktualisierung oder -bestimmung, was Anke bspw. zum Ausdruck bringt: „ich lieb ihn einfach . er isch .dazu .da, damit ich schön lebe kann“ (EI). Andererseits wird er jedoch im Folgenden regelmäßig per Familien-„Ausflug“ zur kontrollierenden Vorsorge gebracht und damit unter „Familienaufsicht“ gestellt. Damit wird auch an dieser Stell die Wechselwirkung von Leistung und Präsentation wichtig, auf die Lisa in ihrer ersten Mail durch den Satz „Wir tragen unser Wissen übrigens mit Fassung“ hinweist. Das Wort „Wissen“ nimmt hier den Platz ein, der im Ausdruck ‚sein Schicksal mit Fassung tragen’ von „Schicksal“ besetzt wird, ersetzt dieses somit und verweist damit auf das Unausweichliche und Gefährliche der Situation. Deren Problematik wird auch daran deutlich, dass das verhandelte Wissen in einem gesprächsvorbereitenden Telefonat als „es“ angesprochen, d.h. nicht genannt wird und die Verwendung des „neutraleren“ Begriffs Wissen dazu angetan ist, sich zu distanzieren und die Schwere der traumatischen Krise, des von Lisa Schall im Telefonat so bezeichneten „Schocks“, zu mildern, die für alle BRCA-positiven Frauen mit dem BRCA-Testergebnis verbunden ist. Damit ist die Wortwahl sowohl ein Zeichen der Belastung durch negative Gefühle, die es zu beherrschen gilt, als auch der Selbstbeherrschung. Basierend auf dem geschilderten familialen Bewältigungsansatz erscheint die Familie mithin als Schicksalsgemeinschaft, die durch das Wissen nicht nur gekennzeichnet, sondern in gewisser Weise auch „ausgezeichnet“ ist. Die Assoziation zwischen „Fassung“ und Würde oder Stil verweist auf die identitätsstiftende Exklusivität dieser Zugehörigkeit, der auch eine positive Note innewohnt. Der darauf aufbauende familiale Handlungsraum liegt im Wort „tragen“ und erscheint aufgrund dessen impliziter Aktivität zwar durch das schicksalhafte Wissen vorgezeichnet, jedoch nicht völlig ausgelöscht im Sinne einer Passivierung der Beteiligten. Diese Resthandlungsfähigkeit beinhaltet eine Bewegung in vorgezeichneten Bahnen, die erneut auf die aktive, aber letztlich alternativlose Anstrengung verweist, die zu leisten ist, um in dieser Familie mit dem zu tragenden Wissen umzugehen und nicht vom Wissen um die genetische Disposition niedergedrückt zu werden. Gesundheit wird in der Genkrise als persönlich unterschiedlich ausgedeutetes „bewusstes Leben“ konkretisiert und gewinnt so nochmals an Bedeutung für die einzelne Frau. Diese Deutung verweist auf die durch den BRCA-Test stärker individualisierte Gesundheitsgefahr, die vor dem Hintergrund innerfamiliärer Überwachung von der Einzelnen verwaltet wird. 6.7.3

Individuelle Deutungsmuster

Die in C1 benannten, gültigen Deutungsmuster werden durch die Folgenden ergänzt: Johanna hat die Anfälligkeit durch die Vererbung des „Krebsgens“ weitergegeben, von dem sie annimmt: „i glaub, dass des viel Leut verrückt macht, wenn se’s .wisset sie hen’s“ (FI). Der Disposition kommt folglich ein mit Krebs vergleichbares wirk-

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lichkeitsveränderndes Potenzial zu, was laut Johanna ein „dagege akönne“ (FI) erfordert. Die Wahrnehmung von Krebs- und Dispositionsdiagnose ähnelt sich also stark und scheint Johanna auf ähnliche Weise zu belasten. Vererbung gilt ihr offenbar als vorsätzlich schuldhafter, d.h. beabsichtigter Vorgang, für den man sich „entschuldigen“ muss. So wird sie von Anke mit den Worten „jetzt hab ich dir des vererbt und: ich wollt des ja nedde“ (EI) zitiert. Die Disposition wird offenbar analog zu materiellen Hinterlassenschaften als „Schulden“ gesehen, die die Erben verwalten müssen. Der Erblasserin Johanna hingegen steht lediglich die Möglichkeit offen, die zu verantwortende Schuld durch Sorge um die Nachkommenschaft zu minimieren. Schuld und Sorge werden so zu zwei Seiten eines durch das BRCA-Ergebnis nicht still zu stellenden Kreislaufs der Verantwortung für die Familie, die Johannas Familienorientierung verstärkt. Für Lydia wird die hinter der Deutung von Krebs als doppeltem körperlich-sozialem Leiden stehende Kombination aus ohnmächtiger Schicksalhaftigkeit und Handlungsnotwendigkeit in ihrer Deutung der Gene als „mein Erbe“ erkennbar. Das BRCAwird folglich als Fortsetzung des Krebsthemas gesehen. In beiden Fällen gilt es, das unveränderliche Erbe zu verwalten, was als Umgang mit einem Potenzial beschrieben werden kann und damit an biostatistische Risiko-Deutungen anschlussfähig ist. Es deutet sich Lydias bekannte Handlungslogik der realistischen Bilanzierung an. In Anwendung dieser Strategie, aber auch eingedenk Lydias Standpunkt im Lebenslauf als nunmehr stabil Verheiratete, Mutter und Selbständige manifestiert sich das von Gesundheit gekennzeichnete als zufriedenes Leben: „ich möcht zufriede sei und ich bin! zufriede . große un ganze, man isch net immer 100prozentig zufriede, isch ja a scho klar, aber [atmet ein] . Sache, die ich net mache will, die mach ich net . und das, was ich gern! mache will, des gönn ich mir [lauter], wenn’s irgendwie geht“ (FI). Gesundheit wird als dessen Grundvoraussetzug deutlich, wenn Lydia deren Bedeutung als „dass mer uneingeschränkt alles mache kann, was mer will“ (EI) beschreibt. Eingedenk von Lydias Präsentationsfokus ist es logisch, dass sie sich auch angesichts der BRCA-Herausforderung als gesund verstehen muss, um sich vor potenzieller Krankheit zu schützen: „F: Ist diese Disposition für sie ne Krankheit? Ly: nö . wie meinet sie das jetzt? F: na weil sie, weil äh, ich sie nach Genetik gefragt hab und sie mit Krankheiten anfingen Ly: Hj- des isch für mi-, ja! des isch für mi e Krankheit, da kann mer- da kann mer ja krank werde, wege sowas F: Würden sie sagen, sie sind krank? Ly: ich? nee!“ (EI)

Allerdings verweist der diesem Selbstverständnis innewohnende Zwang auf das latent prekäre ihrer Gesundheitsauffassung. Ankes Definition eines „bewussten Lebens“ beinhaltet die Zielvorstellung eines genussvolles Leben: „s Lebe einfach genieße . ja .. dir des gönne, was du .hann willscht“ (FI). Gesundheit gilt insofern als dessen Grundvoraussetzung und ist daher

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„das Wichtigste, was es gibt“ (EI), gerade im Kontrast zu dem mit Gerds Herzinfarkt verbundenen Nahtoderlebnis. Ankes Abgrenzungsstrategie erweist sich im Kontext ihrer doppelten Körper- und Gesundheitsgeschichte als bedeutsam, in der sie eine Geschichte der Entlastung von überbordender Weiblichkeit mit der bekannten Annäherung an die gefährdende Weiblichkeit (und Herkunftsfamilie) im Krebs-/BRCA-Kontext zu einer Befreiungsgeschichte verschränkt. Die Geschichte der überbordenden Weiblichkeit beginnt mit der Entwicklung einer Brust der Größe J im Laufe der Pubertät, die jedoch ihre primär männlichen Spielkameraden „net g’stört [hat] un hat mich nit g’stört“ (EI). Männer rücken so erst im Zusammenhang mit einer ersten Beziehung auf der Handelsschule in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit 19 lernt Anke dann ihren späteren Mann Gerd kennen, der ihr nach drei Bekanntschaftstagen einen Heiratsantrag macht. Die Ehe hält seitdem, d.h. zum Zeitpunkt des Interviews (Mai 2007) seit 26,5 Jahren. Trotzdem hat sie lange Zeit ein nicht unproblematisches Verhältnis zu ihrem „Mordsbuse“, den sie als nicht attraktiv empfindet und der zudem ein Gesundheitsproblem darstellt, dem sie auf Vorschlag des Arztes sehr bereitwillig durch Brustreduktion abhilft: „Wenn ihnen so .einmal in der Woch der Wirbel rausruscht aus der Wirbelsäule!, sie gehen ins Krankehaus, sie kriege de Spritz, der Arzt sagt ‚ach, machen wir’n halt wieder nei!‘ [lauter] .. und dann der Hausarzt irgendwann sagt ‚ham sie vielleicht eventuell schon drüber nach-‘ ich ‚jajaja! [lauter], sofort‘“ (FI)

Die Operation findet im Jahr 2001 statt – Anke ist 41 – und verändert Ankes Körpergefühl extrem positiv, indem sie diese auf doppelte Art entlastet und ihr ein Gefühl der Attraktivität gibt: „ich fühle mich wohl in meinem Körper und finde meine Brust seit der Reduktion wunderschön“16. Eine weitere „Reduktion“ kommt nach dem positiven BRCA2-Test hinzu: „das hört sich vielleicht hart an, aber das Gen, das mutierte war gar net so übel, denn da hab ich endlich en Grund gehet, dass ich meine Tage losgekriegt hab, man muss wisse, das ich jeden Monat vier Tage Migräne hab- gehabt hab . und ich hab nachts drei Mal aufstehe müsse zum der Tampon wechsle“ (EI)

Dieser Trend setzt sich im Übrigen als „Sorgereduktion“ in der positiven Bewertung der Vorsorgeuntersuchungen fort: „ich seh’s als Vorteil .weil! [Peak] . ne bessere Krebsvorsorge wie mir [lauter] kriegt sonst so schnell keiner“ (FI). Zur Geschichte der überbordenden Weiblichkeit addiert sich 2001 innerhalb von zwei Tagen eine Art doppelte Wiedergeburt auf der Gesundheitsebene, von der sowohl Anke als auch ihr Mann Gerd betroffen sind: Zum einen überstehen sie Gerds Herzinfarkt, der Anke als extreme Stresssituation im Gedächtnis geblieben ist und als dessen Folgen sie beide „bewusst lebe […] da hat sich bei uns viel umgestellt“ (FI). Zum anderen feiert sie ihren 40. Geburtstag gesund, hat also die selbstdefinierte

16 Aus der von Anke kommentierten Themenliste zum Einzelinterview.

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„Ziellinie“ überschritten und damit die Krebsgefahr hinter sich gelassen. Beide Erlebnisse befreien Anke folglich von gesundheitlichen Belastungen. Weiblichkeit wird von Anke somit lange Zeit als quantitativ-überbordende und qualitativ-gefährdende doppelte gesundheitliche Belastung konstruiert, die sowohl mit Äußerlichkeit als auch Innerlichkeit verbunden ist. Aufgrund dieser umfassenden Bedrohung wird die Anwendung der Abgrenzungslogik hier besonders wichtig, in deren Folge Anke die Relevanz körperlicher Vergleichbarkeit für sich verneint, was sich in der Äußerung manifestiert, „keine vergleichende Schönheit“ (EI) zu haben. Zugleich kann sie jede körperliche Belastungsreduktion als eine Art emotionales Guthaben deuten, das ihre Annäherung an weitere belastende Weiblichkeitsaspekte fördert und dadurch wiederum Ankes Körperentlastung unterstützt. Das wird bspw. in der Koinzidenz zwischen Heirat und Vorsorgebeginn oder 40. Geburtstag und Brustreduktion erkennbar. Damit haben sich beide Geschichten zu einer Befreiungsgeschichte verbunden, die von Anke sowohl um ihren 40. Geburtstag herum als auch in Kombination mit dem BRCA2-Test weitestgehend selbst arrangiert wurde, d.h. eine Eigenleistung darstellt. Dieser Verlauf hat zum Resultat eines positiv gefühlten Körpers geführt: „Ich lieb ihn .. ja, ich lieb ihn einfach, er isch dazu da, damit ich schön lebe kann . er ermöglicht mir alles, was ich möchte . un ich genieß gen-es-d- genau diesen Körper zu haben [ruhiges Sprechen]“ (EI). Als solcher ist Ankes Körper ein Privatkörper, der aufgrund seiner direkten emotionalen Zugänglichkeit kaum als öffentlicher Körper existiert und entsprechend durch Rückzug abgegrenzt wird, z.B. durch NichtTeilnahme an den Partnerübungen in der Rückenschule aufgrund von Kitzligkeit. Durch diese Entwicklung des geliebten privaten Körpers mit einem sehr guten Körpergefühl hat sich Anke eine „gefühlte Gesundheit“ sowie einen entsprechenden „Gesundheitsschutz“ angeeignet, die weitestgehend ungetrübt erscheint. Die These der Gesundheitsberuhigung realisiert sich damit in der Rolle der gefühlten Gesundheitsgewinnerin der Familie, die als Kontaktperson zum HBOC-Zentrum nun auch soziale Verantwortung in der Herkunftsfamilie übernehmen kann. Als Vertreterin der emotionalen Position sowie eines gelungenen Umgangs mit dem Krebs-/ BRCA-Thema in der Familie verweigert sich Anke vor dem Hintergrund ihrer Abgrenzungslogik zugleich einer Deutung von Genen, die über eine gewünschte familiale Anbindung hinausgeht – daher der Verweis auf Lisa als diesbezügliche biologisch-definitorische Autorität. Die Aussage: „ich minimier en Risiko von dem ich rechne, dass ich’s eh net hab“ (EI) verweist auf die emotionale, gleichsam innere Beruhigung, die durch das Bewusstsein für das fortgesetzte Vorhandensein eines rationalen Risikos komplettiert wird, so dass noch Raum für weitere äußere körperliche Entlastungen besteht. Daher würde Anke auch zu einer zukünftigen prophylaktischen Brustoperation „zu 95% sofort ‚ja‘ [sagen], wenn irgendwann dr Arzt einmal zu mir sagt ‚was halten sie davon . des: Risiko zu minimiere?‘“ (EI). Lisa definiert Gene im Rahmen ihres biomedizinischen Deutungsmuster deterministisch, denn „an meine Gene lässt sich ja nix ändern“ (EI). Sie sind vielmehr „des, was uns ausmacht“ (EI). Daher bedeutet das Vorhandensein eines bestimmten Gens sowohl eine Zugehörigkeit als Mitglied der damit internalisierten Familie, als auch die unausweichliche Verminderung einer als Körperkontrolle verstandenen Gesundheit. Durch diese fatalistische Auffassung wird die BRCA-Diagnose zum mit Fassung zu

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tragenden genetischen Schicksal und zur vorgezogenen Krebsdiagnose. Sie setzt folglich die Zukunft fest als das, „was auf mich zukommt“ (FI). Da wie in C1 dargestellt verschiedene, in der Familie existierende Deutungsmuster zudem auf Lisa als nächste und damit „latent Krebskranke“ hinweisen, scheint ein diesbezügliches familiales Bewusstsein oder sogar eine Delegation zu existieren, was unterschwellig stigmatisierend wirken könnte und Lisas fatalistische Sichtweise stützt. Diese Familienhaltung zeigt sich im folgenden Zitat daran, dass als Beruhigung nicht etwa die Gesundheitswahrscheinlichkeit, sondern die Behandlungsqualität herangezogen wird: „Li: ich mach mich darauf gefasst, dass ich’s . wahrscheinlich krieg, muss! net sein, also es muss ja net sein, aber es kann halt schon! gut sein, so denk ich mir des […][ J: Hah Lisa, mit deine Vorsorge, wo du hascht, brauscht keu Angscht han . dir sagen ses doch gleich, dir sagen ses doch gleich […] da kann man glei helfe“ (FI)

Lisas Gesundheitsdeutung lässt sich zudem als durch willensbasierte Körperkontrolle erzielte selbstbestimmte Lebensgestaltung konkretisieren, wobei sich darin der Genuss, die Zufriedenheit und das Aushaltende von Anke, Lydia und Johanna spiegeln: „ich denk, gesund! bin ich, wenn ich mein Leben so weit genießen kann und nicht arg eingeschränkt bin (…) wenn ich so wie ich will!, also so aktiv wie ich sein will, durch’s Leben gehen kann“ (EI). Da Gene (im Gegensatz zum Krebs) kommunikativ unkontrollierbar und damit Lisas Handlungslogik der rational gesteuerten Kontrolle mittels (Wett-)Kampf unzugänglich sind – „mit meinen Genen sprech ich nicht!, weil ich glaub des bringt nix“ (EI) – kompromittiert das Vorhandensein der familiären BRCA2-Variante Lisas Gesundheit damit bereits in der Gegenwart, nicht erst in der Zukunft. Lisa beurteilt folgerichtig Gesundheit als eingeschränkt „scho wichtig“ (EI), entdramatisiert damit also die empfundene Einschränkung und deutet das zugehörige „bewusste Leben“ als körperbewusstes Leben mit Gesundheitsschwerpunkt. Hier manifestiert sich zum einen die Lisa fehlende „Gnade der frühen Geburt“ und ihr daraus resultierendes Bewusstsein bzgl. des erhöhten Krebsrisikos „seit ich mich erinnern kann“ (FI). Zum anderen wird das Unvollendete, noch zu Gestaltende dieses Lebens deutlich, wenn Lisa konstatiert: „man muss sich mal was-, ab und zu was Schönes gönnen, also man muss sich schon pfl-, also ich pfleg mich jetzt schon besser! . ja au-, es stimmt doch, oder? man, man muss sich einfach [lauter] ein schönes Leben machen“ (FI). Hinter Lisas Gesundheitszugang wird damit ihr eigentliches Ziel der Selbstbestimmung und Individuation erkennbar, was sich an Lisas worst case scenario demonstrieren lässt: „also ich denk immer, der schlimmschte Fall wär für mich, wenn ich jetzt schwanger werd und ein Eierstockkrebs krieg gleichzeitig!, des! isch für mich des al-, des wär für mich des schlimmschte, weil dann müsste ich mich womöglich entscheiden, ob ich jetzt das Kind will oder leben will oder irgendwie sowas halt!“ (FI)

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Hier wird eine Extremsituation geschildert, in der das Leben des Kindes und das von Lisa im Rahmen einer Spekulation gegeneinander gestellt werden, wobei der Wille zu Kind und der Wille zum Leben nicht im eigentlichen Sinn Alternativen darstellen. Letztlich stellt sich die Frage, welches Potenzial Lisa verwirklichen möchte: das zur Familienbildung (Kind) oder das zur Individuation (Gesundheit = Leben)? In gewisser Weise wehrt sie damit entweder den sozialen oder den physischen Tod ab, jedoch niemals beide. Wenn sie sich in der beschriebenen Situation für das Kind entschiede, würde dies eine Entscheidung für die Familie bedeuten, da sie diese fortführen würde. Folglich würde Lisa in diesem Szenario ihr Leben der Familie und deren Überleben unterordnen. Entschiede sie sich für die Krankheitsbekämpfung und gegen das Kind, würde sie sich ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen, damit aber keine weitere Generation hervorbringen können und somit das „Aussterben“ der Familie einläuten. An dieser Stelle offenbart sich das ganze, körperbezogen inszenierte Drama ihrer Individuationsbemühung, die sich im Kern auf die Frage bezieht, welches Leben sie möchte und im Angesicht der unausweichlichen genetisch internalisierten Familie haben kann. Diese Frage wird dadurch verschärft, dass Lisa an einem biografischen Punkt steht, an dem sie weder „ihr Leben gehabt“ hat wie Johanna, noch sich im Leben „eingerichtet“ hat wie Anke oder dieses „wohlsortiert“ hat wie Lydia, sondern im Angesicht einer tödlichen Bedrohung überhaupt erst eines schaffen muss. Lisas Körperinszenierung wiederum entwickelt und realisiert sich in Form des sozial angebundenen Projektes der Körperoptimierung, in dem das „verräterische Potenzial“ des Körpers deutlich wird, aber auch der Versuch besteht, dieses unter Verschluss zu bringen. Ein erster „Höhepunkt“ dieses Projekts wird in Lisas Jugend erreicht, als sie im konkurrierenden Austausch mit ihrer Cousine eine Magersucht entwickelt, die durch eine elterliche Intervention beendet wird. Die Krankheit kann als Ringen um Körperund damit Lebenskontrolle gedeutet werden und drückt sowohl den Wunsch nach einer Rückkehr in den kindlichen Status der verehrten Prinzessin als auch das Verlangen nach Autonomiegewinn aus. Hier kombiniert sich eine zunächst autonome Esskontrolle mit einer in der Folge fremdbestimmenden elterlichen Fürsorglichkeit aufgrund körperlicher Schwäche, was zum Scheitern auf der ganzen Linie führt. Diese Tendenz aus familialer Fremdbestimmung und körperlicher Selbstbestimmung setzt sich mit der Aufnahme des Karatetrainings nach Bekanntwerden des positiven BRCA-Testergebnisses fort: Das Training vermittelt Lisa aufgrund seiner Exklusivität sowie ihrem Erleben, dass sie sich ihren „Platz erkämpfen“ (EI) muss „unheimlich viel Selbstbewusstsein“ (EI), einen positiven Körperzugang sowie einen Zustand, den sie als „Freude am Fit-Sein“ (EI) beschreibt. Zugleich führt sie diesen im Familieninterview aber auch als „Gesundheitsgarant“ an, mit dem sie den scheinbar unausweichlichen „Familieneinfluss“ der Disposition bekämpfen kann. Das Körperoptimierungsprojekt hängt damit unmissverständlich mit Lisas Bemühung zusammen, sich durchzusetzen. Selbstbestimmung erscheint zentral, ist jedoch gleichzeitig durch den ständigen bewertenden Vergleich mit anderen auf soziale Zusammenhänge verwiesen. Es gilt, eine Autonomie in gelingender Bezogenheit zu konstruieren. Das Körperoptimierungsprojekt beinhaltet eine Sicht auf den Körper als objekthaftes Gegenüber, das kontrollierend-verbessernd behandelt wird. Die reale Leistungsfähigkeit wird durch ständige Vergleiche im Wettkampf mit anderen überprüft, das Ringen darum ist jedoch aufgrund des nie zu befriedigenden Optimierungscha-

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rakters nicht abzuschließen. Auf der Körperebene entsteht so ein öffentlicher Körper, der auf allen Leistungsebenen als so perfekt wie möglich präsentiert wird und damit das Selbstbild als starke, gesunde und selbstbewusste junge Frau stützt, wenn sie z.B. konstatiert: „im Leben verpass ich kein Bus, ich bin viel zu schnell“ (EI). Hier wiederholt Lisa in einer stärker akzentuierten Version Lydias Vorgehen. Durch die Darstellung dieses positiven und kompetitiven öffentlichen (Leistungs-)Körper im sozialen Außen soll eine Überwindung und Ablenkung von der inneren Unsicherheit, Anormalität und Vulnerabilität des privaten Körpers, aber auch ihrer ebenfalls privaten Sehnsucht nach Überwindung des Kontrollstrebens und damit ein Schutz vor der inkorporierten schicksalhaften Gen-Gefahr und vor sozialer Fremdbeeinflussung zugleich erzielt werden. Die körperliche Schwäche sowie die Ambivalenz zwischen diesen beiden Körpern wird nur sehr begrenzt oder metaphorisiert und möglichst beherrscht vorgebracht. Neben der als „unangenehm“ (FI) beschriebenen Disposition zeigt sich das im folgenden Zitat, in dem die offenbar anormale, da nicht den gängigen Maßen entsprechende Brust als sowohl wertvoll als auch kontrollbedürftig erscheint: „ich kauf mir auch nur: gute BHs also, beim-beim X&Y [großer Kleidungskonzern, A.d.V.] passt mir eh nix! [lauter], aber .weil ich mir denk, mein Busen, der braucht des . der .wird gepflegt!, der braucht des!, gute Verpackung, ja“ (FI).

6.8 G ESUNDHEIT : G EMEINSCHAFTSPROJEKT BRCA- POSITIVEN F AMILIE (X2)

DER

Vor dem Hintergrund des historisch etablierten familialen Themas der Selbstbestimmung in Sicherheit und dem starr-verstrickten Familiensystem meistert die Familie Schall-Brause die potentiell traumatische Genkrise als Fortsetzung der Krebskrise als präventiv-funktionale BRCA-positive Familie und solidarisch-leistungsbezogene Gruppe, so dass das familiale Ziel des Erhalts des gesunden Familienkörpers erzielt wird. Leistung und öffentliche Vorzeigbarkeit sichern die Rahmung der Genkrise als Entscheidungskrise, in der die genetifizierte Gesundheit aller zur handhabbaren Handlungsaufgabe statt überwältigenden Leidensdrohung wird. So setzt die Familie den verbreiterten Präventionsfokus um. Die Fortsetzung der Krebs- als Genkrise zeigt, dass es sich im vorliegenden Fall lediglich um Coping in der Form einer Angleichung handelt, eine Anpassung im Sinne eines Wandels zweiter Ordnung entfällt. Die gemeinschaftliche Meisterung der Genkrise als Familienaufgabe glückt sowohl aufgrund der hohen Familien-Compliance gegenüber dem auf transgenerationale Milieuressourcen zurückführbaren familialen Kanon der gesundheitlichen Handlungsregeln sowie dem diesbezüglichen Passing der Familienmitglieder als auch durch die familiale Rollenverteilung und individuelle Verantwortungsübernahme der familialen Kerngruppe im Rahmen der systemischen Pufferzonen. Hierbei hat die Gesundheitsikone Johanna durch ihr durchhaltendes Verhalten Rückhalt beigesteuert und Gemeinschaft erhalten. Die Gesundheitschronistin Lydia bedient sich einer sozial präsentablen Bilanzierung, um den Eindruck der Familie im sozialen Außen positiv zu steuern und erfährt im Gegenzug innerfamiliale Sicherheit. Die Gesundheitsgewinnerin Anke trägt mit ihrer abgrenzenden Art bei und repräsentiert die gefühlvolle und spontan-radikale Seite der Familie, während die Gesundheitsexpertin Lisa

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im Gegensatz dazu auf Kontrolle setzt und familial das neue Gen-Wissen verwaltet und repräsentiert. Jedes der positiv getesteten Familienmitglieder trägt mit ihrer speziellen Perspektive zu einem umfassenden familialen Gesamteindruck und Handlungsvermögen bei. Die zugehörige Handlungslogik wird zwar von den anderen Frauen ebenfalls in Ansätzen gezeigt, die einzelne fungiert jedoch als „Leitmedium“ der Ausdeutung von Halt (Johanna), Austausch (Lydia), Abgrenzung (Anke) und Kontrolle (Lisa) und ermöglicht es den anderen, sich innerhalb dieses Spektrums zu verorten, aber auch füreinander und sich umeinander in pragmatisch verbrämter Form zu sorgen. Zugleich wird das Bild der erfolgreich mit der Genkrise umgehenden Familie im sozialen Außen, d.h. ein außerfamiliäres Passing konstruiert. Dieses hilft, die im Zusammenhang mit der Genkrise auftretenden familial und individuell erlebten Ambivalenzen zu kontrollieren und balancieren: Nähe und Distanz sowie Selbst- und Fremdbestimmung bzgl. der Herausforderung, ein eigenes „bewusstes“ als „gelungenes“ Leben zu gestalten und dieses sozial zu vertreten. Den geschlossenen Zusammenhalt und Bestand der Familie als weiblich konnotierte Gemeinschaft der BRCA-positiven Personen und ihrer Unterstützer_innen angesichts der Ambivalenzen auch oder sogar anhand der bestehenden Krebs-/Genherausforderung aufrecht erhalten zu haben und auch weiterhin zu sichern, obwohl die zunehmende Individuation der Familienmitglieder starke, öffnend wirkende Sprengkräfte einbringt, ist die große Leistung des Familiensystems Schall-Brauses. Damit wird die fortgesetzte familiale Erhaltungskrise der Familie eingefriedet. Das geht jedoch klar auf Kosten gerade der gesundheitsbezogenen abweichenden und stigmatisierten (z.B. Karl-Herbert) sowie der jüngeren Familienmitglieder und stellt Gemeinschaft eindeutig über Individualität, was die familiale Leitdifferenz der Bezogenheit festigt. Gesundheit stellt bei den Schall-Brauses folglich ein Bindungsproblem dar, mit dem die BRCA-positiven Frauen aufgrund ihrer persönliche Handlungs-, Deutungs- und biografischen Ressourcen verschieden umgehen können, so das sich eine je spezielle Wechselwirkung zwischen familialer und persönlicher Krise ergibt. Für Johanna gilt es wieder, das traumatische Potenzial der Schuldgefühle und der diesen zu Grunde liegenden kumulierten Krebskrise handelnd in der genetischen CoKrise einzufrieden. Das geschieht durch Unterlassung, hinter der die reaktivpragmatische Handlungsstrategie der Familie steht. Hierbei wird Johanna im Rahmen der verschiedenen Familienbeziehungen je unterschiedlich unterstützt. Zum einen wird Johanna als ambivalente Gesundheitsikone von den anderen Familienmitgliedern nicht über potenzielle gesundheitliche oder soziale Probleme informieren, d.h. geschont. Zum anderen verweigert sich Johanna selbst kommunikativen Konfrontationen mit dem Thema oder zumindest den damit verbundenen Emotionen. Wenn wie im Zusammenhang mit dem Familieninterview „nötig“, kann Johanna jedoch auf ihre Handlungslogik des Aushaltens zurückgreifen, um trotz Familiensolidarität nicht zu sehr in „thematische Mitleidenschaft“ gezogen zu werden. Ihr gelingt es so, relationale Nähe mit thematischer Distanzierung zu kombinieren und ihre Variante der Selbstbestimmung in Sicherheit zu erzielen, bei der sie sich am Ende ihres als gelebt verstandenen Lebens nicht zu sehr dem Krebs-/Gen-Thema aussetzen möchte. Lydia versucht in bewährter Manier, die traumatische Genkrise als handelnd „bewältigte“ Entscheidungskrise zu rahmen und sich durch die „offizielle“ Erfüllung der Familienregeln nicht zu sehr (erneut) von der Familie vereinnahmen zu lassen. Aus diesem Grund verlegt sie den für Krankheit reservierten Bereich nach C-Stadt, wäh-

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rend sie ihr Leben zuhause in verschiedenen sozialen Kontexten als nicht mit Gesundheitsmakeln belegt präsentiert. Diese Strategie spiegelt Lydias Fassadenkörper und setzt ihren aus der Krebskrise bekannten Präsentationsschwerpunkt fort. Gegen das Traumatische der Genkrise hilft Lydia ihre vertrauensvolle Beziehung zu Bernd, aber auch die gemeinsame Vorsorgeroutine in der Herkunftsfamilie als Solidarität und Sicherheit in der Halbdistanz. Gleiches gilt für ihre familiale Rolle der Gesundheitschronistin, mit der sie sich innerfamiliär Reputation und Interpretationshoheit sichert, ohne sich dem traumatischen Krebs- und Familienpotenzial zu sehr auszusetzen. Darüber hinaus wirken ihre Offenheit für neue Möglichkeiten der Gesundheitsförderung wie auch ihre Bilanzierungslogik entlastend, mit der sie die neuen Vorsorgeoptionen positiv deuten kann. Das Bilanzierende führt in Kombination mit Körperund Krebspersönlichkeitsdeutungsmuster auch dazu, dass sich Lydia vor dem Hintergrund ihrer „wohlsortierten Lebensleistung“ eine geringere Krebswahrscheinlichkeit attestiert. So gelingt es Lydia ebenfalls, relationale Nähe mit thematischer Distanz zu kombinieren, die Passing-Aufgabe zu bewältigen und ihr genetisches Erbe innerhalb des ambivalenten (Über-)Lebensraum der Familie so zu verwalten, dass dieser gewahrt bleibt, ohne zu vereinnahmend zu werden. Anke profitiert zum einen von der biografischen Entwicklung der doppelten Wiedergeburt in der Partnerschaft mit Gerd, die auf ihrem AltersgrenzenDeutungsmuster aufbaut und die Handhabbarkeit gesundheitlicher Krisen vermittelt, an deren Ende ein gut eingerichtetes, genussvolles als gelungenes Leben steht. Hier kann von Anpassung die Rede sein. Zum anderen nützt sie die Wendung ihrer Weiblichkeits- zur Befreiungsgeschichte. Zudem kann Anke bestehende Ambivalenzen oder soziale Störungen mittels ihrer Abgrenzungslogik umdeuten oder sich davon distanzieren. Das ermöglicht ihr eine Annäherung an das Krebs-/Gen-Thema. Einerseits verhält sie sich dadurch stärker familiensolidarisch und damit herkunftsfamilienkonform, kommt aber auch wieder ihrer Mutter Johanna näher und erlebt zudem Geborgenheit im Kontakt zum HBOC-Zentrum. Anke entdeckt also emotionale Ressourcen gegen das Traumatische der Genkrise. Andererseits schafft sie es, die sich durch das positive BRCA-Testresultat ergebenden Operationsoptionen in ihre Befreiungsgeschichte von der überbordenden und gefährdenden Weiblichkeit einzusortieren und diese auf eine positiv empfundene Art weiterzuführen, was der aktuellen Genkrise ihre Bedrohlichkeit nimmt und mögliche weitere Herausforderungen tatsächlich als entscheidungskrisenähnlich rahmt. Anke gelingt so eine sowohl thematische als auch relationale Annäherung an ihre Herkunftsfamilie. Zugleich bewahrt sie sich dank ihrer Abgrenzungslogik einen selbstbestimmten Handlungsraum. Für Lisa gestaltet sich die Genkrise als durch ein deterministisches Gen-Wissen verschärftes Drama der Adoleszenz vor dem Hintergrund der Deutung von Gesundheit als durch Körperkontrolle erzielte selbstbestimmte Lebensgestaltung am schwierigsten. Nachdem sich die mit dem BRCA-Test an dieser critical life junction wohl verbundene implizite Ablösungshoffnung nicht erfüllt hat, steht Lisa vor der Herausforderung, mit der zentripetal wirkenden Unausweichlichkeit des sowohl relationalen als auch gesundheitlichen Rückbezugs auf die Herkunftsfamilie umzugehen und angesichts dessen trotzdem einen autonomen Lebensentwurf zu bilden. Angesichts der bereits begonnenen Individuation stellt das Testergebnis damit eine Lebensentwurfsgefahr dar. Dabei orientiert sich Lisa an den familialen Gesundheitsregeln der aktiv-

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pragmatischen Handlungsstrategie, der Gesundheitsleistung und der Präsentationskontrolle, die jedoch verschärft werden durch die Körperkontrollnotwendigkeit in der Auseinandersetzug zwischen der genetisch inkorporierte Familie als „Kraft der Natur“ (FI) und ihrer eigenen „Gedankenkraft“ (FI). Durch die Annahme des familialen Krisenmanagements führt die Identifikation der familiären Mutation nun zu Lisas Identifikation mit der Familie, d.h. zu ihrer Refamilialisierung. Diese Bindung suggeriert ihr Gesundheit. Hierin liegt eine Tendenz zu resignativer Machtlosigkeit als Zeichen der traumatischen Krise, die aber für Lisa als „Körperkontrollantin“ unakzeptabel ist. Durch ihre Wissensressourcen u.a. aus dem Biologie-Studium übernimmt Lisa die machtvolle und rational konnotierte familiale Rolle als Gesundheitsexpertin für das moderne Gen-Wissen. Dank dessen sowie ausgehend von ihrer Rolle als Zentrumskontaktperson etabliert sie sich als Hüterin der Familien-Compliance, die ihre eigene Handlungslogik der Körperkontrolle durch Wettkampf zumindest versucht, in die familialen Gesundheitsregeln einzuschreiben und als gesundheitsrationales Handeln in die Familie einzuführen. Diese Etablierung gelingt ihr mit begrenztem Erfolg, was auf die Qualität von Lisas jeweilige innerfamiliäre Beziehung verweist: Während Anke sie als Expertin annimmt, fehlt Johanna schlicht das Verständnis für Lisas Perspektive und Lydia fühlt sich von Lisa herausgefordert und verhält sich konfrontativ: „Ly: ha, ich bin g’sund un des isch wichtig . [lacht kurz] .. ja:, aber dass sie jetzt dann so- so . pff [wegwerfender Ton] .G’müs! esse muss, des brauch i net . da lebt mer au so . Li: wir essen des gern! Ly: ja! des darfscht du ja au! [laut], i ess es net gern, deswege ess ich’s halt au net gern“ (FI)

Aufgrund der innerfamiliären Autorität des Themas kann sich jedoch keine der anderen endgültig Lisas diesbezüglicher Autorität entziehen (s. Teilnahme Familieninterview). Diese Position erlaubt es Lisa, eine Brückenfunktion zwischen und zu Familie und Thema anzunehmen und damit ihre Rolle als „Betroffene“ zu transzendieren, sich von dieser als Expertin zu distanzieren. Diese Autorität wird gesteigert durch die erfolgreiche Kombination einer Selbstpräsentation als hilfsbereite Altruistin, die nur das Beste für die Familie will, mit der damit einhergehenden Möglichkeit der Verfolgung eigener Interessen und der Ausübung von Deutungsmacht. Lisa steigert so Ruf und Einfluss, kann sich vom traumatischen Potenzial der Genkrise distanzieren und diese sogar z.T. in ihrem Sinne nutzen. Die Expertinnen-Rolle beinhaltet einen doppelten Effekt: Die (wenn auch eingeschränkte) Akzeptanz als kontrollierte Gesundheitsexpertin überzeugt Lisa einerseits mittels des Familienfeedbacks, tatsächlich die eigenen Gesundheitssituation, aber auch die Familie und damit alles das, was im Gen-Begriff mitschwingt, unter Kontrolle zu haben. Ihre Expertinnen-Performance trägt also zur Selbst-Stabilisierung bei. Andererseits erzielt sie diesen Effekt, in dem sie der familialen Leistungs- und Präsentationslogik und den zugehörigen Gesundheitsregeln folgt, diese sogar verschärft und damit unterstreicht. Diese Vorgehensweise betont wiederum die „Unwiderstehlichkeit“ der Familie als starr-verstrickte Einheit. Lisa stabilisiert folglich sich selbst, indem sie die Familie stabilisiert. Damit begrenzt sie ihre Autorität sowie die daraus erwachsende Selbstbestimmungsmöglichkeit als expertisierte Trendsetterin letztlich auf den Wirkradius ihrer Herkunftsfamilie, in der sie scheinbar mehr

FALL SCHALL -B RAUSE

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bestimmen kann, als dass sie dort bestimmt wird. Dieses Passing ist für Lisas Krisenumgang entscheidend. Das ist eine Schein-Autonomie, da sie familial begrenzt ist, hilft aber, die traumatische Genkrise als biologische Expertin scheinbar rational zu handhaben und damit als Entscheidungskrise zu entdramatisieren. Sie hat es geschafft, sich eine halbdistanzierte Position sowohl zum Thema als auch zu ihren Sozialkontakten zu erarbeiten, bei der Leistung und Präsentation erfolgreich wirken, ohne dass sie Gefahr läuft, von Thema oder Beziehung vereinnahmt zu werden – es sei denn, es besteht wie bei Anke keine Konkurrenz. Gleichzeitig sichern ihr z.B. das kompetitive Universitätswissen, aber auch die Beziehung zu Juan alternative Deutungsräume, um mit ihren eigenen Ambivalenzen umzugehen. Lisa scheint sich nämlich dieser Schein-Autonomie und Schein-Autorität sowie der daraus folgenden Familienabhängigkeit und Lebensentwurfsgefahr latent bewusst zu sein, was sich auch in der wiederkehrenden Referenz auf Afrika als „Ruheraum“ zeigt. Diese Bezugnahmen überschreiten sowohl räumlich als auch handlungs- und verständnislogisch Lisas bisher bekannte Familienwelt und weisen auf eine darüber hinausgehende Sehnsucht nach Unabhängigkeit und einem anderen Leben. Das kann sie sich aber, wie z.B. anhand der aus diesem Grund aufgeschobenen Hochzeit, bislang nicht leisten. Damit muss sich der Abschied vom Leistungsdenken erarbeitet werden und bestätigt demnach eben dieses. Diese Konstellation stellt ein bislang unlösbares Paradoxon im Rahmen von Lisas Ringen um Selbstbestimmung dar, dessen kontrolllogische Ausformung eine wirkliche Veränderung, d.h. einen Wandel zweiter Ordnung,bislang verhindert. Lisa ist es somit nur möglich, das bewusste als gesundheitsbewusstes Leben zu realisieren, in dem die von Anke, Lydia und Johanna bekannten Aspekte von Genuss, Zufriedenheit und Ruhe Sehnsuchtsorte bleiben müssen. Hinter der Fassade der beteuerten Gesundheit dräut somit immer der Krebs als bereits in der Gegenwart ständig anwesender Begleiter.

7. Gaby Böttcher: Ausgleich ambivalenter Potenziale

Abbildung 11: Verlauf der Krebs-/Genkrise im Fall Gaby Böttcher Beziehungsbruch Eltern

?

1980

Unklarer Zeitpunkt: Urgroßmutter und Großmutter sterben an Krebs

Eierstockkrebs bei der Mutter

1984

1987

Brustkrebs Mutter: Amputation, Reha, kaum Vorsorge, Alkoholismus

Vorsorgebeginn Gaby Böttcher

1992

2004

Gaby Böttcher BRCA-2+ getestet

2005

Mutter stirbt an multiplen Metastasen

2007

geplante Ovarektomie abgesagt nach Interview

Das Fallensemble schließt zunächst die Hauptperson Gaby Böttcher ein. Sie ist alleinerziehende Mutter von Florian, hat derzeit keinen Partner, jedoch einige gute Freundinnen. Gaby ist BRCA-positiv. Sie hat die genetische Variation von ihrer Mutter geerbt. Mutter Böttcher erkrankte (19841) und starb (2004) wie zuvor Gabys Großmutter und Urgroßmutter an Krebs. Vater Böttcher lebt noch (2007) und erfreut sich sehr guter Gesundheit. Gabys Bruder Lukas ist verheiratet. Zum Zeitpunkt des einzigen Interviews mit Gaby im Februar 2007 ist seine Frau schwanger. Die Geschwister wohnen im gleichen Haus, jedoch auf unterschiedlichen Etagen.

7.1 M UTTER B ÖTTCHERS K REBSKRISE 2 (A1) Gabys Mutter erkrankt 1984 im Alter von 46 Jahren an Eierstockkrebs, was eine nicht normative persönliche Krise ausgelöst haben dürfte. Damit wird die Mutter Teil

1

2

Die Jahres- und Altersangaben sind ungefähre Angaben. Sie bauen auf Interviewaussagen auf, die keine exakten Daten, sondern Zeiträume beschreiben, und können daher um ein Jahr abweichen. Des Weiteren sind die Vornamen der Eltern unbekannt, so dass die beiden als „Positionen“ bezeichnet werden. Diese wurde aus Gabys Erzählung rekonstruiert.

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der „Krebstradition“ ihrer Familienlinie, da bereits ihre Mutter (Gabys Großmutter) und deren Mutter (die Urgroßmutter) zuvor an Krebs erkrankten und starben. Mutter Böttcher erholt sich im Gegensatz zu ihren Verwandten jedoch wieder von diesem Krebs, wobei hierzu keine genaueren Angaben vorliegen. Mehrere Jahre zuvor – obschon in Gaby Böttchers Erinnerung mit dem Krebsausbruch verbunden – ist bereits die elterliche Paarbeziehung endgültig gescheitert, wobei die Ehe auch weiterhin aufrecht erhalten wird. Dieses Scheitern äußert sich dem Anschein nach primär kommunikativ als Beschwerden von Mutter über Vater Böttcher. Letzterer wiederum, der offenbar längere Zeit im Rhein-Main-Gebiet arbeitet3 und nur am Wochenende nach Hause kommt, tritt zu keiner Zeit, auch nicht während der Krankheitsphasen, seine Frau unterstützend oder schwächend in Erscheinung. Im Moment der Eierstockerkrankung ergibt sich damit das Bild einer parallelen Krise, bei der je eine familiale und persönliche nicht normative Krise gleichzeitig bestehen und sich überlagern. Da sich die Mutter trotz Gabys und Lukas’ Zuraten nie scheiden lässt, die Qualität der Beziehung jedoch unverändert schlecht bleibt, entsteht der Eindruck einer chronifizierten, aufgrund der „Beschimpfungen“ der Mutter dem Vater gegenüber als traumatisch zu identifizierenden Krise im Sinne einer „festgefahrenen Situation“, die im wesentlichen bis zum Tod der Mutter andauert: „die warn zwar noch zusammen […] die hamm sich nie getrennt aber das war ja .Horror!, ne?“. Da die Mutter 1987 zudem an Brustkrebs erkrankt, wird auch die traumatische Krebskrise reaktualisiert und ebenfalls auf Dauer gestellt: „des war ein jahre.langes .Leiden kann mer sagen“. Obschon keine Daten zu Mutter Böttchers eigenem Erleben vorliegen, lässt sich vermuten, dass verschiedene Erfahrungen das Krisenhafte der Krebserkrankung betonen und immer wieder retraumatisierend wirken, so dass sich Mutter Böttchers Lebenssituation in der Summe zusehends verschlechtert: So zieht die akute Erkrankung die Amputation der Brust nach sich, woraufhin die Mutter „voll gefrustet“ ist. Auch schließt sie in den nachfolgend besuchten Reha-Maßnahmen neue Freundschaften mit weiteren Brustkrebspatientinnen, welche die Mutter aber oft überlebt, da sie auch diesen Krebs lange übersteht. Mutter Böttcher entwickelt schließlich ein Alkoholproblem und zieht sich sozial zusehends zurück, wobei sie Hilfsangebote ihrer beiden Kinder nur begrenzt annimmt und v.a. ihre Tochter Gaby z.T. brüsk abweist: „ich mein, was sie da gesprochen hat, wo sie krank war, da kam dann immer nur ‚du kannst dir des gar nit vorstellen!‘“. Die Mutter besucht schließlich keine Vorsorgeuntersuchungen mehr und stirbt 2004 nach ca. 18-jähriger Krankheit im Alter von 64 Jahren an multiplen Krebsmetastasen, was diese aber bis kurz vor ihrem Tod geheim gehalten hat: „Mai isse gestorben . un im März sagt dann mein Bruder ‚du, die Mutter is krank‘ . die hat es dann im Prinzip keim erzählt, ne? also, die hat’s keim! erzählt“. Sowohl im Hinblick auf den Beziehungsabbruch als auch auf den Krebs zeichnen sich die Aspekte der sozialen Isolation und des Unverständnisses als Kern von Mutter Böttchers Krisen ab. Die beiden oberflächlich distinkten krisenhaften Ereignisse scheinen demnach derart ähnlich wahrgenommen zu werden, dass die Vermutung

3

Es ist nicht bekannt, ab wann Vater Böttcher diese Stelle angenommen hat.

F ALL B ÖTTCHER

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nahe liegt, hierbei handele es sich um eine einzige kumulativ wahrgenommene Krisenentwicklung, die als chronische traumatische Situation gerahmt wird. Der Krebs wird somit zum Verstärker der familialen Krise, so dass relationale und gesundheitliche Entwicklungen folglich aufeinander bezogen erscheinen.

7.2 A MBIVALENZ

DES VERWALTETEN B INDUNGSVERSAGENS IN DER STARR - LOSGELÖSTEN F AMILIE : A USHALTEN UND A KTIONISMUS 4 (B1)

7.2.1

Das paarimmanente Konfliktpotenzial als situative Ausgangsressource eines starr-verbundenen Systems

Die Eheleute Böttcher heiraten aus Liebe vermutlich Anfang bis Mitte der 1960-er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt ist Vater Böttcher (geb. ca. 1924) ca. 40, Mutter Böttcher (geb. ca. 1939) ca. 25. Zwischen den Eheleuten besteht folglich ein erheblicher Altersunterschied von 15 Jahren, der die beiden zu Angehörigen unterschiedlicher Generationen macht. 1967 wird die Tochter Gaby geboren, 1974 folgt die Geburt des Sohnes Lukas. Die Familie wohnt in Hürdbach, einem Städtchen mit ca. 16.500 Einwohner_innen, das an der Grenze zwischen Spessart und Oberfranken liegt. Der Vater arbeitet zeitweise in einer Stadt des Rhein-Main-Ballungsraums, sein Beruf ist nicht bekannt. Eine Berufstätigkeit der Mutter wird nicht erwähnt. Es liegt daher gerade auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund nahe, eine „klassische“ Versorgerehe anzunehmen, die im Rahmen des modernen Entwurfs einer Liebesbeziehung eingegangen wird. Es gibt keine Hinweise auf lokale Veränderungen. Vielmehr lässt die Lage des dem Vater gehörenden jetzigen Wohnhauses der Geschwister Böttcher in der Altstadt von Hürdbach auf eine Kontinuität der Ansässigkeit schließen. Zu diesem gehört darüber hinaus noch eine Wiese von 1000 qm Fläche. Da sich in der Altstadt vornehmlich alte Bürger- und Handwerkerhäuser finden, kann das wie auch die berufliche Situation Vater Böttchers als vorsichtiger Hinweis darauf gelesen werden, dass dieser möglicherweise realteilungsbedingt einer Handwerkerfamilie mit angeschlossener Subsistenzlandwirtschaft entstammt. Über Frau Böttchers Herkunft ist nichts bekannt, jedoch wird sie von ihrer Tochter als „belesen“ geschildert, was zumindest keine allzu große Bildungsferne der Familie oder Arbeitsbelastung von Kindesbeinen an vermuten lässt. Arbeiter- sowie klassische Bauernfamilien scheinen damit auszuscheiden. Allerdings deutet sich eine milieubedingte Mentalitätsprägung an, die in Richtung einer autonomen Selbstverwaltung innerhalb einer regionalen Leistungsgesellschaft weist. Die Herkunftsfamilien der Eltern bilden jedoch in Gabys Erzählungen lediglich den Hintergrund familialer Krankheitsnarrationen im Sinne von Abstammungslinien und sich daraus ergebenden gesundheitlichen „Gründungsmythen“,

4

Da nicht genügend objektive Daten zur Erstellung eines Genogramms vorliegen (eine Darstellung der vorhandenen Daten findet sich im Anhang), steht in diesem hybriden Abschnitt die systemische Entwicklung der Familie zwar im Vordergrund, wird jedoch durch Ausführungen zur Handlungslogik ergänzt, die auf der Beziehungsgeschichte beruhen.

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ohne in diesen oder anderen Erzählungen – z.B. als Unterstützung während der Krebserkrankung der Mutter – eine aktive Rolle zu spielen. Es wird lediglich erwähnt, dass sich Mutter Böttcher zumindest von einigen der Familienmitglieder im Streit entzweit hat. Die Abwesenheit der Familienmitglieder kann auf eine konflikthafte Distanzierung vom sozialen Umfeld, evtl. sogar auf eine Wahrnehmung der Verbindung als „Mesalliance“ hinweisen. Hierzu passt die auch später noch offensichtliche ständige Sorge der Mutter um die gesellschaftliche Außenwirkung auf „die Leute“, die durch den Versuch ergänzt wird, nach außen hin persönliche Stärke zu zeigen, sowie Vater Böttchers Tendenz, sich nicht um die Meinung Außenstehender zu kümmern und Einmischungsversuche in seinen Alltag abzuwehren, was Gaby als „lieb stur“ umschreibt. Während die Mutter folglich eine gewisse Offenheit und Tendenz zur Auseinandersetzung, aber auch zur Konventionalität erkennen lässt, weist der Vater eher eine Neigung zum sozialen Rückzug sowie zur Unkonventionalität auf. Gemeinsam mit dem Alters- und Erfahrungsunterschied der Eheleute sowie dem daraus resultierenden Ungleichgewicht ist folglich ein Konfliktpotenzial in der Ehe angelegt, das zunächst anscheinend durch eine Gefühlsintensität „ausgeglichen“ wird, die vermutlich mit hohen Erwartungen einherging. Die Ehe der Böttchers besitzt somit von vornherein sowohl ein trennendes, negatives (Mentalitätsunterschiede) als auch ein vereinendes, positives Potenzial (Solidarität aus Liebe), das durch starken Idealismus aufgeladen sein dürfte. Obwohl wenig über die Anfangszeit der Familie bekannt ist, lässt sich auf dem o.G. aufbauend dennoch die These formulieren, dass das System der Böttchers zu seinen guten Zeiten gekennzeichnet war durch eine als verbunden zu bezeichnende Kohärenz mit starker Elternkoalition und eher undurchlässigen Außengrenzen, die auf einer starken emotionalen Bindung aufbaut. Zusammen mit Gaby Böttchers Wahrnehmung einer Mutter, für die „alles, was ich gemacht habe, im Prinzip net ok war“ und eines Vaters, der gemäß dem Motto „so lang du deine! Füße unter meinem! Tisch hast“ agiert, d.h. einer vermutlich von negativen Rückmeldungen, wenig Problemlösungen und strengen Regeln gekennzeichneten starren Adaptabilität, lässt dies auf ein starr-verbundenes Familiensystem schließen. Abbildung 12: Das starr-verbundene Familiensystem als Startpunkt der Entwicklung

Mutter, geb. 1939

V M

L Lukas, geb. 1974

Vater, geb. 1924

G Gaby, geb. 1967

F ALL B ÖTTCHER

7.2.2

| 197

Die Entwicklung zur starr-losgelösten „Horror“-Familie

Die Paarbeziehung entwickelt sich entlang des Konfliktpotenzials auseinander, wobei es (vermutlich aufgrund von Konventionalitätserwägungen) nie zur Scheidung und damit zur endgültigen Trennung kommt. Gaby Böttcher fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: „früher war des au ma öh. große Liebe! (abwertender Tonfall), aber des hat irgendwann aufgehört, ne . sie hat Stress gemacht, er war stur“. Frau Böttcher schildert einen Regelkreis, in dem die Mutter kommunikativ Druck macht, dem der Vater durch Verweigerung ausweicht, was die Mutter nur noch unzufriedener macht und zu noch mehr „stressigen“ Äußerungen motiviert‚ die der Vater offenbar mit noch mehr Kommunikationsverweigerung beantwortet. Beide reagieren folglich mit einer Strategie des Wandels erster Ordnung, bei der keine echte Entwicklung möglich ist. Die Ehe wird zunehmend zum „Horror“, da der Regelkreis auf ein sich kontinuierlich steigerndes, eher heraufspielendes Konfliktverhalten verweist, das auf dem beidseitigen Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens basiert. Der Idealismus der Anfangszeit scheint der Enttäuschung über den jeweils anderen und den gemeinsamen Familienalltag gewichen zu sein, wodurch nun nicht mehr das positive, sondern das negative Potenzial der Ehe unterstrichen wird. Die familiale Wirklichkeit ist letztlich durch das Aushalten derselben gekennzeichnet. Sie gestaltet sich somit starr hinsichtlich des Umgangs mit Krisen oder Phasenübergängen, wobei die starre Adaptabilität zur ständigen Steigerung eines sich zunehmend bildenden innerfamilialen Drucks führt. Beide Ehepartner wählen nachfolgend einen in gewisser Weise aktiven Umgang mit dem Symptom des Drucks in der Paarbeziehung, der verstärkt durch die Krebserkrankung der Mutter die Form eines an Geschlechterkonventionen ausgerichteten Rückzugs – in den Beruf bzw. das Privatleben – annimmt. Der Druck-Umgang ist somit reaktiv, nicht proaktiv und mithin als „Abwehr-Aktivismus“ zu bezeichnen. Er bedingt inner- und außerfamiliale Grenzverschiebungen: Der Vater entzieht sich durch seine Arbeit in einer anderen Stadt dem Familienleben unter der Woche und organisiert dort seinen Alltag unabhängig. Er emigriert also ins soziale Außen, was die äußeren Grenzen des Familiensystems öffnet. Gaby verhält sich ähnlich, wenn sie gemäß dem Motto „Hauptsache weg“ die für sie unerträglichen Familiensituation zu meiden versucht und auch keine gemeinsam agierende Notgemeinschaft mit Lukas bildet. Selbst für die Mutter gewinnen Freundschaften unter Gleichen, d.h. mit anderen Brustkrebs-Patientinnen, an Wichtigkeit, erweisen sich jedoch als brüchig, da die Frauen der Reihe nach sterben. In der Folge separiert sich Mutter Böttcher zusehends und zieht sich in eine Art innere Emigration zurück. Damit macht sie sich jedoch zugleich von ihrem Umfeld abhängig und bindet sich somit paradox. Diese Entwicklung äußert sich teils eher passiv durch ein Alkoholproblem, wird jedoch von ihr auch aktiv forciert, in dem sie relativ aggressiv eine kommunikative Mauer des Unverständnisses und der Unkenntnis um sich aufbaut, die als Distanzierungs- bzw. Abstoßungsstrategie funktioniert, jedoch des Anderen als emotionaler Projektionsfläche bedarf und damit gerade keine Unabhängigkeit repräsentiert. Dies kann ebenfalls als Zeichen einer lediglich Negatives (Wut, Verachtung) ausdrückenden eingeschränkten emotionalen Expressivität gewertet werden: „dann is [die Mutter, A.d.V.] dann nochmal auf Kur gefahren ne Woche, dann frag ich sie! . wie ich sie dann g’sehn hab ‚und, wie war’s? War’s gut?‘ . un dabei war se

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todkrank, hat aber keiner gewusst . ‚hast du ne Ahnung‘ sacht se . so war des dann immer“. Abbildung 13: Losgelöstes Familiensystem nach der Selbstdistanzierung der Mutter

Lukas

Gaby

Mutter

Vater

In der Familie Böttcher wirken folglich starke zentrifugale Kräfte, die zum Aufbau geschlossener innerfamilialer und offener außerfamilialer Grenzen führen und die Mitglieder der Familie in eine je eigene Ausprägung familialer Einsamkeit zwingen, da sich Beziehungen als grundsätzlich prekär, ambivalent und unzuverlässig erweisen. Diese Bindungsqualität festigt endgültig den Eindruck eines losgelösten Familiensystems, in dem emotionale Bindungen zwar vordergründig schwach ausgeprägt erscheinen, jedoch trotzdem emotionale Verwicklungen existieren, da sich keiner der Beteiligten gänzlich aus der Konstellation zu lösen und z.B. dauerhaft in eine andere Region zu ziehen vermag. Das Beziehungsproblem der Eltern wird auf die gesamte Familie übertragen. Da der auf Rückzug orientierte Abwehr-Aktionismus nicht an der Ursache des Drucks ansetzt, unterstreicht er den Wandel erster Ordnung. Es entsteht die paradoxe Ambivalenz des Stillstand durch Aktionismus (starre Adaptabilität). Das organisierte Gut des Familiensystems ist damit der Erhalt des Systems trotz massiver zentrifugaler Veränderungskräfte, d.h. Stabilität wird zum Preis der schein-autonomen Distanzierung der Familienmitglieder gewonnen, die jedoch tatsächlich eine Notlösung darstellt. Autonomie ist damit lediglich die vordergründige Leitdifferenz des Systems. Das Familiensystem verwaltet und verfestigt folglich sein eigenes Bindungsversagen durch Aushalten als Kraft-Ressource. Damit entsteht als weitere paradoxe Ambivalenz eine Bindung trotz Bindungslosigkeit (losgelöste Kohärenz). Die hiermit einhergehende schlechte Beziehungsqualität verhindert „echte“, d.h. offene Bezogenheit innerhalb familialer (und in der Folge auch anderer) diffuser Beziehungen ohne Angst vor Schwäche bzw. Kontrollverlust. Ausgehend von diesen paradoxen Ambivalenzen entwickelt sich ein innerfamilialer Druck, den die Familienmitglieder durch eine je individuelle Art des AbwehrAktionismus aushalten. Da sie sich damit gegen das Familiale wehren und somit darauf beziehen, wirken diese Aktionen zugleich als Rückbindung an die Familie und machen das familiale Abgrenzungsproblem deutlich, das wiederum auf die Ambivalenzen des Systems verweist und die nächste Runde im transaktionalen Regelkreislauf in Gang setzt. Die milieubedingten Mentalitätsprägungen von Selbstverwaltung und Leistung scheinen sich intrafamilial realisiert und so die Kernfamilie trotz starker zentrifugaler Kräfte stabilisiert zu haben.

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Abbildung 14: Familialer Regelkreis der Kohärenz und Adaptabilität Ambivalenz Bindung trotz Bindungslosigkeit Stillstand durch Aktionismus

Steigerung des innerfamilialen Drucks

Rückbindung: Abgrenzungsproblem zwischen Aktion & Relation

Abwehr-Aktionismus zwecks Aushalten

Dadurch dass keine Option endgültig gewählt wird – weder bspw. ein gemeinsamer Neuanfang noch eine Scheidung – wird in diesem System letztlich ein Zustand des „sowohl als auch“ erzeugt, in dem in jedem Moment neben den gelebten auch andere, gegenteilige Möglichkeiten und Potenziale mitschwingen, die zumindest theoretisch realisierbar erscheinen. Dies zeigt sich bspw. darin, dass beide Kinder versuchen, der Mutter eine Trennung zu unterbreiten, ohne sie dazu bewegen zu können, da diese in ihrer fixierten, auf Konventionen ausgerichteten Wirklichkeit verharrt: „sie hat hauptsächlich das (halt?) gefressen . das ist das Schlimmste, was gibt, oder wir ham ihr ja vorgeschlagen, mein Bruder und ich, ‚trenn dich‘ ne? . ‚trenn dich‘ und:’ sie wär!, glaub ich jetzt mal . sie hat das halt nimmer geschafft alles, ne, sie war krank […] dann hatt se halt immer g’sagt ‚was die Leute! sagen‘ und was der- öhm, sie schafft des nimmer, sie is krank und-‚ . ne? . und deshalb hat se’s nimmer g’schafft! […] sie is ja auch zu keiner Kontrolle! mehr“

Die Ambivalenz und Pluripotenz von Alltagssituationen ist in sich ebenfalls ambivalent zu bewerten: Einerseits bringt sie die Aufgabe mit sich, immer alle Perspektiven im Blick, d.h. unter Kontrolle haben und sich immer wieder neu für eine der Seiten entscheiden zu müssen, ohne eine der Alternativen aufgeben zu können. Das erweckt den Eindruck des Druck generierenden familialen Multitaskings. Andererseits müssen Alternativen auch nicht aufgegeben werden, d.h. neben dem durch die Ambivalenz erzeugten Druck existiert auch ein damit verbundener Möglichkeitsraum als ‚positive, entlastende Seite’ der Ambivalenz.

7.3 K REBS ALS SOZIALE Z UMUTUNG , W IDERSTAND ALS M ANIFESTATION

VON

S TÄRKE (C1)

Ausgehend von Mutter Böttchers wiederholten Äußerungen Gaby gegenüber im Stil von „du kannst dir des gar nit vorstellen“ und „hast du ne Ahnung“ mit ihrem Unterton von Frustration, Vorwurf, Einsamkeit, Enttäuschung und Unverstandenfühlen, liegt die Deutung nahe, dass die Mutter Krebs als sich sozial wie physisch äußernde, ihr aufoktroyierte Zumutung und als Leiden definiert. Im Laufe der Krebserkrankung

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steigern sich diese negativen Grundgefühle dann zu einer Art Selbst- und Fremdverachtung und verdichtet die soziale Dimension der Krebserfahrung. Auf diese wie andere soziale Zumutungen reagiert Mutter Böttcher mit einem passiv-aggressiven und unproduktiven Bewältigungsmuster des Widerstands. Das Bewältigungsmuster äußert sich in Manifestationen von Stärke, mit denen sie sowohl auf die zunehmend konflikthaften ehelichen Interaktionen und die Verhaltensweisen ihrer Tochter Gaby als auch auf die Sozialkontrolle in Form der beständig diskursiv präsenten „Leute“ sowie später auf Ereignisse im Zusammenhang mit der Krebserkrankung reagiert: „die war immer! stark […] wenn de se gefragt hast ‚wie geht’s dir?’ gut .gut [leise] .immer gut [laut]“. Diese Demonstrationen von Stärke sind als Abwehrreaktionen jedoch nicht dazu angetan, die störende Situation aktiv in die Hand zu nehmen und zu verändern, sondern verstärken vielmehr das Erleben der jeweiligen Erfahrung als Zumutung und stellen die störende Situation letztlich auf Dauer. Mutter Böttcher wehrt mit diesen identitär bedeutsamen Handlungen zwar eigene Schuld ab, demonstriert Überzeugung und erhält sich einen gewissen selbstbestimmten Möglichkeitsraum, der jedoch im ambivalenten Unbestimmten „hinter der Barriere“ liegt und sie letztlich immobilisiert. Damit festigt sie sich zum Preis der Stabilisierung der störenden Situation und der eigenen Lähmung im Sinne der Zurückhaltung anderer Handlungspotenziale, die nur in vereinzelten entspannten Situationen zu Tage treten können: „wenn die gut drauf war, war des klasse mit der, ne?“. Diese Art der Abwehr eines äußern sozialen Drucks bewirkt den Aufbau eines inneren, persönlichen Drucks, was letztlich die Tendenz zu einer Art „isometrischer“ Selbstüberforderung beinhaltet: Niemand kommt an die Mutter heran, die jedoch auch nicht mehr aus sich heraus kann. Hier zeigt sich die familiale Ambivalenz der Ambivalenz im Gesundheitsbereich als Gleichzeitigkeit von Druck und Potenzial im Unbestimmbaren, das in diesem Sinne aufrecht zu erhalten ist. Im Zusammenhang mit Krebs äußert sich diese Immobilisierung als „Zusammennehmen“. Damit einher scheint eine stilistische Veränderung zu gehen: Aus dem nach außen gerichteten, konfrontativen Stress-Machen der früheren Ehejahre wird immer mehr ein Rückzug ins Schweigen und schließlich in den Alkoholismus, der ihr dann wieder zu erlauben scheint, aus der inneren Emigration herauszukommen und Stress zu machen. Das Bewältigungsmuster der Stärke führt folglich zu Konfrontation und/oder Distanzierung im sozialen Bereich: „da hamm wir am Heiligabend noch total .Stress gekriecht alle, weil sie dann immer getrunken hat un denn genau . komisch draufgekommen is un: also sie hat auch dann viel g’trunken“ „sie hat ja uns nix g’sagt!, was Masse is, ich hat kein Ergebnis! ich wusst gar nix!, ich weiß noch an eim Tag, ich bin da voll ausgerastet, sie war oben .und dann hab ich da halt nur ‚ich will jetzt wissen, was los-‘“

Mutter Böttcher setzt mittels dieses Bewältigungsmusters Krebs als soziales Leiden in Szene, dessen Folgen demnach ebenfalls primär im sozialen Austausch zu spüren sind. Konsequenterweise führt Gaby diese dann auch auf sozial erfahrbare Eigenschaften der Mutter zurück: Mutter Böttcher wird alle Lebensfreude und Genussfähigkeit ab- und dafür Härte, Stolz und emotionale Kälte zugesprochen. Damit wird

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ein Bild der Mutter als gewordene, abstoßende, fast unmenschlich wirkende Oberfläche konstruiert, die verschärft durch den Krebs zur unüberwindlichen Barriere und damit personifizierten Begrenzung und Belastung für sich und andere wird. „hart! sind zu sich selbst und zu anderen, also ds- weiß net, ob sie mir jetzt folgen können . so war mei Mutter (nämlich eweng?) . so: . immer so: also, kein! .Schritt sag ich jetzt mal auf jemand-öh: zugehen, ne?“ „wie mer leiden . ja, leiden kann, ja so wenn, halt immer nur leidend, ne, die hat (1?) halt in den seltensten! Dinge noch Freude am Leben g’habt ne?“

Krebs erscheint damit bei Mutter Böttcher letztlich als eine Art sozial forciertes Problem der Persönlichkeitsentwicklung.5 Folgerichtig kommt Gaby daher zu dem Schluss, dass ihre Mutter ein lebensfroher Mensch hätte sein können, der leider durch die Erfahrungen der Ehe- und Krankheitskrise „gebrochen“ wurde und nicht mehr den Ausbruch aus dem emotionalen Tief geschafft hat: „war scho klasse, die hätt einfach nur rausgesollt aus diesem ganzen Ambiente da“. Dieses ambivalente Potenzial der Mutter verdeutlicht und vereinigt sie in der Charakterisierung „weicher Kern irgendwo innen drin, aber: total hart [leise]“.

7.4 D IE

AUSGEHALTENE

K REBSKRISENSITUATION (X1)

Die Ehekrise als unvollendeter Beziehungsabbruch wird von Mutter Böttcher nicht nur mithilfe des Regelkreises aus (mütterlichem) Druck und (väterlicher) Verweigerung geschaffen, sondern auch aufrecht erhalten. Sie verändert ihr Verhalten ihrem Mann gegenüber auch nach der Eskalation der Ehekrise qualitativ nicht, wobei ggf. die Ausprägung der Druckgenerierung mittels „Beschimpfungen“ an Intensität und somit quantitativ zugenommen haben könnten. Das stellt wohl eine Angleichung dar. Hierauf reagiert ihr Mann mit einer Form von Angleichung durch Rückzug. Da beide (Re-)Aktionen aber im Prinzip Fortsetzungen des gleichen Regelkreises darstellen, zeigt sich hier lediglich ein Wandel erster Ordnung. Die von der Tochter als traumatisch erlebte Krise wird folglich chronifiziert, also quasi „routinisiert“. Eine Anpassung an die veränderte Situation findet nicht statt. Das bei beiden grundlegende Gefühl des Nicht-Verstanden-Werdens bleibt bestimmend und verstärkt sich über die Jahre eher. Die Permanenz und Ineffektivität des Krisenumgangs verweist dabei auf Mutter Böttchers passiv-aggressives und unproduktives Bewältigungsmuster des Widerstands, dessen Stärke im Aushalten der traumatischen Ehebeziehung liegt und sich auch familial als Kraft-Ressource im prekären, ambivalenten, unzuverlässigen und trotzdem aufrecht erhaltenen Beziehungsraum niederschlägt. Hierzu trägt bei, dass

5

Dieses druckbezogene Verständnis von Krebs verweist auf das Deutungsmuster der Krebspersönlichkeit, das dem Druckabbau förderliche bzw. abträgliche Persönlichkeitseigenschaften als ausschlaggebend für Krebs benennt. Hier scheint sich eine Projektionsfläche für den Generationenkonflikt zwischen Tochter und Mutter aufzutun, wobei Gaby die Gestalt der Mutter als metaphorische Gestalt und Prüfstein des eigenen Tuns konstruiert.

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Mutter Böttcher Beziehungen polarisiert und instrumentalisiert. Diese müssen im Grunde zerbrechen oder werden – wo sie unkündbar sind, wie die zur Tochter – stark belastet, da ihr Verhalten Frustrationen auf der Seite ihres Gegenübers auslöst. Bleibt das Erleben und der Umgang von Mutter Böttcher mit dem Eierstockkrebs noch unklar, so inszeniert sie Krebs spätestens ab der zweiten Erkrankung, dem Brustkrebs, als soziales Leiden und Zumutung, bei dem das Unverständnis der Umgebung als persönliche Kränkung und Frustration erlebt wird, welche ihre soziale Vereinsamung und Verbitterung fördert. Auch hier kommt ihr Widerstandshandlungsmuster zur Anwendung, wobei die gezeigten Manifestationen von Stärke sozial distanzierend und/oder konfrontierend wirken und damit insofern unproduktiv sind, als dass sie das Frustrierende der Situation geradezu herstellen. Mit anderen Worten: Indem Mutter Böttcher niemanden an sich heranlässt, kommt auch niemand an sie heran, was ein erneutes „Zusammenreißen“ ob des fehlenden Verständnisses erfordert und damit die Situation perpetuiert, mit der Mutter Böttcher unzufrieden ist usw.. Es handelt sich folglich auch hier um einen regelkreisartigen Wandel erster Ordnung, mit dem das Traumatische der Krise beständig erneut hergestellt wird, ohne die Situation jedoch zu verändern. Damit hat sich Mutter Böttcher vollständig immobilisiert. Die einzige Angleichung liegt in der Folge in der zunehmenden Betonung der sozial und körperlich ausgelebten Distanzierungsvariante, was ein Aushalten der Krise erlaubt, jedoch letztlich zur Entwicklung von Selbst- und Fremdverachtung führt. Als Konsequenz von Beziehungsinstrumentalisierung und Verachtung gibt Mutter Böttcher ihre eigenen Beziehungserfahrungen von Verlassenheit, Verbitterung und sich Unverstanden-Fühlen weiter und (re-)produziert den Kommunikationsmangel in den familialen Beziehungen sowie deren Abhängigkeit von Leistung und deren Launenhaftigkeit. Damit beruhen die Familienbeziehungen folglich eben nicht auf bedingungsloser Liebe und Annahme, sondern auf „Nutzbarkeit“ und scheinen damit „unecht“, was sie weiter disqualifiziert und unzuverlässig erscheinen lässt. Auch so bestätigt Mutter Böttcher ihre Beziehungswahrnehmung. Beide Krisen sind damit im Kern sozialer Natur und somit aneinander anschlussfähig. Sie manifestieren sich als Kommunikationsabbrüche. In Gabys Narrationen werden die Krisen als aufoktroyierte Hindernisse der Persönlichkeitsentwicklung konstruiert, die damit grundlegend relational verstanden wird. Mutter Böttchers Coping erscheint in diesem Rahmen primär als „isometrische“ Kraftanstrengung des Aushaltens, die in einer abwärtsgerichteten Spirale zu sozialer Überforderung, Vereinsamung und Verbitterung führt. Sie „bewältigt“ durch Bestätigung und gewinnt dadurch vermutlich die Kraft zum Weitermachen.

7.5 G ABY B ÖTTCHERS G ENKRISE (A2) Auch in Gaby Böttchers Version der Geschichte liefert die nicht normative familiale Krise des Beziehungsabbruchs ab Gabys 13.-14. Lebensjahr, in der „nimmer viel in der Familie! [war]“, die entscheidende Vorgeschichte, zumal sie mit ihrer ontologischen Adoleszenzkrise koinzidiert. Zum Zeitpunkt der Eierstockkrebserkrankung ist Gaby 17 und aufgrund des schwierigen Verhältnisses zur Mutter, aber auch der „Horror“-artigen Paarsituation

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der Eltern bereits „flügge“. Darüber hinaus nähert sie den Eierstockkrebs in ihrer Erinnerung zeitlich dem Scheitern der elterlichen Paarbeziehung an, da sie das damalige Alter der Mutter drei Jahre unterschätzt: „erst!erkrankt mit ich dacht immer 2-43 meine Recherchen, aber: in der Uniklinik hamm sie mich für also 46 s erste, Eierstockkrebs, un 49 Brustkrebs“. Zudem rahmt sie den elterlichen Beziehungsabbruch als „gang und gäbe“ im Zusammenhang mit Brustkrebs. Der Krebs wird so mindestens zum Verstärker, wenn nicht gar zum Anlass der elterlichen Krise, ist aber auch an sich aufgrund der körperlichen Folgen Sinnbild für „Leiden“. Es ergibt sich eine Krebs-beförderte familiale Doppelkrise auf der gesundheitlichen und relationalen Ebene, bei der sich folglich „Horror“ und „Leiden“ ergänzen. Diese Konstellation trifft auf Gabys eigene normative Adoleszenzkrise und verstärkt diese nun ihrerseits, da die Familienkrise den familialen Raum gleichsam besetzt hält und so Gaby ein Auseinandersetzungsfeld entzieht. Neben dem mütterlichen, diskursive Reibung verhindernden Schweigen zeigt sich das auch dann, wenn Gaby ihre Mutter nach der Amputation im Rahmen der Brustkrebserkrankung unterstützen möchte, von dieser jedoch abgewiesen wird. Es entsteht das Bild einer sich aus verschiedenen krisenhaften Quellereignissen zusammensetzenden einzigen kumulativen Krise, die Gaby als umfassende ontologische Krise erlebt. Gabys beantwortet diese traumatische Situation mit einer Suche nach Anerkennung und Auseinandersetzung auf sozialen Veranstaltungen außerhalb der Familie, primär bei Männern und im Kreise ihrer Freundinnen, mit denen sie die unglücklichen und wenig entwicklungsförderlichen Beziehungserfahrungen wohl „neutralisieren“ möchte. Als Reaktion auf die unproduktive Art des mütterlichen Krebsumgangs, aber auch auf das co-krisenhafte, abgewiesene Mit-Leiden an deren Gesundheitszustand im Rahmen der chronifizierten traumatischen Krise nimmt Gaby ab ihrem 25. Lebensjahr regelmäßig gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch. Damit scheint das Traumatische der Krise beherrscht zu werden, da Gaby erst nach dem Tod der Mutter weitere Maßnahmen ergreift. Der Tod der Mutter 2004 stellt grundsätzlich eine normative familiale und persönliche Krise dar. Er reaktualisiert zudem die gesamte bisherige Krisenkonstellation, da sowohl die dem Krebs immanente Todesgefahr realisiert als auch die schwierige Paarbeziehung durch das Fehlen des Vaters in der zugehörigen und ansonsten sehr ausführlichen Interview-Passage deutlich wird. Für Gaby ist jedoch v.a. die Reaktualisierung des für sie unbefriedigenden Verhältnisses zur Mutter entscheidend. Es entsteht der Eindruck, dass das fehlende abschließende „gute Gespräch“ aufgrund der entwicklungsentscheidenden Stellung der Mutter von der Tochter als Entwicklungshindernis aufgefasst wird, da diese damit ihr Gaby abweisendes Schweigen sozusagen mit ins Grab nimmt und keine Chance zum Abbau des Kommunikationsdefizits und Konflikts zwischen den beiden besteht: „da war se-da war se ok eigentlich, obwohl ich .kein! richtiges gutes Gespräch mehr mit ihr hat, ne, des war dann auch so .total blöd, ne? . also ich konnt kein Frieden so richtig schließen“. Der Ausgleich des offensichtlich belastenden Defizits, hinter dem ein latent traumatisierendes Potenzial der Mutter deutlich wird, kostet Gaby starke Anstrengungen: „F: wie haben sie dann den Frieden hingekriecht? B: Mit mir da den Frieden? F: ja

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B: ja, das ich mir halt total viel Gedanken- ich hab auch .gute Freundinnen, die eine, die hat auch Stress mit ihrer Mutter früher, da haben wir stundenlang drüber gesprochen . und: ich hab dann au- ja, also, Stunden und Tage und . immer wieder […] jetzt hab ich mal wieder seit langer Zeit dadrüber geredet, deswegen hab ich eben ja g’sagt ist eigentlich jetzt in so’ner .Schublade, hab’s halt jetzt mal, weil wir des jetzt machen mal nochmal erzählt ne? aber die ganze Zeit komm ich besser damit klar, ich geh nicht mehr! viel am Friedhof und es ist in ner Schublade un es is gut [leiser]. ne? es ist gut! ich muss nur jetzt für mich gucken, dass ich nicht! in diese Lage komm“

Nach dem Tod der Mutter schlägt ihre Frauenärztin ihr vermutlich daher den BRCATest vor „wenn das bei ihnen so arg in der Familie ist“. Nach einer halbjährigen Bedenkzeit entschließt Gaby Böttcher sich im Frühjahr 2005 dazu, das Testangebot bei einer niedergelassenen Humangenetikerin wahrzunehmen. Hier liegt offensichtlich eine Entscheidungskrise vor, deren lange Dauer jedoch auf das latente traumatische Potenzial der Entscheidung verweist. Gaby wird BRCA2-positiv getestet. Das Ergebnis ist ein Outing, das – obschon aufgrund der Vorgeschichte nicht ganz unerwartet – schockartig wirkt. Dieser Schock wird durch Tränen zum Ausdruck gebracht und durch ihren eilends herbeigerufenen Freund beruhigt. Erneut befindet sie sich in einer traumatischen Krisensituation, der Genkrise, die als Retraumatisierung begriffen werden kann, da Gaby Böttcher durch den positiven BRCA2-Test an die familiale Krebsgeschichte ihrer Mutter sowie an deren „Leiden“ angeschlossen wird. Das kann als persönlich traumatisierend verstanden werden, erinnert aber auch insofern an eine normative Krise, da die mütterlichen als „Krebsfamilie“ verstanden wird, in der Krebs womöglich als vorgegebener Entwicklungsschritt der Familienmitglieder aufgefasst werden kann, mit dem sich deren Zugehörigkeit zur Familie erweist. Insofern entwickelt sich Gaby folglich an dieser Stelle auf diese Familienlinie zu, was ihrer bisherigen Assoziation zur väterlichen Familie widerspricht. Da ein bürokratisches Problem die Ergebnismitteilung überschattet, die von Gaby daher als „menschlich! also: ganz übel!“ erlebte wird, verstärkt Gabys Kontakt mit der Humangenetikerin als extrafamilialer Kraft auf jeden Fall das Traumatisierende des krisenhaften Ereignisses. Auf das Ergebnis reagiert sie zunächst mit einem verstärkten Bewusstsein für medizinische Risikofaktoren, das sie mit einem eingegrenzten sozialen Aktivitätsradius kombiniert, wodurch erneut ein Beziehungsaspekt erkennbar wird. Im Internet stößt sie zudem auf das HBOC-Zentrum in C-Stadt und meldet sich dort. Der Test wird wiederholt und kommt zum gleichen Ergebnis. Frau Böttcher wird ab Anfang 2006 in die intensivierte Früherkennung aufgenommen, die sie als „engmaschige Kontrolle“ bezeichnet und als belastend erlebt: „F: also sie erleben diese Untersuchungen schon als . n größeren Eingriff? B: ah sind schon hef- [leiser] also, is halt immer ne Belastung, ne? . letzt Mal, bevor ich hochgefahren bin, (4-5? zu leise), wollt’s nochmal verschieben wieder, hab’s auch verschoben g’habt (1?) . un, sind (1?) schon belastend, na klar F: Ähm, was ist denn da die Belastung? B: Ja, die Angst, dass ich jetz da neigehe un der sagt, ‚da is was‘“

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Im Zuge dieser Untersuchungssituationen erlebt Gaby folglich erneute Retraumatisierungen, die ihr das Unsichere, Ausgelieferte ihrer Gesundheitssituation vor Augen führen und sie aber auch zum Teil einer Gruppe gleichartig Belasteter macht: „ich red ja auch immer mit allen möglichen Leuten, die da so sin halt un . da sitzt ja jeder angespannt da“. Im Internet wie auch im Zentrumskontakt kommt Gaby Böttcher auch mit der Möglichkeit der prophylaktischen Eierstockentfernung in Berührung, die ihr auf beiden Wegen als „ratsam!, ratsam, empfohlen, empfohlen“ nahegelegt und speziell bei weiteren Besuchen in C-Stadt, aber auch bei ihrer Frauenärztin, die Gabys Eierstöcke als „tickende Zeitbomben“ bezeichnet, immer dringender angeraten wird. Gaby Böttcher gelangt so in eine weitere Entscheidungskrise, die im Prinzip seit Ende 2005Beginn 2006 (und über das Interview im Februar 2007 hinaus) andauert, was erneut auf den traumatischen Hintergrund des Themas verweist. In den Diskussionsprozess werden alle möglichen verfügbaren medizinische Expert_innen genauso einbezogen wie der Freundinnenkreis und nicht zuletzt auch Gabys damaliger Freund. Verhandelt wird die Frage „Was ist ne Frau?“. Mit ihrem Freund zusammen ringt sich Gaby schließlich zur Operation durchringt, da beide keinen Kinderwunsch mehr verspüren. Im Herbst 2006 lernt dieser jedoch eine 28-Jährige kennen, entdeckt, dass er vielleicht doch noch einen Kinderwunsch hat, und beendet die Beziehung. An dieser Stelle verbindet Gaby ihre Gen- als kommende Krebskrise mit dem Ereignis des Beziehungsbruchs als Reaktualisierung des elterlichen Beziehungsdramas, das Gaby bereits bei ihrer Mutter als sowohl krebs- als auch beziehungsbeförderte Krise der persönlichen Entwicklung mit desaströsen Konsequenzen gerahmt hat: „also ich war da da, muss ich sagen, mal richtig übel [leise] drauf [atmet ein] weil ich m- also des geb ich jetzt mal zu . dann kommt noch die Angst mit dieser Sache! . da lag ich manchmal im Bett und hab mir gedacht ‚guck jetzt geht’s dir so Scheiße‘ ne? und dann! ist das natürlich förderlich, ne? also das weiß ja jeder [lauter], ne? […] ‚ha, jetzt hat dich dein Freund verlassen‘, ne? als- ich mein, jeder! hatte so scho blöde! Gedanken manchmal, denk mal jeder Mensch, ne? kann ich jetzt auch schon wieder- jetzt is ja auch scho wieder besser, nur in der Phase ‚un dann kriegste noch des dann auch noch irgendwann, is ja klasse alles‘, ne? so war ich da manchmal drauf, als ich hatt einfach! kein Power halt“

Die Entscheidung des Partners gegen die Partnerschaft, die von Gaby mit ihrem ggf. operationsbedingt verringerten weiblichen Potenzial in Verbindung gebracht wird, gilt ihr jedoch zugleich als symptomatisch für eine potenzielle neue Beziehung. Dieses Thema gilt es nun immer mitzudenken, was für Gaby aufgrund ihrer Schwierigkeit, eigene Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, problematisch ist. „wenn ich jetzt jemand kennenlern, also: des sag ich gleich, also: wirklich an Fasching hat mer gleich am Anfang so’n Thema, ne, also .es iss .halt .jetz, (4-5? leise) ich will kein Kind mehr! [betont deutlich], irgendwie und- ne, so halt (ganz?) lustig in dieser ganzen Faschingslaune . aber das ist mein Tiefstestes momentan, also des war halt jetzt lu- kam lustig rüber, aber des is .mein .toternst, ne . ne?, das mer des klären! muss vorher, ne, also sowas möcht-i möcht ich nicht nochmal, dass mir das passiert, öh, das mir jemand sagt . er will jetzt noch n Kind nachne! also, es war Schock“

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Durch das Mitdenken wird ein weiterer potenziell krisenhafter Aspekt gerade in die bislang entspannende Situation des „Paadie“-Machens eingeführt, in der nun der Konflikt um unterschiedliche Zielprioritäten, die Reaktualisierung der fehlenden familialen Anerkennung sowie eine Vermischung unterschiedlicher Zeitebenen zusammenkommen, durch die das Selbstvergessene der Gegenwart wahlweise durch die Vergangenheit oder durch die Zukunft in Bann geschlagen und ihres Entspannungspotenzials beraubt wird. Aus der akuten traumatischen Krise, die zudem mit einem sich nähernden 40. Geburtstag und den damit oftmals verbundenen Lebensgestaltungsfragen als ontologischer Krise koinzidiert, helfen Gaby Freund_innen wieder heraus: „aber ich hatte wirklich total super: liebe Leute […] die haben mich da echt aufgebaut halt“. Gaby wird wieder handlungsfähig und legt schließlich sogar einen Termin für die Eierstockentfernung fest, obwohl ihr diese Festlegung zunehmend unangenehm wird: „jetzt geht’s halt im Prinzip dadrum, dass ich ja diesen Termin hab in der Uniklinik am [Datum] ne? für diese Eierstockentfernung . und: ich muss sach, je näher der Tag rückt! . desto .. manchmal komm ich wieder ins zweifeln . ds is .eigentlich jetzt momentan noch, des is ja jetzt in einer Woche, ne? . des is jetzt ds was ich mir überleg“

Mit dem nahenden Operationstermin tritt demnach das Traumatische einer offensichtlich latenten krisenhaften Grundstimmung immer deutlicher zu Tage. Dieser Druck hat sich durchgängig seit dem Tod der Mutter aufgebaut, kann jedoch im Grunde bis in Gabys Pubertät zurückverfolgt werden. Es kommt fast folgerichtig nicht zur Operation im März 2007. Gaby Böttcher begründet ihre Absage damit, dass sie weitere Informationen von Hormonspezialisten einholen möchte, bevor sie sich operieren lässt6, da sie um ihr diesbezügliches Gleichgewicht besorgt ist: „ich hab halt Angst, dass ich nicht ganz! so den Ausgleich mit den Hormonen krieg“. Hier hat jedoch auch das Interview das Unsichere der Situation verstärkt und das zugehörige Grundtrauma reaktualisiert, das als ontologische Krise der unabgeschlossenen adoleszenten Persönlichkeitsentwicklung bezeichnet werden kann, innerhalb derer Gaby anscheinend nie wirklich das ihr eigene Potenzial entdecken konnte. Aufgrund dessen wirkt Gaby darum bemüht, ein „gespiegeltes Potenzial“ wie bspw. das ihres Körpers zu erhalten, dessen Beschreibung sie mit „ich krieg immer gesagt“ einleitet. Das beinhaltet eine Einschränkung eines möglichen Krankheitspotenzials bei gleichzeitiger Vermeidung einer Reduktion ihres Entwicklung generierenden und v.a. stabilisierenden Beziehungspotenzials. Darauf verweist u.a. Gabys Fazit, dass sie auf die Frage formuliert, ob sie sich insgesamt wohlfühle: „ich würd mich jetzt gern noch schön verlieben, un dann wär alles wieder optimal halt so (leiser)“ .

7.6 G ABYS S ELBSTWERTPROBLEM

IM SOZIALEN

F ELD (B2)

Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Gaby (40) nach einer Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin halbtags als Büroleitung in einer großen Gesundheitspraxis.

6

Da Gaby nach dem Gespräch den Kontakt beendet, ist unklar, ob die Operation je stattfand.

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Sie ist dem leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu zuzurechnen. Zusammen mit Bruder Lukas (33) und dessen Frau bewohnen Gaby und Sohn Florian jeweils eigene Wohnungen im 2005 umgebauten Einfamilienhaus des Vaters (83) in der Altstadt ihres Heimatortes Hürdbach, wobei Gaby die Wohnsituation als „nebeneinanderher leben“ charakterisiert. Der Vater lebt als „eigenständiger Selbsversorger“ nur wenige Straßen entfernt. Die an Krebs verstorbene Mutter liegt auf einem Friedhof, der einige hundert Meter von Gabys Wohnhaus entfernt liegt. 7.6.1

Gabys Stellung im starr-losgelösten Familiensystem

Spätestens ab ihrem 13. Lebensjahr wird Gaby von der Mutter für jedes Fehlverhalten mit Schweigen gestraft: „wenn mal was is! […] sie war halt nachtragend für drei Wochen: wochenlang kein Ton geredet, ne?“. Das Verhältnis zur Mutter ist jedoch bereits vorher belastet, was angesichts des mütterlichen Umgangs mit Gabys sieben Jahre jüngerem Bruder Lukas deutlich wird. Im Gegensatz zu diesem, der „noch schlimmer! “ ist als sie, jedoch für die Mutter ein „Modekind un noch dazu Sohn“ darstellt, wird ihr wesentlich weniger verziehen. Während also zumindest zwischen Mutter und Sohn eine Art Koalition zu bestehen scheint, kann Gaby weder – teils aufgrund des Altersunterschieds, teils aufgrund des unterschiedlichen Verhältnisses zur Mutter – eine Notgemeinschaft mit ihrem Bruder eingehen, noch sich auf den Vater verlassen, der zwar von ihr auf ihrer Seite imaginiert wird, jedoch nicht zuverlässig entsprechend agiert und zudem aufgrund der Arbeitssituation nur selten zur Verfügung steht: „er war ja eigentlich noch eher auf meiner Seite . nur er musste dann letztendlich auch-öh: . auch: .logischerweise ihr beistehn oder was auch immer . am Wochenend . un es war im- bin ja . als führt zu weit auf jeden Fall . gab’s halt ma ein .Situation, da hat er halt mal .voll zu ihr gestanden, des war .voll daneben, ja, aber auch nur unter Druck halt un so“

Gaby besitzt somit keine familialen Verbündeten und besetzt daher die Position der Außenseiterin im losgelösten Familiensystem. Sie wird – wie bereits ihr Vater zuvor – durch das Grenzziehungsverhalten der Mutter von dieser fast schon „gewaltsam“ abgestoßen und zum Rückzug ins soziale Außen der Familie gezwungen. Die Ablösung vom Elternhaus nach der Maxime „ich war gut in der Schule: un der Rest-öh war ich ‚Hauptsache weg‘ . weil’s schlimm war“ wird folglich als Notlösung zur relationalen Druckminimierung gesehen und weniger als Konsequenz eines genuinen Autonomie-Bedürfnisses. Hier kann sie die o.g. regionale Mentalitätsprägung für sich nutzen. Im sozialen Außen meistert sie wichtige Entwicklungsaufgaben in Bezug auf ihre Identität als Frau, die ihr im Familienkreis, namentlich in Auseinandersetzung mit der abwe(i)senden Mutter, nicht gelingen. Neben dieser Entfremdung scheint hierbei auch eine Art Konkurrenz zwischen dem „erwachenden“ weiblichen Körper Gabys und dem „versagenden“ der Mutter eine Rolle gespielt zu haben, welche die Intergenerationenbeziehung zusätzlich belastet haben dürfte.

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Abbildung 15: Starr-losgelöstes Familiensystem mit Gaby in der Außenseiterposition

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Im Gegensatz zum erwachsenen Vater, dessen Gewöhnung an (evtl. Rückkehr in die) Unabhängigkeit so vollständig ist, dass er sich bis dato (Februar 2007) jede Einmischung in sein Leben mit einem „lass mich!, nerv net“ verbietet, verunsichert das Gefühl der Auslieferung die minderjährige Tochter tiefgehend. Das vorherrschende familiale Merkmal des distanzierenden Kommunikationsabbruchs, das in Kombination mit Gabys Eindruck der persönlichen Unzulänglichkeit von ihr wohl als „Bestrafung des falschen Kindes“ aufgefasst wird, bewirkt sowohl ein Gefühl extremer Einsamkeit, das zu einer Sehnsucht nach (kommunikativer) Nähe führt, als auch Vorsicht in Beziehungen. Das hat direkte Auswirkungen auf Gabys Beziehungserleben und -gestalten, was auch spätere Partnerschaften entscheidend bestimmt: „wenn die Mutter einen immer wegstößt, ne? dann biste das gewohnt, ne? […] .dann biste das gewohnt! . jemand will dich nicht richtig! ne . also .sag ich jetzt ma .du wirst net akzeptiert, wie du bist, wirst immer weggestoßen, mit dir spricht keiner wochenlang, und: du willst! die Person aber ham, du willst! sie lieben, ne? is eigentlich total .und öhm . du bist es gewohnt so, dieses:dieses: Rollenverhäl- verhalten, ne? . und, ja so ist das in Beziehungen genauso“

Abstoßung und Anziehung stehen hier in dem von Simon, Clement und Stierlin (2004) festgestellten dialektischen Verhältnis, in dem Bindungssehnsucht und Bindungsangst die in der Folge ambivalenten Beziehungen kennzeichnet. Die Stärke dieser ambivalenten Bindung wird bspw. deutlich, als Gaby nach dem Tod der Mutter längere Zeit braucht, um über diesen hinweg zu kommen. Die Verwicklung führt zu einer Art „Jojo-Effekt“ in Beziehungen, in denen eine maximale Annäherung zur Enttäuschung führt, die so lange den Distanzaufbau fördert, bis die aus der Enttäuschung resultierende Angst vor Nähe und Bindung ein Maximum erreicht hat und der Anziehung weicht, die aus der Sehnsucht nach eben dieser Nähe und Bindung folgt. Abstoßung und Anziehung, Nähe und Distanz bilden bei Gaby Böttcher folglich einen wichtigen relationalen Regelkreis, auf dem Gabys relationales Selbst aufbaut. Gerade das Gefühl, als „falsches Kind“ nichts richtig machen zu können, schärft das Bewusstsein für die Sichtweise und die Bedürfnisse des Gegenübers, deren Befriedigung eine (Anpassungs-)Leistung darstellt, welche die ersehnte Nähe wahrscheinlicher macht und damit die Relationsorientierung betont. Reflexion und Übernahme von Perspektiven Anderer als eigene, identitär bedeutsame Impulse werden trainiert, während das Bewusstsein für eigene andere Bedürfnisse und Sichtweisen systematisch unterdrückt wird, da diese offenbar falsch sind und zu einer Verschlimmerung der Gesamtsituation beitragen. Ihre Selbstvergewisserung und damit in gewisser Weise ihre Existenz in der kommunikativen sozialen Begegnung ist stän-

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dig in Gefahr und entfällt intrafamilial oft genug, so dass eine existenzielle Angst vor dem „Verschwinden im Schweigen“ angenommen werden kann, die im Verlauf der Krebserkrankung der Mutter ggf. durch eine physische Dimension erweitert wird. Eine Gabys Pubertätserleben dominierende Selbstwertproblematik ist als Resultat dieser Kombination aus Bindungs- und Wertlosigkeit zu verstehen und bedingt ein extremes Schamgefühl: „man hat sich extrem geschämt damals […] ich fand mich nit so doll in der Zeit grade . es war alles sehr! anstrengend und wenn ich jetzt sag mal manchmal möchte ich nit nochmal erleben, war: also im nachhinein alles n bisschen .. mer hat sich oft blöd gefühlt irgendwie“. Daraus resultiert Gabys Suche nach einer „passiv“ akzeptierenden, annehmenden und „aktiv“ anteilnehmenden, unterstützenden Anerkennung in Beziehungen sowie eine permeable Person-Umwelt-Grenze, die Gaby besonders empfänglich für relationale Impulse macht. Durch den positiven BRCA-Test wird Gaby schließlich zusätzlich von ihrem Vater entfernt, auf dessen „sicherer Gesundheitsseite“ sie sich aufgrund äußerlicher Ähnlichkeiten immer gewähnt hat. Stattdessen wird sie in die „falsche Familienseite“ der Mutter refamilialisiert. Zusätzlich verweigert sich ihr Bruder mittels der Ablehnung einer BRCA-Testteilnahme einer evtl. Risiko-basierten Solidarisierung: „n ganz extrem hohes Risiko auf Prostata, mein Bruder ja auch, der is ja auch fuffzig Prozent Risiko . ne? . gut, ihm hab ich’s gesagt, der hat gesagt, er will sich nicht testen […] er will des nicht wissen, er geht zu den Kontrollen! und: fertig“. Damit belegt Gaby Böttcher wiederum bzw. immer noch die bekannte, nun reaktualisierte familiale Außenseiterposition. Diese ist zudem mit der unausweichlichen gesundheitlichen Belastung versehen und dadurch im Sinne einer erweiterten Distanzierung verstärkt. Mit der Distanzierung aufgrund der Risiko-Assoziation dürfte wohl eine gedankliche Annäherung an die Mutter einhergehen, die nun von Gaby trotz ihrer unverändert kritischen Sicht derselben ausgehalten werden muss. Der Eindruck der inneren Distanz in einer ausgehaltenen räumlichen Nähe entsteht, auf den bereits die Wohnsituation hinweist, womit sich die Kombination aus Loslösung und Verwicklung bestätigt. Das starr-losgelöste Familiensystem scheint sich damit auch anlässlich des Todes der Mutter nicht im Sinne einer Annäherung verändert, sondern vielmehr bestätigt zu haben, was angesichts der starren Adaptabilität zu erwarten stand. Abbildung 16: Die durch Gabys BRCA-Diagnose initiierte Konstellation des Familiensystems

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G L

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7.6.2

Gabys gesamter Deutungs- und Beziehungsraum

Im Wechselspiel zwischen Herkunftsfamilie, Partnerschaft, Medizinsystem und Freundinnen entsteht Gabys gesundheits- und weiblichkeitsbezogenes Selbstbild. Abbildung 17: Gaby Böttchers Beziehungsraum

Freundinnen

V M †

HBOC-Zentrum & Medizin

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L (Eventuelle) Partnerschaft

Gaby konstruiert ihre Mutter- bzw. Vater-Tochter-Beziehung7 polarisiert als rollenförmigen Sozialbeziehungen. Dem „schlechte[n] Verhältnis“ zur Mutter wird eine gute Beziehung zum Vater gegenüber gestellt, der ihr „noch nie au Stress gemacht“ hat. Damit wird eine aufspaltende Ambivalenz auf der Beziehungsebene zwischen den Figuren der „bösen Mutter“ und des „guten Vaters“ und so eine stereotypisierte Familienrepräsentanz geschaffen, die funktionalisierend und distanzierend wirkt. Das mütterliche Bewältigungsverhalten wird von Gaby als Härte, Stolz und emotionale Kälte gelesen, da sie Mutter Böttcher als eine der Personen erlebt, die „hart! sind zu sich selbst und zu anderen“ sowie so „nachtragend“, dass sie ihre Tochter mit Schweigen „straft“, wenn diese ihre Erwartungen nicht erfüllt hat. Damit „degeneriert“ sie zur schweigenden abstoßenden Barriere ohne Lebensfreude, obschon sie „super eigentlich“ war und Gaby „mit ihr wirklich, wenn wir uns gut verstanden haben, super! reden [konnt], ne, kann ich mit meim Vatter nit so wie halt Männer sind, Männer sind nit so die emotionale Schiene“. Die Mutter erscheint somit wie eine Person, die Gaby zwar in guten Zeiten Anteilnahme entgegenbringen kann, jedoch launenhaft ist und Gaby als Person nicht bedingungslos akzeptiert, da sie ihrer Tochter kaum Respekt entgegenbringt und ihr indirekt eine bestimmte Verhaltensleistung abverlangt. Das verhindert letztlich eine Solidarisierung auf Dauer und bestimmt die angespannte Beziehung:

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Als Leerstelle zeigt sich die Beziehung zum Bruder, der auf dieser wie auch der Gesundheitsebene „Greifbarkeit“ scheut. Als Triathlet verkörpert er aber die volle Leistung, die Gaby als schädlich für sich herausgefunden hat, als Testverweigerer wiederum fehlende Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Hier besteht wenig Gemeinsames.

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„wenn wir [Mutter, Florian und Gaby, A.d.V.] dann heimgekommen sin (1?) irgendwo .tal schön! war, ne, da hamm wir so Ausflüge gemacht, des war total schön, ne, un dann sin wir dann heimkomme, mein Vatter gesehen, da musst ich mit ihm dann . konnt ich nicht normal sein! [lauter], weil sonst wär des .wieder alle dann-un irgendwann kam der Tach, da konnt ich dann nimmer in den Spiegel gucken, na hab ich mir gede- ‚na, des geht (1?) nimmer so weiter’, weil (1?) mit meim Vatter han ich noch nie Stress g’habt . und den .hab ich genauso geliebt“

Die Figur der negativ konnotierten „bösen Mutter“ überlagert damit deutlich deren positiven Anteile, bleibt aber als „unterstützend abweisend“ genauso ambivalent wie die des Vaters. Vater Böttcher wird von Gaby als „lieb! stur“ beschrieben. Hier wird die Ambivalenz folglich durch das „lieb“ positiv konnotiert, was zur Figur des Gaby beistehenden „guten Vaters“ führt, dem auch „Aussetzer“ verziehen werden. Trotz gewisser konfrontativer Anteile weist Vater Böttcher aufgrund seines körperlichsozialen Rückzugsverhaltens ein eher passiv-ausweichendes Bewältigungsmuster der Unberührbarkeit auf: „deswegen kommt der auch gut klar, an den geht emotional nix dran“. Frau Böttcher deutet seine Haltung als „entspannte“ Nachsichtigkeit und Akzeptanz, obwohl in der damit verbundenen autonomen Unverfügbarkeit auch Unnahbarkeit, Selbstgenügsamkeit und Gleichgültigkeit mitschwingen, die eine gemeinsame Problembearbeitung mit ihm als erfahrbarem Gegenüber verhindern. Im Gegensatz zu Akzeptanz ist Anteilnahme von diesem Vater nicht zu erwarten. Da weder die Beziehung zum Vater richtig zufriedenstellend verläuft, noch die zur Mutter völlig negativ bewertet wird, stellen beide ein von Mangel gekennzeichnetes ambivalentes Kampfgebiet zwischen Sehnsucht und Selbstschutz8 dar, können jedoch aufgrund ihrer positiven Anteile auch nicht aufgegeben werden. Sie sind daher aufgrund der echten unvereinbaren emotionalen Widersprüche von Intergenerationenambivalenz gekennzeichnet. Bedeutsam ist darüber hinaus, dass sich Gaby Böttcher durch die Beziehung zum „guten Vater“ auch symbolisch von der Mutter abwendet und sich mit diesem identifiziert: „ich bin ganz mein Vatter“. Dieses massive Abgrenzungsbedürfnis betont im Umkehrschluss jedoch den enormen Stellenwert, den die Mutter für Gaby besitzt. Dieser macht sich v.a. auch im Gesundheitsbereich bemerkbar, da sie als Negativbeispiel sowohl Gabys (gesundheitsbezogene) Handlungsmuster im Sinne eines „nicht so wie Mutter“ als auch ihre Gesundheitsdeutung im Rahmen des relationsdynamischen Energiemodels bestimmt (s. C2). Dieses Modell ist vielfach anschlussfähig, wobei v.a. das genetisiert verstandene familiale Potenzial durch die „Krebs-Gene“ als Brücke ins HBOC-Zentrum als Teil des Medizinsystems wirkt, jedoch mit den „Jung-Gene[n]“ als „Jungbrunnen“ auch ein alternatives Konzept anbietet, das jedoch durch den Verweis auf Gabys gutes „Abwehrsystem“ medizinisch eingeordnet werden kann.

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Das kann sich auf die Gestaltung einer evtl. Wahlfamilie auswirken, wenn das Beispiel des Vaters als „typischer emotionseingeschränkter Mann“ auf einen Partner übertragen wird. Der Qualitätsmangel kann dann zu dem Gefühl beitragen, ständig in einer notwendig nichtoptimalen Beziehung zu leben, was aufgrund der fehlenden familialen Tradition der Beziehungsarbeit zur perpetuierten seriellen Suche nach einer anerkennenden Beziehung führen kann.

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Die Abwehr der Mutter bedingt darüber hinaus eine Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen im Gegensatz zur Mutter, die diese nur höchst selektiv und – so scheint es – auch nur im Notfall in Anspruch genommen hat. Gaby hingegen nimmt seit ihrem 25. Lebensjahr gynäkologische Untersuchungen wahr und fühlt sich auch persönlich angenommen. So beschreibt sie ihre Frauenärztin als „ganz liebe Frau“, mit der sie „hochzufrieden!“ ist, und auch im HBOC-Zentrum, in dem „alle total nett“ sind, fühlt sie sich „aufgehoben“. Allerdings zeigen sich hier v.a. informationell begründet Diskrepanzen zu diesem positiven Bild, wenn Gaby bspw. hohe belastend empfundene Risikozahlen mitgeteilt werden, die sie als „hammermäßig“ einordnet, oder sie biostatistisch motiviert zur Inanspruchnahme der prophylaktischen Eierstockentfernung gedrängt wird: „weil ich halt öh: Druck krieg von den Ärzten! […] der Schreiner jetzt auch wieder nur ‚also noch- warum wollen sie noch warten!? . Das Risiko! steigt, sein sich dessen bewusst!‘“. Auch an dieser Stelle scheint ein gewisses Maß an Anteilnahme mit einem Mangel an Akzeptanz einherzugehen. Ein über die Kontrolluntersuchungen hinausgehendes explizit gesundheitsbezogenes Engagement gehört jedoch nicht zu Gabys üblichen Verhaltensweisen. Sie ist der Ansicht, dass sie mit Blick auf Ernährung, Bewegung und Schlaf „gesund genug“ lebt. Gerade im Bereich Sport zeigt sich, dass sie das Gesundheitsthema eher in den Alltag einflechtet und mit sozialen Elementen kombiniert, wie beim „laufen und reden“ mit einer Freundin. Wichtig ist ein Maßhalten bei den Aktivitäten. Hierauf verweist ihr Motto „zuviel Sport ist Mord“. Ebenfalls wichtig ist der Bereich der Partnerschaft, in dem sie sich erneut von ihrer Mutter durch eine erfolgreiche Beziehung abgrenzen kann und muss und zudem die Chance hat, eine Wahlfamilie9 aufzubauen, welche die früheren Familienerfahrungen „überschreiben“ und so die Selbstwertproblematik in gewisser Weise „heilen“ kann. Daher ist es für Gaby enorm wichtig, eine Beziehung zu haben und zu halten: „F: mh, aber schon Partnerschaft ist schon ne wichtige Geschichte für sie, oder? B: sehr! wichtig un ich bin auch en ganz öh unglücklicher Single eigentlich, aber ich hab’s noch nie so gefunden, wie ich mir das gewünscht hab . komischerweise, weiß net woran’s liegt, aber: . keine Ahnung, un des kommt von früher, dieses .. des hab ich auch schon rausgefunden, jetzt nur für’n Anfang . des ich solche Geschichten zu lange durchzieh, ich kann nit gehen . und des kommt von früher, Verlustängste sind des . ich seh! des, dass des nit .passt, ne? .bei ihm [Ex-Freund, A.d.V.] hab ich das au g’sehn, am Anfang scho eigentlich, aber! ich kann nit gehen . mach dann so lang rum, bis ich! dann am End noch verlassen wird, ne, und mir das denn noch total weh tut, obwohl ich’s sofort schon gerafft hab, ich hätt ja nur gehen müssen“

In dieser Beziehungsform, die Frau Böttcher also potenziell als Frau und Mutter viel Kraft durch Akzeptanz und Anteilnahme in einer diffusen Beziehung vermitteln kann, ist sie zugleich auch besonders ausgeliefert, was z.B. ihr Zusammenbruch nach

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Die bisherige Eineltern-Wahlfamilie mit dem Sohn wird eher als Belastung geschildert, da sie der Berufsplanung im Wege und auch als Partnerbindung nicht erfolgreich war. Der Sohn bezeugt zwar die erfolgreiche Mutterschaft, scheint aber sonst eher zu stören: „weil’s mir des selber öfter alles da: auf den Nerv geht, wie halt Kinder manchmal sind, sag ich jetzt ma, immer nur, was weiß ich, Dreck! machen“.

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der letzten Trennung belegt, nach der sie durch die gedanklich reaktualisierte Kopplung von Beziehungsbruch und Krebs teilweise im Bett lag und „einfach! kein Power“ mehr hatte. Obschon für Gaby durch ihre kommunikative Offenheit in diesem sozialen Kontext einiges an unterstützender Anteilnahme und ein gemeinsames Angehen von Problemen erfahrbar ist, fehlt ihr offenbar bislang etwas zur vollständigen Annahme als Person: „Tränen kamen da logischerweise […] und dann bin ich halt da raus, des war der Tach, hab ich meinen damaligen Freund angerufen, war natürlich fix und fertig“ „ja! ich konnt logischerweise gut mit ihm reden, ne, ich dacht aber, ich bin viel näher mit dem und alles, […] wir haben da viel! dadrüber gesprochen, über das Thema [Eierstockentfernung, A.d.V.], . ich konnt mit dem super reden! das war eigentlich ausgemacht, dass ich das machen lass . ne?“ „jetzt will ich ja extremer aufpassen, dass ich jemand öh Liebes ma krieg, ne? . dadrauf will ich jetzt ma eweng schauen, un das au ma ich! zähl, ne?“

Der Eindruck fehlender Ergänzung findet sich auch im partnerschaftlichen Deutungsraum, der die medizinisch-familiale Sicht bislang eher spiegelt denn erweitert, jedoch potenziell entlastend wirken könnte. Neue Gesundheitsverhaltensweise nach dem BRCA-Test und die Entscheidung zur Eierstockentfernung werden zwar offiziell getragen, scheinen den mittlerweile Ex-Freund, der sich mit eigenen Gesundheitsrisiken nicht auseinandersetzen möchte, aber tatsächlich überfordert zu haben. Hier ist Entwicklungsbedarf. Schließlich ist noch auf Frau Böttchers Freundinnen einzugehen, die einen wichtigen sozialen Gegenpol zu den Forderungen des HBOC-Zentrums sowie zu den negativen familialen Erfahrungen darstellen. Mit ihnen hat sie wichtige Entwicklungsschritte und Erfahrungen gemacht (Aufklärung, Party), kann alle Ereignisse und Probleme besprechen (Mutter, Eierstockentfernung) und erfährt dem Anschein nach bedingungslose Unterstützung auch bei wenig rationell erscheinenden gesundheitsbezogenen Sichtweisen (Jung-Gene). Das erweitert Gabys Deutungsraum und wird somit gegen biomedizinische Deutungen in Stellung gebracht: „ich hab halt gute Freundinnen, jetz: net total viele, aber . paar richtig gute, und logischerweise alles da total besprochen!“. Hierbei handelt es sich demnach um wirklich diffuse Sozialbeziehungen, in denen Gaby Anteilnahme und Akzeptanz erfährt und sich daher als ganze Person angenommen fühlen kann. Diese stellen ein konstantes „Überdruckventil“ dar, auf das Frau Böttcher zurückgreifen kann, um mit Problemen fertig zu werden: „die [Mutter, A.d.V.] war auch immer total alleine irgendwo, hat halt z-zu wenig Leut g’habt mit denen sie reden konnt, glaub ich, im Gegensatz zu mir, ich hab halt echt gute Leut . so, […] also: . das wichtigste is en Ventil! [lauter] zu finden is mein Lebensmotto“. Alle Beziehungen funktionieren mithin mehr oder weniger als „Gesundheitskraftgeneratoren“.

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7.6.3

Handlungsmuster: Problemorientierung und Gegensteuern

Gaby Böttchers Handlungsmuster basieren auf ihren herkunftsfamiliären Erfahrungen der Wertlosigkeit und Ambivalenz sowie des Beziehungsprekariats, entstehen jedoch vorrangig als aktive Abwendung vom nicht adaptiven und unkonstruktiven Bewältigungsverhalten ihrer Eltern. Hierbei kommt der Auseinandersetzung mit der mütterlichen passiv konfrontativen Widerstandslinie eine eindeutige Priorität gegenüber der väterlichen passiv zurückweichenden Unberührbarkeitslinie zu. Auch das ist als Manifestation des Gegensatzes zwischen negativem Mutter- und positivem Vaterbild zu deuten. Gabys Handlungsweise folgt dabei zunächst dem „Grundprinzip, dass ich alles angehn will, in meim Leben, ne, das ich immer eigentlich damit gut! g’fahrn bin . ne, das Problem vergeht nicht, muss dem entgegen treten und wenn ich was machen kann muss ich was machen . is halt meine These so . das Schlimmste is für mi- wenn ich nichts machen kann! wenn ich in so ner: öh sag ich mal Lage bin, wo ich momentan nichts machen kann“

Damit wendet Gaby die Passivität der Eltern in ihr Gegenteil. Sie widersetzt sich dabei v.a. der mütterlichen Widerstandsvariante, in dem sie sich als deren Gegenteil konstruiert und die „böse Mutter“ so erneut abwehrt. Das zeigt sich, wenn sie bspw. den Satz „die [Mutter, A.d.V.] hat (1?) halt in den seltensten! Dinge noch Freude am Leben g’habt ne?“ fortsetzt mit „und ich hab Lebensfreude!“. Als „bessere“ Mutter kann sie sich als aktive Gestalterin ihres Schicksals wahrnehmen, die sich durch Kenntnis und Kontrolle dem Netz an negativen krankheitsrelevanten Einflüssen entziehen kann, welches i.E. das positive Potenzial der Mutter an seiner Entfaltung gehindert hat. Aufgrund dieser Aktivitätsorientierung ist Gaby Böttcher auch nicht dadurch bedroht, sich passiv zu „ergeben! der ganzen Sache [Disposition, A.d.V.], also so auf kein Fall, ne?“. Der Kontrast zur Mutter verweist somit auf den familialen Abwehr-Aktivismus und fördert einen aktiven Umgang mit Problemen, der sich bei Frau Böttcher aufgrund ihrer Abgrenzungsprobleme jedoch als „totale Problemorientierung“ manifestieren muss: Sobald ihr ein Gefühl, eine Information, ein Problem o.ä. bewusst wird, folgt daraus eine Reaktionsnotwendigkeit zur Vermeidung von Kontroll- und damit Selbstverlust. Allerdings ist dieses „Abwendungsbestreben“ wiederum problematisch, da es zum einen den ambivalenten Möglichkeitsraum einschränkt und zum anderen auf dieser Stufe lediglich die Möglichkeit der Aktion, nicht der Akzeptanz besteht: „des is halt immer so, inwieweit man Gefühle zulässt, sind se mal richtig da!, ne . da hab ich mal so’n Test letzthin im-im Internet, so ist des bei mir, sind se da! isses- ises gefährlich und schwierig, so lang se .net! da sind, bin ich jemand, der kann sich von allem trennen . gar kein Thema, ne, die da . da bin ich da ziemlich stark! eigentlich, des Gegenteil is, wenn’s mal soweit ist, na machste dann da rum, quälst dich da irgendwie obwohl de eigentlich zuz- im Endeffekt gar net wert is, so halt und: so war des früher auch schon“

Aus dem konfrontativen bzw. distanzierenden Verhalten der Eltern anderen Personen gegenüber leitet Gaby für sich – erneut in einer absoluten Verkehrung dieser Strategien – das Muster von Auseinandersetzung und Offenheit gegenüber Menschen und

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Informationen ab, hinter dem die kindliche Notwendigkeit der Perspektivenübernahme erkennbar wird. Das Muster wird in zwei Varianten realisiert: Zum einen findet sich das Ausgehen, das mit dem Aufsuchen und Erleben von Lebensfreude und (besonders männlicher) Anerkennung im Hier und Jetzt von Partys und anderen sozialen Arrangements verbunden ist. Zum anderen – und hier macht sich u.a. das ausufernde Potenzial des Gesundheitsthemas bemerkbar – existiert die Variante „Expertentum aller Beteiligten“. In diesem Rahmen betrachtet Gaby im Grunde sämtliche Gesprächspartner_innen als mögliche relevante Meinungs- und Identitätslieferant_innen, die für Gaby wertvolle, inspirierende Informationen beizutragen haben, anhand derer sie sich positionieren kann. Da sich auch hier das Abgrenzungsproblem bemerkbar macht, ist dieses Vorgehen für Gaby mit einem Angewiesensein auf einen großen, sich ausgleichenden Bekanntenkreis verbunden: „ich bin jemand, ich unterhalt mich total gern! mit Leuten, die ich halt so grad kennenlern au, mich interessiern andere Meinungen extrem! auch, ne . weil ich lern auch durch andere Ansichten und alles und ich bin ein sehr toleranter Mensch, ich kann alle möglichen Haltungen verstehn“ „ich glaub ich hab se [Frauenärztin, A.d.V.] gefragt [bzgl. Eierstockentfernung, A.d.V.], ich frag ja immer alle dann, also ich glaub! Ich hab se gefragt und sie hat ‚ja‘ g’sagt, als ich bin mir zwar nit ganz sicher, aber weil ich das ja immer von Frau zu Frau dann mach auch!“

Das verweist zugleich darauf, dass Gaby das sie beschäftigende Thema – aktuell den Fragekomplex rund um die Eierstockentfernung – in jede Begegnung mitnimmt, die ihr zur Inspirationsfindung und Auseinandersetzung geeignet erscheint. In diesen Treffen bedient sie sich einer redenden Reflexion, um im Austausch zu einer Position oder zu neuen Informationen zu finden. Das wird deutlich bei der Beschreibung „mit mein Freundinnen, da könn wir alles .zerpflücken wenn’s sein muss stundenlang“, aber auch, wenn Gaby ihr Bedauern ausdrückt, nicht mit der Forscherin in einen dialogischen Austausch zu kommen: „ich hätt viel mehr gegenfragen wollen! [laut]“. Die dadurch gewonnenen Informationen werden mit Rückgriff auf die jeweilige Quellautorität eingesetzt, um anderen informationellen Autoritäten etwas entgegensetzen oder anderen thematischen Verknüpfungen gerecht werden zu können. Hierin zeigt sich ein Moment, das Autoritätsabwägung genannt werden kann. Diese verweist auf Gabys familial erworbene Relationsorientierung inklusive Perspektivenübernahme, permeabler Person-Umwelt-Grenze und Reflexivität, die flexible Identifikationen ermöglicht, jedoch eine bisweilen entlastende Abgrenzung, bspw. durch eine endgültige Entscheidung, erschwert. Im Zuge dieses Handlungsmusters tritt Gabys eigene Ansicht nur ganz selten direkt in Erscheinung und ihre Selbstwertproblematik wird bspw. im Schwanken zwischen einem Selbstbild als „Optimist“ und resignativem „Realist“ deutlich: „vielleicht g’hör ich ja zu den wenigen! . die des gar net .kriegen .würden, solche Gedanken hab ich auch manchmal . und: aber! Ich muss sagen, so oft wie mers immer g’sagt kriegt und wenn ich jetzt auch immer in der Uniklinik bin und so . denk ich mir halt ‚so wenn das schon so hoch! ist, des Risiko, ne?‘ also, schon n e- .extrem hohes Risiko halt einfach, ne?“

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Gabys Konstruktion der Figuren der „bösen Mutter“ und des „guten Vaters“ verweist auf einen Lösungsversuch dieses Dilemmas, der sich als Vereindeutlichung beschreiben lässt. Er knüpft an die polarisierende Tendenz der Mutter an, ohne jedoch deren aggressive Absolutheit zu übernehmen. Damit hat Gaby Böttcher ein Werkzeug, der Ambivalenz auf der Beziehungsebene zu begegnen, ohne den ambivalenten Möglichkeitsraum völlig aufzugeben. Identifikation und Abgrenzung werden zu moderaten Kontrollinstrumenten des Beziehungsdrucks. Aus der deutlichen Ablehnung der mütterlichen Härte leitet Gaby des Weiteren den Handlungsauftrag der (geistigkörperlich-relationalen) Bewegung ab, um der isometrischen Selbstüberforderung durch Versteifung vorzubeugen. Daraus ergibt sich der folgende Regelkreis: Die Botschaft der Beweglichkeit wird im Bemühen um Eindeutigkeit überbetont, so dass die Möglichkeit einer endgültigen Festlegung als grundlegend negativ gedeutet wird, ohne damit jedoch die Ambivalenz alternativer Perspektiven zu überwinden, da es sich dabei wieder um genau die Festlegung handeln würde, die es zu vermeiden gilt. Hieraus folgt ein ständiges Ringen zwischen Bewegung und Vereindeutlichung, das Entscheidungen erschwert und so zu Unzufriedenheit führt. Das fördert wiederum Gabys Orientierungssuche, die sich gerade in uneindeutigen Situationen ad infinitum verlängern kann und durch die Ablehnung der mütterlichen Passivität weiter betont wird. Damit wird das auf allen Ebenen – Körper, Beziehung, Information – wirksame Handlungsmuster des ausgleichenden Gegensteuerns als Form des Kontrollversuchs beschrieben, das sich bereits in der Hinwendung zu Offenheit, Aktivität und Flexibilität als Gegensteuern gegen die elterlichen Strategien und damit als grundlegend erweist. Das Muster beinhaltet eine andauernde Aktivität Gabys, die jedoch auf „Nachbesserungen“, d.h. darauf ausgerichtet ist, die verschiedenen, sie beeinflussenden Aspekte in der (familiären) ambivalenten und pluripotenten Situation reaktiv unter ausgleichender Kontrolle zu halten. Die Auswahl der jeweiligen Interaktionspartner_innen erfolgt dabei durchaus proaktiv, das Ergebnis wird jedoch immer wieder von unerwarteten neuen Entwicklungen überrascht und überfordert Gaby dann. Ziel dieser ausgleichenden Bewegungen ist letztlich der kontrollierende Erhalt einer generellen Handlungsfähigkeit als „Ventil“ gegen den Druck in der Krebs- und der Familienkrise, deren Verlust „das Schlimmste“ darstellt. Diese setzt nicht nur Offenheit für neue Impulse voraus, sondern auch eine Distanzierung von zu großer Betroffenheit: „ich bin mehr der weiche Typ . ich muss immer aufpass’n, dass da nit so viel an mich da rangeht“. Gaby betreibt folglich eine Art „Jonglage auf hohem Niveau“, bei der sich die bereits mit Bezug auf Beziehung festgestellte Figur des Wechsels zwischen Nähe und Distanz auch im Umgang mit vermeintlichen Sachthemen wiederholt. Da diese ihrerseits jedoch immer relational verhandelt werden – hier sei an das Zusammendenken der elterlichen Ehekrise und des Brustkrebses als „typisches Beispiel“ erinnert – „schwingen“ sie auch kaum verwunderlich in ähnlicher Form. Das Handlungsmuster des ausgleichenden Gegensteuerns manifestiert sich als Maßhalten, so dass nicht zuviel aber auch nicht zuwenig, sonder genau die benötigte Menge Aktivität erfolgt. Wird wie vormals beim Sport diese Grenze überschritten, ist das Ergebnis nicht wünschenswert: „zuviel Sport is einfach nix .für mich, mach ich des in Maßen! is des in Ordnung zum Beispiel, wie ich im Studio war, zuviel Gewicht, zwo Tag später ne, oah, da hat mir alles nur noch weh getan“. Gabys Taktik im Hinblick auf Beziehungen beinhaltet oftmals Bemühungen, selbst eine gewisse

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Autorität zu erlangen. U.a. unternimmt sie Versuche, eine eventuell der jeweiligen Beziehung innewohnende Hierarchie durch ein „nivellierendes Moment“ zurückzunehmen. Als solches ist im nachfolgenden Fall der Versuch der (Werbe-)Beratung der genetischen Beraterin zu deuten: „ich hab dann zu ihr [der Beraterin, A.d.V.] gesagt ‚sie müssen mehr Werbung machen, [CStadt]‘ . des hab ich noch bei ner- bei meiner Frauenärztin au g’sagt, diese- diese Broschüren! [von der niedergelassenen Humangenetikerin, A.d.V.] kann sie glei verschwinden lassen, also weil des des is öh des: sie soll lieber die Frauen!, wenn sie jetzt solche hat, gibt ja net so viele, aber soll se gleich in die Uniklinik schicken . später einfach, ne und des Brustzentrum da, in [C-Stadt] muss noch mehr Werbung machen . muss dann öhm: Praxen anschreiben und-undund ne, das hab ich denen auch g’sagt da oben ne? . das solche Flugzettel! von- vom Brustzentrum ob-öh in Praxen liegen und net von dieser“

Dieses Vorgehen wird ergänzt durch Gabys generalisierende Bemühung um relativierende Normalisierung bei emotional aufgeladenen Themen (wie bspw. Körper, Kindererziehung). Das zeigt sich bspw. darin, dass das Gespräch mit der Forscherin als alltägliches ‚Kaffeetrinken unter Bekannten’ inszeniert wurde. Die Aussage: „je mehr was normal is, desto mehr, öh, macht er [Sohn, A.d.V.] sich auch gar kein .Gedanken dadrüber, ne?“ kann da durchaus auch für Gaby selber gelten. Zu diesem Handlungsrepertoire zählen darüber hinaus auch Bemühungen um ein positives Denken wie auch das Herabspielen von negativen Erlebnissen bei einer sonst positiv wahrgenommenen Person bzw. Institution, das ein explizites Gegenkonzept zum mütterlichen Nachtragen zu sein scheint: „da fühl ich mich übrigens sehr b- sehr! aufgehoben bei [C-Stadt] . im großen und ganzen, bis auf die eine Aktion, wo se da mein Ergebnis da . versemmelt ham . am Anfang, aber des: des war auch weil ich’s erste Mal da oben war un: . Uniklinik halt riesengroß! un jede Abteilung, sach ich jetzt ma macht: macht halt seins!“

Diese ausgleichende Strategien zielen letztlich darauf ab, unangenehme Situationen zu entschärfen oder die Wucht einer schlechten Nachricht zu dämpfen, um so Reflexionsbedarf abzumildern und gedanklich kein Problem entstehen zu lassen, das dann aufgrund der totalen Problemorientierung einen Handlungsbedarf auslösen würde. Beispielhaft hierfür wird Gabys abschließende Mail nach dem Gespräch zitiert: „Das Gespräch mit Ihnen hatte mich innerlich sehr aufgewühlt. […] Ich hoffe, dass ich Ihnen in Ihrer Studie weiter geholfen habe. Ich habe das auch gerne gemacht und nicht bereut, mich dafür zur Verfügung zu stellen. Zukünftig werde ich aber versuchen, mich nicht zu sehr mit dem Ganzen zu belasten, weil mich das mental eher runterzieht.“

(Gesundheits-)Informationen sind folglich in sich ebenfalls ambivalent, da sie als überwältigender Fremdeinfluss und Gedankenanreiz ein Problembewusstsein schaffen, aber auch Entlastung bieten können. Die Transformation einer überfordernden in eine hantierbare, evtl. sogar einsetzbare Information erfolgt nicht nur in Form von Arbeit an der Informationsquelle (bspw. mit der Frauenärztin), sondern v.a. im Rahmen von Gesprächen im unmittelbaren Lebensumfeld, den o.g. redenden Reflexio-

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nen. Solche entschärften Informationen werden dann wiederum als Selbsterziehungsprogramme anwendbar im Sinne der beabsichtigten Selbstkontrolle: „die [Risikozahlen, A.d.V.] sind für mich Schock, ne, die öhm, weil zu mir sagen Leute alle, du hast dich nun au- du hast dich eigentlich im großen und ganzen, so Raucher zum Beispiel, ne, wenn ich denn, oder ich zieh mal einmal! bei meiner Freundin . un da war letzten so’n Raucher dabei, der sagt ‚wieviel rauchst du am Tag?‘ da sag ich ‚3, heut hab ich jetzt schon zwo, also eine geht noch‘ ne? und dann sagt der (amüsiert) so . ‚was, das schaffst du?‘ sag ich ‚ja, das schaff ich‘ weil’s ich kann so hart zu m- weil so die 3! ja für mich schon total . schlecht sind, ne?. also ich muss mir immer selber beweisen, dass ich mich im Griff hab des is auch so’n Punkt, weil mei Mutter halt au mit Alkohol Problem g’habt hat . und öhm: . das hab ich alles! vor Augen […] die Zahlen! helfen mir, das sind ja auch schlimme! Zahlen, ne als ich denk jede Zigarette oder meine Freundin hat letztens ger- die raucht au manchmal […] die hat da letzthin nochmal gesagt, sogar eine! Zigarette is halt diese Schadstoffe un . ne? . und . so! kann ich mich da kontrollieren, indem ich halt immer solche Horrorszenarien da des vorstelle!“

Allerdings besteht jederzeit das Element der Unberechenbarkeit, das dem Versuch des Ausgleichs und der Kontrolle entgegen steht. Diese Unberechenbarkeit verweist auf das allzeit ambivalente Potenzial, das jedem gesundheitlichen wie sonstigen Aspekt des Lebens einzeln und im Zusammenspiel mit anderen innewohnt. Hierin zeigen sich sowohl Gaby Böttchers Reflexivität – da sie sich dieser Ambivalenz bewusst ist – als auch ihre Abgrenzungsproblematik, da sie aufgrund dieser Restunberechenbarkeit nie zu einer endgültigen Entscheidung kommt. Diese Ambivalenz wird von ihr im Bild der „Gegentheorie“ zum Ausdruck gebracht. Dieses Bild ist in sich wiederum insofern ambivalent, als dass es neben der Gefährdung auch eine Absicherung darstellt, denn sowohl „wie man es macht, macht man es falsch“ als auch „wie man es macht, macht man es richtig“ stellen angesichts der potenzialbezogenen Mehrdeutigkeit gültige Aussagen dar, auch wenn erstere aufgrund von Frau Böttchers eher negativer Grundeinstellung zu sich im Vordergrund steht: „ja, wie Gegentheorien, dass man sagt, ‚ja gut, die Z-Zigarren fördern Lungenkrebs klar‘ […] un andere rauchen drei Schachteln! . und-öh sterben eines normalen Todes irgendwann mal, des-d des is die Gegentheorie! davon-davon-, hat man schon oft in der Praxis davon drüber . ne? also de-des versteht ja eh! kein Mensch, also des hat nich immer nur was mit Lebenswandel! zu tun“

7.7 Z WEI P ERSPEKTIVEN DES K ÖRPERLICHEN : G ESUNDHEIT & W EIBLICHKEIT (C2) 7.7.1

Das relationsdynamische Energiemodell der Gesundheit

Gaby entwickelt ihr relationsdynamisches Energiemodell zur Erklärung von Gesundheit sowie von Krebs als familiärer core illness narrative in Auseinandersetzung mit den „Gesundheitskarrieren“ und -deutungen ihrer Elternteile und schließt damit an die familialen Kennzeichen des Drucks, der Ambivalenz und der relationalen Ver-

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wicklung an. Gleichzeitig wird deutlich, wie Gaby lebensbeeinflussende Potenziale und Aspekte rahmt und versteht. Deutungsmuster elterlicher Gesundheit als Vorläufer des eigenen Modells Vater und Mutter werden als gesundheitlich typische Vertreter_innen ihrer Ursprungsfamilien eingeführt, was eine Konstruktion der beiden als gesundheitliche Antipole zueinander ermöglicht. Unter Rekurs auf ein familial verankertes PotenzialDeutungsmuster stehen die beiden für ein je anders bewertetes Gesundheitspotenzial mit ggf. stigmatisierender Potenz, das sie aus der Herkunftsfamilie in die gemeinsame Wahlfamilie eingeschleust haben. Diese Potenziale repräsentieren einen familialen Druck in Richtung Gesundheit oder Krankheit und werden als „Gene“ eingeführt, die damit stellvertretend für Familien bzw. Personen stehen: „sind ja immer zwei, öhm, sach ich jetzt ma .Gene .da, vom Vater, von d- von der Mutter“. Die vermeintlich „rein biologische“ Erbschaft der Gene besitzt folglich eine symbolisch-identitäre Dimension und bildet eine sozial-positionale Kontinuität jenseits der „Biomasse“. Mutter Böttcher repräsentiert eine Verschlechterung des familialen Gesundheitspotenzials aufgrund des aus ihrer Familie stammenden Stigmas „Gendefekt“. Eine eingeschränkte Gesundheit in Form von Krebs wird als Widerfahrnis definiert und gleichsam passiv empfangen, da sie eine Art familiales Erbe darstellt: „un dann gibt’s halt andere Familien, siehe die von meiner Mutter und des is ja des Problem!, […] die Mutter von ihr war ne geborene Becker! und da! volle Lotte . die Mutter war erkrankt und da .ist .auch .der .Gendefekt her, denk ich, ne?“. Vater Böttcher repräsentiert offensichtlich das positive Gesundheitspotenzial der Familie, das ihm als Glied seiner Familien-„Kette“ gegeben ist und von Gaby als „Jung-Gene“ adressiert wird, denen eine besondere Stärke innewohnt: „und mein Vatter .hat im Prinzip die ganze Familie, des sind, sagt man so schön, Jung-Gene, gibt’s ja, ne? dieser Ausdruck, ne? . also die ganze Familie, da gibt’s kein! Krebs null, un die sin alle .uralt geworden, ne?“. Hier stellt Gesundheit ein familiales Geschenk dar, das man erneut nur eingeschränkt aktiv beeinflussen kann, da es einem quasi in die Wiege gelegt wurde. Diese Ergänzbarkeit der Potenzialbasis basiert auf einem sozialen Deutungsmuster der Beziehungsabhängigkeit. Es besagt, dass Krebs bzw. Krankheit durch ein (weitgehend selbstverschuldetes) Wegbrechen aller sozialen Beziehungen gefördert wird: „die war auch immer total alleine irgendwo, hat halt z-zu wenig Leut g’habt mit denen sie reden konnt, glaub ich [...] meine Theorie eweng für Krebs auch, Leute, die kein! Ventil finden . n .ham ne- d’ham eher des Risiko noch“. Es wird damit eine zweite Definition von Krebs als (extremem körperlichen Leiden an und durch) Beziehungsschwäche ergänzt, dessen Anlass und Ursache folglich sozial begründet ist. Bei der beziehungsabhängigen Deutung geht der soziale dem physischen Tod voraus, verursacht letzteren und nimmt ihn gleichzeitig vorweg, d.h. die Beziehungsebene besitzt eine zeitliche, kausale und repräsentative gesundheitliche Dimension. Konkret bedeutet dies Folgendes: Einerseits spielt der (repräsentative) Körper bereits lange Zeit vor seinem endgültigen Verschwinden im Tod in den sozialen Beziehungen physisch keine Rolle mehr, was das Ende der Beziehung, aber auch der Person vorwegzunehmen scheint. Andererseits entfällt die (kausale) Kraft,

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die aus positiven sozialen Begegnungen gewonnen wird und ein physisches Weiterleben gleichsam „befeuert“. Das wirkt sich auf drei Beziehungsebenen aus: in der Ehe, in der der sexualisierte Körper als Verbindungselement wegfällt, in Freundschaften, in denen in der Reha gerade der erkrankte Körper als „Verständnisbrücke“ dient, aber auch das Brüchige der Krebs-bezogenen Freundschaft „verkörpert“, sowie im Rahmen der Medizin, in der Gaby Böttcher die Abkehr ihrer Mutter von körperlichen Kontrolluntersuchungen als Beziehungsverweigerung und damit Abkehr vom Leben(-swillen) liest. Beim Krebs hängen demnach Gesundheits- und Beziehungsebene in dem Sinn zusammen, als dass Beziehungen als „Generator“ von Gesundheit erscheint, der entweder „Gesundheitskraft“ oder „Krankheitsdruck“ liefert und mit Hilfe des Körpers als Medium das vorhandene, ererbte familiale Potenzial moderiert: „ich glaub, wenn die [Mutter, A.d.V.] aus diesem Ganzen draußen gewesen wär, würd die erstens ma heut noch leben . weil sie dann gewollt! hätt“. Gleichzeitig verweisen die sich im Laufe der mütterlichen Krebserkrankung verschlechternden Beziehung darauf, dass Gesundheit auch Beziehungen generiert. Es ist das Verständnis von Krebs als umfassendem sozialen (und in der Folge physischem) Leiden ohne Ausweg, für das die Mutter stellvertretend steht, welches sich hinter Gabys Krebsangst verbirgt. Das passiv-ausweichenden Handlungsmuster des sozial abwesenden Vaters lässt sich vor diesem Hintergrund auch gesundheitsbezogen lesen: Für den familial „beschenkten“ Vater besteht die Aufgabe darin, schlechte, d.h. Kraft kostende Beziehungen oder Konfrontationen, zu meiden, um die eigene Gesundheit zu erhalten. Ein solches kraftsparendes Absicherungsverhalten, mit dem emotional anstrengende, anteilnehmende Konfrontationen zum Preis der Kommunikationsverweigerung vermieden werden, erscheint daher logisch. Im Spannungsfeld familialer Gesundheitspotenziale und Beziehungseinflüsse verhandelt Gaby ihre Gesundheit, wobei sie diese Deutungsweisen zu einem eigenen Modell ergänzt. Das Grundprinzip des relationsdynamischen Gesundheitsmodells Ein familial gegebenes, „natürliches“ Gesundheitspotenzial als Basisgesundheitskraft bzw. -druck wird mit einem aktuell vorhandenen persönlichen Energiereservoire verrechnet, so dass aus dieser Bilanzierung der persönliche Gesundheitsstatus als Ergebnis eines dynamischen Modulationsprozesses hervorgeht. Der Status ist gut, wenn die Energiebilanz ausgeglichen bis positiv ist. Das Energiereservoire als entscheidender Modulationsfaktor wird durch Beziehungen und die in diesem Rahmen vermittelten förderlichen oder gefährdenden (Informations-)Einflüsse aufgebaut, die daher auf ausgleichende Art miteinander zu kontrollieren und kombinieren sind. Das ist die primäre, aktiv und selbstverantwortlich zu realisierende Gesundheitsaufgabe, durch die Gesundheit selbst zum relational-informationell ausgeglichenen Energiezustand wird. Hierbei fungiert Gabys Körper i.d.R. als Medium der Transmission und Manifestation des Resultats. Ihre Gesundheit ist somit sowohl vorgegeben als auch erarbeitet – eine weitere Ambivalenz – wobei das ererbte Potenzial als Ausgangswert im Wortsinne „grundlegender“ für das Gesundheitsergebnis ist.

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Die Komponenten Druck und Kraft Gaby scheint für das natürliche Gesundheitspotenzial eine Art „Normwert“ anzunehmen, der je nach Zugehörigkeit zu einer Familienlinie über- oder unterschritten wird und dadurch einen grundlegenden „Erbdruck“ bedingt. Dieser Logik entsprechend steigern die väterlichen „Jung-Gene“ das gesundheitliche Ausgangspotenzial, während der mütterliche „Gendefekt“ dieses verschlechtert. Der tatsächliche Einfluss dieses unveränderlichen familialen Gesundheitspotenzials wird durch aktuell wirksame Bedingungen modifiziert und kontrolliert. Diese Logik des modifizierbaren familialen Potenzials ist nahtlos an biomedizinische Deutungsmuster von Gesundheit sowie an die kontrollierende und gesundheitsförderliche Früherkennungspraxis anschlussfähig, die so an Geltung gewinnen. Frau Böttcher hegt hierbei die Hoffnung, ebenfalls dieser Jung-Gene teilhaftig geworden zu sein, die als ergänzendes Potenzial zu den Krebs-Genen konstruiert und somit nicht automatisch durch den BRCA-Test ausgeschlossen werden: „manchmal denk ich mir! [lauter], obwohl es jetzt wissenschaftlich! wieder anders ist, also, wenn man das alles nur so’n bisschen vom Bauch! betrachtet […] vielleicht hab ich solche starken Gene! von meim Vatter, dass ich des halt net krieg“. Als Stellvertretung eines positiven inneren Potenzials, das gegen die Anteile der – kranken, „bösen“ – Mutter in Stellung gebracht wird, fungiert vor dem BRCA-Test ein KörperformenDeutungsmuster, durch das sich Gaby mit dem „gesunden“ väterlichen Familienteil identifiziert: „weil ich gedacht hab, ich bin ganz mein Vatter . äußerlich, und mein Sohn auch, ganz mein Vatter, un da hab ich halt gedacht, ich bin ganz mein Vatter ich hab das net“. Diese Abwehr der Mutter wird nach dem BRCA-Test durch die Verbindung mit dem Deutungsmuster der Jung-Gene genetifiziert, in dem die äußerliche als Hinweis auf eine innerliche, genetische Ähnlichkeit verstanden wird, die ein positives Gesundheitspotenzial repräsentiert. Das Energiereservoire der selbsternannten „Powerfrau“ wiederum beinhaltet zwei intrapersonale Komponenten: Zum einen besteht ein Druckzustand, dessen Zunahme als negativer, die Potenzialbilanz verschlechternder Einfluss gilt und der folglich mittels Ventil „abzulassen“ ist, um Überlastung vorzubeugen. Anspannung und Entspannung sind die relevanten Gegenpole im Druckbereich. Dieser Ansatz wird von Frau Böttcher als Krebstheorie eingeführt: „ich denk jetzt mal im Leben kann man öhm: nit obedingt . Probleme .immer ausm Weg gehen, oder- kommt halt wie’s kommt, ne? sucht mer sich zum Teil selber aus, zum Teil net [einatmen] aber man muss halt en Ventil finden, und ich glaub Leute, des is meine Theorie eweng für Krebs auch, Leute, die kein! Ventil finden . na .ham ne- d’ham eher des Risiko noch . die alles in sich reinfressen un- . un hart! sind zu sich selbst und zu anderen, also ds- weiß net, ob sie mir jetzt folgen können . so war mei Mutter (nämlich eweng?)“

Zum anderen existiert eine Kraftreserve, die eine Potenzialvergrößerung darstellt und daher möglichst gesteigert und nicht durch unnötigen Krafteinsatz verringert werden soll. Leistungsfähigkeit und Erschöpfung lassen sich hier als Gegenpole verstehen. Dies hat u.a. zur Formulierung eines „Kraftsparprinzips“ beigetragen:

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„es gab ne Zeit, wo (3-4?) da hab ich hier gemäht, da bin ich rausgefahrn, bin bei meim Vatter, hab da noch gemäht, 1000 Quadratmeter . war aber alles eweng übertrieben, weil ich dann-äh .echte Armproblem gekricht hab, hat mir der Arm so doll wehtan, Überlastungssyndrom . da hab ich’s jetzt runtergefahrn, also ich hab jetzt momentan arbeite ich eweng mit dem Energiesparprinzip . also des heißt öhm . ich gönne! mir, weil mer dürft net!, is auch schlecht für- öh seitdem ich des weiß . mer dürft net immer so .über seine Energien fahrn, also über seine Enerkörperliche Energien . das machen ja viele Leute . […] ich glaub, das is gesundheitlich- öh meine Mutter war auch immer . immer über ihre Energie, hat’s immer allen recht machen wollen nur . und ge- gedankt wird’s einem dann auch nit . zum Teil . zum Teil . und ich schaff dann auch früh, is halt auch immer action . ne?“

Druck und Kraft sind grundsätzlich antagonistisch orientiert. Sie können sich synergistisch entwickeln und das Energiereservoire tendenziell entweder gemeinsam füllen bzw. leeren oder entgegengesetzte Effekte auslösen und sich in der Bilanz ausgleichen. Dieser Teil des Modells bedingt einen aktuellen „Handlungsdruck“, der sich in seiner Gesundheitswirkung zu dem familial bedingten grundlegenden „Erbdruck“ addiert. Um den offensichtlichen Ambivalenzen von Körper und Beziehungen und ihren kraft- und druckgenerierenden Einflüssen zu begegnen, muss Frau Böttcher ihren Energiehaushalt unter Kontrolle halten und eine ausgeglichene Energiebilanz erzielen. Sie verwendet dazu das gesamte zuvor benannte Handlungsrepertoire (s. B2), wobei der Schwerpunkt auf ausgleichenden Gegenmaßnahmen wie Hierarchieausgleich, relativierender Normalisierung und positivem Denken liegt, um dem Ideal des Maßhaltens in einer ambivalenten Situation gerecht zu werden. Der repräsentierende Körper in Beziehung Die beiden Antagonisten Druck und Kraft werden durch förderliche oder hemmende Faktoren beeinflusst, denen eine körperliche Beziehungskomponente innewohnt. Insofern handelt es sich bei dem Modell um ein relationsdynamisches Gesundheitsmodell. „Körperlichkeit“ kann in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Verbindungen implizieren, z.B. eine Art Solidarität unter Geschlechtsgenossinnen (Ärztinnen werden gerne als Frauen befragt) oder Mutterschaft bzw. Partnersuche als verbindendes Element zwischen Freundinnen. Selbstverständlich zählt hierzu auch der sexualisierte Körper in der Partnerschaft oder der medikalisierte in der intensivierten Früherkennung. Die Beziehungskomponente bewirkt, dass nicht nur im Rahmen von Beziehungen übermittelte Informationen (wie das BRCA-Resultat), sondern auch relational-systemischen Merkmalen (wie die Qualität der Beziehung zur humangenetischen Ärztin) eine gesundheitsprägende Bedeutung zukommt. Diese beiden Ebenen ergänzen und verstärken sich. Das erklärt einen Teil der Heftigkeit des Schocks nach der Mitteilung des BRCA-Testergebnisses durch die niedergelassene Humangenetikerin, die „menschlich“ eine „Nullleistung“ liefert, aber auch, warum das verlegte Vorsorgetestresultat aus C-Stadt keine Beziehungskrise zur Folge hat. Im Endeffekt beeinflussen sich Gesundheitszustand und Beziehungsausprägung wechselseitig. Das ist auch als Hintergrund von Frau Böttchers Bemühungen der Risikofaktorvermeidung zu verstehen, bei denen sie tatsächlich darauf abzielte, „schlechte Kontakte“ zu vermeiden:

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„die Veränderung darauf:folgend! war schon . also ich bin ein Mensch der gern weggeht, auch ma gern Paardie macht, auch ma .paar Gläschen Sekt trinkt und: und und und, und plötzlich war dann so- in der Zeit war ich ja totaler Nichtraucher, weil mein damaliger Freund da auch, also, wollt eh! schon immer aufhören, hab auch noch nie so richtig viel geraucht gehabt, ne? . aber dann hat sich das so im Prinzip, wollt ich plötzlich nimmer in irgendwelche .Menschenmassen wo .geraucht wird und . da war ich dann plötzlich auf diesem völligen: Gesundheits- . ne? also alle Risikofaktoren . öh, möglichst! ausm Weg gehen, war übertrie-, aber auch übertrieben, ne? also wollt ich so, des war da so ne Phase gewesen, ne? und: . ja wo ich einfach nur noch wenn dann ma wirklich so .essen geht und immer nur gute Luft!“

Dem Körper kommt jedoch nicht nur als Beziehungsmedium eine Bedeutung zu, sondern auch als Manifestation von Druck bzw. Kraft. Er ist in dieser Funktion ein prekäres Aushängeschild und Ventil, das zwar einerseits dazu beiträgt, Druck durch körperliche Tätigkeit abzubauen und Kraft zu beweisen – z.B. in Form der auf gute Abwehrkräfte zurückgeführten ausbleibenden Erkältungskrankheiten – zu diesem Zweck jedoch auf die Kraftreserve zurückgreifen muss. Sein „Einsatz“ erfordert folglich eine feine Justierung von Druck- und Kraftabbau, um insgesamt eine ausgeglichen-positive Bilanz aufrechtzuerhalten. Diesen Feinjustierungsbedarf der Kraftreserve hat Gaby v.a. in der stark belastend empfundenen Zeit nach dem Tod der Mutter unterschätzt, woraus das Kraftsparprinzip erwuchs. Damit wird klar, dass hemmungslose körperliche Verausgabung als Ultima Ratio in den Situationen zum Einsatz kommt, in denen alle Handlungsoptionen wegfallen, d.h. das „Grundprinzip, dass ich alles angehn will, in meim Leben“ nicht befolgt werden kann. Dann versagen alle Möglichkeiten des Druckabbaus, der notwendigerweise erfolgen muss, denn: „das Problem vergeht nicht“. Aktivitäts- und totale Problemorientierung ergänzen sich folglich und werden körperlich ausgedrückt. Es kann geschlussfolgert werden, dass Frau Böttcher ihren Körper nicht als an sich bedeutsam empfindet, sondern nur als Repräsentant von etwas anderem, das wohl nicht nur Gesundheit sein kann. Damit drückt Frau Böttcher eine Distanz zwischen sich und ihrem Körper aus, die u.a. mit der Beziehungsqualität und -gestaltung der Mutter-Tochter-Beziehung zusammenhängen dürfte, was auch auf eine Distanzierung zum eigenen Frau-Sein hinweist. Beziehungsqualität besitzt folglich auf jeden Fall eine körperliche Dimension, nicht nur bzgl. ihrer Gesundheit. 7.7.2

Das gespiegelte Weiblichkeitspotenzial

Die Entwicklung des ambivalenten „Frau-Seins“ Analog zum Thema Gesundheit wird auch in Frau Böttchers Weiblichkeitsbiografie ein ambivalentes Potenzial des Frau-Seins zwischen sexualisierter Attraktivität und Krankheit erkennbar, das in der Begegnung mit anderen deutlich wird: Einerseits klärt eine Freundin Gaby mit 18 Jahren auf. Sie erfährt ab 19-20 männliche Aufmerksamkeit und hat dann auch einen ersten Freund, der „Arbeit leisten“ muss, um ihre Schüchternheit und Verklemmung zu beenden. Andererseits erkrankt ihre Mutter annähernd gleichzeitig, d.h. als Gaby 17 bzw. 20 Jahre alt ist, erst an Eierstock-, dann Brustkrebs als „weibliche Krebsformen“.

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Während die negative Seite der Weiblichkeit in den folgenden Jahren in den Hintergrund rückt, jedoch regelmäßig durch medizinische Kontrolluntersuchungen im Rahmen einer Art Vorsorgebeziehung zur Frauenärztin „gebannt“ wird, tritt eine doppelte Realisierung des positiven weiblichen Potenzials als weibliches Aussehen und Mutter in den Vordergrund. Das weibliche Krankheitspotenzial wird durch die positive BRCA-Diagnose und der anschließenden Entscheidungsfindung bzgl. einer prophylaktischen Eierstockentfernung jedoch reaktualisiert, was eine Beschäftigung mit der Ambivalenz des „Frau-Sein[s]“ unumgänglich macht. Diese wird durch die gescheiterte Beziehung zu ihrem Ex-Freund verschärft. Das realisierte Weiblichkeitspotenzial Zum einen repräsentiert Frau Böttchers Äußeres Weiblichkeit: Aussehen und Ausstrahlung werden als „natürlicher Typ“ von Weiblichkeit eingeordnet, der von einem „Kunst-Typ“ abgegrenzt wird. Durch diese Kontrastierung wertet sie ihre Weiblichkeit im Sinne eines eigentlicheren Frau-Seins auf, dessen Potenzial ihr immanent und von Natur aus gegeben, d.h. keiner aktiven Produktion zugänglich und damit hinzunehmen ist. Es ist von Frau Böttcher lediglich im Sinne einer Aufrechterhaltung zu realisieren, worin ihre Leistung, aber auch die achtlose Ergebenheit begründet liegt, mit der sie ihrer Weiblichkeit begegnet: „es gibt Frauen, die müssen des .Frauen-Sein nach außen tragen . mit . sich aufbrezzeln bis was weiß ich noch, ne? . un andere brauchen des net, weil die sind für sich .Frau . des is halt total unterschiedlich . und . bei mir! is es jetzt halt so, ich .bin da- ich .wirk fraulich genug anscheinend, als ich- .is ok, ich bin damit zufrieden“

Zum anderen kann Frau Böttcher die „erfolgreiche“ Geburt ihres Sohnes als realisiertes Weiblichkeitspotenzial und damit Weiblichkeitsnachweis anführen, der durch die fortgesetzte Erziehungsleistung verlängert wird. Das Kind als Ergebnis der als „Leben weitergeben“ adressierten Fortpflanzung wird mit anderen Leistungen von Frauen (bspw. im Beruf) gleichgestellt und damit offensichtlich als herzustellendes Objekt, nicht Subjekt konstruiert. Das durch attraktive Ausstrahlung und Fortpflanzungsergebnis realisierte Weiblichkeitspotenzial ist auf die Hauptzielgruppe der Männer ausgerichtet und bedarf gleichzeitig ihrer Bestätigung, da es unter Rückbezug auf männliche Wünsche im Rahmen einer Art Praxisprüfung evaluiert wird. Frau-Sein fußt somit zwar auf einem immanenten Potenzial, wird jedoch erst durch wiederholte öffentliche Wahrnehmung im Rahmen unterschiedlichster Beziehungen und damit durch seine Veräußerung wirksam und bestätigt. Es ist insofern immer work in progress und Gaby eben nicht „für sich Frau“, sondern Frau für und durch (primär männliche) Andere. Auch hier zeigt sich eine Parallele zur Gesundheit. In diesem Zusammenhang erlangt der Körper erneut repräsentative Bedeutung als Medium und Manifestationsobjekt der Weiblichkeit. Der vermittelte und vermittelnde weibliche Körper bleibt aber ein ambivalentes Objekt, was die folgende BrustAussage verdeutlicht:

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„F: Was bedeutet für sie ihre Brust? B: haja, is in Ordnung also: . ich hab jetzt kein! Überverhältnis zu meiner Brust, glaub ich jetzt ma [lacht] is völlig da .normal und is ok! könnt eweng größer sein und aber: hab ich kein Problem mehr mit . hab halt Angst das ich halt da noch Brustkrebs krieg“

Die Brust erscheint als Kombination aus Kränkung und Belastung einerseits und Bestätigung als erfolgreiches Verbindungsorgan andererseits. Letzteres stellt eine Art „Sekundärzufriedenheit“ dar, die als Folge dessen betrachtet werden kann, dass es „ja viele Typen [gibt], die wolln überhaupt gar net so große“, so dass Frau Böttcher trotz eines eher resignativ-abwehrenden Tonfalls im Schnitt auf die Bewertung „ok“ kommt. Hier zeigt sich, dass Frau Böttcher in ihrer Selbstbewertung nicht autonom, sondern stark fremdbestimmt ist und ihren Körper im Sinne einer PR-Maßnahme öffentlich einsetzt. Das körperlich vermittelte Frau-Sein ist gleichzeitig dazu geeignet und darauf angewiesen, eine Verbindung zwischen Gaby und der sozialen Außenwelt zu schaffen. Aufbauend auf ihren familialen Erfahrungen setzt sie hierbei die äußere Ausprägung der ihr immanenten Weiblichkeit ein, um als Person Orientierung und Akzeptanz und damit sich als Selbst in Beziehung zu erfahren. Insofern kann Partnerschaft zum Kraftreservoire werden: „mir langt die Bestätigung, wenn ich dann weg geh und lern jemand kennen und merk, der find mich jetzt gut zum Beispiel, des langt mir dann eigentlich . früher! hätte man dann die Erfahrung .vielleicht mitgenommen“. Der Preis dieser relationalen Identitätsbildung besteht hingegen in der Ausbildung einer Abhängigkeit und Anpassung ihrer eigenen Existenz an die des Partners: „in der Zeit war ich ja totaler Nichtraucher, weil mein damaliger Freund da auch“. Darüber hinaus riskiert Gaby, dass das Ende einer Beziehung wie im Herbst 2006 zu einem starken „Kraftverlust“ führt und sie „kein Power“ mehr hat. Partnerschaften sind also ebenfalls ambivalent und risikoreich, werden jedoch vom „unglückliche[n] Single“ Gaby nichtsdestotrotz als „Königsweg“ des eigenen Lebensentwurfs favorisiert. Die Eierstöcke als Quelle des Weiblichkeitspotenzials Das von Frau Böttcher reproduktiv und äußerlich realisierte „Frau-Sein“ basiert auf einem immanenten Potenzial, das als Referenzpunkt ihrer Weiblichkeitsdefinition dient. Quelle des Potenzials scheinen die Eierstöcke zu sein. Die im folgenden Zitat verdeutlichte, sowohl im Telefonat als auch im Interview vorkommende Präsentationsfigur eines Deutungsmusters in Form seiner Ablehnung bringt zum einen dessen Ambivalenz und Frau Böttchers diesbezügliche Entscheidungsschwäche zum Ausdruck, hilft aber andererseits, es zu bewahren, da das Deutungsmuster durch seine ‚mitgelieferte’ Ablehnung unangreifbar wird: „dann immer der Punkt dann öhm [lauter] .. mer dürfts halt nicht! öhm so betrachten ‚was ist ne Frau’ ne? . […] ich muss des- ich muss des halt einfach so sehn aus dem gesundheitlichen Aspekt, mer dürfts net in so: was weiß ich, die Eierstöcke Fruchtbarkeitssymbol was weiß ich, ich mein so wenn mer so mythisch so bissle betrachtet oder-oder-oder esote- äh: ethnisch oder so oder esoterisch wie auch immer“

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Wird das indirekte Deutungsangebot ernst genommen, so gewinnt Frau-Sein eine symbolische Dimension, die jedoch schwer greifbar ist. Diese wird durch die Eierstöcke als „Fruchtbarkeitssymbol“ repräsentiert, die für eine weibliche Kreativität als Lebensspenderin stehen. Weiblichkeit wird damit offensichtlich (auch) transzendental erfahren. Damit wird die Entfernung der Eierstöcke zur gefühlten Kastration, zum Verlust der Geschlechtsidentität und der „weiblichen Natur“ Gabys. Das Konstrukt der Frau als Naturzustand – und Gabys diesbezügliche Betroffenheit – führt eine quasi-spirituelle Ebene ein, in der „die Natur“ nicht nur einfach eine Kraft ist, sondern eine höhere Macht repräsentiert. Die Kombination aus einem impliziten „natürlichen“ Weiblichkeitspotenzial und dessen Realisierung im Rahmen von Beziehungen erinnert an die gesundheitsbestimmenden Vorgänge im relationsdynamischen Kraftmodell, so dass ein solches in Grundzügen auch für den Bereich des Frau-Seins angenommen wird. Wie schon bzgl. Gesundheit, so scheint auch hier ein weibliches Kraftreservoire zu existieren, das aus Akzeptanz und Anteilnahme in Beziehungen resultiert, sowie ein Druck zum erfolgreichen Frau-Sein, der sich aus der Abgrenzung zur „bösen Mutter“ und „erfolglosen Partnerin“ speist. Im Umkehrschluss lässt sich das familiale Gesundheitspotenzial als „höhere Macht“ konkretisieren, der Frau Böttcher in gewisser Weise ausgeliefert ist, da sie sich nicht zu den gesundheitlich Auserwählten, „Privilegierten“ zählt, bei denen die Disposition nicht zu Krebs führt. 7.7.3

Gesundheitsbezogene Handlungsregeln

Vor dem Hintergrund der doppelten Abwehr der Figur der „bösen und kranken Mutter“ und den beiden Selbstbilder als „fitter Mensch“ sowie „natürlich-attraktiver Frau“ lassen sich nun konkrete Gesundheitsregeln benennen, welche die zuvor genannten allgemeinen Handlungsregeln aufgreifen und vor dem Hintergrund des relationsdynamischen Energiemodells in eine Art Selbstdisziplinierungsprogramm umwandeln: •

Gabys primäre Gesundheitsregel lautet: „Ähnele deiner Mutter in keiner Weise!“

Eine solche Ähnlichkeit würde mit der Gefahr einhergehen, in der gleichen Lage zu enden und Krebs als umfassendes soziales Leiden zu entwickeln. Hier zeigt sich die familiale Passing-Aufgabe, die darin besteht, zur Leidensabwehr die „Ähnlichkeitsbindung“ zum Vater erhalten und die zur Mutter abzuschwächen. So wird die Zugehörigkeit zur „total fitten“ Familienseite zumindest als theoretische Möglichkeit erhalten, was die Refamilialisierung in die Familie der Mutter eindämmt. Zugleich garantiert das Nicht-so-Sein wie die Mutter Gabys Gesundheit. Zur Gewährleistung dieser Forderung beachtet Gaby die folgenden Regeln: •



Habe immer „liebe Leute“ um dich, mit denen du redend reflektieren oder feiernd Freude haben kannst, um so (für dich und die anderen) ein emotionales Ventil zum Druckausgleich und zur Kraftzufuhr zu gewährleisten! Sei kontaktfreudig und interessiert an den Meinungen und Perspektiven aller anderen, erkenne diese als wertvoll an und mache sie dir argumentativ zunutze!

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• •

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Jedwedes akute Problem ist sofort und vollständig anzugehen, dabei sind sämtliche Aspekte zu bedenken und (korrigierende) Gegenmaßnahmen einzuleiten! Betreibe bereits im Vorfeld ausgleichende Gegenmaßnahmen – bedauere z.B. nicht, was du getan hast – um erst gar keine möglichen „Probleme“ aufkommen zu lassen!

Anhand dieser Regeln sollen Kraft- und Drucklevel relational-reaktiv in einem balancierten Bereich fixiert werden, so dass gemäß Gabys Modell Gesundheit erhalten bleibt. Es verwundert daher auch nicht, dass Gaby ihre Gesundheit auf Nachfrage als „ich bin g’sund, ganz klar . eigentlich ziemlich topfit! sogar is mei Meinung“ beschreibt, obwohl das belastende und damit in Gabys Augen gesundheitsgefährdende Wissen um die Disposition sich mit der sich nähernden prophylaktischen Eierstockentfernung, d.h im medizinischen Umfeld, immer stärker bemerkbar macht: „hab ich zu Bärbel gestern g’sagt, is mei Freundin ‚Ey glaubstes, je n-näher der T-Termin jetzt rückt, desto mehr Panik! krieg ich immer mehr‘ sagt se ‚ha, kann se verstehn‘ […] die hat dann g’sagt ‚hja, du gehst ja immer engmaschig, vielleicht solltest’s da.bei belassen‘ aber dann .is! mer halt dann scho krank, wenn’s dann .erkannt wird, is halt .blöd“

Hier zeigt sich die Kehrseite des ausgleichenden Gegensteuerns in amibivalenten und akut bedrückenden Situationen, die weder gedanklich abgewertet noch aktiv gut gelöst werden können – ausgelöst wird ein Schwanken, dass Gaby wie folgt beschreibt: „ich kann mal schwankend sein, ne? ich kann sehr fest! sein in meim Gedankengut, ne, und allem . un dann geht’s mir ma nit so gut, da bin ich wieder im Schwanken und bisschen . öhm: alles hinterfragend und: es kann sich dann ma des Blatt mal wenden“. 7.7.4

Das gelungene Leben als Gesundheitsziel

Ausgehend vom Leben der Mutter als Negativbeispiel wird Gabys eigener Lebensentwurf deutlich, der hinter dem offensichtlichen Erhalt der eigenen Gesundheit steht. Das mütterliche Leben wird als doppeltes Leiden zum einen am Körper aufgrund des Krebses, zum anderen an den unbefriedigenden Beziehungen durch die Vereinsamung in der horrorähnlichen Ehe sowie im Freundschaftskreis, aber auch in der gescheiterten Mutter-Tochter-Beziehung verstanden. Durch die ausgleichende Einfriedung der Anteile der „bösen Mutter“ versucht Gaby, ein gelingendes Leben zu erreichen, das durch eine gute persönliche Gesundheit im Rahmen von akzeptierenden und anteilnehmenden Beziehungen gekennzeichnet ist, so dass sich das positive Potenzial ihrer „Lebensfreude“ kontrolliert entfalten kann. Das verweist auf Gabys Lebensentwurf eines integrierten, aktiven und lebensbejahenden Selbst in Beziehung, dessen Selbst-Bestimmung durch vergleichende Integration der Selbst- und Weltsicht anderer in die eigene abläuft. Der Absicht stellen sich jedoch anscheinend oft praktische (Beziehungs-)Hindernisse in den Weg, so dass das gelungene Leben weniger Wirklichkeit als vielmehr Wunsch und „Kampfgebiet“ ist: „und ich mir immer gedacht, also ich will!, gut ich hab auch einige Sachen bei mir im Leben net ganz so gelaufen grad mit . Beziehungen halt irgendwo . öhm, aber kann man sich net aus-

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suchen, und öhm . ich hab mir nur, ich will- ich will des Leben genießen!, ich hab jetzt ne harte Zeit wo der Flori klein war hinter .mir .ne, aber jetzt ist das alles besser und-öhm, ich möchte . noch n schönes Leben führen . und ich möchte .also auf keinen Fall . nur Krankheit un: so möchte ich net leben ich mein gut, vielleicht wird ich irgendwann krank, aber dann muss ich das auch anders in Griff kriegen, ne, dann muss ich mir denken ‚ich werd wieder gesund!‘ und ich bin so’n Mensch, der immer alles angreifen muss, ne, also hab ich n Problem, dann überleg ich mir’n des, also setz mich (1?) geh und überleg ich des, öh, wie ich irgendwelche Lösungs!vorschläge hab, wie ich des . wieder in Griff kriegen kann alles, also .in dem ich was mach!, ne, so bin ich jetzt, ich ergeb mich net in Situationen“

7.8 G ABYS R INGEN UM G ESUNDHEIT DES BRCA-S TATUS (X2)

ANGESICHTS

Vor dem Hintergrund des herkunftsfamilialen Systems, Gabys Stellung darin und dessen Auswirkungen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung erfährt sie Gesundheit als ein ständiges Ringen um die Abwehr des mütterlichen Potenzials, d.h. als ständiger Versuch des Passings als ‚Nicht- bzw. bessere Mutter’, durch Ausgleichsbewegungen im Sozialraum. Da diese Bewegungen lediglich eine ständige Abwandlung des Bekannten und damit einen Wandel erster Ordnung darstellen, gestaltet sich das Coping für Gaby, ähnlich wie schon für ihre Mutter, als Vorgang der beständigen Angleichung durch Nachbesserung. Der Prozess lässt sich mithilfe des relationsdynamischen Models nachzeichnen. 7.8.1

Das Gleichgewicht der Kräfte vor dem BRCA-Test

Das BRCA-Testergebnis trifft auf ein balanciertes und nur marginal verbundenes Doppelsystem, das auf der aktiven Relationsorientierung von Gaby als Selbst in Beziehung aufbaut. Sein Anerkennungspotenzial trägt während der Adoleszenzkrise dazu bei, den diese Krise verstärkenden familialen Druck durch eine Erweiterung sozialer Erfahrungsfelder ausgleichend einzudämmen. Das System bewährt sich bis zum Tod der Mutter. Es organisiert „Weiblichkeit“ und „Gesundheit“ in Form von Regelkreisen mit unterschiedlichen Stellgrößen. Jeder der beiden Regelkreise besteht aus je zwei Handlungsräumen, in denen spezielle Aktivitäten von bestimmten Akteur_innen ausgeführt werden. Die sich dadurch eröffnenden verschiedenen SachPersonen-Kombinationen können als „Regler“ verstanden werden, die Druck und Kraft als Stellgrößen des relationsdynamischen Gesundheits- und Weiblichkeitsmodells bestimmen. Die möglichst energetisch ausgeglichene Kombination der Stellgrößen im Wechselspiel der Handlungsräume bestimmt die Gesundheitsauffassung bzw. die „Weiblichkeitsbilanz“, d.h. ein möglichst erfolgreiches Frau-Sein als Beziehungspartnerin und gute Mutter. Bis zum BRCA-Test gelten die beiden Bereiche als nicht interdependent. Der Regelkreislauf Weiblichkeit steigert die erfolgreiche Selbstidentifikation als Frau im privaten Umfeld über die zwei Handlungsfelder Mutterschaft und Partnerschaft, in denen Gaby die Figur der erfolglosen „bösen Mutter“ und „gescheiterten Partnerin“ abwehren muss.

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Im Bereich Partnerschaft erlebt sie sich über die als Spiegel fungierende Interaktion mit dem Partner als attraktive Frau, was ihr bewusst realisiertes Weiblichkeitspotenzial und ihr diesbezügliches Kraftreservoire steigert. Letzteres kann bei Gelegenheit bzw. Bedarf auch noch durch die ihr im öffentlichen Raum beim Feiern zuteil werdende männliche Aufmerksamkeit erhöht werden, während der Beweisdruck bzgl. ihres Frau-Seins automatisch etwas absinkt – ohne jedoch je auf Null zu fallen, da Frau Böttchers Weiblichkeit und die dort erfahrene Akzeptanz und Anteilnahme aufgrund des Angewiesenseins auf den spiegelnden Anderen eher prekär ist. Die Mutterschaft wird von Frau Böttcher zwar als konfligierend mit ihrer Attraktivität als Frau erlebt, erfüllt jedoch eine druckmildernde Funktion, in dem sie ihr Bild der „besseren Mutter“ stützt. Dieses Bild wird Gaby in der Interaktion mit ihrem Sohn vermittelt, den sie als ihr nahe stehend schildert. Es ist zu vermuten, dass ihre Freundinnen in diesem Themenfeld als eine Art „Rückversicherung“ gegen Komplikationen sowohl im Bereich Partnerschaft als auch Mutterschaft fungieren, was den Druck der Problemschuld reduzieren und die eigene Kraft steigert wie im Fall der Trennung von ihrem letzten Freund, als diese beruhigend wirkten „’a komm Gaby un es liegt doch net an dir und nur‘ die haben mich da echt aufgebaut halt“. Im Rahmen des Gesundheitskreislaufs versucht Frau Böttcher, die Energiebilanz zunächst im Handlungsfeld des sozialen Alltagslebens durch die Strategien Ausgehen und Gespräch zu regulieren. Diese wehren (u.a.) die mütterliche Beziehungsschwäche ab und stellen folglich gesundheitsförderliche Maßnahmen dar. Das Ausgehen als selbstvergessene Tätigkeit im Augenblick erlaubt Frau Böttcher, ihre Lebensfreude zu spüren. Das fungiert als Kraftzufuhr im Kreis der Freundinnen, die durch die dabei teilweise erlebte männliche Aufmerksamkeit noch gesteigert wird. Hier begegnen sich Weiblichkeits- und Gesundheitskreis, ohne sich jedoch gegenseitig zu bedingen. Sicherlich wird dabei auch der Druck des gewöhnlichen Alltags (zeitweise) abgelegt. Druckreduzierend wirken jedoch primär Gespräche mit dem Partner (so vorhanden) und den Freundinnen, die durch die Erfahrung von Aneilnahme und z.T. Akzeptanz kraftsteigernd sind. Auch Gespräche mit der Mutter konnten Druck reduzieren, waren jedoch ein unsicheres Unterfangen, da diese Mutter gleichzeitig oft kraftraubende Zugeständnisse einforderte oder Akzeptanz verweigerte. Ähnlich ambivalent, d.h. sowohl förderlich als auch hemmend, können Alltagsbegegnungen und Alltagsbewegungsformen verlaufen (z.B. Rasen mähen, Wohnung streichen). Diese machen eher den Eindruck einer „ersten Hilfe“ bei zu großem innerem Druck und können leicht in Kraftverlust umschlagen (s. Kraftsparprinzip). Im Allgemeinen ist der im sozialen Alltag erzielte Druckabbau und Kraftgewinn ausreichend, um eine ausgeglichene Energiebilanz aufrecht zu erhalten. Jedoch wird der innere Druck des Wissens um das karzinogene mütterliche Potenzial in regelmäßigen Abstände zu groß, so dass eine explizit Intervention der Medizin von Nöten ist, die eine erweiterte Bedeutung umfasst: Zunächst umfasst er die Referenz auf das „kräftigende“ väterliche Potenzial, das als „gutes Abwehrsystem“ zur Eindämmung von Gesundheitsrisiken konstruiert wird. Auch dieses vermag jedoch den Gesundheitsdruck langfristig nicht völlig herunter zu regeln, so dass Frau Böttcher „schon immer“ regelmäßig gynäkologische Vorsorgekontrollen in Anspruch genommen hat, die den Druck des mütterlichen Krebspotenzials eindämmen. Hierbei erfährt sie aufgrund der guten persönlichen Beziehung zur Ärztin zusätzlich Anteilnahme in ihrer

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Sorge, was als begrenzte Kraftquelle fungiert: „ich war ha-halbjährlich dann bei ihr [Frauenärztin, A.d.V.] und sie soll alles nachgucken und ich geh dann da raus und fühl mich besser ganz einfach“. Der ärztlichen Begegnung kommt im Prinzip die Bedeutung einer Bestätigungsagentur in Bezug auf Gabys Selbstbild des „ziemlich fitte[n] Mensch[en]“ zu, was auf Gabys Assoziation mit dem väterlichen Familienpotenzial zurückverweist und dieses implizit bestätigt. Abbildung 18: Gesundheit und Weiblichkeit vor dem BRCA-Test Gesundheit Weiblichkeit

Privatleben Mutterschaft: Sohn: Akzeptanz & Anteilnahme, d.h. gute Mutter Freundinnen: Bestätigung, in beiden Fällen: Druckabbau Gelebte Partnerschaft: Partner: unsichere Akzeptanz & Anteilnahme Freundinnen: Druckabbau durch Problemdiskussion

Öffentliches Ausgehen: Männliche Aufmerksamkeit, Kraftaufbau

Soziales Alltagsleben Gespräch: Freundinnen: Druckabbau Partner: Druckabbau (Mutter: Druckabbau) Ausgehen: Freundinnen: Kraftaufbau Männer: Kraftaufbau durch Aufmerksamkeit Alltagsbewegung/ -begegnung: Freundinnen: Druckabbau Alleine: Druckabbau Zufallstreffen: unsichere Effekte auf Kraft & Druck

Medizin: Arztbeziehung Kraftaufbau KontrollUntersuchung Druckabbau Abwehrsystem: väterliches Potenzial Kraftaufbau

Dieser Prä-Test-Status verweist auf Gabys Aktivitätsbedarf zur Aufrechterhaltung von Gesundheit und Weiblichkeit sowie auf die Wirksamkeit der Expertenschaft aller und des grundlegenden ausgleichend-gegensteuernden Handlungsmusters im Rahmen eines generalisiert wirksamen relationsdynamischen Energiemodells. Zugleich wird das Unabgegrenzte und explizit Soziale des Gesundheitsthemas offensichtlich, in dem Gaby beständig ihre kombinierten Selbstbilder des fitten Selbst als Frau in Beziehung reaktualisieren muss. Das Unsichere dieses Selbst tritt damit deutlich zu Tage. Im Wechselspiel der Einflüsse verschiedener sozialer Handlungsfelder gelingt ihr jedoch zunächst die Eindämmung des negativen mütterlichen und die Bekräftigung des positiven väterlichen Gesundheitspotenzials sowie die Etablierung befriedigenden sozialer Beziehungen. Vor dem Hintergrund des Beziehungs- und PotenzialDeutungsmuster dürfte Gesundheit und Weiblichkeit somit erfolgreich gewährleistet sein und lange das existieren, was Gaby als gelungenes Leben bezeichnet. 7.8.2

Die Entwicklung hin zum BRCA-Test

Der Krebstod der Mutter überschreitet eine Eindeutigkeitsschwelle und ist als unleugbares Problem aufgrund von Gabys totaler Problemorientierung Ausgangspunkt für die sich gleichsam spiralartig entfaltende Entwicklung hin zu BRCA-Test und der nachfolgenden Rezeption des Ergebnisses bis zum Zeitpunkt des Interviews. Es zeigt sich, dass Gabys ausgleichendes Handlungsmuster auf der Basis ihres Abgrenzungsproblems die Krise perpetuiert, da ständig neue Gegenmaßnahmen im Rahmen der verfügbaren Druck-Kraft-Quellen notwendig werden, deren Versprechen einer Been-

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digung der Aktivitätsspirale sich nicht einlöst, so dass immer neue relationale Gegenmaßnahmen notwendig werden und der Prozess nicht zum Abschluss kommen kann. Es handelt sich um einen klassischen Wandel erster Ordnung, der die Krise chronifiziert, obschon er sie bisweilen erleichtert. Die mit dem Tod der Mutter einhergehende persönlich-familiale ontologische Krise bedingt einen Druck, der durch den ungelösten und nun unlösbaren Konflikt mit der Mutter verstärkt wird: „können sich vorstellen dass einen des wohl belastet!, ne?“. Allein ein letztes, klärendes Gespräch hätte die Akzeptanz der Mutter vermitteln können, die Gabys Bindungssehnsucht erfüllt und ihre Selbstwertproblematik gelindert hätte. Diese Chance ist nun für immer passé und Gaby muss einen Umgang mit der nun nicht mehr modifizierbaren Figur der „bösen Mutter“ finden. Zur Reduktion dieses Drucks bedient sich Gaby Böttcher verschiedener Strategien: Als direkte Erstmaßnahme kommt es zu körperlichem Druckabbau in Form von exzessiven Mäharbeiten, wodurch sie ihre Kraftreserven derart überstrapaziert, dass sie in eine Form der „Ungesundheit“ rutscht und Schmerzen entwickelt. Als tiefere Bearbeitungsform sucht sie darüber hinaus die redende Reflexion sowohl als Ausgleich im sozialen Außen mit Freundinnen, deren Akzeptanz und Anteilnahme aufgrund eigener problematischer Mutterbeziehungen gesichert sind, als auch in gewisser Weise mit der Mutter selber durch häufige Besuche auf dem Friedhof. Während ersteres in Kombination mit der eigenen Erziehungspraxis als „bessere Mutter“ die beabsichtigte druckabbauende Wirkung entfaltet, erweist sich letzteres als weniger effektiv und sogar kontraproduktiv hinsichtlich ihres Bewusstseins für das familiale Krankheitspotenzial: „mir sind Dinger passiert […] steh ich am Grab, kommt eine von hier vom Bauerbach an, ne, die mag ich eh net so, so alte .so paar alte Tratschweiber sin des .. und Spruch halt da, des war ja die Anfangszeit, da war ich viel! drüben, weil ich dann halt des alles verarbeiten musste und so weiter und da-öh sagt sie ‚ja, ach ne, da müssen sie aufpassen, ihre Mutter!, oh, da müssen se aufpassen, gehen se nur immer hin!, lassen sie sich untersuchen . ne? . die ganze! Familie‘ sagt die zu mir, ich hätt se glatt, ich mein des war ja furchtbar, macht mer ja nit sowas . überhaupt kein Gefühl mehr . un: . ich hab dann zu ihr ‚jaja, das mach ich schon alles, Wiedersehn‘ aber ich fand’s total ätzend, ne [leiser]“

Das durch den Tod aktualisierte letale Potenzial des Krebses der „kranken Mutter“ wird durch die Intervention der Nachbarinnen als nicht vernachlässigbare Expertinnen noch verstärkt. Diese akute traumatische Belastung dürfte letztlich dazu beigetragen haben, dass Frau Böttcher schließlich im Herbst 2004 ihre Frauenärztin zwecks Kontrolluntersuchung aufsucht. Dort erhält sie von der ihr vertrauten „ganz liebe[n] Frau“ den Tipp, dass es „vielleicht ratsam ma [wär] Gentest zu machen“. Damit wird das Wissen um den Gentest in einer Situation präsentiert, die für Gaby extrem krisenhaften, daher nicht herabspielbar und somit aufgrund der totalen Problemorientierung handlungsverpflichtend ist. Zudem wird eine Chance offeriert, das evtl. eigene Potenzial der „kranken Mutter“ endgültig abzuwehren. Trotz des positiven Verhältnisses zur Ärztin und der Unmöglichkeit der Nivellierung dieses Wissens benötigt Gaby in der Folge eine Bedenkzeit von einem halben Jahr, um sich zum BRCA-Test durchzuringen. Das basiert darauf, dass die Konfrontation mit dem mütterlichen Potenzial ein erneutes Aufgeben von Ambivalenz bedeu-

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tet und somit nicht mit familialen Vorgaben harmoniert. Zu diesem Zweck konsultiert sie getreu dem Motto „ich frag ja immer alle“ eine Reihe von Expert_innen, anhand derer sie mittels Autoritätsabwägung zu einer eigene Position kommt. Diese werden zugleich in den redenden Reflexionen als Gleiche konstruiert, um den thematischen und wissenshierarchischen Druck direkt wieder zu minimieren. Hierzu zählt u.a. die Frauenärztin – „ich glaub sie hat damals ‚ja’ g’sagt, sie wollte es wissen, weil sie würde es auch in Angriff nehmen wollen“ – sowie ihrem damaligen Freund: „bei dem (2-3?) Darm-äh- Darmkrebs weggestorben in der Familie und so weiter, also da ist auch Krebs in der Familie, ne? er hat gesagt, er will’s nicht wissen“. Aufgrund ihrer aktiven Problemorientierung und als Abgrenzung von der Mutterfigur bleibt Gaby schließlich nichts anderes übrig, als der Unsicherheit bzgl. des eigenen gesundheitlichen mütterlichen Potenzials durch die Inanspruchnahme des BRCA-Tests zu begegnen, dessen Gefährdungspotenzial sie durch den Ansatz des positiven Denkens in Form einer Hoffnung auf Entlastung auszugleichen sucht: „ich hab halt irgendwie gehofft, ich hab’s net“. Die ungeheure Spannung, die sich während der dreimonatigen Ergebnis-Wartezeit „wie auf Kohlen!“ angesammelt hat und dann durch die bürokratische Verzögerung vor der wenig empathischen Ergebnismitteilung – „da war ich echt . vorneweg fast geplatzt“ – noch verstärkt wird, explodiert förmlich im outenden Moment der Ergebnismitteilung: „da! des war halt Peng!, ne, ‚boah, du hast des, boah, ne, des hätt ich jetzt net gedacht, ne‘ aber ich wollt’s ja wissen“. Diesem ersten „Schock“ begegnet sie mit einer Druckreduktion durch Rückzug aus der belastenden Situation: „die hat mir des Ergebnis g’sagt, des hat eine Minute gedauert un na war ich draußen“. 7.8.3

Der direkte Umgang mit dem BRCA-Resultat

Nach der „Ergebnisverlesung“ weist Gaby eine ausgesprochen negative Energiebilanz auf. Zum einen wird ihr das positive Testergebnis im Rahmen einer Arztbeziehung genannt, die nicht von Anteilnahme geprägt ist und damit belastet, d.h. schwächt anstatt zu stärken. Zum anderen reaktualisiert das positive BRCATestresultat als Outing das Bewusstsein bzgl. des potenziell letalen mütterlichen Potenzials und die damit verbundene existenzielle Angst, die sich zu ihrer latenten familial erworbenen Angst addiert. Die familial erfahrenen Gefühle von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein werden reaktualisiert, wobei die „übermächtige“ Mutterfigur nun durch das „übermächtige“ genetische Familienpotenzial ersetzt und durch dessen (scheinbar) objektive Faktizität verstärkt wird. Das Testergebnis steigert so den gesundheitlichen Belastungsdruck anstatt wie bisher zu entlasten. Damit wird von medizinischer Seite aus diesmal eben nicht die Selbstdeutung der fitten Person betont, sondern im Gegenteil die unterschwellige Drohung, eine gefährdete, belastete Person zu sein. Das geht einher mit Frau Böttchers Verlust der Möglichkeit, das Medizinsystem als „Bestätigungsagentur“ funktionalisieren zu können. Frau Böttchers vorherige regelhafte Gesundheitskonstruktion ist nicht mehr gültig, da diese auch auf der positiven Kraft der Ambivalenz als Möglichkeitsraum beruhte, die nun mit dem Testergebnis als Überschreitung einer Eindeutigkeitsgrenze abhanden gekommen ist. Ihre Lebenswirklichkeit erleidet einen Selbstverständlichkeitsverlust. Gleichzeitig verletzt sie damit ein Familienmuster und bedroht zusätzlich andere Familienmitglieder, was

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ihr Außenseitertum steigert und wohl erklären dürfte, warum Gaby Böttchers Herkunftsfamilie keine Rolle bei der Bewältigung dieser Krise zu spielen scheint. Auf diesen Verlust der Selbstdeutung und auf die Annäherung an die „kranke Mutter“ in ihr reagiert Gaby wie gewohnt mit einer relationalen Assoziation, die sich – auch in Abwehr der mütterlichen Ablehnung medizinischer Kontrollmaßnahmen – auf das Medizinsystem richtet. Hier findet in begrenztem Ausmaß Anpassung statt. Dem Medizinsystem wird nun die faktenbasierte Deutungshoheit bzgl. eines Problems zuerkannt, dessen traumatisches Potenzial Gaby aufgrund seiner Vereindeutlichung keinesfalls ignorieren oder ausgleichen kann. Ihre Aktivitätsorientierung im Sinne des „Angehens“ lenkt den Umgang mit dem Testresultat, grenzt Frau Böttcher von ihrer Mutter ab und ist als solches ein Gegengewicht zum Druckaufbau durch das Testresultat, das sie „sehr belastet! [laut] muss ich sagen, immer noch manchmal, immer noch“, womit auch eine reflektierte realistische Einstellung zum Ausdruck kommt: „es is! jetzt so, weil ich hab scho, des hat au mei Frauenärztin nochema g’sagt ‚sie wissen des jetzt und sie können jetzt da: .. sehen se des ma insoweit positiv, des se des jetzt angehn könn, ne‘“. Das beinhaltet einerseits, sich verstärkt medizinischen Untersuchungen anzuvertrauen und diesbezügliche Informationen zu suchen, andererseits den mit dem Resultat verbundenen Druck möglichst einzudämmen und Schadensbegrenzung zu betreiben, indem verstärkt Ambivalenzen in diesem Handlungsfeld berücksichtigt werden. Im Zuge einer Informationsrecherche im Internet ergibt sich so der Kontakt zum HBOC-Zentrum in C-Stadt, wo sie wiederum eine befriedigende, unterstützende Arztbeziehung zur dort verantwortlichen Humangenetikerin, einer „ganz ganz nette[n] Frau“, aufbauen kann, bei der sie auch hierarchienivellierende Maßnahmen einsetzt. Dadurch kann Gaby zwar Druck abbauen, wird jedoch zugleich wiederum mit konkreten Risikozahlen konfrontiert, die aufgrund der nicht herabzuspielenden totalen Problemorientierung die Unausweichlichkeit des mütterlichen Potenzials betonen: „ja gut, ich muss sagen wie sie mir in C-Stadt gesagt habn . ne? 80-prozentiges! Brustkrebsrisiko is jawohl oberheftig also des is ja schon hammermäßig, ne? wenn de überlegst, da stehn 10! Mann rum, 8! ham des . des war-, da musst ich auch erstma schlucken, ne? also des is schon heftig […] man hat scho extre- man hat schon sehr große Angst, jetzt, muss ich klar sagen, ne“

Auch die Kontrolluntersuchungen selbst werden als belastend erlebt, was Gaby zum einen generalisierend relativiert: „da sitzt ja jeder angespannt da“. Zum anderen versucht sie, durch positives Denken die Relevanz des Themas herabzuspielen: „da der Radiologe, der hat ‚also Frau Böttcher so engmaschig wie sie jetzt hier in der Kontrolle sind, kriegen wir’s immer am Anfang‘ . hat der zu mir g’sagt, ‚gar keine- gar kein Thema‘“. Gerade diese selbsterzieherischen Ansätze sind dazu geeignet, ein Bereuen der Testwahl und damit zusätzlichen Druck zu vermeiden. Die Belastung wird an dieser Stelle jedoch nur verschoben: Nun herrscht der Zwang zu Optimismus und Selbstkontrolle. „also verändert! es [BRCA-Testergebnis, A.d.V.] hat schon .viel verändert, muss mer sag- also, jetzt glaub ich, hat’s schon bei mir .. also man lebt schon mit diesem Ding, man lebt damit,

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ne? aber: ich hoff, es kommt viel so rüber und ist auch wichtig! dass ich das .positiv . trotz allem sehe und es nicht! bereue, dass ich’s gemacht . bereu es nicht“

Alternativ dazu versucht Frau Böttcher im Rahmen ihres sozialen Alltagslebens, das alte positive väterliche Potenzial als „starke Gene“ im Diskurs mit den Freundinnen zu reinstallieren und auch weiterhin als Mitglied der väterlichen Familienseite zu passen. Sie zielt damit darauf ab, das Kraftreservoire wieder auffüllen, den Druck durch Perspektivenwechsel zu reduzieren – sprich Ambivalenzen zwischen den Handlungsfeldern als Möglichkeitsraum auszunutzen – und sich zu einer als förderlich begriffenen sozialen Anbindung hinzuwenden. Das spricht für eine fortgesetzte Gültigkeit sowohl des Beziehungs- als auch des Potenzial-Deutungsmuster. Medizinische Deutungs- und Handlungsansätze greifen jedoch auf Gabys Alltagswelt über. Als direkte Konsequenz des neuen Wissens sucht Gaby z.B., durch gesundheitsbewusstes Verhalten Risikofaktoren einzuschränken und somit fremdkontrollierende Einflüsse und negative Potenziale von vornherein abzuwehren. Das soll den wahrgenommenen gesundheitlichen Druck nicht vergrößern sowie die Belastung auf längere Sicht mildern. Die dahinterliegende enorme Verunsicherung des Selbst, die Frau Böttcher durch das traumatische BRCA-Testergebnis erfahren hat, findet eine körperliche Ausdrucksform im Atmungsthema. Verweist sie sonst in diesem Rahmen auf das gute Potenzial der Erkältungskrankheiten verhindernden Abwehrkräfte, betont nach der Ergebnismitteilung die totalen Rauchvermeidung und das Streben nach „immer nur gute Luft!“ Gabys Abgrenzungsbestrebungen, die auch nicht mehr die Vorgaben des Maßhaltens erfüllen. Diese Reaktion zeigt, wie ausgeliefert sich Gaby trotz ihrer Bemühungen in der akuten Nach-Test-Situation fühlt. Die Abgrenzung ist letztlich gegen gefährdende soziale Begegnungen gerichtet. Diese Risikoabwehr gelingt folglich nur in Form eines Rückzug, d.h. durch die Reaktualisierung eines familialen Bewältigungsmusters, indem sie alte durch neue soziale Routinen ersetzt, die v.a. das Feld des Ausgehens betreffen. Auch wenn diese Strategie zunächst druckmildernd und damit erfolgreich erscheinen mochte, beinhaltet sie nicht nur die Abgrenzung von Risiken sondern v.a. auch von kraftspendenden, förderlichen Einflüssen. Sie muss daher auf lange Sicht negativ auf Frau Böttchers Energiereservoire wirken, da diese Praxis eine der wichtigsten Ausdrucks- wie Erlebnisformen und somit Quellen der „Lebensfreude“ genannten Kraft untergräbt und gerade die als Abwehr des mütterlichen Potenzials installierte Praxis als riskant markiert. Im Endeffekt kehrt Frau Böttcher zu ihrer angestammten Praxis des Ausgehens zurück, wobei diese aufgrund des BRCATestergebnisses ambivalent geworden ist: „ja, wenn ich zum Beispiel weggeh! [laut] jetzt Fasching […] da haben wir halt .super Spaß gehabt [lacht auf] und: nächsten Tag hat ich halt dann echt- wir hatten zuviel getrunken und so weiter dann hab ich n schlechtes Gewissen! und so weiter an meim Körper des hat ich früher auch nett, als d- Paardie gemacht ma und gut . macht man net jeden Tag . und jetzt hab ich das mittlerweile manchmal, ne, dieses- dass ich manchmal schlechtes Gewissen hab immer gleich, ich muss noch gesünder leben!, obwohl ich gen- gesund genug leb“

Des Weiteren wird sowohl im Netz als auch im HBOC-Zentrum v.a. der Handlungsmöglichkeit der prophylaktischen Eierstockentfernung besondere Autorität ver-

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liehen, indem sie laut Frau Böttcher als „ratsam!, ratsam, empfohlen, empfohlen“ dargestellt wird. Die Operation behandelt Gaby wie gewohnt in redenden Reflexionen. Neben der Frauenärztin, die „heilfroh“ wäre, wenn Gaby ihre „tickenden Zeitbomben“ Eierstöcke entfernen ließe, spricht sie zunächst mit ihren Freundinnen. Diese bestätigen sowohl das väterliche Gen-Potenzial als auch Gabys realisierte Mutterschaft als Weiblichkeitspotenzial und wirken somit druckmindernd und kräftigend zugleich. Andererseits spiegeln sie auch Gabys eigenen Zwiespalt, da sie z.T. die „engmaschige Kontrolle“ als ausreichend erachten und – wenn auch anders motiviert – nicht zur Operation tendieren: „’du gehst ja immer engmaschig, vielleicht solltest’s da.bei belassen‘“. Wichtig ist darüber hinaus die fortgesetzte partnerschaftliche Diskussion, in der Gaby zunächst unterstützende Anteilnahme erfährt, da der Partner für sie erreichbar ist, sowohl direkt nach der Ergebnismitteilung als auch im Weiteren zur Besprechung der Konsequenzen. Das unterstützt den Druckabbau durch (Kommunikations-) Handlung, aber auch den Kraftaufbau durch Solidarität und Unterstützung. „ah, da war er immer!, voll hinter mir gestanden, ne, war ok, jetzt so, ne, und da ham wir ja auch wirklich:, des war ihm wahrscheinlich zuviel, nur des hat ich in meiner: .Vearbeitungsphase nit mitkriecht, ne [leiser] . musste dadrüber reden, unter anderem mit ihm eben auch über das Ergebnis und alles, ne“

Sowohl ihren Kommunikationsbedarf als auch ihre Anpassung an neue soziale Routinen betrachtet Frau Böttcher jedoch im Nachgang als „übertrieben“ und damit nicht nur negativ für sich, sondern auch überfordernd für ihren Partner, der sich schließlich von ihr trennt: „aber ich glaub, dass hat auch dazu geführt, dass ich ihn öhm . im nachhinein! (3-4?) ne, doch eweng vielleicht weggetrieben-“. Die Abwendung von der relationalen Perspektivenübernahme führt damit erneut zum Beziehungsabbruch und dürfte Gabys Selbstwertproblematik reaktualisiert haben, da sich das Beharren auf eigene Bedürfnisse wie schon im familialen Umfeld als fatal erweist. Andererseits bleibt sie die handelnde Person und eben nicht passiv wie ihre Mutter. Bisher hat Gabys ausgleichendes Handlungsmuster als Maßnahme gegen das mütterliche Potenzial auf der Basis ihres Abgrenzungsproblems die Krise perpetuiert, da ständig neue Gegenmaßnahmen im Rahmen der verfügbaren Druck-Kraft-Quellen notwendig wurden, deren Versprechen einer Beendigung der Aktivitätsspirale sich nicht einlöste, so dass weitere Maßnahmen notwendig wurden und der „CopingProzess“ nicht zum Abschluss kommen konnte. Es entstand eine Situation, in der der familiale Regelkreis aus (Potenzial-)Ambivalenz – (Gesundheits-)Druck – (medizinisch-lebensweltlicher) Abwehr – (Risiko-)Zuordnung in Form einer Spirale der gesundheitlichen Gegenreaktion gegen die übermächtige „genetisch-mütterliche Natur“ reaktiviert und auf Dauer gestellt wurde. Dieser klassische Wandel erster Ordnung hat demnach die Krise chronifiziert, obschon er sie zeitweise abmilderte. 7.8.4

Eierstockentfernung: Die Gesundheitsrelevanz der Weiblichkeit

Durch die vom Ex-Freund ausgehende Trennung wird erneut eine Eindeutigkeitsschwelle überschritten, bei der das Thema des evtl. eingeschränkten Weiblichkeitspo-

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tenzials als Nachteil auf dem „Partnerschaftsmarkt“ in Gabys Gesundheitsgleichung eingeführt wird. Vor dem Hintergrund der Entscheidung pro Eierstockentfernung als weiterer Vereindeutlichung tritt nun die Konflikthaftigkeit des BRCA-Testergebnisses vollends zu Tage, da jetzt Weiblichkeit und Gesundheit als die bestimmenden Perspektiven des Körperlichen aufeinander treffen. Das locker verbundene doppelte erweitert sich zu einem einzigen System, indem beide Themen zugleich zwischen den Handlungsfelder des Medizinsystem und des sozialen Lebens verhandelt werden. In letzterem etabliert sich nach dem Wegfall der Partnerschaft der Freundinnenkreis als „Gegenwelt“ zur Medizin, da Gaby hier Akzeptanz und Anteilnahme erfährt und ihr widerständisches Potenzial stärken kann, worauf u.a. das lange Hinauszögern einer Pro-Operationsentscheidung im Angesicht des Drucks aus dem HBOC-Zentrum verweist. Da nach dem Ende der Partnerschaft darüber hinaus gerade die Kombination aus der Beendigung der kräftigenden und durch Kommunikation Druck mildernden Partnerschaft und dem druckerzeugenden Wissen um die Disposition den energiebezogenen „Super-GAU“ bildet, scheint sich die Reaktualisierung der mütterlichen Lebenssituation mit ihrer Kombination aus Krankheit und Beziehungsbruch als tatsächliche Gefahr anzudeuten – deren Aktualität zum Zeitpunkt des Interviews fortbesteht und daher immer noch normalisierend eingedämmt werden muss. Nun erweist sich nicht nur das Bild der „kranken Mutter“, sondern auch das der „gescheiterten Partnerin“ für Gaby als relevant, während zugleich die beiden identitären Selbstbilder des „fitten Menschen“ und der „natürlichen Frau“ in Frage gestellt werden. Es liegt eine umfassende identitäre Krise vor, welche die Selbstwertproblematik reaktualisiert hat. Man könnte also bei Gaby von einer medizinisch induzierten Midlife Crisis sprechen. Die Entscheidung für oder gegen eine prophylaktische Eierstockentfernung repräsentiert dabei eine Art Entwicklungsplateau, da keine gute, die Energiebilanz augenscheinlich positiv beeinflussende Entscheidungsalternative und damit Gegenmaßnahme existiert: Entweder wird durch die Operation der Gesundheitsdruck des mütterlichen Gen-Potenzials bei gleichzeitiger Beeinträchtigung des Weiblichkeitspotenzials gesenkt oder letzteres bleibt gleich, während der gesundheitliche Druck mit der Zeit gemäß dem statistischen Risiko ansteigt. Es wird damit entweder die „kranke Mutter“ oder die „erfolglose Partnerin“ bestätigt, deren kollektive Abwehr jedoch eigentliche Voraussetzung guter Gesundheit wäre. Diese Situation, in der offenbar keine echte Handlungsalternative existiert, stellt damit das dar, was für Frau Böttcher „das Schlimmste“ ist. Druck kann hier nur redend abgelassen werden, wie auch der Kontakt zwischen Gaby und der Forscherin zeigt, der nach dem „ventilartigen“ Interview beendet wurde, da dieses offenbar zugleich den unhaltbaren Zustand bewusst macht, demgegenüber Gaby momentan „verdrängmäßig […] gestimmt“ ist. Das führt sie zu einer ständig wechselnden offiziellen Einstellung die Operation betreffend und zur Absage des Operationstermins, hinter der die im Prinzip favorisierte, „private Lösung“ eines Nein zur Operation und eines Ja zu Beziehungen steht, die jedoch aufgrund der Autorität der Vertreter_innen des Medizinsystems vor dem Hintergrund der eigenen Selbstwertproblematik nur schwer aufrecht erhalten werden kann. Hier bedient sich Gaby erneut der Autoritätsabwägung, indem sie auf „Hormonspezialisten“ und damit andere Teile des Medizinsystems zurückgreift, von denen sie sich ihre Einstellung stützende Informationen erhofft. Gaby versucht also wie gehabt, die Autorität anderer zu nutzen, um zu ihrer interdependenten Selbstbestim-

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mung zu kommen, was aber genau dort auch ihre Schwäche hat, da vor dem Hintergrund ihres Abgrenzungsproblems eine ständige Gefahr der ungewollten Entwicklung und Fremdbestimmung besteht, obwohl Gaby durchaus recht virtuos zwischen verschiedenen sozialen Kontexten und deren Einschätzung wechselt und somit eine gewisse Autonomie in der Ausrichtung der jeweiligen Gegenmaßnahme beweist. Ihr ursprünglicher relationaler Lebensentwurf als integrierte, aktive und lebensbejahende Frau und Partnerin, den sich Gaby als Abwehr der „bösen und kranken Mutter“ aufgebaut hat, wird damit in letzter Konsequenz durch genau die Maßnahmen im Rahmen ihrer Aktivitäts-, Relations- und Ausgleichsorientierung in Frage gestellt, die ihn als Gesundheitsgarantie sichern sollen. Die beständige Angleichung führt damit nicht dazu, dass das Testergebnis integrierbar wird, sondern verstärkt und verlängert die ursprüngliche traumatische Krise zunehmend. Der relationale steht nun im Austausch gegen eine Art „maximal medikalisierten Lebensentwurf“ zur Disposition, wobei hinter diesen Verhandlungen das identitäre Dilemma des verbundenen gesundheitlichen und weiblichen Selbstbildes steht. Gabys Umgang mit der Beschreibung ihrer Ovarien als „Zeitbomben“ illustriert ihre gegensteuernde Suche nach einem Ausgleich der ambivalenten Potenziale und einer eigenen Lebensperspektive: „[atmet ein] also, ich hab ihn ja g’sagt, ich bin ein .fitter Mensch und so weider, ich bin ne- ne Frau und-und-und, ne, aber: ich mein ich hab diesen Gendefekt, dürfen wir nit-öh außer Acht lassen, und meine-meine ganze Familie war erkrankt, also warum sollt ich jetzt net erkranken? warum soll ich jetzt plötzlich des Privileg haben? also, frag ich mich manchmal . ich hätt halt einfach total Glück, ne . so muss mers- so muss mers halt betrachten, ne, oder! ich hab die Gene von meim Vatter an sowas glaub ich schon manchmal auch eweng da dran glaub ich! jetzt zum Beispiel an solche Junggene und solche . weil die ganze Familie, da gi-gibt’s kein Krebs bei denen . ne? zum Beispiel . und gut!, ich muss sagen, bei mir kommt da dazu, ich: ich hab schon geraucht!, ne, im großen und ganzen ich ess! gut und ich schlaf viel und öh . ja, im großen und ganzen leb ich relativ gesund . ne, aber ich hab auch schon Paadie gemacht früher, ich hab-öh . in der Kneipe bedient so’n paar Jahre lang, also is jetzt nicht so gut, dass ich jetzt öhm . öh, andere haben nie was getrunken, nie geraucht, nie öh so bei mir jetzt halt au net ganz . ne, deswegen denk ich jetzt- also in Maßen!, aber ich wüßt jetzt- öh, es gibt .. vielleicht langt des! schon, dass des auslöst auf der andern Seite, wenn man .was ist dann des Leben!, ne? wenn man, wenn ich gar nix machen kann, gibt ja Leut die . trinken kein Alkohol, die rauchen net, die: sin wohl total langweilig vielleicht, weiß! ich nit, also . ne? weiß ich jetzt net“

Eine endgültige Abhilfe im Sinne einer Anpassung könnte Frau Böttcher wohl nur durch eine Perspektivenänderung erzielen, durch die sie ihr eigenes Potenzial nicht nur als von Außen zugeführt, sondern als selbstbezüglich verankert betrachtet, so dass Gaby damit zu einer endgültigen Ablösung von der Idee „natürlicher Weiblichkeit“ oder „natürlicher Gesundheit“ gelangt. Nur in diesem Fall könnte Frau Böttcher mit der Situation wie auch dem mütterlichen Potenzial dauerhaft ihren Frieden machen. Sie müsste jedoch zunächst ihre grundlegende Selbstwertproblematik in den Blick nehmen und durch die Konzentration auf sich und ihr selbstbezüglich verankertes Potenzial alle anderen Expert_innen ihrer Autorität entheben. Hierzu zählt auch, den beständigen Versuch des Passings als „Nicht-Mutter“ einzustellen und ihre diesbezüglichen Anteile zu akzeptieren. Dazu scheint jedoch eine systemfremde Intervention von Nöten zu sein, die das „Hamsterrad“ des gegensteuernden Abwehr-

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Aktivismus stoppt und Frau Böttcher auf sich selbst zurückwirft, damit sie lernt, aus sich heraus mit sich umzugehen. Gleichwohl bietet das familiale Kennzeichen des Aushaltens hierzu eine Kraft-Ressource, die auch widerständische Anteile besitzt und das Durchhalten eines derartigen echten Wandlungsprozesses zweiter Ordnung ermöglichen könnte.

8. Ursula-Magda Paasch: Autonomie als Balanceakt

Abbildung 19: Der Verlauf der Krebs-/Genkrise im Fall Paasch

1. Brustkrebs Martina

1987

2 maligne Melanome Martina

1993

2. Brustkrebs Martina und Scheidung von Helmut

1998

Martina: Januar: 3. Brustkrebs Sommer: BRCA1-positiv September: Entdeckung Tubenkarzinom bei prophylaktischer OP Dez: Brustrekonstruktion

2002

2. Hochzeit Martinas

2003

Prophylaktische Brustentfernung und -aufbau Stephanie

2004

2005

Januar: Ursula und Stephanie BRCA-positiv Juni: Rektalkarzinom Martina

Januar: Interview mit Martina und Ursula

2007

2009

Juli: Einzelinterview Ursula

Das Zentrum des Fallensembles ist Martina Karg-Paasch. Sie ist Gynäkologin und Mutter von (Calra-)Stephanie Leeuwen, (Mats-)Jonas Paasch und Ursula(-Magda) Paasch. Zwischen 1987 und 2004 hat sie sieben Karzinome entwickelt, von denen sich die drei Brustkrebse als entscheidend für ihre Geschichte erwiesen haben. 1993 hat sie sich von ihrem Ex-Mann Helmut Paasch, ebenfalls Gynäkologe und Vater der drei Kinder, scheiden lassen, mit dem sie bis 2000 eine Gemeinschaftspraxis betrieben hat. Beide sind mittlerweile in zweiter Ehe verheiratet. Stephanie ist verheiratete dreimalige Mutter und BRCA-positiv. Sie arbeitet Vollzeit und wohnt in den Niederlanden. Jonas ist unverheiratet und BRCA-negativ. Er arbeitet als Physiker. Ursula ist werdende Gynäkologin, unverheiratet, kinderlos und BRCA-positiv. Es fand ein Einzelinterview mit Ursula (U, EI, Juli 2007) sowie ein Mutter-Tochter-Interview mit Martina (M) und Ursula (MTI, Januar 2009) statt.

8.1 D IE K REBSKRISE DER M UTTER M ARTINA K ARG -P AASCH (A1) Martina Paasch, die offiziellen „Urmutter“ des familiären Krebses, bekommt 1987 als verheiratete Mutter von drei Kindern und Vollzeit arbeitende Gynäkologin im Al-

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ter von 41 Jahren – und damit in der Lebensmitte – ein erstes Mammakarzinom. Dieses verarbeitet sie gut wiewohl größtenteils im Alleingang, d.h. ohne Unterstützung ihres Ehemannes Helmut. Das Krebsereignis selbst wird in der Summe von Martina als kaum krisenhaft erlebt, da sie den Krebs diagnostisch erkennen und therapeutisch kontrollieren, ihm folglich mit ihrem medizinischen Handwerkszeug begegnen und als professionelle Entscheidungskrise rahmen kann. Allerdings lauert das potenziell Traumatische des Krebses bereits in dieser ersten Krankheitsepisode und realisiert sich in relationalen Kontakten: Neben ihrem bereits zehn Tage nach der Operation wieder vollen Arbeitseinsatz in der Praxis fordernden Ehemann erweist sich v.a. eine kurzzeitige Fehldiagnose als „hoffungsloser Fall“ als überfordernd. Der sich offenbarenden Gefahr begegnet sie mit einem suizidalen Gedankenspiel: „da hab ich überlegt, ob ich an ’nen Baum fahre“ (MTI), das sie aufgrund der sie noch brauchenden Kinder nicht realisiert. Die Erkrankung wird nicht zur familialen Krise, da Martina die Krebstherapie in die täglichen Arbeitsroutinen einzupassen vermag. Das potenziell Lebensbedrohliche wird der damals 7-jährige Ursula jedoch anhand einer Intervention ihrer Tante Bringfriede deutlich, die als relational verunsichernde Krise erlebt wird und von der erwachsenen Ursula noch nachträglich durch eine Art psychische Disqualifikation der Tante entschärft werden muss: „also, ich w-w-wusste ja sowieso nur, dass meine Mama im Krankenhaus ist, mehr wusste ich gar nicht und dann weiß ich öhm, warn wir bei unsrer Kinderfrau! damals un dann hat meine Tante! angerufen, also die Schwester meiner Mutter und hat irgendwie gesagt öhm, ‚deine Mama ist ja jetzt im Krankenhaus! und wenn die tot ist, dann kann ich! ja deine Mama dn sein‘ [holt tief Luft] das war so: die is-öh .halt so’n bisschen: .psychisch! nicht so ganz da [leise]“ (EI)

Allerdings wird als Folge der Krebserkrankung eine Beziehungskrise in der kombinierten Arbeits- und Sexualpartnerschaft offenbar, die von einem ehe-internen Machtkampf ausgeht, bei dem Martina ihren ersten Ehemann Helmut Paasch „an die .Wand“ arbeitet, während dieser sie „in sexuellen Dingen unter Druck“ setzt. Hierbei handelt es sich um eine Krise der Anerkennung von Helmuts Seite aus, die auf die Leugnung der Erkrankung Martinas hinausläuft, und dadurch ein vollständiges Fehlen von Mitleid und Respekt offen legt. Das zeigt sich neben der o.g. Arbeitsdelegation darin, dass er ihre sie selbst betreffende Krebsdiagnose mit „Ach Quatsch“ kommentiert, sie nur einmal im Krankenhaus besucht und gegen das Einholen einer Zweitmeinung und deren praktische Empfehlung zur „Kastration“ durch Bestrahlung der Ovarien votiert: „da war mein Mann dann total! entsetzt, da wär ich ja sexuell womöglich . ähm, nicht mehr so aktiv! und öh- also es war zwischen uns en richtiger Konflikt, ds- wo auch sicherlich Trennungswünsche von meiner Seite schon sehr massiv wurden“ (Martina, MTI). Dieses Entsetzen ob des möglichen professionellen, v.a. aber sexuellen Verlusts der Ehefrau verbunden mit der ihr zugedachten sexuellen Rolle zeigt die Fokussierung des Ehemanns auf eine Martina betreffende „Leidenschaft“, der die Dimension des „Leidens mit“ fehlt und für Martina so zum „Leiden an“ ihrem entindividualisierenden Objektstatus und der damit verbundenen Grenzverletzung Helmuts wird: „ich musste diese Rolle immer spielen der attraktiven Frau, hinter der andere Männer her

FALL P AASCH

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sind, wenn andere Männer richtig verrückt nach mir waren, dann fand mein Mann mich toll . und diese Rolle, ich konnte das auch nicht mehr spielen und ich wollte das auch nicht mehr spielen“ (Martina, MTI). Trotz der Überschreitung der Sichtbarkeitsschwelle bzgl. der Belastung ihrer ehelichen Beziehung und dem Wunsch „jetzt mach endlich was, was du immer wolltest“ (MTI) führt Martina zunächst keinen Wandel zweiter Ordnung in Form einer Scheidung herbei. Die Situation eskaliert jedoch zunehmend, so dass sie sich 1993 zur Trennung entschließt: „ich hatte das Gefühl, ich sitze in einem brennenden Haus, wenn ich jetzt nicht raus springe, obwohl ich meinen Mann noch geliebt hab, ne, zu dem Zeitpunkt, dann muss ich sterben, dann- dann bin ich verloren!“ (Martina, MTI). Hier zeigt sich der Höhepunkt der während des ersten Mammakarzinoms aufgebrochenen Ehekrise. Zur Bewerkstelligung der vollständigen Trennung nimmt Martina die Hilfe eines Psychologen in Anspruch und nutzt die Folgetherapie zur Selbstverständnisverbesserung. Dass die Trennung just zu diesem Zeitpunkt erfolgt, kann mit der sich anbahnenden normativen Familienkrise des Auszugs der erwachsenen Kinder in Zusammenhang gebracht werden: Stephanie ist als Älteste gerade ins Studium aufgebrochen, Jonas steht kurz vor der Abreise zu einem Auslandsschuljahr in den USA und die Jüngste Ursula ist im selben Jahr konfirmiert worden. Die Transformation der familialen Situation wird hier folglich in eine Transformation der Paarbeziehung umgewandelt. Allerdings fällt die idiosynkratische familiale Scheidungskrise gerade für Ursula mit dem Beginn ihrer normativen Adoleszenzkrise zusammen, deren Endnicht Anfangspunkt die Ablösung von den Eltern darstellen sollte. Sie befindet sich mithin in einer besonders vulnerablen Situation, was dadurch verstärkt wird, dass die Trennung für Ursula unbegreiflich bleibt: „F: ja, konnten sie das [Trennung der Eltern, A.d.V.] nachvollziehen? U: nö, auch bis jetzt noch nicht so wirklich“ (EI)

In der Folge realisiert sie ihre Adoleszenz als partybetonte und schulvernachlässigende „wilde Zeit“ (EI) mit wechselnden Freunden, was Ursula als untypisch für sich einordnet. Durch Anregungen von außen, die mit einem Auslandsschuljahr zusammenhängen und ihr „irgendwie so’n Sto-Schubs gegeben“ (EI) haben, schafft sie die Überwindung der als Grenzüberschreitung ausgelebten identitären Krise. Diese Form lässt auf das überlagerte, doppelt Krisenhafte der Periode schließen, hinter der neben dem Moment der Selbstfindung durchaus Aspekte der Bestrafung, aber auch der Wunsch nach elterlicher Wiedervereinigung erkennbar werden. Hinter dieser Krisenlage verschwindet in Ursulas Erinnerung das zweite Mammakarzinom, das zwei Wochen nach dem Scheidungsentschluss gefunden wird. Martina selbst erlebt das zweite Mammakarzinom hingegen durchaus als traumatische Krise: „bei dem zweiten war das, da war das mehr für mich so bedrohend öh, das mich’s .wieder ereilt hat und eingeholt hat [schluckt] . da war meine Hauptsorge, dass ich .mein Leben beenden kann, wann ich es will, wenn ich’s nicht mehr ertrage . äh und wie ich damit meine Familie noch versorge, ich hab mir also .es war schon zwanghaft!, dass ich dann überlegt hab, ich bin also nur noch über Straßen gefahren, um no- zu gucken, wo ist en Baum, wo keine Leitplanke vor ist [atmet ein] wo könnte ich mein Leben beenden, das es noch wie Unfalltod aussieht, dass

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die Kinder wenigstens noch doppelte Lebensversicherung kriegen . das ging so weit, dass ich dann . irgendwann gedacht hab ‚Schluss aus, du hast selbst .Rechte, auf en würdigen Tod . Schluss aus, du bist jetzt richtig [atmet ein] eingeengt in diesen Gedanken nur! an Selbstmord, nur! für die Familie, dass die doch genug Geld kriegt‘ . da hab ich gedacht ‚wo bist du hier?‘“ (Martina, MTI)

Gerade die Fixierung auf die verantwortliche Familienversorgung verweist auf das Motiv der mütterlichen Pflicht, das aufgrund der Scheidungssituation „familialer Schuld“ aufgeladen scheint, und im Widerspruch zu Martinas eigenem Lebensrecht steht. Hinter der sich gegenseitig verstärkenden persönlich-familialen Doppelkrise wird damit eine Identitätskrise erkennbar. Auch hier dürfte sich die Therapie sowie eine halbjährige Praxispause als hilfreich erwiesen haben, damit Martina wieder zu sich findet. Gleichzeitig verläuft dieser innere Konflikt offenbar für Außenstehende unmerklich und wird nicht kommuniziert. Vielmehr scheint Martina die Krankheit nach außen hin als „Sprungbrett“ in die Trennung nutzen zu können, da sie nach der Operation nicht mehr nach Hause zurückkehrt und sich „als Paar“ (MTI) auch keine Zeit gibt, eine Therapie zu machen und damit eine gemeinsame Zukunft zu suchen. Krebs wird damit erneut offiziell als eher begrenzt emotionale Entscheidungskrise gerahmt und auf letztlich drastische Art in den Dienst einer Lebensangleichung gestellt, die in Martinas Bedürfnis zum Ausdruck kommt „ich wollte dann nur noch leben, hungrig nach Leben war das“ (MTI). Ihre Dramatik gewinnt diese zweite Krebserkrankung wesentlich durch den Bezug zur ersten als dessen Fortsetzung sie erscheint, d.h. es liegt eine kumulierte Krise vor. 1998 werden bei Martina Paasch zwei maligne Melanome entdeckt, die sie jedoch nicht mit den anderen Krebsen in Zusammenhang bringt. Im Sommer 2002 heiratet sie erneut und ergänzt ihren Nachnamen zu Karg-Paasch. In der Folge lässt sie die für den Herbst anstehende Vorsorgeuntersuchung ausfallen. Im Januar 2003 entdeckt Martina ein drittes Mammakarzinom, das innerhalb eines dreiviertel Jahres von nicht feststellbar auf eine für sie erschreckende Größe angewachsen ist. Diese plötzliche persönliche Betroffenheit ist in ihrer Eingangserzählung repräsentiert: Der objektivierende, an eine Krankenakte erinnernde Berichtsstil der ersten beiden Brustkrebse verliert beim dritten Mammakarzinom an Linearität und Objektivität. Eine emotionale wie professionelle Herausforderung wird erkennbar: „ich hab gesagt ‚ich mag meine Brüste nicht mehr, ich will nichts mehr kriegen‘, weil! innerhalb von nem dreiviertel Jahr nach’m Kernspin war der Tumor auf 2,3 Zentimeter angewachsen, er war .in der Mammographie .tatsächlich nicht! zu sehen ich mach selbst Mammographien äh, also ich hab hinterher die Bilder nochmal kontrolliert, die in .W-Stadt bei Professor Groß gemacht .worden .sind, da- das war ne leere Brust!, ich hatte plötzlich .so’ne .Spinne da von 2,3 Zentimetern […] und da hab ich gesagt ‚ich will die Brüste beide! weg haben‘“ (Martina, MTI)

Im Gegensatz zu den früheren und späteren Krebserkrankungen wird dieses dritte Mammakarzinom erneut als aufsummierter Krebs und nun merklich als traumatische Krise und Outing einer sich früher oder später realisierenden Todesdrohung erlebt: „das hat mich schockiert! . öh: , weil ich dachte ‚du kannst! nicht oft genug untersu-

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chen, du wirst einfach eingeholt von einem Karzinom, wo du dran- dann irgendwann dran sterben musst‘ weil’s so schnell wachsend war“ (Martina, MTI). Diese an der Stelle mit aller Macht realisierte Lebensbedrohlichkeit des Krebses bringt Frau Karg-Paaschs gesamte Wirklichkeitskonstruktion ins Wanken, was sich in ihrem Handeln und körperliche Erleben spiegelt: Sie lässt die betroffene Brust ganz entfernen und möchte auch die gesunde andere Brust vor dem Hintergrund des Gedankens „ich halt das nicht nochmal aus“ (MTI) entfernen lassen, obwohl der zuständige Operateur dies nicht gut heißt. Die Behandlung des Karzinoms beinhaltet des Weiteren eine Chemotherapie, die sie nicht gut verträgt. In dieser Zeit erhält und nimmt sie die Unterstützung ihres zweiten Ehemanns Ernst-Ludwig Karg an, während sie das Hilfsangebot ihrer Tochter Ursula ausschlägt. Darüber hinaus gibt sie ihre gynäkologische Praxis auf, da sie mit der Kontrolle über den eigenen Krebs auch ihre medizinische Kompetenz eingebüßt zu haben glaubte: „M: auch meinen Patienten gegenüber hat ich plötzlich en schlechtes Gewissen, ich hab die viel in-in Sicherheit gewiegt, ‚wenn sie regelmäßig gehen zur Nachsorge, alle halbe Jahr zu mir kommen, dann kann ihnen nichts passieren, wir werden immer früh genug finden, wenn was entsteht und dann .kriegen wir das in’n Griff‘ . und plötzlich! war das ad absurdum . gestellt F: war das auch so der Moment, wo sie überlegt haben öh, ihre Praxis aufzugeben? M: ja! […] in dem Moment, wo ich Ultraschall gemacht hatte und wusste, ich hab wieder en Karzinom“ (MTI)

Als Folge und Ausdruck der Krebskrise kommt es somit auch zu einer Professionalitätskrise, die eine Krise ihrer Identität als Medizinerin ist. Die Praxisaufgabe verbindet sich laut Tochter Ursula „mit dem Beisatz [lauter] ‚jetzt möchte ich .das!, was mir vom Leben noch bleibt!, genießen‘“ (EI). Trotz des Dramatischen der Situation deutet sich hier erneut, wenn auch eher defensiv Martinas Ansatz an, Krebs als Weg zur Selbstentfaltung zu nutzen. Aufgrund der Häufung der Krebserkrankungen und zur Stärkung ihres Wunsches nach einer prophylaktischen Entfernung der anderen Brust setzt sie im Sommer 2003 die Durchführung eines BRCA-Testes durch, obwohl sie aufgrund der nicht vorhandenen Krebsfälle in der Familie in keine der Indikationsgruppen passt. Das Ergebnis lautet BRCA-1 positiv und veranlasst auch ihre Kinder, sich testen zu lassen. Wie schon bei der ersten Krebserkrankung ordnet sie das Ergebnis als Beweis ihres diagnostischen Geschicks sowie des Wertes medizinischen Wissens ein: „für mich war es [ihr medizinisches Wissen, A.d.V.] glaub ich lebensrettend, wenn ich so mal überlege, meinen Gentest hätte mir kein Arzt empfohlen, ich hab gedrängt!“ (MTI). Als sie im September prophylaktisch Eierstöcke und Eileiter entfernen lässt, wird ein kleines Tubenkarzinom entdeckt. Im Dezember folgen die Entfernung der anderen Brust sowie der Brust-Aufbau. Im Juni 2004 wird ein Rektalkarzinom entdeckt, das operativ entfernt wird. Im Rahmen der Schilderung der diesbezüglichen Vorgänge findet Martina auch im Interview wieder zu ihrem ursprünglichen medizinischprofessionellen Erzählstil zurück: „hatte dann! .im Juni 2004 ein Rektumkarzinom . was auch .statistisch etwas häufiger vorkommt bei diesem Gendefekt […] und- hab ich äh dann-äh .Darmresektion von 16 Zentimeter gehabt un Lymphkonten waren negativ und der Tumor war m- T2-Tumor aber noch ohne

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Lymphknotenbefall und im Rest nach der Entfernung des Polypen war auch nichts mehr zu finden also . naja, das ist meine . Krankheitsgeschichte!, ne“ (Martina, MTI)

Das kann als Bestätigung dafür gelesen werden, dass die laut Martina Karg-Paasch zweijährige Phase der de- und reprofessionalisierenden Sortierung ihrer Berufsrolle mit einer „Landung“ am Ausgangspunkt abgeschlossen wurde, an dem das Vertrauen in medizinische Verfahren sowie die eigene diagnostische Kompetenz wieder hergestellt ist. Es fehlt nun lediglich ein designierter professioneller Betätigungsraum. Bis zum Interviewzeitpunkt (Januar 2009) geht es Martina seitdem gut. Allerdings ist anzufügen, dass der genetisierte Zugang zur Krebsgeschichte eine neue krisenhafte Herausforderung enthält: die Schaffung einer bestimmten Familiengeschichte als Notwendigkeit, die sich aus der Logik eines familiären Brust- und Eierstockkrebses ergibt und Frau Karg-Paaschs eigene Krebsgeschichte mit einer familiären Vergangenheit verbindet, die aufgrund der „leere[n] Familienanamnese“ (MTI) so nicht existiert: „ich scheine es eventuell auch von meinem Vater auch, von der Linie zu haben, weil seine Stiefschwester also väterlicherseits, die Schwester, die hat ja n .Unterleibskarzinom gehabt . die ist dran gestorben, das muss en Ovarialkarzinom gewesen sein […] ich hab’s nicht rausgefunden, meine Cousine! . also von meinem . von der Schwester! meines Vaters die Tochter, die hat en Tuben!karzinom bekommen . hat aber den Gentest machen lassen, weil .auf mein Betreiben […] und ist negativ, ich war fest überzeugt!, die hat eins, also n Gendefekt, ne, aber die hat nichts [leiser], jetzt bin ich wieder . neu . am Anfang“ (Martina, MTI)

Damit wird Krebs zu einer permanenten, latenten und kumulierten Krise, die eine Verbindung in die Zukunft beinhaltet und von der mittel- zur unmittelbaren familialen Krise wird: „F: also sie beschäftigen sich schon damit, wo kann’s denn eigentlich herkommen? M: ja! öh man will ja auch die schützen, die betroffen sein können, belastet sein können“ (MTI)

8.2 F AMILIALE R ESSOURCEN DER K RISENBEWÄLTIGUNG ZWISCHEN S EPARATION UND G RENZVERLETZUNG (B1) 8.2.1

Stabilität und Flexibilität als transgenerationale Handlungsressourcen (Genogrammanalyse)

Familie väterlicherseits Generation der Großeltern: männliche Familientradition Großvater Max Paasch wird vermutlich um 1910-15 geboren und wächst in der turbulenten Periode des Übergangs Kaiserreich – Weimarer Republik – Drittes Reich auf. Gegen Ende der Weimarer Republik wählt er als Beruf „irgendwas beim Amt“ und heiratet um 1934 herum seine Frau Grete, von der außer dieser Ehe und der Geburt der Kinder nichts bekannt ist. Das Paar bekommt vier Söhne: Andreas (geb. 1935), Walter (geb. 1937), (Thomas-)Helmut (geb. 1940) und Manfred (genannt

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Manni, geb. 1947). Max Paasch stirbt mit Ende 40, d.h. wohl irgendwann um den Jahrzehntwechsel 1950er/60er Jahre. Die Wahl des Beamtenberufs als „sichere Option“ spiegelt sowohl eine Orientierung am Prinzip der Stabilität als auch eine gewisse, gerade zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland konservativ bis nationalistisch geprägte Staatsnähe, die auf die Pflichtethik des „Staatsdieners“ hinweist. Sowohl die Kinderzahl als auch die Wahl der klassisch deutschen bzw. christlich geprägten Vornamen sprechen für einen traditionellen Familienentwurf, der auf einem (durch die Geschwisterfolge später auch zahlenmäßig) überlegenen männlichen Prinzip aufbaut und evtl. christlichreligiös unterfüttert ist. Eingedenk des traditionellen Familienbildes scheint Max eher Teil der höheren Beamtenschaft und damit des früheren Besitzbürgertums gewesen zu sein, das durch ein klares Elite- und Machtbewusstsein, eine autoritäre Grundhaltung und eine leistungsbezogene Ethik gekennzeichnet ist. Er stirbt noch in der goldenen Ära der klassischen Versorger-Ehe, was deren Bild unangefochten bestehen lässt, aber auch eine Leerstelle erzeugt, in der ein dem väterlichen Weltbild folgendes Verhalten von den Söhnen als Delegation aufgefasst werden kann. In der familialen Lebenspraxis zeichnen sich folglich eine konservative Grundhaltung mit Betonung von Stabilität, Tradition und männlicher Verantwortung bzw. Überlegenheit sowie eine Auffassung von Leistung als Pflicht (gegenüber Familie, Staat etc.) als Orientierungspunkte ab. Distanz scheint familialer Bezogenheit gegenüber vorgezogen zu werden. Generation der Eltern: Kontinuität der familialen Tradition Alle vier Brüder heiraten und zeugen Kinder, gehen aber beruflich verschiedene Wege, wobei jeder dieser Wege zu einer der höchstmöglichen Ausbildungen führt, also einen Bildungsaufstieg beinhaltet, der die Ergreifung eines sog. freien Berufs ermöglicht: Andreas wird Ingenieur, was als technokratisch-pragmatische Weiterentwicklung des Beamtentums gedeutet werden kann. Walter wird Anwalt, sein Aufstieg ist damit eher als bürokratisch-pragmatisch zu beschreiben. Als niedergelassener Mediziner bleibt Helmut im Fahrwasser der leistungs- und statusbewussten sowie stabilen Familientradition. Er tauscht jedoch den Staats- gegen den Körperapparat aus, weitet somit die Familienperspektive und nützt einen Freiraum, der ihm evtl. als Jüngstem der ersten Geburtsreihe zugestanden wird. Die drei Brüder bestätigen ihr hegemoniales Herkunftsmilieu, das in dieser Generation als konservativ-technokratisches Milieu ausdifferenziert wird. Manfred hingegen nutzt den Spielraum, der durch seine Position als Quasi-Einzelkind in der Geschwisterreihe und ggf. auch durch die von Helmut initiierte Perspektivenaufweitung entstanden ist. Er wird Psychologe und nimmt somit einen weniger rational orientierten, personenzentrierten Beruf an, der jedoch nichtsdestotrotz einen Statusgewinn bedeutet. Seine Konzentration auf Psyche statt Ratio sowie seine Weiterentwicklung von Helmuts „Personenthema“ vom Körper zum Geist verweist jedoch auch hier auf eine gewisse Kontinuität, wiewohl er vermutlich aufgrund seiner Entwicklung eher dem liberal-intellektuellen Milieu zuzuordnen sein dürfte. Mit Ausnahme des jüngsten Bruders verfolgen Max’ Söhne in ihrer Partnerschafts- und Berufswahl weitestgehend die klassische, stabile und traditionelle väterlicher Linie, verhalten sich also konservativ oder zumindest kontinuitätsbewusst sowie statusorientiert und besitzen i.d.R. männlich konnotierte Berufe. Die familiale

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Lebenspraxis orientiert sich demnach an den Prinzipien der männlich-fokussierten Tradition, Leistung, Stabilität bzw. Kontinuität und der distanzierenden Rationalität. Ein genauerer Blick auf Ursulas Vater (Thomas-)Helmut stützt die Gültigkeit dieser Prinzipien, enthüllt aber auch eine Doppellogik bzw. „Doppelmoral“: ThomasHelmut spezialisiert sich innerhalb der Medizin auf die Gynäkologie. Er heiratet 1969 seine Kollegin Martina, die sechs Jahre jünger ist und seinen Familiennamen annimmt. Beide arbeiten in einer gemeinsamen Praxis im sauerländischen Wollhausen, die im Wohnhaus der Familie liegt. Das Paar bekommt drei Kinder: 1974 wird Tochter (Clara-)Stephanie geboren, gefolgt vom Sohn (Mats-)Jonas 1977 und der Jüngsten Ursula(-Magda) 1979. Beide Eltern arbeiten voll, wobei Martina ein im Vergleich zu Helmut höheres Arbeitspensum bewältigt. Dieser ist sexuell leistungsorientierter, initiiert Besuche in Swinger-Clubs und unterhält außereheliche Beziehungen. Die Ehe wird jedoch lange aufrechterhalten und auch den Kindern gegenüber wird nur wenig preisgegeben, bis das Paar sich nach 24 Ehejahren auf Martinas Betreiben hin scheiden lässt. Helmut heiratet danach Nicola-Julie, eine Dermatologin, die drei Kinder aus erster Ehe hat. Sie zieht mit einem ihrer Kinder zu ihm – die anderen sind bereits von zuhause ausgezogen – woraufhin sein leiblicher Sohn sein Zimmer räumen muss, und steigt auch in die Gemeinschaftspraxis ein. 2008 stirbt Nicola an Lungenkrebs, die Homepage der Gemeinschaftspraxis weist sie allerdings bis heute (Mai 2010) als aktiv aus. Mit der Gynäkologie wählt Helmut ein klassisches medizinisches Fach und bewegt sich im Rahmen der status- und leistungsbewussten familialen Logik. Gleichwohl beinhaltet die Frauenheilkunde auch das „verbotene Faszinosum“ der Sexualität. Diese Doppellogik aus Tradition und Moderne findet sich ebenfalls in der Wahl Martinas als jüngerer, jedoch mitarbeitenden Partnerin. Die Namensgebung der Kinder, die Stabilität der ersten Ehe sowie der austauschartig wirkende Umgang mit alter und neuer Frau und Familie nach der Scheidung und auch die Kontinuität der Internetpräsenz nach Nicolas Tod belegen Helmuts Orientierung an und Bedarf nach „offen-sichtlicher“ Stabilität und Tradition. Diese erscheinen jedoch nur noch als „repräsentative Hüllen“, deren äußerliche Klarheit durch den Inhalt des modernen, entgrenzten Körperthemas gebrochen wird: Dieses gestaltet sich als Wettkampf, wobei eine Verwischung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Professionellen stattfindet. Martinas professionelle Potenz als Ärztin einerseits und Helmuts sexuelle Potenz, seine „Männlichkeit“, andererseits beschreiben die Ambivalenz von Be- und Entgrenzung im Bereich des Körperlichen, die als leistungsbezogene Extreme gestaltet werden und sich aufgrund der jeweiligen Stärken der Ehepartner gegenseitig ausbalancieren. Helmuts Körperumgang könnte dabei sowohl als Äußerung eines alten, jedoch bislang verschütteten Familienthemas verstanden werden, als auch aus einer Verunsicherung seiner männlichen Identität resultieren, die mit dem früh verstorbenen, abwesenden Vater zusammenhängt. Abgesehen davon konnte das Konfliktartige der Situation lange durch eine verbindend wirkende Distanzierung der beiden als Paar, z.B. vom familiären Umfeld, aber auch voreinander beherrscht werden. Die Doppellogik von Stabilität und Tradition einerseits sowie körperlicher Konkurrenz und Grenzüberschreitung andererseits lässt sich als Lebenspraxis der Stabilität in ausgeglichener Konkurrenz zusammenfassen. Es wird durch die Handlungsmuster Distanzierung und Leistung gesichert.

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Familie mütterlicherseits Urgroßeltern: unkonventioneller leistungsbedingter Aufstieg Der Urgroßvater väterlicherseits1 stammt aus einem kleinen Familienunternehmen in der Stahlbranche im westfälischen Giselhöhe und besucht die Volksschule. Sein erlernter Beruf ist nicht bekannt, er wird in der Familienerzählung jedoch als „Hocharbeiter“ (Martina, MTI) beschrieben. Mit der SPD gründet er die lokale KonsumGenossenschaft und wird schließlich Bürgermeister in Stahlhöhe. Nach einer ersten Ehe mit zwei oder drei Kindern heiratet er als Witwer erneut, diesmal eine Haushaltshilfe aus V-Stadt, die als Waise auch lediglich die Volksschule abschließen konnte. Die Urgroßmutter väterlicherseits gebiert ihm drei weitere Kinder. Von der Kinderschar überleben insgesamt drei. Aus eher „kleinen“, d.h. bildungsfernen und ggf. nicht so begüterten Verhältnissen stammend, erreicht der Urgroßvater durch Leistung Respektabilität als öffentlichpolitische Führungspersönlichkeit und schafft so einen für die damalige Zeit eher unkonventionellen Aufstieg über Milieugrenzen vom respektablem Volksmilieu hin zum (Bildungs-)Bürgertum. Er beweist darüber hinaus durch die Gründung der Konsum-Genossenschaft soziale Verantwortung. Durch die Einbindung in die SPD erhält diese einen stabilen institutionellen Rahmen, der zudem auf ein Gerechtigkeitsdenken schließen lässt. Da seine Frau aus dem mehrere hundert Kilometer entfernten VStadt stammt, ist es wahrscheinlich, dass er sie während eines Studienaufenthalts im Rahmen seiner Tätigkeit für die Konsum-Genossenschaft kennen gelernt hat. Insofern verweist die Wahl seiner zweiten Ehefrau wie schon sein beruflicher Aufstieg auf die Fähigkeit, Gelegenheiten erfolgreich zu ergreifen. Die Biografie der Urgroßmutter beginnt als typisch weibliche Arbeiterklassenbiografie. Mit der Wanderung von der Küste ins Landesinnere im Zuge ihrer Hochzeit beweist sie jedoch Flexibilität bzw. Entschlossenheit und durch die Meisterung eines zu Hochzeiten siebenköpfigen Haushaltes Einsatzbereitschaft. Zusammenfassend lässt sich also eine persönliche Tendenz zu unkonventioneller Flexibilität und Leistungsbereitschaft erkennt. Diese wird vermutlich gerahmt durch eine im Gegensatz dazu stabile institutionelle Gruppenidentität. Gleichzeitig ist eine Tendenz zu öffentlicher sozialer Verantwortungsübernahme zu erkennen. Generation der Großeltern: Stabilität und Krankheit Großvater Fritz’ Geburtsjahr ist unklar. Ähnlich wie bei Max Paasch liegt es vermutlich um 1910-15 herum. Er entstammt der zweiten Ehe des Vaters und beschließt, Volksschullehrer zu werden. Während des Nazi-Regimes tritt er der SA bei, was nach Kriegsende zu einem Berufsverbot führt. Als Folge schult er zum Realschullehrer für Werken und Biologie um. Anfang der 1940er Jahre heiratet Fritz Großmutter Hilde, die zu diesem Zeitpunkt bereits an einer manischen Depression mit Schwerpunkt auf depressiven Episoden erkrankt ist. 1943 kommt die ältere Tochter Bringfriede zur Welt, 1946 dann Martina als jüngere. Vor dem Hintergrund der historischen Gegebenheiten beantwortet auch Fritz die existenzielle Frage nach Sicherheit oder Aufbruch durch seine Berufswahl sowie sei-

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Familienmitglieder mütterlicherseits finden keine Erwähnung. Die Namen sind unbekannt.

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nen Beitritt zur SA mit ihrem stabilen institutionellen Rahmen mit einer Orientierung an ersterer. Der familiale Gegenpol der unkonventionellen Flexibilität wird auch hier sichtbar, jedoch in einer privatisierten Version. Zum einen zeigt sie sich dadurch, dass Fritz das Berufsverbot als Umschulungsanlass ausnutzt und sich den eigenen Interessen gemäß zum Realschullehrer fortbildet, was die Familie als Teil des Bildungsbürgertums ausweist. Zum anderen offenbart sich diese in Fritzens Partnerwahl, die in eine Liebesheirat mit zwei Töchtern mündet und damit dem modernen bürgerlichen Ehe-Modell entspricht. Im Weiteren drückt sich dieser Pol jedoch vordringlich durch Hildes manisch-depressiven Schübe, d.h. wenig konstruktiv als persönliche grenzüberschreitende Unberechenbarkeit aus. Möglicherweise als Reaktion darauf wird der Rückzug ins Private im Laufe der Ehe fortgesetzt, wobei er nicht nur Hildes Schutz gedient haben dürfte, sondern auch Fritz’ Bedürfnis nach Stabilität, was damit die Institution Familie rahmt und aufwertet. Die Einsatzbereitschaft, die in der vorigen Generation den Aufstieg fördert, entwickelt sich in dieser Generation zur Durchhaltefähigkeit. Die zuvor gezeigte Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung äußert sich nun als private Verantwortungsübernahme für Hilde. Diese nimmt die Form einer Belastungsminimierung an, die aber letztlich zur Belastung aller führt, in dem sie sämtliche Familienmitglieder zur Rücksichtnahme zwingt. Des Weiteren äußert sich unkonventionelle Flexibilität als Potenzial zur Ausnutzung sich bietender Gelegenheiten aber auch zum Chaos, während sich Stabilität auf die Familie bezieht. Diese bekannten Prinzipienpole werden jedoch neu verknüpft: institutionalisierte Stabilität wird mit emotionaler Distanzierung und Gesundheit assoziiert, personalisierte Flexibilität hingehen mit zu großer emotionaler Nähe, d.h. Grenzüberschreitung und Krankheit. Beide gilt es auszubalancieren. Generation der Eltern: die ungleichen Schwestern Die beiden Töchter Hildes müssen mit dem Phänomen der uneindeutigen, da innerlich abwesenden Mutter umgehen, das besonders dann starke Effekte zu haben scheint, wenn die Kinder in sehr jungen Jahren verlassen werden bzw. wie hier nie eine funktionierende Mutter kennenlernen (vgl. Funcke & Hildenbrand 2009). Die Erstgeborene Bringfriede entscheidet sich trotz Sprachbegabung für ein VWL-Studium und arbeitet im Anschluss als Städteplanerin in Indonesien und Bolivien. Mit 38 Jahren wird sie in W-Stadt als Regierungsrätin verbeamtet. In dieser Zeit wird sie auch als manisch-depressiv diagnostiziert. Eine Ehe mit einem Psychologen wird nach einem halben Jahr aufgrund einer sexuellen Verweigerung seinerseits geschieden. Der Name der Erstgeborenen der eher depressiven Mutter verweist auf eine Delegation, der Familie „Frieden“ zu verleihen. Da ein Kind auf haltgebende Eltern angewiesen ist und diese nicht stabilisieren kann, jedoch i.d.R. sensibel auf diese Verantwortungsübertragung reagiert, ist damit die emotionale Überforderung der Tochter angelegt. Ausbildung und Berufsausübung zeigen eine leistungsbasierte stabilisierende äußere Rahmung (VWL, Stadtplanung) einer zunächst unkonventionellen Berufskarriere (Auslandseinsätze) und damit die Kontrolle familialer Unkonventionalität durch Stabilität. Der Zeitpunkt des Ausbruchs der bipolaren Störung verweist auf ein Kippen dieser Lebensbalance durch ein Übergewicht der durch den Beamtenberuf repräsentierten Stabilität. In der Krankheit realisiert sich darüber hinaus eine Abkehr

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von familialer Verantwortung und familialem Leistungsprinzip durch die Überschreitung der Grenzen der „Normalität“. Insofern stellt die Erkrankung eine Art Selbstschutz und eine Wiederholung des mütterlichen Vorgehens dar. In ihr steckt sowohl eine „Erlaubnis“ zum Egoismus als auch ein kreativer Freiraum zum Ausagieren aller unterdrückten (familialen) Emotionen, die sich nun öffentlich grenzüberschreitend Bahn brechen dürfen. Die beobachtbare Enthemmung überfordert nicht zuletzt den Ehemann, der als Psychologe stabilisierend hätte wirken können. Das Scheitern der Ehe wie auch der Krankheitsausbruch scheinen durch die abwesende Mutter beeinflusst worden zu sein. Dieser Einfluss kann sich laut Green (1993) in einem Gefühl der Unfähigkeit, Begabungen zu nutzen und zu lieben und damit letztlich darin manifestieren, nicht als „reife Person“ Verantwortung für das eigenen Leben zu übernehmen. Dazu passt Martinas Charakterisierung ihrer Schwester Bringfriede als „im Leben ein bunter Papagei“ (MTI). Familial besetzt Bringfriede damit den Pol kreativer, überbordender und damit auch andere belastender unreifer Unkonventionalität, deren temporäre Stabilität oft behandlungsabhängig und damit von außen zugefügt ist. Krankheit ist in der Familie endgültig weiblich konnotiert. Die nachgeborene Martina ist diejenige, die ihre Mutter bei Krankheitsschüben zusammen mit dem Vater ins Krankenhaus bringt. Sie studiert Medizin, lernt dabei ihren zukünftigen Ehemann kennen und eröffnet mit ihm eine gynäkologische Gemeinschaftspraxis. Das Paar bekommt drei Kinder. Martina hat ebenfalls mindestens eine außereheliche Beziehung. Sie initiiert nach 24 z.T. konfliktreichen Ehejahren die Scheidung. In zweiter Ehe ist sie seit 2002 mit dem ebenfalls geschiedenen Anwalt und Notar Ernst-Ludwig Karg verheiratet. Martinas Handlungslogik zeigt sich bereits früh darin, dass sie ihren Vater bei der Bewältigung der mütterlichen Krankheit unterstützt. Diese Logik ist durch eine rationale und verantwortliche Bewältigung von Krisensituationen geprägt und wirkt dadurch stabilisierend. Die Tendenz zum objektiv Distanzierenden setzt sich in ihrem naturwissenschaftlichen Medizininteresse fort, in dem sie sich auch weiterhin sozial verantwortlich zeigen kann, ohne dass (familiäre) Vereinnahmung droht. In diesem Studium offenbart sich ihr Leistungs- und Statusbewusstsein, das ihr den sozialen Aufstieg ermöglicht und sich auch in ihrem Heiratsverhalten spiegelt. Die Parallelität von langjähriger Ehe und außerehelicher Beziehung sowie das geschilderte eheliche Konkurrenzverhältnis der Paaschs verweisen auf Martinas Handlungsmuster der distanzierenden und kontinuierlich-konsequenten Leistung, die besonders als Gegensatz zur Lebenspraxis ihrer Schwester ins Gewicht fällt. Sie erzielt damit emotionale Stabilität und wendet Belastungen ab, was familiale Balance und Kontinuität sichert. Hierzu passt Ursulas Beschreibung ihrer Mutter als „der sichere Fels“ (MTI). Gleichzeitig verweist die Paarbeziehung der Paaschs auf Martinas verunsicherte Weiblichkeit aufgrund des krankheitsbedingt fehlenden weiblichen Vorbildes der Mutter sowie auf ihre langjährige Unfähigkeit, aus Konfliktsituationen herauszufinden und (partnerschaftlich) zu lieben, die mit der mütterlichen Abwesenheit in Zusammenhang gebracht werden könnte. Insofern unterstützt ihre familiäre Herkunft zunächst das wahlfamiliäre Handlungsmuster der Stabilität in ausgeglichener Konkurrenz. Martina kann jedoch bei Bedarf Flexibilitätsreserven reaktivieren (Scheidung), so dass sie nicht wie ihr Vater durchhält, sondern eine begrenzte Wandlungsfähigkeit entwickelt und trotz der von ihr gewertschätzten Familie eine autonome

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Entwicklung zeigt. Im Gesamten steht sie daher für eine punktuell flexible Stabilität sowie ein „männlich-gesundes“ Verhalten. Geschwister Paasch: Ausnutzung familialer Ressourcen im LIBI-Milieu (Clara-)Stephanie Leeuwen („Steffi“) wird 1974 als erste der Geschwister geboren. Sie studiert zunächst Sonder-/Heilpädagogik in Z-Stadt, wobei in diese Zeit die Trennung ihrer Eltern fällt. Dann macht sie ein Aufbaustudium zum „Orthopedagog“ in den Niederlanden, das sie im November 2003 abschließt. Ab Beginn 2009 setzt sie ihre Studien (EU-Gesundheitspsychologie) neben einem Vollzeit-Job und ihrer Familie mit drei kleinen Kindern im Alter von ca. fünf bis elf Jahren fort. Während des Studiums in Z–Stadt lernt sie ihren späteren Ehemann und Vater ihrer Kinder, den Niederländer Gerardus Leeuwen kennen, dem sie in die Niederlande folgt. Er arbeitet als Manager in der IT-Branche. Als Erstgeborene in einer Doppelverdienerfamilie ist es wahrscheinlich, dass Stephanie bereits in jungen Jahren Verantwortung für sich und ihre Geschwister übernehmen musste. Das würde auch zu ihrer pädagogisch-psychologischen Studienwahl passen. Diese Lebenspraxis knüpft an die mütterliche urgroßväterliche Verantwortungstradition an, verweist aber zugleich auf autonome Distanzierung. Das Studium als Fortsetzungsgeschichte belegt dabei sowohl die Gültigkeit des Leistungsprinzips als auch eine Kontinuität der Entwicklung. Stephanie vereinigt damit väterliche Kontinuität mit mütterlicher Flexibilität auf der Basis der Leistungsmaxime beider Familien und kombiniert diese mit einer Autonomie fördernden räumlich-sozialen Distanzierung durch Familienbildung. Auch in ihrer offen-sichtlich stabilen Ehe kombiniert sie Tradition mit Moderne, indem sie das Reproduktionsmuster ihrer Mutter beibehält, jedoch die Paarbildung unter beruflich Gleichen und die damit einhergehende tendenzielle Konkurrenzgefährdung ihrer Partnerschaft vermeidet. Stephanie nützt verschiedene, v.a. mütterliche familiale Ressourcen zum Aufbau eines autonomen Lebensentwurfs, dessen ständige Veränderungen vor dem Hintergrund stabiler sozialer Familienbeziehung kontinuierlich in eine Richtung laufen. Dieses Handlungsmuster lässt sich als autonome Flexibilität in Stabilität bezeichnen. (Mats-)Jonas („Johnny“) wird 1977 als einziger Sohn der Paaschs geboren. Die Eltern trennen sich, als er kurz vor einem US-Auslandsschuljahr steht. Er studiert Physik und promoviert mit Auszeichnung. Jonas wohnt im süddeutschen Raum und ist 2009 noch unverheiratet. Die Trennung der Eltern in Kombination mit dem Auslandsjahr dürfte als doppelt autonomisierende Distanzierung gewirkt haben, die sich in der lokalen Distanzierung der Wohnortwahl, der rationalen des Studienfachs und der sozialen der noch nicht erfolgten Gründung einer Wahlfamilie fortsetzt. Gleichzeitig kombiniert sein klassisch männliches Studium die Tradition der väterlichen Technokratie mit dem mütterlichen Naturwissenschaftsinteresse und entwickelt beide weiter zum Berufsbild des Wissenschaftlers, wobei die mit Auszeichnung abgeschlossene Promotion auf die Gültigkeit des Leistungsprinzips hinweist. Diese Lebenspraxis lässt sich also als traditionsbasierte autonom-rationale Distanzierung zusammenfassen, betont somit die

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Stabilitätsseite familialer Handlungsmöglichkeiten und scheint der väterlichen Lebenspraxis näher zu stehen. Ursula(-Magda) („Uschi“) wird 1979 als jüngste der Geschwister Paasch geboren. Als einzige weiß sie weder vom Konflikt der Eltern noch von den außerehelichen Beziehungen des Vaters, wird im Alter von 13 Jahren von der elterlichen Trennung überrascht und wohnt danach noch auf längere Sicht zuhause. Es folgen ein Leistungsabfall in der Schule und eine wilde Partyzeit, bevor ihre schulischen Leistungen sich im Kontext eines Auslandsschuljahres erholen. Sie studiert nach mehreren Praktika Medizin und ist zum Zeitpunkt der Interviews werdende Gynäkologin. Der aktuelle Partner ist wie schon der vorhergehende ebenfalls Mediziner. Sie ist jedoch nicht verheiratet und noch kinderlos. Ursula wohnt in Bartmark und damit von allen Geschwistern am nächsten an ihrem Heimatort. Ursula erlebt die Trennung der Eltern als Bruch des stabilen Bezugsrahmens Familie, von dem sie sich nicht wie ihre Geschwister lokal distanzieren kann. Ihre pubertäre Autonomieentwicklung gerät damit zur Aufgabe in Unsicherheit, obwohl sie familial gefördert wird. Die familiale Flexibilität erscheint eher negativ. Als Strategie zur Bewältigung des verlorenen Halts greift Ursula kurzfristig auf körperliche Grenzüberschreitungen (Party) zurück, bedient sich jedoch langfristig der familialen Leistungsmaxime. In der Folge beinhaltet ihr Versuch der Entwicklung eines autonomen Lebensentwurfs lediglich geringfügige Variationen des Bekannten, so macht sie bspw. ihr Auslandsjahr im Gegensatz zu ihren Geschwistern in Brasilien statt in den USA. In ihrer Berufswahl knüpft sie an den Beruf der Eltern an, was eine aufgrund der Praktika autonom-aktive Orientierung an Familientradition und Stabilität erkennen lässt. Gleiches gilt für ihre Partnerwahl, in der sie die (imaginierte) eheliche Situation der Eltern nachstellt, sowie für die Wahl ihres Wohnortes mit seiner Nähe zum Heimatort. Da aber sowohl endgültiger Wohnort als auch Ehepartner noch nicht feststehen und auch die fachärztliche Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist, besteht auch jetzt noch eine nur bedingt als Flexibilität zu bezeichnende Unsicherheit, die dem Stabilitätsstreben entgegensteht. Ursulas Versuch, ihren Entwurf eines guten Lebens abzusichern, ist somit gefährdet. In dieser Lebenssituation ist und bleibt sie zunächst noch „die Kleine“. Dieses Muster lässt sich am ehesten als durch die Flexibilität ihrer Lebenssituation gefährdeter Rückzug in eine traditionsorientierte Stabilität beschreiben, in der immer noch die Sehnsucht nach dem verlorenen familiären Kindheitsparadies zu stecken scheint. Die Lebenspraxis der Familie Paasch zeichnet sich sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits schwerpunktmäßig durch Stabilität und Kontinuität aus, was bis ins Traditions- und Statusbewusste geht. Dieses ist mit dem Handlungsmuster der rational-autonomen Distanzierung, der Wertschätzung der Institution Familie und dem (männlich konnotierten) Gesundheitsthema verknüpft. Von mütterlicher Seite aus kommt das Potenzial der Flexibilität hinzu, die sich als Entwicklungsfähigkeit aber auch als (weiblich konnotierte) emotionale Grenzüberschreitung mit Krankheitswert äußern kann. Leistung ist dabei die generell gültige Handlungsmaxime, eine Balance der beiden Pole die Aufgabe. Das ist mit der abwägenden Orientierung zwischen sozialer Verantwortung und persönlicher Anerkennung verbunden.

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8.2.2

Die Entwicklung der Ressourcen des strukturiert-getrennten Familiensystems

Das Familiensystem Paasch lässt zwei Entwicklungsstufen erkennen, deren Übergang durch die Scheidung als nicht normative Krise hervorgerufen wurde. Vor der Scheidung: Paar- versus Geschwistergruppe In der Zeit vor der Scheidung des Ehepaars erscheint Familie Paasch in Ursulas Schilderung aufgeteilt in eine deutlich erkennbare, fast symbiotisch anmutende Paarkoalition und eine weniger deutlich ausgeprägte, auch erkennbar stärker konflikthafte Geschwistergruppe. Die Tochter Ursula erlebt ihre Eltern von außen als „das perfekte Paar“ (EI), das sowohl in Arbeit als auch Freizeit harmonische Gemeinschaft vorlebt. Frau Karg-Paasch beschreibt hingegen aus der Insider-Perspektive ein ganz anderes Bild, in dem Gefühle und Konflikte innerhalb des Paars erahnt, aber nicht besprochen werden können und zwischen den beiden ein sexualisiertes Rollenspiel mit den fixierten Rollen der „attraktiven Frau“ und dem „andere Mitbewerber ausstechenden Eroberer“ abläuft. Eine dramatische Unzufriedenheit und Überforderung Martinas ist die Konsequenz, die diese jedoch lange Zeit nicht verbalisieren kann. Daher dringt bis kurz vor der Scheidung nichts zu den Kindern durch, obwohl diese bis auf Ursula über die außereheliche Beziehung ihres Vaters informiert sind. In der Geschwistergruppe ist man sich laut Ursula zu dieser Zeit schon allein aufgrund des Altersunterschieds nicht so nahe gewesen, habe „viel gestritten, aber . gut bleibt nicht aus . aber sonst konnte ich mich schon auf die verlassen.“ (EI). Während also das Paar von außen gesehen homogen auftritt, entwickeln sich die Notgemeinschaft der Kinder in diesem Doppelverdienerhaushalt mit Kinderfrau von vornherein eher autonom: Sie haben eigene Freunde, auch eigene außerhäusliche Freizeitinteressen, brechen der Reihe nach zu einem Auslandsschuljahr auf und den Mädchen wird mit 14 von der Mutter zwar die Pille verschrieben, aber keinerlei sexuelle Erfahrungen beschränkenden Regeln auferlegt. Innerhalb von und im Umgang mit diesem Teil der Familie zeigen sich also stärker ausgeprägte Grenzen, eine eher zentripetale Orientierung, ein Ausleben von Konflikten, eine ausdrückende Expressivität sowie eine flexible Organisation der Phasenübergänge. Im Kontakt zwischen den beiden familialen Untergruppen existieren klare Loyalitäten und Generationengrenzen, was jedoch von Ursula bzw. ihren Geschwistern nicht als Mangel erlebt wird: „[Mutter, A.d.V.] hat dann immer das Gefühl gehabt, als-sie hat uns vernachlässigt!, das Gefühl hat- hatte .ich .jetzt .im: speziellen nicht und ich glaub, meine Geschwister auch nicht [holt Luft] und-öhm: m-mehr als sagen kann man ihr das nicht . wenn sie wieder anfängt und sagt ‚ja Mensch, und ich hab .kein Geburtstag von euch so richtig miterlebt‘, m: kann man auch nur sagen ‚ja m: wir fanden’s gar nicht so schlimm, wir haben’s nicht so empfunden, dass du nicht da warst‘“ (EI)

Vielmehr deutet Ursula es als erstrebenswerte Harmonie: „das, was sie [die Eltern, A.d.V.] .uns! praktisch vorgelebt haben wär das, was ich auch immer schön fand“ (EI). Die Familie selbst wird vor dem Hintergrund bspw. im Rahmen der wichtigen

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Familienfeste wie Weihnachten als „stabile Bank“ und Einheit erlebt. Dieser Eindruck wird u.a. durch die Schaffung einer eher geschlossenen gesamtsystemischen Außengrenze konstruiert, die sich bspw. durch die Minimierung gemeinsamer familialer Außenkontakte (Freundschaften über den Kreis der Familien von Helmuts Brüder hinaus, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Wohnort) zeigt. Darüber hinaus scheint die Wirklichkeitskonstruktion des Systems relativ starr, wenn auch nicht unveränderlich. Das zeigt sich im Alltagszusammenhang als Ursulas Bruder Jonas die Mandeln entfernt werden müssen, wobei auch – wie schon in Hinsicht auf das Zu-Bett-Bringen – die größere Nähe zwischen Mutter und Kindern deutlich wird: „i weiß noch zum Beispiel bei meim Bruder . öhm, der hat irgendwie immer geschmatzt beim Essen und so und irgendwann! ist meine Mamma mit ihm mal zum- zum HNO-Arzt gegangen . und der meinte nur ‚ja, mh, (1?) Arztkinder, ganz typisch, die Mandeln hätten schon vor nem halben Jahr! raus gesollte‘“ (EI)

Diese Art der Wirklichkeitskonstruktion bestätigt sich im Rahmen der erste Krebserkrankung der Mutter, die sie weitestgehend ohne die Unterstützung ihres Ehemannes „bewältigt“. Es belegt zugleich die Kennzeichnung des Familiensystems durch das elterliche Subsystem mit seiner Konfliktvermeidung, starren Wirklichkeitskonstruktion, den fixierten Rollenbildern und der fehlenden emotionalen Expressivität, das die Erkrankung für die Kinder nur ganz begrenzt erfahrbar macht. Letzteres spiegelt sich wie folgt in Ursulas Erinnerungen: „da weiß! ich gar ni- ds .ham se glaub ich ziemlich f- .wech gehalten von mir, da weiß ichklar!, da war se dann im Krankenhaus! und-öhm, wir ham uns alle ganz doll gefreut, als sie Weihnachten dann wieder da! war und-öh, aber viel mehr weiß ich da gar nicht so zu . öhm, und dann war auch eigentlich alles soweit-öh in Ordnung!“ (EI)

Das Krebsgeschehen bestätigt die Zweiteilung des Familiensystems und lässt Schlüsse zu seiner Leitdifferenz zu: Grundlegend wirken die systemimmanenten Ausschlüsse, Fixierungen und Distanzierungen für die individuellen Mitglieder vereinzelnd, was die Chance zur (begrenzten) Autonomie der einzelnen Familienmitglieder bzw. der Subgruppierungen beinhaltet und gleichzeitig das System als Ganzes stabilisiert, da keine systemgefährdende Information veröffentlicht wird. Andererseits beinhaltet diese Konstellation die Gefahr des potenziell zerstörerischen Zwangs-Outings, was im Rahmen der ersten Krebserkrankung auch tatsächlich durch die manischdepressive Bringfriede als Vertreterin anderer Krankheiten in der Familie eingebracht wird, aber just aufgrund ihres psychischen Zustands entschärft werden kann. Dieser sich als unvermeidlich erweisende Kontakt verdeutlicht zugleich das Verpflichtende von Familie als zugeordneter unkündbarer Gruppe. Aufgrund der familialen Konstellation und unter Berücksichtigung der üblichen elterlichen Definitionshoheit ist das Familiensystem als Gesamtheit in dieser Zeit daher auf der Ebene der Kohäsion als verbunden und auf der der Adaptabilität als strukturiert bis rigide zu bezeichnen, wobei die Paarbeziehung eindeutig rigide-verstrickt ist, während die Geschwisterseite mehr in Richtung strukturiert-getrennt tendiert.

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Abbildung 20: Familiensystem Paasch ausgehend vom Bild der bürgerlichen Familie

Familie von Andreas

Familie von Walter

Bringfriede, geb. 1943

Martina, geb.1946 Helmut, geb.1940

Familie von Manni

Steffi, geb. 1974

Johnny, geb. 1977

Uschi, geb. 1979

Allerdings verdeutlichen gerade die Krebskrise und die darin liegende Unterbrechung des Alltäglichen für Mutter Martina, wie unzumutbar diese Paarbeziehung ist. Sie entwickelt bereits an dieser Stelle Trennungswünsche, die sie sechs Jahre später in Zusammenhang mit der zweiten Brustkrebserkrankung in die Tat umsetzt. Der Wandel zweiter Ordnung wird folglich durch die die routinisierte Lebenswirklichkeit unterbrechende Kapazität der Krebserkrankung katalysiert. Diese Trennung wird jedoch durch die genannten Systemkennzeichen erschwert und von den Kindern, speziell von Ursula als Überraschung erlebt: „das [Trennung, A.d.V.] kam eigentlich für uns Kinder relativ öhm: aus heiterem Himmel“ (EI). Nach der Scheidung: das strukturiert-getrennte System Durch das sukzessive Aufbrechen dieser geradezu verknöcherten Paarbeziehungsstruktur (erst Scheidung, dann Auszug aus der Gemeinschaftspraxis, schließlich zweite Ehe mit Ludwig unter Beibehaltung einer freundschaftlichen Beziehung zum Ex-Mann) und im Zuge ihrer Therapie wandelt Mutter Martina ihre Lebenspraxis und damit die Familie in Richtung eines strukturiert-getrennten Systems. Ihr ExMann Helmut verändert sich hingegen nicht, sondern ersetzt die alte Familie durch eine sehr ähnliche neue. Er wandert damit im System Paasch in eine randständige Position, während Mutter Martina zum matriarchal anmutenden Zentrum vielfacher familialer Beziehungen avanciert.2

2

Vertikal gesehen rückt seine Herkunftsfamilie aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit, während ihre fortgesetzt wichtig, bzgl. Bringfriede sogar unvermeidlich bleibt. Da durch den BRCA-Test jedoch keine eindeutig betroffenen Vorfahren identifiziert werden können, ändert sich nichts an Martinas Sicht ihrer Familie, die die männliche Linie als erfolgreich betont, während die weibliche als krank markiert und vernachlässigt wird. Paradoxerweise wird diese Zuordnung durch eine evtl. betroffene Ahnin der väterlichen Linie noch betont, die die Wichtigkeit derselben unterstreicht, ohne diese eindeutig zu pathologisieren.

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Die praktische Erfahrung und Konsequenz dieses Familiensystems lässt sich für die jüngste Tochter Ursula geradezu prototypisch anhand der folgenden Situation darstellen: Eine Freundin der ältesten Tochter Stephanie merkt nach einem Besuch bei den Paaschs dieser gegenüber an, sie habe den Eindruck, Ursula ginge es nicht gut und es wäre doch vielleicht gut, wenn diese ausziehen würde. Stephanie findet den Eindruck zutreffend und schlägt dies Ursula vor. Diese stimmt der Idee zu, hat jedoch Angst, es ihrem Vater zu sagen. Daraufhin meint die Mutter: „weißte was, man muss manche Dinge im Leben regeln, auch selbst . ich setz mich dazu, aber du musst es sagen, ich bin da! . wenn de nicht mehr kannst“ (MTI). Bei dem Gespräch teilt sie dann trotz großem Kloß im Hals ihrem Vater ihren Auszugswunsch mit, während die Mutter still daneben sitzt. Der Vater gibt ihr nonverbal zu verstehen, dass er diesen Wunsch nicht gut heißt, woraufhin sich Ursula „ganz, ganz schlecht gefühlt“ hat. Sie zieht zur Mutter, woraufhin der Vater zusammen mit seiner neuen Frau ihr Kinderzimmer im Laufe einer Woche ausräumt und Ursulas Hoffnung, sie habe dann beide Zuhause, sich nicht erfüllt. Nun ist es offenbar möglich, innerhalb der neuen „Rumpffamilie“ Gefühle anzusprechen und anzunehmen. Konflikte selbst werden sichtbar und auf eine pragmatisch-strukturierte Weise gut gelöst. Die Konsequenzen sind vorhersagbar, eine zentripetale Orientierung wird unterstützt (in dem Sinn, dass der Wechsel zur Mutter Ursulas Situation entlasten dürfte). Die Wirklichkeit wird damit insgesamt veränderund gestaltbar. Stabilisiert wird das System zugleich durch den bewussten Einsatz der Mutter, d.h. Martinas Da-Sein für ihre leiblichen Kinder, was Belastungen zumindest abmildert. Im Gegensatz dazu bringt der Vater diesen Einsatz nicht und enttäuscht dadurch Ursulas Hoffnung, was ihr Verhältnis zu ihm belastet. Gerade im Umgang mit der BRCA-Diagnose als Entscheidungskrise offenbart sich das horizontale, erfahrbare Familiensystem erneut in aller Deutlichkeit. Die Bereitschaft zur geschwisterlich-gemeinschaftlichen Testteilnahme-Entscheidung, der individuelle bzw. wahlfamiliär beeinflusste Umgang mit den Daten (z.B. im Rahmen einer individuellen weiteren Informationssuche), die Möglichkeit der sachlichen Diskussion präventiver Konsequenzen im Rahmen von als „Telefonkonferenz“ (EI) bezeichneten Gesprächen zwischen Ursula und Stephanie bzw. Martina inklusive der Chance zum kontrollierten Aussprechen von Angst-Gefühlen, die halboffenen Grenzen nach innen und außen durch diese Einfluss-, aber auch Rückzugsmöglichkeiten unter Beibehaltung klarer Generationengrenzen, indem bspw. die Mutter als Vorbild, aber auch Angehörige einer anderen Generation konstruiert wird – all dies festigt das aus Ursulas Perspektive strukturiert-getrennte Familiensystem. In ihrer Familienrepräsentanz nehmen der Vater wie auch die Geschwister für Ursula eher punktuelle, fast schon instrumentelle Rollen ein, während die Mutter die wichtigste Vertraute „so aus der Familie“ ist, mit der sie „über’s Meiste“ (beide EI), jedoch nicht über alles reden kann. Auf der horizontalen Ebene hat sich das Personal der erlebten Herkunftsfamilie somit nicht verändert, wohl aber ihre relative Position zueinander. Diese familiale Entwicklung betont die systemische Leitdifferenz der Autonomie und die damit einhergehende Zielorientierung, die ausgerichtet ist auf eine begrenzt relational stabilisierte Autonomie ihrer Mitglieder durch kontrolliertdistanzierte Belastungsvermeidung.

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Abbildung 21: Familiensystem Karg-Paasch nach Scheidung und erneuter Heirat

B O

S

U

N J

H

M EL

J

8.2.3

Das transgenerational-familiale Potenzial der Grenzüberschreitung

Das Familiensystem Paasch besitzt neben seiner offensichtlichen strukturiertgetrennten Qualität auch eine Tendenz zur Grenzüberschreitung bzw. Verstrickung. Hier ergänzt sich ein transgenerationales Potenzial aus Martinas Herkunftsfamilie mit dem Paarverhalten von Helmut und Martina zu einer familialen „Ressource“, deren Übergriffigkeit am sichtbarsten in Bezug auf weibliche Körperlichkeit realisiert wird. Begründet wird das Potenzial herkunftsfamilial durch das Verhalten von Martinas Vater: „Vater hat immer gesagt ‚ja, du bist kein fraulicher Typ, du musst schön lernen und deinen Beruf machen, deine Schwester wird mal heiraten, aber du bist ja kein fraulicher Typ, also-öh such dir nen Beruf auf f- der ne Erfüllung für dich ist‘, kann man seiner Tochter auch nicht sagen“ (Martina, MTI). Der Vater konstruiert hier ein Bild seiner Tochter als einsamer Wolf, dessen Zuflucht in beruflicher Leistung liegt. Diese Einsamkeit wiederum begründet er durch einen körperlichen Makel, nämlich eine minderwertige körperlich-präsentierte Weiblichkeit, die er auf eine als grenzverletzend erlebte Art vermittelt. Das hat zwei Folgen: Zunächst erwächst daraus eine doppelte Unsicherheit – einerseits bzgl. der weiblichen Potenz, andererseits bzgl. zulässiger Körperaussagen, d.h. sprachlicher Körpergrenzen – die Frau Karg-Paasch als Hypothek begleitet. Des Weiteren vermittelt der Vater seiner ehrgeizigen und disziplinierten Tochter Martina eine doppelte Delegation – eine positive bzgl. Arbeit, eine negative bzgl. Weiblichkeit – womit ein doppelter Bewährungsraum von Arbeit und Beziehung/Familie aufgespannt wird. Dadurch wie auch durch die der mütterlichen Erkrankung geschuldete allgemeine Deprivation in ihrer Herkunftsfamilie – O-Ton: „ich: wurde so begrenzt in meinen Möglichkeiten und in meinen Wünschen“ (MTI) – wurden Martinas Entwicklungsräume beengt und fixiert. Durch diese Festschreibung wird zudem eine „Konkurrenz der gegensätzlichen Schwestern“ geschaffen, die als „Konkurrenz der gegensätzlichen Krankheiten“ eine Renaissance erleben wird. Die Konkurrenz erneuert sich in Martinas Ehe mit Helmut, wobei sie auch an dieser Stelle die Arbeitsame ist, die auf einen „körperlich überlegenen Gegner“ trifft.

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Die Situation gestaltet sich in der Bilanz ausgeglichen, wobei Frau Paasch jedoch an dem sexualisiertes Rollenspiel mit den o.g. Rollen leidet: „sexuell war er sehr agil, und ich eigentlich auch, aber er öhm-öhm er war ein Typ, der in Swinger-Clubs gehen wollte, ohne meinen Willen! [raue Stimme] musste ich mitmachen, auch inseriert für n zweiten Mann, dann kamen plötzlich irgendwelche Leute an, ich war abgearbeitet, kam abends um 20 Uhr aus der Praxis, hab die Kinder ins Bett gebracht und sollte dann um 22 Uhr noch irgendwo in einen Club fahren und ich bin vor die Hunde gegangen“ (Martina, MTI)

Dieser in der Übergriffigkeit fixierte Zustand mit seinem transaktionalen Regelkreis aus Arbeits- und Sexsteigerung verweist auf eine verunsicherten Männlichkeit Helmuts und bestätigt die Martina bereits in der Herkunftsfamilie vermittelte doppelte Unsicherheit in Bezug auf selbstbestimmte weibliche Körperlichkeit. Gerade die Wahl des Fachgebiets Gynäkologie dürfte diese (beiderseitige) Unsicherheit weniger überwunden als vielmehr zementiert haben. Hierfür sprechen z.B. Zeichen der Identifikation zwischen Martina und ihren Patientinnen, bei denen erstere letzteren vor einer Krebsoperation ihre operierte Brust zeigt, um durch das gute kosmetische Ergebnis Mut zu machen, mit denen die Grenze der Professionalität überschritten wird. Der Zustand führt zwar schließlich zur bekannten Scheidungskonsequenz, lässt jedoch die familiale Zielorientierung der begrenzt relational stabilisierte Autonomie ihrer Mitglieder durch kontrolliert-distanzierte Belastungsvermeidung dann zur echten Aufgabe werden, wenn das Thema der Körperlichkeit ins Spiel kommt, da in diesem Augenblick ein Abgrenzungsproblem entsteht. Als zuvörderst weiblich konnotiertes macht es sich zunächst im Bereich der Sexualität bemerkbar: „U: immer total offen [Umgang mit pubertären Körperveränderungen, A.d.V.], also .n bisschen zu offen für meinen Geschmack […] F: mh, ja, sie sagen zu offen! inwiefern? . U: nja . ach .. öhm-si sie erzählt halt .gern auch-n: . so’n: . ja .. ach einfach so Dinge, die ich jetzt m-m- . a:uch über Sexuelles, wo ich! sagen würde ‚Mensch . das ist jetzt Mutter-Tochter, da .passt das nicht so rein, du lass mal‘ F: also über: ihre Sexualität, die/ U: jaja, oder fra-, hat auch gefragt und so, aber das-öh .haben wir glaub ich alle sehr schnell abgeblockt [gluckst] .weil da muss man mit seiner Mutter ja nicht unbedingt drüber reden“ (EI)

Im Beispiel wird die Generationengrenze deutlich überschritten. Das beinhaltet eine Überforderung, die von Kinderseite aus nur durch eine völlige Blockade abgewendet werden kann, die nicht nur aktuell, sondern auch zukünftig Wirkung zeigt bzw. zeigen kann. So lässt sich wohl auch erklären, warum Ursulas ältere Schwester Stephanie über ein Jahr lang das Einsetzten ihrer Menstruation verschwiegen hat, die erst dadurch ans Licht kam, dass kein Schlüpfer mehr im Schrank war: „alles, was eben blutig war, hat sie zusammen geknüsselt irgendwo versteckt“ (Martina, MTI). Es erscheint möglich, dass Frau Karg-Paasch ihre eigene körperlich-sexuelle Überforderung an dieser Stelle an ihre Kinder in gewisser Weise weitergegeben hat. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der familialen Perpetuierung körperlichgeschlechtlicher Verunsicherung. Diese Grenzerfahrung macht sich folgerichtig mitt-

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lerweile im Rahmen der BRCA-Thematik bemerkbar. Zunächst einmal nehmen sowohl Ursula als auch Stephanie die gynäkologische Vorsorge bei ihrem Vater wahr, was beinahe inzestuös wirkt. Des Weiteren trägt das herkunftsfamiliäre Ringen um Ursulas Brust übergriffige Züge, wie im folgenden Beispiel sichtbar ist. Ursula benennt hier das Stillen als Grund für den Aufschub der prophylaktischen Mastektomie. Daraufhin entspannt sich der folgende Mutter-Tochter-Dialog: „M: nur das Stillen! Ich hab ja gestillt, Steffi hat auch lange gestillt, wir beide sagen ‚das kann’s nicht sein, das man en Risiko für sein Leben eingeht, nur um dieses > stillen! zu haben‘ >U: ja, aber , aber/ . ihr habt die Erfahrung auch gemacht . M: das kann aber- .ja – U: es ist leicht zu sagen ‚ja, kannste drauf verzichten‘ . [gluckst] das ist/ M: ja gut, > beim ersten Kind hab ich ja nicht gestillt, das ging nicht, die war zu gelb und de>U: [das is es nicht nur?, geht in Martinas Rede unter] de-der Junge, der war so gefräßig, der war so dystroph, der kriegte dann zwischendurch heimlich in der Klinik die Flasche und dann hat das auch nur sechs Wochen angehalten mit’m Stillen und dann hab ich bei ihr dann voll en halbes Jahr gestillt äh, nach meiner Methode! und hab mich damit befasst un dann ging’s auch mit’m stillen, äh, Steffi sagte auch ‚wer weiß, ob sie überhaupt stillen kann, dann hat se womöglich gewartet und gewartet, um da zu stillen – U: ja. aber darum geht’s ja nicht, das ist einfach mM: nur ich meine, dass wäre- der Verzicht auf’s Stillen! wäre jetzt .in unsern Augen! > nicht >U: hja [halb gestöhnt] das Wesentliche, ne . äh .. U: das ist es aber auch nicht nur jetzt“ (MTI)

Die Intervention der Mutter lässt sich – nicht zuletzt ausgehend vom familialen Verantwortungsmotiv – zunächst einmal als Unterstützungsversuch auffassen, der aber sehr schnell Martinas eigene Agenda offenbart. Die immanente Gefahr der übergriffigen Situation betrifft folglich zunächst die Autonomie Einzelner, wobei von einer Person ausgehend andere Personen involviert und dadurch belastet werden, was letzten Endes das familiale System als Gesamtheit trifft. Das zeigt sich im Kontakt mit der Mutter v.a. dann, wenn diese wie im obigen Beispiel versucht, eine Eltern-KindKoalition aufzubauen (Bezug zu Stephanie), was laut Circumplex-Modell (vgl. Schneewind 1999) kennzeichnend für die Verwischung innerer, generationaler Familiengrenzen und damit für ein verstricktes Familiensystem ist. Gerade die Dimension der Bezogenheit stellt im Familiensystem der Paaschs folglich eine ambivalente Größe dar: Einerseits bieten Beziehungen Rückhalt und Unterstützung und damit das Fundament, auf dem sich die Person selbst (er-)finden kann. Andererseits gefährden sie genau diese autonome Individualisierung und müssen daher in ihrer Reichweite durch Distanzierung eingeschränkt werden. Der verstrickte Ansatz existiert folglich neben den o.g. Merkmalen des strukturiertgetrennten Familiensystems und fordert dieses bisweilen heraus.

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8.3 D EUTUNGEN

VON K REBS UND K RANKHEIT ZWISCHEN INDIVIDUELLER UND RELATIONALER E NTWICKLUNG (C1)

8.3.1

Die zwei Deutungsmuster von Krebs: Beziehungsdruck und Risiko

Das relationale Druck-Deutungsmuster bemüht Martina Karg-Paasch im Rahmen der ersten zwei Krebserkrankungen. Sie beschreibt es wie folgt: „zeitweilig hab ich gedacht, ich hab den-äh [Krebs, A.d.V.] gekriegt, weil ich ähm: mh . mich immer etwas überfordert hab, bis zum Umfallen gearbeitet hab […] und ich kam dann abends hoch äh und wusste nicht mehr, ob ich Männchen oder Weibchen war, ne […] je mehr Probleme ich mit meinem Mann hatte ähm: ich hab den an die .Wand gearbeitet […] ich hab dann .immer bewiesen! durch meine .Arbeitskraft .Leistungsfähigkeit, dass ich toll! bin . und ich glaube, ich hab ihn letzten Endes . öhm . auch getroffen damit . und dann hat er mich glaub ich in sexuellen Dingen unter Druck gesetzt . das war seine Waffe […] und ich hab immer gedacht .mit noch mehr schaffen, noch mehr übernehmen und noch mehr Belastung ich wollte sogar vier Kinder haben, ne, ich wollte immer mehr .beweisen, dass .ich .toll bin“ (Martina, MTI)

Krebs wird hier im Rahmen eines hydraulisch anmutenden Modells verstanden: Der ständig steigende Beziehungsdruck, den Frau Karg-Paasch vor allem als Partnerin im Rahmen einer Leistungskonkurrenz mit ihrem damaligen Ehemann selbst mit aufbaut, soll durch die als Ventil fungierende Krebserkrankung abgebaut oder zumindest außer Kraft gesetzt werden. Das zeigt sich in ihrer Reaktion auf die Krebserkrankung: „da war ich fast erleichtert, ich hatte Recht und jetzt . hab ich mein Karzinom und: darf auch mal schwach sein“ (MTI). Dieses Verhalten basiert auf einer Krise des Selbst, die möglicherweise als Folge der abwesenden Mutter auftritt und als Bedürfnis des Nachweises, toll zu sein, ausgedrückt wird. Sie stützt Frau Karg-Paaschs Präsentation als leistungsstarke „Taffe“ (MTI), offenbart jedoch in ihrem Scheitern die Rollenhaftigkeit derselben: Die Hoffnung auf Anerkennung wird nicht nur nicht erfüllt, sondern führt eher noch zu einem Verlust des Selbst, da sie grundlegende identitäre Gewissheiten gefährdet (Geschlecht, letztlich auch Partnerschaft). In der Logik dieser Argumentation muss aus einer entspannenden Entwicklung der Beziehungssituation eine Verminderung des Erkrankungsrisikos folgen, das sich durch „privates Glück“ quasi in Nichts auflöst: „dann hab ich geh- zweite Ehe öhöhm hab ich zweites Mal geheiratet im August, war sehr überschwänglich! und sehr: .gut drauf . und hab gedacht, dir kann nichts mehr passieren, ich war einfach persönlich so glücklich [holt Luft]“ (Martina, MTI). Das dritte Mammakarzinom macht diese Konstruktion zunichte, so dass zunächst ein Deutungsvakuum entsteht, das als umfassende Deutungs- und Handlungsverunsicherung die gesamte Lebenswirklichkeit Martinas inkl. ihres professionellen Selbst in dieser traumatischen Krise erschüttert. Über ihr eigenes erfolgreiches medizinisches Handeln gewinnt schließlich ein zweites, bislang im Hintergrund bestehendes Deutungsmuster die Deutungshoheit. Es handelt sich hierbei um das naturwissenschaftlich-medizinischen Risikofaktoren-Deutungsmuster. Es beinhaltet das Verständnis einer körperlichen Vulnerabilität, deren Aktualisierung als Krebs von per-

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sönlichen Verhaltensentscheidungen (zu Lebensstil oder medizinischen Empfehlungen) abhängt. War das zuvor eine allgemeine Gefährdung von Hautzellen durch zuviel Sonneeinstrahlung, die zu Gewebeveränderungen führen kann, wie im Fall der Melanome, so rückt nun die DNA-Sequenz ihres BRCA1-Gens als dauerhafter körperlicher Risikofaktor ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So ordnet sie bspw. die Bildung des Rektalkarzinoms gemäß dieses Deutungsmusters ein und folgert daher: „des Rektumkarzinom, ja hat ich en Polyp nicht entfernen lassen halt, durch mangelnde Aufklärung . nicht ernst genug genommen es schneller zu entfernen, ne“ (MTI). Das wieder hergestellte Vertrauen in das von ihr als „lebensrettend“ eingeordnete medizinische Wissen und die eigene professionelle Kompetenz ermöglicht ihr, den infolge des Karzinoms unterbrochenen Kontakt zu ihren Patientinnen zumindest dann wieder aufzunehmen, wenn sich ein familiäres Krebssyndrom andeutet. Im Vergleich zeigen beide Deutungsmuster eine aktive Beteiligung Martinas am Entstehen von Krebs: Im ersten Fall steigert ihr Leistungsverhalten den Beziehungsdruck, im zweiten ist es ebenfalls sie, die die ggf. krebsauslösenden Verhaltensentscheidungen trifft. Allerdings zeigt sich auch, dass sie nie alleine verantwortlich ist: Gemäß dem ersten Deutungsmuster besteht eine soziale Abhängigkeit – d.h. Krebs besitzt hier eindeutig eine Beziehungskomponente – während die zweite Lesart eine biologische Abhängigkeit suggeriert. Der Wechsel der Deutungsmuster verweist damit dem Anschein nach auf eine Zunahme sozialer Selbstbestimmung, da Martina ihre Vulnerabilität allein auf die ihr eigene (Entscheidungs- bzw. biologische) Potenz zurückführt, wiewohl damit der „Preis“ einer erhöhten biologischen Abhängigkeit verbunden ist, da die DNA-Sequenz einen permanenten nicht eliminierbaren Risikofaktor darstellt. Tatsächlich erfährt Martina jedoch gleichzeitig eine Rückbindung an ihre Kinder, so dass der Begriff „soziale Selbstbestimmung“ differenziert werden muss. Während diese sich auf der Ebene der Partnerschaft vergrößert, sinkt sie gleichzeitig auf der Ebene transgenerationaler Verbindungen. Beide Deutungsmuster antworten damit auf eine krebsbedingte Gefährdung des Selbst in Beziehung. Während das erste Deutungsmuster das Selbst in der Partnerschaft fokussiert, bezieht sich das zweite auf das Selbst in der professionellen Begegnung. Gleichzeitig beinhaltet letzteres einen double bind, in dem professionelle Begegnungen zwar ermöglicht, zugleich aber die Position des Selbst im Generationenverband auf Dauer gefährdet wird. Nichtsdestotrotz liefern die Deutungsmuster Werkzeuge zur Gefahrenüberwindung und öffnen den Blick für eigene Handlungskompetenzen, mit denen Leben gestaltbar wird. Das Geflecht von Vulnerabilität und Selbstbestimmung spiegelt sich im Krebsverständnis. 8.3.2

Krebs: stigmatisierender Entwicklungskatalysator selbstbestimmten Lebens

Martina betrachtet Krebs als körperlich realisiertes Stigma, das sie in der Konkurrenz auf dem Beziehungsmarkt benachteiligt, da es ihr herkunftsfamiliär bereits herabgesetztes Weiblichkeitspotenzial als „Beziehungskapital“ gefährdet: „ich: hab

mich stigmatisiert gefühlt, ich hatte einen Makel! . das war für mich .ne Minderwertigkeit […] ich f-fühlte mich e- empfand mich als Zumutung für einen Partner […] für’n neuen! Partner“ (Martina, MTI).

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Ausgehend von ihrer medizinisch-professionellen Sicht der Erkrankung wird Krebs zudem als chronifiziertes „Grundproblem für mich“ verstanden, mit dem sie „behaftet [war], mein Leben lang“(MTI). Zugleich konzipiert sie die Auseinandersetzung mit dem Krebs als eine Art Konkurrenz um ihr physisches Leben, die sie jedoch notgedrungen verlieren muss. So setzt die Aussage „ich dachte ‚du kannst! nicht oft genug untersuchen, du wirst einfach eingeholt von einem Karzinom, wo du drandann irgendwann dran sterben musst‘ weil’s so schnell wachsend war“ (MIT) eine Krebsdiagnose letztlich mit einem unvermeidlichen, jedoch nicht genau terminierten Todesurteil gleich. Krebs wird zum Schicksal. Dieses Ringen um ihr Leben besitzt jedoch eine wesentlich umfassendere Bedeutung, in der Krebs zum Katalysator selbstbestimmter Lebensaneignung wird: „ja, ich seh’s [den Krebs, A.d.V.] so’n bisschen als schicksalsmäßige Belastung für’s Leben, die man aber . äh: .. ja, mit der man aber auch leben kann, ich sag ja nicht, das man sie jetzt beherrschen kann! und-und überleben kann! öh . oder zwangsläufig überleben muss!, sondern äh . dass das n: .Aufgabe ist, sich damit zu befassen!, dass das ganz wichtige ist, sich nicht unterkriegen zu lassen, in dem man sich wesensverändert, indem man . äh .depressiv wird, den Kopf hängen lässt und sich dem Schicksal öh .nur .beugt!, sondern dass man . aktiv öh: . was dazu tun kann, sich nicht zu verändern, sondern positiv zu denken und sein! Leben zu leben und weiterzuleben und dass man sich nicht .vereinnahmen lässt durch das Karzinom . das-öh dass man aber Chancen hat, damit zu leben und gut! zu leben, und dass es auch irgendwo ne Chance ist, das Leben auch-öh: . mal anders, von ner anderen Warte zu sehen und-öh Chancen auch zur Veränderung, find ich auch“ (Martina, MTI)

Der ambivalente Krebs beinhaltet als traumatische Krise eine Veränderung der Perspektive, aus der eine notgedrungene Lebensveränderung erwächst, womit sich das „nicht nicht reagieren können“ des Krisentyps zeigt. Hierbei verweist das Schicksalhafte der Krankheit auf ihr sowohl positives wie auch negatives Potenzial, dessen Verwirklichungsrichtung jedoch auf einer eigenen Entscheidung beruht. In Martinas Fall vollzieht sich eine Umdeutung von einer negativen zur positiven Lesart, den sie in ihrer Aussage nachvollzieht. Zunächst wird Krebs negativ als „Belastung“ eingeführt: Das Leben ist nun nicht mehr unbehindert, was aufgrund des schicksalhaften Charakters zu akzeptieren ist. Gleichzeitig besteht die Pflicht, Krebs als Aufgabe, als Herausforderung anzunehmen und sich mit dem Unvermeidlichen zu konfrontieren. Dieses beinhaltet zunächst eine Art Abwehrkampf gegen eine mögliche fatalistische Resignation in der die Gefahr der Wesensveränderung und damit der Übernahme des Ichs durch den Krebs, sprich einer Art „Zwangsveränderung“ des Selbst liegt. Als implizite Zumutung droht der totale Kontrollverlust bzgl. der eigenen Persönlichkeit, der nicht nur die eigene Lebensgestaltung betrifft, sondern auch den Tod, der damit auch Teil der Lebensgestaltung wird. Das belegt auch ihre implizite Bereitschaft zur Selbsttötung bei zu großer Belastung für sich und andere. Die Auseinandersetzung mit dem Krebs ist somit ein aktives Ringen um eine selbstbestimmende Kontrolle von Leben und Tod, worin sich bei Martina bereits die letztlich gültige Wendung zum positiven, nämlich zur aktiven Meisterung der KrebsHerausforderung ankündigt. Die krisenhafte Perspektivenveränderung wird in dieser Lesart als Chance zur veränderten Welt-/Lebenssicht verstanden, die aus dem übli-

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chen System herausreißt und eine Neubestimmung des Lebens einfordert und ermöglicht, die nicht (nur) der Abwehr, sondern der Gestaltung dient. Krebs wird dann als Entwicklungskatalysator eines selbstbestimmten Lebens und einer Ich-Stärkung gesehen, die trotz der Akzeptanz des Vorhandenseins einer Belastung existieren. 8.3.3

Krankheit als soziale Zumutung und deren regelhafte Begrenzung

Die Dimension der Belastungskontrolle sowie die sich daraus ergebende Definition von Krebs können jedoch erst im Kontrast zur anderen Familienkrankheit, der manisch-depressiven Erkrankung, voll erfasst werden, da hier die soziale Dimension ergänzt wird, die sich in den Deutungsmustern als Gefährdung des Selbst in Beziehung angedeutet hat. „öh als- das Manisch-Depressive ist für die Mitmenschen .fatal, ganz schlimm, also meine Kinder, mein Mann und mein jetziger Mann öh . die haben in mir irgendwie n Partner Lebenspartner, der öhm .einschätzbar ist wie er sich verhält und-öh öh lebensfähig ist . das ist bei meiner Schwester nicht . also die ist schon . oft so hilflos und-und-öhm .. dadurch oft auch so lästig und .ungeliebt, ne […] sie ist ausgeliefert! […] und meine Mutter, die ist ja best- das ganze Leben ist bestimmt worden, auch das Leben meines Vaters […] ja, das körperliche, da kann man mit leben und kann sich drauf einstellen und damit leben, aber mit dem Psychischen äh . ja ne find ich kein Leben ne [leise]“ (Martina, MTI)

Frau Karg-Paasch konstruiert diese beiden Erkrankungen ganz offensichtlich als Gegensätze, die sodann als unterschiedlich schwerwiegend hierarchisiert werden. Manische Depression wird zuvorderst als ‚sozial-übergriffige‘ (d.h. sozial-unverträgliche) Krankheit verstanden. Eine merkbar belastete Person wird mit dieser Belastung identifiziert, d.h. stigmatisiert, und damit selbst zur Belastung für ihre Herkunftsfamilie, weil diese sich ihrer familiären Sorgepflicht nicht entziehen kann. Wenn die Krankheit einer Person auf diese Art die Familie bestimmt, wird die Familie jedoch auch bestimmend für die kranke Person, d.h. die Abgabe der Selbstkontrolle in der Krankheit führt zur familiären Abhängigkeit der kranken Person. (Zwangs-)Bezogenheit ersetzt Autonomie. Dies zerstört gleichberechtigte und schafft hierarchische (Zwangs-)Beziehungen, die nicht mehr freiwillig und emotional positiv begründet sind, sondern auf der Sorgepflicht als empfundener (Grenz-)Verletzung der Gegenseitigkeit basieren. Diese Beziehungsausformung geschieht vor dem Hintergrund einer Deutung der manischen Depression, die diese als gestaltungsresistent beschreibt: Sie ist assoziiert mit hilflosem Ausgeliefertsein und Passivität bzgl. der Kontrolle des eigenen Wesens und einer damit einhergehenden Unfähigkeit der konsequent-kontinuierlichen Lebensgestaltung. Aus der Unfähigkeit der Selbst- und Lebenskontrolle wird eine fehlende Lebensfähigkeit abgeleitet, die zur familiären Intervention führt. Damit führt die manische Depression zu einer Art doppelter Wesensveränderung bei der betreffenden Person, die sowohl das eigene als auch das Wesen emotional-naher Beziehungen betrifft. Als derart umfassendes „Leiden ohne Ende“ (Martina, MIT) verhindert sie laut Frau Karg-Paasch das echte, d.h. selbstbestimmte Leben aller Beteiligten, wird daher als völlig unerträglich erlebt und wirkt letztlich die „Betroffene“

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stigmatisierend. Dieses selbstbestimmte Leben wird als „Gesundheit“ gelesen und mit der familialen Passing-Aufgabe der Selbstbestimmung verbunden, bei deren Nicht-Erfüllung Stigmatisierung und Refamilialisierung droht. Aus diesem Verständnis der manischen Depression heraus entwickelt Martina Karg-Paasch eine Gesundheitsregel, die das Potenzial besitzt, sowohl die betreffende Person zu aktivieren als auch die zugehörige Familie zu entlasten: Kontrolliere deine (gesundheitliche) Belastung, damit du andere nicht belastest und fremdbestimmt wirst! D.h.: Kontrolliere dich, damit du nicht kontrolliert wirst! Ein dieser Regel folgender Umgang mit Krebs beinhaltet die Chance der aktiven Bewältigung sowie Selbstbestimmung und kann katalytisch die wesensmäßige Selbstwerdung unterstützen. Ein so verstandener Krebs kann daher trotz ihrer immanenten Todesdrohung zur Förderung von Autonomie und Individuation beitragen. Insofern handelt es sich um eine ‚sozial-abgrenzende‘ (d.h. sozial-verträgliche) Krankheit, da sie Selbständigkeit fördert statt zerstört und bestehende Beziehungen nicht oder nur ganz am Ende temporär belastet, sich evtl. sogar förderlich auf diese auswirkt. Auch in dieser Handlungsweise liegt jedoch eine (doppelte) soziale Zumutung verborgen: Zunächst einmal wird die reale Anerkennung des nicht stigmatisierten Körpers evtl. einer potenziellen Anerkennung als „ganzer Person“ vorgezogen, was die Bedeutung der Körperoberfläche als repräsentatives Kapital in dem Moment verstärkt, wo sie ggf. durch die Krankheit stärker als sonst beeinträchtigt ist. Das kann sich als verunsichernd und damit kontraproduktiv im Sinne der selbst gesteuerten Kontrolle des Lebens erweisen. Darüber hinaus erfordert Martinas aktive Umgangsweise mit dem Krebs, soziale Opfer zu bringen: „ich bin: ds-m [Krebs, A.d.V.] aktiv! angegangen .bis zur letzten Konsequenz und dazu gehört das äh st:ärkste! für mich eben Verlassen meines Mannes […] ist für mich auch irgendwo was ganz Schlimmes!“ (MTI). Zunehmende Selbstbestimmung geht demnach in beiden Fällen auf Kosten von Verbundenheit und steigert evtl. Gefühle der Einsamkeit und Überforderung. Im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch beim dritten Mammakarzinom und den nachfolgenden Karzinomen kommt es zu einer endgültigen Verschiebung, die Martina mit der bedingungslosen Annahme ihres zweiten Ehemanns, d.h. dem Verlust der rollenförmigen Beziehung in Verbindung bringt. In der Entwicklung dieser Beziehung ist neben Teilen der alten Gesundheitsregel auch eine ausgleichende Belastungstauschlogik gültig, bei der sie es zulässt, dass ihr faktischer Krebs mit seiner möglichen familialen Disposition verglichen wird. Dieses Vorgehen relativiert die mit der Belastungsveröffentlichung verbundene Fremdbestimmungsgefahr und macht die Veröffentlichung erträglich: „dann kriegte er ja die beiden Melanome noch mit und […] .war ganz ersch:rocken, wie groß die Schnitte waren […] aber dann sagte er auch ‚ja, du weißt ja auch nicht, was ich in mir trage, ich bin Raucher und wer weiß, ne, Vater ist an Lungenkrebs gestorben, ob ich nicht auch, irgendwas schon in mir trage, jeder hat sein: . sein Päckchen zu tragen‘“ (Martina, MTI)

Es kann folglich eine Entwicklung hin zur „sozialen Öffnung“ von Krebs konstatiert werden: Aus der sozial abgrenzenden wird eine begrenzt sozial verbindende Krankheit, wobei die Öffnung auf die Paarebene beschränkt bleibt und auf eine korrespondierende Entwicklung des Familiensystems verweist.

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Martinas Krebsgeschichte erweist sich als von Krebs geförderte persönlichprofessionelle Befreiungsgeschichte hin zur Entwicklung eines lebenswerten, da selbstbestimmten Lebens. Diese Entwicklung hat bei Martina zu einer Wesensentfaltung geführt. Insofern handelt es sich um die Geschichte einer De- und ReStabilisierung des Selbst, bei der sich Martina von einer leistungsorientierten Rollenträgerin nicht zuletzt aufgrund eines identitären Zusammenbruchs und Wirklichkeitsverlustes hin zu einem autonomen Selbst entwickelt hat, das selbstbestimmt in einer partnerschaftlichen Beziehung lebt und auch davon getragen wird. Beziehungs- und Krebswahrnehmung haben sich parallel entwickelt, Zufriedenheit in der Beziehung und Akzeptanz der potenziellen Krebsbelastung entsprechen sich. Damit verbunden ist eine mehrheitlich akzeptierende Sicht auf Vergangenheit und Zukunft: „bisschen Fatalist bin ich geworden […] soll manches im Leben so sein […] ohne mich geht die Welt nicht unter mehr“(MTI). Das Leben wird in der Folge auf einer „von-Tagzu-Tag“-Basis gemeistert, bei der das bislang – auch als Paar – Erreichte gewertschätzt werden kann. Auch Gesundheit wird damit als Tagesform wahrgenommen. Das Ergebnis wird von Martina als „ich bin bei mir irgendwo angekommen“ (MTI) zusammengefasst. Die soziale Zumutung des dritten Mammakarzinoms liegt nunmehr auf der Ebene der Mutter-Tochter-Beziehung, was sich aus der generationenübergreifenden Logik des „Gendefekts“ (MTI) ergibt. (Potenzieller) Krebs wird hier notgedrungen zur sozial übergriffigen Krankheit, bei der das Gebot, niemand anderen zu belasten, nicht eingehalten werden kann. Das realisiert sich in Martinas Versuch, die konsequente Abwendung der Gesundheitsbelastung durch eine prophylaktische Mastektomie Ursulas zu forcieren, um die einschränkende Belastung aller Beteiligten zu verhindern. Die Zumutung für Mutter Karg-Paasch liegt somit nun darin, ihren Töchtern eine Belastung zuzumuten. Das zeigen ihre vererbungsbezogenen Schuldgefühle, die nicht ins medizinisch-wissenschaftliche Selbstbild zu passen scheinen: „das [positives Testergebnis der Töchter, A.d.V.] hat mich unheimlich .. belastet, Schuldbewusstsein hatte ich Schuldgefühle ganz! massiv . ich wusste ja nun vorher, was damit zusammenhängt, aber äh .ich fühlte mich .so von meiner Erbmasse her, also, dass ich den Kindern das zugemutet hab, das: .äh Erbe mitzu:tragen, dass hat mich . mehr! umgeworfen, als. alle meine Krankheiten“ (Martina, MTI)

Hier deutet sich eine zweite „präventive“ Gesundheitsregel an: Kontrolliere andere, um nicht selbst belastet zu werden. 8.3.4

Krankheit als medizinisches (Be-)Handlungsproblem

Neben einer Handlung erfordernden Deutung als soziale Zumutung werden Krankheiten wie Krebs als „simple“ medizinische Probleme angesehen – eine Sicht, die Martina im Zuge der De- und Re-Professionalisierung während des dritten Mammakarzinoms festigt. Demnach sind Krankheiten und medizinische Informationen relativ undramatisch betrachtete, selbstverständliche Teile des Alltags und werden gemäß der Regel „Tu, was medizinisch geboten ist!“ behandelt. Die Regel setzt eine konfrontative Leistungsorientierung voraus und verhindert, im Angesicht medizinischer Risiken „den Kopf! in den Sand [zu] stecken“ (EI). Hinter dem entemotionali-

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sierenden Moment der medizinischen Intervention verschwinden Krisen, was deren distanzierenden Charakter sowohl von krebsbedingter Todesangst als auch fremdbestimmender Belastung offenbart. Hier spiegelt sich der identifikatorisch wirksame Hintergrund der Arztfamilie, deren Mitglieder „typischerweise“ eher zu spät zum Arzt gehen, und mit einem entsprechenden Vertrauen in medizinische Maßnahmen aufwachsen bzw. operieren. Die medizinische Gebotsregel beinhaltet im Spezialfall des Krebses einen Schwerpunkt auf die möglichst frühzeitige, bevorzugt prophylaktische Entfernung krebsgefährdeten Gewebes, wie Martina sie in Bezug auf ihre bislang gesunde Brust und Eierstöcke anstrebt. Die Bestimmung des medizinisch Gebotenen orientiert sich dabei an einer „Alles oder Nichts“-Regel sowie an statistischen Risikozahlen, was auf die Gültigkeit des zugehörigen Deutungsmusters verweist. Vor dem Hintergrund der Gebotsregel sowie allgemeiner Merksätze für prophylaktische Operationen bei bekannter BRCA-Variation – Risikosteigerung ca. zehn Jahre vor dem ersten Krebs in der Verwandtschaft sowie allgemeine Erhöhung des Brustkrebsrisikos um das 30., des Risikos für Eierstockkrebs um das 40. Lebensjahr – ergibt sich angesichts von Martina als Vorbild ein BRCA-Lebensentwurf als Verhaltensrichtlinie, den Ursulas Schwester Stephanie umsetzt. Stephanie hat ihren anfänglichen Versuch, sich durch informationelle Abschottung zu distanzieren, zugunsten des alternativen Handlungsmusters der konfrontativen Leistungsorientierung in Form prophylaktischer Operationen aufgegeben. Angesichts des mütterlichen Rektalkarzinoms als letztem der gehäuften Krebsvorfälle 2003/04 hat sie sich mit 33 Jahren zu einer prophylaktischen Mastektomie entschieden und plant die prophylaktische Ovarektomie um ihren 40. Geburtstag ein. Darüber hinaus nimmt sie Früherkennungsuntersuchungen wahr. Ihre Familiensituation als verheiratete Mutter von drei Kindern stützt diese Entscheidung, da sie ihre Kinderplanung unbeeinträchtigt vom Krebs abgeschlossen hat, die noch kleinen Kinder zu Operationen motivieren und ihr Mann sie „nicht verlieren“ (Martina, MTI) möchte und die Entscheidung im Gegenzug daher bejaht. Hier bestätigt sich die Wichtigkeit von familiären Beziehungen für die Selbstentfaltung des Individuums. Die Krebsangst kann Stephanie so zwar nur beruhigen und nie endgültig beseitigen – das Element des Vorläufigen, potenziell nicht Abschließbaren der Daueraufgabe BRCA bleibt bestehen – jedoch gilt sie aufgrund dieses Settings gesamtfamiliär als „beruhigt“ (Martina, MTI) und damit als „relative Gewinnerin“ der BRCA-Lotterie: „der Kleine! [Sohn, A.d.V.] ist jetzt irgendwie anderthalb? [fragend], wird bald zwei, und-öhm, sie hat einfach gesagt, sie hat sich so viele Gedanken gemacht, dass s-sie .den nicht mehr aufwachsen sieht, soviel Angst gehabt öh, eben vor ner mh vorm: Mammakarzinom, dass sie gesagt hat ‚das möchte ich jetzt nicht mehr‘ und dann .hat sie sich eben öhm, prophylaktisch beide Brüste .abnehmen lassen .und n Aufbau! machen lassen ja, und . ich glaub, jetzt ist sie ganz .zufrieden damit“ (EI)

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8.4 C OPING : ZUNEHMENDE S ELBSTANNAHME IN DER L EBENSANEIGNUNG (X1) Das erste Mammakarzinom behandelt Martina zunächst medizinisch-objektivierend, womit sie sich von dessen traumatischer Potenz distanziert. Das entspricht dem Ansatz, den sie von ihrem Vater gelernt und in der Konkurrenz mit der Schwester zur konsequent und kontinuierlich geleisteten Selbststeuerung als grundlegender Antriebskraft ausgeformt hat. Diese Distanzierung wird allerdings zweimal durchbrochen, zunächst durch die überfordernde Arbeitsdelegation des Ehemannes, sodann durch die kollegiale medizinische Fehldiagnose als „hoffnungsloser Fall“. An dieser Stelle wird aus der vermeintlichen Entscheidungs- eine traumatische Krise, an der sowohl Martinas Identität als Medizinerin als auch als Partnerin unabwendbar in Frage gestellt und ihre Bedürfnisse als Person jenseits des Rollenhaften aberkannt werden. Da sie jedoch bislang sowohl an eine fordernde Konkurrenz sowie an körperbezogene Übergriffigkeit im Rahmen der verstrickten Paarkoalition als Selbstbestätigungsquelle gewöhnt war, bemerkt Martina zwar die Überforderung, hat jedoch keinen alternativen Lebensplan. Entsprechend ihrer Selbststeuerungsmaxime erwägt sie in diesem Moment doppelter Überforderung eine Selbsttötung, indem sie ihr Auto eigenhändig an einen Baum fährt. Damit hätte die Todesvariante die Form eines absolut individualisierenden Belastungsumgangs im Sinne der ersten Gesundheitsregel angenommen. Sowohl die belastenden aktuellen Forderungen des Ehemannes als auch die Belastung einer finalen Krebserkrankung wären abgewehrt worden. Die Tat wird durch den Gedanken an die kleinen, die Mutter brauchenden Kinder verhindert. Damit wird der familienzyklische Stand der Wahlfamilie zur Ressource, aus der eine diese stabilisierende soziale Verantwortung spricht. Martina folgt somit dem Handlungsmuster ihres Vaters. Aus dieser rettenden Lebensschuldigkeit der Mutter ihren Kindern gegenüber könnte Martina darüber hinaus evtl. eine Lebensschuld abgeleitet haben, welche die filiale Überlebenssicherung als mütterliche Pflicht betont. Der Verweis auf die Kinder wie auch die Zurücknahme der hoffnungslosen Diagnose erlauben es Martina, zur distanzierenden Haltung und steuernde Kontrolle einer Entscheidungskrise zurückzufinden. Es gelingt ihr, den Krebs so in das Alltagsleben des Paares, der Familie und der beruflichen Praxis einzufügen, dass er für andere quasi unsichtbar wird, während sie selbst versucht, alles zu überblicken und mittels der Verwendung der ersten Gesundheitsregel stabil zu halten. Das BedrohlichTraumatische wird von ihr damit aus der Situation soweit als möglich entfernt, so dass hier eher von einer Angleichung und Einpassung des Krebses in das gewohnte Leben als von einer Anpassung des Lebens an den Krebs gesprochen werden kann. Krebs ist damit in diesem Fall zwar von vornherein mit dem doppelten Bewährungsfeld Arbeit und Partnerschaft/Familie verbunden, das Martina durch ihre Herkunftsfamilie aufgegeben wurde. Sein krisenhaftes Potenzial im Sinne des „Einbruch[s] in die Stagnation des Werdens“ zeigt sich jedoch zunächst als Bewusstwerdung einer Lebenssituation, nicht in deren Veränderung. Noch regiert demnach das familiale Primat der Stabilität über die Chance zur Veränderung, was – gerahmt durch den Verweis auf soziale Verantwortung – wohl auch darauf basiert, dass Zusammenbruch und plötzliche Trennung als eine an Schwester und Mutter gemahnende Wesensver-

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änderung wahrgenommen worden wären. Die Infragestellung der Paarbeziehung ist jedoch unumkehrbar, was sich auch dadurch äußert, dass Martina Krebs in der Folge als chronische Belastung fürs Leben versteht und damit medizinisch verbrämt die Herausforderung ihrer Wirklichkeit verbalisiert, hinter die sie nach der Erkrankung nicht mehr zurück kann. Bedingt durch die zunehmend als übergriffig empfundenen sexuellen Forderungen des Ehemanns, deren Belastung durch seine „Entlastungsgeliebten“ und deren impliziter Anerkennungsverlust durch ihre(-n) Liebhaber nur begrenzt kontrolliert und ausgeglichen werden können, wird der durch Krebs sichtbar gewordene Riss in der partnerschaftlichen Stabilitätsfiktion letztlich so groß, dass Martina sich sechs Jahre später zur Scheidung entschließt. Durch die langjährige Unzufriedenheit, mit dem Negativbeispiel der herkunftsfamiliären Einschränkung und dem Ende der Erziehungspflicht bzgl. ihrer (fast) erwachsenen Kindern vor Augen kann sie schließlich die Schwelle zum Wandel zweiter Ordnung überschreiten und ihr familiales Flexibilitätspotenzial im Sinne einer Anpassung als Ausgang aus der partnerschaftlichen Krise ausnutzen. In dieser auf der Partnerschaftsebene bereits traumatischen Situation des „brennenden Haus[es]“ (MTI) entdeckt sie ihr zweites Mammakarzinom. Nun wiederholt sich das o.g. Muster: Nach außen verhält sie sich entsprechend der ersten Gesundheitsregel sowie medizinischer Erfordernisse und behält dadurch die distanzierend-steuernde Kontrolle. Das erlaubt es ihr, das Karzinom als nahezu ungefährlich darzustellen, es in zumindest Ursulas Augen neben der Partnerschaftskrise verschwinden zu lassen und für sich lebensangleichend zu instrumentalisieren. Die Krebserkrankung wird so zur flexibilitätssteigernden „Exit-Strategie“, mittels derer sich Martina konsequent aus dem verstrickten gemeinsamen Leben mit Helmut verabschiedet. Damit bleibt sie sich auch in der Trennung treu und wehrt so manisch depressive Verdachtsmomente ab. Im Hintergrund tauscht sie zum einen lediglich den Konkurrenten aus: Das Karzinom ersetzt als „einholende Gefahr“ ihren Ehemann, kann jedoch dessen Anerkennungspotenzial kaum ersetzen. Zum anderen reaktiviert sie die Selbsttötungsfantasie, was die tatsächliche traumatische Belastung der kumulierten Krebskrise verdeutlicht, die nur durch das drastische Szenario des an den Baum Fahrens als selbstbestimmtem letzten Ausweg beherrscht werden kann. Befreit von der Erziehungspflicht wirkt sich der familienzyklische Entwicklungsstand nun weniger bremsend als vielmehr förderlich auf ihren Ausstieg aus. Soziale Verantwortungsgefühle für die Familie realisieren sich hingegen in der fixen Idee des fingierten Unfalls, der die Kinder posthum versorgen soll. Dieser Gedankengang dürfte eine Entschuldigung für den mütterlichen Suizid als belastender Schwäche repräsentieren, hinter dem ein Schuldgefühl bzgl. der Scheidung und der Priorisierung der eigenen Bedürfnisse durchschimmert. Hier handelt es sich um ein theoretisches Ringen zwischen familialen und persönlichen Bedürfnissen, das schließlich zugunsten letzterer entschieden wird. Neu ist an diesem Punkt, dass Martina zwar ihre Entscheidungen in gewohnter Weise alleine trifft, jedoch einen Psychologen aufsucht, der sie bei der Trennung unterstützen soll. Sie tauscht also auch die Position des Vertrauten aus, der die Aufgabe erhält, sie einem Feuerwehrmann gleich zu retten. Die Wahl eines Professionellen und Nicht-Familienmitglieds erlaubt es ihr dabei, die Fremdbestimmungsdrohung außer Kraft zu setzen, die sie herkunftsfamiliär bedingt mit öffentlicher Schwäche und Belastung verbindet. Der Psychologe hilft Martina, ihre Selbstdistanzierung und

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-stigmatisierung zu überwinden. Das zeigt sich u.a. darin, dass sie die Fantasie des Selbstmords zugunsten der Familie aufgeben und sich trotz ihres „Krebsmakels“ auf eine neue Beziehung einlassen kann. Beides enthält eine Tendenz zur Selbstannahme, welche die von anderen zugeführte Anerkennung sowie die Tradition der sozialen Verantwortungsübernahme unwichtiger macht. Die Kraft zur Therapie dürfte zunächst aus der aufgestauten kombinierten Krebs- und Familienkrise sowie längerfristig aus Martinas konsequenter Leistungsbereitschaft stammen, während das Bedürfnis hierzu auf die herkunftsfamiliale Deprivation zurückzuführen sein dürfte. Gleichzeitig erweist sich die sukzessive Befreiung aus der einengenden Beziehung zu Helmut aufgrund des Beziehungsdruck-Deutungsmusters als Ressource, mit deren Hilfe Martina ihr Leben selbstbestimmt gestalten kann – eine Ressource, die durch die neue Beziehung und anschließende zweite Heirat noch an Bedeutung gewinnt. Offensichtlich hat Martina nun einen Entwicklungspunkt erreicht, an dem sie einen Partner wählen kann, mit dem die Beziehung zwar nicht reibungslos verläuft, jedoch Auseinandersetzung möglich ist und sie das Gefühl hat, sich verwirklichen zu können – möglicherweise auch, weil das konkurrierende Moment im Bewährungsfeld Arbeit wegfällt. Hier scheint sich die vorherige Rollenförmigkeit in eine diffuse Beziehung zurückzuverwandeln. Vor dem Hintergrund der lebenszyklischen Entwicklung ihrer Kinder als befreiender Bedingung kann Martina folglich soziale Verantwortung gegen eine Anerkennung ihrer eigenen Bedürfnisse eintauschen. Durch den Aufbruch rigider Strukturen schafft sie es somit, das strukturiert-getrennte Patchwork-Familiensystem mit seiner Zielorientierung der begrenzt relational stabilisierte Autonomie seiner Mitglieder zu etablieren, das Martina Raum zur selbstverwirklichenden Entwicklung lässt. Zudem kommt im Rahmen dieser neuen Beziehung in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den malignen Melanomen eine Belastungsaustauschlogik zur Anwendung, welche die Angst vor der Fremdbestimmung und damit die Notwendigkeit der selbststeuernden Kontrolle und Stigmaverheimlichung vermindert. Die grundlegende Bereitschaft zur Öffnung lässt eingedenk ihrer Herkunftsfamilie darauf schließen, dass Martinas Bedarf an Fremdbestätigung gesunken, ihre Selbstannahme hingegen gestiegen ist. Im Hintergrund wirkt ihr medizinisches Deutungsmuster mitsamt des damit verbundenen Glaubens an die medizinische Kontrollierbarkeit von Krebs stabilisierend und gleicht damit die flexible restliche Entwicklung aus. Das dritte Mammakarzinom bewirkt als traumatische Krise den kompletten Zusammenbruch dieser Lebenskonstruktion und damit ihres bislang aufgebauten, damit verflochtenen Selbst, da der Krebs sich weder als medizinisch nach relational kontrollierbar erweist. Er fordert damit beide Deutungsmuster heraus. Krebs outet sich daher im umfassenden Sinne als Lebensgefahr für Martina. Sie ist nun gezwungen, eine Anpassung an den Krebs und damit eine neue Lebenswirklichkeit sowie ein angepasstes Selbst zu konstruieren, mit dem sie das bislang geleistete familiale Passing erneut erfüllen kann. Um diese Herausforderung anzugehen, aktualisiert sie stabilisierende Ressourcen: Zum einen zählt hierzu die Akzeptanz und Unterstützung durch ihren zweiten Ehemann, der sie selbst im Stadium größter Unattraktivität und damit als Person nicht Oberfläche – zu der Zeit, als sie nur eine Brust hatte und noch keinen Aufbau – annimmt sowie unterstützt. Zum anderen reaktiviert sie handelnd ihre professionelle Kompetenz, indem sie ihr intuitives Unbehagen ob der vielen Mammakarzinome in sich als medizinisch berechtigt erweisende Forderungen umwandelt.

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Diese medizinisch-distanzierende Strategie der Belastungsabwehr kann sie auch im Umgang mit weiteren Krebsfunden als Teile der kumulierten Krebskrise aufrecht erhalten. Das belegt, dass ihre Grundantriebskraft der konsequent und kontinuierlich geleisteten Selbststeuerung als Ressource intakt ist und letztlich durch diesen Erfolg gestärkt wird. Für sich mag sie die erste Gesundheitsregel durch eine begrenzte soziale Öffnung nivelliert haben, das gilt jedoch nicht unbedingt für den Umgang mit ihren BRCA-positiven Töchter. Hier dominiert ihre soziale Verantwortung, was dazu führt, dass sie sich – gestützt auf die Tradition der Grenzüberschreitung – der präventiven Gesundheitsregel bedient, um ihren Einfluss geltend zu machen. Hintergrund dieses Verhaltens ist Martinas eigenes überwältigendes Schuldgefühl, „dass ich den Kindern das zugemutet hab, dass: .äh Erbe mitzu:tragen“ (MTI), was als Einstiegsthema dazu dient, die Umgangsweise der Töchter mit dem BRCA-Resultat zu diskutieren, die wiederum dazu dienen soll, Martina zu entlasten. Sie vermittelt somit die Alternativlosigkeit ihrer ursprünglichen belastungskontrollierenden Herangehensweise zur Abwehr eines fremdbestimmenden sozialen Einflusses. Durch die erfahrene und sich selbst vermittelte Anerkennung kann Martina die traumatische Krebskrise (fürs Erste) überwinden. Das sichert ihre Selbstverwirklichung sowohl in der Partnerschaft als auch in der professionellen Begegnung und stärkt ihre Identität. Das Selbst im Generationenzusammenhang der Familie bleibt hingegen BRCA-bedingt gefährdet. Hier zeigt sich das fortgesetzt existente Spannungsfeld der Persönlichkeitsentwicklung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im familialen Zusammenhang. Gleichzeitig weist die Entwicklung auf das Grundproblem hin: das Ringen um bedingungslose Anerkennung und einen selbstbestimmten Lebensentwurf jenseits der Belastung anderer, die zu erlangen Martinas Lebensziel darstellen. Mittlerweile scheint sie dieses Ziel jedoch aus eigener Kraft weitestgehend erreicht und ein entsprechendes Leben stabilisiert zu haben.

8.5 D IE G ENKRISE

DER

T OCHTER U RSULA P AASCH (A2)

Ursulas Erleben der mütterlichen Krebserkrankungen fällt recht vage aus: Sie besitzt lediglich eine marginale Erinnerung an die erste Brustkrebserkrankung ihrer Mutter. Das zweite Mammakarzinom wird gar nicht erinnert. Erst die sich in den Jahren 2003/2004 häufenden Krebserkrankungen erlebt Ursula bewusst mit, ohne jedoch Diagnosen und Zeitrahmen korrekt wiedergeben zu können. Es entsteht der Eindruck einer überwältigenden Gefahr, die zwar nur Martina direkt betrifft, der sich Ursula aber auch nicht (mehr) entziehen kann: „U: jetzt vor .2-3 Jahrn! war das dann-öh, dann hatte sie nochmal auf der anderen Seite nochmal n Karzinom […] hat sich dann auch operieren lassen und Chemo und dann ist noch ne-öh, m- hat sie sich ihrn- die Ovarien: wechnehmen lassen un da war dann auch noch! was drin, was Bösartiges, und dann-öhm, kam noch malignes Melanom, das war einfach alles irgendwie ganz viel .dann . so in einem Schub! irgendwie […] F: […] in welchem Zeitraum ist das alles so: so komprimiert passiert? U: na, so anderthalb Jahre . das ging dann alles: schön, immer wenn man grad! sich so’n bisschen erholt! hat und-öh dachte ‚naja, jetzt: ist erstmal en bisschen beruhicht‘ dann kam wieder was Neues“ (EI)

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Hier konzentriert sich die krebsbezogene Krisenkumulation, die Martina über die Jahre erlebt hat, auf eine relativ kurze Zeitperiode. Durch das massierte Auftreten greift die mütterliche traumatische Krise des krebsbedingten Zusammenbruchs mit ihrer charakteristischen Todesangst auf die Tochter über und verschärft sich hier, da Ursula sowohl das Leid der Mutter als auch deren drohenden Tod als mögliche normative Entwicklungskrise des familialen und eigenen Lebenszyklus passiv aushalten muss. Das geschieht vor dem Hintergrund der relativ stabilen, wenn auch allgemein entwicklungsintensiven Studienphase sowie eines starken Vertrauensverhältnisses zwischen Mutter und Tochter. Beides wirkt sich wohl im Sinne eines pile-up intensivierend auf das Erleben der krisenhaften Ereignisse aus. In diese traumatische Periode fällt der Übergang von der Krebs- zur Genkrise durch die Diagnose der Mutter als BRCA1-positiv. Diese veranlasst Ursula zusammen mit ihren beiden Geschwistern, um den Jahreswechsel 2003/04 ebenfalls einen BRCA-Test in Anspruch zu nehmen. Die aus der mütterlichen Diagnose abgeleitete eigene Testmöglichkeit wird von Ursula als Entscheidungskrise präsentiert, wobei sie als angehende Medizinerin den Wert von Gen-Wissen als unvermeidlich, aber handhabbar betont – eine Charakterisierung, die „realfatalistisch“ erscheint. Dem Wissen kommt mithin die Funktion eines Werkzeugs zur Gestaltung einer Zukunft zu, die von Ursula trotz ihres strukturellen Realismus als belastungsfrei imaginiert wird: „man geht ja immer davon aus, dass .man selber nicht betroffen ist“ (EI). Sie hofft folglich darauf, die „überspringende Krebskrise“ aktiv abwehren zu können und rahmt die Inanspruchnahme des Tests wohl auch daher als alternativlos. Das spiegelt sich in Verhandlungen mit ihrer Schwester: „U: meine Schwester wollte sich eigentlich erst nicht testen lassen . F: mhm, warum? . U: ja, weil sie Angst hatte, dass es positiv sein könnte, dann haben wir eben lange drüber geredet und ich hab .eben gesagt .d-, was ich auch meinte, dass das mehr so’n: den Kopf! in den Sand stecken ist und-öhm, so kann ich wenigstens aktiv was dagegen tun oder zumindest .Prävention machen, schön zu-öh zur Vorsorge gehen und so . öh, weil ich mein, wenn ich’s hab, hab! ich’s, ob ich das jetzt weiß oder nicht, also ds .Ergebnis ist ja dasselbe“ (EI)

Während Jonas negativ getestet wird, outet der Test Ursula und Stephanie (auch vor der Familie) als BRCA-positiv. An dieser Stelle enthüllt die vermeintliche Entscheidungskrise ihr traumatisches Potenzial. Ursula wird von der akuten Krise überrascht, die sich darauf gründet, dass sich nicht nur die in das Gen-Wissen gesetzte Hoffnung auf Befreiung von der genetischen Krebsgefahr und damit von der überführten Krebskrise nicht erfüllt, sondern die Belastung ihrer Zukunft durch das von ihr mit Krebs verknüpfte Todesurteil vielmehr in aller Deutlichkeit zu Tage tritt. „[U holt Luft] also ich m-n- ich-öh hätte nicht gedacht, dass es mich so mitnimmt . also ich war schon-n: . also ich b:in auch erstmal nach Hause gefahren, da war’s auch noch ok und dann nwar mein Freund da und dann bin ich ihm auch in die Arme gefallen und hab angefangen zu heulen . also das hat’n . auch wenn man das denn so liest! und öh m-ja is ja .Lebenszeitprävalenz 80 Prozent! und es sind da einfach schon hohe Zahlen! . und-öh . doch, ja-öh-wie ich hab das jetzt auch noch manchmal (1?) grad wenn ich jetzt .zur Vorsorge fahr oder so, das-öh, ist schon: klar, d- im Hinterkopf hat man immer ‚ja, is schon nichts, is schon

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ok‘ und ‚du bist so jung, da . passiert da jetzt nichts‘, aber-öh . also Gedanken macht man sich schon . so Angst, schlaf ich auch immer schlecht vor“ (EI)

Damit erlebt sie in der BRCA-Krise im kleinen, wahlfamiliären Rahmen das, was ihrer Tante Bringfriede passiert und in der Familie als verpönt gilt: eine selbstbestimmungsminimierende Wesensveränderung, welche die Erfüllung der familialen Passing-Aufgabe und damit den Aufbau eines eigenen Lebens(-entwurfs) erschwert. In der Folge informiert sich Ursula durch einen Vortrag Frau Prof. Fröhlichs dosiert über BRCA/HBOC, was das zukunftsgefährdende Gen-Wissen und die zugehörige Belastung einzuhegen hilft. Des Weiteren fasst sie zusammen mit ihrer Schwester Stephanie den Beschluss zur prophylaktischen Mastektomie, womit die beiden die Planlosigkeit der akute Krise überwinden und sich auch gegenseitig stabilisieren. Allein dieser Beschluss soll bereits das Passing als fortgesetzt selbstbestimmt garantieren. Die jüngere Schwester spricht mit Kolleg_innen und ihrem Vater über mögliche Operationstechniken und zieht darüber hinaus in Erwägung, zur Klärung der Operationsfrage einen Psychologen als jemanden zu kontaktieren, „der nicht [...] aus der Familie ist“ (MTI). Das weist auf die Herkunftsfamilie als ergänzende Belastung hin. Die Ältere realisiert den Beschluss angesichts des Rektalkarzinoms Martinas und der damit reaktualisierten, auf sie übertragenen Todesangst: „als ich dann ein halbes Jahr später das Rektumkarzinom hatte: da hat Steffi gesagt ‚das halt ich nicht mehr aus, jetzt reicht’s mir, dieses: dieser-diese Akrobatik auf dem-öh Seil, ich lass mich operieren‘“ (Martina, MTI). Diese Umsetzung der Amputationspläne bringt Ursula mit Stephanies familialer Situation in Verbindung, die von der aktuellen „Gesamtbilanz“ her an Martina erinnert: verheiratet mit einem sie wertschätzenden Mann und Mutter dreier Kinder. Beide prophylaktisch Operierten stehen damit an ähnlich stabilen Punkten ihrer persönlich-familialen Entwicklung, die den Umgang mit der Krebs- bzw. Genkrise fördern. Zudem bestätigt Stephanie auch verbal Martinas Krebsumgang. Sie vermindert damit zugleich deren vererbungsbezogene Schuldgefühle und entlastet Martina „offiziell“, indem sie ihre Mutter als Vorbild und damit als Quelle der Stärke, nicht der Belastung präsentiert: „Steffi war- hat das in die Worte gekleidet ‚Mutti, wir haben alles bei dir so mitgekriegt und du hast das so toll geschafft alles, obwohl! Du das nicht wusstest, dass du belastet warst und hast das auch öh im Moment bis jetzt noch überlebt öh für uns das ne Chance zum Leben!, dass wir’s wissen‘“ (Martina, MTI)

Stephanie erscheint somit als herkunfts- sowie wahlfamiliär abgesichert und medizinisch „beruhigt“ (Martina, MTI), wodurch sie ihr Leben wie geplant weiterführen kann. Allerdings kann auch sie sich nur temporär dem Sog der BRCA-Diagnose entziehen (s.o.). Als unverheiratete und kinderlose Frau sieht sich Ursula im Vergleich zu ihrer Schwester in Bezug auf eben diese familialen Ressourcen und daher auch bzgl. der Lösung der prophylaktischen Mastektomie als „noch nicht so weit“ (MTI). Die Genkrise als mögliche Zukunftsgefährdung weist somit auf Ursulas postadoleszenten Entwicklungsstandpunkt der jungen Erwachsenen mit fortgeschrittenen, jedoch unabgeschlossenen Bewältigungskarrieren hin. Dieser wird durch das Gen-Wissen zur

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ontologischen Krise, weil er eben nicht die Zukunft darstellt, vor deren Hintergrund gesundheitliche Krisen bislang bei den Paaschs „bewältigt“ wurden und die auch Ursula für sich imaginiert hat. Hier zeigt sich deutlich das Entzeitlichende als Teil der Genkrise, in der ein vergangener Krankheitsumgang und imaginierte Zukünfte im traumatischen Hier und Jetzt der Krise zu einer Art großen Gegenwart zusammenfließen und verhandelt werden müssen. Die Genkrise enthüllt ihre zukunftsbezogene Lebensentwurfsgefahr, die den Unterschied zur Krebskrise mit seiner auf das aktuelle physisch-soziale Leben bezogenen Gefahr markiert, und das „Leben im Futur“ der geplanten Mastektomie nach Abschluss der Kinderplanung als eine Art Vision des belastungsfreien Lebens auf Dauer stellt. Allein der Weg dahin ist unsichtbar, ein Entwicklungsvakuum entsteht: „also im Endeffekt m-öh, ist mir das auch ganz klar, dass ich mich operieren lasse!, ne, ich hab da schon en Problem mit, das auf jeden Fall, ich weiß auch nicht was für ne OP und . da gibt’s halt tausend Möglichkeiten, was für’n Aufbau man da wählt ähm, also da öhm .brauch ich auch noch en bisschen Zeit, hab ja jetzt wie gesagt auch en neuen Partner […] der Partner davor hat ja praktisch m- von von Anfang an alles mit.gehabt, ja […] das ist was ganz anderes, wenn sich das so entwickelt, als wenn man dann sagt, ‚öh ja du, ich hab da übrigens so’n Gendefekt‘“ (Ursula, MTI)

Ursulas Krisenlandschaft besteht demnach aus einer auf dem Mitleiden am mütterlichen Krebs aufbauenden Genkrise, die als auslösender und in der Folge verstärkender Faktor des Entwicklungsvakuums wirkt, als das sich die ontologische Krise manifestiert. Beide werden durch weitere familiale, ontologische und medizinische Bedingungen verstärkt. Imaginierte Gesundheits- und Beziehungsentwicklung behindern und ergänzen sich zu einer latenten traumatischen Krise im Entwicklungsvakuum. Auf der ontologischen Ebene ist die Realisierung des Ideals der stabile Partnerschaft mit Nachkommen bis 2009 nicht absehbar, was jedoch ohne das Gen-Wissen eher als üblich denn als krisenhaft eingeordnet werden würde. Das beruht z.T. auf Ursulas Berufseinstieg im Rahmen einer Ausbildung zur Fachärztin für Gynäkologie und dem damit verbundenen Umzug in eine neue Stadt, in dessen Folge sie eine stabile Beziehung zu einem (Ex-)Kommilitonen beendet und eine neue mit einem aktuellen Kollegen begonnen hat, dessen Familienpläne nicht bekannt sind. Ursula ist demnach derzeit eher mit Intimitätsaufbau denn mit Generativität beschäftigt. Zudem wird auch die Berufsausbildung erst voraussichtlich 2012 beendet sein, so dass danach ein erneuter Wechsel der Arbeitsstelle anstehen könnte. Diese transformative Phase der Entwicklung erscheint damit vor dem Hintergrund des o.g. Ideals kaum als optimale Basis für die prophylaktische Operation, die damit derzeit für Ursula keine Option darstellt. Die Genkrise wird neben anderen äußeren Anregungen, zu denen Ereignisse in der Klinik oder die Mastektomie der Schwester zählen, v.a. durch Ursulas halbjährliche intensivierte Früherkennung verstärkt. Dort wird ihre Todesangst zwar beruhigt, diese Beruhigung erfolgt jedoch auf rationaler, nicht emotionaler Ebene und damit nicht auf der Ebene, auf der die Genkrise existiert. Sie ist zudem nur um den Preis der zuvor erfolgenden Reaktualisierung der Krise zu haben, die sich auf die zeitlose Gültigkeit des Gen-Wissens stützt. Der Reaktualisierung kann Ursula nur begegnen,

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in dem sie die jeweils aktuelle Kriseneruption durch rationale Erwägungen als Entscheidungskrise rahmt bzw. beruhigt, was aber das basale traumatische Element nicht verändert, sondern einen Wandel erster Ordnung darstellt, der das Problem perpetuiert. „U: ich denke, das [Umgang mit der Angst, A.d.V.] hab ich zum größten Teil einfach mit mir selber ausgemacht F: mh, wie haben sie das mit sich ausgemacht? … U: wie hab ich das gemacht? [leise, zu sich selbst] ich glaub, das ist einfach irgendwo en Entschluss dann gewesen, ‚so, ich mach jetzt was ich kann dagegen und-öh . mir passiert nix‘“ (EI)

Zugleich nutzt Martina als Vertreterin der Herkunftsfamilie die sich in lebenszeitbezogenen Risikozahlen spiegelnde steigende Krebswahrscheinlichkeit und das Präventionsthema, um Ursula zu einer Mastektomie zu motivieren und damit nicht auf der „vorläufigen Entwicklungsstufe“ der Früherkennung zu verweilen. Dabei lässt Martina im Beisein ihrer Tochter auf diese bezogene Angstgefühle erkennen: „ich hab richtig Angst und das .will ich ihr eigentlich gar nicht so vermitteln“ (MTI). Diese scheinen als Hintergrund der an verschiedenen Stellen des Interviews versuchten sachlich-argumentativen Überzeugung der Tochter durch und sind auch für Ursula ersichtlich. Durch familiale Grenzüberschreitung wird daher nicht nur der Druck in Richtung Operation, sondern auch das krisenhafte Potenzial des Gen-Wissens erhöht. Das familiale Passing Ursulas durch den Mastektomiebeschluss gelingt mithin nur teilweise. Eine Amputation der Brust würde folglich eine doppelte Erleichterung darstellen, da damit alle Parteien beruhigt und sowohl das belastende Moment der Krebsentwicklung als auch das der herkunftsfamiliären Einmischung vorläufig abgestellt wären. Vor dem Hintergrund dieses herkunftsfamiliären Einflusses riskiert Ursula derzeit entweder mittels der Operation ihre Vorstellungen von einer Wahlfamilie zu gefährden oder aufgrund eines dem Beziehungsaufbau gewidmeten Operationsaufschubs an letztlich letalem Krebs zu erkranken. In jedem Fall gefährdet sie ihr Selbst, sei es nun sozial oder physisch. Aktuell steigert das für Ursula die Notwendigkeit, sich im intergenerational und relational ambivalenten Beziehungsraum und damit gegenüber dem Thema abzugrenzen, was das Entwicklungsvakuum stabilisiert: „ich! bin immer froh, wenn ich nicht dran denke [glucksend]“(EI).

8.6 D AS BEZOGENE L EBEN IM MEDIKALISIERTEN B EZIEHUNGSRAUM : I NSPIRATION UND D ISTANZIERUNG ALS H ANDLUNGSRESSOURCEN (B2) Vor dem Hintergrund der geschilderten familialen und transgenerationalen Ressourcen entwickelt und verwirklicht sich Ursula im Rahmen von biografischen Herausforderungen als Selbst in und durch Beziehungen, die eine medikalisierte Lebenswelt bilden.

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8.6.1

Relational eingebundene Selbstaneignung und Lebensentwurf

Ursula erobert eigene körperliche wie intellektuelle Potenziale im Austausch mit anderen. So beschreit sie im ersten Beispiel ihre Aneignung eines Körpergefühls in

der brasilianischen Gastfamilie, im zweiten wird eine Szene angeführt, die Mutter Martina als bedeutsam für Ursulas Wahl eines Medizinstudiums nach einer eigenen Orientierungsphase schildert: „am Anfang hat mich das gestört, ziemlich . äh, weil ich .das einfach .unangenehm fand . auch so .figurbetonte Sachen zu tragen und so, aber-öhm . so mit der Zeit, wenn dann- wenn dann alle! um einen rum das .tragen, dann . kam dann so langsam .. und ich hab meine Gastschwester, die war zwar en Jahr jünger, aber-öh, die hat dann auch immer . ist dann immer mit mir shoppen gegangen und hat gesagt, ‚zieh das! doch mal an, mach das mal‘ . die hat das so’n bisschen . gefördert“ (EI) „da hab ich gesagt ‚ja . warum willste nicht gleich die Verantwortung übernehmen und-und gleich Medizin studieren?‘ ‚Ja meinste, ich könnte das?‘ […] ich hatte […] das Gefühl, dass dich das unheimlich befreit hat, dass ich dir das zutrauen würde“ (Martina, MTI)

Die Beziehungen in der Gastfamilie wie auch zur Mutter liefern eine stabile Struktur, innerhalb deren Ursula Erfahrungen macht, die eine konstruktive Selbstaneignung ermöglichen, welche nicht bloß die Spiegelung der Ansicht ihrer sozialen Kontakte ist. Damit gelingt es Ursula u.a., die familiale Systemkonfiguration mit der Zielorientierung der relational stabilisierten Autonomie optimal für sich auszunutzen, d.h. eigene Verunsicherungen durch stabilisierende Beziehungen auszugleichen, die gebotenen Anregungen jedoch in eine eigene Entwicklungslinie einzupflegen. Beziehungen fungieren damit als generalisierte Entwicklungskatalysatoren und/oder -marker in Transformationsphasen und ontologischen Krisen wie der Adoleszenz, was sich exemplarisch auch an der Aneignung von Bartmark als neuer Heimat durch die Etablierung eines Freundeskreises sowie einer neuen Partnerschaft vor Ort zeigt. Ursulas identitäre Entwicklung als Selbst in Beziehung ist somit als vermittelt kontrolliert zu bezeichnen. Diese Bewegung verläuft auch umgedreht, so dass eine persönliche Entwicklung auch als Beziehungserfahrung vermittelt wird, wie im Fall von Martinas erstem Mammakarzinom. Person und Beziehung entwickeln sich folglich parallel. Es kann daher nicht überraschen, dass neben Ursulas Selbst auch ihr Lebensentwurf in doppeltem Sinne relational orientiert ist: Zum einen wirkt der geplante Entwurf mit Ursulas Beruf als Gynäkologin, dem ebenfalls als Arzt arbeitenden Partner und den geplanten und zu stillenden Kindern wie eine Kopie der imaginierten Lebensrealität der Eltern als Paar. Basierend auf der bis heute unverständlichen und verunsichernd wirkenden Scheidungsentscheidung wurde diese kopierte Beziehungsvision jedoch kommunikativ überarbeitet. Das unterstreicht noch einmal die Relevanz der elterlichen Beziehung für das Lebenskonzept der Tochter, das sich also in Bezug zu diesem gebildet hat. Diese stabilisierende Maßnahme lässt zum anderen zugleich Ursulas Wunsch nach der verlorenen Geborgenheit und Harmonie erahnen, die damit im Endeffekt in den familialen Beziehungen gesichert werden soll, was den Lebensentwurf als Beziehungsentwurf charakterisiert:

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„U: seine eigenen Eltern!, die sind ja immer . einfach öh, auch das perfekte Paar natürlich [amüsiert] zumindest .so: .na das was so-, was ich so gesehen! hab […] F: mh, inwiefern war’n sie das perfekte Paar? U: naja, ham halt gut zusammen gepasst, schön zusammen! gearbeitet und: war harmonisch! . dachten wir zumindest . F: mhm . ist das so ihre .Vorstellung von .Beziehung? U: naja, jetzt nicht mehr . [gluckst] nach der Trennung . n-h w- is natürlich, also .so das, was sie .uns! praktisch vorgelebt haben wär das, was ich auch immer schön fand, (3?) die haben auch immer viel gemacht!, an den Wochenenden viel unternommen und . ist natürlich so das . w-was ich schön! gefunden hätte, wenn das- wenns da.denn auch wirklich so gewesen wär . auch für die . ja F: mh, und-und ist es das, was- was sie jetzt mit ihrem .Partner machen? U: na ich denke, das ist schon ne andere m-, andere Richtung . also-öh: . gut da .. ich bemüh mich auch selber einfach offener zu sagen, was ich will und also [gluckst] vielleicht reibt man sich dann auch öfter mal n bisschen [amüsiert] aneinander, aber das ist auch in Ordnung . find ich besser als so dieses . immer im Stillen, immer nich-nich sagen, was man denkt und so . ich denke, das es bei meinen Eltern auch daran bisschen m- gescheitert ist, dass sie einfach zu wenig gesagt haben . auch einander gesagt haben, was sie jetzt wirklich denken, was los ist und .was sie wollen“ (EI)

Dieser optimale Beziehungsentwurf sieht folglich größtmögliche Harmonie bei gleichzeitiger weitestgehender Wahrung aller Einzelinteressen vor. Das wird in dem Moment zum Problem, in dem der von Ursula nutzbare relationale Entwicklungsraum durch eine destabilisierende Offenbarung auseinanderstrebender, kommunikativ nur schwer abstimmbarer Interessen oder sogar Lebensentwürfe bedroht wird. Die Reichweite der Bedrohung erklärt sich dadurch, dass diese dann Ursulas Selbst in Beziehung in Frage stellt. Es gilt in dem Fall, das richtige Informationsmaß oder eine Balance der Interessen zu finden, um das eigenen Selbst in diesem bezogenen Leben nicht über Gebühr zu gefährden. 8.6.2

Außer-/familiale Repräsentanz in Ursulas medikalisierter Lebenswelt

Der relationale Lebensentwurf wird im Rahmen einer medikalisierten Lebenswelt gelebt, die eine stabilisierende Funktion erfüllt. Gemeint ist hier ihr paradigmatisch homogen wirkendes soziales und berufliches Umfeld mit Bezug zu den Gynäkologen-Eltern, dem Mediziner-Freund und dem in Gesundheitsberufen tätigen Freundeskreis sowie der eigenen, erst 2007 in der Klinik von Bartmark angetretenen Facharztausbildung zur Gynäkologin, in der ein medizinischer Deutungs- und Handlungsraum als einzig gültiger aufgespannt wird. Auch ihre als Psychologin tätige Schwester und der Physiker-Bruder dürften von dieser Realitätssicht nur geringfügig abweichen. Einzige Nicht-Mediziner sind alte Schulfreunde, die sie jedoch ca. zwei Mal im Jahr sieht und die daher keinen nennenswerten Gegenpol darzustellen scheinen. Damit wird ein stabiler, rationaler Deutungsraum angeboten, der dem auch für Ursula gültigen naturwissenschaftlich-medizinischen Deutungsmuster entspricht. Es findet also eine Art Schulterschluss auf Deutungsebene zwischen Ursula und ihrer Umgebung statt, der es Ursula Paasch erlauben dürfte, immer eine rationalisierende Mei-

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nung in Reichweite zu haben, die zur Not als Gegengewicht zur eigenen emotionalen Überforderung fungieren kann. Des Weiteren baut diese Perspektive auch auf der alltäglichen Art des Gesundheitsumgangs mit dem genauso selbstverständlichen wie unumgänglichen medizinischen Wissen in der Herkunftsfamilie auf, in der bspw. bisweilen Fälle aus der elterlichen Praxis von diesen am Essenstisch besprochen wurden. Die familiäre Entdramatisierung wird durch einen medikalisierten Alltag reaktualisiert, was überschießenden Emotionen entgegenarbeiten und Ursulas selbstbestimmten Handlungs- und Entwicklungsraum als Selbst in Beziehung unterstützen dürfte. Verschiedene Personen tragen hier auf unterschiedliche Art zur Gestaltung des medizinischen Deutungsraumes bei. Mutter Martina als herkunftsfamiliäre wichtigste Person prägt als Medizinerin mit ihrer Krebserfahrung und ihrer Sicht notwendiger prophylaktischer Operationen den Deutungsraum. Sie hat zusammen mit Schwester Stephanie den BRCALebensentwurf etabliert, an dem sich Ursula abarbeitet. Diese versucht sich gegen die selbst ernannte „Übermutter“, die versucht „mit Worten .zu beeinflussen“ (Martina, MTI), zu erwehren, indem sie trotz hoher Kontakthäufigkeit und einem als „passt einfach gut“ (EI) beschriebenen Verhältnis Gespräche eher auf Alltäglichkeiten beschränkt. Martina vermittelt zudem auf der Basis ihrer eigenen, männerbezogenen Körperbeziehung, dass eine operierte Brust eher als „Makel“ zu verstehen sei, indem sie bspw. Ursulas eigene Bedenken bzgl. einer operierten Brust mit „dann käm das Problem wieder, dann wärst du operiert und müsstest dann noch jemand Neues kennen lernen“ (MTI) unterstützt. Martina belastet ihre Tochter Ursula so doppelt mit dem Muss und Makel der Operation. Schwester Stephanie hat das Normverhalten der prophylaktischen Mastektomie mitgesetzt. Sie war im Zeitraum um die Entscheidungsfindung eine wichtige Ansprechpartnerin Ursulas, hat sich jetzt aber weitgehend aus der direkten Diskussion verabschiedet: „am Anfang kurz nach- so nach der Diagnose […] da! hamm wir schon miteinander gesprochen, aber jetzt . lange nicht mehr“ (EI). Der Sicht der Brustoperation als Makel entkam Stephanie dadurch, dass sich ihr Mann angesichts der Risikozahlen voll hinter die Operation gestellt hat, weil er sie als Person nicht verlieren wollte. Sie wird damit aufgrund ihres Wesens, nicht des Äußeren geliebt, was in diesem Fall ein Partnerschaftsideal beschreibt, das ggf. weiteren Druck auf Ursula und ihre Beziehung aufbaut. Stephanie sowie Ursulas Ex- Partner versuchten, sie durch den Verweis auf ihre „Vorsorge“ zu beruhigen: „m-mehr kannste nich machen, das is schon ok so“, wobei Ursula v.a. „drüber reden, es auszusprechen hilft“(EI). Insofern haben beide zur akuten Druckminderung beigetragen, ohne jedoch eine andere Deutungsweise einzuführen – im Gegenteil: Sie unterstreichen den medizinischen Handlungs- und Deutungsraum. Obwohl Ursulas aktueller (2009) Partner Ole ebenfalls Mediziner ist, bildet sich hier ein gewisser Freiraum in der werdenden Wahlfamilie, da er zwar von der Disposition, jedoch nicht vom Operationsplan seiner Freundin weiß. Das erscheint jedoch durch herkunftsfamiliären Druck verbunden mit Oles unklarer Positionierung in der Frage der Attraktivität und der unsicheren Stabilität der Beziehung eher als Uneindeutigkeit denn als echte Alternative erlebt zu werden. Ungeachtet dessen dürfte diese Partnerschaft jedoch dank Ursulas Distanzierungsvermögen trotzdem zumindest zeitweise entlastend wirken.

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Ursulas Vater Helmut bringt auf die Frage nach seiner Befürwortung einer prophylaktischen Mastektomie eine tatsächlich andere Sicht der Dinge ein: „da hat er mich schon- naja er hat gesagt, naja medizinisch . würd er:’s nicht als notwendig ansehen sich operieren zu lassen, aber das ist ja jedem- jeder hat da vielleicht ne . andere Meinung, weiß ich nicht, wobei er dann schon meinte ‚ja! aber, ne operierte Brust, das ist öhm: hat ja auch seine Vorteile!, wenn man älter wird, das fängt nicht an öhm irgendwie .kosmetisch unschön auszusehen (amüsiert) irgendwann‘ also die Brüste sind immer straff und ähm also da hat er schon gesagt, er kann das verstehen, dass man das zur Angstreduktion alleine schon machen möchte und öhm, also er fänd das kosmetisch- und er würd auch keinen Mann kennen, der das dann kosmetisch irgendwie . nicht schön fände“ (Ursula, MTI)

Helmuts Deutung widerspricht dem in der Familie als medizinisch zwingend Angesehenen und entlastet Ursula somit. Er argumentiert offenbar aus seiner Position des sexuell agilen Mannes, bei dem die Brustoperation zu einer Art „Anti-Aging-Maßnahme“ wird, die Ursulas weibliches Potenzial auf lange Sicht eher fördert als behindert. Diese Perspektive relativiert die Sicht der operierten Brust als Makel, stellt aber in gewisser Weise eine weitere, fast inzestuös anmutende Grenzüberschreitung dar. Er benennt darüber hinaus Angst als Grund der Operation, womit er einen belastenden Faktor betont, nämlich die in der Operation liegende Anerkennung der eigenen Angst. Gleichzeitig operiert er als Mediziner natürlich letztlich innerhalb des gleichen Deutungsraums und vertritt somit keine völlig andere Sicht, sondern nur ein kompetitives medizinisches Wissen, bei dem allerdings die Frage nach der Güte seiner professionellen Distanz zu stellen ist. Ggf. wird er aufgrund dessen von Ursula nur bei bestimmten Fragen konsultiert, während die Mutter bei anderen angefragt wird. Ursulas 2009 aktueller Freundeskreis besteht weitgehend aus dem Personal der Bartmarker Klinik, das im Rahmen von Dienstplanbesprechungen auf ihre Vorsorgetermine als Planungshindernis gestoßen und somit ansatzweise über die von Ursula als „wirklich was sehr Persön:liches, sehr Intimes“ (EI) bezeichnete Disposition informiert sein dürfte. Der berufliche Hintergrund der Freund_innen lässt darauf schließen, dass ein einheitlicher medizinischer Deutungsraum vorliegt. Dieser bietet nichtsdestotrotz einen gewissen Deutungsfreiraum, da Ursula nicht allgemein, sondern nur mit einigen die thematisch relevante Frage nach Methoden einer Brustoperation anspricht, um sich Sachinformationen zu besorgen, ohne in eine emotionalisierte Diskussion einzusteigen. Letzteres gilt auch für ihre (anderen) Kolleginnen. Diese begrenzte Öffnung erhält mithin einen Bewegungsspielraum. So ist es auch zu verstehen, dass Kollegen aufgrund einer von Ursula empfundenen besonderen Beziehungsdynamik zwischen den Geschlechtern nicht in diesen Kreis integriert werden. Im HBOC-Zentrum gilt selbstverständlich das medizinisch-naturwissenschaftliche Deutungsmuster. Auch die Empfehlung einer prophylaktischen Mastektomie steht im Raum. Allerdings wird die Dringlichkeit hier nicht so hoch angesetzt, was mit einer gewissen Druckreduzierung einhergeht: „sie [Prof. Fröhlich, A.d.V.] meinte klar, mit 30 sollte man das dann schon machen, aber auf ein Jahr kommt es jetzt auch nicht an“ (MTI). Aufgrund der Distanz zwischen Ursula und ihrem Bruder Jonas – man schickt sich „eher mal ne E-Mail“ (MTI) – besitzt er keine Deutungsrelevanz. Zumindest

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theoretisch kann jedoch angenommen werden, dass er als Physiker eher rationale Deutungen betonen dürfte. Auch Tante Bringfriede findet keine Aufnahme in diesen Deutungsraum. Gegen eine mögliche Entlastung von dieser Seite spricht Ursulas Beschreibung der Tante als „sehr fordernd“ (EI) und „sehr egozentrisch“ (MTI), woraus Ursula ableitet, den Kontakt zu meiden. Abbildung 22: Außer-/familiale Repräsentanz mit Bezug zum medikalisierten Deutungsraum

Kollegen & Freunde

Beziehung Ole

Beziehung Vater

U M S

8.6.3

medikalisierte Lebenswelt

Aufgeschlossenheit und aktive Distanzierung als Handlungsressourcen

Vor dem Hintergrund der familialen autonomen Leitdifferenz und Zielorientierung zeigt Ursula in krisenhaften Situation eine generelle Aufgeschlossenheit gegenüber informationellen, relationalen und erfahrungsbezogenen äußeren Anregungen als vorstrukturierte Lösungen. Das kann sowohl in Bezug auf spontan auftretende (Körperaneignung in Brasilien) als auch absichtsvoll gesuchte (Informationsbeschaffung über brustoperative Varianten) Inspirationen festgestellt werden. Die Grenzziehung zwischen Annahme und Ablehnung der Anregung folgt der transgenerationalen Distanzierungsressource in Form einer aktiven Distanzierung: „also ich schieb das schon .aktiv von mir weg, das auf jeden Fall“ (Ursula, MTI). Ursula versucht damit, den informationellen in- und output in inner- und außerfamiliären Beziehungen mit verschiedenen Varianten dieser Maxime zu dosieren. Dabei dient die abwägende Bewegung zwischen Inspiration und Distanzierung dazu, zu einem für Ursula passenden, selbstbestimmten Handeln oder potenziellen Handlungsentwurf zu kommen. Ursulas Individuation als Etablierung einer Selbstbestimmung im relationalen Raum basiert damit weniger auf Martinas Grundprinzip der konsequenten Eigenleistung, sondern mehr auf der abwägend geleisteten Grenzbestimmung im Rahmen ihrer relationalen Verbundenheit. Das Vorgehen schafft folglich balancierte Autonomie. Als Basisvariante kann das Schaffen einer sprachlichen Zone der Unbestimmtheit im Dialog angesehen werden, die durch die Verwendung eines Sprachstil entsteht, der sich u.a. durch wiederholte Pausen und unscharfe Formulierungen auszeichnet. Damit verleiht Ursula ihren Aussagen etwas Unbestimmtes und Unentschiedenes,

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aber auch Vermittelndes und Abwägendes. Das betont zum einen das Verunsichernde, Undefinierte und Ambivalente ihrer Situation. Zum anderen lässt es aber auch übersichtsgenerierende Reflexivität und akzeptierende Flexibilität zu, da hierdurch ein Navigationsraum in der fehlenden Konkretion eröffnet, das Risiko von Grenzverletzungen minimiert und eine Selbststabilisierung in kommunikativen Begegnungen ermöglicht wird. Gleichzeitig verringert die Strategie Nähe, was ggf. relational kontraproduktiv wirkt. Aktive Distanzierung in der Variante Abbruch stellt eine vollständige Blockade gegen störende Gefühle durch eine Abwehr bestimmter Begegnungsvarianten dar. Ein Beispiel ist Ursulas Ablehnung, die prophylaktische Brustoperation mit ihrer Mutter zu besprechen: „F: ist das [Mastektomie, A.d.V.] was, was zwischen Ihnen beiden auch besprochen wird? U: mhm [ablehnend] M: du möchtest das nicht so U: nee M: ich halte mich zurück auch, weil ich das merke, ne, ich spüre das, ne, sie weiß es ja und sie ist ja betreut in Z-Stadt und ich vertraue da . den Z-Städtern auch, dass sie sie führen, weil ich zu sehr Betroffene bin, ich bin nicht jetzt als eigene Brustkrebspatientin betroffen, sondern als Mutter von ihr, ich hab richtig Angst und das .will ich ihr eigentlich gar nicht so vermitteln, öhm, sie muss selbst die Entscheidung treffen, weil sie es tragen muss, die-öh Konsequenz, ich hab nur so Angst! > weil ich auch jetzt sage/ >U: da-dafür ist sie! auch einfach viel zu sehr B-Betroffene oder Besorgte M: ja U: da . kann ich nicht mit ihr drüber reden“ (MTI)

Bei der Normalisierung streift das Grenzverletzende der Situation Ursulas Bewusstsein, wird aber wie im folgenden Fall als „üblich“ deklariert und dadurch seines belastenden Potenzials entledigt: „U: mittlerweile bin ich m-m- bei meinen Eltern .eben . in-in .in der [gynäkologischen, A.d.V.] Vorsorge und so . ist einfach praktischer .. F: also egal, w- wer von beiden? U: ja, m-öh vorher m:- öh anfangs meine Mutter, aber die hat jetzt öhm: die Praxis aufgegeben und so und jetzt halt bei meinem Vater . das m- . ist so’n: bisschen komisch, aber-öh, aber ich glaub, jede gynäkologische Untersuchung is einfach n bisschen komisch“ (EI)

Eine in Richtung Ambiguitätstoleranz weisende Variante scheint besonders veränderungsförderlich zu sein, kommt aber in den Gesprächen selten vor: Es findet eine Zuordnung unterschiedlicher Einstellungen statt, die anerkennend wirkt ohne zu vereinnahmen und damit gleichzeitig vermittelt und abgrenzt. Damit bleiben sowohl die familialen Beziehungen unbelastet wie auch die eigene Integrität gewahrt. Im folgenden Beispiel kommentiert Ursula die Situation, dass sowohl Martina als auch sie mit der Ursula betreuenden Professorin gesprochen, deren Risikoaussage in Bezug auf Schwangerschaften jedoch völlig unterschiedlich aufgefasst haben, folgendermaßen:

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„U: ist vielleicht natürlich auch bei beiden! so, dass . dass jeder! meine Mutter und ich natürlich auch das raushören, was man raushören will! M: stimmt U: ja? und-äh das is- is ja auch ganz normal, meine Mutter hat die Angst, dass es zu spät ist und hört nur, dass .Frau Fröhlich sagt ‚am besten jetzt‘ und ich öhm, brauch einfach- ich denk ich brauch die Zeit auch noch“ (MTI)

Eine weitere Variante ist der Rückzug, der in einer personalen und einer persönlichen Form existiert. In der personalen Ausprägung erfolgt eine Rückzug in ein Beziehungsumfeld, das Ursulas Ansicht bestätigt und sie somit stabilisiert. Die medikalisierte Lebenswelt kann hierfür als prototypisch gelten. Als persönliche Rückzugsform wird das „mit sich ausmachen“ verstanden, bei dem Ursula Herausforderungen mehr oder weniger reflektierend abwägt. Das kann sowohl zu einer Bestätigung des Status Quo als auch zu seiner Veränderung beitragen. Beispielhaft ist hier der initiale Umgang mit dem BRCA-Testergebnis, bei dem sich Ursula erst mit dem Ex-Partner der eigene Betroffenheit bewusst werden konnte. Als weitere personale Variante kann der Systemaufbruch betrachtet werden, indem eine Entscheidungsfindung durch eine Person – wie hier dem Psychologen – unterstützt wird, die sich auf die Ebene emotionaler Betroffenheit versteht und keine eigene Agenda besitzt: „U: so ich hab irgendwie .Gesprächsbedarf! und zwar mit jemandem, der . nicht irgendwie öhm, aus der Familie ist, sondern wirklich mit jemandem, der ähm . ja . der damit nichts zu tun hat öh-öh mit nem Unbeteiligten einfach mal zu sprechen, hab ich dann im Endeffekt nicht gemacht, aber öhm die Überlegung war schon da […] F: warum ist das unbeteiligt an der Stelle so .wichtig? U: . weil das jemand ist, der: einen nicht beeinflussen: m-möchte oder es auch nicht- was heißt möchte, oder es nicht e-einfach indirekt aus irgendwelchen Motiven tut!, also es is ja auch- .bei meiner Mutter is es ja auch nicht öh, dass die sagt ‚ich will dich jetzt beeinflussen und rede dich da rein‘, sondern M: mh, aber man tut es trotzdem U: man tut es trotzdem, ja es ist niemand, der einen da irgendwie . unbeteiligt objektiv n bisschen . unterstützen kann dabei (1?) deswegen .war mir das .eher wichtig“ (MTI)

8.7 D AS GEFÜHLTE G EN -W ISSEN UND ALS V ERBINDUNGSORGAN (C2) 8.7.1

DIE

B RUST

Das unvermeidliche gefühlte Gen-Wissen

Ursula Paasch versteht medizinisches Wissen, zu dem auch genetisches zu zählen ist, als objektives Wissen, das rationale Gesundheitsentscheidungen ermöglicht und Krankheiten wie schon für Martina so auch für Ursula zu (Be-)Handlungsproblemen macht. Es fungiert als entemotionalisierte und v.a. entemotionalisierende Entscheidungshilfe. Dies erklärt ihre Konzentration auf ein rein rationales naturwissenschaftliches Krebs-Deutungsmuster, das sie identitär im Selbstbild des „Schulmediziner[s]“

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(MTI) verankert und gegen das mütterliche Deutungsmuster des Beziehungsdrucks in Stellung bringt: „also das ist halt ne maligne Zelle, die sich vermehrt und wie die entsteht, gut, das sind dann- dann wieder irgendwelche mikrozellularen Vorgänge: dases zu irgendwelchen Defekten in irgendwelchen Genen kommt“ (Ursula, MTI). Aufgrund ihres ausbildungsbedingten Überblicks und dessen Modifikation durch ihr familiär verankertes Verständnis von Krebs als sicherem Todesurteil ist diese rein rationale Sichtweise jedoch latent gefährdet. Medizinisches Wissen besitzt somit ein bedrohliches Potenzial, aber auch die Möglichkeit der Beruhigung, wie sie sich in der Hoffnung auf einen guten, d.h. negativen Ausgangs des BRCA-Tests oder in der Handhabbarkeit medizinischer Entscheidungen manifestiert. Die Übergänge zwischen Beruhigung und Bedrohung sind fließend, da beide Effekte innerhalb des gleichen Deutungsrahmens erzielt werden sollen. Dieses emotionale Aktualisierungspotenzial strebt dann der Realisierung zu, wenn wie durch die Beteiligung der Psychologin in der genetischen Beratung die Doppelbödigkeit der „rein rationalen“ medizinischen Fakten offenbar wird. Das „rationale Wissen“ entpuppt sich somit als mittelbar emotional aufgeladen und damit situationsabhängig be- oder entlastend: Es vermittelt zwischen (potenziell in Frage gestelltem) Leben und (potenziellem) Krebs. Das emotional aufgeladene Wissen dient letztlich der Abwehr des für Ursula zentralen Angstgefühls, das im Verständnis von Krebs als Todesdrohung zum Ausdruck kommt: „F: Vielleicht abschließend nur mal die Frage, was Krebs! für sie beide jeweils bedeutet? (Pause von 24 Sekunden) U: also m- bei mir ist es im Moment schon so, dass es .. also es ist im Moment schon irgendwo ne Bedrohung!, was w- wovor ich Angst hab . und: öhm: .. und überhaupt . äh, also ich denke was, wo ich irgendwo was gegen tun kann wo ich auch das Bedürfnis! hab, aktiv irgendwas da dagegen zu machen, auch .wenn ich das jetzt vielleicht nicht im Moment mache mit der OP, aber es ist schon .so . dass ich auch das Gefühl hab, ich muss! da was machen, sonst .passiert mir das auch, sonst krieg ich das auch, also ist schon akut .ne Bedrohung“ (MTI)

Diese „Angst das es- n-nja, das m- dass ich sterbe” (EI) ist Ursulas wahres Problem, da es sie vereinnahmt und deren wiederholten Zusammenbruch zur Folge hat: „ich-öh hätte nicht gedacht, dass es mich so mitnimmt . also ich war schon-n: . also ich b:in auch erstmal nach Hause gefahren, da war’s auch noch ok und dann n- war mein Freund da und dann bin ich ihm auch in die Arme gefallen und hab angefangen zu heulen“ (EI) „U: manchmal kommt das so’n bisschen […] F: ja . wann kommt das so’n bisschen? . U: is einfa- ab und an F: das heißt, sie sind da n-ie sicher vor, dass öh nich/ U: nein, s- öh, klar ist natürlich mehr!, wenn man dann alleine! zuhause! sitzt und irgendwie . vielleicht auch in der Klinik irgendwas war: so was, was so in die Richtung geht“ (EI)

Das Verheerende dieser Todesangst und damit des diese transportierenden genetischen Wissens liegt für Ursula damit aktuell weniger in der potentiellen Realisierung von Krebs als Todesurteil, sondern vielmehr in den Zusammenbrüchen mit ihren in-

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nerfamiliär stigmatisierenden und selbstbestimmungsminimierenden Wesensveränderungen. Ein selbstbestimmter Zugang zum Gen-Wissen ist auch deshalb unumgänglich, weil neben dem emotionalen Gehalt des Wissens auch der familiäre Zugang zu medizinischem als selbstverständlichem und damit unvermeidlichem Wissen wirkt. Ursula selbst bezeichnet eine mögliche Testverweigerung als „Kopf in den Sand stecken“ (EI), wobei ihre Konfrontation mit dem BRCA-Test und dessen Resultat als logische Konsequenz des positiven Testergebnisses der Mutter erscheint, das als logische Konsequenz von deren Krebserkrankungen dargestellt wird. Für Ursula liegt das Unvermeidliche des medizinischen Wissen damit letztlich in der Unvermeidlichkeit der Herkunftsfamilie mit ihren unkündbaren familialen Beziehungen begründet. Die Entwicklung des Krebses auf Ursula als Tochter ihrer Mutter zu ist somit – wie auch das durch den BRCA-Test aktualisierte Angstgefühl – etwas, was ihr passiv zustößt und in ihrem Fall die Brüchigkeit des Selbst deutlich macht, d.h. die durch die Gefährdung ihrer Gesundheit initiierte Gefährdung ihrer Selbstbestimmung mit der daraus erwachsenden Lebensentwurfsgefahr: „F: Was bedeutet für sie Gesundheit? . U: Gesundheit-ö .ist ganz wichtig fürs Leben . öhm . is was- is was ganz-.ganz wichtiges im Leben, Gesundheit is m- sich gut fühlen . richtig schön das Leben genießen können . F: mhm, wie würden sie Gesundheit definieren? .. U: mh: Gesundheit ist- m- . keine-e: Erkrankung zu haben, die das Leben: . beschwerlich machen, die das Leben einschränken . F: mhm . und das Leben wär in dem Fall w-wie würden sie d-/ U: m-das m- das Wohl!befinden, das-öh . m- sich g-gut fühlen, einfach dieses: . ja, alles machen können, was ich will“ (EI)

Auffällig ist, dass sowohl Gesundheit als auch selbstbestimmtes Leben als „sich gut fühlen“ bzw. „Wohlbefinden“ umschrieben werden, mithin emotional definiert sind. Damit bestätigt Frau Paasch auch hier die Wichtigkeit der emotionalen als letztlich bestimmender Ebene, auf der sie offenbar ihr Lebensziel verortet, die selbstgeschaffene Harmonie. Dieses doppelte Potenzial des zeitlos gültigen, zwischen Beruhigung und Bedrohung changierenden medizinischen Wissens erklärt auch ihre Sichtweise des Mediziner_innen-Berufs als nur bedingt hilfreich bzgl. des handlings der genetischen Herausforderung: „F: Glauben sie, dass ihnen ihr: ihr Beruf! Ihnen da hilft! öhm: auch . Entscheidungen zu treffen? U: m-m [ablehnend] .. nee helfen glaub ich nich, ich denke eher das-öh . das es die Angst vermehrt . als Angst zu nehmen, also das auf jeden Fall > . weil ich- ja, ich weiß einfach > M: ja, du weißt zuviel mehr: w- . ja, wa-was das . das-s zum Beispiel das mit der Heilung! . ja, Heilung . gibt’s nicht . und-öhm . nee, also da hilft der Beruf auf jeden Fall nicht . F: hilft er denn an irgendeiner Stelle? - .

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U: nja, es ist schon so: ganz gut, also [leiser] . ich weiß! gern dann auch viel da drüber und da hilft es natürlich schon, man versteht vielleicht en bisschen mehr, so die medizinische Seite . aber öhm . eigentlich ist es glaub ich egal, was man macht [leise]“ (MTI)

Der Beruf hilft Ursula somit, die Genkrise – wie vor dem Gentest – als Entscheidungskrise zu rahmen, wirkt aber nicht bzgl. des eigentlichen Grundproblems der Todesangst. Daraus folgt für Ursula die Herausforderung, angesichts des unwiderruflich bekannten BRCA-Testresultats und des unvermeidlichen, verpflichtenden medizinisches Wissen so viel zu wissen, dass sie informierte Gesundheitsentscheidungen treffen kann – z.B. in dem sie diese eine Informationsveranstaltung mit Frau Prof. Fröhlich besucht – jedoch nicht zu viel, so dass sie handlungsunfähig wird. Aus der scheinbaren Körper- wird Psychohygiene. Das Dilemma des gefühlten Wissens beschreibt Frau Paasch folgendermaßen: „U: manchmal wär’s auch gut, es [BRCA-Diagnose, A.d.V.] nicht zu w-wissen einfach, also .. i-ich bin froh, dass ich was machen kann, aber-öh es is einfach- wenn’s nich da wär, wär’s natürlich schön […] F: mhm . sie sagen, manchmal wäre es gut, es nicht! zu wissen . wann wär es denn gut, es nicht zu wis>sen? >U: es nicht zu haben! wär eigentlich gut, es nicht zu wissen! is wieder dieses [Kopf in den Sand stecken, A.d.V.] öh . ich mein klar, man is- man is .freier!, man-öh macht vielleicht trotzdem seine Vorsorge und-öh, macht sich keine Gedanken drum, dass man jetzt en erhöhtes Risiko hat . man is einfach .entspannter . m-.macht sich keine Sorgen [leiser]“ (EI)

Sie bedient sich an dieser Stelle des rationalisierenden Ansatzes des „Wegschiebens“, d.h. der aktiven Distanzierung. Hier werden Beziehungen thematisch eingeschränkt, um Wissen auf ein handhabbares Maß zu beschränken und einen relationalen Eingriff in das selbstbestimmte Leben zu verhindern. Das verweist auf die familiale Belastungsvermeidungsregel. Die Selbstkontrolle ist bei Ursula jedoch stärker als bei Martina im Beziehungsraum verankert, so dass eine mittelbare Kontrolle der Beziehungspartner notwendig wird, um Selbstbestimmung und Stigmatisierungsabwehr zu garantieren. Die zugehörige Gesundheitsregel lautet: „Kontrolliere andere, damit du dich selbst kontrollieren kannst!“ und ergänzt sich mit der mütterlichen präventiven Gesundheitsregel „Kontrolliere andere, um nicht belastet zu werden!“ zu einer Art Ringen mit dieser um eine gegenseitige Gesundheitsbestätigung. Ursula ergänzt diese Regel durch das mütterliche „Kontrolliere dich, damit du nicht kontrolliert wirst!“, um ihren Gefühlshaushalt auch selbst regulieren zu können. Diese Regeln werden durch die Bildung der medikalisierte Lebenswelt als Stütze des rationalen medizinischen Deutungsmusters flankiert. 8.7.2

Die Brust im Spannungsfeld unterschiedlicher Verbindlichkeiten

Ursula konstruiert ihre Brust als Repräsentantin gegensätzlicher Verbindungspotenziale, deren Vereinigung in einem Organ ihre innere Zerrissenheit im Umgang mit der Doppelkrise spiegelt und zugleich auf die doppelte kulturelle Ladung der Brust als Symbol verweist.

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Das positive Potenzial der „guten Brust“ liegt in ihrer symbolischen Bedeutung als Verbindungsorgan, das Beziehungen initiiert und stabilisiert und sich auf Mann und Kinder bezieht. In diesem Rahmen sichert die gute Brust Ursulas Entwurf eines sozialen Lebens durch die Konsolidierung der ihr eigenen Weiblichkeit auf der Basis eines Nährvermögens sowie eines Attraktivitäts- und Zufriedenheitsgefühls: „ich war da eigentlich immer ganz zufrieden mit“ (EI). Zwischen diesen Polen kann es zur Fokusverschiebung kommen: Sollte die Brust im ersten Gespräch hauptsächlich der Beziehung zu den in naher Zukunft geplanten Kindern dienen, wird im zweiten die männerbezogene Bindungskraft aufgrund der sich als unsicher erweisenden Paarbeziehung hervorgehoben. Die Brust wird damit primär zum „Lockmittel“ in einer ersten, noch nicht konsolidierten Beziehungsphase, da weitere Einflussnahmen des Partners auf die Operationsentscheidung als „Trennungsgrund“ (Ursula, MTI) ausgeschlossen werden. In Bezug auf Ursulas Definition als Frau zeigt sich eindeutig das Vermittelte des Eigenen, das in Abhängigkeit von anderen entsteht, und den Eindruck der Harmonie von Form und Inhalt als Basis der guten Brust vermittelt. „U: […] [Stillen, A.d.V.] gibt schon noch ne engere Beziehung vielleicht zum Kind! [träumerisch] F: was brauchen sie denn, um sich als Frau zu definieren? .. U: ja schon-was ich- was ich wichtig! finde, is das man-öhm . oder für mich wichtig finde, is eben m-m- Kinder kriegen, das find ich is .was wichtiges öhm: um mich als Frau .. das is schon wichtig . aber das is so . n klar . klar, es Aussehen is auch irgendwo [lauter] . muss auch dabei sein . das: ja!“ (EI) „ich glaub ich hätte schon n Problem .selber! damit, zu sagen ‚gut öhm, weil w-lern ich jemand anderes kennen‘ ich hätte da ein Problem mit, wenn wenn ich ne OP gehabt hätte, einfach weil ich m-mich dann nicht so attraktiv fühlen würde“ (Ursula, MTI)

Das negative Potenzial liegt in der möglichen Entwicklung von Krebs als letaler Krankheit, die sich in Todesangst niederschlägt, also die Gefährdung des physischen Lebens fokussiert: „dass ist einfach ne Bedrohung!, also daher hab ich einfach Angst, dass m-m-m das-öh, dass mir da was passiert, und so wichtig ist es mir dann doch nicht, da was eigenes hängen zu haben“ (EI). Krebs als das „Bösartige“ (EI), Andere stellt vermittelt durch die Brust Ursulas selbstbestimmten relationalen Lebensentwurf in Frage stellt, dessen Realisierung von ihrer brustbezogenen emotionalen Grundhaltung abhängt: Das Gefühl der Attraktivität ermöglicht die Paarbildung und damit auch Elternschaft, während das Gefühl der Angst dieses überschreibt, aber auch als realisierte prophylaktische Mastektomie insofern weiterhin negativ wirkt, als diese die Angst symbolisiert und damit perpetuiert: „das-öh: ist irgendwie viel mehr!- oder zeigt so .diese diese Bedrohung, die auch da ist, dass ich sogar so weit gehe, dass ich mich da .ner großen OP öhm, unterziehe, dass ist ja schon wieder en . en Schritt weiter, das andere ist so’ne theoretische Bedrohung, das kann man irgendwie zur Seite schieben“ (Ursula, MTI)

Als Folge der Krebsgefahr basiert Weiblichkeit nicht mehr auf Attraktivität bzw. Nährvermögen als positiven inneren Potenzialen, sondern besteht bestenfalls der

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Form nach als anoperierte Variante. Das Harmonische der Vor-Test-Zeit geht verloren, da die Form sowohl der relationalen Lebensgestaltung als auch ihres Körpers und der Inhalt, d.h. die emotionale Basis zwischen Angst und attraktivitätsbezogener Zufriedenheit, sich nicht mehr entsprechen. Die Brust ist damit ähnlich notgedrungen makelbehaftet, wie es Martina nach ihrer Krebsoperation erlebt und tradiert hat. Die Erfahrung von illness ohne disease bestätigt sich. Vor dem Hintergrund des Belastungsverbots der Paaschs, der Passing-Aufgabe und dem Grenzüberschreitenden des Körperthemas enthüllt die „böse Brust“ einen weiteren Aspekt: die Gefahr der herkunftsfamiliären Fremdbeeinflussung aufgrund des Rückbindungspotenzials der ‚genetisch belasteten’ Brust an vorhergehende Generationen. Gerade die Bindung an Martina als Zentralfigur und Agentin der Familie erweist sich als problematisch. Deren Agenda liegt in ihrer eigenen Betroffenheit begründet, die aus einer doppelten Schuldigkeit erwächst und mitsamt der Brust der Tochter wegoperieren werden soll: Zum einen waren es Martinas Gene, welche die Gesundheitsbelastung bilden, was bei ihr bekanntermaßen Schuldgefühle hervorruft. Zum anderen versucht sie als gute, ihre Kinder beschützende Mutter zu agieren. Martina arbeitet an der Stelle eine Schuldigkeit auf, die sie als abwesende Mutter während Ursulas Kindheit und möglicherweise auch während der Krebserkrankungen angehäuft zu haben meint. Insofern ist die Frage der Mastektomie für Martina nicht nur eine der Gesund- sondern auch der Statuserhaltung. Zudem hat Martina zeitliche Kapazitäten frei, sich dem Thema zu widmen. Die bei Ursula spürbare Krebsangst wiederum ist damit nicht nur deren eigene, sondern speist sich nicht unwesentlich aus der der Mutter und deren Schuldgefühlen. Den Bemühungen Martinas, jede sich bietende Gelegenheit auszunutzen, um Ursula zur Operation zu bewegen, setzt letztere jedoch ihre andauernde Sehnsucht nach einer wahlfamiliären Bindung und damit nach der Realisierung des Potenzials der guten Brust entgegen, das offenbar weiterhin besteht. Genauso wie für Martina die Mammakarzinome als Handlungsherausforderungen entwicklungsentscheidend waren, ist es für Ursula das Ringen um ihre Brust als pars pro toto. Hier offenbart sich die Wichtigkeit transgenerationaler Verbindungen und sozialer Verbindlichkeiten. Körperhygiene ist somit auch immer Sozialhygiene. Vor diesem Hintergrund zusammen mit Ursulas Deutungs- und Handlungsressourcen ist es wenig verwunderlich, dass Ursula in der relativen Autonomie der ausbalancierten relationalen und informationellen Einflüsse ein gutes, gelassenes Gesundheitsgefühl besitzt, das jedoch durch ständige traumatische Reaktualisierungen der Krebsangst gefährdet ist.

8.8 C OPING : A UTONOMIE IN DER DISTANZIERENDEN B ALANCE (X2) Ursulas Urkrise ist das familienzyklische Scheidungsdrama, dem sie ausgesetzt ist, da ihre Mutter in ihrer Paarfixierung nicht realisiert, wie traumatisch diese für Ursula bis heute nicht nachvollziehbare Situation ist. Mit dieser Fassungslosigkeit im Hintergrund vollzieht Ursulas Angleichungsbewegungen, indem sie versucht, das Gewohnte aufrecht zu erhalten (z.B. durch Beibehaltung der Wohnsituation), also Stabi-

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lität wiederherzustellen. Verschärft wird die Situation, als kurz danach die normative Adoleszenzkrise einsetzt, die ihr Selbst in Frage stellt. Diese Doppelkrise ist traumatisch zu nennen und verstärkt bei Ursula Gefühle der Verunsicherung und Verlassenheit. Jetzt schlagen die Stabilisierungsbemühungen in Suchbewegungen um, die sich als „wilde Zeit“ äußern. In dieser grenzt sie sich auffällig gegen die familialen Kernmerkmale Stabilität und Leistung und damit gegen ihre Herkunftsfamilie ab, indem sie sich der Distanzierungsvarianten Abbruch und Systemaufbruch durch Rückzug in eine peer group bedient. Der damit vermutlich verbundene familienkrisenbezogene Impuls in Richtung Wiedervereinigung kann diese jedoch nicht aufgreifen. Die strukturelle Veränderung bleibt permanent. Die „wilde Zeit“ überwindet Ursula entlang vorstrukturierender Angebote, die sich v.a. auf ein Auslandsschuljahres in Brasilien beziehen. Das reaktiviert ihre schulische Leistungsbereitschaft und ermöglicht die Entwicklung eines zufriedenstellenden Körpergefühls im offenbar geschützten und strukturierten Beziehungsumfeld der religiösen Gastfamilie. Hier kann Ursula eine sich bietende Gelegenheit in Eigenleistung ergreifen und Stabilität schaffen. Damit reaktiviert sie transgenerationale Ressourcen, die auf Flexibilität und Aktivität hindeutet, welche an dieser Stelle als Kombination aus grundlegender Aufgeschlossenheit und abwägendem Rückzug handlungsleitend wirken. Des Weiteren entwickelt sie im herkunftsfamiliären Umfeld eine Berufsperspektive. Ursulas Verunsicherung verringernde identitäre Selbstfindung kann damit zumindest teilweise als gelungen eingeschätzt werden. Die adoleszente Entwicklungskrise hat einen echten Wandel zweiter Ordnung zur Folge, in dem sie eine Krisenanpassung vollzieht. Die Scheidungskrise als Beziehungsabbruch, der damit verbundene Verlust der als harmonisch empfundenen Familienstruktur und die nachfolgenden Verlassenheitsgefühle werden von der relational orientierten Ursula durch eine Art identifikatorisch-restaurative Wendung beantwortet. Vor dem Hintergrund der in der Adoleszenz zu leistenden Bewältigungskarriere der Partnerschaft wandelt sie ein leicht modifiziertes Modell der elterlichen Beziehung in einen eigenen relationalen Lebensentwurf um. Auch hier greift sie folglich eine äußere Anregung auf und macht sie sich zu eigen. Die flexible Kreativität des konsequenten Umdeutungsprozesses wird jedoch in den Dienst der Stabilität gestellt und kann als eine Art „ultimativer Wandel erster Ordnung“ betrachtet werden, da das in der Krise entstandene für eine Adoleszente folgerichtig Neue fast deckungsgleich mit dem Alten ist und damit dessen Gültigkeit bestätigt. Diese Anpassung scheint damit eher eine Angleichung darzustellen. Sie gewinnt als Restauration zudem große Bedeutung, da ihr Verlust wohl einem erneuten Scheidungstrauma gleichkäme. Auch die Erfahrung der genetischen Herausforderung manifestiert sich als Mehrfachkrise. Zunächst existiert eine Übertragung der kumulierten Krebskrise von Mutter Martina, die so für Ursula zur Co-Krise wird. Die traumatische Gefühlslage der Todesangst wird von Ursula letztlich durch die Annahme der BRCA-TestGelegenheit handelnd bearbeitet, wobei die entemotionalisierende Potenz der Medizin sowie ihre Abbruch-Distanzierung Ursula hilft, mit der emotionalen Belastung umzugehen. Ein vorheriger Versuch, diese Co-Belastung durch eine aktive Unterstützung Martinas abzuarbeiten, musste von dieser vor dem Hintergrund des familialen Belastungsverbots abgelehnt werden, da Martina ihre Belastung nur im Tausch

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gegen eine andere – die ihres zweiten Ehemannes – zugeben kann, ohne fremdbestimmt zu werden. Vor dem Hintergrund von Ursulas durch Martina übertragene krebsbezogenen Todesangst, löst das testbedingte Outing als BRCA-positiv eine traumatische Krise aus, die eine Ursula zunächst lähmende emotionale Vulnerabilität bedingt. Diese kann sie jedoch nur gegenüber ihrem Partner, d.h. wahlfamiliär, bzw. mit ihrer Schwester als ebenfalls BRCA-Positive, d.h. im „Belastungstausch“, besprechen. Beide bestätigen das rationalisierende medizinische Deutungs- und sich daraus ergebende Handlungsmuster der Vorsorge, auf das auch Ursula hauptsächlich zurückgreift, um sich von ihren Emotionen zu distanzieren, zu entlasten. Diese kombinierte selbst- und fremdreferentielle Bestätigung der entemotionalisierenden Kraft der Medizin hilft Ursula, diese und folgende akute Genkrisen zu überwinden, die im Rahmen der Exposition gegenüber belastenden Informationen und Erfahrungen folgen werden. Zusätzlich entwickelt sie zusammen mit der Schwester in der Abwägung zwischen Inspiration und Distanzierung den BRCA-Handlungsentwurf der prophylaktische Mastektomie, der an Martinas Krebs-Umgang erinnert. So kann Ursula sich zumindest zeitweise als selbstverantwortlich darstellen und die familiale PassingAufgabe erfüllen. Damit zusammenhängend bedingt und verstärkt die Genkrise jedoch eine ontologische Krise, da sie den Realisierungsgrad und damit die generelle Möglichkeit der Realisierung ihres relationalen Lebensentwurf in Frage stellt, weil das Gen-Wissen als Operationsanlass ihr dazu benötigtes positives Brustpotenzial gefährdet. Diese Krise wird zum einen dadurch verschärft, dass ihre Schwester aufgrund ihrer Lebenssituation die Mastektomie durchführt und nun als beruhigt gilt. Zum anderen trägt Ursulas familial tradierter Hintergrund aus unvermeidlichem medizinischen Wissen, dem Grenzüberschreitenden des Körperthemas und einer sozialen Verantwortung, die zur fremdbestimmenden Verantwortungsübernahme bei merkbarer Belastung führt, dazu bei, dass ihre Selbstbestimmung v.a. durch Martina als Agentin des familialen Passings sowie als Vertreterin einer eigenen Agenda in Gefahr gerät. Sie muss folglich mit einer ontologischen Herausforderung umgehen, die durch den belastenden herkunftsfamiliäre Druck zur sozial verschärften Herausforderung wird, was für die relational orientierte Ursula besonders problematisch, aber auch kennzeichnend ist. Um das zu leisten und ihre Selbstbestimmung gegenüber der emotionalen Kontrolle durch die Krebsangst und der sozialen durch die Mutter nicht über Gebühr zu gefährden, setzt Ursula ihre gesamten rationalisierenden und distanzierenden Ressourcen ein. Sie schafft sich einen Freiraum der Selbstbestimmung, in dem sie nur mit bestimmten Personen bestimmte Themen bespricht und andere uninformiert lässt oder sich dosiert Informationen beschafft, die sie auf eine rationale Art deutet oder alleine verarbeitet. Diese Taktik wird bereits im Kontaktverlauf deutlich, in dem Ursula organisatorische Flexibilität mit thematischer Zurückhaltung kombiniert und so die Beschäftigung mit dem Gen-Wissen als verpflichtend, jedoch wohl dosiert gestaltet. Gleichzeitig präsentiert sie sich als „theoretisch Operierte“, distanziert sich jedoch aus vielerlei Gründen von der tatsächlichen Durchführung der Operation. Die Regulation und Deutung des Gen-Wissens zusammen mit der mittelbaren Kontrolle ihres sozialen Umfeldes und einer imaginierten herkunftsfamilienkonformen Zukunft ist Ursulas Hauptinstrument, um in der Balance der verschiedenen Interessen als genauso autonomes wie sozial verantwortliches Selbst in Beziehung zu bestehen, d.h.

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zu passen. Der konsequent geleisteten Einsatz ihrer Ressourcen und Regeln erlaubt es ihr, die Möglichkeit zur Verwirklichung ihres relationalen Lebensentwurfs aufrecht zu erhalten und angesichts der zu Grunde liegenden emotionalen Betroffenheit nicht die Fassung zu verlieren. Ursula verhält sich dabei grundlegend wie Martina, indem sie so lange wie möglich versucht, das Krisenhafte der sich als Lebensentwurfskrise erweisenden ontologischen Krise, durch Angleichung zu entschärfen. Dabei fällt es Ursula aufgrund ihres relationalen Selbstverständnisses, aber auch der offiziellen medizinischen Diagnose einer „genetischen Belastung“ wesentlich schwerer, diese Diagnose sozial abgegrenzt und damit sozial verträglich zu behandeln. Bislang hat Ursula mit wenigen sie emotional fordernden Veränderungen ihrer Lebensroutine (z.B. dem Besuch der intensivierten Früherkennung) den Status Quo ihres Lebensentwurfs aufrecht erhalten, so dass ein als latent fremdbestimmt empfundenes Entwicklungsvakuum entstanden ist. Das dürfte ihr in Zukunft jedoch zunehmend schwerer fallen, da die lebenszeitbezogenen Risikozahlen eine steigende Dringlichkeit der Durchführung einer prophylaktischen Mastektomie suggerieren. Derzeit (2009) versucht sie, durch immer mehr Informationen und Gespräche zum Thema Operationsvariante zu dem für sie Eigenen zu finden, so ihr soziales Umfeld ruhig zu stellen und sich ansonsten auf vielfältige Art aktiv zu distanzieren. Diese Strategie beinhaltet jedoch keine Entwicklung, da weder das ontologische noch emotionale Basisproblem gelöst, sondern nur temporär eingefriedet wird. Für Ursula bleibt die entscheidende Frage danach, wie sich ihr Lebensziel der gelebten Harmonie von Inhalt und Form unter den gegebenen Umständen erreichen lässt, unbeantwortet. Sie wendet folglich auch in dieser Situation ihr Flexibilitätspotenzials zur Stabilisierung an und fokussiert einen Wandel erster Ordnung, in dem sie ihre Autonomie in der informationell-relationalen Balance sichert. Echter Wandel zweiter Ordnung und damit die Entwicklung einer wirklich neu angepassten, autonomen Vorgehensweise würde erfordern, über die bisher entwickelte aktive Distanzierung hinauszugehen und einen modifizierten Deutungsrahmen zu entwickeln, in dem Inhalt und Form wieder balanciert und kongruent sind. Nur so könnte es gelingen, das Bedürfnis nach empfundener Harmonie, das Gefühl „dass das irgendwie .so passt, dass ich mich wohlfühle“ (EI) zu befriedigen. Als Möglichkeiten erscheinen sowohl die Entdramatisierung der Ursprungsbrust, d.h. die Reduktion des Angstgefühls auf ein erträgliches Maß, als auch die Entstigmatisierung der operierten Brust, d.h. die Abwehr des empfundenen „anoperierten Attraktivitätsmakels“. In beiden Fällen gilt es, den Einfluss der von Martina repräsentierten Herkunftsfamilie zu minimieren und den eigenen Lebensentwurf anzupassen. Die wahre Herausforderung scheint für Ursula jedoch darin zu liegen, ein Vertrauen in zukünftige Beziehungen aufzubauen, deren Stabilität nicht durch Äußerlichkeiten wie Makellosigkeit oder eine gemeinsame Stillzeit garantiert werden und in denen Krisen, wie mögliche Krankheiten oder Konflikte, gemeinsam gemeistert werden können. Nur dann würde sie die tiefe Verunsicherung, die aus der Scheidung der Eltern resultiert und bis zum heutigen Tage anhält, konstruktiv verarbeiten und die Gefahr minimieren, auch weiterhin eine (mittelbar) kontrollierende Beziehungsstruktur aufzubauen. Ursula Paaschs grundsätzliche Aufgeschlossenheit und Tendenz zum reflektorischen Rückzug sowie die Ansätze Ambiguitätstoleranz und Systemaufbruch verweisen darauf, dass ein Potenzial zur Überwindung des Entwicklungsvakuums vorliegt,

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in dessen Verlauf auch die Genkrise entdramatisiert werden würde. Vor dem in diesem Fall bestimmenden Hintergrund des im Vergleich zu Martina familial viel stärker relational eingebundenen Selbstfindungsprozesses, aber auch der Scheidung, des der manischen Depression geschuldeten Belastungsverbots und der Deutung von Krebs als unvermeidbarem Todesurteil kann sie dann ihr Lebensziel des selbstbestimmten, harmonischen Daseins als relational eingebundenes Selbst in Beziehung verwirklichen.

9. Diskussion: Dreidimensionalität, Normativität und gesundheitstheoretische Überlegungen

Ein positives prädiktives BRCA-Testergebnis verweist auf eine potenzielle Gesundheitsgefahr und gilt damit als nicht ignorierbarer gesundheitssozialisatorischer Bildungsanlass, welcher den vorhandenen sozialen Sinn von Gesundheit zugleich sichtbar macht und im Rahmen einer krisenhaften Re-Evaluation der Gesundheitsidentität herausfordert. Der Umgang mit der Krise erfolgt unter Rückgriff auf die aktuelle Lebenssituation, familiale Kennzeichen und Ressourcen sowie Wissenspotenziale in Form einer dreidimensionalen Kontextualisierung, in der sich die Eigenlogik der fallspezifischen Gesundheitskonstruktion enthüllt. Aufbauend auf den Forschungsfragen wird daher im Diskussionskapitel wie folgt vorgegangen: •

• •



Die Ergebnisse der Fallrekonstruktionen sind zunächst dimensionsspezifisch zusammenzufassen und im Rahmen früherer Studienergebnisse zu diskutieren, bevor ihr sozialer Sinn und schließlich ihr Dimensionen übergreifendes Zusammenwirken dargestellt wird. Dieses Resultat wird sodann in die Überlegungen zum subjektiv-sozialen Gesundheitsbegriff eingearbeitet. Dessen soziale Seite wird durch die Zusammenschau der persönlichen RealNormen und der gesellschaftlichen Ideal-Normen in Form der lebensentwurfsbezogenen Individualnorm näher beleuchtet. Sodann wird auf evtl. normative Konflikte und Kränkungspotenziale hingewiesen. Mögliche Implikationen der Studie werden mit Blick auf die Frage nach der Zumutbarkeit vorgestellt, bevor ein Ausblick die Studie abschließt.

9.1 G ESUNDHEITSKONSTRUKTION IM DREIDIMENSIONALEN K ONTEXT 9.1.1

Situierung: Kontextualisierung im Rahmen der Lebenssituation

Eine Synopse der biografischen Lebenssituation der BRCA-positiven Frauen zum Zeitpunkt des BRCA-Tests und dessen Konsequenzen führt zu folgendem Ergebnis:

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Die damals 20-jährige Lisa Schall macht den BRCA2-Test zu einem Zeitpunkt, an dem sie durch ihren Auszug aus dem Elternhaus, ihre Verlobung sowie ihren Studienbeginn ein deutliches und für deutsche Abiturient_innen dieses Jahrgangs zeitlich recht typisches1 Streben nach einer Abkehr von der Herkunftsfamilie gezeigt hat. Das weist deutlich auf die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz hin (vgl. Oevermann 2004). Der sich als BRCA-positiv erweisende Test markiert den Höhe- und Wendepunkt dieses Strebens nach Autonomie, der Lisa im Folgenden – u.a. als familiale Gesundheitsexpertin und im Rahmen der als „Familienausflüge“ betitelten Früherkennungsbesuche – in den „Schoß der Herkunftsfamilie“ refamilialisiert und mit dem Aufbau eines herkunftsfamilial losgelösten Lebens in Konflikt gerät. Dieses bleibt jedoch als „autonomer Sehnsuchtsort“ im Sinne einer Überwindung dieses Familienzusammenhangs spürbar. Die Situation ist als genetisch verstärktes Drama der Adoleszenz zu charakterisieren, das zum Interviewzeitpunkt (2007) andauert. Lydia Schall hat mit 47 Jahren ungefähr zum Zeitpunkt des BRCA2-Tests im Jahr 2004 eine stabile Familienkonstellation und eine selbständige berufliche Position erlangt und kann auch darüber hinaus als sozial integriert gelten. Damit hat sie nach einer langen wechselvollen Geschichte einen konstanten und selbstbestimmten Zustand in den Bereichen Partnerschaft, Beruf und Sozialleben realisieren können, dessen prekäre Entwicklung jedoch als grundlegendes Potenzial unvergessen bleibt. Den negativ ausfallenden BRCA1-Test 1999 besucht Lydia, verweigert sich jedoch zunächst der Teilnahme am BRCA2-Test und holt diesen nach, nachdem sie von ihrer Tochter Lisa über deren und damit zwangsläufig auch ihr eigenes positives Ergebnis informiert worden ist. Sie entschließt sich zur prophylaktischen Ovarektomie, realisiert jedoch nicht die Möglichkeit einer Mastektomie und nimmt an der Früherkennung teil. Damit bleibt der stabile und selbständige Lebensalltag erhalten. Anke Brause führt zum Zeitpunkt des BRCA2-Tests ein stabiles, zufriedenes und geborgenes Leben in kinderlos gebliebener Partnerschaft. Hatte sie beim BRCA1Test der Familie 1999 nur rudimentär teilgenommen, so durchläuft sie nun die gesamte Beratungs- und Test-Prozedur. Zwischen dem ersten und dem zweiten GenTest liegt Frau Brauses 40. Geburtstag und damit die Schwelle, die in dem Sinne als familiär krebsrelevant gilt, als dass sie eine Grenze zwischen Gefährdung (U 40) und deren Überwindung (40+) darstellt. Frau Brause ist nach der Ergebnismitteilung kurz desorientiert, konzentriert sich dann auf die Durchführung der prophylaktischen Eierstockentfernung und nimmt fortan an der Früherkennung teil. Gaby Böttchers BRCA-Testteilnahme entwickelt sich letztendlich als Folge des Krebstodes ihrer Mutter. Mit 37 Jahren erfährt sie, dass sie BRCA-positiv ist und reagiert geschockt, wenn auch nicht überrascht. Sie arbeitet zu diesem Zeitpunkt halbtags als Büromanagerin und ist als alleinerziehende Mutter liiert mit einem Mann, der nicht der Kindsvater ist. Dieser verlässt sie im Zusammenhang mit ihrer Entscheidung für eine prophylaktische Eierstockoperation, was einen depressionsartigen Zustand hervorruft. Sie lässt die Operation jedoch bis nach dem Interview (2007) doch nicht durchführen, obwohl der mittlerweile 40-Jährigen dringend dazu geraten wird, da zu diesem Zeitpunkt ein Anstieg des statistischen Erkrankungsrisikos zu verzeichnen sei. Im Interview verweist Frau Böttcher auch auf Überlegungen, doch noch ein

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Der Zeitpunkt dürfte sich durch G8-Abitur sowie Wegfalls der Wehrpflicht vorverlagern.

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Studium der Psychologie aufzunehmen. Diese fortgesetzte Unsicherheit in der Möglichkeitsvielfalt lässt sich als genetisch verstärkte Midlife-Crisis bezeichnen. Ursula Paasch nimmt den BRCA-Test 2004 als 24-Jährige in Anspruch, nachdem ihre Mutter im Zusammenhang mit der dritten Brustkrebserkrankung aus Todesangst zusammengebrochen ist und positiv getestet wurde, um eine prophylaktische Mastektomie durchführen zu dürfen. Ursula selbst studiert und lebt zu diesem Zeitpunkt in einer stabilen, noch kinderlosen Beziehung. Sie empfindet sich als unerwartet schockiert, entschließt sich aber dann wie ihre Vollzeit arbeitende, verheiratete Schwester Stephanie, die zudem Mutter dreier Kinder ist, zu einer prophylaktischen Mastektomie. Im Gegensatz zu der damals 31-jährigen Stephanie lässt sie diese jedoch nicht durchführen. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews 2009 hadert die nunmehr auf die 30 zugehende Ursula, die in der Zwischenzeit den Beziehungspartner gewechselt hat und die gewünschte und anstehende Wahlfamiliengründung aufschiebt, immer noch mit der Durchführung. Sie wird jedoch u.a. von ihrer Mutter verstärkt darauf hingewiesen, dass das Brustkrebsrisiko um das 30. Lebensjahr herum ansteigt, worauf auch die medizinische Faustregel „Erkrankungsalter der Mutter (hier 41) minus zehn Jahre“ verweisen würde. Effekte der aktuellen Lebenssituation sind im vorliegenden Datenmaterial offensichtlich. Allein der Vergleich von Gaby und Lydia zeigt, dass das BRCATestresultat bei einer stabilisierten Lebenssituation mit geregelten Beziehungsverhältnissen und befriedigender Arbeitssituation zumindest auf den ersten Blick weniger schockierend erscheint als in einem weniger „gesetzten“ Fall. Dies reicht jedoch nicht für ein Verständnis der Entwicklung eines Falles aus. So bleibt auf dieser Basis unklar, warum Lydia z.B. zu einer Handlung gelangt, während Gaby dies mit Hinblick auf die Ovarektomie nicht gelingt, obschon beide gewisse Parallelen aufweisen. Ebenso ist ein vergleichender Nachvollzug der Geschichten von Lydia und Anke ohne weitere Hintergrundinformationen nur schwerlich möglich: Während Lydia am ersten Test teilnimmt und den zweiten verweigert, verhält sich Anke genau umgekehrt, obschon beider Leben stabil zu sein scheint. Darüber hinaus werden die in der Literatur beobachteten Effekte des individuellen Lebenszyklus mit seinen verschiedene Entwicklungsaufgaben und Verdichtungen an critical life junctions sichtbar: Lebenszyklusunterschiede werden innerhalb der Familie Schall-Brause offensichtlich, wenn die beiden älteren Schwestern jeweils eine prophylaktische Eierstockentfernung vornehmen lassen, Lisa jedoch nicht – wobei das nicht erklärt, warum die Schwestern mit einer Operation auf das Testergebnis reagieren und was diese bedeutet. Critical life junctions zeigen sich hinsichtlich Lisas Adoleszenz, Gabys Midlife-Crisis oder auch Ursulas zunehmend drängender „30-er Krise“, wobei aufgrund der Situationsbeschreibung grundsätzlich nicht entschieden werden kann, wieso Gaby und Ursula die Operation jeweils nicht durchführen und wie stark Lisas zentrifugales Drängen aus der Familie heraus tatsächlich ist, d.h. ob der Test zu diesem Zeitpunkt bspw. abgrenzend oder verbindend gemeint ist. Während Gabys und Ursulas Agieren folglich die Frage nach der Sichtweise der OP und dem damit verbundenen Bedeutungsraum aufkommen lässt, verweist Lisa Schalls Situation auf die Herkunftsfamilie als relevantem Lebensumfeld. Die „40-er“ und „30-er“ Krisen können darüber hinaus beide als akquirierte, bisweilen gar induzierte Reflexionszeitpunkte gelten, werden sie doch in der Lebenszyklus-Forschung so nicht als Transformationspunkte genannt. Sie verweisen auf ei-

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ne Tendenz, das Erwachsenenalter in Zehn-Jahres-Abschnitte zu gliedern, nach denen jeweils eine „Lebensbilanzierung“ anempfohlen wird. Diese Einteilung verweist auf (west-)deutsche kulturelle Muster und/oder gesellschaftliche Konventionen biografischer Erwartungen, die für ein vollständigen Fallverstehen zu berücksichtigen sind, sich jedoch auch ändern können. Die o.g. gesellschaftlich-kulturell gesetzten Reflexions- und Entwicklungspunkte werden in Gabys und Ursulas Fall zudem durch die statistischen Risikozahlen mit ihren Anstiegen um das 30. (Brustkrebs) bzw. 40. (Eierstockkrebs) Lebensjahr herum in ihrer Dramatik unterstrichen. Des Weiteren ist der Einfluss des familialen Lebenszyklus und krebsspezifischer danger zones erkennbar, wenn wie in Gabys Fall der Tod der Mutter die Entwicklung hin zum BRCA-Test einleitet, die Krebserkrankung der Mutter mit ihrer impliziten Todesdrohung im Fall Paasch sowohl den BRCA-Test als auch die „MastektomieLösung“ motiviert sowie die Dringlichkeit der letzteren verschärft oder das Überschreiten der familial anerkannten Altersgrenze die „vollständige“ Testteilnahme anscheinend ermöglicht, wie bei Anke Brause. Allerdings stellen alle drei Fälle auch die implizite Frage nach dem Einfluss und der Bedeutung der Herkunftsfamilie, die im einzelnen bspw. auf Fragen nach der Bedeutung der Mutter für Gaby Böttcher, nach der Rolle von Ursulas Mutter und deren Hintergrund sowie nach Hintergrund und Bedeutung der Altersgrenze für Anke Brause hinauslaufen. Es wird deutlich, dass biografische Situationen wie auch Zeitpunkte im Lebenslauf eine große Bedeutung haben und sich in ihren Effekten fallspezifisch überlagern können. Es ist eine wechselseitige Beeinflussung der folgenden Aspekte der Lebenssituation zu verzeichnen: • • •

die medizinisch wie familial inszenierte Aktualität einer evtl. Krebserkrankung die im personalen wie familialen Lebenszyklus anstehenden Entwicklungsschritte der aktuelle Status im Verhältnis zum individuellen Lebensentwurf sowie zu dessen intendierter Entwicklung

Die Lebenssituation in ihrer lebenszyklischen Bedingtheit wie auch in ihrem gegenwärtigen Sosein moduliert die Wahrnehmung des Tests, seiner Konsequenzen und impliziten Bedeutung(-en) sowie der aktuellen personal-familialen Entwicklungsaufgabe in dem Sinn, dass sie diese mehr (Gaby, Lisa) oder weniger (Lydia, Anke) notwendig erscheinen lassen. Situierung betrifft folglich die quantitativ variable Dimension der Dringlichkeit und holt bestimmte Aspekte des aktuellen Lebens scheinwerferartig hervor. Damit zeigt sich, dass der von Werner-Lin (2007) für die Realisierung von Ehe und Familie festgestellte beschleunigende, „verdringlichende“ Effekt als grundlegender Einfluss der Lebenssituation anzusehen ist, wiewohl diese auch die Chance der „Entschleunigung“ enthält. Die Lebenssituation sollte daher in der Beratung nicht vernachlässigt werden, wenn das Angebot eine Entscheidungshilfe darstellen soll, der das Verstehen der Falles in seiner umfassenden Bedingtheit zu Grunde liegt. Die Gesamtkonstellation der Lebenssituation erfordert daher eine Sensibilität für das Lebensalter jenseits der simplen Feststellung des Geburtsdatums – eine Sensibilität, die sich zum einen auf die in diesem Alter üblicherweise anstehenden Entwicklungsherausforderungen bezieht, zum anderen aber auch in der Lage ist, die biografische Situation der betreffenden Person als relevante Konstellation zu lesen. Dabei ist

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es wichtig zu bedenken, dass die häufig in Form einer „Anamnese der Sozialdaten“ erfolgende Datenerhebung nie eine Form absoluter, simpler Wahrheit im Sinne von Adoleszenz = Vulnerabilität oder stabiles Lebensumfeld = stabile Persönlichkeit offenbart, sondern vielmehr als Aufforderung zum Nachforschen nach dem zu Grunde liegenden Deutungs- und Sozialkontext zu lesen ist, vor dessen Hintergrund die aktuelle Lebenssituation ihren Einfluss gewinnt. Nur wenn gesundheitsrelevante Deutungs- und Handlungsmuster, biografische Entwicklungen und Lebensentwürfe, aber auch familiale Strukturen zumindest in groben Zügen bekannt sind, kann ein FallVerstehen (nicht Verständnis!2) erzielt werden. Dann kann es bspw. absolut logisch erscheinen, dass ein vermeintlich „positiv“ zu wertendes Ereignis wie ein negatives BRCA-Testergebnis im Rahmen des eigenen Lebensentwurfs als „negativ“ bewertet werden kann, ohne Konzepte, die nicht der „Sprache des Falles“ entsprechen, zu applizieren und so ggf. vorschnell Dysfunktionalität zu unterstellen.3 Zusammenfassend kann man sagen, dass die Lebenssituation in ihrer lebenszyklischen wie auch lebensentwurfspezifischen Bedingtheit und medizinisch, familial und personal inszenierten Aktualität die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten einer Person im Sinne einer zu- oder abnehmenden Verdringlichung beeinflusst und bestimmte Aspekte des aktuellen Lebens scheinwerferartig hervorholt. Um die Grundlage dieser Verdringlichung zu verstehen, wird im Folgenden zum einen auf das interpretative and operative Wissenspotenzial, zum anderen auf die familialsoziale Relationierung4 als weitere relevante Kontextualisierungen eingegangen. 9.1.2

Kontextualisierung im Rahmen von Wissenspotenzialen

Der Begriff des Wissenspotenzials wird in dieser Arbeit als ein sehr umfassender verwendet und soll daher kurz differenziert werden, wobei sämtliche Komponenten des Wissenspotenzials als subjektiv zu kennzeichnen sind. Wichtig ist zunächst die Unterscheidung von operativem und interpretativem Wissen. Operatives Wissen bezeichnet Handlungsregeln, welche die (kommunikativen) Handlungen der Individuen im Umgang mit Krebs und BRCA strukturieren. Dieses Wissen ist latent vorhanden, kennzeichnet die Strukturgesetzlichkeit des Falles und repräsentiert aufgrund der Prinzips der Strukturgeneralisierung auch eine gesellschaftlich anerkannte Art des Umgangs mit als gesundheitsrelevant geltendem Wissen wie dem von den Genen. Interpretatives Wissen beinhaltet zum einen eine inhaltliche Füllung bzw. Definition von Begriffen, d.h. die Bedeutung von z.B. Krebs oder BRCA, zum anderen aber auch Deutungsmuster zur Entstehung von bzw. zur Anfälligkeit für Krebs, d.h. eine Erklärung. Beide können als subjektiver, dem einzelnen i.d.R. zugänglicher Sinn be-

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Verstehen meint hier den Nachvollzug der Eigenlogik des Falles, Verständnis würde eher ein emotionales Nachempfinden mit Tendenz zur Entschuldigung beinhalten und daher den Horizont einer Analyse übersteigen. Diese „unerwartete Bewertung“ begegnete einer genetischen Beraterin, die diese als „merkwürdige Anekdote“ während der Feld-Erkundung berichtete. Um den Begriff der Relationierung hat sich ein eigener soziologischer Diskurs entwickelt (vgl. Fuhse & Mützel 2010), der aus Platzgründen nicht weiter dargestellt werden kann.

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zeichnet werden und stehen (ebenfalls i.d.R.) mit der familiären Krebsgeschichte und dem persönliche Erleben derselben in Zusammenhang. Als angenommene Konstruktion stützen und reflektieren sie die latente Strukturgesetzlichkeit des Falles und ergänzen sie auf der Ebene der Bedeutung. Als dritte Komponente des interpretativen Wissens wird der Lebensentwurf in den Blick genommen (vgl. Ortmann-Bless 2006). Die Koinzidenz von Lebensentwurf und BRCA-Test und dessen Konsequenzen wurden bereits im Situierungsabschnitt erwähnt. Im Zusammenhang des aktuellen Abschnitts steht der Lebensentwurf für ein mehr oder weniger bewusstes, verzeitlichtes Wissen vom gelungenen Leben, das als Interpretationsrahmen gesundheitlicher Vorgänge dient. Als solches kann es mit einem neuen im Rahmen des BRCA-Testprozesses applizierten und als „notwendig“ vermittelten Lebensentwurf kollidieren oder aufgrund des Gen-Wissens eine Veränderung erfahren, die sich an eigenen Werten orientiert, welche als neue Prioritäten verstärkt hervortreten. Diese rein subjektiv wahrgenommenen Konstruktionen beeinflussen folglich ihrerseits den Umgang mit dem Gen-Wissens und weisen in ihrer Eigenlogik natürlich ebenfalls auf die Strukturgesetzlichkeit des Falles hin. In allen drei Wissenspotenzialen zeigt sich mithin die kulturell-symbolische Dimension der genetischen Erbschaft, in der sich die gesellschaftliche Deutungsaufladung der Gene spiegelt. Eine kurze Zusammenschau der diesbezüglichen Analyseresultate ergibt das folgende Bild: Vor dem Hintergrund des familialen Themas der Selbstverwirklichung in Sicherheit umfasst das operative Gesundheitswissen der Familie Schall-Brause eine Verpflichtung zu persönlichen pragmatischen Gegenmaßnahmen im Krankheitsfall sowie zum selbstverantwortlichen vorbeugenden Gesundheitshandeln, wodurch Gesundheit als Leistung entsteht bzw. bestehen bleibt. Darüber hinaus existieren im Krankheits- bzw. Gefährdungsfall die sozialen Forderungen nach einer visuell sowie emotional kontrollierten Präsentation einerseits sowie zur familialen Solidarität andererseits. Diese Regeln basieren sowohl auf der mütterlichen wie auch der väterlichen Krankheitsgeschichte sowie milieubedingten Handlungsressourcen und formulieren die Passing-Aufgabe der Familie. Die so geschaffene bzw. gesicherte Gesundheit wird mit (Über-)Leben assoziiert und zwar sowohl dem persönlichen als auch dem der Familie. Krebs gilt als zeitlich und lokal begrenzte Einschränkung, Handlungsaufforderung und Aufmerksamkeitsfokus im Rahmen der dann zentripetal wirkenden Herkunftsfamilie. Das BRCA-Testresultat wiederum wird als zeitlich unbegrenzter latenter Krebs mit ähnlicher Konsequenz auf der Handlungs- und Aufmerksamkeitsebene verstanden. Im familialen Raum überwiegt die Komponente der Handlung die der Deutung bei weitem. Deutungen, auch Ausdeutungen der familialen Regeln, existieren für jedes BRCA-positive Familienmitglied einzeln und zollen deren jeweiliger Lebenserfahrung und -position Tribut. Vor dem Hintergrund einer ständigen Konkurrenz zur Mutter Lydia sowie des ebenfalls lebenslang bereits bestehenden Wissens um die Krebsgefahr hat Lisa Aziza Schall zum einen ein Körperverständnis entwickelt, das den Körper als Mittel zur Entwicklung von Autonomie von der Familie konstruiert, zum anderen das familiale Diktum der Gesundheitsleistung zu einer ständigen Körperkontrolle mit Wettbewerbscharakter weiterentwickelt. Beides erscheint jedoch von vornherein als vulnerabel. Im Moment des positiven BRCA-Tests kommen diese beiden Entwicklungen zusammen und bestätigen Krebs als permanenten, für sie relevanten Zustand, der sie

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(wieder) an die Familie bindet, wobei sie als Expertin für das neue Gen-Wissen damit dort auch eine gewisse Autorität gewinnt. Lisas deterministische Lesart des biomedizinischen DNA-Deutungsmusters repräsentiert die Schicksalhaftigkeit der Familie, die sich auch darin spiegelt, dass alle anderen Deutungsmuster für Lisa nicht als Alternativen zugänglich sind, sondern vielmehr Krebs an sie zu delegieren scheinen. Der Versuch der Initiierung eines eigenen Lebensentwurfs losgelöst vom Leistungsund Kontrollstreben der Herkunftsfamilie, der in vagen Sehnsuchtssequenzen von Ruhe und Reife, aber auch interessanter Exotik auftaucht, scheint bei Lisa durch das BRCA-Testergebnis und dessen familiale Rückbindung zunächst ins Reich der Träume zurückverwiesen zu sein. Diese Spannung, die sich in der Spannung zwischen Krebs als kontrollierbar und kontingent spiegelt, wird aushaltbar durch die im universitären Umfeld geltende Eigenlogik der wissenschaftlichen Skepsis, der von Juan aus seiner Herkunftsfamilie in die Partnerschaft eingebrachten Deutung von Familie als krankheitsfreiem Raum, d.h. eine Art alternativer Gesundheitserzählung, sowie durch die in ihrem HBOC-Zentrum beobachtbare Prioritätsdiversifizierung, die neben einer rein biostatistisch begründeten Kontrolle auch ein erhaltenswertes Bild von Weiblichkeit kennt, und zudem ihren distanzierenden Expertinnenstatus unterstreicht. Lydia Schall erfährt Krebs als unausweichliche Annäherung der Familie und scheinbar rein pragmatische familiale Handlungsaufforderung, die für sie als 20jährige verheiratete Frau und Mutter durch die Erkrankung ihrer Mutter Johanna erstmals relevant, aber auch an diesem Scheidepunkt von Unabhängigkeit und Nachvollziehbarkeit gleichzeitig erträglich und verpflichtend wird. Diese Situation wiederholt sich in der Folge bei weiteren Erkrankungen und nimmt durch (mindestens) eine traumatische Erfahrung unterschwellig auch den Charakter angstbesetzten Leidens an. Die Angst wird nicht veröffentlicht, sondern vielmehr durch die Befolgung der familialen pragmatischen Gesundheitsstrategie, aber auch durch das Deutungsmuster der Körperform im Zaum gehalten, das Lydia als nicht zum Kreise der Gefährdeten gehörend präsentiert. Hierin zeigt sich ihre kaufmännisch anmutende Bilanzierungsstrategie mit seiner Trennung der zu verwaltenden „Handlungsposten“, die gegeneinander aufgewogen werden, und der Orientierung an einem im Endeffekt positiven vorzeigbaren Ergebnis, nach der sie ihr Leben und ihren Körperumgang handhabt. Lydias Lebensentwurf zielt auf das selbständige Erlangen von Status und Stabilität ab, wobei sie durch den BRCA2-Test just in dem Moment von ihrer Familie und dem familiären Krebs wieder droht, eingeholt zu werden, als sie diesen Entwurf nach mehreren Jobs und Ehen verwirklicht zu haben scheint. Ihre daraus resultierende Teilnahme-Weigerung fruchtet jedoch nicht. Das BRCA-Testergebnis erweist sich als genauso familiär unvermeidlich wie der Krebs, was von Lydia als erneute Handlungspflicht im Rahmen der Herkunftsfamilie gedeutet wird, ohne sich jedoch von ihrer einmal erreichen Unabhängigkeit in Partnerschaft und Job abbringen zu lassen. Diese wie auch ihre „sozialen Auftritte“ im Rahmen von Chor, Tanzverein und Fitness stellen eine Öffentlichkeit dar, die sie auch mithilfe der Anti-Stress-Ratschläge des HBOC-Zentrums als Bestätigung rekonstruiert: Sie spiegeln ihre in unterschiedlichem Grad unversehrte, attraktive Vorzeigbarkeit und liefern eine eigene Gesundheitserzählung, die sie gegen eine familiale und medizinische Vereinnahmung durch Krankheit in Stellung bringt.

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Für die damals 14-jährige Anke Brause markiert die erste Krebserkrankung der Mutter die Wandlung der Familie vom Schutz- zum gefährdeten Verpflichtungsraum – eine Wandlung, von deren potenzieller Überforderung sie sich durch Konzentration auf eigene Leistungsverpflichtungen (Schule) abgrenzt. Die Abgrenzungsstrategie von Krebs als Todesdrohung behält Anke sowohl bei weiteren Krebserkrankungen als auch im Hinblick auf die Einhaltung familialer Gesundheitsregel bei, die sie für sich passend umdeutet. Dieses umdeutende Abgrenzen zeigt sich auch in dem von ihr favorisierten Deutungsmuster der Altersgrenze von 40 Jahren, nach deren Überquerung sie Krebsfreiheit erwartet. Zeitlich wird dieser Entwicklungsschritt von Anke mit einer weiteren körperlichen Befreiung, nämlich der von einer übergroßen Brust, kombiniert und führt zur Aneignung eines genussvoll erlebten Körpers. Bis dato hatte sie sich der Umsetzung eines durch wahlfamiliäre und jobbedingte Stabilität und Geborgenheit gekennzeichneten Lebensentwurfs gewidmet und Störendes (Kinderlosigkeit) auch hier konsequent ausgeblendet oder durch die Annahme der Patenschaft für Lisa umgedeutet, ohne jedoch die Verbindung zur Herkunftsfamilie abzubrechen. Nach ihrem 40. Geburtstag hat Anke folglich Stabilität auf allen Ebenen erreicht, was sie zur vollständigen Teilnahme am BRCA2-Test befähigt haben dürfte. Entsprechend wird auch das positive Testresultat nicht lange als verstörend erlebt, sondern durch die prophylaktische Eierstockentnahme sowie den Anti-Stress-Rat des HBOCZentrums vor dem Hintergrund einer unveränderten wahlfamiliären Gesundheitserzählung in die bestehende körperlich-soziale Befreiungsgeschichte einsortiert sowie als Rückkehr in die Herkunftsfamilie und als Geborgenheit in der Betreuung im HBOC-Zentrum umgedeutet. Dies manifestiert sich auch in der Deutung der DNASequenz als zusätzlicher Sicherheit. Gegen evtl. Verunsicherungen aus dem sozialen Außen (Job, Nachbarschaft) hilft Anke ihre umdeutende Abgrenzungsstrategie, mit deren Hilfe sie Anfragen an sich in präventive Aufforderungen an andere transformiert. Für Ursula Paasch kennzeichnet die erste Brustkrebserkrankung der Mutter nur eine kurze Verunsicherung der familialen Stabilität, die zweite geht in der Scheidung der Eltern unter und erst die dritte wird in ihrer ganzen Dramatik bewusst. Sie vermittelt auch die Deutung einer Krebsdiagnose als unvermeidliches, obwohl in die Zukunft verlegtes Todesurteil, was durch weitere Geschwulstfunde unterstrichen wird. Auch diese letzte Periode geht mit einer familienstrukturellen Verunsicherung im Sinne einer Zurückweisung der Tochter durch die Mutter einher. Krebs wird innerfamiliär daher wenig verwunderlich als sozial exkludierende private Krankheit gedeutet und stellt damit den Gegensatz zur manischen Depression der Tante Bringfriede dar, die als sozial-übergriffige kollektive Krankheit gilt. Gesundheit als Gegenentwurf zu beiden wird als Vorbedingung eines selbstbestimmten Lebens gedeutet. Dies verweist auf die Notwendigkeit der kontrollierten Zurückhaltung eigener Vulnerabilität zum Erhalt des eigenen Lebens(-entwurfs) und manifestiert sich in der Handlungsregel „Kontrolliere dich, damit du nicht von anderen kontrolliert wirst“. Zum Zwecke dieser Selbstkontrolle setzt Ursula nach dem BRCA-Test sehr stark auf das biomedizinische DNA-Deutungsmuster in einer deskriptiven Lesart – eine Deutung die durch Ursulas medikalisierte Lebenswelt verstärkt wird – womit die krebsbedingte Todesangst ausgeblendet wird, die Ursula nichtsdestotrotz empfindet. Diese entdramatisierende „Unsichtbarkeit“ sichert soziale Unabhängigkeit, macht jedoch anfällig für plötzliche Enthüllungen der Gefahr und damit auch der emotionalen Ge-

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fährdung. Aus diesem Grund hat Ursula noch eine zweite Gesundheitsregel installiert: „Kontrolliere andere und deren Informationsstand, damit du dich selbst kontrollieren kannst“. Dahinter steckt eine schwellenartige Strategie der graduellen Gesundheitsaktivierung, die ein Überschreitung von Informationsschwellen mit der Ausführung bestimmter Gesundheitsaktivitäten verbindet und an eine generelle Handlungsstrategie der abwägenden aktiven Abgrenzung gekoppelt ist. Durch das Abwägen changiert Ursula zwischen informationeller Stabilität und Flexibilität. Seit dem positiven BRCA-Test steht nun ein BRCA-Lebensentwurf im Raum, der auf Martinas Krebshandeln zurückgeht und eine Abfolge positiv bewerteter präventiver Maßnahmen beinhaltet. Dieser Entwurf ist eine Herausforderung für Ursulas ursprünglichen relationalen Lebensentwurf, der einen Versuch darstellt, den Scheidungsverlust der Eltern und damit familialer Geborgenheit durch die Reproduktion einer ähnlichen Beziehungskonstellation zu überwinden, wozu Ursula ihre „natürliche Brust“ als „Verbindungsorgan“ benötigen würde. Gaby Böttcher gilt Krebs als Ergebnis eines nicht durch Beziehungen abgebauten, sondern vielmehr in diesen noch gesteigerten emotionalen Drucks, wobei der Krebs dann seinerseits die Beziehungen (weiter) zerstört. Dies ist die Schlussfolgerung aus ihren herkunftsfamiliären Erfahrungen mit der Mutter. Als Konsequenz versucht Gaby ein als gesundheitsförderlich geltendes Verhalten zu zeigen, das der Regel „nur nicht sein wie Mutter“ folgt und daher aktiv problemorientiert, aber auch aus sich herausgehend, offen, vergnügungsorientiert und positiv ist. Damit reagiert sie aufbauend auf dem familialen Handlungsmuster des Aushaltens von Ambivalenzen durch Rückzug mit einer Strategie des Gegensteuerns. Dieses Verhalten soll im Rahmen verschiedener Freundschafts-, Partnerschafts- oder Ärztinnenbeziehungen körpervermittelt zu einem Druckab- und Kraftaufbau führen, was insgesamt eine positive Energiebilanz in Gabys relationsdynamischem Energiemodell der Gesundheit ergibt und folglich Gesundheit sichert. Jede dieser Beziehungen vermittelt eine andere Art von Zugehörigkeit (als Akzeptanz und/oder Anteilnahme), sprich von sozialem Erfolg, der als alternative Gesundheitserzählung ein „Bollwerk“ gegen ein als unkontrollierbar verstandenes ererbtes Krebspotenzial darstellt. Die erworbene Energiebilanz ist somit in der Lage, diese ererbte familiale Potenzialgrundlage zu modifizieren, die sie zunächst in ihrer dem gesunden Vater ähnelnden Körperform „energetisierend“ repräsentiert sieht, nach dem BRCA-Test jedoch als Auseinandersetzung väterlicher Jung-Gene (Freundinnen-gestützt) versus mütterlicher Krebs-Gene (Zentrumsgestützt) adressiert und deutet. Der BRCA-Test enthüllt ihr mütterlicher Potenzial, steigert die Autorität des medizinischen Systems, hat Anteil am Verlust der Partnerschaft und führt damit zu einer Unbalance zwischen den verschiedenen relationalen Kraftquellen bzw. „Kraftfressern“. Im Versuch, der Entwicklung wie gehabt entgegenzusteuern, verstrickt sie sich im Widerspruch zwischen einem gesundheitsbewussten Lebensentwurf ohne Party-vermittelte Lebensfreude und mit operativ eingeschränktem Weiblichkeitspotenzial und ihrem Entwurf eines guten relationalen Lebens mit Party und Partnerschaft, der ihr Respekt und Sympathie vermitteln und damit die durch die familiäre Vergangenheit verursachten Verletzungen (existenzielle Angst und verunsicherter Selbstwert) heilen soll. Mit Blick auf die im Genetikkapitel vorgestellte Literatur zur Wissenskontextualisierung wird zunächst einmal deutlich, dass Krebserfahrungen auf eine ähnliche Art von der Lebenssituation abhängen, wie dies auch für Testerfahrungen gilt. Hierunter

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ist v.a. der Bezug zum erreichten Entwicklungspunkt im Lebensentwurf zu verstehen, der das Verständnis des (hier) mütterlichen Krebses entscheidend mitbestimmt, wie sich bspw. am Vergleich der Umgangsweisen von Lydia und Anke ablesen lässt. Darüber hinaus könnten sich generationale Effekte im Vergleich der Dramatik der ersten Krebserkrankung zwischen den Familien Schall-Brauses und Paasch andeuten, die im ersten Fall in den 70er Jahren, im zweiten in den 80er Jahren stattfand: Während die Schall-Brauses stark geschockt reagiert haben, blieb der erste Krebs Martinas in ihrer Wahlfamilie fast unbemerkt. Hierbei ist jedoch unklar, ob dies nicht eher auf familiale oder milieubedingte Differenzen zurückzuführen ist. Deutlich wird jedoch eine andere Art der Generationsabhängigkeit, die auf den Einfluss der Individualisierung von Chancen und Risiken mit seiner scheinbaren Alternativlosigkeit biomedizinischen Wissens und der daraus erwachsenden Eigenverantwortung zum „rationalen Gesundheitshandeln“ verweist. Wo Lydia, Anke und selbst Gaby noch zumindest teilweise auf ihre lebensweltlichen Deutungsmuster vertrauen können und diese auch sozial bestätigt bekommen, gilt dies für Lisa und Ursula nicht mehr: Lisa testet bspw. im Laufe des Interviews das familiale akzeptierte Deutungsmuster der Körperform, sieht sich jedoch gezwungen, dies zugunsten des naturwissenschaftlichen Deutungsmusters zu verwerfen. In Ursulas Fall kann noch Mutter Martina lange Zeit ein Beziehungsdruck-Deutungsmuster annehmen, was jedoch in Ursulas Fall nicht mehr möglich ist. Diese Form der Generationsabhängigkeit deuten daraufhin, dass die Verwaltung des Gen-Wissens mitnichten durch noch mehr biomedizinisches Wissen leichter wird. Im Gegenteil: Die Alternativlosigkeit der biomedizinischer Deutungsmuster erlaubt keine „Gedanken-Urlaube“ vom scheinbar unausweichlich verpflichtenden Kontrollansatz so die betreffende Person an der medizinischen Welt mit ihren Angeboten teilhaben möchte.5 Gleichzeitig löst diese Teilhabe aber nicht das bei beiden jungen Frauen feststellbare emotionale Problem, was unter Rückgriff auf die Betroffenheitsdifferenz zwischen Risiko und Gefahr verständlich wird. Gerade der Fall Ursula Paasch mit seiner Einbettung von Todesangst in eine medikalisierte Existenz belegt dies sehr eindrucksvoll. Die gleichzeitige, informationstechnisch begünstigte Vervielfältigung kursierender gesundheitlicher Deutungs- und Handlungsmuster in der Wissensgesellschaft widerspricht dem nicht, sondern verweist auf eine im doppelten Sinne paradoxe Situation derer, die mit dem Gen-Wissen aufwachsen: Das Wissen von den Genen beinhaltet zum einen das Wissen von der alternativlosen Vulnerabilität, die proportional zur Menge des Wissens anzuwachsen scheint. Diese „Macht“ des Wissen impliziert folglich eine potenzielle „Ohnmacht“ des Handelns, die Lemke (20004a: 70) als „aufgeklärte Ohnmacht“ adressiert. Zum anderen konkurrieren just diese machtvollen, unausweichlichen Gene, die in der westlichen Welt den Königsweg zur Gesundheit zu weisen scheinen, in der Wissensgesellschaft mit derart vielen Gesundheitskonzepten, dass eine Gesundheitswahl sehr leicht zum gesundheitlichen Eklektizismus wird. Diese Wahl muss jedoch nichtsdestotrotz verantwortet werden und darf damit (zumindest in bestimmten Bereichen wie BRCA) das Primat der Gene nicht zu sehr in

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Unterstützt wird dies durch den disziplinierend wirkenden Anspruch der Krankenkassen, die eine regelmäßige Früherkennungsteilnahme fordern, so die Person auch weiterhin berechtigt sein möchte, das von der Kassen finanziell übernommene Angebot wahrzunehmen.

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Frage stellen, um nicht den Ausschluss aus dem medizinischen System zu riskieren und damit möglicherweise das Gefühl der Gefährdung zusätzlich zu steigern, wie dies im Fall Böttcher besonders offensichtlich ist.6 Gleichzeitig weist die plurale Wissenskonstellation auf eine Begrenzung dieser Studie hin, die solche Fälle fokussiert, welche sich auf das medizinische System und damit auch dessen Logik eingelassen haben (vgl. Callon & Rabeharisoa 2004). Der ebenfalls bereits in der Literatur referierte Einfluss der Krebsgeschichte als core illness narrative und damit als interpretativ und normativ wirksamer Rahmen von Bedeutungszuschreibung und Bewältigungshandeln ist in den vorliegenden Fällen ebenfalls sehr deutlich. Dies zeigt sich bspw. klar, wenn aus der Krebsgeschichte Johannas und ihrer Schwestern die Bewältigungsregeln und Deutungen der SchallBrauses abgeleitet werden, die auch den Umgang mit dem BRCA-Ergebnis bestimmen, oder aus Martinas Umgang mit dem Krebs ein BRCA-Lebensentwurf folgt. Innerhalb dieser Erzählungen sind auch die Wirkungen einzelner, in der Literatur benannter Einflussfaktoren auf die Bewertung der Krebserfahrung – wie bspw. die Beeinträchtigung des Selbstbildes der erkrankten Person sowie die eingeschränkte Kontrollierbarkeit des Krebs im Fall Martinas oder auch Lydias Pflegeerfahrung – oder auch ordnend wirkender familialer Heuristiken7 – wie das Deutungsmuster der stereotypisierten Ähnlichkeit der Körperform – erkennbar. In den vorliegenden Fallrekonstruktionen wird jedoch deutlich, dass diese Faktoren als einzelne Regeln und Deutungen zwar wichtige „Puzzleteile“ darstellen, jedoch erst in der hermeneutischen Gesamtschau der Narration in ihrer vollständigen Bedeutung für die Eigenlogik des Falles erkennbar werden und auch auf die Aufnahme weiterer Informationen einwirken. Als Beispiel sei auf das Körperformen-Deutungsmuster bei Lydia im Vergleich zu Gaby erinnert: Während Gaby versucht, sich via Körperform mit dem Vater zu verbinden, ist Lydias Anliegen weniger die Verbindung mit einer bestimmten Familienlinie, sondern eher die Abgrenzung von einer anderen. Bei Gaby geht es folglich um Verbindung, bei Lydia um ein ablösendes Alleinstellungsmerkmal – obschon in beiden Fällen damit die Idee des Krebsschutzes impliziert ist – und beides verweist auf das Familiensystem als den für den Umgang mit Krebs/BRCA entscheidenden Faktor. Ähnlich unterschiedlich ist die Bedeutung der Zitierung des Deutungsmusters „DNA“ im Vergleich von Ursula und Lisa: Wo Lisa etwas Schicksalhaftes und damit emotional Aufgeladenes anspricht, bemüht Ursula das Deutungsmuster als Gefühlsschutz.

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In Anbetracht dieser gleich pluralen wie wirkmächtigen Wissenslandschaft scheint es sich anzubieten, statt von „Risikofolgenabschätzung“ von „Wissensfolgenabschätzung“ zu sprechen: Während die Entwicklung des Risikobegriffs (vgl. Luhmann 1991) die Einflüsse einer Vielzahl anderer, ebenfalls effektiver Wissensformen verschleiert, eröffnet der Begriff Wissensfolgenabschätzung eine breitere Perspektive mit vielfältigen Kontextualisierungen. Die von Kenen, Ardern-Jones und Eeles (2003a) aufgeführte Differenzierungen von Heuristiken sowie von unterschiedlichen Erzählarten können daher höchstens als Orientierungspunkte oder Hinweise zum verstehenden Nachvollzug des Falles fungieren, sind jedoch ohne ihren jeweiligen Erzählzusammenhang wenig aussagekräftig. Hierin zeig sich eine Einstellung, die deutlich zwischen „richtigen“ und „falschen“ Geschichten unterscheidet und damit ggf. die Dramatik des Falles übersieht.

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Dieser Hinweis auf die in der Krebserzählung als core illness narrative steckende Logik ist jedoch nicht vollständig. Sie ist vielmehr aus der vorliegenden Studie heraus um den Aspekt der ‚alternativen’ illness narrative der Familie zu ergänzen. Im Fall der Schall-Brauses handelt es sich dabei um die „aufmerksamkeitsheischende selbstverschuldete Multimorbidität“ von Johannas Mann Karl-Herbert mit ihrer Verwurzelung im „Fluch des Stammhalterüberlebens“, während in der Familie Paasch die „verunselbständigende manische Depression“ von Martinas Schwester Bringfriede existiert, die auf eine weiblich konnotierte Traditionslinie verweist. Beide Alternativerzählungen stellen negative Krankheitsprototypen vor, zeigen also das, was nicht wünschenswert ist und verweisen damit auf das, was auf dem Spiel steht und schützenswert ist: Im Fall Schall-Brause wäre dies eine individuelle Existenz in der Herkunftsfamilie, im Fall Paasch hingegen ist Selbstverwirklichung in (relativer) Unabhängigkeit das Thema. Krebs ist in beiden Fällen insofern positiv zu werten, als dass die jeweilige Geschichte hinsichtlich genau dieses Themas erfolgreich war: einerseits als Überleben der Großmutter Johanna, andererseits als persönlich-professionelle Befreiungsgeschichte von Martina Karg-Paasch. Im Gegensatz dazu existiert in der Familie Böttcher die Erzählung von der „totalen Fitness“ der väterlichen Familienseite, die auch nicht durch die Herzprobleme des Vaters irritiert wird, sondern einen positiv wahrgenommenen Gesundheitsprototyp beschreibt und von Gaby als Sehnsuchtsort dargestellt wird. Für Gaby geht es folglich um die richtige (familiale) Zugehörigkeit. Hier stellt die Krebsgeschichte von Mutter Böttcher insofern eine Misserfolgsgeschichte dar, als dass sie eine innere Emigration und damit eine zunehmende Distanzierung schildert, die mit dem Tod endet und von Gaby trotz mannigfacher Bemühungen nicht überwunden werden kann. Erst in der Gesamtschau der Krebserzählung sowie der alternativen, je familienspezifischen Krankheits- bzw. Gesundheitsnarration ergibt sich folglich die gesamte Breite operativ und interpretativ normativierend wirkender gesundheitsrelevanter Anregungen, die auf dem im Genogramm beleuchteten familial-generationalen Handlungsthema als Ressource aufbauen und hinter denen das offenbar familial geprägte „Lebensthema“ erkennbar wird. Auf dieses Thema richtet sich der soziale Sinn von Gesundheit aus, der in der latenten Strukturgesetzlichkeit des Falles erkennbar wird und für die jeweilige soziale Lebenspraxis kennzeichnend ist. Er kann daher für die verschiedenen Fälle wie folgt beschrieben werden: Für Familie Schall-Brauses ist Gesundheit eine soziale Leistung, im Fall Paasch hingegen eine Beziehungsbalance und bei Gaby Böttcher verbindende Aktivität.8 Im Hinblick auf die letzte Kategorie interpretativen Wissens, den Lebensentwurf als verzeitlichtes, vergleichend angewandtes Wissen vom gelungenen Leben, lässt sich mit Blick auf die Literatur eine gewisse Leere feststellen. Dies mag teilweise daran liegen, dass der Begriff des Lebensentwurfs ein genuin deutscher ist, jedoch

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Obschon alle Sinngehalte von Gesundheit mit einem bestimmten Lebensthema verbunden sind, deutet die Liste darauf hin, dass Gesundheit nicht nur als instrumenteller, sondern auch intrinsischer Wert zu verstehen ist: Bei den Schall-Brauses besitzt Gesundheit bspw. einen eher intrinsischen Wert, während sie im Fall Böttcher stärker instrumentelle Charakter besitzt. Die Diskussion zum Wertcharakter von Gesundheit soll hier jedoch nicht vertieft werden (zur Einführung hierzu bspw. Franke 2006).

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sind auch unter Berücksichtigung anderer Begriffe nur wenige literarische Vergleichsarbeiten auffindbar, die mit einem ähnlich komplexen Lebensplanungsbegriff arbeiten. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Svendsen (2006) dar. Sie verweist darauf, dass gerade im Vorgang der Verbindung von genetischem Wissen mit lebensweltlichem Alltagswissen Möglichkeitsräume der Reflexion, Interpretation und Aktion eröffnet werden, die die Erkundung und Imagination sozialer Identitäten, Lebensperspektiven und alternativer Zukünfte ermöglichen. Damit beschreibt sie im Prinzip den Prozess der Lebensentwurfsarbeit aus Anlass des BRCA-Tests. Svendsens Arbeit stellt folglich zwei Fragen an die vorliegende Studie: Wie verhalten sich genetisches und lebensweltliches Wissen zueinander und welche Folgen hat dies für den Lebensentwurf? Das durch genetische Beratungen oder andere Informationsquellen im Rahmen eines BRCA-positiven Gentests vermittelte genetische oder auch allgemein gesundheitsförderliche Wissen wird in allen Fällen zunächst soweit wie möglich mit dem bestehenden lebensweltlichen Wissen zur Deckung gebracht und in den Dienst des eigenen Lebensentwurfs gestellt. Hier sei nur an Lydias und Ankes soziale Ausdeutung der Anti-Stress-Ratschläge, an Lisas und v.a. Ursulas Bestätigung der biomedizinischen Wissensgrundlagen ihrer medikalisierten Lebenswelt oder Gabys Umdeutung eines eher vagen, sich körperförmlich ausdrückenden „väterlichen Potenzials“ in „Jung-Gene“. In den Fällen zeigt sich folglich eine starke Tendenz zur Wissenskontinuität, welche sich als Angleichung und Integration von neuem Wissen in den Rahmen des bestehenden Deutungs- und Handlungsbestandes äußert und auf eine mehr oder weniger tiefgehende Reflexion bestehender Prioritäten aufbaut. Insofern wird das neu gewonnene Wissen letztlich so angewendet, wie es den Beratenen passt, nicht den Beratenden. Problematisch wird es dann, wenn die Integration bzgl. des eigenen Lebensentwurfs zu Friktionen führt und Handlungsentscheidungen diese Krise zuspitzen. Eine reibungslose Integration ist in keinem der vorliegenden Fälle feststellbar9, jedoch unterscheiden sie sich wesentlich hinsichtlich der Infragestellung eines existierenden bzw. im Aufbau befindlichen Lebensentwurfs, was zu mehr oder weniger stark ausgeprägten Irritationen führt: Anke kann aufgrund des von ihr Erreichten, aber auch aufgrund ihrer Handlungslogik der umdeutenden Abgrenzung sehr gut mit dem Ergebnis umgehen und es sogar als Bereicherung wahrnehmen, da es nicht nur prospektiv ihre eigene Befreiungserzählung unterstützt, sondern auch als retrograde Rechtfertigung der eigenen Kinderlosigkeit funktioniert. Im Gegensatz dazu ist die Herausforderung für Lydia aufgrund ihrer Geschichte schon größer. Sie kann aber letztlich trotz der erfahrenen Brüchigkeit ihres Lebensentwurfs ein gelungenes Leben bilanzieren, was ihr im Rahmen von Kontakten außerhalb der Herkunftsfamilie immer wieder gespiegelt wird. Diese gelungenen Konstruktionen einer alternativen, öffentlichen Gesundheit werden als stärkend erfahren, obwohl das Prekäre des Lebensentwurfs in der Spannung zwischen genetischer Disposition und stabilisiertem Status erhalten bleibt. We-

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Diese wäre jedoch vorstellbar, wenn der eigenen Lebensentwurf ein BRCA-positives Resultat quasi vorwegnehmend einkalkuliert hätte bzw. Krebs in manifester oder latenter Form als natürlichen Teil desselben verstünde.

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sentlich schwieriger ist die Situation für Lisa, die durch den BRCA-Test gerade am Übergang zur Etablierung eines eigenen Lebensentwurfs aufgehalten und auf ihre Herkunftsfamilie zurückgeworfen wird. Da in ihren Erzählungen keine klare Vorstellung von diesem aufzubauenden Lebensentwurf existiert, jedoch ein herkunftsfamiliärer „Rahmenplan“ für den Umgang mit Krebs/BRCA vorliegt, fällt Lisa offensichtlich auf diesen zurück – jedoch nicht, ohne durch die Heftigkeit ihres Wettbewerbsdenkens sowie die Vagheit der Ideen eines alternativen Lebens auf ihre (wiewohl im Hintergrund ablaufende) Adoleszenzkrise zu verweisen. Erleichterung erfährt sie durch alternative Deutungen wie die der wissenschaftlichen Skepsis, wobei ihr „latenter Krebs“ dadurch nur wenig an (Alltags-)Relevanz verliert. Gaby Böttcher hingegen wird durch das Testergebnis mit zwei alternativen Lebensentwürfe konfrontiert, die schwer mit ihrem eigenen relationalen vereinbar sind und diesen dadurch in zunehmendem Maße in Frage stellen: Es dräut der sich als beziehungsgefährdend erweisende medikalisierende Lebensentwurf des HBOC-Zentrums, welcher indirekt auf den abstoßende Lebensentwurf der Mutter verweist. Gaby behilft sich mit einer gegensteuernden „aufsuchenden Strategie“, die die in verschiedenen sozialen Zusammenhängen existierenden unterschiedlichen Deutungen und Handlungsmuster im Sinne der Beibehaltung ihres Lebensentwurfs zu addieren sucht. Sie dreht sich jedoch auf diese Art in eine Handlungsspirale hinein, deren Abwärtsgerichtetheit alle bisherigen Eckpunkte ihrer Lebensgestaltung (Beruf, Familie, öffentliches Leben) in Frage zu stellen scheint. Ursula Paasch wird durch den positiven BRCA-Test zur Auseinandersetzung mit zwei möglichen Lebensentwürfen gezwungen: zum einen ihrem eigenen relationalen, zum anderen einem operations- und risikoorientierten BRCA-Lebensentwurf. Im Gegensatz zu ihrer verheirateten vollberufstätigen Schwester Stephanie, die Mutter dreier Kinder ist, pendelt sie bislang (2009) zwischen diesen beiden, wobei in ihrer medikalisierten Lebenswelt keine grundsätzlich anderen alternativen Deutungen zur Verfügung stehen. Ursula bewältigt diese Krise bislang weitgehend selbstreferentiell, versucht jedoch durch ausgewählte medizinische Zusatzinformationen neue Perspektiven zu entdecken und wünscht sich ggf. eine psychologisch ausgebildete Person ohne eigene Interessen als Reflexionshilfe. Genetisches Wissen (und wohl auch anderes präventiv oder gesundheitsförderlich gedachtes Wissen) kann folglich als Lebensentwurfsgefahr erfahren werden, dessen Auswirkungen vom Realisierungsgrad des Lebensentwurfs abzuhängen scheinen. Es stellt jedoch offenbar in jedem Fall den bestehenden Entwurf zumindest in Frage, was als Schock erlebt wird, der dem einer Brustkrebsdiagnose ähnelt (vgl. Kirschning 2001; Holmberg 2005). In dieser Situation scheinen unterschiedliche Wissensformen einen kreativen Möglichkeitsraum zu eröffnen, in denen neue Lebensentwürfe und damit Identitäten verhandelt werden können (vgl. Svendsen 2006). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass hier nicht einfach lebensweltliches genetischem Wissen gegenüber gestellt werden kann. Vielmehr kann sowohl das lebensweltliche als auch das biomedizinische Wissen je nach aktuell befragter Person sehr unterschiedliche Deutungen beinhalten, die auf die enorme Variabilität von Wissensbeständen hinweisen. Hier sei nur daran erinnert, dass eine genetische Beraterin aufgrund von Vorstellungen zur „intakten Weiblichkeit“ jungen Frau gegenüber zurückhaltend mit Informationen zur Mastektomie ist, während Ursulas Vater ihr zu eben dieser Operation zugeraten hat, da dies auf Dauer dem weiblichen Erscheinungsbild

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zuträglich wäre. Hier zeigt sich ganz offensichtlich, dass auch innerhalb der gleichen Profession (hier: der Gynäkologie) nicht nur biomedizinische, sondern auch andere Maßstäbe oder Deutungen die Wissensvergabe mitbestimmen, was eine erhöhte Kontextsensitivität angeraten erscheinen lässt. Beim Umgang mit der Lebensentwurfsgefahr kann eine „Verteidigung“ des bisherigen Lebensraums durch eine Abgrenzung eines möglichst engen, umschriebenen Bereichs erfolgen, der der Disposition und damit in vorauseilendem Gehorsam der Krebsbekämpfung gewidmet wird. Diese einfriedende, ausgelagerte Strategie ist im Fall Schall-Brause und im wesentlichen auch im Fall Paasch festzustellen. Hier lassen sich jedoch zwei Ausprägungen dieser Vorgehensweise differenzieren: Bei den Schall-Brauses wird die Disposition als Handlungsfeld organisatorisch und lokal aus dem Alltagsleben der Familie ausgelagert, d.h. davon abgegrenzt und auf das zwei Fahrtstunden entfernte HBOC-Zentrum übertragen, das dann gemeinsam aufgesucht wird. Dieses Vorgehen kann als stabil ausgelagert bezeichnet werden. Im Fall Paasch greifen Alltagsleben und BRCA-Praxis auf den selben Deutungsrahmen zurück, daher ist die Grenze durchlässiger. Alltägliche Kontakte können und werden z.T. auch für die Bewältigung der BRCA-Herausforderung ausgenutzt, wobei die Abgrenzung in diesem Fall durch eine Informationshoheit Ursulas Paaschs gewährleistet bleiben soll. Diese Strategie wird jedoch vermutlich auf Dauer nur begrenzt aufrecht zu erhalten sein, sei es aufgrund von neuen Aufgaben im Beruf, sei es durch erweitertes Wissen des sozialen Umfeldes. Damit wird das Gefährdete des Zustand deutlich, der daher als prekär ausgelagert bezeichnet wird und einen transitorischen Zustand charakterisiert. Der Fall Böttcher hingegen verweist auf eine weitere Strategie. Diese kann Bewältigung in Bewegung genannt werden. Hier erfolgt ein ständiges Ausweichen und Gegensteuern, das den eigenen Lebensraum extrem unstet gestaltet, jedoch ebenfalls darauf abzielt, dem bestehenden Lebensentwurf Kontinuität zu verleihen. Da die Disposition in diesem Fall in jeder Beziehung von Bedeutung zu sein scheint, kann diese Strategie als ausweichend integriert bezeichnet werden. In allen drei Fällen besteht eine Kongruenz zwischen dieser Organisation des BRCAHandlungsraumes und dem familiensystemischen Umgang mit Grenzen. Die genetische Disposition scheint folglich als neue Form der „Behinderung“ erfahren zu werden, der ein möglichst geringer Einflussbereich einzuräumen ist, um eben nicht „am Leben gehindert“ zu werden. Verschärft wird dieses Ringen um das eigene Leben dadurch, dass die Krise von BRCA als latentem Krebses grundsätzlich auf Dauer gestellt ist und damit das Empfinden verlässlicher Sicherheit extrem erschwert wird (vgl. Schmedders 2004). Damit kann die medizinische Kontrolllogik in der intensivierten Früherkennung eine Art „Suchtcharakter“ entwickeln: Zur Bestätigung eines Gefühls von Sicherheit werden immer höhere „Dosen“ medizinischer Interventionen notwendig, so dass z.B. zunächst abgelehnte prophylaktische Operationen im Laufe der Jahre durchgeführt werden. Dieser Trend10 dürfte zudem durch den von Dixon et al. (2006) postulierte sense of place sowie eine in bestimmten Fällen dramatisierend erfolgende Darstellung biostatistischer Risikozahlen unterstützt werden. Neben dieser unmittelbar medizinischen Perspektive existiert ein weiterer Zu-

10 Genetische Beraterinnen sehen z.B. eine im Laufe der Früherkennungszeit steigende Bereitschaft zur prophylaktischen Operation.

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gang zum Sicherheitsthema, der stärker in der Familie abläuft und sich u.a. in der familialen fallspezifischen Passing-Aufgabe realisiert. Es zeigt sich folglich, dass die jeweilige narrative Konstruktion der familialen Krebsgeschichte im Verhältnis zu alternativen Gesundheits- oder Krankheitsnarrationen des sozialen Umfelds einerseits und den (mehr oder weniger realisierten) Lebensentwürfen andererseits das operative und interpretative Gesundheitswissen und die daraus resultierende gesundheitliche Selbstverortung entscheidend mitbestimmen. Dabei ist eine Tendenz zur generationsabhängigen Verschiebung feststellbar, die das Bewusstsein einer genetischen Vulnerabilität vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Gesundheitswissen in den jüngeren Generationen verankert und die Aufgabe der verantwortlichen Gesundheitswahl verschärft. Der mehrfach angeklungene Einfluss der Familie soll im nun folgenden Abschnitt untersucht werden. 9.1.3

Relationierung: Kontextualisierung im Rahmen familialer Beziehungen

Die familiale Rahmung der Krebs-/BRCA-Erzählungen lässt folgende Bilder erkennen: Die Schall-Brauses stellen ein starr-verstricktes Familiensystem dar, das durch die Leitdifferenz der (grenzüberschreitenden) Bezogenheit charakterisiert ist und den Erhalt der Familie organisiert, die als ein gesunder Familienkörper verstanden wird und im kollektiven Umgang mit BRCA-Test und Vorsorgemaßnahmen auch genauso agiert. Die Handlungen der einzelnen Familienmitglieder sind über die Generationen auf Selbstbestimmung in (familialer) Sicherheit ausgerichtet. Im Zuge des familiären Krebses und dessen ‚BRCA-Fortsetzung’ als Annäherungsgeschichte der Familie an den_die Einzelne_n haben sich die Schall-Brauses zunächst zum „Krebs-Matriarchat“, dann zur „BRCA-positiven Familie“ entwickelt, die präventiv-funktional ist und eine hohe Anforderung an Familien-Compliance und Solidarität stellt. Die Familie besitzt eine durch den Krebs geprägte weibliche Traditionslinie. In diesem Familiensystem erfüllen alle bestimmte Rollen, wobei die BRCA-positiven Familienmitglieder besonders einbezogen werden. Lisa besitzt als „rationale“ Gesundheitsexpertin für das Gen-Wissen eine familiale Autorität, die ihr einen autonomen Handlungsraum innerhalb der Familie, jedoch nicht außerhalb davon sichert. Lydia sichert sich als „unabhängig-verbundene“ Gesundheitschronistin narrative Macht über die Gesundheitserzählung der Familie, die von ihr als gleichermaßen pflichtbesetzt wie nützlich wahrgenommen wird. Anke stellt schließlich die emotionale Gesundheitsgewinnerin dar, die familiale Verantwortung übernimmt und dafür familiale Geborgenheit erfährt. Familie Paasch stellt ein strukturiert-getrenntes Familiensystem mit einem grenzüberschreitenden Potenzial in Bezug auf Körperlichkeit dar, das sich auf die Bereiche Sexualität und Vulnerabilität konzentrieren. Dieses Potenzial kommt nach dem in der Geschwistergruppe wahrgenommenen BRCA-Tests als versuchte Einflussnahme auf die Einzelne erneut zur Geltung. Die Leitdifferenz des Systems ist Autonomie, das organisierte Gut eine begrenzt relational stabilisierte Autonomie ihrer Mitglieder mittels kontrolliert-distanzierter Belastungsvermeidung. Dies wird durch die Orientierung an Leistung als Handlungsmaxime unterstützt. Der familiale Möglichkeitsraum des Handelns ist von einem Streben nach Stabilität und Kontinuität geprägt, besitzt jedoch in etwas geringerem Umfang auch die Ressource der Fle-

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xibilität. Unter Einbeziehung des Krebses als Katalysator eines Wandels zweiter Ordnung hat sich Familie Paasch zu einer Patchwork-Familie erweitert, wobei die damit einhergehende Scheidung der Eltern gerade für Ursula ein unverständliches, traumatisches Erlebnis darstellt, das ihren vorsichtig relationalen Lebensentwurf geprägt hat. Familie Böttcher stellt ein starr-losgelöstes Familiensystem dar, in dem das Paradox der Bindung trotz Bindungslosigkeit besteht, was als Verwicklung zu bezeichnen ist. Organisiert wird der Erhalt des Systems trotz massiver zentrifugaler Kräfte, was in der Praxis zur Verwaltung eines dauerhaften Bindungsversagens beiträgt. Die Leitdifferenz heißt auch in diesem Familiensystem Autonomie, stellt aber eine Notlösung dar. Dies verweist auf die ungeheure Ambivalenz des Systems sowie den daraus resultierenden innerfamilialen Druck, der von seinen Mitgliedern durch einen rückzugsartigen Abwehr-Aktivismus ausgehalten wird. Diese Handlungsressource repräsentiert eine enorme Anstrengung und Kraft-Ressource zugleich, die den Familienmitgliedern zur Verfügung steht. Krebs wirkt hier als relational verstandener Auslöser dieser prekären und ambivalenten Familienbeziehungen, innerhalb derer Gaby eine besonders ausgesetzte Position einnimmt, aus der sich ihre verinnerlichte Selbstwertproblematik und existenzielle Angst erklären. Der BRCA-Test reaktiviert das Prekäre von Beziehungen sowohl bezogen auf die Herkunfts- als auch auf die (angestrebte) Wahlfamilie. Alle drei Familien zeigen die in der Literatur postulierten Effekte der zeitlich dem BRCA-Test vorgelagerten Medikalisierung durch Krebs wie auch der Molekularisierung durch den BRCA-Test auf der Ebene der Familienbeziehungen, indem jeweils neu sortiert wird, wer zur Familie gehört. Besonders deutlich wird dies im Fall Schall-Brause, wo die horizontalen und vertikalen Familienbeziehungen sich bei gleichbleibendem Ziel neu gruppieren und eine neue Bestimmung derer erfolgt, die „Familie“ sind. Im Fall Böttcher sind es der imaginierte Einfluss von Krebs auf die Familienbeziehungen einerseits sowie die veränderte Selbstzuordnung zu einer Familienlinie im Fall des BRCA-Tests andererseits, durch die sich die Deutungsmacht von Medizin bzw. Genetik auf die Familienbeziehungen ausdrückt. Da hier die Familie als Einheit so nicht existiert, wird durch die in diesen Momenten erfolgende Neuverteilung von Loyalitäten eben nicht deutlich, wer zu „der Familie“ gehört, sondern, wer zu welcher Familienseite gehört. Im Fall Paasch zeigen sich die medikalisierendmolekularisierenden Effekte hingegen am offensichtlichsten durch Bemühungen, eine drohende Einflussnahme zu verhindern und eine Kontinuität der Familienbeziehungen zu gewährleisten: Bspw. versucht Martina Karg-Paasch zu verhindern, dass ihre Krebserkrankung den familialen Alltag beeinträchtigt. Diese Anstrengung wird zunächst durch ihre Schwester Bringfriede ansatzweise durchkreuzt, die sich als postmortaler Mutterersatz ankündigt, und schließlich von Martina selbst im Zuge der Scheidung aufgegeben. Auch Ursula stellt die Familienbeziehungen nach dem BRCA-Ergebnis so dar, als ob diese sich nicht verändert haben, obschon neue thematische Einflussmöglichkeiten zwischen bestimmten Familienmitgliedern aktuell werden, die es jedoch so einzuschränken gilt, dass familiale Kontinuität (und individuelle Gestaltungsfreiheit) erhalten bleibt. Dadurch erscheinen familiale Beziehungen trotz der unterschwelligen Dynamik unverändert, was an die Feststellung unveränderter Beziehungen bei Horstman und Smand (2008) oder Douglas, Hamilton und Grubs (2009) erinnert. Diese Ergebnisse erscheinen insofern fragwürdig, als dass die Anla-

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ge der Analysetiefe in der vorliegenden Studie auf latente Veränderungen hinzuweisen scheint, die auch deren Ergebnisse möglicherweise revidieren könnten. Der BRCA-Test kann demnach in jedem der Fälle mit einem Anstieg zentripetaler Kräfte in Bezug auf die Herkunftsfamilie (oder Teile derselben) verbunden werden, in der Krebs als „Erb-Gut“ und core illness narrative eine Rolle spielt. Das passt zu Sobel und Cowans (2000) Ergebnissen, nach denen der Gen-Test bei einem Großteil der Familien die Zugehörigkeit und Loyalität der Familienmitglieder zur Familie mit ihrem operativen und interpretativen Wissen abprüft und die Personen daher verstärkt an diese bindet. Mit diesem Rückbezug geht notwendigerweise eine verstärkte Beschäftigung mit bestehenden familialen Strukturen einher, welche einen von Svendsen (2006) kinning genannten Prozess des Sich-Vertraut-Machens und der Umwandlung der biologischen Informationen in Familienbeziehungen enthält.11 Dieser Vorgang der Reorganisation familialer Beziehungen wurde bereits als Refamilialisierung beschrieben und durch das Ver- oder gar Angewiesensein auf (mehr oder weniger vertraute) Verwandte an verschiedenen Stellen des BRCA-Testverfahrens unterstützt. Wie stark diese medizinisch induzierten Verwiesenheit auf die „biologischen Familienbeziehungen“ sind, zeigt sich bspw. an Martina Karg-Paaschs Verlangen nach der Entdeckung der Person aus der Ahnenreihe, von der sie die BRCAVariation geerbt hat. Die von Kenen, Ardern-Jones und Eeles (2004b) berichteten Auswirkungen des BRCA-Testergebnisses auf die Qualität einzelner Subgruppierungen von Beziehungen können im wesentlichen bestätigt werden. Die Beziehungen zu Brüdern erscheinen bspw. als eher schwierig, während die zu Ehemännern als weitestgehend unterstützend einzuschätzen sind. Allerdings muss betont werden, dass derart pauschale Aussagen nichts über die Hintergründe und Konsequenzen der jeweiligen Beziehungsqualität verraten und daher im Einzelfall einem Verständnis der aktuellen Bedeutung der „Schwierigkeit“ bzw. „Unterstützung“ eher im Weg stehen können. Im Fall Böttcher ist die Bruderbeziehung z.B. durch eine langjährige Konkurrenz um die Mutter aufgeladen, während Ursula durch Interessensunterschieden von ihrem Bruder getrennt ist. Darüber hinaus zeigt sich beim Blick auf das im Material aufscheinende Spektrum sozialer Beziehungen von der Herkunftsfamilie über Freundschaften bis zu wenig intensiven Kontakten (z.B. in Fitness-Club oder Universität), dass diese nicht nur unterschiedliche Beziehungsqualitäten, sondern auch jeweils verschiedene Handlungslogiken vermitteln, die sich – wie im vorigen Abschnitt angesprochen – auf den Möglichkeitsraum auswirken können, indem neue Wege der Reflexion, Interpretation und Aktion entstehen können. Insofern kann der eine von Svendsen (2006) angeführte Möglichkeitsraum zwischen Lebenswelt und Medizin diversifiziert werden. Er bietet damit nicht nur eine, sondern ein ganzes Labyrinth unterschiedlicher Orientierungsmöglichkeiten, die sich wie im Falle von Lydia Schall zu einer positiven Gesundheitsbilanz ergänzen oder wie bei Gaby Böttcher negative Synergien entwickeln können. Insofern besteht für eine Person immer die Möglichkeit, in unter-

11 Dieser Prozess zeigt sich nicht nur wie bei Svendsen in Bezug auf bislang unbekannte, sondern auch bei bekannten Familienmitgliedern, die noch einmal neu und anders erfahren werden. Hier sei auf die Schwestern Ursula und Stephanie verwiesen. Neben bislang Unbekannten stellen im Übrigen auch minderjährige Kinder eine Lehrstelle der Studie dar.

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schiedlichen sozialen Zusammenhängen verschiedene „Gesundheiten“ zu leben und bei Anerkennung der Performance zu besitzen. Folglich wird die Existenz eines sozialen Netzwerks der Gesundheiten postuliert, das jedoch in der vorliegenden Arbeit nur marginal untersucht wurde, da hier der Fokus auf Familie lag. Insofern existiert an dieser Stelle Forschungsbedarf. Es ist zu betonen, dass die Vorgänge sowohl der Medikalisierung als auch der Molekularisierung unmittelbar oder mittelbar ausnahmslos alle Familienmitglieder erfassen12, deren Beziehungen durch aktiven Ein- und Ausschluss, Aufteilung oder Kontinuitätsanstrengungen neu sortiert werden. Dies widerspricht dem Fund von Sobel und Cowan (2000), die bei lediglich 56 Prozent der Familienmitglieder Veränderungen von Familienbeziehungen feststellen konnten. Hier zeigt sich womöglich ein Effekt von Fallrekonstruktionen als Methode der vertieften Analyse, auch bleibt bei den Autor_innen unklar, wie eine Veränderung der Familienbeziehung gefasst wurde, so dass ein definitorisches Problem vorliegen könnte. Innerfamiliale, testbedingte Beziehungsveränderungen wurden in der Literatur quasi quantitativ als geschwächt versus gestärkt beschrieben. Geschwächte Beziehungen wurden dabei bspw. mit unterschiedliche Bewältigungsstile, Testinteressen oder Lebenslagen verbunden, gestärkte hingegen mit gegenseitigem Trost oder dem verbindenden Einfluss der DNA. In den vorliegenden Fallrekonstruktionen fällt jedoch auf, dass Beziehungen trotz (Lydia – Lisa) oder gerade auch wegen (Lisa – Anke) unterschiedlicher Bewältigungsstile durch ein Testresultat gestärkt sein können, wobei sich bei den Schall-Brauses das familial organisierte Gut zusammen mit der Sicht des Gen- als Verbindungswissen als entscheidend erwiesen hat. Gleichzeitig kann sich gerade das Wissen von der DNA-Verbindung als Schwächung einer Verbindung erweisen, wenn die damit einhergehende Einflussmöglichkeit wie im Fall Paasch möglichst nicht realisiert werden soll. Es gibt als auch in dieser Hinsicht keine einfachen oder linearen Schlussfolgerungen, die ohne eine Berücksichtigung des Gesamtkontextes funktionieren. Gleiches gilt für die erfolgende oder – im Gegensatz zu den Ergebnissen von Douglass, Hamilton und Grubs 2009 – nicht erfolgende Veränderung der familialen Rolle des Indexfalles, der ebenfalls nicht ohne Verständnis der vorhergehenden Rolle und der dieser zu Grunde liegenden Ereignisse nachvollziehbar ist. So erscheint es aus der familialen Krebs- in Verbindung mit der persönlichen Befreiungsgeschichte völlig logisch, dass Anke sich als positiver Indexfall in einer Familie speziell etablieren will und kann, die aufgrund des kollektiven GenTests im Prinzip im Gesamten der Indexfall ist, was wesentlich mit dem Verständnis von Krebs als core illness narrative einhergeht. Im Gegensatz dazu verändert sich Gabys Rolle nicht: Sie war und ist eine Art „Paria“ der Familie Böttcher, in der Krebs eben nicht Teil einer familialen Gesamterzählung ist. Hier zeigt sich folglich deutlich die Verbindung zum familialen Wissenspotenzial, aber auch zum Familiensystem, dessen Leitdifferenz und dem von ihm organisierten Gut als rahmende Bedingungen der Testteilnahme. Diese Kennzeichen-Kombination erweist sich im Fall-

12 Insofern lässt sich Rabinows These neuer biosozialer Gemeinschaften bestätigen, wobei die Fälle ebenfalls zeigen, dass familiale Traditionen und Machtsstrukturen in jedem Fall nachwirken und diese Gemeinschaften überformen. Die molekularisierte Familie kann daher wie o.g. als Sonderfall biosozialer Vergemeinschaftung gelten.

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vergleich als ebenfalls entscheidend dafür, ob das Verantwortungstopos über das der Autonomie gestellt wird und Beziehungen bzw. Personen wie bei den Schall-Brauses beeinflusst werden, um die Zukunft der Familie als Verwandtschaftsverband zu sichern. Grundsätzlich gilt, dass Familienbeziehungen Wissen und den Umgang damit beeinflussen, was wiederum auf diese Beziehungen zurückwirkt. Dies gilt für die Gefahrenwahrnehmung wie im Fall Böttcher, in dem der Verlust der Mutter die wahrgenommene Krebsgefahr intensiviert und das resultierende Test-Ergebnis das komplizierte Verhältnis zur Mutter unterstreicht. Auch der Verlust der Partnerschaft verkompliziert bei Gaby die risikobetonenden Begegnungen im HBOC-Zentrum, die dann wiederum den Bereich Partnerschaft problematisch erscheinen lassen. Ebenfalls offensichtlich ist diese Wechselwirkung im Fall Schall-Brause im Hinblick auf die Teilnahme am BRCA-Testprozess, die zwar durch die eigene Geschichte moderiert werden kann, jedoch unvermeidlich ist und als „Rückführung in die Familie“ erlebt wird. Gerade in dieser Familie ist die Reaktion auf das eigene Testresultat oftmals von den Auswirkungen auf andere Familienmitglieder abhängig, was zu intensiven emotionalen Reaktionen führt. Dies zeigt sich bei Lisa, wenn es ihr als erstes für ihren ebenfalls positiv getesteten Bruder Daniel leid tut, oder bei Johanna, die angesichts ihrer BRCA-positiven Töchter Schuldgefühle entwickelt – was in gleichem Maße für Martina Karg-Paasch gilt. Es liegt daher nahe, diese stellvertretende Wahrnehmung mit einer Verstrickungstendenz in der Familie zu verknüpfen, mit der dann wiederum systemspezifisch umgegangen werden kann. Auch an dieser Stelle lassen die Fälle Phänomene erkennen, die bereits in der Literatur benannt wurden, verweisen jedoch auf ein Verständnis weiterer kontextueller Kennzeichen, die für ein Verstehen der Fälle notwendig erscheinen. Die molekulare Familie wird als Familientypus im Rahmen der Fälle als Realität erkennbar: Die Gruppe derer, deren Verbindung durch die Ereignisse um den Krebs, verstärkt jedoch um den BRCA-Test als unmittelbarer erlebt wird und die daher in diesem Zusammenhang13 eher als „Familie“ angesprochen werden, ist in allen Fällen tatsächlich biologisch definiert. Hier sei nur an die Familie von Gabys Mutter erinnert, die als „Krebsfamilie“ bestimmt wurde, in der die nicht erkrankten Familienmitglieder keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Die restlichen, BRCA-negativen Familienmitglieder werden allgemein insofern auch an diesem Zugehörigkeitskriterium gemessen, als dass ihre themenspezifische Unterstützung (bspw. durch Begleitung bei Klinikbesuchen) und damit mittelbare Betroffenheit den Ausschlag ihrer Zuordnung gibt. Insofern spiegelt das Fehlen von Gabys Vater in den Krebserzählungen seine Zugehörigkeit zu einer anderen Familie. Damit betrifft der Test alle Mitglieder der Familie, die somit im Gesamten molekularisiert wird. Deren (richtige) Zugehörigkeit stellt dabei in allen drei Fällen den Kern der familialen PassingAufgabe dar, die nicht nur die Familienbeziehungen, sondern auch den Gesundheitserhalt der einzelnen Person sichert und damit eine weitere relationale Dimension des Sicherheitsthemas eröffnet. Das wird nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Sicht-

13 Es ist wichtig, in Hinsicht auf verallgemeinerte Beziehungsaussagen vorsichtig zu bleiben, da die Fälle mit Blick auf das Gen-Thema, nicht auf andere Themen untersucht wurden, bei denen sich möglicherweise andere Subgruppierungen auftun.

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barkeit der Intergenerationenambivalenz deutlich, die wie bei Lydia und Lisa oder Ursula und Martina thematisch verstärkt zu Tage tritt und die Gesundheitskonstruktion von Lydia durch das unerwünschte Wissen und von Ursula durch den unerwünschten Versuch der Einflussnahme herausfordert. Zusätzlich spricht die Empirie für eine Konservierung einer rein biologistischen Sicht von Familie durch prädiktive Gentests. Die literarisch häufig beschriebenen Beziehungsveränderungen verweisen damit auf eine Veränderung des Begriffs von Familie, die sich auch in einer terminologischen Schwierigkeit ausdrückt: Obschon sich in dieser Arbeit das Benennen von Herkunfts- und Wahlfamilie als hilfreich für die Darstellung unterschiedlicher Deutungsräume erwiesen hat, wurde gleichzeitig deutlich, dass neben diesen beiden eine „biologische Familiengruppe“ (der bei Douglas, Hamilton und Grubs 2009 benannte „Krebs-Club“ als familiale in-group) als weiterer familialer Zusammenhang auftaucht, der sich über Teile beider Gruppe erstreckt und damit der Gruppe derer, die als eine der beiden Familien adressiert werden, eine gewisse Unschärfe verleiht. Diese Aufteilung führt v.a. in Bezug auf Angehörige älterer Generationen zu Schwierigkeiten bei der Zuordnung: Während in Bezug auf Lisa bspw. problemlos von einem „Familienausflug“ mit der Herkunftsfamilie die Rede sein kann, wird dies für ihre Mutter Lydia schon schwieriger. Deren Wahlfamilie stellt z.T. eine BRCA-bezogene Gegenrealität als Freiraum dar, z.T. aber auch eine Betonung der Disposition und der zugehörigen Herausforderungen. Gleichzeitig ist es schwierig, das über die Wahlfamilie Gesagte stattdessen auf die Partnerschaft zu beschränken, da der BRCA-Status des jüngsten Sohnes ungeklärt und er also möglicherweise ebenfalls Teil der Freizone ist. Diese biologische Gruppierung verweist folglich auf einen Generationen verbindenden Effekt der Disposition. Damit ist sowohl eine veränderte Zeitwahrnehmung14 als auch der invasive Charakter genetischer Deutungen angesprochen, die sich beide in der Veränderlichkeit von Beziehungen spiegeln. Die resultierende Familiengruppe kann am ehesten als „biosoziale Familie“ bezeichnet werden. Im Gegensatz zum familialen Beziehungsgefüge verändern sich die systemischen Kennzeichen der Familie hingegen kaum. Sie werden vielmehr durch den Umgang mit den gesundheitlichen Herausforderungen Krebs/BRCA erst richtig erkennbar, wie bei den Schall-Brauses oder der Familie Böttcher. Hierbei kommt es durchaus vor, dass dadurch ein vorher existierendes Bild korrigiert wird, wie im Fall von Martina Karg-Paaschs Krebs, oder eine versteckte Problematik erkennbar wird, wie im Ringen um Ursulas prophylaktische Mastektomie. Krebserkrankungen wie BRCATest fungieren folglich als Katalysator zur Verdeutlichung eines familiensystemischen Potenzials, dass sich wiederum auf den Umgang mit dem BRCA-Testergebnis und dessen Verständnis auswirkt. Dieses verdeutlichte familiensystemische Potenzial wird bspw. bei der grenzüberschreitenden Inklusionsbewegung der Familie SchallBrause deutlich. Ob das Potenzial jedoch zum Tragen kommt, entscheidet sich dann anhand anderer familialer Kennzeichen: Während sich das Verstrickungspotenzial der Schall-Brauses in diesem den Erhalt der Familie organisierenden Fall realisiert, gelingt dessen Abwehr im Fall Paasch zumindest weitestgehend, was mit dem Um-

14 Zum Thema geänderte Zeit/Zukunft existiert eine rege Diskussion, die hier aus Platzgründen nicht weiter verfolgt wird.

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gang mit Autonomie im Familienverband in Zusammenhang gebracht werden kann. Diese systemische Kontinuität scheint jedoch der in der Literatur berichteten Veränderlichkeit von Kommunikationsmustern15 zu widersprechen. Die in diesen Studien erfolgende Beschränkung auf ein familiales Kennzeichen sowie dessen mangelnde Einbindung in eine alternativ-ergänzende Analyse von Familie, die diese nicht nur auf systemischer Ebene beschreibt, wird als (vorläufige) Begründung dieses Unterschieds angenommen. Letzteres gilt eingeschränkt auch für Studien, welche das Familiensystem als Gesamtheit in den Blick nehmen: Van Oostrom et al. (2007b) beschreiben bspw. eingeschränkte familiale Kommunikation, ein starr-losgelöstes Familiensystem, eine wenig abgegrenzte Beziehung zur Mutter sowie geringe Unterstützung durch den Partner als problematische Konstellation für die „psychische Anpassung“ der einzelnen BRCA-positiven Frau an ihren Status. Diese Situation trifft haargenau auf Frau Böttcher zu, die auch sehr mit dem Testergebnis und dessen Folgen ringt. Allerdings ist in der Rekonstruktion des Falles Böttcher auch deutlich geworden, dass das Familiensystem lediglich eine Rahmenbedingung darstellt, innerhalb dessen Situations- und Wissenspotenziale entstehen und sich auswirken können. In der Gesamtschau kann man Frau Böttcher durchaus eine „Anpassung“16 attestieren, die jedoch sehr die familiale Handlungsressource des Durchhaltens durch Abwehr-Aktivismus individuell umsetzt und angleicht, sich folglich nicht allein aus einer Beschreibung des Familiensystems ableiten lässt und zudem durch Gabys aktuelle Lebenssituation prekarisiert wird. Ohne eine Berücksichtigung dieser anderen Potenziale, die z.T. individueller Natur sind, aber auch mit der Familie zusammenhängen können, sowie einer umfassenderen Beschreibung des Familiensystems, in der auch Leitdifferenz und organisiertes Gut eingehen, ist die Eigenlogik des Falles nicht oder nur in Ansätzen verstehbar. Der Zusammenhang zwischen systemischer Kontinuität und Veränderlichkeit familialer Beziehungen wird verständlich, wenn systemische Kennzeichen als veränderungsabholde Rahmensetzung für die Gesamtheit familialer Beziehungen innerhalb eines konstanten personalen Möglichkeitsraums verstanden werden. Dann bilden Systemkennzeichen, organisiertes Gut, Leitdifferenz und Handlungsressourcen einen handlungs- und deutungsbezogenen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen sich konkrete Beziehungen so entwickeln und dadurch die Repräsentanz derer, die als Familie verstanden werden, verändern können, dass das Gros des Familiensystems möglichst erhalten bliebt. Das Familiensystem ist jedoch trotz des hier eher von Kontinuität geprägten Erscheinungsbildes keine unveränderliche Größe. Vielmehr erweist es sich bspw. immer dann als (in unterschiedlichem Grad) flexibel, wenn sich unterschiedliche Familientraditionen verbinden und neue Familienmitglieder dazukommen, die das System dadurch herausfordern. Nur so wird bspw. die Entwicklung der Familie Schall-Brause letztlich verständlich, in der sich Teile des „bürgerlich“ anmutenden Potenzials Johannas in der Krebskrise anstelle des „bäuerlichen“ Karl-Herberts be-

15 Diese stellen das primär beschriebene Systemkennzeichen dar und sind hier mit einer Zusammenschau der Dimensionen emotionaler Expressivität und Konflikt vergleichbar. 16 Es bleibt die Frage, ob in beiden Fällen die gleiche Art „Anpassung“ gemeint ist, sowie die Feststellung, dass allein die Forderung nach Anpassung bereits normativ wirkt.

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währen. Insofern deutet sich hier eine Einschränkung systemischer Kontinuität im Angesicht des BRCA-Tests an, die jedoch nur durch Rekonstruktionen von Fällen mit testbedingt neu in Erscheinung tretenden Familienmitgliedern untersucht werden könnte. Das von Svendsen (2006) beschriebene kinning könnte dann auch zu einer systemischen Veränderung jenseits bestehender Entwicklungspotenziale führen. Dies wäre jedoch eine Aufgabe für weitere Forschung. Zusammenfassend lässt sich In Bezug auf die Familie festhalten, dass der BRCATest veränderte Familienbeziehungen aller sowie eine Tendenz zur Refamilialiserung in Bezug auf den molekulargenetisch verbundenen Teil der biologischen bewirkt, die als „biosoziale Familie“ einen unscharf abgegrenzten dritten Familientypus neben der Herkunfts- und der Wahlfamilie bilden, der quer zu diesen beiden verläuft. Diese Veränderungen passieren vor dem Hintergrund eines rahmenden Familiensystems mit seiner Leitdifferenz und dem in ihm organisierten Gut sowie seiner spezifischen familial-generationalen Handlungsressourcen. Das äußert sich nicht zuletzt dadurch, dass die in der Literatur benannten Phänomene der wechselseitigen Beeinflussung von Familienstruktur (Beziehungen und System) und Gen-Wissen größtenteils in den Fallrekonstruktionen aufzufinden sind, gleichzeitig jedoch in sehr fallspezifischer Weise vorliegen und damit erneut auf die Bedeutung einer Kontextualisierung im Rahmen der drei besprochenen Dimensionen verweisen, deren Zusammenspiel abschließend beleuchtet werden soll. 9.1.4

Das Zusammenspiel von Lebenssituation, sozialen Beziehungen und Wissenspotenzialen

Obwohl die Resultate vorheriger Studien in vielfacher Weise gespiegelt bzw. bestätiget werden, wird deutlich, dass deren alleinige, gleichsam losgelöste oder unterkomplexe Berücksichtigung lediglich eingeschränkt bedeutsame Hinweise für ein Verstehen einer Lebenspraxis liefert. Die Eigenlogik des einzelnen Falles wird immer erst in der dreidimensionalen Gesamtschau aus biografischer Situierung, sozialer Relationierung und wissensbezogener Kontextualisierung erkenn- und damit nachvollziehbar, wie die Fallrekonstruktionen gezeigt haben. Ausgehend von der bisherigen Analyse- und Diskussion stellen sich die Fälle somit wie folgt dar: In der Familie Schall-Brause wird anhand der allgemeinen Handlungsregeln erkennbar, dass Gesundheit als soziale Leistung verstanden wird, hinter der sich für die einzelne Person die Aufgabe bzw. das Lebensthema verbirgt, sich durch Erbringung dieser Leistung eine individuelle Existenz in der (nicht: losgelöst von der!) Herkunftsfamilie zu sichern. Letzteres verweist wiederum auf das familial-generationale Handlungsthema der Selbstbestimmung in Sicherheit, das sich in den Handlungsentscheidungen der Familienmitglieder über die Generationen nachverfolgen lässt und sich in eben diesem Lebensthema manifestiert. Gleichzeitig weisen Leistung und persönliche Existenzsicherung auch auf das familiale Gut des Erhalts der Familie als ein gesamter gesunder Familienkörper als grundlegendem Ziel des Familiensystems hin, das durch diese beiden gesichert wird. Der soziale Sinn beinhaltet darüber hinaus eine Botschaft, die mit der Sinngebung von Gesundheit als sozialer Leistung kommuniziert wird und in diesem Fall Vorzeigbarkeit lautet. Leistung und Präsentation ergänzen sich somit wechselseitig. Vorzeigbarkeit versucht jede der drei BRCApositiven Frauen auf ihre eigene Weise zu erreichen – eine Aufgabe, die wiederum

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durch das Aktualitäts- und Dringlichkeitspotenzial ihrer jeweiligen Lebenssituation aufgeladen wird: Lisa bemüht sich mittels (Wett-)Kampf um Vorzeigbarkeit. Da sie als Person in der Adoleszenz jedoch auf wenig bereits Existierendes aufbauen kann, ist diese Aufgabe nicht nur aufgrund ihres Entwicklungspunktes besonders dringlich, sondern auch erschwert, was durch das Testresultat unterstrichen wird und den kämpferischen Aspekt ihres Handelns stärkt. Dies führt zur Auffassung einer vordergründig als sehr gut publizierten, jedoch gefühlt bereits angegriffenen Gesundheit, um die entsprechend zu ringen ist. Lydia hat es zwar geschafft, sich einen gewissen Status zu erarbeiten, dem jedoch ein Hauch des Prekären anhaftet. Sie erfüllt die Vorgabe der Vorzeigbarkeit daher mittels ihrer positiven Bilanzierung, deren Negativtoleranz eine Reserve darstellt, um das Prekäre in ihrem Leben auffangen zu können und dadurch eine Art bedingter Vorzeigbarkeit zu sichern. Ihre Gesundheit fasst sie entsprechend als im Gesamten gut, jedoch latent gelegentlich gefährdet auf. Anke hingegen ist in einem Lebensstadium der körperlichen Geborgenheit angekommen, so dass sie problemlos ihre Handlungsstrategie der Abgrenzung anwenden kann, um bedingungslose Vorzeigbarkeit darzustellen, die durch die Diagnose nicht nur nicht angefochten, sondern sogar gesteigert wird. Die Gesundheitsgewinnerin der Familie attestiert sich demnach eine vorbehaltlos gute Gesundheit. Im Fall Gaby Böttcher besteht der soziale Sinn von Gesundheit in verbindender Aktivität, die auf die Erlangung der Zugehörigkeit zur richtigen, d.h. gesunden, offenen, lebensbejahenden Familienseite als Lebensthema ausgerichtet ist. Diese Sicht von Gesundheit als auf Relationen ausgerichtete Anstrengung basiert auf der prekären familialen Situation, die sich sowohl im organisierten Gut des Erhalts des Systems trotz Bindungsversagen als auch im familial-generationalen Handlungsthema des Aushaltens von Druck durch Abwehr-Aktivismus spiegelt. In diesen Traditionen wird jedoch gleichzeitig eine stabilisierende Kraft als familiale Ressource deutlich, die auch in Gaby Böttchers Handlungslogik des Gegensteuerns erkennbar wird. Mittels dieser Strategie gelingt es ihr, das im sozialen Sinn von Gesundheit vermittelte Ziel der Sicherung einer sozialen Ressource zu erreichen. Damit versucht sie, sich Gestaltungsmöglichkeiten für ein Leben in Beziehung zu erhalten, was besonders in den Zeiten der Midlife-Crisis mit ihrer allgemeinen sowie genetischen Infragestellung der Lebensverhältnisse genauso schwierig wie wichtig ist. Das Schismatische dieses Hintergrundes führt zu einem Verständnis der eigenen Gesundheit als umgebungsabhängig abwechselnde Betonung totaler Fitness und auswegloser Krankheitsentwicklung, ohne die jeweils andere Seite aus dem Blick zu verlieren, was einen großen Gesundheitsdruck produziert. Für Ursula Paasch beinhaltet Gesundheit den sozialen Sinn der Beziehungsbalance und ist auf das Lebensthema der Selbstverwirklichung in relativer Unabhängigkeit ausgerichtet. Beide basieren auf dem familial organisierten Gut der begrenzt relational stabilisierten Autonomie der Familienmitglieder und nutzen die generational-familiale Handlungsressource von Stabilität versus Flexibilität als Aushandlungsbasis aus. Auf dieser Basis aufbauend hat Ursula ihre Handlungslogik des kontrollierenden Abwägens entwickeln können, mit deren Hilfe sie das im sozialen Sinn der Beziehungsbalance enthaltene Ziel der relationalen Autonomie verwirklichen möchte. Diese Aufgabe wird jedoch vor dem situativen Hintergrund des zunehmenden Wunsch nach der Gründung einer Wahlfamilie im Rahmen ihres relationalen Lebensentwurfs durch das Testergebnis erschwert, da damit eine Zunahme der auszuba-

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lancierenden Parteien und Interessen verbunden ist. Dank ihres schwellenartigen Handlungsmusters versteht Ursula ihre Gesundheit grundsätzlich als gut, kann jedoch gelegentlich durch überraschende, die Schwelle überschreitende Informationen in Zustände gefühlter Nicht-Gesundheit geraten. Tabelle 4: Überblick über die „dimensionierten“ Fälle17 Schall-Brause

Gaby Böttcher

Ursula Paasch

Sozialer Sinn der Gesundheit (Bedeutung)

Soziale Leistung

Verbindende Aktivität

Beziehungsbalance

Lebensthema (Intentionalität)

Individuelle Existenz in der Herkunftsfamilie

die richtige Zugehörigkeit

Selbstverwirklichung in (relativer) Unabhängigkeit

Familiale Tradition

Erhalt der Familie als ein gesamter gesunder Familienkörper, Selbstbestimmung in Sicherheit

Erhalt des Systems trotz Bindungsversagen, Aushalten von Druck durch AbwehrAktivismus

begrenzt relational stabilisierte Autonomie der Familienmitglieder, Stabilität versus Flexibilität

Kommunikative Regel der Lebenspraxis

Lisa: mittels Wettkampf… Anke: mittels Geborgenheit… Lydia: mittels Bilanzierung… … zu Vorzeigbarkeit (Individuum und Familie)

Mittels BedrohungsGegensteuern zur Sicherung einer soz. Ressource

Mittels kontrollierendem Abwägen zu relationaler Autonomie

Situative Aktualität und Dringlichkeit

Lisa: Adoleszenz Anke: Geborgenheit Midlife-Crisis Lydia: prekärer Status

Gründung einer Wahlfamilie

Aus dem bislang vorgestellten Material heraus lässt sich nun das allgemeine Zusammenwirken der Dimensionen rekonstruieren: Das Familiensystem mit seiner Leitdifferenz, das sich in bestimmten Gestaltungsvarianten familialer Beziehungskonstellationen ausdrücken kann, bildet einen

17 Erstellt in Anlehnung an Peter (2006: 264).

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rahmenden Hintergrund für die Wahrnehmung und den Umgang mit dem genetischen Gesundheitswissens. Die familial-relationierende Dimension stellt folglich einen grundsätzlichen Möglichkeitsraum bereit, der jedoch durch andere soziale Zusammenhänge erweitert oder verengt werden kann. Vor dem Hintergrund der spezifischen familial-transgenerationalen und daher wesentlich milieubedingten Handlungsressource sowie des systemisch organisierten Gutes bilden sich im sozialen Möglichkeitsraum sowohl individuelle Lebensentwürfe als auch das Spannungsfeld alternativer familialer Gesundheits- oder Krankheitsnarrationen. Diese zwei Sorten von Erzählungen bestimmen das operative und interpretative Gesundheitswissen als subjektive, aber v.a. latente Sinnstrukturen, die als Regeln der Lebenspraxis die Strukturgesetzlichkeit des Falles sowie den in ihm liegenden sozialen Sinn von Gesundheit wie auch das dahinter aufscheinende Lebensthema erkennen lassen, das der einzelnen Person aus diesen Narrationen heraus familial aufgegeben ist. Die Dimension der Wissenspotenziale bietet demnach konkrete Möglichkeiten des Handelns und Verstehen, die mehr oder weniger offensichtlich sind, auf dem familialen Kontext aufbauen und durch den situative Kontext pointiert werden können. Die Lebenssituation in ihrer lebenszyklischen wie auch lebensentwurfspezifischen Bedingtheit und medizinisch, familial und personal inszenierten Aktualität beeinflusst schließlich die Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten einer Person im Sinne einer zu- oder abnehmenden Verdringlichung bestimmter Anteile dieses Möglichkeitsraums. Die situative Dimension betont damit bestimmte Aspekte des aktuellen Lebens, die für die Wahrnehmung und den Umgang mit dem Gesundheitswissen entscheidend sind. Die spezielle, interdependent verbundene Konstellation dieser sozialen, wissenspotenziellen und situativen Kontextualisierungen bestimmt die Reichweite von Intelligibilität und Viabilität und damit die Kapazität einer Person, sich verschiebende und konstante erfahrungsabhängige Variablen zu einer Realität zu verbinden, die im vorliegenden Fall „Gesundheit“ heißt. Die dazu geleistete Arbeit wie auch der resultierende Aufbau der Wirklichkeit, sprich die Konstruktion in ihrer doppelten Bedeutung, kann fallrekonstruktiv nachvollzogen werden.18 Die Bearbeitung dieses „chronischen Risikostatus“ erinnert an die von Strauss und Corbin (2010) dargelegte Bewältigungsarbeit bei chronischen Krankheiten mit ihren Arbeitslinien Krankheit, Alltag und Biografie, obschon der Status „BRCA-positiv“ gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die so diagnostizierten Personen gesund, d.h. nicht manifest an Krebs erkrankt sind und dies evtl. auch nie sein werden. Diese Übereinstimmung kann somit als Symptom für das gesehen werden, was Aronowitz (2009) als „vermengte Erfahrung von Risiko und Erkrankung“ beschrieben hat, d.h. als Hinweis auf die Auflösung definierter Kategorien von Gesundheit und Krankheit im Umgang mit medizinischen Möglichkeiten. Im vorliegenden BRCA-Fall wird somit die Krankheits- zur Gesundheitsarbeit, die zudem identitär geprägt ist, worauf die Bedeutung des Lebensentwurfs als kategoriale Brücke verweist.

18 Da Fallstrukturen und soziale Sinn-Zuschreibungen latent vorliegen, sind diese nur begrenzt spontan voluntaristisch zugänglich. Daher ist ein ausführlicher Reflexionsprozess von Nöten, um die genannten Zusammenhänge und Sinnzuschreibungen aufzudecken.

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9.2 K ONSEQUENZEN

FÜR GESUNDHEITSTHEORETISCHE

Ü BERLEGUNGEN

Ausgehend von den Fallrekonstruktionen kann die dreidimensionale Kontextualisierung damit als bestimmend für die Kennzeichen einer Lebenspraxis gelten, welche den nicht willentlich gewählten, subjektiven Gesundheitsstandpunkt einer Person festlegen, der die Gesundheit einer Person als deren identitäre gesundheitliche Selbstverortung im Prozess bestimmt. Diese Selbstverortung ist aufgrund der Bedingungen ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung mit einer mehr oder weniger großen Flexibilität auf dem orthogonal verstandenen Gesundheitsspektrum verbunden. Es bietet sich folglich an, von einer erlernten19, in Anbetracht der Wichtigkeit des Sozialen sogar sozialisierten (nicht sozialen) Gesundheit zu sprechen. Der Standpunkt bestimmt die Gesundheitskonstruktion mit anderen Worten insofern, als dass er einen Wahrnehmungs- oder Bewertungsfilter darstellt, der aus allen als gesundheitsrelevant verstandene Informationen „situiertes Wissen“ (Haraway 1995: 73)20 macht. Das situierte Gen-Wissen wird demnach in bestehende Kontextualisierungen „eingebettet“, wodurch die eigene Gesundheit auf dieser Evaluationsbasis weitgehend unbewusst eingeschätzt und benannt wird. Durch diese neue Kontextualisierung in bestehende Kontextualisierungen hinein werden letztere zugleich herausgefordert, da sie sich als der Aufgabe gewachsen erweisen und eine sinnvolle Perspektive der Deutung und des Umgangs bieten müssen. Diese erworbene Perspektive muss sich dann sozial – im vorliegenden Fall am offensichtlichsten familial – bewähren. Hier kommen subjektive und soziale Perspektive in dem Sinn zusammen, als dass die subjektive personeninterne Kontextualisierung sich in einer externen sozialen Kontextualisierung als haltbar erweisen muss, welche damit erneut die interne Kontextualisierung herausfordert, da sie als Veränderung der Lebenssituation wirkt. Zwischen interner und externer Kontextualisierung existiert folglich ein transaktionaler Regelkreis, innerhalb dessen die Person auf der Basis ihrer sozial bewährten Standortbestimmung relational autonom agiert und somit eine agency besitzt. Jede dieser beiden Kontext-Integrationen stellt in ihrer Wechselwirkung manifeste Entscheidungssituationen dar, die als krisenhafte Herausforderungen zur Entstehung von Neuem beitragen und letztlich die dimensionale Struktur der Gesundheitskonstruktion transformieren können (vgl. auch Oevermann 2002; Peter 2006). Hierbei repräsentiert die Fähigkeit zur Integration dieser Herausforderung das, was i.d.R. unter Copingmöglichkeit firmiert (vgl. Blankenburg 1997).

19 Diese These weist eine Kongruenz mit der der erlernten Körper auf (vgl. Orbach 2010). 20 Das Konzept des situierten Wissens ist Teil der sog. Standpunkt-Theorie. Diese feministische Theorie geht davon aus, dass es keine epistemologische Neutralität geben kann, Wissen also immer partiell und von einem bestimmten erfahrungsbestimmten Standpunkt aus formuliert ist. Die Annahme der generellen Unterordnung der Frau in der patriarchal orientierten Welt, die als Ausgangspunkt einer feministischen Analyse herangezogen wird, erscheint im Hinblick auf Gesundheit ggf. auf den Position von Patient_innen im (medikalisierten) Gesundheitssektor übertragbar. Insofern muss von diesem Erfahrungsstandpunkt ausgegangen werden, um diese soziale Praxis zu transformieren (vgl. Code 2000).

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Dieser in den Fallrekonstruktionen deutlich gewordene doppelte Bedingungszusammenhang des Subjektiven und des Sozialen für die aktuelle identitär wirksame21 gesundheitliche Selbstdefinition einer Person wird im Konzept einer Filtergesundheit theoretisch gefasst und erlaubt es, den Vorgang der subjektiv-sozialen Gesundheitskonstruktion anhand eines erweiterten Labelling-Modells verstehend nachzuvollziehen. 9.2.1

Doing Health in der Filtergesundheit

Diese Filter-Gesundheit zeichnet sich aufgrund des Bewertungsfokus durch eine Kreativitätslogik aus. Das wird umso wichtiger je quantitativ und qualitativ virtueller und unumgänglicher Risiko- sowie Schutzfaktorenprofile werden, wie dies beim Vorliegen bestimmter DNA-Variationen, aber auch anderer Blutprobenwerte der Fall ist. Dann hängt es wesentlich von kreativen einzelnen Gesundheitsakteur_innen ab, wie die Daten in „Gesundheit“ im Sinne aller möglichen, neben-, mit- und übereinander existierenden Interpretationen des eigenen Gesundheitsstandpunktes übersetzt werden. Filter-Gesundheit verhält sich hier ergebnisoffener als Faktoren-Gesundheit, da hinter letzterer immer eine Form des Risikofaktorenmodells, d.h. eine biomedizinisch orientierte Sortierung in gut versus schlecht, aufscheint. Die Bedeutung unterschiedlicher Lebensbereiche und Gesundheitsdimensionen soll dabei nicht als nichtig diskreditiert werden. Filter-Gesundheit basiert auf der Grundannahme, dass biologische, psychische, soziale u.a. Faktoren einem konstruierenden Einfluss durch die soziale Umwelt ausgesetzt sind.22 Das gesamte Spektrum der Gesundheit wird in Anlehnung an Butler (1991; 1995)23 als eine neben Geschlecht bestehende zweite grundlegende Dimension begriffen, in der Menschen eine körperlich-leibliche Realität interaktiv konstruieren, erleben und im Rahmen kritischer Lebensereignisse mehr oder weniger stark herausgefordert sehen. Es gilt die folgende Definition: Gesundheit stellt eine fortgesetzt sozialisatorisch vermittelte, kontextabhängige Zuschreibung dar, die in Interaktionen performativ beständig (re-)aktualisiert und so materialisiert wird. Durch dieses doing health entsteht Gesundheit als soziales Konstrukt, wobei ein und dieselbe Person in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedliche „Gesundheiten“ besitzen kann. Die gesundheitliche Zuschreibungspraxis basiert auf einem Bewertungsfilter, der Veränderungen der Lebenssituation evaluiert. Der Begriff „Lebenssituation“ ist bewusst vage gehalten. Hierunter wird die Gesamtheit der in anderen Gesundheitsdefinitionen fokussierten Faktoren verstanden. Diese können demnach wirken, müssen dies aber nicht, sondern werden in ihrer Wirkmächtigkeit hinter die Instanz des Bewertungsfilters und den dort ablaufenden Vorgang der nur begrenzt voluntaristisch zugänglichen Bewertung zurückgestellt, der als entscheidend für den Gesundheitsstandpunkt einer Person gilt. Dieser Bewertungsfilter stellt das Kernkonzept der Fil-

21 Dieser Aspekt trägt der großen persönlichen Bedeutung Rechnung, die Gesundheit unzweifelhaft zugerechnet wird. 22 Vgl. zum Beispiel Laqueur 1996; Badinter 1996; Wüstner 2000; Siegrist 1995. 23 Zur Kritik an Butler siehe z.B. Duden 2002.

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tergesundheit dar und ist näher bestimmbar als Ergebnis der dreidimensionalen Kontextualisierung. Er beinhaltet alle gesundheitsrelevanten interpretativen und operativen Dispositionen und Kompetenzen (bspw. Deutungsmuster, familiale Handlungsressourcen und Regeln, Lebensentwurf), die im Laufe des Lebens in den Möglichkeitsräumen verschiedener sozialer Kontexte ermöglicht und gelernt wurden und im aktuellen sozialen Rahmen von der aktuellen Lebenssituation scheinwerferartig hervorgehoben werden können. Der Bewertungsfilter fungiert damit als Basis der internen Kontextualisierung. Eine Veränderung persönlicher Gesundheit kann dann entweder durch eine Veränderung der die Bewertung auslösenden wahrnehmbaren Lebenssituation oder durch eine Veränderung des Bewertungsfilters geschehen. Eine Veränderung der für die Lebenssituation konstitutiven Faktoren muss allerdings auf ein Bewertungsraster treffen, in dem diese Situationsveränderung verständlich ist. Eine Situationsveränderung wird folglich bewertend bestätigt und kann so auch wiederum auf den Bewertungsfilter zurückwirken und diesen verändern. Gesundheitszuschreibungen sind demnach variabel und werden in einem ständig ablaufenden Prozess sozial (re)aktualisiert, wobei die erlangte Bewertung in jedem Fall performativ-interaktiv zu realisieren ist, um wirksam werden zu können. So wird eine bestimmte identitär wirksame Interpretation des Standpunktes im Prozess gesundheitlichen Werdens materialisiert und damit real. 9.2.2

Das erweiterte Labelling-Modell

Das im Gesundheitskapitel vorgestellte Labelling-Modell wird nun vor dem Hintergrund der Studienergebnisse überarbeitet, was zunächst eine Übersetzung der Krankheits- in eine Gesundheitsperspektive erfordert. Dazu werden Begriffe wie „Verhaltensauffälligkeit“ oder „Abweichung“ durch „Normalität“ ersetzt, was den moralisch-kulturgebundenen Charakter von Gesundheit unterstreicht. In diesem Fall würde der Person statt Krankheit Gesundheit gespiegelt bzw. zugeschrieben, wodurch die Identität als gesund verstärkt wird. Das erscheint recht problemlos denkbar, daher wird das Labelling-Modell als grundsätzlich geeigneter Ausgangspunkt zur Bestimmung eines „gefilterten“ Gesundheitsstandpunktes zwischen gesund und krank betrachtet, der auch die Zuschreibung „BRCA-positiv“ beinhalten kann. Auch Aronowitz (2008) hat bereits auf die Anwendbarkeit dieses definitorischen Ansatzes zum Verständnis populationsbezogener und individueller Gesundheit verwiesen. Durch die Verschiebung des Fokus auf Gesundheit wird darüber hinaus eine andere Zeitbasis von der punktuellen zur kontinuierlichen Bestimmung der Zuschreibung erforderlich, um das Permanent-Prozesshafte des gesundheitlichen Werdens in der Gesundheitsgesellschaft aufzufangen. Um den zweiten Kritikpunkt – die fehlende Option der Selbstetikettierung – zu beheben, wird auf die von Foucault beschriebene governmentality (Gouvernmentalität) zurückgegriffen, die bereits als gesellschaftlich wirksames Konzept erwähnt wurde. Im Zusammenhang mit seiner Machtanalytik beschreibt Foucault Herrschaft als Effekt von Regierungstechnologien, die Selbstführungstechniken mit Techniken zur Führung anderer verbinden. Herrschaftstechniken und Prinzipien der Selbstformierung sowie des persönlichen Verhaltens entsprechen sich. Das Individuum führt und formiert sich und andere auf die gleiche Weise. Das Regieren (gouverner) wird

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folglich mit dem eigenen Denken (mentalité) verbunden, was in dem Kunstwort governmentality zum Ausdruck kommt (vgl. Foucault 1991; Lemke 2001). Dieser Ansatz reguliert laut Turner (1997) allgemein „riskante“ Körper und ist darüber hinaus laut Lemke (2003b) sehr gut zur Erklärung des Vorgangs geeignet, in dem genetische Risiken gesellschaftlich produziert, d.h. mit Wirkmacht versehen zum „Wahrheitsprogramm“ werden. Bezogen auf das Gesundheitsthema hat das Individuum nun nicht nur die Möglichkeit andere, sondern auch sich gemäß des Bewertungsfilters als einheitlichem Maßstab zu etikettieren24, was sodann in der Interaktion zu vermitteln versucht wird. Das interaktionistische Moment des Modells verweist folglich auf das Element der Performanz als grundlegender Vermittlungsweise von Gesundheit, was die Frage nach dessen Spezifizierung aufkommen lässt. Performanz ist die Gesamtheit aller Äußerungen, die Identität (ab-)bilden, d.h. (re-)präsentieren und -produzieren. Diese werden Performative genannt. Hierbei handelt es sich um Sprechakte, wobei sich das Sprechende nicht nur verbal, sondern auch in Form einer Handlung oder eines Gegenstandes „äußern“ kann. Wichtig ist dabei die beständige Wiederholung des Performativs, d.h. sein Charakter als (sozial freiwillig erzwungenes) Ritual der Identitätsbildung, das jedoch nicht unbedingt bewusst oder gar willentlich beeinflussbar ist (vgl. Jagose 2001; Wilchins 2006). Für Gesundheit gilt damit das, was Butler (1991) bereits für Geschlecht gesagt hat: Sie ist „[…] die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen.“ (Ebd.: S. 60) Alle diese Akte werden als sozial eingebunden gedacht, da gemäß der Vorstellung interpersonaler Identität letztere nur im Spiegel einer performativen Interaktion zwischen Alter und Ego entstehen kann. Performativ vermittelt wird die identitär bedeutsame „Wirklichkeit“ von u.a. in der Familie angebotenen konkreten Deutungsmustern, Zuschreibungen sowie Handlungsregeln und -logiken, was den Vorgang der Sozialisierung in Familie und Gesellschaft als performative Technik erscheinen lässt. Alle verfügbaren, als relevant erachteten gesundheitsbezogenen Daten werden letztlich kreativ in die selbst- und fremdetikettierende Bestimmung gesundheitlicher Identität eingearbeitet, was wiederum zur Annahme einer Kreativitätslogik der Filtergesundheit führt. Das Labelling-Model kann nun wie folgt angepasst werden: Im Rahmen der performativen Verhaltensakte wird in sozialen Interaktionen der auf einem Selbstzuschreibungsprozess basierende, inter kontextualisierte Gesundheitsstandpunkt mit den latenten, in diesem Sozialzusammenhang existierenden gesundheitsbezogenen (Verhaltens-)Prämissen abgeglichen, die als Ausdruck einer bestimmten gesundheitlichen Identität verstanden werden. Diese externe Kontextualisierung kann zu einer interaktiven Bestätigung oder Widerlegung der subjektiven Gesundheitskonstruktion von Ego durch Alter führen und wird primäre soziale Gesundheitsidentifikation ge-

24 Auch Elias (1976) verweist auf eine oberflächlich ähnliche Transformation von Selbst- in Fremdzwänge, wobei Foucaults Ansatz aufgrund seines produktiven Machtbegriff besser geeignet erscheint, die postulierte kreativ-reaktive Logik der subjektiven Gesundheitsdefinition zu unterstützen.

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nannt. Diese kann von Ego auf der Basis von Vergleichen mit unterschiedlichen Gesundheitsperformanzen durch eine erneute interne Kontextualisierung akzeptiert oder abgelehnt werden, so dass eine sekundäre personale Gesundheitsidentifikation folgt. Die Weg von der primären zur sekundären Gesundheitsidentifikation und damit der dezidiert soziale Teil der Filtergesundheit kann mit Hilfe des Konzeptes des „geteilten Sinnerlebens“ (vgl. Wiencke 2011) näher beschrieben werden, das Gesundheit ebenfalls als „in den performativen Praktiken des Settings produziert“ (ebd.: 142) und gefördert betrachtet. Es beinhaltet drei Komponenten: Das erste Element „soziales Geschehen“ besagt, dass die Person im sozialen Austausch geordnete Bedeutungen erfährt, die für sie flexibel und partizipativ handhabbar und damit variabel annehmbar sind. Die zweite Komponente „Bedeutsamkeit“ verweist auf die Wichtigkeit emotionaler und körperlicher Teilnahme, um sinnliche, ggf. sakral dimensionierte Erfahrungen zu machen, worüber sich die Person als sozial teilhabend und damit bedeutsam erfährt. Wenn das soziale Geschehen nun zur eigenen sozialen Bedeutungswelt des Alltags der Person passt, d.h. „Alltagsnähe“ besteht, kann das vermittelte Sinnerleben geteilt werden. Aus der Konstellation dieser drei Elemente im Abgleich mit anderen sozial und sensuell (vgl. Lindemann 1993) vermittelten Gesundheitsidentitäten ergibt sich die sekundäre personale Gesundheitsidentifikation. Jeder gesundheitsidentifikatorische Vorgang sowohl bei sich als auch anderen hinterlässt dabei Bewertungsspuren, die den Bewertungsfilter ständig auf- und umbauen. Erkrankungen sowie Noch-Nicht-Krankheiten o.ä. hybride Zustände resultieren folglich ebenfalls aus einer veränderten Zuschreibungspraxis in einem oder mehreren Bezugssystemen (Person, Familie, Expertensystem o.ä.). Diese beruht auf einer im jeweiligen Bezugssystem vorgenommenen Bewertung der wahrnehmbaren Lebenssituation auf der Basis des oder der angesprochenen Bewertungsfilter. Gelingt die interaktive Vermittlung der vorgenommenen Bewertung, d.h. trifft diese auf empfängliche „Bewertungsfilter“ entweder der betreffenden Person oder des Bezugssystems (basierend darauf, aus welcher „Richtung“ die neue Zuschreibung kommt), so gilt die betreffende Person in diesem Bezugssystem als krank. Damit ist klar, dass das Konzept der Filtergesundheit v.a. zum Verständnis von illness sowie auf einer mikrosozialen Wirkebene auch von sickness beitragen kann. Auf dieser Basis kann Filter-Gesundheit in Anlehnung an Butlers (1991) heterosexuelle Matrix mit ihren Begrifflichkeiten sex, gender und desire (vgl. auch Bubitz 2002) dargestellt werden als Aufteilung in Körper, Patient_innenstatus (non-patient, unpatient, patient) und optimale Gesundheit bzw. gelingendes Leben: Der Körper existiert als scheinbar vorbedingungslose (obschon „eigensinnige“25) Materie, die jedoch erst durch Zuschreibungen sinnhaft wird. Diese Sinnhaftigkeit wird im Rahmen eines identitär verankerten und gesellschaftlich mit Rollenvorstellungen aufgeladenen Patient_innenstatus performativ umgesetzt und ist mit dem unhinterfragbaren dogmatischen Begehren nach möglichst optimaler Gesundheit als Bedingung und Realisierung des gelingenden Lebens kombiniert, das – wie dargelegt – gesellschaftlich fixiert und moralisch aufgeladen ist. Im Zusammenspiel dieser drei Ebenen ent-

25 Im Vorhandensein von Leiblichkeitsphänomenen wie Schmerz, Hunger, Freude etc. zeigt sich eine konzeptionelle Schwierigkeit, die aus deren ganzheitlich den Menschen erfassender Qualität erwächst. Abschnitt 4.4 stellt daher ein inkludierendes Körperkonzept vor.

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steht eine gleichsam „entnaturalisierte“ Identität als gesunder, kranker, gesundheitlich anfälliger, behinderter etc. Mensch, die damit in gewisser Weise ebenfalls „biopsycho-sozial“ genannt werden kann. Im Vergleich zum Geschlechterbegriff ist die Gesundheitsidentität hingegen aufgrund der Veränderlichkeit der Körperzuschreibungen und Praxen wesentlich flexibler und stellt folglich eine Identität im Fluss dar. Der gesunde Körper wird dabei wie der geschlechtliche diskursiv und performativ „ins Leben gerufen“ (Bubitz 2002: 56). Gesundheit wird zu einer Art postmoderner Bastelexistenz. 9.2.3

Normativität und Motivation in der Filter-Gesundheit

Die solchermaßen konstruierte Filter-Gesundheit setzt eine Beurteilung von „Normalität“ in Bezug auf illness, sickness und disease voraus, ist also per se normativ aufgeladen: Die Medizin beschreibt Bereiche eines normalen physiologischen Gleichgewichts, die Person beurteilt die Güte des als normal empfundenen eigenen Wohlbefindens und die Gesellschaft das normale Funktionieren ihrer Mitglieder. Diese Beurteilungen geschehen nicht unabhängig voneinander, sondern verstärken sich gegenseitig. Trotzdem besteht eine historische und kulturelle Variabilität, die durch eine soziale Flexibilität ergänzt wird: In unterschiedlichen Bezugssystemen können verschiedene Gesundheitszuschreibungen auftreten, wobei zu betonen ist, dass eben diese Unterschiede kein Ausdruck von Täuschung, sondern jeweils situativ-kontextuell echt sind. Trotz der Normativität des Konzepts ist die Filter-Gesundheit dank ihrer (sozial-)konstruktivistischen Anlage (vgl. Berger & Luckmann 1969) weniger heilsbringend aufgeladen als das gesellschaftliche Gesundheitsideal, sondern vielmehr „banal“ in dem Sinn, dass sie kein allgemeines Ziel vorgibt und sich keiner zentralen Metapher als „Hilfskonstruktion“ bedient, wie es bspw. im Falle von Nordenfelts (1987) holistischem Gesundheitsverständnis die „vitalen Lebensziele“ sind oder die Betonung eines „homelike being-in-the-world“ bei Svenaeus (1999). Ziel(-e) und Fokuspunkt(-e) werden hier letztlich vom Selbst im Kontext bestimmt. Als individuelle gesundheitliche Antriebskraft wird thesenhaft ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Aspekten Zufriedenheit und Verbesserungsbedarf angenommen. An dieser Stelle können Surveillance Medicine bzw. Präventionismus sowie die Vorstellung einer (auf Perfektionierung und Kapitalisierung ausgerichteten) Gestaltbarkeit von Gesundheit ihre Wirkung entfalten. Sicherheit und Optimierung als Strukturvariablen eines gesundheitsgesellschaftlichen „Zweifrontenkrieges“ werden so individuell wirksam und erfahrbar. Schließlich erscheint auch die auf Leriche zurückgeführte Vorstellung von Gesundheit als „Schweigen der Organe“26 obsolet: Gesundheit ist Reflexionsergebnis und ständig ausgehandelter Zustand der (Un-)Zufriedenheit, der reaktiv-kreativ hergestellt werden muss. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Konzept der Filter-Gesundheit besonders dazu geeignet erscheint, im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention (und damit auch der BRCA-Diagnostik) zum Einsatz zu kommen, weil hier grundsätzlich Zu-

26 Labisch (2002) schreibt das Zitat Renè Leriche zu. Es wird erstmal von George Canguilhem (1974) zitiert, bevor es von anderen vorgebracht wurde.

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schreibungspraxen im Sinne von Umdeutungen von Lebensbedingungen bzw. -stilen und ganzen Lebensentwürfen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.27

9.3 R EFLEXIONEN ZUR VON G ESUNDHEIT

NORMATIVEN

D IMENSION

Im Folgenden soll erneut ausgehend von den Fallrekonstruktionen die externe Kontextualisierung in einer dritten Perspektive – neben den zuvor Angesprochenen des geteilten Sinnerlebens (vgl. Wiencke 2011) und der gefühlten „Leiblichkeitsübertragung“ (in Anlehnung an Lindemann 1993) – geschildert werden, nämlich als normative Verhandlung. Die Darstellung der gesellschaftlichen Rahmung von Gesundheit hat verdeutlicht, dass zweifelsohne eine gesellschaftliche Gesundheitsnorm als Teil der sozialen Strukturen des Alltagslebens existiert. Diese verdichtet sich prototypisch in dem Satz: „Gesund sein will jeder, daher zielt das Thema auf alle Bürger, ob jung oder alt.“ (Tagesspiegel 2011: 1) Mit dieser Norm lässt sich in Anlehnung an Garfinkel (1984) auf legitime Art bewerten, was als richtiges oder falsches Sein (und Verhalten) gilt – eine Bewertung, die zudem moralisch, d.h. mit Verantwortung aufgeladen ist, da gilt: „‚normal‘ means ‚in accordance with the mores‘“ (ebd.: 124). Damit wird die enorme Abhängigkeit der gesundheitlichen Selbstverortung von dieser zweiten externen Kontextualisierung deutlich, die Garfinkel im Fall Agnes in den Satz „I am right or wrong on the grounds of who agrees with me“ (ebd.: 179) gießt. Zudem öffnet eine Betrachtung der normative Dimension von Gesundheit den Blick für strukturelle Reibungspunkte zwischen subjektiven Gesundheitskonstruktionen und denen des gesellschaftlich beauftragten Gesundheitssektors, die sich negativ auf die subjektive Gesundheitsidentifikation auswirken und Anlass von Kränkungen oder Konflikten im Umgang mit dem Gesundheitspersonal sein können. Die Reflexion der normativen Dimension empfiehlt sich darüber hinaus, weil die gesundheitliche Selbstverortung und -konstruktion sonst droht, als einfach „nur“ ein weiterer unter vielen Risikofaktoren betrachtet zu werden, die es zu kennen und zu kontrollieren gilt. Gerade die vorgestellten, aber auch weitere Forschungsergebnisse (z.B. Oscarsson 2007) haben jedoch gezeigt, dass diese faktorielle Sicht der Realität und Logik der Fälle eben nicht gerecht wird und den Stellenwert persönlicher gesundheitsnormativer Bezugpunkte für den Umgang mit Gesundheit verkennt. Die vorgeschlagene normkritische Perspektive unterstützt eine vergleichende Sicht fallspezifischer und biomedizinischer Normen, die beide als gleichberechtigt nebeneinander stellt, anstatt von vornherein ein Deutungsprimat der Biomedizin an-

27 Daher erscheint eine Dekonstruktionen der Bedingungen dieser Wirkungen bisweilen ratsam, um sich der eigenen Machttechniken und Naturalisierungen bewusst zu werden und eine gewisse Demut gegenüber Selbstetikettierungen an den Tag zu legen. Zum Einwand einer der Ressourcenknappheit geschuldeten Gruppenorientierung von präventiven und gesundheitsförderlichen Angeboten (z.B. von der Krankenkasse finanzierte Ernährungskurse) ist anzumerken, dass eine gewisse soziale Kontextsensibilität sicherlich allgemein von Nutzen ist, hier jedoch v.a. an personalisierte Angebote wie individuelle Gesundheitsberatungen z.B. im Anschluss an medizinische Check-Ups gedacht wurde.

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zunehmen. Dadurch können normative Friktionen verdeutlicht werden, ohne diese als „falsches Verständnis“, „Vergessen“ o.ä. weg zu erklären. Zugleich wird die Norm als Gesetzte und also auch Versetzbare markiert. Die hinzugezogene Position des anthropologisch ausgerichteten Psychiaters Blankenburg ermöglicht sodann einen vermittelnden Vergleich des jeweiligen Normenspektrums unter der Prämisse der Selbstverwirklichung und damit dessen, was bislang als realisierter Lebensentwurf adressiert wurde. Davon ausgehend lassen sich praktische Konsequenzen ansprechen. Der pädagogisch-psychologische Fokus wird aufgrund des praktisch orientierten Diskursfeldes gewählt, das von einer rein medizinethischen Normen- und Wertediskussion kaum profitieren dürfte. 9.3.1

Queere Normkritik und die Norm in der anthropologischen Psychiatrie

Queer-Pädagogik geht davon aus, dass Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität, Funktionalität oder eben Gesundheit durch Normen geschaffen werden, die bestimmte Arten zu sein und sich zu identifizieren als „normal“ im Sinne von moralisch geboten klassifizieren, während die davon abweichenden als „unnormal“ gelten. Es gilt die folgende Definition von Norm: „Normen können beschrieben werden als unausgesprochene und allgemeingültige Regeln dafür, wie wir uns anderen gegenüber verhalten sowie in verschiedenen Angelegenheiten empfinden und denken sollen. Diese können die gesamte Gesellschaft durchziehen oder für einzelne Gruppen gelten.“ (Brade et al. 2008: 18, Übersetzung BP)

Handlungs- und Verstehensweisen werden als immer schon normativ bestimmt und bestimmend angenommen, so dass die resultierenden Kategorien folglich eine normativierende und damit bewertende Wirkung auf Selbst- und Weltdeutungen haben. Sie verweisen auf Machtordnungen, die bestimmte Erzählungen gegenüber anderen bevorzugen und Menschen dadurch in Gruppen einteilen, die als „wir“ und „die Anderen“ bezeichnet werden können – eine Einteilung, die zu einem kränkenden und verletzenden Verhalten diesen Anderen gegenüber beitragen kann. Dabei sind die Anderen immer diejenigen, welche die gesellschaftliche Norm nicht erfüllen oder drohen, diese nicht zu erfüllen, und daher als „unnormal“, „falsch“ und „illegitim“ betrachtet werden (vgl. Bromseth 2010). Die auch als anti-repressiv bezeichnete Sparte der Pädagogik macht sich zur Aufgabe, die zu Grunde liegende Normstruktur sichtbar und veränderbar zu machen, indem bestehende Erzählungen daraufhin befragt und damit verdeutlicht sowie alternative Erzählungen angeboten bzw. berücksichtigt werden. Damit soll letztlich der gesamte Deutungsrahmen verändert werden. Dieses Projekt kann als Ergänzung und Weiterentwicklung einer Toleranzpädagogik verstanden werde, die darauf abzielt, Bildung für oder über die Anderen zu machen, jedoch den Gegensatz zwischen „uns“ und „den Anderen“ mitkonstruiert, anstatt die Bedingungen dieser Konstruktion in den Blick zu nehmen und zu problematisieren, wie dies in der normkritischen Praxis der Fall ist (vgl. Kumashiro 2000; 2002; auch Freire 1972). Normativität an sich, „defined as the power of creating and changing norms“ (Debru 2011: 1), ist als anthropologische Notwendigkeit zu betrachten, die als

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Schlüsselkonzept die Grundlage der menschlichen Existenz und ihrer Verbesserung darstellt (ebd.). Im Rahmen der Medizin stellt die Frage nach der Norm für Blankenburg (1980, auch 1985; 1997) gerade aufgrund ihres bewertenden Potenzials eine Grundfrage dar, da hierdurch die Grenze definiert wird, ab wann eine gesamte Lebensentfaltung als in Frage gestellt betrachtet, eine Therapiebedürftigkeit diagnostiziert und die Zumutbarkeit einer Selbstverantwortungsübernahme in der Folge dosiert werden muss. Um dies adäquat einschätzen zu können, ist jedoch ein differenzierterer Normbegriff notwendig. Blankenburg scheidet eine statistisch bestimmte Durchschnittsnorm von einer aus der Lebenspraxis abgeleiteten funktionellen oder Realnorm, wobei beide Gewordenes in den Blick nehmen. Im Gegensatz dazu beschreibt die Idealnorm ein „Maximum der Verwirklichung menschlicher Seinsnormen“ (Blankenburg 1980: 275) und fokussiert damit Zukünftiges. Wie Sandell (2010) in Rückgriff auf Koeslag (1993) darstellt, sind Durchschnitts- und Idealnormen, die persönlichkeitsindifferent, und allgemeingültig formuliert werden28, für das Verständnis des Normalen in der Medizin entscheidend, auf die sich auch die anderen Deutungen (das Nicht-Kranke, das wie Vorgesehene und das gemäß kultureller Normen Funktionierende) zurückführen lassen. Die von Wehling und Viehöver (2011) genannten Entgrenzungsdynamiken weisen zudem auf die gesteigerte Wichtigkeit der Idealnorm hin. Diese muss folglich mit der persönlichkeitsdifferenten Realnorm der bisher realisierten Seinsmöglichkeiten eines Menschen und damit dem Gewordenen der bisherigen Lebenspraxis in Beziehung gesetzt werden, um generell sowie im medizinischen Feld zur Einschätzung einer Situation sowie zu einer Umgangsweise damit zu kommen. Die Vermittlung zwischen Real- und Idealnorm und dem damit verbundenen Primat der Autonomie versus Heteronomie (vgl. Blankenburg 1985) basiert dabei auf dem normenstiftenden Potenzial des Menschen, welches eine generelle zugunsten einer individuellen Normensetzung verhindert. Als Bezugspunkt der relativierenden Bewertung des Verhältnisses von Real- und Idealnorm fungiert die Dimension der existenziellen Selbstentfaltung, sprich der realisierte Lebensentwurf (vgl. auch Kettner 2006). Dadurch wird es möglich, die „durch die kollektive Werdensnorm begrenzte individuelle Werdensnorm“ zu bestimmen, welche als „eigentliche Individualnorm“ (Müller-Suhr zitiert nach Blankenburg 1980: 275) bezeichnet werden kann. Durch die Berücksichtigung dieser Individualnorm wird die Grenze zwischen Norm und Abnormalität entdogmatisiert. Dies ist zu bedenken vor dem Hintergrund der BRCA-positiven Frauen als „die Anderen“, die insofern Andere sind, als dass ihr genetischer Status sie von der „Normalbevölkerung“ unterscheidet und ihnen spezielle Angebote genetischer Beratung und medizinischer Betreuung zuteil werden lässt. Dieser Aufteilung liegt eine generelle Unterscheidung von gesunden = „normalen“ und kranken oder anfälligen = „unnormalen“ Menschen zu Grunde. Die den Prozess des Othering, d.h. den Abscheidungsprozess der „Anderen“ von einem allgemeinen „Wir“, unterstützende medizinischen Idealnorm wird ausgehend von der Beschreibung der Gesundheitsgesell-

28 Auch wenn Blankenburg (1980) die Idealnorm vermutlich ebenfalls personenbezogen gedacht hat, erscheint eine systemische Sicht geeigneter, um die auf Allgemeingültigkeit aufbauenden Möglichkeiten von Zumutbarkeit und Kränkung auszuloten.

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schaft aufgefächert. Sodann wird untersucht, wie sich die impliziten gesellschaftlichen Gesundheitsnormen zum Spektrum der Realnormen der BRCA-positiven Frauen verhalten. Das wird mit dem realisierten Lebensentwurf als Umsetzung der existenziellen Selbstentfaltung in Beziehung gesetzt, so dass das Spannungsfeld der eigentlichen Individualnorm und der resultierende Handlungsraum zwischen einem eher pathischen „Nicht-Anders-Können“ und einem gesunden „Auch-andersKönnen“ (Blankenburg 1997: 25) bzw. „So-und-nicht-anders-Wollen“ (ders. 1985: 37) zu Tage tritt. 9.3.2

Gesellschaftliche Gesundheitsnormen als Bewertungsbasis

Bereits ein Vergleich zwischen dem rekonstruierten sozialen Sinn von Gesundheit und dem Ergebnis von Untersuchungen zu sog. subjektiven Gesundheitstheorien (vgl. Franzkowiak 2003), also dem bisherigen wissenschaftlichen Versuch, gesundheitsbezogenes Verhalten und Verständnis nachzuvollziehen, verweist auf eine Diskrepanz, die normative Bedeutung haben dürfte: Betrachtet man die drei sozialen empirisch herausgearbeiteten Sinnausprägungen Gesundheit als „soziale Leistung“, als „verbindende Aktivität“ sowie als „Beziehungsbalance“, so zeigt sich, dass die Komponenten Leistung, Aktivität und Balance im Prinzip drei von Franzkowiaks sechs Laien-Gesundheitskonzeptionen zitieren, nämlich Gesundheit als Reservoir, Selbstzwang und Gleichgewicht. Was hingegen jedes Mal wegfällt, ist die Beziehungskomponente und damit der Bedeutungsanteil, der über das Individuelle hinaus auf relationale, soziale Zusammenhänge verweist, die – wie Franke (2006) anerkennt – in wissenschaftlichen Theorien zum Krankheitsgeschehen unterrepräsentiert sind. Es deutet sich eine Individualnorm an, die eine Betrachtung von Gesundheit als personales Kennzeichen fordert und konstruiert, ohne dessen offensichtliche soziale Bedingtheit und Einbindung zu reflektieren. Als solches repräsentiert diese Norm die Gültigkeit von Gesundheit als Leitwert einer individualisierten Moderne. Des Weiteren verweisen die individuellen Anteile auf Annahmen gesundheitlicher Gestaltbarkeit und Verantwortung. Diese beiden können als Querverweis zum Phänomen des healthism mit seiner responsibilization (vgl. Rose 1999) aufgefasst werden und sind darüber hinaus mit Beck-Gernsheims (1999) Beschreibung eines „freiwilligen Zwangs“ kompatibel. Hier empfiehlt sich eine Aufteilung zwecks Verdeutlichung des normativen Potenzials: Zum einen ist die Existenz einer Selbstverantwortungsnorm zu konstatieren, die ein Spannungsfeld beschreibt, in dem die Vorgabe der gesundheitlichen Selbstbestimmung als Entscheidungsprimat mit der Pflicht zur Übernahme von (Eigen-, Informations- und Reproduktions-)Verantwortung für die getroffene Gesundheitsentscheidung verbunden ist. Dies ist die Konversion des grundlegenden risikogesellschaftlichen Spannungsfeldes von Freiheit und Verantwortung, Chancen und Risiken in den Bereich der Gesundheit. Das ist eng verbunden mit der Überzeugung der praktischen Herstellbarkeit, die auf übergeordneter risikogesellschaftlicher Ebene allgemein das eigene Leben einzelner Personen betrifft und auch Gesundheit als dessen Teil einschließt. Verstärkt gilt diese Zuständigkeit für die Medizin als dem gesellschaftlichen Teilsystem, das für Gesundheit als zu organisierendes Gut zuständig ist. Herstellbarkeit erscheint dabei doppelt normativ konnotiert, zum einen als Leistungsverpflichtung, zum anderen aber auch als Machbarkeitshoffnung.

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Es lässt sich folglich zum einen eine Leistungsnorm feststellen, die ausgehend von einem Verständnis von Gesundheit als optimierbarem Gut auf ein gesundheitliches Engagement aller abzielt, mit dem persönliche Gesundheit geleistet, d.h. (wieder-)hergestellt, bewahrt und optimiert werden kann. Aus dem Kanon medizinischer Möglichkeiten lässt sich eine Hierarchie des zulässigen Gesundheitsengagements beschreiben, wobei dieser Leistungsnorm gemäß die Ausübung bestimmter Handlungen anderen gegenüber vorgezogen wird: Zunächst einmal gilt die Norm der Optimierung, die i.d.R. mit keinem Krankheitsereignisse verbunden ist und sich auf eine aktive Steigerung des (subjektiven) Wohlbefindens als auch auf (objektive) statistische körperbezogene Laborwerte abzielt. Letztere gelten dabei oftmals als Grundlage für ersteres. Diese Norm kommt in besonderem Maße in Zusammenhang mit dem Phänomen des neuro-enhancements zum Ausdruck und zur Geltung. Des Weiteren gilt die Norm der Kontrolle, die sich auf die Inanspruchnahme von medizinischen Überwachungsmaßnahmen, aber auch auf Selbstüberwachung beziehen kann. Beide Handlungsstrategien dienen der Prävention und Gesundheitsförderung, die gegenüber einer Heilung Priorität besitzt, wie anhand der werbemäßigen Schwerpunktsetzungen der Krankenkassen deutlich wird. Demzufolge landet die Norm der Eliminierung und Rehabilitation, d.h. die Auforderung zur verbessernden Veränderung einer gesundheitlichen Einschränkung durch Ausschaltung des verursachenden Faktors auf dem vorletzten Platz der Prioritätenliste. Ganz zuletzt ist die Norm der Akzeptanz zu ergänzen, die im Falle chronischer oder letaler Erkrankungen zum Tragen kommt, auf eine Anerkennung der Unveränderbarkeit sowie eine Abmilderung des bestehenden Zustandes abzielt und z.B. die Palliativmedizin leitet. Allerdings sollten die verschiedenen Formen des Gesundheitsengagements auch ausbalanciert eingesetzt werden. Die Wirksamkeit dieses konkreten normativen Handlungsspektrum wird dann durch die o.g. Machbarkeitsnorm unterstützt, welche die mit gesundheitlichen Angeboten verbundene Hoffnung auf Erfolg beschreibt: Genauso wie das eigene allgemeine Schicksal in der Risikogesellschaft in der Hand der Einzelnen liegt, so gilt auch Gesundheit als erfolgreich aktiv herstellbar und konservierbar. Diese Vorgabe beinhaltet eine Zustimmung zum Gesundheitsengagement als Bedingung des damit verbundenen Heilsversprechens (siehe auch Kollek & Lenke 2008 mit Bezug zu genetischer Verantwortung) und betrifft sowohl Laien als auch Professionelle, die beide Hoffnung empfinden und ausstrahlen29 sowie Gesundheit als einzig wünschbaren Zustand empfinden sollen. Hier scheint der Fortschrittsoptimismus der frühen Moderne fortzuleben (vgl. Mordacci 1998), während zugleich das moralisch Aufgeladenen der Normen deutlich wird. Aus der Angebotsstruktur der HBOC-Zentren lässt sich somit ableiten, dass für die BRCA-positiven Frauen v.a. die leistungsbezogenen Normen der Kontrolle und Eliminierung von Bedeutung sind, gefolgt von einer Optimierung im Rahmen der Möglichkeiten. Unterstützt wird die positive Wahrnehmung des Angebots von der Machbarkeitsnorm, die eine erfolgreiche Veränderung der Zukunft als Preis stetiger Bemühungen suggeriert (vgl. Svendsen 2006). Für den Status BRCA-positiv im Sin-

29 Dies kann dazu führen, dass Patient_innen in der Überzeugung nach Hause entlassen werden, geheilt zu sein, obwohl diese lediglich austherapiert, d.h. unheilbar erkrankt, sind.

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ne eines chronischen Risikos sollte die Akzeptanznorm eine Bedeutung haben, was jedoch aus dem „Vorsorgeprogramm“ der HBOC-Zentren eher nicht hervorgeht.30 Der wachstumsökonomisch anmutenden Sichtweise des Gesundheitsmarktes, der den persönlichen Gesundheitskapitalismus bedient, liegt die implizite Forderung nach einem möglichst starken Engagement zu Grunde. Hier ist als weitere Norm die der Qualität wirksam, nach der nur gute Gesundheit als richtige Gesundheit zu betrachten ist, d.h. die Bezeichnung „gesunde Person“ rechtfertigt. Diese gute Gesundheit wiederum wird gesellschaftlich als allgemeingültiges Heilsversprechen propagiert, wodurch eine Potenzialitätsnorm aufgestellt wird, nach der Gesundheit als Vorbedingung eines guten, gelungenen Lebens zu betrachten ist, wodurch ihr ein instrumenteller Wert zuerkannt wird. Was als gute Gesundheit zu betrachten ist, wird primär vom biomedizinischem Paradigma und damit vom zuständigen gesellschaftlichen System definiert (vgl. auch Seedhouse 2001). Es ist folglich eine übergeordnete, mit kognitiver Autorität versehene Norm der Biomedizin zu konstatieren, die als einzige gesamtgesellschaftlich als gültig betrachtete Erklärungen, Definitionen und Beeinflussungen von Gesundheitszuständen31 anbieten darf. Die im Rahmen der Biomedizin betrachtete Dimension ist die gegebene oder eingeschränkte Funktionalität32, welche die Norm verschiedener organischer Zustände anhand von quantifizierbarem naturwissenschaftlichem Wissen markiert und einschätzen kann (vgl. Boorse 1977). Sie impliziert eine „Abstufung der Betroffenheit“, die sich nach dem Schweregrad der organischen Beeinflussung richtet und dem physischen Überleben die höchste Priorität zuspricht, gefolgt von tatsächlichen oder drohenden Verletzungen oder Einschränkungen. Dieses biostatistische Primat hat sich für die einzelne Person als nicht ignorierbar erwiesen, was als Compliance-Norm bezeichnet werden kann, d.h. als Aufforderung, den professionellen Vertreter_innen der Biomedizin sowohl in Hinsicht auf Optimierung, Kontrolle, Eliminierung und Rehabilitation als auch Akzeptanz Folge zu leisten unabhängig davon, ob diese nun persönlich oder virtuell intervenieren. Das biostatistische und biomedizinische33 Primat gilt generell, obwohl es durch Erfahrungen und eigene Ansichten der professionellen Akteur_innen sowie die Reichweite des biomedizinischen Heilsversprechens aufgeweicht werden kann (vgl. Stemerding & Nellis 2006). Im Kontext der vorliegenden Studie, aber auch in der alltäglichen gesellschaftlichen Wahrnehmung wird der primäre inhaltliche Fokus der biomedizinischen Norm deutlich: Es zeigt sich, dass eine Sicht von Gesundheit als deutungsmächtig und handlungsbestimmend betrachtet wird, die multiple, miteinander vernetze, quantifi-

30 Im Feld wurde dies bspw. daran deutlich, dass nicht die Frage gestellt wurde, ob das Zentrumsangebot wahrgenommen werden soll oder nicht, sondern welche Angebot interessiert. 31 In einzelnen gesellschaftlichen Untergruppierungen mögen andere Deutungsmuster bevorzugt werden, die jedoch nur „ausgedünnt“ im gesamtgesellschaftlichen Diskurs erscheinen. 32 Diese scheint auch eine auf die Zweigeschlechternorm bezogene Funktionalität mit Bezug zu den Bereichen Präsentation und Reproduktion zu beinhalten. 33 Während die Biostatistik rein statistische physiologische Veränderungen beschreibt, integriert die Biomedizin auch Konzepte aus Psychologie oder Psychosomatik, wiewohl anscheinend oft als untergeordnete oder Ausweichkategorien. Insofern besitzen die beiden Begriffe leicht unterschiedliche Bedeutung.

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zierte bio-psycho-soziale Risikofaktoren als Grundlage der gesundheitlicher Statusbestimmungen und Aktionen priorisiert, was als Norm der Faktorenbezugs bezeichnet werden kann.34 Die mit der Zunahme der Beschreibung möglicher Risikofaktoren verbundene Ausweitung der Krankheit in die Gesundheit (vgl. Wehling & Viehöver 2011) konvergiert mit Armstrongs (1995) Beschreibung einer Surveillance Medicine sowie Skrabaneks (1994) lifestylism, der den eigenen Lebensstil als risikobezogene Quelle von (Nicht-)Gesundheit hervorhebt und dergestalt mit der Selbstverantwortungsnorm verbindet. Diese Gesundheitssicht bestätigt zugleich Risiko als strukturbildendes Moment der gleichnamigen Gesellschaft und präzisiert den Fokus der Leistungsnorm. Gesundheitsentscheidungen und -handlungen sollen demnach der Norm der Rationalität und Objektivität folgen, d.h. sie sollen anhand von „objektiven“ biomedizinischen und damit letztlich naturwissenschaftlichen Risikozahlen und „Fakten“ und nicht anhand von Emotionen, Intuitionen oder subjektiven Gesundheitstheorien gefällt und rational-logisch, nicht eigenlogisch begründet werden. Es ist jedoch zuzufügen, dass ethische Überlegungen eine Sonderstellung einnehmen und die biomedizinische Logik außer Kraft setzen können.35 Hierbei gilt diese Form der objektiv-rationalen Handlungsbegründung als wenig bis nicht ambivalent und damit anderen Entscheidungswegen überlegen. Die Norm der Biomedizin ist folglich mit dem Nimbus fehlender Ambiguität verbunden. Abbildung 23: Gesellschaftliches Normenarsenal und seine internen Bezugsebenen Individualnorm Potenzialitätsnorm Selbstverantwortungsnorm Qualitätsnorm x Leistungsnorm (Handlung) ƒ ƒ ƒ ƒ

x x

Optimierung Kontrolle als Überwachung Eliminierung und Rehabilitation Akzeptanz

Machbarkeitsnorm Norm der Biomedizin (Bewertung) ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Compliance Funktionalität Quantifizierbarer Faktorenbezug Rationalität Objektivität Ambiguitätsmangel

34 Hierzu sei bspw. auf Krankenkassen-Angebote, populärmedizinische Berichterstattung und die BZgA verwiesen. 35 Dies mag z.T. eine Konsequenz der rational-logischen Tradition philosophischer Reflexionen zu sein, z.T. aus der Problematik der Eugenik im „Dritten Reich“ zu resultieren.

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Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Gesellschaft und Gesundheitssektor36 realisiert und spiegelt sich in der Etablierung dieses Normenspektrums.37 Es dient als Prüfstein für persönliche Verhaltens- und Verständnisweisen und besitzt als solcher ein stigmatisierendes Potenzial (Beispiel Karl-Herbert). Zudem weist es deutlich den Weg zur Realisierung des gesundheitlichen Heilsversprechens, das gegen Leistung, Machbarkeitshoffnung und Selbstverantwortungsübernahme eingelöst wird. Damit erscheint diese Idealnorm als letzte „Bastion“ einer unbelastet fortschrittsgläubigen Moderne, die einer Selbstverwirklichungsideologie mit quasi-wirtschaftlichen gesundheitskapitalistischen Optimierungsgedanken folgt. Ausgehend vom Spektrum der gesundheitlichen Idealnormen kann postuliert werden, dass generell Menschen • • • •

mit aktuell oder potenziell schlechter oder wechselhafter Gesundheit, die Gesundheit zudem nicht rein individuell und/oder nach den Normen der Biomedizin verstehen oder nicht mit Blick auf biomedizinische Funktionalität auf leistungsbezogene Art behandeln und darin nicht ihre Hoffnung setzen sowie dadurch dem „freiwilligen Zwang“ zur Gesundheitsoptimierung und -bewahrung entgehen (möchten)

nicht nur als tendenziell „unnormal“ gelten, sondern ihnen auch vielfach die Chance auf ein gelingendes Leben abgesprochen bzw. dieses Ziel als erschwert dargestellt wird, was eine gesellschaftlich-kulturelle Wertung jenseits der medizinischen „Faktenlage“ beinhaltet. Die Normenliste deutet des Weiteren darauf hin, dass eine Gesellschaft die Gesundheit bekommt, die zu ihrer Konstitution passt sowie mit dem Konzept der Faktorengesundheit (vgl. Hurrelmann 2000) auch die theoretisch-praktische Annäherung, die Äquivalent und Umsetzung des gesellschaftlichen Gesundheitsdiskurses ist. Sie basiert wesentlich auf der normierenden Erzählung schulmedizinischer Gesundheitsexpert_innen und erfüllt die o.g. relevanten Gesundheitsnormen: Die Anforderungsbewältigung ist dem Individuum als gesundheitsrelevante Aufgabe aufgegeben, die es selbständig und aktiv zu bewältigen hat. Andernfalls droht eine Gesundheitsbeeinträchtigung. Hierin spiegeln sich die healthistischen Normen der Selbstverantwortung und der Leistung. Die Anbindung an die „gegebenen äußeren Lebensbedingungen“ erscheint als zu unbestimmt, um einer Sozialitätsnorm zu entsprechen, sodass die Individualnorm als erfüllt betrachtet wird. Der Verweis auf physische, psychische und soziale Entwicklungsbereiche lässt Kontextualisierungen anklingen, liest sich jedoch zusammen mit dem Hinweis auf das objektive Befinden einer Person eher wie

36 Hierunter werden Angebote der Medizin wie der Gesundheitswissenschaften verstanden, die sich zu einem Gesundheitssektor als dem für Gesundheit zuständigen gesellschaftlichen System verbinden. 37 Diese Zusammenstellung ist als erste Annäherung zu verstehen und sicherlich erweiterbar, zumal die jeweils als Norm angesprochenen Aussagen wenig differenziert sind und weiterer Untersuchungen bedürfen. Diese relative Unbestimmtheit reflektiert jedoch gesellschaftliche Gesundheitsnormen und ist insofern eher ein Abbild denn ein Zerrbild gesellschaftlicher Verhältnisse.

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ein Bezug zur Biomedizin-Norm mit seinem risikogeleiteten Faktorenbezug und seiner Funktionalitätsnorm. Die Erwähnung von Lebensbedingungen und Entwicklungen im Lebenslauf verweist wiederum auf die Potenzialitätsnorm, die Gesundheit und gelungenes Leben miteinander in Verbindung setzt. Der Ansatz zielt im Gesamten auf gute als die richtige Gesundheit ab und erfüllt damit schließlich auch die Qualitätsnorm. Obwohl das Subjekt und das von ihm erlebte Befinden von Hurrelmann als Bezugspunkt genannt wird und damit ein Verständnis im Sinne einer subjektiven, kontextualisierten Gesundheitskonstruktion möglich erscheint, wirkt dieses Subjekt jedoch durch die Betonung des verschieden dimensionierten, augenscheinlich bewussten Bewältigungshandelns so sehr von diesen Kontexten distanziert, dass das Bild eines autonomistisch-rationalen Akteurs konstruiert wird, der als selbstverantwortlicher Manager seines eigenen Schicksals einen guten Bürger der Risikogesellschaft abgibt.38 9.3.3

Die fallspezifischen Spannungsfelder der Individualnormen

Die Frauen der Familie Schall-Brause werden den gesellschaftlichen Normen in weiten Teilen gerecht, indem sie die Leistungsnorm mit ihrer internen Handlungshierarchie durch die präventive Funktionalität des Familiensystems unterstreichen, die einzelne für ihre selbstverantwortliche Erhaltung der Körper-Maschine verantwortlich machen und zumindest in einem gewissen Rahmen auch die Norm der Biomedizin für gültig erklären und ihr im Sinne der compliance folgen. Die (re-)aktiv pragmatische Art des Gesundheitshandlings unterstreicht darüber hinaus den biomedizinischen Bezug zu Funktionalität und Rationalität sowie eine (nach außen präsentierte) fehlende Ambiguität und die Wichtigkeit von Faktoren als Orientierungspunkte des Gesundheitsengagements. Auch die Qualitätsnorm wird innerfamiliär unterstrichen, wobei jedoch an dieser Stelle eine erste Fokusverschiebung zwischen familialen und gesellschaftlichen Normen deutlich wird, da die anvisierte gute Gesundheit sowohl eine persönliche als auch eine familiäre meint. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich dieser familial erweiterte Sinngehalt auch in Bezug auf andere Normen: Die angestrebte Funktionalität beschreibt immer auch eine im Rahmen der Familie, wie bei Johanna in der Krebsperiode. Die compliance mit den biomedizinischen Vorgaben und die Erfüllung der Leistungsnorm werden dadurch unterstrichen, dass die Ziele der Familie und des Medizinsystems kongruent sind. Insofern werden durch die Bewältigung des Krebs/BRCA-Themas in der Familie auch wesentliche andere Normdeutungen sichtbar, die Raum für ein „anders können“ gleichsam hinter der Idealnorm eröffnen: Die Individualnorm gilt nur in Bezug zum Kollektiv, d.h. die Familienmitglieder folgen der verbundenen Norm der Individualität in der (familialen) Sozialität. Ähnliches lässt sich mit Bezug zur Potenzialitätsnorm feststellen: Diese basiert in der Familie Schall-Brause zwar auch auf der Gleichsetzung von Gesundheit und (gelungenem) Leben, der Aspekt der Unabhängigkeit desselben wird jedoch bei den Schall-Brauses nur begrenzt realisiert, da das gelungene Leben zwar als geleistetes Ergebnis gesehen, jedoch mit dem Anspruch

38 Das Subjekt wird als Mann adressiert, um auf das Primat der Rationalisierung hinzuweisen.

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des familiale Erhalts verbunden wird. Das gelungene individuelle Leben ist immer auch eines im Rahmen der Familie und somit ein Zeichen gelungener Sozialität. Darüber hinaus ist die Norm der Objektivität nur ganz begrenzt wirksam, da biomedizinische Risiken bei Gesundheitsentscheidungen zwar berücksichtigt werden, diese jedoch nicht unwesentlich durch private Deutungs- und Handlungsmustern bestimmt werden. Hier orientieren sich die einzelnen Familienmitglieder an persönlich bevorzugten Lesarten der Krebsgeschichte, so dass an dieser Stelle eher eine Norm der Subjektivität (im Sinne einer subjektiven Sinnzuschreibung) wirksam zu sein scheint, die auf emotionalen Grundstimmungen aufbaut und Rückschlüsse darauf zulässt. Die Subjektivitätsnorm zeigt sich ebenfalls in persönlichen Akzentuierungen familialer Handlungsregeln, die jedoch mit der biomedizinischen Norm kompatibel bleiben müssen, um das familial organisierte Gut des Erhalts zu gewährleisten. Dies zeigt sich bspw. bei einer näheren Betrachtung der Kontrollnorm, die als zentrale Vokabel (vgl. Lemke 2004a; Crawford 2006) ausgewählt wurde, um im Folgenden stellvertretend Lesarten einer Norm zu untersuchen: Während die gesellschaftliche Norm auf den präventiv gedachten Erhalt von Gesundheit durch medizinische Überwachung abzielt, scheint diese Lesart nur für Lydia tatsächlich zu gelten, bei der diese mit ihrer Bilanzierungsstrategie harmoniert, die sowieso eine ständige Überwachung ihrer Lebensverhältnisse beinhaltet und nach einer Geschäftslogik abläuft. In diesem Rahmen hat sie die medizinische Überwachung an die Instanz des HBOC-Zentrums „outgesourct“, die für sie wie eine Überprüfungsinstanz funktioniert und dadurch die vorhandenen Gefühle der Gefährdung handhabbar macht. Zudem erweist sich sowohl ihre Ausdeutung der Subjektivität (Körperform) als förderlich als auch ihre Einbindung in die Sozialitätsnorm der Familie als handhabbar bzgl. einer garantierten Sicherheitszone. Vor dem Hintergrund ihrer Realisation eines zufriedenen, wohlsortierten Lebens mit stabiler Partnerschaft und beruflicher Selbständigkeit kann sie so gleichzeitig dem herkunftsfamilialen „nicht anders können“ folgen und diese Vorgabe für sich im wahlfamilialen Privaten erweitern. Anke hingegen betreibt Kontrolle durch aktives Vertrauen (vgl. Giddens 1996), d.h. indem sie zum einen die passende medizinische Einrichtung aussucht, der sie sich anvertrauen kann, und sich zum anderen durch Selbstuntersuchungen einen vertrauenswürdigen Körper schafft. Die Doppelstrategie kann als Zeichen ihrer Abgrenzungsstrategie gelesen werden und ermöglicht es zugleich, dass das Bedrohliche des Krebses Ankes genussbetonte Körperbeziehung nicht infiltriert. Beides basiert auf dem Altersgrenzen-Deutungsmuster und der daraus abgeleiteten Entwarnung. Da die überwachende Kontrolle des HBOC-Zentrums als vertrauensvolle, geborgene Situation umgedeutet werden kann und zudem bislang als Bestätigung von Ankes körperlichem Selbstbild funktioniert hat, gelingt Anke die Abgrenzung von der Krebsgefahr, so dass hier tatsächlich eine Risikoüberwachung und kein Umgang mit Bedrohung (wie bei den anderen) stattfindet. Diese Bewertung wird zudem durch Ankes Subjektivitätsausdeutung (Altersgrenze) wie auch ihre Sicht der Sozialitätsnorm gestützt. Das von ihr im Laufe einer gesundheits- und weiblichkeitsbezogenen Erfolgsgeschichte etablierte genussvolle Leben, in dem Beruf, Partnerschaft und stellvertretende Kinderbeziehung (Lisa) als befriedigend erlebt werden, bietet die Voraussetzung dazu, die familiale Handlungsalternativlosigkeit als Gewolltes zu vertreten, aber wie die Schwester auch über private Handlungsalternativen jenseits der Herkunftsfamilie zu verfügen.

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Lisa schließlich strebt nach Kontrolle durch Kampf(-gewinn) und konzipiert den Krebs als zu besiegenden Gegner, der ihrem (Über-)Lebensglück im Wege steht und dem sie bei der „Schlacht um ihren Körper“ zuvorkommen muss. Diesem Bild der (bislang) „siegreichen Einzelkämpferin“ ist eine Fremdüberwachung innerhalb des HBOC-Zentrums nicht sehr zuträglich, da diese einer Fremdbestimmung nahe kommt. Insofern dient ihre Selbststilisierung als Expertin dem Abstrahieren von der potenziell bedrohlichen Situation und damit der Einschränkung der emotionalen Erlebnistiefe, was auch die empfundene Gefährdung einschränkt. Dies erweist sich als notwendig, da die Bedrohlichkeit der Disposition aufgrund ihrer Sozialitäts- als auch Subjektivitätsausdeutung (deterministische DNA) gesteigert wird. Zugleich konnte sie bislang keine Variante des „bewussten Lebens“ realisieren, sondern ist vielmehr an dem Punkt, ihren Lebensentwurf erst einmal zu klären. Hierzu gibt es Ansätze, die auf durch Leistung (d.h. allgemein Anspannung) zu Erreichendes hinweisen (Beruf, Familie), aber auch solche, die eher Ruhe und Reife (d.h. allgemein Entspannung) als Zielorientierung erkennen lassen. Ein weiteres Spannungsfeld besteht zwischen den Polen Abhängigkeit und Unabhängigkeit bzgl. der Nähe zur Herkunftsfamilie. Durch die Krebs/Genkrise in Kombination mit der familialen Struktur werden die Pole Abhängigkeit und Anspannung betont, die Lisa in ihrer Rolle als Gesundheitsexpertin handelnd umsetzt. Damit bleibt Lisa der Anschluss an die kongruente familiale und gesellschaftlichen Gesundheitsnormen als „nicht anders können“, was aber als „so und nicht anders wollen“ gerahmt wird, um einer potenziellen Schwächung durch die ausgeblendeten Entwicklungsressourcen und damit einer Steigerung der gesundheitlichen Bedrohung vorzubeugen. Letztlich ergänzen sich im Fall der Schall-Brauses familiale und gesellschaftliche Normvorgaben, so dass letztere durch erstere unterstützt und gestärkt werden, so lange die Zielorientierung des Familienerhalts als „Lebensentwurf“ der Familie gewährleistet bleibt. Daraus resultiert ein starres familiales „nicht anders Können“, dass von den Familienmitgliedern gestützt, jedoch auch z.T. in Abhängigkeit von der existenziellen Lebensentfaltung persönlich erweitert werden kann. Auch im Fall Gaby Böttcher werden individualzentrierte Norm-Ausdeutungen sozial überformt: Die Individualnorm wie auch die der Selbstverantwortung werden bspw. vordergründig aufrecht erhalten – was auch durch die Ausprägung des Familiensystems unterstützt wird – erweisen sich jedoch vor dem Hintergrund des relationsdynamischen Gesundheitsmodells und des Lebensentwurfs als sozial integriertes Selbst in Beziehung als untrennbar mit sozialen Verhältnissen verbunden. Hier herrscht eine zunehmend bedrohlich konnotierte Betonung der Sozialitätsnorm – d.h. der Sicht von Gesundheit als ein durch ein Netzwerk unterschiedlicher Beziehungen sozial bestimmtes Merkmal – da Gaby sich in viel stärkerem Maße als sozial ausgeliefert erfährt und erfahren hat. Diese Beziehungen sind von Ambivalenz gekennzeichnet, die einen normativen Charakter besitzt: Sie gilt als Garant eines Möglichkeitsraum des Handelns und Deutens, der als förderlich verstanden wird, da er geistige Beweglichkeit fördert (und damit das Selbstbild der „Gegen-Mutter“ unterstützt). Daher beinhaltet die Vereindeutlichung des Deutungsraums durch den BRCA-Test eine Gefährdung durch Festlegung. Die biomedizinische Norm kann von Gaby weder ignoriert werden, noch wird sie von ihr durchgängig gestützt. Sie wird vielmehr einem subjektiven Deutungsmuster gegenüber gestellt, dass sich als wirkmächtiger herausstellt: Gaby folgt zwar zum

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einen zeitweilig den Normen des Faktorenbezug, der Funktionalität, der Rationalität sowie der Objektivität, wendet jedoch bisweilen auch ihr eigenes relationsdynamisches Gesundheitsmodell als Entscheidungsbasis an. An dieser Stelle tauscht sie folglich Objektivität gegen Subjektivität ein. Zum anderen macht sich das Primat der Subjektivitätsnorm auch dann bemerkbar, wenn Gabys Erfahrungshintergrund die Norm der biomedizinischen Deutung überformt, so dass Rationalität und Objektivität als im Prinzip nicht handlungsleitend zu betrachten sind – obschon diese Normen von ihr im Umfeld des HBOC-Zentrums eingefordert werden. Im Gegensatz dazu folgt Gaby der Qualitätsnorm, der Potenzialitätsnorm sowie der Leistungsnorm inklusive der der Kontrolle sowie der Optimierung. Diese Normen dürften jedoch– auf der Basis bewusster Ambivalenz sowie des Potenzialitätsgedankens – ihre Handlungslogik des Gegensteuerns sowie die allgemeine Notwendigkeit zu handeln verschärfen, da jede Abwehrbemühung das negative mütterliche Potenzial gleichzeitig bewusst macht, auf die mögliche Nutzlosigkeit der Anstrengung verweist und dadurch eher verunsichernd. Deutlich wird dies beim Aufeinandertreffen der überwachenden Kontrollnorm des HBOC-Zentrums mit Gabys Kontrollnorm, die auf Kontrolle durch gegensteuerndes Ausweichen, Ergänzen und eigene Autoritätszuweisungen ausgerichtet ist: Die Überwachung als Zeichen von unzweifelhafter Autorität legt Gaby gleichzeitig auf ihre Disposition fest und macht ein Ausweichen oder Umverteilen von Autorität unmöglich, so dass diese Form der Kontrolle für Gaby tatsächlich einen Kontrollverlust bedeutet und schnellstens ausgeglichen werden muss. Diese normative Konstellation perpetuiert damit Gabys AbwehrAktivismus, der zudem in der Aktivitätsbetonung ihres Lebensentwurfs verankert ist. Die resultierende tiefgehende Verunsicherung erschwert in Kombination mit der sowohl gesellschaftlich wie auch persönlich wenig betonten Akzeptanznorm letztlich eine wirkliche Veränderung von Gabys Lebenssituation. Zudem wird die Eliminierungsnorm zwar im Prinzip unterstützt, gerät jedoch mit der Sozialitätsnorm in Konflikt, die mit Blick auf das Thema der Weiblichkeit eine weitere Ebene der Funktionalität einführt: Es entsteht eine kompetitive Ausdeutung organischer Betroffenheit, die funktionierende Weiblichkeit und daraus abgeleitet Gesundheit als Resultat befriedigender partnerschaftlicher Beziehungen gegen physisches Überleben durch präventive Organeliminierung stellt. Dieser Konflikt ist auf der Basis gängiger gesellschaftlicher Normen nicht lösbar. In diesem Fall ergänzen sich gesellschaftliche und persönliche Normen auf eine nicht zuträgliche Weise zu einem „nicht anders können“. Sie verstärken das Gefühl der Bedrohung und perpetuieren die Krise, die daraus resultiert, dass Gaby an der geschilderten normativen Konstellation scheitern muss. Diese Spannung kann Gaby immer nur temporär und relational abhängig aushalten und ein „auch anders können“ etablieren, da der aktive, relational integrierte und lebensbejahende Lebensentwurf zum einen vor dem Hintergrund seiner Abhängigkeit von äußeren Einflüssen und dadurch begrenzten, ständig gefährdeten Realisierung keinen verlässlichen Gegenpol zum testinduzierten medikalisierten Lebensentwurfs bietet. Zum anderen existieren Schnittmengen zwischen den beiden Lebensentwürfen, die zur Verstärkung der Medikalisierung führen können, um den mütterlichen Lebensentwurf abzuwehren. Im Fall Ursula Paasch ist aufgrund der von ihr eingerichteten medikalisierten Lebenswelt auch eine große Übereinstimmung des Normensettings zu erwarten. Tatsächlich vertritt sie aufgrund ihres familialen Hintergrundes und ihres Lebensent-

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wurfs die Biomedizin-Norm genauso wie die Individual-, Selbstverantwortungs-, Potenzialitäts-, Qualitäts- und Leistungsnorm mit Schwerpunkt auf den Normen Eliminierung und Kontrolle. Gerade eine nähere Betrachtung der Kontrollnorm enthüllt hingegen ergänzende Dimensionen der Subjektivität sowie der Sozialität, die neben der offiziellen Individualität und Objektivität existieren: Kontrolle ist hier doppelt konnotiert, zum einen wird sie durch (soziale) Informationsrestriktion, zum anderen durch (emotionale) Kontrollabgabe gesichert. Kontrollabgabe bezeichnet an dieser Stelle die Übernahme der Einschränkung von Angst durch ein gänzlich unemotionales Deutungsmuster: In dem Ursula sich der Biomedizin anvertraut, übernimmt diese die emotionsabwehrende Aufgabe aufgrund ihrer objektiv-rationalen Konzeption. Diese doppelte Kontrollnorm beruht zum einen darauf, dass Ursula eine relationale Person ist und zum anderen starke Gefühle der Krebsangst hat, woraus sich sowohl die Aufgabe der Verbindung ohne Selbstaufgabe als auch die der Gefühlsbeherrschung ergeben, die wiederum beide auf ihre Handlungslogik des Abwägens zurück verweisen. Die medizinisch-gesellschaftliche Norm der Kontrolle durch Überwachung konterkariert ihr doppeltes Kontrollverständnis, da sie ihren Status offen legt und feststellt. Diese Offenheit enthüllt genau die emotionale Betroffenheit, die Ursula durch das alleinige Vertrauen auf die biomedizinische Deutung als für sich „irrelevant“ markieren möchte. Zudem wird dadurch ihre Vulnerabilität für alle erkennbar, was der sozialen Informationsrestriktion entgegenläuft. Die Festlegung verstärkt sodann den Eindruck des Unausweichlichen. An Berührungspunkten mit der medizinischen Überwachungskontrolle werden beide „Schwachstellen“ dann auch regelässig sichtbar: Früherkennungsuntersuchungen wecken Ängste und machen Ursula nervös. Darüber hinaus steigern sie auch den Bekanntheitsgrad ihres BRCA-Status u.a. im beruflichen Umfeld, da sie eine Begründung für die damit verbundene Fehlzeit liefern muss. Die Normen der Sozialität und Subjektivität bilden damit die Hintergrundfolie für Ursulas Denk- und Handlungsweise, vor der gesellschaftliche Normen ihre Bedeutung erlangen. In diesem Fall werden gesellschaftliche Gesundheitsnormen folglich auf eine Art durch persönliche Normen ergänzt, die den ersteren erst ihre tiefere Bedeutung zuweisen. Die gesellschaftlichen Normen werden also privatisiert und funktionalisiert, erweisen sich jedoch dadurch, dass sie im Vordergrund der Argumentation und Präsentation stehen als potenziell wirkmächtiger als die persönliche „Unternote“. Konfrontationen der unterschiedlichen Handlungslogiken sowie Festlegungen auf eine der beiden normativen Orientierungslinien sind tunlichst zu vermeiden, da dann die Frage der Deutungspriorität auftaucht, die als belastend erlebt wir und dadurch das Belastungspotenzial der Disposition steigert. Gleiches gilt für die damit verbundenen alternativen Lebensentwürfe, den relational-harmonischen sowie den BRCAbedingten, die ebenfalls ineinander greifen: Da der relationale noch nicht umgesetzt werden konnte, kann der BRCA-bedingte ebenfalls nicht realisiert werden und Ursula verbleibt in einem Entwicklungsvakuum. In diesem ist das BRCA-bedingte „nicht anders wollen“ mit einem relational bezogenen „nicht anders wollen“ verbunden, wodurch zwar eine Ausgleichssituation entsteht, die jedoch als Gewollte tendenziell auch anders gewollt und damit verändert werden kann. Diese Zusammenschau verweist darauf, dass persönliche Gesundheitserzählungen im Gegensatz zur gesellschaftlichen Narration mehrdimensionaler und ambiva-

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lenter erscheinen, da ein breiteres Spektrum von Wissenspotenzialen integriert werden muss. Es handelt sich hierbei um rein subjektive Erzählungen, in denen die persönliche sowie soziale (in diesem Fall vordringlich familiale) Geschichte zu einer jeweils eigenen Gesundheitswirklichkeit und Individualnorm verschmolzen wird, die folglich untrennbar mit der sozialen Dimension verbunden ist. Die persönliche Erzählung muss sich dort bewähren, da hier Real- und Idealnormen aufeinander treffen und vor dem Hintergrund des realisierten Lebensentwurf zu einem individualnormativen Spannungsfeld verknüpft werden, welches die gesundheitliche Selbstverortung und damit zusammenhängend auch das praktizierte coping bestimmt. Gesundheit ist damit immer subjektiv, da Gesundheitsinformationen durch dreidimensionale Kontextualisierungen und damit auf der Basis des persönlichen Bewertungsfilters in eine Gesundheitsauffassung transformiert, d.h. für diese Person bedeutungsvoll (gemacht) werden. Gleichzeitig ist Gesundheit aus dem gleichen Grund niemals individuell, da diese gesundheitsbezogene Bedeutung und Selbstkonstruktion immer auf dem beruht, was in sozialen Kontexten vermittelt und anerkannt wird. In der im idealnormativen, öffentlichen Raum erfolgreichen Präsentation der Gesundheitsidentifikation bestätigt sich diese, wobei Fluktuationen in der Definition der Idealnorm relational variierende Gesundheitsveröffentlichungen und erweiterte Individualnormen zulassen können. 9.3.4

Friktionen gesundheitlicher Individual- und Idealnormen

Die fallspezifischen Normsynopsen verweisen auf zwei mögliche Friktionen: Zum einen zeigen die Fälle ein im Vergleich zu den Idealnormen anderes individuelle Normenspektrum. Die Normen der Subjektivität (als Stellvertretungsnorm für subjektive Deutungspotenziale) und der Sozialität (im Sinne eines Verständnisses von Gesundheit als sozialem Kennzeichen und sozialer Herstellungsleistung) stehen im Gegensatz zur Individual-, oft auch zur Selbstverantwortungsnorm sowie zur Norm der Biomedizin. Zum anderen können verschiedene, potenziell konfligierende Ausdeutungen ein- und derselben Norm existieren. Beide Friktionsursachen können offen oder unterschwellig Quellen von Kränkungen darstellen, die gemäß der folgenden Definition von abuse in health care verstanden werden: „Abuse in health care is defined from patients’ subjective experiences of encounters with the health care system, characterized by events that lack care, where patients suffer and feel they lose their value as human beings. The events are most often unintentional and nurtured and legitimized by the structural and cultural contexts in which the encounter takes place. The outcomes of abuse in health care are negative for patients and presumably for staff and the health care system as well.“ (Brüggemann, Wijma & Swahnberg 2011: 8)

Das fallspezifische Kränkungspotenzial hängt dabei auch vom Verhältnis der Individual- und Idealnormen ab.

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Tabelle 5: Verhältnis fallspezifischer und gesellschaftlicher Normvorgaben

Familie

persönliche und gesellschaftliche Norm im Vergleich

Folge: Verhältnis der Normen

SchallBrause

Idealnormen stärken und unterstützen die Zielorientierung der Familie

Ziel-Kongruenz und gegenseitige Wirkungsergänzung

Böttcher

Individual- und Idealnormen stehen sich nur partiell vereinbar gegenüber

Konkurrenz bei größerer Autorität Festlegung der Biomedizin

Paasch

Idealnormen privat funktionalisiert bzw. durch eigene Ziele unterfüttert

Ergänzung

Kränkungspotenzial

Individualisierungsbetonung, da Widerspruch zum Primat der Familie

Konfrontationsproblem, da biomedizinische Idealnorm im Zweifel wirkungsvoller

Kränkungen bewirken i.d.R. Irritationen und können sich bspw. als Steigerung der Krebsbedrohung, unlösbare Konfliktlage, Infragestellung des Lebensentwurfs oder Kommunikationsproblem äußern und damit vorhandene Problemlagen aufgreifen und verstärken. Das Problematische und potenziell Kränkende der Situation steht dabei eben nicht „nur“ im Zusammenhang mit Krebsangst, falscher Information oder fehlendem Bildungshintergrund – wie gerade der Fall Paasch eindrucksvoll belegt – sondern verweist auf die Deutungshoheit der dargestellten Idealnormen, die nur einen ganz bestimmten Möglichkeitsraum der Bewältigung und des Verständnisses der BRCA-Herausforderung eröffnen. Wird diese auf für Berater_innen ungewohnte Art gedeutet, erfolgen oft Klagen über „Wirklichkeitsverdrehungen“. Dabei belegen gerade die Fallrekonstruktionen, dass sich in diesen „Verdrehungen“ die Eigenlogik des Falles offenbart, die sich in Individualnorm und Coping niederschlägt. Das verweist darauf, dass noch keine allumfassende Individualisierung und Medikalisierung stattgefunden hat – wiewohl biologistische Argumentationen für soziale Verhaltensweisen zunehmen39 – da gesellschaftlich akzeptierte Lebenspraxen rekonstruiert werden. Das in den Kontakten zwischen BRCA-positiven Frauen und dem medizinischen Personal verhandelte Thema ist die Unterscheidung von „richtig“ und „falsch“40, die sich auf Informationen, Entscheidungen, Handlungen, aber als Ein- oder Ausschluss

39 So streicheln wir Hunde wegen des Oxytocingewinns (vgl. Vardguiden 2011) oder haben Depression wegen Serotoninmangel (vgl. Artikel zu Enkes Selbstmord auf www.zeit.de). 40 Hierzu eine Anekdote: Angesprochen auf eine mögliche Berücksichtigung des häufigen Körperformen-Deutungsmuster im Rahmen der genetischen Beratung erwidert eine ca. 35jährige Beraterin, sie könne doch nicht sagen, dass die Leute recht hätten. Damit war das Thema beendet, da eine andere Herangehens- und Denkweise nicht vorstellbar war.

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auch bspw. auf testberechtigte oder zu informierende Personen bezieht. Diese Unterscheidung erweist sich insofern als nicht zweckgemäß, da dadurch ein Prozess abqualifiziert wird, der dann später im Alltag trotzdem stattfindet – nämlich der der (Re-)Konstruktion von Gesundheit anhand des eigenen, kontextualisierten Standpunktes. Allein dadurch wird der Aufbau einer Spannung unterstützt, die dann als Kränkung erlebbar ist, wenn sie im Gegensatz zur lebensweltlichen Individualnorm steht. Trotzdem besitzt die Biomedizin (bislang) unverändert das Deutungsprimat, obwohl u.a. mittels des Internets eine große Menge konzeptionell unterschiedlichen Gesundheitswissens zugänglich ist und die Erfahrung zudem zeigt, dass auch auf dem Gesundheitssektor nicht der „reinen Lehre“ des biostatistischen Gesundheitskonzepts gefolgt wird, sondern eine gewisse Flexibilität der Gesundheits- und Krankheitsverständnisse existiert. Hierin zeigt sich die Wirkmächtigkeit eines Systems, das einen eindeutigen gesellschaftlichen Auftrag besitzt, und die Grenze einer Disziplin, die ihrer eigenen Art der Wirklichkeitskonstruktion nur begrenzt untreu werden kann. Vor dem Hintergrund der mittels des Testes veröffentlichten genetischen Vulnerabilität und des somit zugewiesenen Status des chronischen Risikos wird das Kränkungspotenzial zudem vergrößert, da damit bereits eine Einteilung in die Gruppe der „Unnormalen“ einhergegangen ist. Deren Chance auf ein gelungenes Leben gilt als verringert, kann jedoch verbessert werden, wenn die medizinischen „Vorsorge“Angebote zwecks „Schadensbegrenzung“ angenommen werden. Das Angebot schafft sich somit ggf. seine eigene Nachfrage und vermarktet diese bisweilen auch, wie in Gabys Fall, recht offensiv.

9.4 I MPLIKATIONEN , Z UMUTUNG

UND

A USBLICK

Bevor praktische Implikationen aus einer Perspektive der Zumutung entwickelt werden, wird der Blick zunächst kurz auf Methodik und Methodologie gelenkt. 9.4.1

Methodische und methodologische Implikationen

Mit Blick auf die methodischen Implikationen bestätigt sich zunächst einmal die Annahme, mit der Genogrammanalyse nach Hildenbrand (2007) könne auch ein „Gesundheitsgenogramm“ untersucht werden. Da Gesundheitsentscheidungen ausgehend von dem Fehlen statistischer Sicherheit ebenfalls wahrnehmbar sind als Lebenspraxis im Sinne einer „widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungverpflichtung“ (ebd.: 17), bei der in eine offene Zukunft hinein begründungspflichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, lassen sich auch hier Kennzeichen familialer Lebenspraxis über die Generationen ableiten. Diese Methode könnte im Rahmen von Prävention, Diagnostik und Therapie Aufschluss über familiale gesundheitliche Handlungsthemen und -ressourcen liefern und damit einen neuen Zugang zur Gesundheitsklientel eröffnen. Auch der Ausgleich der Schwächen der Objektiven Hermeneutik mittels Anleihen bei Grounded Theory (vgl. auch Peter 2006) sowie systematischer Metaphernanalyse hat sich bewährt. Die vorliegende Arbeit zeigt darüber hinaus, dass eine fallrekonstruktive Studie neue Einsichten in den Prozess der Gesundheitskonstruktion hervorbringt, der für die

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Gruppe der sog. Risikopersonen gut und kohärent über die drei gewählten Kontextualisierungen nachvollzogen werden konnte. Im Gegensatz zu den im Forschungsfeld immer noch überwiegenden quantitative und qualitativ-inhaltlichen Analysen – hier hat sich seit Schmedders gleichlautender Beobachtung aus 2004 wenig getan – konnte somit die Vielschichtigkeit gesundheitlicher Konstruktionen im Umgang mit der Krebs-/Genkrise zunächst entzerrt und sodann wieder verschränkt werden, was ein wesentliches differenzierteres Bild von den Vorgängen rund um BRCA-Test, Ergebnis und medizinischer Maßnahmenkonsequenz bei den BRCA-positiven Frauen liefert, als dies mit standardisierten Fragebögen oder reinen Inhaltsanalysen erreicht werden könnte. Es wird daher für eine paradigmatische methodologische Erweiterung plädiert, in deren Rahmen das hermeneutische Fallverstehen als relevante und Forschung anregende Methodologie eine stärkere Berücksichtigung findet. 9.4.2

Die Zumutung einer verunsicherten Gesundheitsidentifikation

Blankenburg (1997) hat das Thema des Zumutens aus der Position des Psychiaters untersucht, der im Verlauf einer Psychotherapie bestimmen muss, zu wie vielen Freiheitsgraden der Selbstverantwortung er eine Person vor dem Hintergrund der Kenntnis ihrer „eigentlichen Wirklichkeit“ der Individualnorm – oder mit von Weizsäcker gesagt der „eigentliche[n] Krankengeschichte“ (2008: 174) – aktivieren kann. Diese Zumutung der Selbstverantwortung kann grundlegend auch für den Bereich gesundheitsbezogenen prädiktiven, hier genetischen Wissens als relevant angenommen werden, zumal diese gesellschaftlich unmissverständlich eingefordert wird. Sie wird in den vorgestellten Fällen besonders in sozialen Situationen zu einer virulenten Aufgabe, zum einen in den HBOC-Zentren, zum anderen in den Herkunfts- und WahlFamilien, da hier der handelnde Umgang mit der vermittelten, statistisch verbrämten (Un-)Sicherheit eingefordert und der eigene Gesundheitsstandpunkt somit in Frage gestellt wird. Verschärft wird diese Aufgabe durch zwei Bedingungen: Einerseits existiert v.a. in medizinischen Begegnungen eine Koexistenz aus mitgeteiltem Risiko und verstandener Gefahr und damit eine Betroffenheitsdifferenz, die „Rationalität“ betont, wo Ganzheitlichkeit angezeigt wäre. Andererseits besteht im Moment der prädiktiven BRCA-Diagnose (i.d.R.) ein unveränderter Körper, dessen Materialität sich bei BRCA (wie bei vielen anderen gesundheitlichen Risikofaktoren) nicht zwingend in eine kurativ relevante Richtung verändern muss, was die erlebte Zeitlichkeit in Richtung einer „großen Gegenwart“ verschiebt, die Vergangenheit und Zukunft inkludiert, und eine evtl. gesundheitliche Verunsicherung virtualisiert. Die Aufrechterhaltung einer Selbstverortung als „gesund“ erscheint damit ähnlich nahe liegend wie herausgefordert. Der Umgang mit der Unsicherheit angesichts einer genetischen Diagnose ist von Schmedders (2004) mit Blick auf die FAP ausführlich untersucht worden. Da die zugehörigen genetischen Variationen jedoch ohne prophylaktische Operation garantiert zur Erkrankung führen, dürfte die Verunsicherung des Gesundheitsstandpunktes nicht gar so virtuell und damit nicht völlig vergleichbar sein, zumal die Autorin im Gegensatz zur vorliegenden Studie die Umgangsweise mit der Diagnose fokussiert und nicht den Gesundheitsstandpunkt rekonstruiert. Nichtsdestotrotz finden sich einige der von Schmedders getätigten Beobachtungen auch in dieser Arbeit wieder.

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So spiegelt sich die Aufhäufung von Unsicherheitskurven in den dargestellten Krisenkonstellationen, die es angeraten erscheinen lassen, die verwendeten Krisenbegriffe zu differenzieren. Zunächst einmal steht die Genkrise i.d.R. in einem Verweisungszusammenhang zu früheren (Krebs-)Krisen und kann zugleich aufgrund des speziellen Charakters der Gene als „Wahrheitsmaschinen ohne Haltbarkeitsdatum“ nie endgültig „bewältigt“ werden. Es wird daher vorgeschlagen, Genkrisen als latente Reaktualisierungskrisen zu beschreiben und sie so als eine Art Schnittmenge nicht/normativer Krisen darzustellen, von denen sie jeweils Anteile besitzen: Einerseits stehen sie in der Tradition der Familienentwicklung, andererseits stellen sie keine Konstante des humanen Lebens dar. Dieser Mix verweist zugleich darauf, dass die Bereitstellung einer „neuen gesunden Zukunft“ im Rahmen der humangenetischen Angebotsstruktur (derzeit) ein Scheinvorgang ist. Der entzeitlichte Charakter der genetischen Herausforderung (vgl. Wehling & Viehöver 2011) verweist darüber hinaus auf eine gewisse Unzulänglichkeit bei der Erfassung der Ergänzung verschiedener krisenhafter Ereignisse zu einer Krise im Sinne des pile-up. Während dieses eher horizontal-temporal orientiert erscheint, bietet es sich an, zur Beschreibung der vertikaltemporalen Dimension den Begriff der kumulierten Krise zu verwenden, um so die gleichzeitige versus tradierte Überlagerung verschiedener Ereignisse als Aspekte einer Krise zu fokussieren. Da letztere in ihrer Auswirkung den gesamten Lebenszusammenhang und -entwurf beeinflusst, wird auf den von Rüger (2009) verwendeten Begriff der kontextuellen Krise als ausreichend umfassend verwiesen, um die resultierende Situation beschreiben zu können. Abschließend wird dafür plädiert, neben der persönlichen und der die gesamte Familie betreffenden Krise den Begriff der CoKrise als Beschreibung eines sekundären Mitgemeintseins durch die Krise einer anderen, nahestehenden Person zu verwenden. Andererseits verweist v.a. das fallspezifische Passing darauf, dass die Sicherheit der Gesundheitsidentifikation als die hier fokussierte Sicherheit angesichts einer virtuellen Gesundheitsgefahr, wie sie gesundheitsbezogene Risikoinformationen darstellen, eine kontextualisierte und dabei v.a. wesentlich interaktiv-sozial erzeugte ist. Das spiegelt sich in der Aufgabe der Familien-Compliance bzgl. der Gesundheitsregeln (Schall-Brause), des „Nicht-Mutter-Seins“ (Böttcher) sowie der nicht vulnerablen Selbstbestimmungspräsentation (Paasch) genauso wie in den zugehörigen Bedrohungen des Familienausschlusses (Schall-Brause), des Anschlusses an die falsche Familienseite (Böttcher) sowie des vereinnahmenden familialen Einschlusses (Paasch). Gemeinsam mit den anderen Sozialrepräsentanzen und deren Einbettung auf der Meso- und Makroebene tragen diese mikrosoziologischen Szenarien wesentlich zur Bestimmung eines den Umständen entsprechend sicheren Gesundheitsstandpunktes bei. Ausgehend von diesem ergeben sich Handlungs- und Deutungsräume relationalrelativer Autonomie im Umgang mit den im Gesundheitssektor mitgeteilten potentiell verunsichernden und fremdbestimmenden Informationen. Diese Konstellation hat sodann selbstredend Konsequenzen für die der Person jeweils zuzumutende Verantwortung, die sich wiederum auf die Sicherheit des Gesundheitsstandpunktes auswirkt usw.. Letztlich gehen zugemutete (medizinische) Interventionen bei Blankenburg (1997; 1985) immer von einer Einschätzung der Zumutbarkeit und damit der Fähigkeit dieser speziellen Person aus, das präsentierte Gesundheitswissen in die entsprechenden Kontexte zu integrieren, dem Wissen somit Relevanz zuzuweisen und

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damit umzugehen. Dazu ist jedoch eine Kenntnis der Kontextualisierungsfähigkeit, d.h. des Gesundheitsstandpunktes und der Individualnorm der Person erforderlich, was Auswirkung auf die vorzuschlagenden praktischen Implikationen hat. Dieses „Fremdzumuten“ ist dialogisch zu überformen, um gemeinsam einen Bereich der Verantwortungsübernahme und damit ein „Selbstzumuten“ zu erzielen. Damit sind medizinische Expert_innen aufgerufen, durch gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion institutionelle Hierarchien abzuflachen und den Gesundheitsstandpunkt der Beratenen anzuerkennen. Die Gesundheitsidentifikation damit zu stabilisieren ist angesichts der gesellschaftlichen Diagnose des healthism die dem Gesundheitssektor zuzumutende Aufgabe, um nicht unversehens von der Gesundheitsgesellschaft in die „Hypochondriegesellschaft“ zu wechseln. Personen sind zu befähigen, angesichts allgegenwärtiger Risiken nicht nur Gefährdung und „Risikofrust“ zu empfinden, sondern sich eine Offenheit und Neugier auf eine trotz allem kontingente Zukunft zu erhalten, die nicht ad infinitum abgesichert werden kann. Somit wird für das Sich-Einlassen auf die mittlerweile scheinbar in Vergessenheit geratene Risikofreude plädiert, um Personen zu ermutigen, in Kenntnis ihrer Individualnorm zu agieren. 9.4.3

Praktische Implikationen im Gesundheitssektor

Eingedenk der Selbstverpflichtung der GfH (2007) zur Einbeziehung der persönlichen und familiären Situation in der genetischen Beratung, wird ein zweistufiges Verfahren auf der Basis der Methoden des Fallverstehens nach Oevermann (1996), der Genogrammanalyse nach Hildenbrand (2007) sowie der systemische Familienanalyse (vgl. Olson 2000) vorgeschlagen. Es nimmt seinen Ausgang in der Idee der Erfahrungsorientierung (vgl. Wolff & Jung 1994) und basiert auf einem narrativhermeneutischen Ansatz (vgl. Svenaeus 1999). Vorteil des Vorgehens ist ein Zuschnitt des Beratungsverfahrens auf die Eigenlogik des speziellen Falles. Das dient der Erhöhung von Kontextsensitivität bei den Beratenden und Selbsterkenntnis bei den Beratenen und erlaubt in wesentlich umfassenderer Art eine Einschätzung der Zumutbarkeit als dies in der bisherigen nicht-fallrekonstruktiven Praxis der Fall ist. Im Vorfeld der Beratung empfiehlt sich die ausführliche Erhebung der Krankheitsgeschichte, der Situation der Familie sowie des Genogramms mittels eines narrativen Telefongesprächs sowie die Auswertung im genetischen Beratungsteam. Die Durchführung der Beratung selbst beruht darauf, maximale Transparenz herzustellen und in einen dialogischen, erfahrungsorientierten Austausch zu kommen. Das bedeutet keinesfalls Direktivität, sondern eine Unterstützung der Entscheidungsfindung unter dem Primat der subjektiv-sozialen Gesundheitskonstruktion der beratenen Person durch Perspektivenübernahme, aktives Zuhören, Empathie sowie ständiges Rückfragen von Seiten der Beratenden. Das Vorgehen erfordert es, eher zuzuhören als zu sprechen und würde den von Evans et al. (2004) vorgeschlagenen Kennzeichnen von Engagement, Präsenz und Dialog entsprechen. Ziel ist nicht, „richtiges“ von „falschem“ Wissen zu scheiden, sondern die beratene Person als kompetente_n Autor_in ihres Lebens dabei zu unterstützen, eine auf der Individualnorm basierende Entscheidung relational gestützt formulieren zu können, sich diese also selbst „zuzumuten“. Ziel ist mit anderen Worten die Installation einer akzeptierenden Humangenetik. Ausgehend von den Erfahrungen der BRCA-positiven Frauen wird empfohlen, unabhängig vom Krankheitszusammenhang keine als Zwang oder Kränkung wahr-

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nehmbaren nachdrücklichen Hinweise auf die Wahrnehmung spezieller Früherkennungs- und Präventionsmaßnahmen zu geben – und zwar unabhängig von Risikozahlen oder dem „medizinisch Gebotenen“ (vgl. Schmedders 2004; Dixon-Woods 2006). Die an der Stelle virulente Frage nach dem Primat der Autonomie gegenüber dem der Schadensvermeidung kann nur durch den Verweis auf den Anspruch von Mediziner_innen41, ganze Menschen zu behandeln, beantwortet werden. Dieser Anspruch fordert dazu auf, sein Gegenüber kennenzulernen, was gerade im Rahmen von strukturierten Früherkennungsangeboten leicht fallen sollte, da regelmäßig Gelegenheit dazu besteht. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine gewisse grundsätzliche Sympathie zwischen den Beteiligten, so dass sich das „Hausarzt-Modell“ als Beziehungsvorbild anzubieten scheint. Der im Zusammenhang mit der genetischen Beratung geschilderte Aushandlungsprozess kann aufgrund des Modellcharakters dieser medizinischen Angebotsstruktur grundsätzlich auch als Modell für personalisierte42 Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung gelten. Diese würden sich von einer Anpassung der Person an die als gesundheitsförderlich bzw. präventiv geltenden gesundheitsnormativen Maßnahmen zu einer Anpassung von Prävention und Gesundheitsförderung, ja sogar des Gesundheitsverständnisses an den Gesundheitsstandpunkt der betreffenden Person als sozial eingebetteter Alltagsexpertin wandeln. Durch diese Perspektive können Angebote einer akzeptierenden Gesundheitsförderung entstehen, welche den Standpunkt der betreffenden Personen verstehend nachvollziehen und bewusst machen, um mit ihr auf eine akzeptierende Art arbeiten zu können, statt unkritisch normativ zu wirken. Die normkritische Denkweise unterstreicht, dass die Gesundheitswissenschaften, wie alle Akteur_innen auf dem Gesundheitssektor, niemals nur „Kundendienst“, sondern immer auch Co-Produzent_innen gesundheitlicher Wirklichkeiten sind. Eine entsprechende Selbstreflexion erscheint angezeigt, die sich an der einleitend gestellten Frage „Welche Gesundheit wollen wir?“ (Beck-Gernsheim 1999: 47) im Sinne von „Was ist gute Gesundheit?“ orientiert. Wird dieses „gut“ im Sinne der Statistik oder einer persönlichen Evaluation verstanden? Bezieht sich die Anpassungsrichtung demnach auf eine Faktoren-Optimierung oder auf die Erlangung von Zufriedenheit, gar Aussöhnung mit dem momentanen Gesundheitsstandpunkt? Und reicht es zur Abwendung ungewollter Normativität, Gesundheitsförderung als „Herstellung

der Verantwortungsübernahmebereitschaft für die eigenen Gesundheit“ (Schnabel 2009: 193) zu rahmen und damit die gesellschaftlichen Gesundheitsidealnormen unangetastet bestehen zu lassen? Vor dem Hintergrund der Studienergebnisse wird auch dieser Disziplin eine akzeptierende Wendung sowie eine notwendige weitere Auseinandersetzung mit dem eigenen normativierenden Potenzial anempfohlen wird.

41 Für Professionelle empfehlen sich Ausbildungen zur Förderung einer akzeptierenden, normkritischen Grundhaltung sowie Supervision o.ä. (vgl. Clarke et al. 2007; Josephson 2010; Wijma & Swahnberg 2010) zur Stärkung der Selbstreflexivität. 42 Nicht-personalisierte Angebote können nur darauf zielen, Aussagen auf ihren normativierenden Gehalt hin zu untersuchen, den ggf. zu revidieren und die eigene Einstellung transparent zu machen.

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Der anvisierte Akzeptanzbegriff ist Teil einer dritten verhaltenstherapeutischen Entwicklungswelle (vgl. Kåver 2007; Hayes 2004). Akzeptanz meint hier keine „laissez-faire“-Haltung, sondern lässt sich als „active nonjudgemental embracing of experience in the here and now“ (Hayes 2004: 21) definieren. Akzeptanz geht damit von einer Kenntnis der Kontextualisierungsbedingungen, d.h. des in der Individualnorm ausgedrückten Bewertungsfilters inklusive der aktuellen sozialrelationalen Einbindung und damit des Gesundheitsstandpunktes aus – etwas, was als Mindfulness oder Achtsamkeit (vgl. Nilsonne 2007) bekannt ist. Akzeptanz kann, muss aber nicht als Beginn von Entwicklung durch Kenntnis des Selbst und der Verhältnisse fungieren. Der Vorschlag sieht sich damit in einer Linie mit der Sichtweise von Schmidt (2008; 2010b)43, die einen Wechsel von einem die einzelne Person in die Pflicht nehmendem und somit überfordernden gesellschaftlichen Gesundheitsgebot zu einem systemischen, alle beteiligten Parteien einbeziehenden Risikomanagement fordert. Aus diesem Gedanken heraus betrifft die Forderung von Akzeptanz als Ausgangspunkt nicht nur „Laien“, sondern auch Gesundheitsexpert_innen (s.o.). Es ist daher korrekterweise von Alltags- und medizinischen Expert_innen zu sprechen, die nur in der Begegnung zu tragfähigen gesundheitsbezogenen Deutungen und Handlungen kommen können, welche sie sich damit letztlich gegenseitig zumuten. 9.4.4

Zu guter Letzt: ein ausblickendes Kurzfazit

Die Forderung nach einer akzeptierenden medizinisch-gesundheitswissenschaftlichen Praxis unterstützt die von Bogner (2013) angesprochene deliberative Wende, die verlässliches medizinisches Wissen in Zeiten der Biomedikalisierung als Aushandlungsergebnis ausweist, auf das sich dank der Unbestimmtheit des Medizinisch-Faktischen in Zukunft vermehrt eingelassen werden muss. Eingedenk der hier vertretenen These, dass eine in der Tradition der Individualnorm stehende „gute Gesundheit“ als zum aktuell realisierten Lebensentwurf „passende Gesundheit“ zu lesen ist, wäre damit die Bühne für den hermeneutischen Nachvollzug des Einflusses unterschiedlichster normativierender Kontexte und deren intersektionelle Verschränkung (vgl. Winker & Degele 2009) bereitet. Eine gesundheitliche Identität bleibt in dieser Sichtweise letztlich selbsttechnologisch gegründet, basiert jedoch auf einem umfassend und damit auch sozial kontextualisierten persönlichen Maßstab sowie auf Ambiguitätstoleranz. In diesem Zusammenhang darf und kann sich jede, auch eine psycho-physiologisch „schlecht“ anmutende, Gesundheit als für diese Person an diesem Punkt im Leben passende und damit gute Gesundheit erweisen, wenn diese Person sie dafür hält. Somit wäre zu fordern, dieser Person als Selbst in Beziehung auf der Basis ihrer Individualnorm in Gesundheitsangelegenheiten zu begegnen und beizustehen, ohne ihren Gesundheitsstandpunkt zu umgehen und an der Person vorbei zu agieren. So entstünde eine adäquate relationale Wirklichkeitskonstruktion im Sinne des Kant’schen Sat-

43 Die Sichtweise von Schmidt wird jedoch um die Berücksichtigung der internen und externen Kontextualisierung vor dem Hintergrund des subjektiven Bewertungsfilters sowie der gesellschaftlichen Gesundheitsnorm als Deutungskontext von Gesundheit ergänzt und somit präzisiert.

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parallele längere Äußerung eines zweiten Sprechers während der Rede von A ohne Unterbrechung des Redeflusses von Sprecher A, wird in separater Zeile zitiert

>I: ja ja ja> in Rede von Sprecher A

kurze Bemerkung wird in Rede von A wiedergegeben

. >I:ja,ja,ja>

Äußerung des Sprechers I in eine Pause des ersten Sprechers hinein

/

Unterbrechung des Redeflusses durch einen zweiten Sprecher

(Wort(e)?)

undeutliche(s) Wort(e)

(? 3)

unverständliche Wörter mit ungefährer Zahlenangabe, ohne nur ein unverständliches Wort

[…]

Auslassung

[lacht]

nichtsprachliche Äußerung oder Erläuterung der Situation

:

gedehntes Wort

376

| DOING HEALTH

Wort!

betontes Wort

Mehrere Worte [laut]

betonte Worte (mit evtl. Spezifizierung der Betonung)

-

Ende eines gestotterten oder nicht voll ausgesprochenen Wortes

?

Stimme geht hoch

T HEMENLISTE ZU

DEN I NTERVIEWS

Test/Beratungserlebnis Erlebnis des Beratungsprozesses: Motivation, Beschreibung der Sitzungen, Testentscheidung, Art der Beratenden? Körperlich-emotionale Reaktionen während der Beratungen, auf das Testergebnis? Erleben des Körpers in dieser Zeit? Bedeutung/Umgang mit persönlichen genetischen Daten nach dem Test bis jetzt, auch im sozialen Umfeld? Wohlfühlen im Körper, Beziehung zur Brust? Früherkennungs-/Vorsorgeuntersuchungssituation? Wissenschaft/Genetik Einschätzung der Bedeutung von Genetik (Wissenschaft) Genetisches als etwas Persönliches? Körper (vor, während und nach dem Test) Körperliche Tätigkeiten/Hobbys Körperpflege Sexualität Schönheit Gefühl zum und im Körper/Körperspüren im Leben Brust Besondere Situationen und Umbruchsituationen körperlichen Erlebens Gesundheit Eigene und familiäre Gesundheits-/Krankheitsgeschichte (nicht nur Brustkrebs) Prägende Gesundheitserlebnisse/-aussagen Bedeutung von Gesundheit im sozialen Umfeld Vorsorgesituation und -erleben Spontanassoziationen zu Brust Genetische Beratung Gene Körper Gesundheit

ANHANG

D IE

JEWEILIGEN

P ERSONENENSEMBLE

DER DREI

| 377

F ÄLLE

Fall Schall-Brause Name Heinrich Lepperle

BRCA-Status, Operation Negativ

Agatha Lepperle (Ag)

Positiv, mehrfach an Krebs erkrankt und wohl auch operiert

Karin Löwenherz (K)

Positiv, an Krebs erkrankt und wohl auch operiert

Johanna Schumacher (J)

Positiv, an Krebs erkrankt und zwei Mal operiert (Mastektomie, Ovarektomie)

Wolfgang Lepperle

Negativ

Elfriede Pfeiffer (E)

Positiv, an Krebs erkrankt und wohl auch operiert

Verwandtschaftsverhältnisse Ehemann von Agatha Lepperle Vater Johanna Schumacher, Karin Löwenherz, Elfriede Pfeiffer, Wolfgang Lepperle, Dagmar Hunziker Großvater Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Urgroßvater Daniel Zünsler, Lisa und Mark Schall Ehefrau von Heinrich Lepperle Mutter Johanna Schumacher, Karin Löwenherz, Elfriede Pfeiffer, Wolfgang Lepperle, Dagmar Hunziker Großmutter von Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Urgroßmutter von Daniel Zünsler, Lisa und Mark Schall Tochter von Heinrich und Agatha Lepperle Schwester von Johanna Schumacher, Elfriede Pfeiffer, Wolfgang Lepperle, Dagmar Hunziker Tochter von Heinrich und Agatha Lepperle Schwester von Karin Löwenherz, Elfriede Pfeiffer, Wolfgang Lepperle, Dagmar Hunziker Mutter von Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Großmutter von Daniel Zünsler, Lisa und Mark Schall (Urgroßmutter) Sohn von Heinrich und Agatha Lepperle Bruder von Johanna Schumacher, Karin Löwenherz, Elfriede Pfeiffer, Dagmar Hunziker Tochter von Heinrich und Agatha Lepperle Schwester von Johanna Schumacher,

378

| DOING HEALTH

Dagmar Hunziker

Negativ

Rose Brunner (R)

Negativ

Lydia Schall (Ly)

Positiv, prophylaktische Entfernung der Ovarien und des Uterus

Jonas Schumacher (Jo)

Negativ

Anke Brause (A)

Positiv, prophylaktische Entfernung der Ovarien und des Uterus

Daniel Zünsler (D)

Positiv, nicht prophylaktisch operiert

Lisa Aziza Schall (Li)

Positiv, nicht prophylaktisch

Karin Löwenherz, Wolfgang Lepperle, Dagmar Hunziker Patentante von Anke Brause Tochter von Heinrich und Agatha Lepperle Schwester von Johanna Schumacher, Karin Löwenherz, Elfriede Pfeiffer, Wolfgang Lepperle Enkelin von Heinrich und Agatha Lepperle Tochter von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Ehefrau von Gunter Brunner Mutter Sabine und Sebastian (Großmutter) Enkelin von Heinrich und Agatha Lepperle Tochter von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Ehefrau von Bernd Schall Ex-Frau/-Freundin von Fritz, Peter und Oliver Mutter von Daniel Zünsler, Lisa Aziza und Mark Schall (Großmutter) Enkel von Heinrich und Agatha Lepperle Sohn von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Ehemann von Susanne Schumacher Vater von Tanja Schumacher Enkelin von Heinrich und Agatha Lepperle Tochter von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Ehefrau von Gerd Brause Patentante von Lisa Schall Urenkel von Heinrich und Agatha Lepperle Enkel von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Sohn von Fritz Recaro und Lydia (jetzige Schall) (Ehemann, Vater) Urenkelin von Heinrich und Agatha Lepperle

ANHANG

operiert

Mark Schall

Unklar

Markus Schumacher

Negativ

Angelika Schumacher

Negativ

Karl-Herbert Schumacher (K)

Negativ

Bruder von Karl-Herbert Schumacher

Negativ

| 379

Enkelin von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Tochter von Oliver ? und Lydia (jetzige Schall) Verlobte von Juan Urenkel von Heinrich und Agatha Lepperle Enkel von Johanna und Karl-Herbert Schumacher Sohn von Bernd und Lydia Schall Ehemann von Angelika Schumacher Vater von Karl-Herbert und dessen Bruder Großvater von Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Urgroßvater von Daniel, Lisa und Mark Ehefrau von Markus Schumacher Mutter von Karl-Herbert und dessen Bruder Großmutter von Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Urgroßmutter von Daniel, Lisa, Mark Sohn von Markus und Angelika Schumacher Bruder des früh verstorbenen, namentlich unbekannten Bruders Vater von Anke Brause, Lydia Schall, Jonas Schumacher, Rose Brunner Großvater von Daniel, Lisa und Mark (Urgroßvater) Sohn von Markus und Angelika Schumacher Bruder von Karl-Herbert

Fall Böttcher Name Urgroßmutter Becker von Gaby Böttcher Großmutter von Gaby Böttcher Mutter Böttcher (M)

BRCA-Status Positiv, an Krebs erkrankt, Weiteres unklar Positiv, an Krebs erkrankt, Weiteres unklar Positiv, an Krebs

Verwandtschaftsverhältnisse Urgroßmutter von Gaby und Lukas Böttcher Großmutter von Gaby und Lukas Böttcher Enkelin der (Ur-)Großmutter

380

| DOING HEALTH erkrankt, mindestens Mastektomie

Vater Böttcher (V)

Negativ

Frau Gaby Böttcher (G)

Positiv, keine prophylaktische Operation

Lukas Böttcher (L)

Unklar

Florian („Flori“) Böttcher

Unklar

Tochter der (Groß-)Mutter Mutter von Gaby und Lukas Böttcher Großmutter von Flori Böttcher Vater von Gaby und Lukas Böttcher Großvater von Flori Böttcher (Ur-)Enkelin der (Ur-)Großmutter Enkelin der Großmutter Tochter von Vater und Mutter Böttcher Schwester von Lukas Böttcher Mutter von Flori Böttcher (Ur-)Enkel der (Ur-)Großmutter Sohn von Vater und Mutter Böttcher Bruder von Gaby Böttcher Onkel von Flori Böttcher (Ur-/Ur-)Enkel der (Ur-/Ur-) Großmutter Sohn von Gaby Böttcher Neffe von Lukas Böttcher

Fall Paasch Name Martinas Großvater (im Genogramm: Urgroßvater)

BRCA-Status Unklar

Martinas Großmutter (im Genogramm: Urgroßmutter)

Unklar

(Groß-)Vater Fritz

Unklar

(Groß-)Mutter Hilde

Unklar

Verwandtschaftsverhältnisse Ehemann der Großmutter Großvater von Martina Karg-Paasch und Bringfriede Urgroßvater von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Ehefrau des (Ur-)Großvaters Grußmutter von Martina Karg-Paasch und Bringfriede Urgroßmutter von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Sohn von (Ur-/Groß-)Vater und (Ur-/Groß-)Mutter Ehemann von Hilde Vater von Bringfriede und Martina Karg-Paasch Großvater von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Ehefrau von Fritz Mutter von Bringfriede und Martina Karg-Paasch Großmutter von Stephanie

ANHANG

Bringfriede (B)

Negativ

Martina KargPaasch (M)

Positiv, sieben Krebsvorfälle, mehrfach operiert

Clara-Stephanie Leeuwen (S)

Positiv, prophylaktische Mastektomie

Mats-Jonas Paasch (J)

Negativ

Ursula-Magda Paasch (U)

Positiv, bisher keine prophylaktische Operation (geplante Mastektomie)

Max Paasch

Negativ

Grete Paasch

Negativ

| 381

Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Enkelin von (Ur-)Großvater und (Ur-)Großmutter Tochter von Fritz und Hilde Schwester von Martina Karg-Paasch Tante von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Enkelin von (Ur-)Großvater und (Ur-)Großmutter Tochter von Fritz und Hilde Schwester von Martina Karg-Paasch Mutter von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Ex-Ehefrau von Thomas-Helmut Paasch Ehefrau von Ernst-Ludwig Karg (EL) Urenkelin von Urgroßvater und Urgroßmutter Enkelin von Fritz und Hilde Tochter von Martina Karg-Paasch und Thomas-Helmut Paasch Schwester von Jonas und Ursula Ehefrau von Gerardus Leeuwen (G) Mutter von drei Kindern Urenkel von Urgroßvater und Urgroßmutter Enkel von Fritz und Hilde Sohn von Martina Karg-Paasch und Thomas-Helmut Paasch Bruder von Stephanie und Ursula Urenkelin von Urgroßvater und Urgroßmutter Enkelin von Fritz und Hilde Tochter von Martina Karg-Paasch und Thomas-Helmut Paasch Schwester von Jonas und Stephanie Freundin von Ole (O) Ehemann von Grete Paasch Vater von Andreas, Walter, Helmut und Manni Paasch Großvater von Stephanie, Jonas und Ursula Paasch Ehefrau von Max Paasch Mutter von Andreas, Walter, Helmut und Manni Paasch Großmutter von Stephanie, Jonas und Ursula Paasch

382

| DOING HEALTH

Andreas Paasch

Negativ

Walter Paasch

Negativ

Thomas-Helmut Paasch (H)

Negativ

Manni (Manfred?) Paasch

Negativ

Sohn von Max und Grete Paasch Bruder von Walter, Helmut und Manni Paasch Ehemann und Vater Sohn von Max und Grete Paasch Bruder von Andreas, Helmut und Manni Paasch Ehemann und Vater Sohn von Max und Grete Paasch Bruder von Andreas, Walter und Manni Paasch Ex-Ehemann von Martina Karg-Paasch Witwer von Nicola-Julie Paasch-Winter (NJ) Vater von Stephanie Leeuwen, Jonas und Ursula Paasch Sohn von Max und Grete Bruder von Andreas, Walter und Helmut Paasch Ehemann und Vater

Lebensphase

Die Angaben der Lebensphasen entspricht der Einteilung des statistischen Bundesamtes (2010).

Fallauswahl

ƒUrsula M. Paasch ƒStephanie C. Leeuwen ƒMartina Karg-Paasch

(Einzelinterview Juli 2007, MutterTochter-Interview [MTI] Januar 2009)

Familie Paasch

(Einzelinterview Februar 2007)

Phase der Entwicklung (bis 26 J.): Bildung und Entwicklung eines autonomen Lebensentwurfs

25 J.: BRCA+

Lebensmitte (ca. 27-59 J., inklusive Klimakterium zwischen 40-55 J.): Familie und Erwerbsleben

(2005), TN an Einzel- und Muter31 J.: BRCA+ (2005), keine 46 J.: 1. Krebs (1987/ 58 J.:

38 J.: BRCA+ (2005), Einzel-

Familien- und Einzel interview (23 J. 42 J.: BRCA+ (2004) 49 J.: BRCA+ 39 J.: 1. Krebs (1975/85/97)

Ältere Menschen (ab ca. 60 J.)

Tochter-Interview (27 bzw. 29 J. alt) Interviewteilnahme 93/98/03/04) BRCA+, Teilnahme MTI (62 J.)

Interview (40 J.)

67 J.: BRCA+, Teilnahme FI (70 J.)

zum Interviewzeitpunkt) Teilnahme FI & EI (45 J.) (2004), Teilnahme FI & EI (51 J.)

DES

Gaby Böttcher

21 J.: BRCA+ (2004), TN

D ARSTELLUNG

ƒ Lisa A. Schall ƒ Anke Brause ƒ Lydia Schall ƒ Johanna Schumacher

(2007: Familieninterview [EI] März, Einzelinterviews [FI] Mai)

Familie Schall-Brause

ANHANG

| 383

S AMPLE

unter Berücksichtigung von Lebensphasen mit Bezug zum Zeitpunkt der Diagnose (erste Altersangabe) sowie die Interviewteilnahme (zweite Altersangabe)

| DOING HEALTH

384

G ENOGRAMME

DER DREI

F ÄLLE

Symbole: Kreis: Frau – Viereck: Mann – Symbol durchgestrichen: Person tot Familiensystem Schumacher-Schall-Brause Genogramm basierend auf objektiven Daten

Schumacher

Schumacher

Markus

Angelika

geb. Schumacher Ber.1: Landwirt Tod: gefallen

geb. unbekannt

Schumacher Karl-Herbert

* 1932 Tod: als Kind verunglückt Ber.1: Landwirt Ber.2: Heizungsbauer

Brunner

Brunner

Recaro

Gunter

Rose

Fritz

* 1948

* 1953

Ber.1: Headhunter

geb. Schumacher Ber.1: Fußpflegerin Ber.2: Drogistin

Schall Lydia

* 1955 oo 73 // 76

Tod: Krebs B5: Alkoholiker

geb. Schumacher Ber.1: LVA-Angestellte Ber.2: Wäschereibesitzerin

Paudler? Peter

oo 80 // 83 Ber.1: "was mit Autos"

? Oliver

83 / 84?

Schall Bernd

* 1966 Ber.1: Softwareentwickler

Brunner Helwig

Zünsler

Zünsler?

Sebastian

Daniel

?

* 1984

* 1973

* 1983

* 1991

Ber.1: Bademeister Ber.2: Schüler

geb. Recaro Ber.1: Ingenieur B5: verheiratet B6: 1 Kind

geb. ? Ber.1: Bio-Studentin B5: verlobt

Ber.1: Schüler

Brunner

Michael

Sabine

Schall

oo 1991

Lisa Aziza

Schall Mark

* 1974 Ber.1: Ingenieur

Ber.1: BWL-Studium Ber.2: in Firma

?

Zünsler

? Malin

Malte

?

* 2007

* ca. 2005

† 2006 B5: verm. Junge Tod: Fruchttod (iu)

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ANHANG

Lepperle

| 385

Lepperle

Heinrich

Agatha

* ca. 1906 † 81

* ca. 1910 † 79

Ber.1: Werkmeister, Autokonzern X

geb. unbekannt Ber.1: Hausfrau Tod: Krebs

Löwenherz

Lepperle

Pfeiffer

Hunziker

Karin

Wolfgang

Elfriede

Dagmar

* 1935 † 1975

* 1937

* 1940 † 80

* 1945

geb. Lepperle Ber.1: Hausfrau Tod: Krebs B5: verheiratet B6: 4 Kinder

geb. Lepperle

Schumacher Johanna

* 1936

geb. Lepperle geb. Lepperle Ber.1: Sekretärin Tod: Krebs Ber.1: Haushaltshilfe B5: verheiratet Ber.2: Spielwarenverkäuferin B6: 0 Kinder

Brause Schumacher

Schumacher

Jonas

Susanne

Brause

Gerd

Anke

* 1943

* 1961

Ber.1: bei der Krankenkasse

geb. Schumacher Ber.1: EDV-Programmiererin

* 1960 Ber.1: Stahlbetonbauer Ber.2: Landschaftsgärtner

geb. unbekannt Ber.1: Sekretärin

oo 1980

Schumacher Tanja

* 1984 Ber.1: ang. Notariatsgehilfin

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386

| DOING HEALTH

19.01.2010 BP

Genogramm Paasch (Perspektive: Juli 2007)

Paasch

Paasch

Max

Grete

* ca. 1917 † ca. 1985 Ber.1: irgendwas beim Amt Tod: gest. Ende 40 J.

Paasch

Paasch

Paasch

Andreas

(Max?-)Walter

Manni (Manfred?)

* 1935

* 1937

* 1947

Ber.1: Elektroingenieur B5: verh, Kinder

Ber.1: Anwalt B5: verh, Kinder B6: Nierenzellkarzinom

Ber.1: Psychologe B5: verh, Kinder

Paasch-Winter

Paasch

Nicola-Julie

(Thomas-)Helmut

oo c. 1994 / 2008 KRP Witwer

† 2008

//

Ber.1: Dermatologin Tod: Lungenkrebs B5: halb Französin (halb ?)

* 1940

Ber.1: Gynäkologe

Leeuwen B5: geistig behindert

Leeuwen

(Clara-)Stephanie

* 1974 Gerardus

geb. Pfingsten Ber.1: Sonder-/Heilpädagogin Ber.2: Gesundheitspsychologin (EU) B5: wohnt in den NL B6: BRCA-positiv (pM)

Ber.1: Director Telecommunications Management B5: Niederländer

Leeuwen

Leeuwen

?

?

* ca. 1997

Leeuwen Henk

* 2003

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ANHANG

Urgroßvater

Urgroßmutter

Ber.1: "Hocharbeiter" aus Stahlindustrie Ber.2: Bürgermeister Stahlhöhe *Ort: Giselhöhe? Tod: mit 85 B5: aus 1. Ehe 2-3 Kinder

Ber.1: Haushaltshilfe Ber.2: Hausfrau? *Ort: V-Stadt Tod: mit 86 B5: 2. Ehe: 3 Kinder geboren

3 überlebenden Kinder aus 2 Ehen

Fritz

| 387

Hilde

* ca. 1919 † 1989 Ber.1: Volksschullehrer Ber.2: Realschullehrer (Bio, Werken) Tod: ca. 70 J, Schlaganfall B5: Non-Hodgkin-Lymphom B6: Stiefschwester: Unterleibskrebs

B5: manisch-depressiv

Bringfriede

* 1943

Ber.1: Studium VWL Ber.2: Regierungsrätin B5: Jobs: Indon., Boli4, BRD B6: mit 38 J. Diagnose: B7: manisch-depressiv B8: 1/2 J. verh. (Psychologe)

Karg-Paasch

Karg

Martina

(Ernst-)Ludwig

* 1946 oo 1969 // 1993

* 1947 oo 2002

Ber.1: Gynäkologin B5: 7 x Krebs (87; 93; 98; 03; 04) B6: BRCA1-positiv

Paasch

//

(Mats-)Jonas

* 1977

Ber.1: Physiker, promoviert B5: wohnt in U-Stadt B6: BRCA-negativ

Paasch Ursula(-Magda)

* 1979

Ber.1: Gynäkologin (iFAA) B5: BRCA-positv B6: Wohnt in Bartmark

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weitere Ex-Freunde

Ex-Freund

Flori

/

* 1996

/

Ex-Freund

??? - mehrere Schwestern, ansonsten unklar

paternale Gesundheitslinie Böttcher

Tod: Krebs

Großmutter

mindestens 1 Kind, Geschlecht unbekannt

B5: BRCA-Status unbekannt B6: Gesundheitskontrolle

Lukas

* 1974

Gaby

* 1967 B5: BRCA-positiv

/

?

Tod: Krebs

Urgroßmutter

maternale Krebslinie

??? - Geschwistersituation unklar

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??? - Geschwistersituation unklar

Tod: Krebs

Mutter

* 1939 † 2004

Vater

* 1924

(unvollständig)

Genogramm Böttcher

388

| DOING HEALTH

KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Dezember 2012, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

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KörperKulturen Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen April 2012, 256 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven 2010, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis August 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Karl-Heinrich Bette Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten

2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1725-2

2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise

Mischa Kläber Doping im Fitness-Studio Die Sucht nach dem perfekten Körper

März 2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2042-9

Franz Bockrath (Hg.) Anthropotechniken im Sport Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung? 2011, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1868-6

Julia Diekämper Reproduziertes Leben Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik 2011, 416 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1811-2

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit

2010, 336 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1611-8

Swen Körner, Peter Frei (Hg.) Die Möglichkeit des Sports Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen August 2012, 354 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1657-6

Susanne B. Schmitt Ein Wissenschaftsmuseum geht unter die Haut Sensorische Ethnographie des Deutschen Hygiene-Museums Juli 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2019-1

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1001-7

Heinz-Jürgen Voss Making Sex Revisited Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive (3., unveränderte Auflage 2011) 2010, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1329-2

2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de