Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform: Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne [3. Aufl.] 9783050061795, 9783050050522

In seinem 1991 erstmals erschienenen Werk weist der Philosophie- und Sozialhistoriker Panajotis Kondylis nach, dass die

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Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform: Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne [3. Aufl.]
 9783050061795, 9783050050522

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Panajotis Kondylis Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform

In seinem 1991 zum ersten Mal erschienenen Werk weist der Philosophie- und Sozialhistoriker Panajotis Kondylis nach, daß die sozialen und geistigen Wandlungen seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis heute eine strukturelle Einheit bilden. Die sich im Laufe von rund 150 Jahren vollziehenden gesellschaftlichen Prozesse resultieren in einem Paradigmenwechsel: Statt der bürgerlich-liberalen Denk- und Lebensform bestimmt die egalitär-massendemokratische Konsumhaltung mit ihren Wohlstandsversprechungen die Welt des 20. /21. Jahrhunderts. Die Uberwindung der Knappheit der Güter führt zu einer historisch einmaligen Situation, zum Massenkonsum, der das postmoderne System in Gang hält. Die zentrale These lautet: Der ökonomische Erfolg der bürgerlichen Wertvorstellungen von Freiheit und Gleichheit ist zugleich die Ursache ihres Niedergangs. Im verbreiteten Hedonismus gibt es keine ästhetischen und ethischen Vorbehalte, die Analyse der politischen Wirklichkeit wird durch universale Kommunikation ersetzt, die von der Hoffnung auf Weltfrieden angetrieben wird. Im Zeitalter der pluralistischen Massendemokratie öffnen sich die Perspektiven auf die globale Gesellschaft, in der jedoch nicht der Handel den Krieg ablöst, sondern in dem die Verteilungskämpfe zunehmen. Das Buch erhebt nicht nur einen historischen und geistesgeschichtlichen, sondern auch einen methodologischen Anspruch, indem es Zusammenhänge zwischen sozialer, kultureller und raumzeitlicher Wahrnehmung erhellen will.

Panajotis Kondylis

Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne 3. Auflage

Akademie Verlag

1. Auflage: VCH Acta humaniora, Weinheim 1991 2. Auflage: Akademie Verlag, Berlin 2007 3. Auflage: Akademie Verlag, Berlin 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-005052-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: breutypo. Christopher Breu, Berlin Satz: K+V Fotosatz, Beerfelden Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

I. Grundlegende Begriffe und Denkfiguren 1 II. Herausbildung und Struktur der bürgerlichen Denk- und Lebensform 21 1. Der weltanschauliche Rahmen 23 2. Lebensgestaltung und Kultur 37

III. Die Ablösung der bürgerlichen synthetischharmonisierenden Denkfigur durch eine analytisch-kombinatorische im Bereich der geistigen Produktion 49 1. Literatur und Kunst 51 a. Allgemeines 51 b. Die einzelnen Gebiete 72 2. Philosophie und Wissenschaften 134

IV. Die Entfaltung der Massendemokratie, der Verfall der bürgerlichen Lebensform und die Weiterentwicklung der analytischkombinatorischen Denkfigur 167 1. 2. 3. 4.

Umdeutung und Wandlung des Liberalismus 169 Strukturelle Merkmale der Massendemokratie 188 Massendemokratische Mentalität und Lebensform 208 Charakter und Wirkungen der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre 226 5. Kunst und Kultur in der Massendemokratie 238 6. Grundzüge wissenschaftlichen und philosophischen Denkens in der Massendemokratie 267

V. Ausblick 285 V

I. Grundlegende Begriffe und Denkfiguren

Die Begriffe der Moderne und der Postmoderne stehen seit zwei Jahrzehnten im Mittelpunkt einer internationalen Debatte, die an literaturhistorischen und ästhetischen Fragen ansetzte, um dann ins Philosophische überzugehen und grundsätzlichere Probleme aufzuwerfen. Philosophen verspüren in der Regel atmosphärische Änderungen und neue Fragestellungen mit einiger Verspätung, sobald sie aber in eine bereits laufende Debatte eingreifen, erheben sie den mit der Würde ihres Amtes verbundenen Anspruch, die Sache, um die es geht, in ihre Kategorien einzuordnen und unter Berufung auf den angeblich höheren Status derselben das letzte Wort zu behalten; immerhin bezeugt ihre Beteiligung an ursprünglich nicht philosophischen Debatten den symptomatischen Charakter dieser letzteren - auch dann oder gar vor allem dann, wenn ein Hauptmotiv für diese Beteiligung der allzu menschliche, doch im Zeitalter der Massenmedien fast unwiderstehliche Wunsch ist, im großen Geschäft des Geistes aktiv zu bleiben. Nun besagen Debatten aus der Sicht des außenstehenden Betrachters oft weniger etwas über die jeweils strittige Sache als über die Debattierenden selbst, und zwar nicht bloß über ihre Sympathien und Antipathien, sondern darüber hinaus über die dahinter steckenden weltanschaulichen und sozialpolitischen Strömungen. Was in der Debatte als bewußte Erkenntnis einer Wirklichkeit ausgegeben wird, entpuppt sich dann als un- oder halbbewußter Aspekt der betreffenden Wirklichkeit, dessen Bedeutung durch seine Ubersetzung in eine andere Sprache erschlossen werden kann. Diese Ubersetzung kann freilich ihrerseits nur dann gelingen, wenn die in Frage kommende Wirklichkeit innerhalb einer breiteren Perspektive gesehen und an Hand eines subtileren begrifflichen Instrumentariums interpretiert wird, so daß im daraus entstehenden Wirklichkeitsbild auch das einbezogen und verständlich gemacht werden kann, was sonst Wirklichkeitsinterpretation sein will. Man ginge also nicht fehl, wenn man unter Verwendung der marxistischen Terminologie behaupten wollte, die Debatte über Moderne und Postmoderne sei - unvermeidlicherweise - ideologisch gewesen. Damit ist nicht zuletzt gemeint, daß die dabei unternommenen Schilderungen der Sachlage durch Aussagen ge3

prägt wurden, die sich direkt oder indirekt auf die Art und Weise beziehen, wie sich ihre Urheber an der von ihnen geschilderten Sachlage beteiligen oder beteiligen möchten; allerdings erfolgt diese (ideelle) Beteiligung nicht durch die Nennung des eigenen Namens, sondern durch die Aufstellung von normativen Positionen, deren Vertretung der jeweils Betreffende übernommen hat. Die normativen Positionen, in denen sich die Auffassungen und Wünsche des jeweiligen Subjekts über den eigenen Stellenwert und die eigene Rolle, also letztlich seine eigenen Machtansprüche niederschlagen, durchtränken verständlicherweise Erfassung und Darstellung der Sachlage selbst. So stellte man Moderne und Postmoderne als Epochenbegriffe gegenüber, deren jeder mit spezifischen Werten und Unwerten verbunden wurde: was für die Verteidiger der Moderne universaler Anspruch der Vernunft auf die Leitung menschlicher Handlungen und Angelegenheiten war, bedeutete für die Verfechter der Postmoderne den offenen und latenten Totalitarismus; und was für diese letzteren willkommene Feststellung von der Relativität der Standpunkte als Grundlage von Toleranz und Humanität war, stand für die ersteren unter Nihilismusoder Anarchieverdacht. Der Streit darüber, ob die Moderne zu Ende sei oder nicht, mußte sich daher um die Frage der Lebendigkeit oder Uberlebensfähigkeit der ihr zugewiesenen Werte (oder Unwerte) drehen. Die epochale Auffassung der Werte bildete somit die Kehrseite der werthaften Auffassung der Epochen - und die Schematisierung oder gar Hochstilisierung des Epochalen in seiner Werthaftigkeit diente, wie es in der neuzeitlichen Geistesgeschichte schon seit der ersten Abgrenzung der „finsteren Zeiten" des Mittelalters gegen Antike einerseits und Renaissance andererseits normal ist, zur Untermauerung des Wunsches von normativ eingestellten Theoretikern, sich in Ubereinstimmung mit den bewegenden Kräften der Geschichte zu wissen und somit aus dem eigenen Machtanspruch ein objektives Gebot zu machen. Die Bezugnahme auf den geschichtlichen Ablauf geht allerdings dabei nur soweit, wie dies notwendig erscheint, um dem genannten Wunsch schlecht und recht Genüge zu tun; nie aber dringt die historische, soziologische und weltanschauliche oder ideologiekritische Analyse so in die Tiefe ein, daß dadurch die eigenen norma4

tiven Präferenzen relativiert oder gar erschüttert werden könnten. Die Anhänger der Moderne verfolgen nicht in aller Konsequenz die geschichtlichen Wurzeln und Voraussetzungen des Glaubens an die Vernunft und stellen sich daher auch nicht die Frage, welchen Wert ein solcher Glaube nach dem Ende des bürgerlichen Zeitalters haben könne; sie scheinen die Uberzeugung zu hegen, Vernunft im spezifischen neuzeitlich-universalistischen Sinne des Wortes könnte früher oder später den Status einer quasi anthropologischen Konstante erlangen und eine feste, eindeutig interpretierbare Instanz zu Schlichtung aller Konflikte abgeben, wodurch sie den Untergang jener sozialen Schichten überlebte, deren geschichtlichen Aufstieg und Sieg sie - als Losung - nachweislich begleitet hat. Die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn sich der Verteidiger des Vernunftbegriffes der Moderne als „Progressiver" im nachbürgerlichen Sinne gebärden will und nicht bereit ist, sich sozial mit dem Bürgertum und politisch mit der klassischen Lehre des Liberalismus zu identifizieren, sondern im Gegenteil versucht, den Liberalismus im massendemokratischen Sinne umzudeuten. Ein derart gebrechliches Unterfangen muß ständig Zweideutigkeiten nach sich ziehen, so z.B. wenn das, was man im bürgerlich-liberalen Zusammenhang Diskussion oder Diskurs nannte, in „Kommunikation" verwandelt wird - ein Wort, das innerhalb der massendemokratischen Kultur nicht notwendig im Sinne eines Aktes der „Vernunft" verstanden werden muß, sondern mit allerlei Exotismen und Mystizismen verbunden wird. Aber auch die Verkünder postmoderner Werte, die die Vernunft totalitärer Universalismen verdächtigen, wollen nicht recht einsehen, daß ihre angeblich spielerisch-humane Skepsis keine Grundlage zur Regelung menschlichen Zusammenlebens überhaupt und als solchem bilden kann, sondern eine ideologisch sublimierte Projektion von Einstellungen und Mentalitäten darstellt, die für die massenhaft konsumierende und permissive Massendemokratie kennzeichnend sind - vom apolitischen Hedonismus bis zur resignierten Gleichgültigkeit und zur intellektuellen Narrenfreiheit. Es ist zu vermuten, daß die meisten „Postmodernen", die ihre Positionen als sozial begehrenswertes und menschenwürdiges Ideal ausgeben wollen, weder diese Zusammenhänge bis zur letzten Konse5

quenz erkennen noch willens wären, sich mit jener Gesellschaft in toto zu identifizieren, deren ungehindertes, wenn auch in Vielem widersprüchliches Funktionieren solche Anschauungen überhaupt erzeugt, verbreitet - und benötigt. Die Frage ist nicht die, ob in abstracto „anything goes" und ob sich die Pluralität von Meinungen und Handlungsweisen wohltuend für „die" Gesellschaft und für „die" Menschen auswirkt, sondern die, unter welchen konkreten Umständen solcher Glaube gedeiht und welchem Denkstil er entspricht. Denn er gilt nur unter bestimmten Umständen - was übrigens die „Postmodernen" selbst insofern stillschweigend zugeben, als sie ihren Überlegungen die in den westlichen Gesellschaften gerade herrschenden Verhältnisse zugrundelegen, ohne sich über Krisenzeiten, geschichtliche Umbrüche und Ernstfälle Gedanken zu machen. Diese politische Einfalt teilen sie bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten mit den liberalen oder demokratischen Verfechtern der Moderne. Sie durchschauen zwar die potenzielle Aggressivität der Ansprüche der Vernunft; doch in ihrem Bestreben, mit der Universalität beanspruchenden Vernunft auch die Aggressivität auszurotten, können sie sich nicht zur Einsicht durchringen, Aggressivität sei in der menschlichen Geschichte der Vernunft vorangegangen, Vernunft bilde daher nicht die Quelle der Aggressivität, sondern nur eine ihrer möglichen Waffen. Der ideologische Charakter der Konstruktionen von der Moderne und der Postmoderne wird im Lichte der elementaren geistesgeschichtlichen Feststellung sichtbar, daß holistische und atomistische Betrachtung, „Identität" und „Differenz", Einheitsträume der Vernunft und relativierende Skepsis von Anfang an im Schöße des neuzeitlichen Rationalismus nebeneinander existiert und sich gegenseitig bedingt haben; gerade deswegen können beide Konstruktionen fast beliebig in die geistesgeschichtliche Vergangenheit hineinprojiziert werden, was auch getan wird, wenn dies aus Legitimationsgründen zweckmäßig erscheint. In dieser ihrer Fiktivität und Beliebigkeit dürfen daher die Parolen über Moderne und Postmoderne nicht in ihrem Nominalwert genommen werden. Sie sind eher die Symptome von bestimmten Entwicklungen denn ihre Diagnosen - und Ziel dieser Arbeit ist 6

es eben, die Entwicklungen aufzuzeigen, deren Symptome sie sind. Im Symptom einer Entwicklung steckt indessen in rudimentärer oder verzerrter Form ein Aspekt oder eventuell auch ein entscheidendes Merkmal der fraglichen Entwicklung selbst. Insofern empfiehlt es sich, von den Symptomen einer Entwicklung bzw. von den Reden über sie auszugehen, um dann ihre ideologische Schminke zu entfernen und zur realen Gestalt der Entwicklung, also zum objektiven Sinn der Reden vorzustoßen. Die Tatsache, daß die heute geläufigen epochalen Hochstilisierungen von Moderne und Postmoderne sozial- und geistesgeschichtlich nicht stimmen, bedeutet noch nicht, daß das damit verbundene Gefühl eines epochalen Umbruchs als solches täuscht. Die Frage ist nur, wo dieser Umbruch anzusetzen ist, worin er bestanden und was er herbeigeführt hat. Periodisierungen mit ideologisch-normativer Absicht sind nicht deswegen falsch, weil jede Periodisierung falsch sein muß, sondern deshalb, weil sie so konzipiert sind, daß sie die Machtansprüche ihrer Urheber im oben erklärten Sinne legitimieren können. Sachgemäße Periodisierungen müssen ihrerseits nicht normativ-inhaltliche, sondern formal-strukturelle Kriterien zugrundelegen; nicht Denkinhalte, sondern Denkfiguren sollen miteinander verglichen und in ihrer Aufeinanderfolge betrachtet werden. Von diesem Standpunkt aus kommt dem notgedrungen normativ geladenen Vernunftbegriff ζ. B. keine zentrale Bedeutung zu, während umgekehrt Formen des Ideellen in den Vordergrund rücken, die übergreifend sind, sich also an ganz unterschiedlichen Inhalten und Zweigen des geistigen Schaffens, aber auch des übrigen sozialen Lebens wiedererkennen lassen. Auf diese Weise orientiert sich die Forschung nicht mehr am Selbstverständnis der Intellektuellen, das bei der Aufstellung ihrer epochalen Konstruktionen Pate steht, sondern sie behält ein viel breiteres Spektrum vor Augen, in dem das Selbstverständnis der Intellektuellen als Gegenstand, nicht als Organ der Erkenntnis beinhaltet wird. Die Fruchtbarkeit dieses Verfahrens wird durch den Nachweis bestätigt, zwischen der zentralen Denkfigur, die in verschiedenen Variationen alle Bereiche des Ideellen erfaßt, und den in Wirtschaft und Gesellschaft bestimmenden Erscheinungen und Tendenzen gebe es eine genaue strukturelle Entsprechung. Erst 7

der Nachweis einer solchen Entsprechung ermöglicht eine stichhaltige Periodisierung; wird er nicht angestrebt und erbracht, so bleiben Periodisierungen leer, in dem Maße wenigstens, wie sie den Charakter von ganzen geschichtlichen Epochen und nicht bloß die Entwicklung in Teilbereichen erfassen sollen. Wir wollen hier die Auffassung vertreten und begründen, die Problematik von Moderne und Postmoderne - sowohl in ihrem sozialen und politischen als auch in ihrem kulturellen Aspekt lasse sich am besten vor dem Hintergrund des Niedergangs der bürgerlichen Denk- und Lebensform sowie des Ubergangs vom Liberalismus zur Massendemokratie beleuchten. Ein doppelter Fehler, nämlich die Verkennung der spezifisch bürgerlichen Wurzeln und Züge des Vernunftbegriffes und die mangelnde Einsicht in die Bedeutung des Niedergangs der bürgerlichen Lebensform und des klassischen Liberalismus für die Zukunft dieses selben Begriffes, führte die Verfechter der Moderne zur Paradoxie, bürgerlich-liberale Ideale und Verfahren, aber ohne Bürgertum und (klassischen) Liberalismus als Panazee für die Probleme der Massendemokratie zu empfehlen. Der umgekehrte doppelte Fehler, nämlich die Verkennung des konkreten massendemokratischen Ursprungs und Charakters des Pluralismus sowie die mangelnde Einsicht in die unlösbare Verflechtung von „guten" und „schlechten" Aspekten der konsumierenden und permissiven Massengesellschaft, verleitete wiederum die Verkünder der Postmoderne zum Widerspruch, ausgerechnet im Namen der relativierenden Skepsis ein höchst unhistorisches Loblied auf (offenbar „vernünftige") Werte wie Toleranz und Humanität anzustimmen. Nur eine konsequente, also von normativen Vorurteilen und Machtansprüchen freie Einordnung der Problematik von Moderne und Postmoderne in den großen sozialpolitischen und kulturellen Zusammenhang, der in der Ablösung der bürgerlichen Denkfigur durch eine neue und des (klassischen) Liberalismus durch die Masssendemokratie besteht, kann ähnliche Paradoxien und Widersprüche beseitigen. Auf diesem selben Weg böte sich zudem die Möglichkeit an, die literarisch-künstlerische und die historisch-soziologische Komponente des Problems, deren organische Zusammengehörigkeit in ihrem ganzen Umfang und Ablauf bisher kaum her8

ausgearbeitet wurde, auf einen gemeinsamen interpretatorischen Nenner zu bringen. Um dies zu erreichen, müssen wir zunächst einige Grundbegriffe klären. Bekanntlich wird der Terminus „Moderne" in doppeltem Sinne verwendet. Einerseits bezeichnet er eine bestimmte Phase oder Richtung der Literatur- und Kunstgeschichte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s anhob und in den ersten drei oder vier Jahrzehnten des 20. bei aller inneren Vielfalt festere Umrisse annahm; andererseits bedeutet er ebensoviel wie „Neuzeit" oder „Aufklärung", und zwar in ihrer Abgrenzung gegen das theologische Weltund Menschenbild sowie in ihrem Anspruch auf autonome Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens auf der Grundlage immanenter, aber nicht beliebiger Kriterien und Werte, die sich durch Vernunft ermitteln lassen. Eine entsprechend doppelte Bedeutung mußte dem Begriff der „Postmoderne" zuteil werden. Postmodern wurden zunächst literarisch-künstlerische Strömungen genannt, die zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg auftauchten und die Ambition hegten oder zumindest den Eindruck erweckten, Formen, Inhalte und Einstellungen der literarisch-künstlerischen Moderne hinter sich zu lassen; kurz darauf wurde als Postmoderne jene Epoche apostrophiert, die auf die Moderne im Sinne der Neuzeit bzw. der Aufklärung folge und in der Erkenntnis gründe, das Projekt der Moderne sei gescheitert und zur Vermeidung der Universalismen und Totalitarismen der Vernunft wäre am besten der - heute endlich gangbare, ja allein offene - Weg des freien Spiels der geistigen Kräfte und der vielen Macht- und Meinungszentren einer pluralistischen Gesellschaft einzuschlagen. Diese doppelten Begriffe von der Moderne und der Postmoderne entwickelten sich mit jeweils unterschiedlicher Präzision und Gewichtung in zwei Debatten, von denen die eine hauptsächlich von Literatur- und Kunsthistorikern, die andere und spätere aber hauptsächlich von Philosophen geführt wurde. Die beiden Debatten kreuzten sich nur zum Teil und blieben asymmetrisch. Denn die erstere, die sich vornehmlich um literarisch-künstlerische und kulturelle Erscheinungen drehte, hat sich wenig um das Projekt der Neuzeit bzw. der Aufklärung und um den Vernunftbegriff kümmern müssen, und zwar 9

aus dem einfachen Grunde, weil sowohl die literarisch-künstlerische Moderne als auch die literarisch-künstlerische Postmoderne (nehmen wir vorläufig an, daß es letztere als eigenständige Strömung tatsächlich gibt) eben den Untergang jenes Projekts vorausgesetzt oder gar selbst herbeigeführt haben. Vor dem Hintergrund dieser entscheidenden Gemeinsamkeit von Moderne und Postmoderne im literarisch-künstlerischen Sinne konnte vielfach ihre Zusammengehörigkeit oder Kontinuität behauptet und sogar die Eigenständigkeit der letzteren bestritten werden, gleichviel, wie diese These jeweils begründet wurde. Sobald aber die Rede über Moderne und Postmoderne ins Epochale und Philosophische überging, gewann der Gegensatz zwischen beiden Begriffen eindeutig und zwangsläufig die Oberhand. Die Asymmetrie zwischen den beiden genannten Debatten und Begriffspaaren hat einen weiteren aufschlußreichen Aspekt, nämlich den chronologischen. Die literarisch-künstlerische Moderne ist erst ein Jahrhundert alt, die Moderne als Epoche, die im Zeichen der Postulate und Desiderata der säkularen Vernunft stehen soll, reicht aber bis in die Anfänge der Neuzeit zurück; wenn man nicht bereit ist, so weit zurückzugehen, so muß man wenigstens ihre Anfänge mit den Anfängen der Aufklärung zusammendenken. Die Verfechter der Moderne in diesem letzteren Sinne meinen nun, diese würde bis zum heutigen Tag dauern und als (noch unvollendetes) Projekt ihre normative Gültigkeit noch immer bewahren. Paradoxerweise teilen auch diejenigen, die von der Postmoderne im epochalen und philosophischen Sinne reden, diese Auffassung von der Langlebigkeit der (aufklärerischen) Moderne, indem sie behaupten, erst die Entwicklungen der letzten zwei oder drei Jahrzehnte hätten deren Uberwindung ermöglicht, ja unumgänglich gemacht. Die Philosophen der Postmoderne stimmen in dieser Datierung der großen Zäsur mit dem literarisch-künstlerischen Postmodernismus überein, wobei die damit verbundene Auffassung von der Eigenständigkeit des Postmodernen zu einer direkten oder indirekten Verkennung der entscheidenden geistesgeschichtlichen Funktion der literarisch-künstlerischen Moderne führt. In dieser Perspektive erscheint diese letztere weniger als die Werkstätte einer neuen Denkfigur, die mit zu10

kunftsreichen sozialen Tendenzen zusammenhängen würde, und mehr als ein Aufstand gegen die traditionelle bürgerliche Kultur, der sich durch die Auflösung von deren Formen ausdrückt, ohne aber deren Inhalte und Werte von Grund aus umstürzen zu können, da er mit denselben als ihr negatives Pendant verbunden bleibe. Bei aller Verschiebung der Akzente, der Schwerpunkte und der Sympathien wird die literarisch-künstlerische Moderne aus der Sicht der Verfechter der aufklärerischen Moderne ähnlich beurteilt: es handle sich hier im schlimmsten Falle um reaktionäre Denkprodukte und bestenfalls um unterschiedlich motivierte Proteste - jedenfalls nicht um die Kristallisation einer neuen und eigenständigen Denkfigur, die zentrale Bewegungstendenzen der Gesellschaft artikuliert. Es läßt sich leicht einsehen, warum die literarisch-künstlerische Moderne in den vorliegenden Fällen so beurteilt wird: die heutigen Vorkämpfer einer eigenständigen Postmoderne müßten ihren epochalen Anspruch stark relativieren und in den eigenen Augen eher als Epigonen denn als Demiurgen vorkommen, wenn sie ihren Ansatz bis in seine entlegenen und z.T. verdeckten geistesgeschichtlichen Wurzeln hinein zurückverfolgt hätten; und die Verfechter der neuzeitlich-aufklärerischen Moderne wüßten sich schon auf verlorenem Posten, wenn sie festgestellt hätten, daß ihr Kampf gegen die Postmoderne nur das Nachhutgefecht einer Armee ist, die nunmehr nur aus ihrer Nachhut besteht, da ihr Gros bereits zur Zeit der Herausbildung der literarisch-künstlerischen Moderne - und nicht zuletzt durch sie - dezimiert wurde. Gegen beide Positionen muß demnach der geistesgeschichtliche Schlüsselcharakter der literarisch-künstlerischen Moderne als Schöpferin einer neuen, eigenständigen und zukunftsweisenden Denkfigur ans Licht gebracht werden. Dabei kann es nicht nur darum gehen, die Herkunft der literarisch-künstlerischen Postmoderne aus der literarisch-künstlerischen Moderne inhaltlich und stilistisch herauszuarbeiten. Einheitlichkeit und Kontinuität dieser beiden Richtungen wurden schon mehrmals behauptet, ja nachgewiesen, die Argumentation blieb aber dabei im Rahmen der Literatur- und Kunstgeschichte oder der Ästhetik stehen. Demgegenüber gilt es, den hermeneutischen Horizont durch die 11

historische, soziologische und weltanschauliche Analyse zu erweitern, um aufzuzeigen, daß die einheitliche Entwicklung, die die literarisch-künstlerische Moderne und die literarisch-künstlerische Postmoderne umfaßt, gleichzeitig mit einer tiefgreifenden sozialen Wandlung ansetzt und die großen Phasen dieser Wandlung bis auf den heutigen Tag begleitet. Die Feststellung von dieser Parallelität, die eigentlich eine organische Zusammengehörigkeit ist, wird weniger banal, wenn es sich herausstellt, daß zwischen der in Frage kommenden Denkfigur und dem in Frage kommenden sozialen Gebilde eine genaue strukturelle Entsprechung vorhanden ist bzw. daß Denkfigur und Funktionsweise der Gesellschaft in ihren verschiedenen Tätigkeiten und Bereichen auf dieselbe formale Struktur ohne Rücksicht auf die fast unübersichtliche Vielfalt der Inhalte reduziert werden können. Ihrerseits erstreckt sich die Denkfigur nicht nur auf literarisch-künstlerische Erscheinungen, sondern ebensosehr auf die Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaften sowie der Philosophie. Denn die Formen des Ideellen in ihrer Gesamtheit bilden zwar, wenn sie an sich betrachtet werden, das Pendant der materiellen Funktionsweise der Gesellschaft, gleichzeitig stellen sie aber einen Aspekt oder einen Teil dieser selben Funktionsweise dar. Welche soziale Wandlung und welche Phasen derselben kommen nun in Betracht, wenn es darum geht, die Herausbildung der literarisch-künstlerischen Moderne und ihre Weiterentwicklung in die literarisch-künstlerische Postmoderne vor einem umfassenden Hintergrund begreiflich zu machen? Eine schematisierende Antwort kann folgendermaßen lauten. Die literarisch-künstlerische Moderne nimmt zu dem Zeitpunkt Gestalt an, als sich die industrielle Massengesellschaft bildet und dabei anfängt, die Herrschaft und die sozialen Voraussetzungen des Liberalismus zurückzudrängen. Denn der Liberalismus in seinem konkreten historischen Sinne, d.h. im Sinne der sozialen und politischen Dominanz des Bürgertums, verlor in dem Maße an Substanz und Durchsetzungsvermögen, wie das Aufkommen einer Massengesellschaft, die sich politisch durch Massenorganisationen und -aktionen zu artikulieren suchte, das geschlossene politische Spiel der bürgerlichen Oligarchie immer mehr erschwerte. Objektive Fak12

toren sowie der Widerstand des Bürgertums verhinderten für einige, insgesamt gesehen kurze Zeit die Öffnung des Liberalismus in demokratischer Richtung; die Massengesellschaft war in dieser ersten Phase ihrer Entwicklung noch keine Massendemokratie, wobei der Mangel an Demokratie mit der Tatsache zusammenhing, daß der Vermassungs- und Atomisierungsvorgang noch immer unabgeschlossen war. Der daraus entstehende Widerspruch wurde beseitigt nicht nur durch die Auflockerung oder Auflösung der zum Wesen des klassischen Liberalismus gehörenden oligarchischen Züge und durch die Herabminderung der sozialen Rolle des - selbst im Wandel begriffenen - Bürgertums, sondern auch durch die immer steigende Beteiligung der breiten Massen am Konsumieren einer immer steigenden Massenproduktion; Massenproduktion und Massenkonsum machten von nun an die voneinander unzertrennlichen Seiten eines einzigen sozialen Gebildes aus, das sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den westlichen Industrieländern realisierte. Ein geistiges Produkt dieser zweiten großen Phase in der Geschichte der industriellen Massengesellschaft ist die literarisch-künstlerische Postmoderne sowie die Theorie von der Postmoderne als Epoche, die auf die neuzeitlichaufklärerische Moderne folgt. Soziologisch gesehen gehören also literarisch-künstlerische Moderne und literarisch-künstlerische Postmoderne in demselben Ausmaß und Sinne wie die beiden großen Phasen in der Geschichte der Massengesellschaft zusammen: die erster«, die sich unter den Verhältnissen der frühen Massengesellschaft entwickelte, ging in die letztere dann über, als sich die Massengesellschaft in eine massenhaft produzierende und konsumierende Massendemokratie verwandelte. Der allgemeine soziologische Unterschied konkretisierte sich in mehreren stilistischen, inhaltlichen und atmosphärischen Differenzen zwischen der modernen und der postmodernen künstlerisch-literarischen Richtung, von denen noch die Rede sein wird (Kap. IV, Abschn. 5). Viel wichtiger erscheint aber der Aspekt der Kontinuität, und zwar im Hinblick auf die begrifflichen und terminologischen Fragen, mit denen wir uns in diesem Abschnitt befassen. Die doppelte Feststellung von der Kontinuität zwischen literarisch-künstlerischer Moderne und literarisch-künstlerischer Post13

moderne sowie vom Zusammenhang dieser Kontinuität mit der Entwicklung der Massengesellschaft schließt zunächst aus, daß die epochale Zäsur an dem späten Zeitpunkt angesetzt werden darf, an dem sie von den Verfechtern der aufklärerischen Moderne und von jenen der philosophischen und sozialpolitisch verstandenen Postmoderne in negativer Ubereinstimmung angesetzt wird. Dies legt wiederum den Gedanken nahe, nach einer terminologischen Konvention zu suchen, die dem geläufig gewordenen Sprachgebrauch zwar Rechnung trägt, die in ihm implizierten Mißverständnisse aber durch manche gezielte Modifizierung ausräumt. Selbstverständlich müssen wir die Moderne im epochal-aufklärerischen Sinne von der literarisch-künstlerischen sowie die beiden entsprechenden Begriffe von der Postmoderne klar voneinander unterscheiden. Wenn wir aber die epochale Zäsur in den Vordergrund stellen und sie anders datieren wollen als es heute üblicherweise geschieht, dann entsteht die Paradoxie, daß die Postmoderne als Epoche, die auf die Epoche der aufklärerischen Moderne folgt, auch das umfaßt, was die Moderne im literarischkünstlerischen Sinne genannt wurde. Anders gewendet: die Postmoderne im epochalen Sinne setzt zeitlich parallel mit der literarisch-künstlerischen Moderne an und nicht erst mit der literarisch-künstlerischen Postmoderne, wie es heute des öfteren angenommen wird. Die Paradoxie beschränkt sich aber hier nur auf das Terminologische, wenn in der Sache jederzeit klar bleibt, daß die Rede von der Postmoderne das eine Mal das Philosophische oder Sozialhistorische im epochalen Sinne meint, das andere Mal die literarisch-künstlerische Ebene anspricht. Die terminologische Paradoxie muß jedenfalls in Kauf genommen werden, denn es gilt, durch den drastischen Begriff der Postmoderne die entscheidende Wendung vom Liberalismus - als Politik und Weltanschauung der bürgerlichen Moderne - zur Massengesellschaft und -demokratie herauszuheben. Zwar konnte die Theorie von der Postmoderne erst in einer reifen Phase der postbürgerlichen Zeit aufgestellt werden, die Analyse der literarisch-künstlerischen Moderne wird uns indes zeigen, daß die wesentlichen Denkmaterialen dazu ebenso wie die sozialpolitischen Voraussetzungen dafür längst vorhanden waren. Dies berechtigt uns, den Begriff der Postmoder14

ne quasi mit rückwirkender Kraft anzuwenden und ihm dabei seinen konkreten sozialhistorischen, also antibürgerlichen und antiliberalen oder massendemokratischen Sinn zu geben. Wir sagten bereits, daß der Ubergang von der liberal-aufklärerischen Moderne zur massendemokratischen Postmoderne eine Änderung der sozial vorherrschenden Denkfigur herbeigeführt hat. Die Art und Weise, wie sich jener Übergang vollzog, wurde bereits in ausreichendem Maße erforscht, und er muß uns hier nicht ausführlich beschäftigen, obwohl wir manchen Aspekt von ihm werden von neuem herausheben oder -arbeiten müssen (Kap. IV, Abschn 1 u. 2); auch theoretisch läßt er sich ohne besondere Schwierigkeiten bewältigen, wenn man nur nicht dem weitverbreiteten Irrtum verfällt, Liberalismus und Demokratie miteinander zu verwechseln, indem man die Begriffe nicht in ihrem konkreten historischen Sinn, sondern so verwendet, wie sie als Schlagworte in der aktuellen politischen Auseinandersetzung verwendet werden. Viel weniger erforscht und verstanden wurde die Frage, worin die bürgerliche Denkfigur bestanden hat - und noch weniger, welche Denkfigur die bürgerliche ablöste. Beim Versuch, diese letztere zu umreißen, wird die literarisch-künstlerische Moderne (und Postmoderne) sowie manche wissenschaftliche und philosophische Theorie unseres Jahrhunderts in einem neuen Licht und Zusammenhang als bisher erscheinen müssen. Es wird sich nämlich erweisen, daß all diesen Geistesprodukten ein gemeinsamer Denkstil und eine gemeinsame Wahrnehmung der Welt zugrundeliegen, woraus sich mit einer Regelmäßigkeit, die nicht zufällig sein kann, eine bestimmte Denkfigur ergibt. Im Folgenden werden wir diese Denkfigur die analytisch-kombinatorische nennen, um sie mit der synthetisch-harmonisierenden zu kontrastieren, die die bürgerliche Geisteshaltung kennzeichnete. Bürgerliches Denken war grundsätzlich bestrebt, das Weltbild aus einer Vielfalt von unterschiedlichen Dingen und Kräften zu konstruieren, die zwar isoliert betrachtet sich im Gegensatz zueinander befinden (können), doch in ihrer Gesamtheit ein harmonisches und gesetzmäßiges Ganzes bilden, innerhalb dessen Friktionen oder Konflikte im Sinne übergeordneter vernünftiger Zwecke aufgehoben werden. Der Teil existiert innerhalb des Ganzen, und er fin15

det seine Bestimmung, indem er zur harmonischen Vollkommenheit des Ganzen beiträgt, nicht aber durch Verleugnung, sondern durch Entfaltung der eigenen Individualität. Insofern werden die Dinge von ihrer Funktion her gedacht, ihre Substanz geht aber dabei nicht verloren, auch wenn sie nicht oder nicht ganz erkannt werden kann; und eben die Annahme von der Substanzialität der Dinge gestattet ihre objektive Bewertung und ihre gehörige Einordnung in diese oder jene Stufe des harmonischen Ganzen. Wesentlich anders verhält es sich bei der analytisch-kombinatorischen Denkfigur. Hier gibt es keine Substanzen und keine festen Dinge, nur letzte Bestandteile, die durch konsequente Analyse ermittelt werden, Punkte oder Atome, deren Wesen und Existenz eigentlich nur in ihrer Funktion besteht, d. h. in ihrer Fähigkeit, zusammen mit anderen Punkten oder Atomen immer neue Kombinationen einzugehen. Daher kann hier von Harmonie, die auf mehr oder weniger festen Beziehungen zwischen Teilen und Ganzem beruht, keine Rede sein; es kommen nur Kombinationen vor, die ständig durch neue und prinzipiell gleichwertige ersetzt werden. Alles kann und darf im Prinzip mit allem kombiniert werden, denn alles befindet sich auf derselben Ebene, und es gibt keinen ontologischen Hintergrund, der den Vorrang bestimmter Kombinationen vor anderen sicherstellen würde. Diese beiden grundlegenden Denkfiguren sind die verdichtete ideelle Gestalt bzw. Seite von bestimmten konstitutiven Merkmalen, deren materielles Korrelat in der Beschaffenheit und Funktionsweise (d. h. in der konkreten Anordnung oder Bewegung der Individuen und der Gruppen innerhalb) der entsprechenden sozialen Gebilde zu finden ist. So hängt die synthetisch-harmonisierende Denkfigur mit einem sozialen Gebilde zusammen, in dem zwar soziale Unterschiede substanziell sind und als substanziell empfunden werden, gleichzeitig verfestigen sie sich aber nicht (wie dies etwa in der Hierarchie der societas civilis der Fall war), sondern sie gestalten sich im Rahmen einer Konkurrenz, die ihrerseits nicht in dem Kampf aller gegen alle, sondern in ein dynamisches Gleichgewicht mündet oder münden soll. Die analytischkombinatorische Denkfigur geht wiederum mit einer Verfassung der Gesellschaft einher, in der soziale Unterschiede nicht mehr als 16

substanziell gelten, sondern die soziale Mobilität prinzipiell keine Grenzen kennt und ständig neue Besetzungen der sozial verfügbaren Rollen gestattet; der massenhafte Charakter dieser Gesellschaft ermöglicht angesichts der prinzipiellen Beteiligung aller Atome, die die Masse konstituieren, an den sozialen Vorgängen auf allen Ebenen eine unendliche Anzahl von Kombinationen, deren Vielfalt und zugleich Vergänglichkeit eben jeden Substanzgedanken verschwinden und an seiner Stelle bloß funktionale Gesichtspunkte gelten läßt. Nun schlagen sich in sozial maßgeblichen Denkfiguren nicht bloß jene Aspekte der sozialen Wirklichkeit nieder, die in der Wahrnehmung sozial lebender Individuen mehr oder weniger direkt auffallen, sondern auch das, was wir Wahrnehmung der Welt in ihrer Gesamtheit nennen können, d. h., kantisch gesprochen, die Formen der Anschauung und die Kategorien des Verstandes. Schon die adäquate Artikulierung der unmittelbar sozialen Dimension einer umfassenden Denkfigur bedarf der Herausbildung einer spezifischen Wahrnehmung der Welt - abgesehen davon, daß der Streit um die Art und Weise, wie die Welt wahrgenommen werden soll, einen wesentlichen Aspekt des tiefgehenden sozial-ideologischen Kampfes bilden muß. Aus dem Zusammenwirken dieser beiden Notwendigkeiten unter den konkreten Umständen der Wendung vom bürgerlichen Liberalismus zur Massendemokratie ergab es sich, daß auf den Vorrang der Größe „Zeit" innerhalb der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur der Vorrang der Größe „Raum" innerhalb der analytisch-kombinatorischen folgte, während gleichzeitig zentrale Kategorien wie die der Kausalität relativiert oder gar über Bord geworfen wurden. Wie es dazu kam und welche Formen die Änderung der Wahrnehmung der Welt im Rahmen der Ablösung der einen Denkfigur durch die andere annahm, werden wir noch im Einzelnen sehen. Vorauszuschicken ist nur die Bemerkung, daß wir bei der Erörterung dieser Frage die Ebene der philosophischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Wahrnehmung der Welt nicht mit der Ebene der alltäglichen Welterfahrung verwechseln dürfen. Auch diese letztere modifiziert sich zwar im Laufe der Geschichte, doch kommen hier nicht jene Brüche vor, die auf der ersteren, zumal seit der frühen Neuzeit, einige Male stattge17

funden haben. Mit anderen Worten: jede Revolution in der Wahrnehmung der Welt durch Philosophie, Kunst oder Wissenschaft muß nicht eine anthropologische Revolution nach sich ziehen, obwohl sie in der Regel bestimmte langfristige Auswirkungen auf die Wahrnehmungsweise von bestimmten sozialen Gruppen hat. Der Grund für diese Diskrepanz liegt darin, daß Revolutionen in der Wahrnehmung der Welt nicht aus dem gereiften Bedürfnis von breiten Massen entstehen, die (Gegenstände in der) Welt mit anderen Augen zu sehen, sondern vielmehr aus der Polemik einer eher kleinen sozialen Minderheit gegen das herrschende Weltbild. Die Änderung des Weltbildes stellt daher eher einen symbolischen Akt dar, der den Sieg jener Minderheit gegen die offiziellen Vertreter des alten Weltbildes bestätigt, denn eine Umwälzung der Banalitäten alltäglicher Erfahrung, vor deren Hintergrund sich das Leben der meisten Menschen oder der allergrößte Teil des Lebens aller Menschen abspielt. Eine weitere Bemerkung methodischen Charakters ist hier am Platz. In dieser Untersuchung, die sich des Gegensatzes zwischen synthetisch-harmonisierender und analytisch-kombinatorischer Denkfigur sowie zwischen zeit- und raumorientierter Wahrnehmung der Welt als Leitfaden bedient, werden wir uns vornehmlich an geistige Produkte und soziale Realitäten halten, in denen sich maßgebliche Strukturen und Tendenzen am anschaulichsten verdichten. Dieses Verfahren gründet nicht in einem wissenschaftlich verdächtigen Eklektizismus, bei dem sich die Prämissen zu den Ergebnissen tautologisch verhalten, sondern seine Notwendigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß vorwärtstreibende Faktoren in der Geistesgeschichte und in der Gesellschaft am Anfang - und auch für mehr oder weniger lange Zeit - keineswegs die breitere Seite des betreffenden Spektrums ausmachen. Vielmehr sind sie mit Lokomotiven zu vergleichen, denen es allmählich gelingt, eine Masse in Bewegung zu setzen, die an sich großenteils träge bleibt. Selbst nach Durchsetzung einer neuen Denkfigur oder Gesellschaftsstruktur ist es möglich, daß Erscheinungen, die im Alten wurzeln, sich weiterhin quantitativ in der Mehrheit befinden. Die entscheidende Frage ist aber jeweils, wem die Funktion der Lokomotive zukommt, was die Achse bildet, um die sich 18

die jeweils zentrale Auseinandersetzung dreht. Denn die bleibende Heterogenität des Spektrums, die teils auf die Beharrlichkeit des Alten, teils auf die rasche Differenzierung oder gar Spaltung des Neuen zurückgeht, zeitigt ständig Konflikte, die die Zugkraft der Lokomotive schwächen. Dies muß gegen strukturalistische, geistesgeschichtlich und soziologisch unhaltbare Vereinfachungen betont werden, die den Eindruck suggerieren, als ob eine Denkfigur oder eine Gesellschaftsformation eine andere quasi durch einen unvermittelten Zauberschlag voll und ganz ablöse. Nur die Vielfalt und die ständige polemische Auseinandersetzung innerhalb einer und derselben geistesgeschichtlichen oder sozialen Formation kann Differenzierungen und Brüche erklären, die den Ubergang zu anderen Formationen einleiten; auch die Kräfte, die die bestehende Formation oder Struktur sprengen, sind in der Regel in sich gespalten und widersprüchlich. So gab es selbst zur Zeit der Vorherrschaft der bürgerlichen Denkfigur mächtige Nebenund Gegenströmungen; und die Ablösung dieser Denkfigur wurde wiederum gleichzeitig durch mehrere Strömungen bewirkt, die sehr oft und heftig gegeneinander kämpften. Dies war allerdings weder Zufall noch Mißverständnis: denn die entstehende Massengesellschaft und -demokratie stellte ihrerseits ein zusammengesetztes und heterogenes oder gar widersprüchliches Gebilde dar, dessen einzelne Aspekte oder Tendenzen sich ideell auf jeweils eigene Art und Weise artikulieren mußten.

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II. Herausbildung und Struktur der bürgerlichen Denk- und Lebensform

1. Der weltanschauliche Rahmen Die Feststellung, die bürgerliche Denkfigur würde durch ein synthetisch-harmonisierendes Anliegen inspiriert und getragen, hilft dem Verständnis des Sachverhalts solange nicht weiter, wie unbestimmt bleibt, welche unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Elemente im Rahmen des zu konstruierenden harmonischen Ganzen miteinander verbunden werden sollten. Denn die Harmonie an sich und überhaupt gibt es schon deshalb nicht, weil sich kein Standpunkt ermitteln läßt, von dem aus alle reell oder ideell vorhandenen Elemente mit einem Schlag erfaßt und in eine einzige harmonische Konstruktion eingeordnet werden könnten; das Harmonisierungsbestreben muß daher immer von bestimmten Elementen ausgehen, und die Entscheidung, dabei anderen Elementen den Vorzug zu geben, ruft auch eine andere Harmonievorstellung ins Leben. Dies impliziert wiederum, daß nicht ein abstraktes im voraus bestehendes Harmoniebedürfnis die Wahl der Elemente bestimmt, die das harmonische Ganze konstituieren sollen, sondern es verhält sich umgekehrt: die schon feststehende Option für bestimmte Elemente setzt das Harmonisierungsbestreben dann in Gang, wenn diese letzteren logisch oder ontologisch mehr oder weniger heterogen erscheinen. Zugleich hängt das Harmonisierungsbedürfnis und -bestreben sowie die Entscheidung, die Harmonie als solche für einen obersten Wert zu halten, mit dem Wunsch zusammen, gegnerische Positionen als chaotisch hinzustellen und somit ihre Unfähigkeit hervorzuheben, feste Lebensorientierung zu bieten; denn Harmonie bedeutet nicht zuletzt Berechenbarkeit auf Grund der festen Stellung der Teile innerhalb des Ganzen. In der Tat kristallisierte sich der Harmoniegedanke als normative Achse bürgerlicher Weltanschauung in der Abgrenzung gegen das heraus, was auf sozialpolitischer Ebene die feudale Unordnung oder das feudale Chaos genannt und durch die theologische oder magische Naturauffassung in das Weltall hineinprojiziert wurde. Die einzelnen Elemente jener Harmonie, die die Unordnung in Natur und Gesellschaft beseitigen sollte, ergaben sich ebenfalls bei der Abgrenzung gegen mehrere Feinde an 23

mehreren Fronten, wobei der unterschiedliche Charakter der Feinde die innere Heterogenität des Spektrums der gegen sie bezogenen Positionen zeitigte, die nun ihrerseits nach Harmonisierung untereinander verlangten. Die bürgerliche Weltanschauung bildete sich m.a.W. unter widersprüchlichen Verhältnissen und unter der Wirkung von widersprüchlichen Faktoren heraus; außerdem setzte sie sich sozial nie in einem solchen Ausmaß durch, daß der Fortfall von polemischen Rücksichten ihre innere Differenzierung hätte aufhalten können. Sie konnte ja ein ideologisches Monopol wie etwa das, was die Theologie für lange Zeit genossen hatte, schon deswegen nicht für sich beanspruchen, weil sie von Anfang an unter dem Banner von individueller Meinungsfreiheit und Toleranz aufgetreten war. Das Bürgertum besaß soziale (vor allem wirtschaftliche) Macht viel früher als es zur ausschließlichen oder (sehr oft) geteilten politischen Herrschaft gelangen konnte. Der Widerspruch zwischen dem Besitz von (begrenzter) Macht und dem (weitgehenden) Fehlen von Herrschaft zwang zu ideologischen Kompromissen, die psychologisch gesehen den ambivalenten Zustand einer Klasse widerspiegelten, welche die traditionelle Weltanschauung der societas civilis herausfordern, gleichzeitig aber feststellen mußte, daß sich die Herrschaftsinstrumente in fremden Händen befanden, und daher (gern oder ungern) dazu neigte, ihre Herausforderung teils inhaltlich zu mäßigen, teils in die Sprache des Gegners zu übersetzen, also formal abzuschwächen. Aber auch nach dem gänzlichen oder teilweisen politischen Sieg des Bürgertums zeichnete sich die Hauptströmung bürgerlicher Ideologie durch die Suche nach dem juste milieu aus - diesmal nicht mit Rücksicht auf die Gewalt der Herrschenden, sondern im Hinblick auf die Gefahr von unten, zumal sich die Ideologen der sozialen Demokratie ursprünglich bürgerliche Parolen zu eigen machten, um ihnen einen neuen Inhalt zu geben. Dadurch wurde das Bürgertum in die Enge getrieben, und es sah sich gezwungen, sich von der radikalen Uminterpretation der eigenen Schlagworte zunehmend zu distanzieren; eben das, was früher taktisch zweckmäßiger Annäherungsversuch an die herrschende traditionelle Weltanschauung war, verwandelte sich nun in Abgrenzungsmittel gegen die Bedrohung 24

von unten. Diesem Umstand verdankt die bürgerliche Denkfigur ihre geistesgeschichtliche Kontinuität trotz z.T. wesentlicher Akzentverschiebungen, die mit den ebenfalls wesentlichen Änderungen in der sozialen Stellung des Bürgertums einhergehen mußten. Ein gutes Beispiel für diese Kontinuität der Positionen bei gleichzeitiger Umdrehung ihrer polemischen Spitze finden wir auf der umfangreichsten aller weltanschaulichen Ebenen, d. h. der ontologischen. Die soziale Demokratie des 19. Jh.s erklärte sich in der Nachfolge linkshegelianischer Ansätze und vor allem des aufklärerischen und zeitgenössischen Materialismus mehrheitlich für die monistische Seinsauffassung, da sie in der Abschaffung der herkömmlichen Hierarchie der Seinsebenen die notwendige Ergänzung oder gar Bedingung der Nivellierung aller Klassenunterschiede erblickte; die Herren auf Erden sollten gleichzeitig mit dem Herren im Himmel abdanken. In der hochpolitischen Debatte über das Schicksal Gottes und die ontologische Beschaffenheit der Welt stand die maßgebliche bürgerliche Meinung gegen den Atheismus und den Monismus - das hat sie aber nicht erst im Kampfe gegen die soziale Demokratie, sondern bereits viel früher getan, als die Hauptsorge eine ganz andere war. Die bürgerliche (Hauptströmung der) Aufklärung bekämpfte nämlich mit gleicher Entschiedenheit die monistisch-materialistischen Tendenzen, die mit logischer Notwendigkeit im Schöße des neuzeitlichen Rationalismus vornehmlich im 18. Jh. entstanden, denn sie hatte die Befürchtung, das Bekenntnis zu solchen Auffassungen würde dem theologischen Gegner willkommene Waffen in die Hand zu einer Zeit geben, in der die traditionelle Bindung der Normen und der Werte an den (transzendenten) Geist in den Augen fast aller Menschen eine Selbstverständlichkeit bildete. Der Atheismusverdacht mußte unter diesen Umständen auf den Nihilismusverdacht hinauslaufen, den sich keine Partei oder Gruppe leisten konnte, die ernste Ansprüche auf soziale Herrschaft erhob. Andererseits konnten solche Ansprüche überhaupt nicht erhoben werden, ohne die traditionelle theologische Position in der Frage der Beziehungen zwischen Transzendenz und Immanenz unter Beschüß zu nehmen, da die Art und Weise, wie diese Beziehungen definiert wurden, zur Begründung von ethischen Geboten diente. 25

Bürgerliches Denken übt sich an der Arbeit der Synthese und der Harmonisierung, indem es sich gegen den materialistischen potenziell wertnihilistischen Monismus und zugleich gegen den schroffen, die weltverneinende Ethik legitimierenden theologischen Dualismus wendet und dabei versucht, Diesseits und Jenseits, Welt und Gott einander näher zu bringen, also ihre Beziehung zueinander als eine harmonische aufzufassen, ohne ihre Eigenständigkeit grundsätzlich zu bestreiten. Deshalb schlug sich in der Regel die bürgerliche Absage an die scharfe Gegenüberstellung von Gott und Welt nicht in pantheistischen oder panentheistischen Konstruktionen nieder, sondern sie artikulierte sich im Bestreben, Gott einerseits an die wissenschaftlich ermittelte Naturgesetzmäßigkeit, andererseits an die Postulate der neuen antiasketisch-säkularen Moral zu binden. Dabei wurde nebensächlich, daß Gott als Urheber von Natur und Moral weiterhin anerkannt wurde; denn seine Werke wurden nunmehr im Sinne bürgerlicher Vorstellungen und Werte geschildert und ausgelegt. Die Harmonie in den Beziehungen zwischen Gott und Welt bestand nicht zuletzt in ihrer Automatik, d.h. in der Unfähigkeit oder immerhin in der fehlenden Bereitschaft Gottes, die Naturgesetzmäßigkeit durch willkürliche und unvorhersehbare Eingriffe durcheinanderzubringen. Diese Naturgesetzmäßigkeit stand ihrerseits unter der Ägide des Harmoniegedankens, ja sie bildete die erste große bürgerliche Explikation desselben. An der gesetzmäßigen Ordnung der Natur zeigte sich paradigmatisch, wie sich die Teile verhalten sollen, um dem Ganzen zu dienen, sowie die Art und Weise, wie das Ganze, ohne je unabhängig von seinen Teilen zu existieren, doch etwas mehr und etwas anderes als die bloße Summe dieser selben Teile darstellt, nämlich etwas, das die Teile durch seine nicht genau lokalisierbare, doch überall spürbare Wirkung durchwaltet. Das Schema „Ganzes-Teile" gewinnt fortab immer mehr an Bedeutung als allgemeingültiges Darstellungs· und Erklärungsmuster, wobei sein polemischer Aspekt nicht übersehen werden darf: denn es verdrängte die Auffassung der societas civilis über die hierarchische Ordnung der Bestandteile der Welt sowohl im Bereich der Natur als auch im Bereich der Gesellschaft. Wenn das harmonische Ganze in der Vorstellung der societas civi26

Iis einer Pyramide ähnelte, so sieht es nun eher wie eine Kugel aus; das bürgerliche Bedürfnis nach (sozialer) Differenzierung läßt freilich auch hier Abstufungen und Statusunterschiede gelten, diese erscheinen aber als veränderliche Ergebnisse von späteren Entwicklungen oder zweckrationalen Aktionen und nicht etwa als ontologisch und anthropologisch bedingte, von Anfang an feststehende Gegebenheiten. Anders gewendet: die durch Geburt bedingte Ungleichheit unter den Menschen verschwindet in demselben Ausmaß und Sinne wie die im traditionellen Weltbild angenommene Heterogenität der verschiedenen Schichten des Seins gleichzeitig bleiben aber die sozial bedingten Ungleichheiten unter den Menschen sowie die naturgesetzmäßig bedingten qualitativen Unterschiede zwischen den Dingen der Welt bestehen. Das grundlegende Schema „Ganzes-Teile" konnte also beide Aspekte des bürgerlichen Anliegens - prinzipielle Gleichheit und faktische Differenzierung der Teile innerhalb des Ganzen - befriedigen und daher sowohl dem Kampf gegen herkömmliche Hierarchien als auch der Begründung von Macht- und Statusansprüchen auf neuer Basis dienen. Der Harmoniegedanke, wie er sich in der Annahme von der strengen Naturgesetzmäßigkeit konkretisierte, war nur im weiten mathematisch-geometrischen Sinne ästhetisch motiviert und orientiert; als Schönheit wurden die Klarheit und die Einfachheit empfunden, zumal in ihrem Gegensatz zu den angeblich unnötigen, ja abstrusen Konstruktionen scholastisch-aristotelischer Naturdeutung. Maßgeblich war aber dabei etwas anderes, nämlich die Uberzeugung, Harmonie der Welt und Gesetzmäßigkeit des Weltgeschehens heiße ipso facto Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Natur, was wiederum ein Gefühl von Sicherheit und Selbstvertrauen gerade im schwierigen Augenblick gab, in dem man manche metaphysische Gewißheit über Bord werfen mußte. Die Verbindung zwischen Harmonievorstellung und Sicherheitsbedürfnis ist von Anfang an eine Konstante bürgerlichen Denkens gewesen und hat die verschiedensten Formen angenommen vom prometheischen Drang, der sich von der genannten Zuversicht in den Sieg über eine zwar nicht zahme, aber immerhin berechenbare Natur nährte, bis zum Geborgenheitsgefühl des Phili27

sters, für den Harmonie vor allem gefahr- und kampffreies Leben bedeutete. Der negative Sinn der Harmonie, insofern ihr Begriff mit dem der Naturgesetzmäßigkeit identifiziert wurde, war freilich die Ausschaltung von allem, was der theologische Gegner zur Rechtfertigung seiner theoretischen Positionen und seiner praktischen Gebote in das Weltgeschehen hineinzulesen pflegte. Die Verbindung der Harmonie qua Naturgesetzmäßigkeit mit dem Wunsch nach Naturbeherrschung verlieh dem Harmoniegedanken auch einen positiven Sinn, welcher aber zweischneidig war. Denn die Auffassung von der strengen Gesetzmäßigkeit bzw. vom mechanischen Charakter der Natur gewährte zwar die Verheißung oder auch die Gewißheit der Naturbeherrschung, andererseits warf sie aber die Frage nach dem letzten normativen Sinn der Welt auf. Aus der Beschaffenheit und der Funktionsweise der Weltmaschine ließen sich keine normativen Gebote ableiten, ja es verhielt sich umgekehrt: Normen und Werte mußten nun als letztlich sinnlos, als bloße Funktionen von mechanischen Regungen und Bewegungen erscheinen. Es war die Sinn- und Normfrage - konkreter gesagt: das polemische Bedürfnis, den theologischen Gegner auf diesem Gebiet zu schlagen und die eigene Herrschaftsfähigkeit durch das Angebot von besseren Werten unter Beweis zu stellen - , die das bürgerliche Denken dazu zwang, neben jenen Harmoniebegriff, der vornehmlich als (mechanische) Naturgesetzmäßigkeit konzipiert wurde, einen zweiten zu stellen, der hauptsächlich ethisch und ästhetisch geprägt war. Zunächst wurde also das Weltbild mechanisiert, um den Sieg über die theologische Weltdeutung abzusichern, und erst später die Naturschönheit entdeckt - diesmal nicht als die schlichte und abstrakte geometrische Schönheit, sondern als die greifbare Schönheit des Berges, der Wiese, des Flusses und des Meeres, deren Form an sich asymmetrisch ist, in ihrem Nebeneinander mit anderen solchen asymmetrischen Formen aber eine einzige Harmonie im Rahmen eines übergreifenden Ganzen konstituiert. Das grundlegende Schema „Ganzes-Teile" bleibt bestehen, nur wird es nicht als mechanische Zusammenfügung von an sich symmetrischen Teilen zu einem schon deshalb symmetrischen Ganzen, sondern als Aufgehen der an sich angenehmen Asymmetrie der Teile in der imposanten Symmetrie des Ganzen ausgelegt. 28

Die schöne, gute und bei all dem doch gesetzmäßig funktionierende Natur bildete gleichsam die sichtbare und handfeste Gewähr für die Wirklichkeit der Werte und der Normen. Das „gemäß der Natur leben" erlangte vor dem Hintergrund dieser Naturauffassung einen konkreten Inhalt und Sinn - eben den, den die bürgerlichen Wertvorstellungen in die Natur hineinlegten. Die alte Transzendenz in ihrer schroffen Gegenüberstellung zur materiellen Welt wurde zum Zwecke der Begründung von Normen in dem Maße überflüssig, wie das Diesseits aufhörte, ein Tränental zu sein, und die Natur die Aufgaben der normgebenden Instanz übernahm. Zu diesem Zweck mußte sie freilich mehr als stumme und träge Materie sein, aus reiner Maschine wurde sie also zur mütterlichen Gottheit, die zwar nominell und immer unter der Schirmherrschaft ihres Schöpfers stand - eines Schöpfers aber, der nur eine solche, von der Funktionsweise her autonome und normativ autarke Natur erschaffen durfte. Von dem Augenblick an, in dem der Natur als solcher eine maßgebliche normative Dimension beigelegt wurde, von dem Augenblick also an, in dem sich Natur und Vernunft, Materie und Geist vor dem Hintergrund der genannten doppelten Abgrenzung gegen den alten (spiritualistischen) Dualismus und den modernen (materialistischen) Monismus annäherten, konnte auch die Beziehung zwischen Natur und Kultur anders als früher aufgefaßt werden. Die Kultur mußte nicht mehr asketische und selbst dann ungewisse oder nur vorübergehende Uberwindung der Natur sein, sondern sie sollte die durch ihre normative Dimension wirksam gewordene Natur ausmachen. (Gesunde) Kultur wäre also die Aktivierung der immanenten Vernünftigkeit der Natur auf der Ebene menschlichen Zusammenlebens. Die Vernunft wird gleichsam aus der (idealen) Natur herausdestilliert; und obwohl sie willens und fähig sein soll, manchen an sich blinden oder unvernünftigen Aspekt der (menschlichen) Natur zu bändigen, tut sie dies nicht im Sinne der weltverneinenden Askese, sondern im Sinne der zweckmäßigen Kanalisierung des Unvernünftigen in die jeweils angemessenen Tätigkeitsbereiche. So bleibt die Vernunft, indem sie Kultur errichtet, weiterhin mit der Natur verschränkt, nur der Schwerpunkt hat sich hier insofern verschieben müssen, als sich in der 29

Kultur die normative Komponente der Natur verselbständigt und einen Bewußtheitsgrad erreicht, der in keinem anderen Bereich der anorganischen oder organischen Natur möglich ist. Die Harmonie von Natur und Kultur nimmt demnach die Form einer Einheit von Materie und Vernunft an, bei der die Natur jene Materialien liefert, die dann die Vernunft nach ihren Wertvorstellungen verfeinert - die Materialien sind aber auf Grund ihres Ursprungs edel genug, um sich gemäß den normativen Intentionen der Vernunft bearbeiten zu lassen, und die Vernunft entfernt sich ihrerseits nie von dem, was sie in der Natur vorfindet, d. h. sie versteht ihre Autonomie nicht als das Recht, die Natur zu tyrannisieren. Derselbe Wunsch, Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb im Rahmen eines übergreifenden harmonischen Ganzen miteinander in Einklang zu bringen, beflügelt die bürgerliche Anthropologie. Das Harmonisierungsbestreben, das auf ontologischer Ebene in der doppelten Abgrenzung gegen den Dualismus und den Monismus bzw. den Spiritualismus und den Materialismus gründete, entstand im Bereich der Anthropologie aus der doppelten Abneigung gegen das restlose Aufgehen des Menschen in der materiellen Natur und gegen eine solche Erhebung über die Natur, daß er nur im Himmel seine wahre Heimat finden könnte. Aus dieser Sicht diente die ständige Erinnerung an die Verwurzelung des Menschen in der Natur als Argument gegen die Schädlichkeit, ja Vergeblichkeit asketischer Moral, während das gleichzeitige Festhalten an der angeborenen menschlichen Vernünftigkeit den Nihilismusverdacht ausräumen sollte. Die Auffassung, der Mensch herrsche kraft seiner Vernünftigkeit über die eigene Natur, hing freilich auch eng mit der Überzeugung von der Beherrschbarkeit der äußeren Natur und dadurch mit der modernen Naturwissenschaft und dem Glauben an die Naturgesetzmäßigkeit zusammen. Sie mußte aber einen anderen Sinn erlangen, wenn mit Natur eben die menschliche Natur gemeint war und wenn der polemisch notwendige, also gegen die traditionelle Theologie gerichtete Hinweis auf die Naturhaftigkeit des Menschen dahin interpretiert zu werden drohte, der Mensch sei der eisernen Naturgesetzmäßigkeit ebensosehr wie alle anderen Natur30

wesen unterworfen und daher sei die Rede von freiem Willen und Moral letztlich leer. Es mußte m.a.W. gezeigt oder immerhin behauptet werden, daß der Mensch Natur und gleichzeitig Herr über die (eigene) Natur ist oder sein kann. Triebe, Leidenschaften, egoistische Motive mußten in ihrer ganzen Kraft und Wirkung, also in ihrer anthropologischen Notwendigkeit voll anerkannt werden, die normative Komponente bürgerlicher Naturauffassung machte sich aber auch hier in der Uberzeugung geltend, die genannten Triebe und Motive ließen sich durch Vernunft schon deshalb zweckmäßig kanalisieren und leiten, weil sie von sich aus ein Selbstregulierungsprinzip enthielten. Die an sich egoistische oder zügellose menschliche Naturmaterie konnte einen höchst plastischen Rohstoff in den Händen einer Vernunft abgeben, die sich nicht als Feind oder Widersacher der Triebe, sondern nur als ihr wohlwollender Berater oder Erzieher verstand. Unter ihrer Leitung konnte sich die instinktive Selbstsucht, deren anthropologische Tragweite unter den Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz und im Lichte der diese Konkurrenz legimitierenden Ideologien bewußt werden mußte, in die aufgeklärte Selbstliebe verwandeln, welche erkennen sollte, daß der Respekt vor fremden Rechten und Freiheiten im eigenen Interesse liege. Auf diese Weise mündet die anthropologische und ethische Problematik in die soeben erörterte Frage ein nach den Beziehungen zwischen Natur und Kultur vor dem Hintergrund des normativen Naturbegriffs. Hier müssen wir eine zusätzliche Bemerkung über den Vernunftbegriff im bürgerlichen weltanschaulichen Zusammenhang einflechten. Vernunft als Begriff und Schlagwort wandte sich grundsätzlich und von Anfang an gegen das, was man „Glauben" und „Autorität", also heteronome Bestimmung menschlichen Denkens und Handelns nannte. In dieser Perspektive wurde der Schwerpunkt nicht so sehr auf die kognitiven Fähigkeiten der Vernunft gelegt, sondern auf ihre Eignung, die normativen Prinzipien und Forderungen bürgerlich-neuzeitlicher Weltanschauung souverän zu vertreten. Vernunft mußte also nicht mit dem reinen Intellekt zusammenfallen, auf jeden Fall aber Partei im ideologischen und sozialen Kampf ergreifen. Als Verfechterin von Normen, die wesensgemäß universal waren, erhob sie universelle An31

Sprüche, und in dieser ihrer Universalität besaß sie die Kraft der Naturgesetzmäßigkeit: sie hielt im ideellen Ganren die verschiedenen Elemente in derselben Art und Weise zusammen, wie das Naturgesetz es in bezug auf die materiellen Bestandteile der Welt tat. Insofern bildete Vernunft das organisatorische Prinzip der Harmonie, sie bestimmte nämlich, welchen Platz jeder Teil innerhalb des Ganzen einnehmen sollte. In dem Maße, wie diese ihre Kompetenz sich in Geboten und Verboten äußern mußte, mußte sich auch Vernunft vom Sinnlichen differenzieren, sich also dem Charakter des reinen Intellekts annähern. Soziologisch gesprochen stellte sie dann jene Instanz dar, die den Verzicht auf unmittelbare oder unkontrollierte Befriedigung in einer Zeit befahl, in der gespart und akkumuliert werden mußte, in der also der Hedonismus bei allen Absagen an das asketische Ideal alten Schlages noch keine massive soziale Einstellung mit direkten wirtschaftlichen Auswirkungen war. Die Gründe für die diesseitige Orientierung bürgerlicher Weltanschauung müssen hier nicht eigens erklärt werden. Der banale Hinweis auf den weltgeschichtlich neuen und zudem charakteristischen Stellenwert des systematischen Wirtschaftens im Leben des Bürgertums dürfte ausreichen, wenn man nur alle seine Implikationen oder Begleiterscheinungen im Auge behält - vom Begriff des Gesetzes bis zur Anthropologie des homo oeconomicus. Die epistemologischen Folgen dieser diesseitigen Orientierung bestanden jedenfalls in der gleich starken Entfaltung der Wissenschaften von der Natur und dem Menschen, obwohl die erste und entscheidende Schlacht gegen die theologische Weltanschauung auf dem Gebiet der ersteren gewonnen wurde. Diese parallele Entfaltung, die im Lichte des heutigen Auseinanderfallens von Geistes- und Naturwissenschaften befremden mag, war in Wirklichkeit ganz natürlich. Denn die ontologische Aufwertung der Natur wandte sich gegen die Weltanschauung der societas civilis in demselben Maße und Sinne wie der Primat der Anthropologie, der nun an die Stelle des Primats der Theologie rückte. Der Mensch mußte aus dem Schatten Gottes treten, um sich dem Diesseits oder der Natur hingeben zu können; und die Natur bzw. die sinnliche Welt mußte aufgewertet werden, um den würdigen Tätig32

keitsbereich des vom Jenseits emanzipierten Menschen abgeben zu dürfen. Die drastische Änderung der weltanschaulichen Prioritäten zeigte sich am Inhalt der neuzeitlich-bürgerlichen Philosophie, die die traditionellen metaphysischen und ontologischen Fragestellungen direkt oder indirekt (also mit Hilfe agnostizistischer Argumente) beiseite schob und sich statt dessen erkenntnistheoretisch und ethisch orientierte - beides Disziplinen, die sich unmittelbar auf den Menschen, d. h. auf die Beschaffenheit seines Erkenntnisvermögens und auf den Sinn seines Handelns bezogen. Auf die Durchsetzung des Primats der Anthropologie ging auch der Aufstieg der historischen Wissenschaften zurück, die für das bürgerliche Zeitalter typisch und richtungsweisend gewesen sind. In der Geschichte entfaltet oder aktualisiert sich die menschliche Natur - und der Versuch, in jener Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen oder dem Einfluß materieller Faktoren, von den geographischen bis zu ökonomischen, auf die Spur zu kommen, entsprang im bürgerlichen Denkrahmen nicht sosehr dem Wunsch, die menschliche Autonomie zu relativieren, sondern eher der Absicht, den unberechenbaren Einmischungen Gottes in das Weltgeschehen ein Ende zu setzen. Außerdem diente die Hinwendung zur Geschichte der ebenfalls polemischen Absicht, die Idee des Fortschritts zu begründen und dadurch die Unvermeidlichkeit des Untergangs vorbürgerlicher Gesellschaftsformationen und des Sieges bürgerlicher Sozialordnung und bürgerlicher Werte nachzuweisen. Der bürgerliche Evolutionismus - der sich zunächst vage in der friihneuzeitlichen Auffassung von der ventas filia temporis meldete und noch während der Aufklärung auf widersprüchliche Art und Weise vornehmlich auf historischer Basis begründet wurde, um sich dann im 19. Jh. als universales, Natur und Geschichte umfassendes System zu konstituieren - bildete den Gegenbegriff zum theologischen Fixismus, der seinerseits den Ewigkeits- und Unveränderlichkeitsanspurch der societas civilis in den Kosmos hineinprojizierte. In der bürgerlichen Vorstellung paarte sich indes die Idee des Fortschritts und der Entwicklung mit der Idee der Ordnung, was psychologisch und soziologisch gesehen gut verständlich war. Epistemologisch drückte sich diese Ambivalenz oder doppelte Sorge im Aufstieg von Wissenschaften 33

aus, die die menschliche Gesellschaft (auch) in ihrer Statik studieren wollten. Zu einer solchen Wissenschaft wurde zumindest teilweise die Soziologie, und zwar schon seit ihren aufklärerischen Anfängen, aber auch die parallel zur ihr herausgebildete neuere Politische Ökonomie, insofern sie sich von der Vorstellung leiten ließ, eine unsichtbare Hand verwandle das Chaos der an sich eigennützigen oder kurzsichtigen Handlungen der Einzelnen in ein harmonisches Gleichgewicht. Der Versuch, Fortschritt und Ordnung, Entwicklung und in sich ruhendes Ganzes, Dynamik und Statik theoretisch in Einklang miteinander zu bringen oder wenigstens zusammenzudenken, stellte einen bedeutenden Aspekt des allgemeinen bürgerlichen Harmonisierungsbestrebens dar, er konnte aber den Vorrang der Dimension der Zeit in der bürgerlichen Wahrnehmung der Welt nicht rückgängig machen - und er war auch nicht so gemeint. Das Ganze und die Ordnung blieben immer in dem Sinne mit Zeit gesättigt, daß sie als letzte und höchste oder gehaltreichste Phase einer Entwicklung verstanden wurden. Selbst Größen, die wegen ihres zentralen normativen Status nicht in schiere geschichtliche Bewegung aufgelöst werden durften, wie etwa „Mensch" und „Natur", wurden auf der Grundlage der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Zeit, d. h. als Produkte einer Entwicklung in der Zeit betrachtet. Die Brücke zwischen ihrem normativen Charakter und dem Faktum ihrer materiell bedingten Geschichtlichkeit wurde durch die Annahme geschlagen, in ihrer geschichtlichen Entwicklung und durch sie hätte sich eine ursprünglich, wenn auch nur keimhaft vorhandene Anlage aktualisiert; diesem Denkmodell entsprach strukturell das bürgerliche Bildungsideal. Darüber hinaus wurden die Bestandteile der empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit der Welt nicht in ihrem (zufälligen) Nebeneinander im Raum, sondern in ihrer (notwendigen) Aufeinanderfolge in der Zeit betrachtet. Was im gegenwärtig erfahrbaren Raum dasteht, wird zugleich in die Zeit eingefügt, so daß nicht die parallele Anwesenheit der Dinge im selben Raum, sondern vielmehr ihre unterschiedliche (Vor)Geschichte den Maßstab für ihre Beurteilung oder Bewertung abgibt: die primitiven Völker z.B., die im 34

selben Zeitalter wie die zivilisierten und neben ihnen leben, befinden sich mit ihnen zwar in demselben (planetarischen) Raum, nicht aber diese Tatsache erscheint entscheidend, sondern der Gedanke, sie würden eine frühe und längst überwundene Phase in der Geschichte der Menschheit vertreten. Die bürgerliche Weltanschauung bzw. Wahrnehmung der Welt mußte auf diesen Vorrang des Zeitfaktors oder der geschichtlich verstandenen Zeitlichkeit bestehen, da sie mit ihm von Anfang an verwachsen war: ihn hatte sie ja aufgeboten, um den Anspruch der societas civilis zu erschüttern, ihre Struktur würde den übergeschichtlichen Willen Gottes in bezug auf die Regelung menschlichen Zusammenlebens verkörpern, und auf ihn bzw. auf die Macht des „Zeitgeistes" griff sie ebenfalls zurück, um ihre Forderungen mit dem Nimbus der geschichtlichen und zugleich moralischen Notwendigkeit zu umgeben. Diese Funktion der Größe „Zeit" in der bürgerlichen Wahrnehmung der Welt erklärt ex negativo, warum die analytisch-kombinatorische Denkfigur den Primat der Größe „Raum" hat herausheben müssen. Natur, Mensch und Geschichte sind die großen Gottheiten bürgerlicher Ideologie oder Mythologie gewesen, wobei taktisch bedingte Synkretismen mit relevantem vorbürgerlichem Gedankengut eine mehr oder weniger erhebliche Rolle bei der Gestaltung derselben im Hinblick auf die Bedürfnisse des bürgerlichen Pantheons gespielt haben. Ihre Betrachtung als Wesenheiten oder Hypostasen mit einem unwandelbaren Kern bei aller Wandlung oder gar Vergänglichkeit der Akzidenzien indizierte an sich die Unfähigkeit oder vielmehr den Unwillen bürgerlichen Denkens, sich von der Vorstellung der Substanz zu lösen. Die bürgerliche Naturwissenschaft und Philosophie bekämpfte freilich entschieden die aristotelisch-scholastische Lehre von der Substanz sowie die darauf beruhende Ontologie und Metaphysik, indem sie ihr den Begriff der Funktion und die funktionale Auffassung vom (Natur)Gesetz entgegenstellte. Die funktionale Weltdeutung wurde aber dabei nicht soweit getrieben, daß alle Substanzen, auch die materiellen, auf bloße Summen von veränderlichen Funktionen hätten reduziert werden müssen; dies erfolgte erst mit der Durchsetzung der analytisch-kombinatorischen Denkfigur und hatte, wie wir 35

noch sehen werden, weitreichende Folgen für den Begriff der Materie als auch für den der menschlichen Person. Die ontologische Aufwertung der Natur und des Menschen, die das bürgerliche Denken gegen die theologische Weltanschauung unternahm, hätte aber den festen Boden unter den eigenen Füßen weggezogen, wenn das, was aufgewertet werden sollte, sofort und völlig in gespenstische Funktionen aufgelöst worden wäre. Der Begriff der Funktion wurde also in dem Maße verwendet, wie dies zur Widerlegung aristotelisch-scholastischer Ontologie und Metaphysik nötig erschien; der Begriff der Substanz wurde dementsprechend beibehalten, gleichzeitig aber so uminterpretiert, daß er nicht mehr die formae substantiales etc., sondern einfach das materielle Substrat der Dinge oder die prima materia bedeutete, deren Beziehung zu den Akzidenzien freilich bei allen Bemühungen weiterhin ungeklärt blieb. Solange der transzendende Geist in seiner traditionellen, ontologischen und normativen Interpretation der Hauptgegner war, konnte die handfeste Materialität der Welt nicht ohne weiteres preisgegeben werden; gleichzeitig wurden im Rahmen der bürgerlichen normativen Auslegung von Natur und Mensch dem materiellen Universum Prädikate beigelegt, die der ontologischen Aufwertung der Materie das Odium des Materialismus und des Nihilismus entziehen sollten. So wollte bürgerliches Denken auch hier harmonisieren und vermitteln - diesmal zwischen Substanz und Funktion, zwischen ontologischer Aktualität und normativer Potenzialität der Materie. Den Schwierigkeiten und Widersprüchen, die dabei entstehen mußten, suchte es des öfteren durch die Zuflucht zu einem Agnostizismus zu entgehen, der das Wesen der Substanz für unerkennbar erklärte und dadurch Alibis und Platz für taktisches Manövrieren in brisanten, vor allem religiösen Fragen verschaffte. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein.

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2. Lebensgestaltung und Kultur Die bürgerliche ökonomische, politische, ethische und kulturelle Praxis wurde nicht immer direkt und bewußt aus der bürgerlichen Weltanschauung abgeleitet, wie sie im Vorigen geschildert wurde; die handelnden bürgerlichen Subjekte mußten sich also nicht über bestimmte Deutungen der Natur, des Menschen oder der Geschichte im Klaren sein, um in einer Art und Weise tätig sein zu können, die als bürgerlich bezeichnet werden darf. Zwischen dem, was sie taten (oder vielmehr im Idealfall tun würden, handelt es sich doch hier um ihr Selbstverständnis oder um den oft nicht eingelösten Anspruch, ihr Handeln auf bestimmte Normen und Werten zu gründen), und den skizzierten Grundlinien bürgerlicher Weltanschauung gab es aber eine strukturelle Entsprechung. Denn bürgerliches Handeln zielte zumindest in seiner idealen oder idealtypischen Form darauf ab, eine Synthese zustandezubringen, die in der Harmonisierung von mehreren, z.T. gegensätzlichen materiellen Faktoren miteinander unter der Ägide der Vernunft (der Vernunft des Menschen, des Marktes oder des Gesetzgebers) bestehen sollte. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen faktischem und idealem Handeln hat selbstverständlich nichts mit moralischen Urteilen zu tun, sie impliziert also nicht, daß sich Bürger heuchlerischer als andere soziale Schichten zu verhalten pflegten; vielmehr hängt sie mit der soziologisch gleichermaßen notwendigen Unterscheidung zwischen Bürgertum und Bürgerlichkeit zusammen, welche besagt, daß nicht alle Menschen, die von ihrer materiellen Lage und ihrem Beruf her als Bürger zu bezeichnen waren, dem bürgerlichen Lebensstil folgten und sich der bürgerlichen Symbolsysteme bedienten. Umgekehrt konnte es sich freilich auch verhalten: dank der Wirkung der sogenannten „Kultursenkung" bemühten sich solche Schichten um die Übernahme der genannten Symbolsysteme und Lebensformen, die auf Grund ihrer Stellung im Produktions- und Distributionssystem keine Bürger, höchstens „Kleinbürger" waren. Das bürgerliche Bestreben, die praktisch vorteilhafteste Harmonisierung zwischen Vernunft und Trieb oder Kultur und Natur 37

zu bewerkstelligen, ging mit der Abneigung gegen die dunklen Kräfte des Irrationalen und des Dämonischen einher. In der Berufung auf die hemmende und zugleich gestaltende Macht der Vernunft kam das Bedürfnis zum Ausdruck, den Glauben an die Durchschaubarkeit und Berechenbarkeit der Welt intakt zu erhalten. Denn berechenbare Welt hieß durch vernünftiges Handeln beherrschbare Welt, und daher lief der so verstandene Glaube an die Vernunft auf den Primat der vita activa hinaus, wie dieser seit der Renaissance in mehreren Variationen gegen den antik-christlichen Primat der vita speculativa geltend gemacht worden war. Berechenbarkeit der Welt bedeutete noch konkreter, daß Erfolg und Glück keine unerklärlichen Geschenke des Zufalls, sondern vielmehr vorhersehbare Ergebnisse von rationalem Handeln sind. Dies alles mußte nicht eine grundsätzliche Leugnung der Existenz und der Wirkung des Irrationalen im Menschen und in der Gesellschaft implizieren; gemäß der allgemeinen Strategie der zweckmäßigen Kanalisierung oder Sublimierung der (blinden) Natur durch Vernunft sollte aber das Irrationale in edle und zudem praktisch nützliche Visionen umgesetzt werden, die als höhere Motivation und Anleitung zum rationalen Handeln dienen konnten. Der Pragmatismus und Rationalismus des Bürgers wurzelten freilich darin, daß sein Leben mit seiner Arbeit aufs engste verflochten war, die ihrerseits mit materiellen, also meßbaren und dem Kalkül unterliegenden Gütern zu tun hatte. Handeln mußte unter diesen Umständen im Zeichen der Devise stehen: „Das Nächste tun!", und trotzdem stand im Hintergrund das Bewußtsein, dieses Handeln verbinde sich irgendwie mit übergeordneten Zwecken, mit dem Wohl und dem Fortschritt der Gesellschaft oder der Menschheit. Dieses Bewußtsein beflügelte den Bürger und zugleich beruhigte es ihn, denn es schien ihm, als ob sich die eigenen Handlungen in Ubereinstimmung mit den allgemeinen Gesetzen (und daher im Schutze von ihnen) befanden, die in Natur, Ökonomie und Ethik obwalteten. In diesem Sinne schwebte der Bürger zwischen dem prosaischen oder gar harten Kalkül und den großen ideologischen - aber immer praktisch umsetzbaren Träumen von Fortschritt und Zivilisation, obwohl angemerkt werden muß, daß die verschiedenen Aspekte dieses Komplexes bei 38

verschiedenen subjektiven Trägern sehr unterschiedlichen Anklang fanden. Aber wenigstens auf der Ebene der ideologischen Konstruktion oder des idealen bürgerlichen Selbstverständnisses schien ein Weg gefunden zu sein, auf dem sich zwischen Materiellem und Idealem, zwischen Geld und Geist oder Gefühl erfolgreich vermitteln ließe. Die Einstellung des Bürgers zum Metaphysischen, und zwar zum Religiösen, veranschaulicht sehr gut seinen Wunsch, das Irrationale in dem Maße zu tolerieren oder auch gutzuheißen, wie es sich für die Zwecke rationalen Handelns einspannen ließ. Eine (höhere) Form rationalen Handelns war in bürgerlichen Augen die Ethik, und daher lag eine Reduktion von Metaphysik und Religion auf Ethik nahe. Gott sollte in erster Linie der Garant einer moralischen Ordnung sein, d. h. dafür sorgen, daß Handeln auch in seiner moralischen Dimension berechenbar bleibt, indem bestimmte Taten bestimmte Folgen haben, so daß z.B. Tugend wenigstens langfristig durch Glückseligkeit belohnt und die Harmonie zwischen Vernunft und Trieb auch auf dieser Ebene hergestellt wird. Die weitgehende Ethisierung Gottes und der Religion bedeutete gleichzeitig eine - manchmal indirekte, aber immer deutliche - Absage an den Anspruch der Theologie, über physikalische und kosmologische Fragen zu befinden, deren Erforschung und Lösung nunmehr zum Monopol moderner Naturwissenschaft erklärt wurde. Der Kompromiß zwischen dem Bedürfnis, Gott und die Religion weiterhin als Stützen bürgerlicher Moral zu behalten, und der Notwendigkeit, sie ihrer traditionellen, von einer ideologisch allmächtigen Kirche festgelegten Aufgaben zu entledigen, wurde in Form eines Agnostizismus gefunden, der alles, was das Wesen theologischer Transzendenzmetaphysik ausmachte, für unerkennbar, also für praktisch irrelevant und unnütz hielt. Dadurch festigte sich die Wendung zum Diesseits und zur Praxis, während der alten Weltanschauung und den alten metaphysischen kirchlichen oder weltlichen Instanzen nur das überlassen wurde, was man guten Gewissens als irrationalen Unfug bezeichnen konnte. Wir wissen indes, daß bürgerliche Ideologie mit Rücksicht auf die metaphysischen Optionen der Feinde von links im allgemeinen keinesweg bereit war, die dualistische Ontologie 39

preiszugeben und zum (materialistischen) Monismus überzugehen. Der Begriff des Berufs bildet die große Resultante, in die alle wesentlichen Elemente der bürgerlichen Synthese einfließen: ethischer Sinn und materieller Nutzen, rationales Kalkül und Tatendrang, Selbstzucht und Streben nach Erfolg. Die grundsätzlich angestrebte Harmonie von Vernunft und Trieb erscheint hier als Unterwerfung instinktiver und ohnehin unausrottbarer Impulse unter ein rationales Ziel oder als Verzicht auf die unmittelbare Befriedigung zugunsten einer höheren und stabileren, die dann als sicheres Glück empfunden wird; die Verschiebung oder Begrenzung der Lustbefriedigung, die wirtschaftlich die Akkumulation fördert, soll auf der individuell-psychologischen Ebene die Voraussetzungen eines Wohlbefindens schaffen, dessen Dauer im Maß gründet. Die Selbstliebe, die ihr wirtschaftliches Pendant im Eigentum hat, und das Bedürfnis nach Genuß können auf diese Weise nicht anarchisch oder (selbst)zerstörerisch, sondern eben durch die Entfaltung von charakteristischen bürgerlichen Tugenden, wie Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit, zu ihrem Recht kommen. Die Verschränkung des Arbeitsethos mit dem Wunsch nach irdischem Erfolg und Glück unterscheidet es von der Askese im vorbürgerlich-christlichen Sinne, und sie hat das Ihrige zur Durchsetzung bürgerlicher Berufsethik innerhalb einer Gesellschaft beigetragen, die nicht mehr asketisch sein konnte und wollte; nicht zufällig fand die Herausbildung einer kohärenten Berufsethik parallel mit dem allmählichen Abschied von den ethischen Prioritäten der societas civilis statt. Das Befolgen der Berufsethik bedeutete gleichzeitig größere Berechenbarkeit der Welt bzw. des individuellen und kollektiven Verhaltens. Der persönliche Beitrag des Bürgers zu der von ihm selbst ersehnten Berechenbarkeit der Welt lag darin, daß er jederzeit als jemand auftreten konnte, der schon durch sein eigenes Ethos für die Wahrung des Prinzips pacta sunt servanda bürgte; seine Wohlanständigkeit kam den anderen als Zuverlässigkeit und ihm selbst als Kreditwürdigkeit zugute. Die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs und die festen Gewohnheiten bildeten gleichsam den sichtbaren Ausdruck der Befolgung klarer Prinzipien, sie waren aber auch praktisch unentbehrlich in 40

einem Leben, in dessen Mittelpunkt die Arbeit stand. Das Zeitgefühl des Bürgers entsprach insofern der Newtonschen Lehre über die Zeit: Zeit ist als absolute, aber an sich inhaltsleere Größe da, sie steht also zur Verfügung und es kommt darauf an, was der Einzelne mit ihr anfängt, wie er sie füllt und gestaltet. Der Gegensatz zwischen Arbeits- und Freizeit, zwischen Arbeit und Spiel stellte eine natürliche Folge der bürgerlichen Auffassung vom Berufsethos dar, obwohl andererseits das harmonische Nebeneinander dieser beiden an sich voneinander getrennten Sphären zu den Desideraten bürgerlicher Lebensgestaltung gehörte. Wird der Begriff des Berufes so weit gefaßt, so gibt er eo ipso die Grundlage zur Entfaltung der Persönlichkeit ab. Im Beruf verwirklicht sich der Mensch als Mensch - und selbst wenn der Beruf als solcher nicht alle Bedürfnisse des Menschen befriedigen kann, so schafft seine erfolgreiche Ausübung die materiellen Voraussetzungen für die Füllung der Lücken in der Freizeit. Durch ihre Bindung an den Beruf hört die Persönlichkeit auf, eine bloß psychologische Größe zu sein, und gewinnt sowohl eine soziale und ökonomische als auch eine ethische Dimension. Letztere hängt mit der soeben erörterten Berufsethik zusammen, erstere geht auf die persönliche Leistung als reale Stütze des Anspruchs auf Anerkennung und Belohnung zurück. Die Persönlichkeit wird somit nicht nur multidimensional aufgefaßt, sondern auch objektiviert, d. h. sie wird entsprechend ihrer Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft und nicht etwa bloß auf Grund ihrer Absichten, ihrer Motive oder ihres Selbstverständnisses verstanden und bewertet. Persönlichkeit bleibt zwar etwas Einmaliges und Individuelles, durch ihr soziales Verhalten und die darin verkörperten Werte steht sie aber mit dem Allgemeinen und Universellen in Verbindung. Darin unterscheidet sich die bürgerliche Persönlichkeitsauffassung von der frühromantischen, bei aller Gemeinsamkeit des individualistischen Ansatzes. Die Verflechtung von Individuellem und Allgemeinem, von Subjektiv-Psychologischem und Objektiv-Sozialem im Rahmen des Persönlichkeitsbegriffes ist eine echt bürgerliche Synthese, die sich z.B. auch an der Idealvorstellung von der Ehe wiedererkennen läßt. Die anthropologische und psychologische Komponente wird hier durch den Zeugungstrieb, die 41

Liebe oder die gegenseitige Zuneigung vertreten, sie muß aber in die dafür vorgesehene Institution überführt und im Sinne der bürgerlichen Verhältnisse gestaltet bzw. verfeinert werden. Die Ehe bildet m.a.W. eine Synthese der anthropologischen und psychologischen Komponente mit juristischen, ökonomischen und ethischen Faktoren oder Gesichtspunkten, so daß Gefühle und Triebe objektiviert, materielle Bestrebungen wiederum als Dienst an geliebten oder geachteten Personen empfunden werden können. Die für die bürgerliche Seele so wichtige goldene Mitte zwischen Geld und Ethik, Kalkül und Herz scheint an diesem Kreuzpunkt gefunden zu sein. Darüber hinaus konkretisierte sich in der Ehe und der Familie die Trennung von Privatem und Öffentlichem voneinander, die ebenfalls das Wesen bürgerlicher Lebenshaltung (und Politik) kennzeichnete. Als Institution gehörte die Familie zur öffentlichen Sphäre, und das Familienleben spielte sich auch in der Öffentlichkeit ab, wenn es um Angelegenheiten ging, die mit dem institutionellen bzw. sozialen Charakter der Familie zu tun hatten. Andererseits stellte sie den Bereich des Privaten par excellence dar, abseits der Konkurrenz in Politik und Wirtschaft, sie sollte den ruhigen und sicheren Hafen bieten, in dem man sich eine Atempause verschaffte und neue Kraft schöpfte, und zugleich den Boden, auf dem Gefühle und Interessen gedeihen, die im öffentlichen Leben kaum von Belang oder von Nutzen sind. Die bürgerliche Lebenshaltung kann mit der Rede vom „juste milieu" umschrieben werden, wenn wir dabei den Inhalt der oben skizzierten Synthese im Sinne haben. Dasselbe Schema bedingt aber auch das bürgerliche Verständnis jener Bereiche, innerhalb deren sich das öffentliche Leben des Bürgers abspielte: gemeint sind Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Das Naturgegebene oder Triebhafte in der Wirtschaft sind die Bedürfnisse der sozialen Individuen, die sich durch Produktion, Austausch und Konsum befriedigen sollen. Das Vernünftige erscheint hier nicht nur als Wirkung der unsichtbaren Hand, die unabhängig von dem Willen und den Handlungen des Einzelnen die chaotische Vielfalt des Geschehens in der freien Wirtschaft in funktionierendes Gleichgewicht verwandelt, sondern auch als bewußte Festlegung der Spielregeln, auf Grund deren sich die wirtschaftliche Tätigkeit 42

entfalten darf. Je freier das Wirtschaften und je größer der Raum ist, innerhalb dessen es sich entfaltet, desto allgemeiner und abstrakter, zugleich aber logisch geschlossener müssen die Regeln sein. Diese Regeln bilden das Gegenstück der Naturgesetzmäßigkeit auf der Ebene des sozialen Handelns in einer seiner Grundformen, und sie sollen dasselbe beruhigende Gefühl wie die Naturgesetze einflößen, daß nämlich der Markt trotz scheinbarer Anarchie nicht weniger berechenbar ist als die Welt in ihrer ganzen bunten Mannigfaltigkeit. Der Staat ist nun jene Instanz, die die Regeln bestimmt und durch die gesetzliche Absicherung gewisser Grundnormen für den geregelten Ablauf sozialer Arbeit auf allen Gebieten sorgt. Insofern ähnelt der Staat dem deistischen bzw. aufgeklärten Gott, der die Naturgesetze ein für allemal festlegt und sich der Einmischung auch in die besonderen Fälle enthält; die Willkür Gottes wird in demselben Geist und Sinn beseitigt wie die „feudale Anarchie" auf gesellschaftlicher Ebene. Das Allgemeine hält diese besonderen Teile nicht dadurch zusammen, daß es ihre Eigenart nivelliert, sondern bloß dadurch, daß es ihrer Bewegung bestimmte Grenzen setzt, die aber freie Bewegung überhaupt ermöglichen. Diese zweiseitige Konstruktion auf der Ebene der Theorie entsprach dem doppelten sozialgeschichtlichen Vorgang, daß die Gesellschaftsformation, in der das Bürgertum herrschte oder immerhin den Ton angab, sowohl die freie Konkurrenz als auch den zentralistischen Staat in einem bis dahin unbekannten Ausmaß förderte. Beides wandte sich gegen die societas civilis oder ihre Überbleibsel und beides wurde zur Durchsetzung bürgerlicher Interessen aufgeboten. Die Staatsfeindlichkeit des Bürgertums ist eine Legende, die vom Bürgertum selbst im Kampfe gegen den absolutistischen Staat verbreitet wurde einem Kampf übrigens, der seinerseits sehr zweideutig war. Die große Masse des Bürgertums wußte oder ahnte immer, daß ohne allgemeine Gesetzgebung und ohne den Apparat zu ihrer Anwendung keine kapitalistische Wirtschaft funktionieren konnte. Die Frage war grundsätzlich die, wer den Staat aufbauen und kontrollieren würde. Gegen die arcana absolutistischer Kabinettspolitik und zur Legitimierung der liberalen repräsentativen Institutionen wurde die Parole von der Öffentlichkeit geprägt und verwendet, 43

aber derselbe Staat, der unter der ständigen Kontrolle der (bürgerlichen) Öffentlichkeit stehen sollte, mußte andererseits durch seine allgemeine Gesetzgebung für die Trennung des Öffentlichen v o m Privaten sorgen und bürgen. Diese Trennung nahm zwar ihren Ursprung im Bestreben, den Religionskriegen ein Ende zu setzen, sie verschränkte sich aber bald mit der Funktionsweise des Systems freier Konkurrenz und wurde zur selbstverständlichen, aber auch verbissen verteidigten Grundlage bürgerlicher Lebensweise überhaupt. Abgesehen davon, daß sie dem Bürger oft als Deckmantel diente, hinter dem er kleinere und größere Fehltritte, von diskreten Bordellbesuchen bis zu suspekten Bereicherungsmethoden, verstecken konnte, erfüllte sie die wichtige Aufgabe, die Grenzlinie zu ziehen zwischen dem objektiven und dem subjektiven Aspekt des Persönlichkeitsbegriffes, wie wir ihn vorher geschildert haben. Wir werden noch sehen, daß die Vermischung dieser beiden Aspekte im Zusammenhang mit der Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem ein Grundmerkmal massendemokratischer Politik, Lebensweise und Kultur darstellt. Die Trennung von Staat und Gesellschaft bzw. von Öffentlichem und Privatem voneinander war die sozialpolitische Seite jener Säkularisierung, die auf ideologischem Gebiet die Beseitigung des faktischen Monopols der (kirchlich sanktionierten) Theologie bedeutet hat. Im Rahmen der ideologischen Säkularisierung, die für das Bürgertum ebenso lebensnotwendig war wie die sozialpolitische, wurde an die Stelle der traditionellen Theologie die Kultur oder die Bildung gesetzt - allerdings eine Kultur und eine Bildung, in der es ohne weiteres für eine gereinigte und aufgeklärte Religion Platz geben konnte und sollte. D e r gleichzeitigen Entfeudalisierung der Gesellschaft und Enttheologisierung der Ideologie entsprach der doppelte Charakter des Bürgertums, d.h. das Nebeneinander von Wirtschaftsbürgertum (Bourgeoisie im engeren Sinne) und Bildungsbürgertum. Dieses Nebeneinander war - zumal angesichts der inneren Heterogenität beider Gruppen, die unterschiedliche Annäherungsmöglichkeiten aneinander ergab

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nicht immer harmonisch oder konfliktfrei, jedenfalls hat der Abstand bzw. die Verflechtung zwischen den Besitzern bürgerlichen 44

Reichtums und den Vertretern bürgerlichen Geistes von Zeit zu Zeit und von Land zu Land stark variiert. Bei aller Überheblichkeit oder Ungeduld des Bourgeois gegenüber dem ärmeren Bildungsbürger und bei aller Verachtung des Professors gegen den Spekulanten gehörten dennoch nach bürgerlichem Empfinden Kultur und Bildung (bzw. das Streben danach oder deren Förderung) zu den wesentlichen Attributen der Bürgerlichkeit. Ein (großer) Teil des Bürgertums nahm freilich an der bürgerlichen Kultur in keiner Weise teil, der Begriff der Kultur als solcher blieb indes mit dem durchschnittlichen bürgerlichen Selbstverständnis verbunden, und dies zählte. Dieser Begriff wurde selbst dann im allgemeinen für spezifisch bürgerlich gehalten, als das Bürgertum anfing, adlige Kultur- und Lebensformen zu übernehmen. Denn diese Übernahme erfolgte zu einer Zeit, in der sich das Bürgertum im Aufstieg befand, oder sogar erst nach seiner (wirtschaftlichen, wenn auch nicht politischen) Durchsetzung, als es der früheren polemischen Symbolik der Abgrenzung im Sinne des puritanischen Geistes oder des schlichten Klassizismus nicht mehr bedurfte, der Adel hingegen nur Prunk und Repräsentation anzubieten hatte. Bei aller Rede von der „Feudalisierung des (Großbürgertums" darf also nicht vergessen werden, daß diese „Feudalisierung" erst nach dem sozialen Tod des Feudalismus bzw. des Adels und dann wieder in beschränktem Umfang eintrat. Außerdem müssen wir stets einen entscheidenden Unterschied zwischen der bürgerlichen und der adlig-aristokratischen Kultur im Auge behalten: es handelt sich um den massenhaften Charakter der ersteren, der sich in der Entwicklung der Lesekultur und des Lesepublikums sowie an der Konzentration von gebildeten Menschenmengen in Theatern, Museen, Opern und Konzertsälen bemerkbar machte. Die doppelte Physiognomie und die doppelten Bedürfnisse des Bürgertums spiegelten sich in seinem Bildungsideal wider, das sowohl der Bildung im weiten humanistischen Sinne als auch der technischen und beruflichen Ausbildung Rechnung tragen wollte. Naturwissenschaft und Humaniora gehörten nicht notwendig zusammen, sie wendeten sich aber gemeinsam gegen die traditionellen kirchlich-theologischen Prioritäten, die einerseits durch die 45

ontologische Aufwertung der Natur, andererseits durch den Anthropozentismus umgestürzt wurden. In ihrer Verbindung mit Technik und Industrie drückte die Naturwissenschaft den fortschrittlichen oder dynamischen Aspekt bürgerlicher Kultur und zugleich die mechanizistische Version des Harmoniegedankens aus, während das klassische Ideal eine viel plastischere Harmonievorstellung gleichsam in die Statik des Zeitlosen goß. Das Klassische verkörperte aber nicht bloß die Harmonie an sich und überhaupt, sondern enthüllte auch ihre inneren Gesetze, deren oberstes in der symmetrischen Beziehung von Ganzem und Teil zueinander sowie in der vollkommenen Entsprechung von Form und Inhalt bestand. Ehe wir auf die Bedeutung dieser Prinzipien für den bürgerlichen Kunstbegriff hinweisen, müssen wir an den engen Zusammenhang des klassischen Ideals mit dem Naturideal im bürgerlichen Denken erinnern, der einen wichtigen Aspekt des allgemeinen Bestrebens darstellte, Natur und Kultur zusammenzudenken und zusammenzubringen. Nun erschien die klassische Kultur oder das, was das Bürgertum dafür hielt, als die edelste und feinste Entfaltung der Natur(normen) unter den Bedingungen menschlichen Zusammenlebens. Diese ideale Auffassung von der klassischen Kultur verschaffte ihr einen quasi überhistorischen Charakter, der sich über die zeit- und raumbedingte Relativität aller Normen hinwegsetzte und das ideale Selbstverständnis der Bürgertums zum universalen Wert und Maßstab erhob. Die quasi Geschichtslosigkeit des Klassischen konnte indes die auf andere, genauso starke weltanschauliche Bedürfnisse zurückgehende historische Orientierung bürgerlichen Denkens nicht rückgängig machen. Die Wahrnehmung der Welt unter dem vorrangigen Aspekt der Zeit und die historische Betrachtung von Natur und Gesellschaft wurden zum Hauptzug bürgerlicher Kultur und Bildung. Dies zeigte sich nicht nur an der prominenten Stellung der historischen Wissenschaften im Erziehungssystem und nicht nur an der historischen Inspiration der bildenden Künste oder an den strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Roman und Geschichtsschreibung bzw. Biographie, sondern auch und am anschaulichsten an der Errichtung von Museen, in denen das Prinzip der Aufeinanderfolge in der Zeit die bloß klassifikatorischen Gesichts46

punkte, wie sie noch im 17. oder im 18. Jh. vorherrschten, allmählich verdrängte. Die Errichtung von Museen symbolisierte im allgemeinen die endgültige Verselbständigung eines nunmehr kodifizierbaren und massiv vorzeigbaren säkularen Wissens. Sie bildeten die Tempel der neuen Wissenschaftsreligion, die auf die Denkmäler des theologischen Geistes selbstbewußt, wenn nicht verächtlich, herabblickten. Kunstmuseen demonstrierten insbesondere die neue Autonomie der Kunst, die aufgehört hatte, ancilla ecclesiae oder Repräsentationsmittel der „Despoten" zu sein, und trotz ihrer Einspannung für bürgerliche Repräsentationszwecke nun einen viel wichtigeren Status für sich beanspruchte, sie wollte nämlich neben der Wissenschaft und der Philosophie als selbständiges Organ der Weltdeutung und -erfahrung auftreten. Die bürgerliche Autonomisierung der Kunst führte einerseits zur monumentalen Darstellung des Geistes einzelner Künste durch den Bau von Theatern, Opern oder musealen Kunstsammlungen, andererseits zur Idee des Gesamtkunstwerkes als Veranschaulichung der Einen Kunst in der Einheit ihrer Zweige und Richtungen. Thematische und stilistische Übergänge von der einen Kunst zur anderen waren in diesem Sinne erwünscht, wobei sich das Bestreben nach Synthese unter anderem in einer reichen Literatur über Symbol, Allegorie und Metapher äußerte. Die Synthese, die sich dieser Mittel bediente, hatte aber auch einen weiteren Aspekt und Zweck, der einen Wesenszug bürgerlicher Kunst und Ästhetik betraf. Es handelt sich dabei um die Verschmelzung des Ästhetischen mit dem Ethischen, des Schönen mit der Idee und der Wahrheit, des Erlebnismäßigen mit der Norm, des Individuellen mit dem Sozialen. In ihrer ständigen Verbindung und Auseinandersetzung mit dem höheren Reich der Werte sowie mit den die Gesellschaft bewegenden Fragen sollte Kunst nach Möglichkeit objektiviert werden, also objektiven Gehalt und feste Form erlangen. Die individuelle Inspiration, die Phantasie und die elementare Schöpfungskraft des Künstlers sollten in demselben Ausmaß und Sinne gebändigt und zugleich fruchtbar gemacht werden wie es mit der Kanalisierung der Triebe durch Vernunft auf dem Gebiet der Ethik geschah. Ähnlich gedacht war das Verhältnis zwi47

sehen Form und Inhalt am Kunstwerk selbst. Form bedeutete die gestaltende Kraft, die den Inhalt vom Zufälligen oder Untypischen befreite und ihn idealisierte; der Formgeber, d.h. der Künstler, war demgemäß kein wilder Zauberer und kein wütender Prophet, sondern vielmehr der andächtige Oberpriester und Verkünder des Idealen in seiner Verbindung mit der objektiv vorhandenen und allgemein wahrnehmbaren Welt. Die grundsätzliche Forderung nach Objektivität der Kunst und nach Objektivierung des künstlerischen Schaffens in der Harmonie von Form und Inhalt beruhte ihrerseits auf dem weltanschaulichen Glauben an die (ideale) Natur, in deren Nachahmung Kunst die eigene unerschöpfliche Inspirationsquelle suchen und finden sollte. Dabei kam nicht bloß die Landschaft oder das Stilleben, sondern auch und vor allem der Mensch in Betracht. Der bürgerliche Anthropozentrismus in der Kunst wurde weit gefaßt, und zwar als Verbindung der Darstellung der Welt mit einer Idee, die für den Menschen wichtig war und von ihm bewußt in die äußere Natur hineinprojiziert wurde; der Mensch erschien daher teils als Resultante teils als Quelle aller wirkenden Kräfte oder Faktoren. Dem Anthropozentrismus lag insofern ein synthetisches Konzept zugrunde. Das ist der tiefere Grund, warum die massendemokratische Auflösung des Anthropozentrismus mit der Beseitigung der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur zugunsten der analytischkombinatorischen bzw. mit der Auflösung der Synthese von Mensch und Welt miteinander sowie jeder Synthese überhaupt einherging. Wie sich dieser Vorgang vollzog, werden wir im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels sehen. Dort werden wir auch die Grundlinien bürgerlicher Ästhetik in den einzelnen Künsten erörtern, um kontrastierend und vergleichend die Struktur der analytisch-kombinatorischen Denkfigur auf den entsprechenden Gebieten besser verstehen zu können.

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III. Die Ablösung der bürgerlichen synthetisch-harmonisierenden Denkfigur durch eine analytischkombinatorische im Bereich der geistigen Produktion

1. Literatur und Kunst

a. Allgemeines Die soziale Vorherrschaft des Bürgertums dauerte nicht lange, wenn man universalgeschichichtliche Maßstäbe anlegt; außerdem mußte sie sehr oft mit anderen Klassen oder Schichten geteilt werden - in manchen Ländern mit den noch immer mächtigen Überbleibseln des Adels, in anderen mit einem selbstbewußten Bauerntum und schließlich in zunehmendem Maße mit der organisierten Arbeiterbewegung innerhalb der sich formierenden Massengesellschaft und -demokratie. Entsprechend kurz ist die Dauer der Vorherrschaft bürgerlicher Kultur gewesen, die sich ebenfalls nie und nirgendwo in Reinform im ganzen Spektrum durchsetzte, sondern von Anfang an von verschiedenen Seiten angefochten wurde. Der Grund für diese soziale und kulturelle Ambivalenz, die das bürgerliche Zeitalter kennzeichnet, läßt sich leicht erraten. Das Bürgertum war die erste Klasse in der Geschichte, die den eigenen Herrschaftsanspruch mit der grundsätzlichen Forderung nach Öffnung der Gesellschaft und nach freier Entfaltung der in ihr miteinander konkurrierenden Kräfte verbunden hat. Die scheinbare Paradoxie bestand also darin, daß bürgerliche Herrschaft nur im Rahmen einer ökonomisch, sozial und ideologisch pluralistischen Gesellschaft möglich war. Natürlich bemühte sich das Bürgertum nach Kräften, diesen Pluralismus in den Grenzen zu halten, die für das Funktionieren des Systems unbedingt erforderlich waren, dies konnte indes nur teilweise und nur vorläufig gelingen. Die freie Konkurrenz innerhalb einer prinzipiell offenen Gesellschaft, die ständische Schranken nicht mehr kannte, entwickelte die eigene Dynamik und Logik, so daß aus dem Schoß dieses selben Pluralismus, der für die Entfaltung der sozialen und politischen Tätigkeit des Bürgertums unentbehrlich war, die Feinde von Bürgertum und Bürgerlichkeit hervorgehen mußten. Nicht anders hat es sich im Bereich der Kultur verhalten. Das Bürgertum schuf die Kultur im modernen Sinne als säkularen Er51

satz für das ideologische Monopol der Theologie, gerade deswegen mußte es aber die Autonomie und Vielfalt der kulturellen Sphäre proklamieren und somit die freie Entfaltung antibürgerlicher Kräfte und Ideen innerhalb dieser selben Sphäre ermöglichen, manchmal sogar ermutigen und auf jeden Fall tolerieren. Der freie Markt der Kultur war auch für die Feinde bürgerlicher Werte und bürgerlicher Kultur da, und er konnte weder abgeschafft noch entscheidend eingegrenzt werden, ohne Struktur und Funktionsweise eben jener Gesellschaft zu beeinträchtigen, die weitgehend auf bürgerlichen Werten und bürgerlichem Kulturgut beruhte. Dieser Antinomie, die in seiner Existenzweise selbst gründete, hat sich das Bürgertum nie entledigen können. Wie schon der Adel, so verlor auch das Bürgertum bereits die Kontrolle über den Bereich der Kultur, als es die Hebel von Wirtschaft und Politik noch mehr oder weniger in der Hand hatte; und wie Teile des Adels vor dessen sozialem Untergang damit kokettierten, daß sie kulturelle Produkte förderten, die sich gegen die adlige Welt wandten, so spielte auch mancher Bürgerliche, der auf der Höhe des Zeitgeistes bleiben wollte, die Rolle des Mäzens gegenüber Künstlern, die mit der bürgerlichen Wertskala und Ästhetik nichts im Sinne hatten. Der Angriff gegen den bürgerlichen kulturellen, ästhetischen und ethischen Kanon wurde von mehreren Seiten und Richtungen gleichzeitig geführt, die zwar in ihrem Gegensatz zu den bürgerlichen Normen einig, ansonsten aber formal und inhaltlich höchst heterogen und des öfteren in sich zersplittert waren. Ein Grund dafür lag sicherlich im synthetischen Charakter des bürgerlichen Kanons selbst: die vielfältigen Komponenten oder Aspekte der Synthese boten ebenso viele Angriffsflächen an, und die Synthese konnte dadurch aufgelöst werden, daß jeder ihrer Gegner ein jeweils anderes ihrer Elemente aus dem Ganzen herausriß, es autonomisierte und gegen das Ganze richtete, indem er ihm einen ganz anderen Sinn als jenen gab, den es als Bestandteil der ursprünglichen Synthese hatte. So wurden z.B. von jeweils anderen antibürgerlichen Richtungen die moderne Technik gegen die humanistische Bildung, die Ästhetik gegen die Ethik, das Gefühl und das Leben gegen die Arbeit und die Ökonomie, die Natur gegen die Kultur etc. aufgeboten, wodurch der 52

Kern der bürgerlichen synthetischen Harmonisierungsbestrebung auf jeweils andere Art und Weise und mit jeweils anderen Mitteln getroffen wurde. Die Vielfalt oder gar die radikale Heterogenität der Angriffe gegen die bürgerliche Synthese läßt sich aber auch auf einen anderen Grund zurückführen, der erst in der retrospektiven Gesamtbetrachtung erkannt werden kann. Durch diese Angriffe wurde allmählich die Denkfigur herausgebildet, die die bürgerliche abgelöst und den (ideologischen) Ubergang zur Massendemokratie vorbereitet hat. Sie wäre dazu nicht imstande gewesen, wenn sie nicht Elemente vorweggenommen und adäquat artikuliert hätte, die weitgehend - in welcher Variation und Vulgarisierung auch immer - die Gedanken- und Lebenswelt der hochtechnisierten und massiv konsumierenden Massendemokratie bestimmten. Anders gewendet: die innere Heterogenität der Angriffe gegen die bürgerliche Denkfigur entspricht - immer in der retrospektiven Gesamtbetrachtung - der inneren Heterogenität der massendemokratischen Gedanken- und Lebenswelt. Ehe wir die Frage erörtern, welches die großen, wenn auch gegensätzlichen Leitmotive sind, die gegen die bürgerliche Synthese ins Feld geführt wurden und sie schließlich zur Strecke brachten, müssen wir bemerken, daß ihre Urheber - ob sie nun Künstler und Literaten oder Philosophen und Wissenschaftler waren - zwar oft und offen das Bürgertum und seine Werte unter Beschüß genommen, dabei aber kein klares Bewußtsein davon gehabt haben, daß sie durch ihre Worte und Werke jenem sozialen und politischen Gebilde den Weg ebneten, das wir heute als die hochtechnisierte und massiv konsumierende Massendemokratie kennen. In dem Maße, wie sie bestimmte Aspekte oder Züge dieses Gebildes vorausgeahnt haben, haben sie ihre Vorahnungen in Utopien ganz anderer Inspiration eingebaut, und vermutlich wären sie überrascht gewesen, wenn sie erfahren hätten, in welches Flußbett die Geschichte ihre Bemühungen und Entwürfe lenkte. Die Heterogonie der Zwecke war auch in diesem Fall unerbittlich: im Kampfe gegen die bürgerliche Synthese wurde eine Denkfigur herausgebildet, die in den Dienst anderer Zwecke und Wirklichkeiten als jener gestellt wurde, die ihre Herausbildung direkt bedingt haben. Das entscheidende historische Kriterium, um die Beziehung der 53

Urheber dieser Denkfigur zur hochtechnisierten und massiv konsumierenden Massendemokratie zu beurteilen, ist demnach nicht dies, ob sie sich von einer solchen Gesellschaftsform eher angeekelt denn angezogen gefühlt hätten, sondern dies, ob sie die bürgerliche Denkfigur durch eine solche zugrunderichteten, die wesentlichen Bedürfnissen der postbürgerlichen sozialen Wirklichkeit genügte. Wenn wir nun die Vielfalt der Angriffe, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s gegen die bürgerliche Synthese unternommen wurden, um die entscheidenden, scheinbar diametral entgegengesetzten Pole gruppieren wollen, dann ergibt sich folgendes Bild: einerseits wird dem humanistischen, dem statischen klassischen Ideal zugewandten Aspekt dieser Synthese ein Kult der modernen Technik in ihrer rasanten, selbstsichere Traditionen oder routinierte bürgerliche Denk- und Lebensweisen umstürzenden Dynamik gegenübergestellt; andererseits wird gegen das, was man als kapitalistischen Materialismus und Zerstörung des Echten und Ursprünglichen durch die niederträchtige Macht des Geldes empfand, das Mythische, Zeitlose, Urtümliche, Exotische sowie die Kreativität eines Geistes besungen, der anderen Gesetzen als denen des ökonomischen Kalküls oder des bornierten bürgerlichen Moralismus gehorcht. Zwischen diesen beiden antibürgerlichen Grundeinstellungen gibt es zahlreiche und fließende Ubergänge, zumal sie nicht immer von denselben, eindeutig identifizierbaren Trägern vertreten werden, sondern bei verschiedenen Künstlern, Literaten und Denkern in jeweils unterschiedlicher Mischung in Erscheinung treten. Dies erklärt auch die Schwierigkeit, zwischen literarisch-künstlerischer Moderne und jenen Strömungen, die geläufig als Avantgarde bezeichnet werden, eine klare Trennungslinie zu ziehen. Wenn man hier grosso modo differenzieren darf, so muß man sagen, daß die Avantgarde eher geneigt ist, die Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese in der frohen Uberzeugung zu registrieren oder zu betreiben, dadurch biete sich die Chance eines mutigen und lebenslustigen Neuanfangs jenseits philisterhafter Konventionen und beruhigender Gewißheiten bürgerlicher Klugheit und Vernunft, während die literarisch-künstlerische Moderne die Krise bürgerlicher Kultur als Krise der Kultur 54

und der Menschheit überhaupt, den Zusammenbruch der bürgerlichen Werte und Ordnungsvorstellungen als Absturz in das Chaos der Anarchie und des Nihilismus erfährt und betrachtet; dementsprechend gedeiht in ihren Kreisen die Sehnsucht nach Geborgenheit im Schöße übergreifender und unverdorbener Einheiten, wie z.B. der Einheit des Mythus, der Religion, der idealisierten Vergangenheit oder der exotischen Gegenwart. Dagegen steht der Avantgarde kaum der Sinn nach mittelalterlichen Harmonien und agrarischen oder exotischen Idyllen, sie ist profan oder atheistisch eingestellt, und in dem Maße, wie sie nach der Utopie sucht, baut sie sich dieselbe in der Zukunft bei zuversichtlicher Verwendung der Möglichkeiten moderner Technik und mit dem Blick auf die Bedürfnisse großer Massen. Hier klingt also der optimistische soziale und egalitäre Ton viel stärker an als bei der literarisch-künstlerischen Moderne, bei der der tiefeingewurzelte Pessimismus mit einem Elitismus einherging, der nicht einen Anspruch auf Führung der Massen bedeutete, wie es z.B. mit der futuristischen Forderung nach einer Regierung der Genies und der Künstler der Fall war, sondern im Gegenteil jede Berührung mit dem profanum vulgus mied. Natürlich gab es innerhalb der literarisch-künstlerischen Moderne wie auch innerhalb der Avantgarde erhebliche Meinungsverschiedenheiten bezüglich der inhaltlichen Bestimmung des jeweils vorschwebenden antibürgerlichen Ideals („des" Mythus oder „der" Kunst z.B.) sowie bezüglich der Hierarchie der antibürgerlichen Ziele und Werte. Die inhaltliche Heterogenität und Vielfalt der gegen die bürgerliche Synthese gerichteten Positionen verhinderte indes ihre gemeinsame Wirkung nicht, da die genannte Synthese jeweils an einer anderen Stelle getroffen wurde; eben die Wahl dieser Stelle und die mit dieser Wahl verbundene besondere, auf jeden Fall aber antibürgerliche Wertoption trennte die Angreifenden voneinander. Ein Beispiel aus dem Bereich der Avantgarde kann diese Gemeinsamkeit der Wirkung bei allem Gegensatz in den einzelnen Positionen verdeutlichen. Wenn die Surrealisten von Wissenschaft und Technik nicht viel halten, so deswegen, weil sie alle Formen von Rationalität, die nach ihrem Dafürhalten mit dem bürgerlichen Habitus wesensgemäß zusammengehört, ausräumen wollen; und wenn sich die Futuristen vom 55

kühlen wissenschaftlichen Geist und vom Elan moderner Technik begeistern lassen, so verbinden sie damit Vorstellungen und Wünsche, die ebenfalls der bürgerlichen Rationalitätsauffassung zuwiderlaufen, d. h. sie wollen mit Hilfe dieses Geistes und dieser Technik die Grenzen des common sense und der langweiligen Klugheit durchbrechen, extreme Situationen überstehen und gefährlich leben sowie eine Ästhetik begründen, die sich von der klassizistischen radikal unterscheiden würde. Wir deuteten bereits an, daß die beiden großen, inhaltlich und logisch heterogenen Denkkomplexe, die die bürgerliche Synthese in die Zange nahmen, die beiden Grundaspekte der Gedankenund Lebenswelt der hochtechnisierten und massiv konsumierenden Massendemokratie vorweggenommen und vorbereitet haben. Wie wir noch im einzelnen sehen werden (Kap. IV, Absch. 2 u. 3) sind diese beiden, ebenfalls im Spannungsverhältnis zueinander stehenden Aspekte einerseits die von humanistischen Überlegungen getrennte technische Rationalität, die Massenproduktion von materiellen Gütern auf allen gewinnbringenden Gebieten ermöglicht und aufrechterhält, und andererseits hedonistische Einstellungen und Selbstverwirklichungsideologien, die sehr oft mit allerlei Mystizismen oder Exotismen verflochten sind und den Massenkonsum des massenhaft Produzierten fördern, indem sie die früheren ethischen Hemmungen aus dem Weg schaffen. Der Keim oder der erste Entwurf dieser Selbstverwirklichungsideologie in ihrer Verflechtung mit dem Mythischen, Ursprünglichen oder Exotischen findet sich bereits in dem einen von den beiden genannten Denkkomplexen. Zur Herausbildung der Leitmotive trugen hier komplementär sowohl die literarisch-künstlerische Moderne als auch die Avantgarde bei. Von beiden Seiten wurde die bürgerliche Synthese von Vernunft und Erfahrung (auf kognitiver Ebene) oder Vernunft und Trieb (auf praktisch-ethischer Ebene) unter Beschüß genommen. Im Zuge der radikalen Infragestellung der Rationalitätsansprüche bürgerlicher Wissenschaft, die im Laufe der letzten Jahrzehnte des 19. Jh.s immer lauter wurde und um die Jahrhundertwende programmatisch auf den Plan trat, wurde die wissenschaftliche Denkweise als Produkt eines oberflächlichen Empirismus und gleichzeitig eines starren Intellektua56

lismus abgetan. Ihr wurde nicht nur die flexiblere und tiefergehende Erkenntnisfähigkeit der Intuition, sondern auch ein anderer Erfahrungsbegriff bzw. die elementare Dynamik dessen gegenübergestellt, was nach den bürgerlichen Hierarchiesierungen die unteren Schichten der Seele ausmachte. Die Herabsetzung der Wissenschaft war also nicht bloß erkenntnistheoretisch gemeint, sondern sie ging mit der Ersetzung des bürgerlichen Menschenbildes durch ein anderes einher, welches seinerseits einem Weltbild entsprach, das nicht mehr jenes der bürgerlichen Wissenschaft war; denn in demselben Sinne und Ausmaße, wie der Mensch vom Dämonischen, vom Morbiden oder vom Sinnlich-Perversen besessen zu sein schien, schienen auch in der Welt mystische und mythische Kräfte zu obwalten. Der Mythus, der nach relativ langem Verbleib am Rande der Geistesgeschichte zu Ehren kommt, übernimmt die Aufgabe, die seichten wissenschaftlichen Erklärungen des Intellekts durch bessere zu ersetzen und das Universum, das infolge der Zertrümmerung der rationalen Gesetzmäßigkeiten und Kausalitäten in Bruchstücke zerfallen war, wieder zu einer organischen Einheit zusammenzufügen. Gleichzeitig sollte er sich an das Tiefere und Ursprüngliche in der menschlichen Psyche richten, es mobilisieren und zum Sprechen bringen. Der Weltmythus oder die Psyche konnten zwar im Zeichen des Dämonischen und Finsteren stehen, genauso denkbar war aber die Vorherrschaft des ursprünglich Guten und Unverdorbenen, von der man in utopischen, exotischen oder idyllischen Entwürfen schwärmte. Beide Gestalten des Mythischen standen jedenfalls gleichermaßen fern von der berechneten und berechenbaren Harmonie, die in ihre Elemente aufgelöst und dann aus diesen rekonstruiert werden kann; sowohl das innere Strukturgesetz der bürgerlichen Synthese als auch das bürgerliche Gleichgewicht von Vernunft und Trieb fehlten hier ganz. Den Ton gab im Gegenteil das nach bürgerlichen Maßstäben Irrationale, Elementare, Irreduzierbare und daher Unkalkulierbare oder gar potenziell Explosive und Gefährliche an, und selbst wenn sich dieses in Formen kristallisierte, die in ihrer Anmut und Heiterkeit apollinisch anmuteten, so lebte und tobte doch unter diesem Anstrich das Dionysische unvermindert weiter. Eine besonders wichtige unter seinen 57

vielen Metamorphosen erfuhr das Mythisch-Ursprüngliche oder Irrational-Dionysische bei der dadaistischen und surrealistischen Avantgarde, wo es unter dem Einfluß psychoanalytischer Lehren als freie Assoziation, Phantasie oder Traum gefeiert wurde, wobei die Entdeckung seiner Funktion in der Psyche sich mit der Forderung nach Befreiung der unterdrückten seelischen Kräfte sowie nach Entfesselung der Kreativität des Individuums verband. Nicht von ungefähr wurden diese Gedanken - wiederum vermengt mit verschiedenen Irrationalismen und Exotismen - ausgerechnet durch die Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre wiederentdeckt und spielten bei der Herausbildung der Selbstverwirklichungsideologie eine erhebliche Rolle (s. Kap. IV, Absch. 4). Der bürgerlichen Synthese wurden aber nicht nur das Mythische und das Irrationale, sondern auch ihr scheinbarer Gegenpol, d.h. die Technik und die Maschine gegenübergestellt. Dies wurde freilich nur von bestimmten, aber wichtigen Strömungen der Avantgarde getan, die in der Maschine, in ihrer Sachlichkeit und ihrem strengen Konstruktionsprinzip den verkörperten Gegensatz zu dem erblickten, was sie für den bürgerlichen Sentimentalismus hielten, und darüber hinaus ein ästhetisches Vorbild, das auf dem gesamten Gebiet der Kunst Nachahmung finden sollte; die bürgerliche Harmonisierung von Schönem und Ethischem miteinander sollte also hier durch das Praktische und Nützliche in seiner unpersönlichen Schlichtheit abgelöst werden. Gewiß, innerhalb der bürgerlichen Synthese hatten Industrie und Technik ihren Platz, da sie den säkularen Anspruch auf Naturbeherrschung vertraten, aber sie wurden als Produkte des Geistes bürgerlich-wissenschaftlicher Rationalität betrachtet und außerdem wurde ihnen das klassisch-humanistische Ideal teils als Ergänzung teils als Korrektur zur Seite gestellt. Bezeichnenderweise hatte die Kunst, die sich um die großen bürgerlichen Themen drehte - von der Natur und der (idealisierten) Geschichte bis zur Familie und zum Einzelnen in seiner Individualität - , niemals die Industrie und die Technik oder den engeren kapitalistischen Aspekt des bürgerlichen Lebens direkt und systematisch thematisiert. Jedenfalls hatte die im bürgerlichen Bildungsideal angestrebte Synthese von Humanismus und Naturwissenschaft bzw. Technik eher kur58

zen Bestand: sie löste sich schon im Laufe der zweiten industriellen Revolution auf, als die Technik allmählich ihre revolutionären Folgen an den Tag legte und den Übergang des Kapitalismus in Organisationsformen erzwang, die den Rahmen des Familienunternehmens sprengten, wobei gleichzeitig der Übergang von der Massengesellschaft zur Massendemokratie eingeleitet wurde. Die moderne Kunst unternahm unter diesen Umständen eine Verbindung von Geist und Technik, die sich von der bürgerlichen Synthese zwischen humanistischer und technischer Bildung radikal unterschied. Durch ihre Loslösung vom bürgerlichen weltanschaulichen Rahmen zeigte sich die moderne Technik in ihrer geometrischen Nacktheit, als Werk oder Manifestation eines harten, unsentimentalen, männlichen Geistes, der sich in seinem tatendurstigen Drang einen Entfaltungsraum jenseits der bürgerlichen Bindung der Rationalität an die Ethik und der Kultur an die Natur suchte. Denn die Maschine stellte keine Nachahmung der Natur dar, sondern deren Überwindung durch den Geist, der sich in seiner Souveränität keinesweg verpflichtet fühlte, sich ehrfurchtsvoll vor natürlichen oder klassischen Mustern und Normen zu verbeugen. Der avantgardistische Kult der Maschine wandte sich also nicht nur gegen den ästhetischen Grundsatz der Nachahmung der Natur, sondern ebensosehr gegen das (mit diesem Grundsatz eng verbundene) klassische Ideal - überhaupt gegen die bürgerlichen Auffassungen von Harmonie, Geschmack und Stil sowie gegen die büigerliche Kulturbesessenheit. Es klingt wie eine prophetische Vision der Lebensform der Massendemokratie, wenn dieselben Futuristen, die den Kult der Maschine so emphatisch betreiben, gleichzeitig für die Abschaffung der humanistischen Schulen und für die Förderung der technischen Bildung und des Sports eintreten. Die avantgardistische Lobpreisung der Maschine wurde von einem Gesellschaftsideal getragen, das nicht mehr das bürgerliche war, und zugleich von einem Fortschrittsoptimismus, der sich in seiner Begeisterung für das vivere pericolosamente und in seiner bilderstürmerischen Wucht über die büigerliche Vorstellung von der Einheit von Fortschritt und Ordnung hinwegsetzte. Nicht weniger antibürgerlich als dieser zukunftstrunkene Fortschrittsopti59

mismus wirkte sich indes die entgegengesetzte Einstellung, nämlich die kulturpessimistische, aus, welche freilich vornehmlich in den Kreisen der literarisch-künstlerischen Moderne, nicht aber bei den Avantgardisten Wurzel faßte. Die Parole von der Dekadenz kam bereits bei den Vorläufern der Moderne, also zu einer Zeit auf, als sich das Bürgertum auf dem Höhepunkt seines Selbstgefühls als Macher der Geschichte befand, und sie wandte sich gegen die bürgerliche Fortschrittsidee, von der sich der Ästhet in seinem elitären Bewußtsein aus zwei Gründen absetzen wollte: einerseits weil er das philisterhafte Bedürfnis nach Sicherheit überhaupt verabscheute und daher im Glauben an den Fortschritt einen schlauen Kunstgriff des Bürgers erblickte, der zusätzliche Geborgenheit in angeblichen Gewißheiten über den Geschichtsablauf suchte; und andererseits weil die Fortschrittsidee bei allen ad hoc Modifizierungen und Abwandlungen von Bürgerlichen, Demokraten und Sozialisten gleichermaßen geteilt wurde, was ihre Vulgarität zu bestätigen schien. Gerade diese antisozialistische Spitze der Dekadenzideologie und Stimmung machte in einer späteren Phase, als der Feind von unten übermächtig wurde, Teile des Bürgertums für sie empfänglich, was wiederum auf der linken Seite des politisch-literarischen Spektrums die propagandistisch nützliche optische Täuschung entstehen ließ, die „dekadenten" Ästheten hätten ursprünglich „bürgerlich-reaktionäre" Ideen artikuliert. Interessanter für unsere Fragestellung ist aber etwas anderes. Die Dekadenzidee wurde zwar geschichtsphilosophisch nicht näher erläutert, sie konnte aber sowohl mit einem inkohärenten oder fragmentarischen Geschichtsbild verbunden werden, das keinen gesetzmäßig konzipierten Fortschritt zuließ, als auch mit der Sehnsucht nach einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit, die den anschaulichen Gegensatz zur dekadenten Gegenwart abgeben sollte. Manchmal verlor sich diese Vergangenheit in den Urzeiten des Mythus oder in den Regionen des Primitiven und des Kindlichen, so daß sich sowohl die Feststellung von der dekadenten Gegenwart als auch das Mythisch-Ursprüngliche gleichzeitig gegen die bürgerliche Fortschrittsidee wenden konnten. Was im Rahmen dieser letzteren als unterste Stufe der geschichtlichen Entwicklung fungierte, erhielt dadurch einen hohen Status und 60

das geschichtsphilosophische Schema wurde in polemischer Absicht geradezu auf den Kopf gestellt. Die Polemik verschärfte sich, sooft die Dekadenz nicht einmal beklagt oder angeprangert, sondern als Zustand erklärt wurde, in dem man genußvoll leben und sich ohne Reue und ohne Selbstmitleid oder bürgerlich-moralische Vorurteile zerstören kann. In der Gedankenwelt der modernen und avantgardistischen Literatur und Kunst wurde also die bürgerliche Synthese von den entgegengesetzten Extremen des Mythus bzw. des Irrationalen und der Technik bzw. der Maschine, der Dekadenz und der optimistischen Bilderstürmerei gleichzeitig angegriffen. Dieselbe Konstellation ergab sich, wenn der Kunstbegriff selbst thematisiert und gegen die bürgerliche Auffassung vom Charakter und von der Aufgabe der Kunst einerseits der pure Asthetizismus oder Formalismus, andererseits die Forderung nach Auflösung jeder Form und nach Abschaffung der Kunst aufgeboten wurde. Der Asthetizismus entsprang ebenso wie der Kult der Maschine aus der Verselbständigung und Verabsolutierung eines Elements, das zwar innerhalb der bürgerlichen Synthese berücksichtigt worden war schließlich erfolgte ja die Erhebung der Kunst zur ebenbürtigen Schwester von Philosophie und Wissenschaft erst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft - , in seiner Loslösung von ihr aber einen antibürgerlichen Sinn erhalten mußte. Entgegen einem Vorurteil, das von linken Anklägern des „bürgerlich-reaktionären" Elitismus und Eskapismus verbreitet und durch die Tatsache erhärtet wurde, daß das späte Bürgertum im Kampfe gegen sozialistisch-marxistische integrative Thesen die Autonomie der sozialen Einzelbereiche verteidigen mußte, ist die Theorie des „l'art pour l'art" nicht bürgerlichen, ja sie ist direkt antibürgerlichen Ursprungs. Die bürgerliche Synthese verlangte eine Einbettung der Kunst in die Gesellschaft und ihre Normen, die durch die Bindung des Schönen an das Wahre und Gute realisiert werden sollte. Gerade diese Bindung wird durch den Asthetizismus zerstört, womit die Loslösung der Kunst von ihrer sozialen bzw. didaktischen Aufgabe und ihre Verwandlung in das freie Spiel eines begabten Subjekts einhergeht. Das Ästhetische konnte sich nunmehr ganz von der ethischen Norm bzw. vom Normalen überhaupt trennen 61

und sich mit dem verbinden, was aus bürgerlicher Sicht, in der Schönheit und Ethik oder ethisch verstandene Wahrheit zusammengehörten, für häßlich, grotesk, pervers oder schrecklich gehalten werden mußte. An die Stelle des Schönen im bürgerlichen Sinne tritt das Interessante, Erstaunliche, Schockierende oder Verwirrende, welches unabhängig von seiner ethischen Qualität als künstlerisch wertvoll angesehen wird. Aus Verachtung gegen die bürgerliche Ehrfurcht vor der Norm und der Normalität wird all dem Wert zugesprochen, was vom Normalen abweicht, der Ästhet schreckt sogar nicht vor einer Gleichsetzung von Kunst und Verbrechen zurück. Die Abweichung von der ethischen Norm wird aber in der Geschichte der literarisch-künstlerischen Moderne durch die zunehmende Abweichung von der Norm als Form begleitet, bis schließlich alle (traditionellen) formalen Normen zusammenbrechen. Denn das Interessante und Erstaunliche, kurzum das Unberechenbare, tritt autonom und isoliert neben anderen ähnlichen Elementen in Erscheinung, es erhält also seinen Sinn und Wert nicht erst durch seine Einordnung in eine bestimmte Stelle eines Ganzen, das nur so und nicht anders hätte ausfallen können. Dadurch fällt die bürgerliche Vorstellung von der Harmonie als wohltemperierter Beziehung zwischen Ganzem und Teil fort und es vollzieht sich der Ubergang vom Aufbau des Kunstwerkes auf Grund fester formaler Regeln zur subjektiven Behandlung der Form, und zwar ohne Rücksicht auf die sozial vorherrschenden Kommunikations- und Verständigungsformen. Die Auflösung der Formen bürgerlicher Kunst mußte indes nicht den Abschied von jeder Form und jeder Ästhetik bedeuten. Bei den Meistern der literarisch-künstlerischen Moderne verbindet sich sogar jene Auflösung mit einem neuen strengen Formbewußtsein, das z.T. aus den Quellen des Ästhetizismus schöpft und sich gegen das avantgardistische Chaos wendet. Zudem drückt sich im Formalismus der literarisch-künstlerischen Moderne ein Bewußtsein aus, das der allgemeinen Abneigung der Vertreter dieser Richtung gegen Kapitalismus und kapitalistische Zivilisation entsprang: an der Form wird hier gearbeitet, nicht nach Art eines industriellen Arbeiters, sondern vielmehr eines mittelalterlichen Meisters, der sein Handwerk als Ganzes versteht und es aus lan62

gem Umgang mit dem Gegenstand und den Geheimnissen des Metiers beherrscht. Gegen die bürgerliche Synthese wandte sich aber nicht nur die ästhetische Autonomisierung von Kunst und Form, sondern gleichzeitig auch die Forderung nach Abschaffung von Kunst und Form überhaupt. Hier hat sich die Avantgarde in ihren verschiedenen Richtungen auf jeweils andere Art und Weise hervorgetan - und das, was sie ursprünglich verlangte, wurde später wenigstens als Karikatur oder als Reklame in der hochtechnisierten und massenhaft konsumierenden Massendemokratie weitgehend verwirklicht. Mit Abschaffung der Kunst meinten die Avantgardisten allerdings nicht die bloße Eliminierung der Kunstformen innerhalb einer Gesellschaft, die ansonsten unverändert ihren Weg weitergehen würde, sondern eine solche parallele Umgestaltung von Kunst und Leben, daß Kunst im Leben zwang- und restlos aufgehen könnte. Dieses Ziel wurde zuweilen vornehmlich im Hinblick auf wichtige Teilgebiete verfolgt, so z.B. bei den sogenannten Produktivisten mit ihren Plänen über die Verbindung von Produktion und Kunst miteinander. Der große Traum, wie er Dadaisten und Surrealisten vorschwebte, bestand indes in der allseitigen Verschmelzung von Kunst und Leben, wobei sowohl die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten als auch die zwischen den verschiedenen Lebensbereichen fallen sollten - Grenzen, die in der bürgerlichen Vorstellung bei allem Bestreben nach gegenseitiger Ergänzung und Harmonisierung der voneinander abgegrenzten Gebiete deutlich blieben und einer wesentlich anderen Auffassung über die Struktur der Gesellschaft und über die Rolle der Kunst in der so strukturierten Gesellschaft entsprachen. Nun sollte das Poetische von der Dichtung als besonderer Kunst und das Künstlerische überhaupt von allen besonderen Künsten gleichsam abgezogen und über die ganze Welt der Gegenstände und der Menschen ausgebreitet werden, um Gegenstände und Menschen anders zu formen und andere Beziehungen zwischen ihnen herzustellen als vorher. Unter diesen Umständen kann Kunst in verschiedenen Formen praktisch von allen Menschen betrieben werden, der seit der Renaissance ehrfurchtgebietende Geniebegriff wird verhöhnt und selbst die Annahme von „Talent" 63

über Bord geworfen. Wenn Kunst in der freien und spontanen Entfaltung der Kreativität des Einzelnen besteht, dann erübrigt sich das, wofür das Talent gut war, nämlich die Fähigkeit zur formalen Bearbeitung des künstlerischen Materials auf Grund von bestimmten Regeln. Der Angriff gegen Genie und Talent traf aber nicht nur die bürgerliche Kunstauffassung, sondern ebensosehr den zentralen bürgerlichen Individualitätsbegriff. Das Bürgertum hatte immer seine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Künstler und seiner echten oder vorgespielten Genialität, es befürchtete seine Unberechenbarkeit und bemühte sich, das Wilde an ihm durch die Institutionalisierung der Kunst zu zähmen. Dennoch war der geniale Künstler Fleisch von seinem Fleisch, hohe oder gar höchste Verkörperung jener Individualität, von der das bürgerliche Menschen- und Bildungsideal lebte. Auf dem Gebiet von Literatur und Kunst wurde indes nicht nur gegen die bürgerliche Synthese, sondern auch gegen den Bürger selbst als menschlichen Typus gekämpft. Diesem stellte man wiederum zwei ganz entgegengesetze Menschentypen gegenüber, die sich zueinander analog verhielten wie etwa Asthetizismus und Avantgardismus. Es handelt sich hier um den Dandy einerseits und den Bohemien andererseits. Während der Bürger, solange er noch gegen den Adel kämpfte, als Held einer Tragödie auf die Bühne treten konnte, wird er im Laufe des 19. Jh.s immer mehr zur Hauptperson einer teils burlesken, teils schmutzigen Komödie. Der Künstler und der Literat glauben jetzt zu wissen, welche Kräfte die bürgerliche Gesellschaft bewegen: hinter der Fassade des Moralismus und der gepflegten Umgangsformen toben die nackten Interessen und türmt sich die Macht des Geldes, alles ist käuflich und alles unterliegt dem rücksichtslosen Kalkül. Unter diesen Umständen bleibt der Bürger nur in seinem Selbstverständnis Bürger; in den Augen des Künstlers und des Literaten ist er entweder phantasieloser Philister, der bürgerliche Normen und Verhaltensregeln eng auslegt und ängstlich befolgt, oder vulgärer Bourgeois, der als Schöpfer und Vertreter einer geistlosen Zivilisation nur an sein materielles Interesse und an sein persönliches Wohl denkt. Das bürgerliche juste-milieu bedeutet daher in seiner praktischen Umsetzung Halbheit, Heuchelei, Mittelmäßigkeit und 64

Opportunismus, das Harmonisierungsbestreben bildet die Kehrseite der bürgerlichen Angst vor tragischen Spaltungen und vor der direkten Auseinandersetzung mit den scharfen Alternativen echten Lebens, der vielgepriesene nüchterne Realismus kommt der Unfähigkeit für große Ideen und der Moralismus der Borniertheit, wenn nicht der Scheinheiligkeit gleich. In dieser Welt des Philisters und des Bourgeois fühlt sich das sensible, in der Regel sogar übersensible Gemüt des Künstlers fremd, es verabscheut die Prosa des vulgärmaterialistischen Alltags, es langweilt sich und wendet sich dem Hedonismus zu oder es revoltiert und will die Herrschaft des Geldes durch Geist, Idealismus und kühne Taten brechen. Dem bürgerlichen Individualismus, der bei aller prinzipiellen Anerkennung der Unabhängigkeit des Individuums dessen Bindung an sozial geltende Normen und Zwecksetzungen sowie dessen konstruktive Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit für selbstverständlich erachtete, stellen nun Dandy und Bohemien einen viel radikaleren Individualismus entgegen, der in gewisser Hinsicht, wenn auch noch verzerrt, die späteren Selbstverwirklichungsideologien vorwegnimmt. Beide wollen durch die eigene Lebenshaltung und -weise den Gegensatz zur maßvollen und disziplinierten bürgerlichen Lebensführung anschaulich vor Augen führen, nur tun sie dies jeder auf seine Art, d. h. der erstere durch die äußerste Verfeinerung der Form, der letztere durch deren Zerstörung. Die Autonomisierung und die ausschließliche Pflege der Form durch den Dandy hing freilich mit dem ästhetizistischen Grundsatz von der Überlegenheit der Kunst gegenüber der Natur zusammen; gleichzeitig deutete aber das Absehen vom Inhalt auf Gleichgültigkeit gegen jede utilitaristische oder praktische Erwägung hin. Dem bürgerlichen Ernst wird somit das Spiel entgegengestellt, der Arbeit die Muße, dem sentimentalen Moralismus der ostentative Zynismus - dieser einerseits als Weigerung, sich für etwas Nützliches zu erwärmen, und andererseits als freche Erinnerung an die anderen, daß ein feiner Beobachter immer dabei ist, der Kraft der eigenen Illusionslosigkeit die Heuchelei der Konventionen und der Geschäfte auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit durchschaut. Dem bürgerlichen Wunsch nach Lebenslust und Gesund65

heit werden schließlich die Dekadenz und morbide Stimmungen (ennui, spleen) entgegengestellt, welche von feinerer und tieferer Sensibilität zeugen sollen. Anders als der Dandy bietet der Bohemien gegen das psychische Gleichgewicht und die Sachlichkeit des Bürgers keine Morbiditäten, sondern eine viel elementarere Lebenslust auf, die sich als freie Entfaltung der Phantasie und der Improvisationskunst bei der Gestaltung des Alltags, als Spontaneität und Nonchalance äußert. Damit geht das frohe, selbstbewußte Sichhinwegsetzen über Konventionen, gute Manieren und gute Erziehung einher, an deren Stelle, wenigstens im Idealfall, echte Herzlichkeit und treue, wenn auch unsentimentale Kameradschaft treten sollen. Der Typus des Bohemiens als Hauptvertreters des antibürgerlichen Habitus rückt seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s immer mehr in den Vordergrund, und zwar in dem Maße, wie sich die Gestalten der Unter- und Halbwelt, von der Dirne und Tänzerin bis zum Bohemien selbst, in den thematischen Kreis der Literatur und der bildenden Kunst Eintritt verschaffen oder sogar zu nachahmenswerten Vorbildern für ein ungezwungenes, offenes Leben erklärt werden. Ebenso vertraut wird allmählich innerhalb desselben Themenkreises die Atmosphäre des Café-chantant, des Bordells oder des Bahnhofs - allesamt Orte, die kulturell das gerade Gegenteil von dem symbolisierten, wofür die Oper oder das große Theater standen. Die frühe und rasche Verbreitung sowie die zunehmende Salonfähigkeit von Kulturgut, das ursprünglich in den unteren sozialen Schichten beheimatet war (Tango, Jazz etc.), bildete ein zusätzliches Zeichen für den Sieg des Bohemiens, der Halbwelt - und der Massengesellschaft über den Bürger. Nun können wir überblicken, wie diese Entwicklungen auf dem Gebiet von Literatur und Kunst zur Ablösung der bürgerlichen synthetisch-harmonisierenden Denkfigur durch eine analytischkombinatorische führten, die objektiv dem Denkstil und der Lebenswirklichkeit der Massengesellschaft und -demokratie entsprach. Die Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese durch Angriffe, die von verschiedenen, ja geradezu entgegengesetzten Seiten kamen, verwandelte alles, was vorher nur als organisiertes Ganzes gedacht werden konnte (Person, Geschichte, Natur), in Teile oder 66

Fragmente, die nicht mehr in notwendigen Beziehungen zueinander standen. Während in der bürgerlichen Harmonievorstellung der Teil immer Teil eines Ganzen war und von dieser Beziehung zum Ganzen lebte, welches seinerseits erst durch die Vielfalt und den Reichtum seiner Teile zum wahren Ganzen wurde, verselbständigen sich nun der Teil und das Fragment; eine Einzelheit, ein isoliertes Ereignis, ein Augenblick, ein Eindruck werden zu würdigen Gegenständen gründlicher Betrachtung, wobei man immer weniger nach dem notwendigen Einordnungsrahmen und immer mehr nach der ureigenen Tiefe und Bedeutung des jeweiligen Teils oder Fragments fragt oder wenigstens bei ihm verweilt, selbst wenn man den Verlust des Ganzen beklagt. Die Auflösung der bürgerlichen Normhierarchie, die auf die Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese folgen mußte, gestattete es zudem, daß Gegensätze, die früher als unüberbrückbar empfunden wurden (Gutes und Böses, Schönes und Häßliches, Rationales und Irrationales, Notwendiges und Zufälliges, Männliches und Weibliches etc.), nun als Sprosse aus derselben Einen Wurzel betrachtet werden konnten, wie es beim mythischen Gedanken des gemeinsamen Ursprungs aller Dinge der Fall ist; auf jeden Fall durften sie als gleichberechtigte Größen nebeneinander auf den Plan treten, deren jede sich gegebenenfalls in ihr Gegenteil verwandeln ließe. Sind aber die Bestandteile der Welt unabhängig voneinander und gleichzeitig zueinander prinzipiell gleichwertig, miteinander austauschbar und ineinander verwandelbar, so bedeutet die extreme Fragmentierung der Welt eo ipso Homogenisierung derselben. Der Mangel an Sinn ist Mangel an Kohärenz - Mangel an Kohärenz und Fragmentierung in gleichwertige und austauschbare Größen bedeuten aber unbegrenzte Kombinierbarkeit dieser letzteren miteinander, also beliebige Konstruierbarkeit der Welt. Wird nun das, was früher als Ganzes und Synthese erschien, einmal fragmentiert und zerstückelt, so muß es schließlich bewußt in Atome zerlegt werden. Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Fragmentierung und im Bewußtsein, keine Idee vom Ganzen im alten Sinne sei nunmehr haltbar, beginnt die Suche nach letzten Bestandteilen oder Bauelementen im Universum der Sprache und im Universum der Formen. Diese Suche oder Analyse 67

kommt an sich der Entscheidung gleich, die verbindliche Synthese durch die freie Kombinatorik zu ersetzen. Denn letztere ist erst auf der Basis von reinen und irreduzierbaren Elementen möglich, nur solche Elemente bürgen für die absolute Freiheit des Kombinierens gleich a limine. Je einfacher ein Element ist, desto freier läßt sich damit umgehen oder spielen, während das Zusammengesetzte als solches schon eine Struktur hat, also einen festen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen man sich bewegen muß, will man die vorgegebene Zusammensetzung oder Struktur nicht zerstören. Die bürgerliche Idee der harmonischen Synthese implizierte, daß die Komposition der Teile, die ihrerseits zusammengesetzt waren, auf Grund einer im voraus vorhandenen Leitvorstellung vom Ganzen erfolgen sollte; nun entscheidet das Spiel der freien Kombinatorik, wie jenes Ganze aussehen wird, das aus der Komposition der letzten Bauelemente entsteht. Nicht von ungefähr verband sich moderne Kunst von Anfang an mit der Forderung nach Reinheit der Künste, nämlich nach Reduktion jeder Kunst auf ein einziges entscheidendes Formelement, wobei bezeichnenderweise Wert auf die Beseitigung jener Elemente gelegt wurde, die der jeweiligen Kunst den Charakter einer Synthese im bürgerlichen Sinne verliehen. So wurde aus der Baukunst das Malerische, das Plastische und das Ornamentale verbannt, aus der Malerei das Plastische und das Tektonische ausgestoßen (das Bild wird zur reinen Fläche ohne Perspektive, schließlich verschwindet auch der Unterschied zwischen Oben und Unten), von der reinen Plastik das Malerische und Tektonische entfernt. Im nächsten Abschnitt werden uns entsprechende Phänomene aus dem Bereich der Literatursprache und der Sprachtheorie überhaupt beschäftigen. Hier müssen wir zunächst auf eine wichtige Folge dieser Suche nach dem Reinen bzw. nach letzten Bauelementen oder Atomen hinweisen. Diese sind offensichtlich nicht unmittelbar, d. h. durch die normale sinnliche Wahrnehmung erfahrbar, andernfalls würde sich ja die Suche nach ihnen erübrigen. Die empirisch vorgegebene Wirklichkeit kann übrigens den Gewohnheiten und Erwartungen des common sense nicht geradewegs widersprechen, und sie läßt sich nicht auf Grund beliebiger Kombinationen jeweils anders gestalten. Es muß also zwischen der Wirklichkeit der empirischen 68

Gegebenheiten und der ihr zugrundeliegenden nur gedanklich erfaßbaren Ebene unterschieden werden, auf der sich die reinen Formen bzw. die letzten Bauelemente oder Atome befinden. Nur diese Unterscheidung und das ständige Verweilen des Künstlers auf der genannten Ebene ermöglichen das Spiel der freien Kombination. In der Tat begründeten prominente Theoretiker und Praktiker moderner Kunst ihre Ablehnung-des bürgerlichen Realismus, der auf dem Grundsatz der Naturnachahmung beruhte, durch die Uberzeugung vom Vorhandensein jener gleichsam transzendenten und nur dem Auge des Intellekts zugänglichen Ebene. Aber selbst wenn solche Metaphysik fehlte, wurde dem Weltbild der alltäglichen Erfahrung und der darauf gegründeten Wissenschaft eine dynamische Wirklichkeitsauffassung entgegengehalten, die in den Dingen bloß vorläufige Verdichtungen von reiner Kraft und reiner Bewegung erblicken wollte. Wir werden hier Zeugen der Entstehung eines Intellektualismus oder gar Spiritualismus, der sich freilich mit den entsprechenden traditionellen philosophischen Richtungen nur zufällig kreuzt und in erster Linie von seinem Gegensatz zum bürgerlichen Empirismus des common sense her begriffen werden muß. Dieser Intellektualismus oder Spiritualismus wirkt sich selbst bei jenen Avantgardisten aus, die den Kult der Maschine betreiben. Denn die Maschine wird als reines Werk des Geistes betrachtet, der hier nicht anders als etwa auf dem Gebiet der Geometrie verfährt, d. h. an Hand von letzten Bauelementen Formen konstruiert, die von der Kontingenz und Asymmetrie des empirisch Gegebenen frei sind. So gesehen ist es kein Paradox, daß konstruktivistische Schulen, denen rein objektive, d. h. jeden Bezug auf menschliche Subjektivität entbehrende Strukturen vorschweben, neben Strömungen auf den Plan treten, die hauptsächlich die menschliche Subjektivität thematisieren. Denn genauso wie sich Strukturen durch Kombination irreduzierbarer Elemente oder Formen miteinander gestalten, so wird auch menschliche Subjektivität nunmehr nicht im bürgerlichen Sinne eines fest gegliederten Ensembles von verschiedenen, sich gegenseitig ergänzenden psychischen Kräften aufgefaßt, sondern als mehr oder weniger lockere Summe von Elementen, die sich ständig im Fluß befinden und in die verschieden-

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sten Beziehungen zueinander treten können, sich also fast beliebig miteinander kombinieren lassen. Vor allem das Unbewußte erscheint als unerschöpfliches Reservoir solcher Elemente, die sich in der freien Assoziation oder im Traum auf eine jeweils neue und überraschende Weise miteinander verbinden und eine unendliche Mannigfaltigkeit von Gestalten ins Leben rufen. Nun kann diese Verbindung entweder passiv in dem Sinne sein, daß sie das Ergebnis der geheimen Arbeit des Unbewußten ohne lenkende Mitwirkung des Bewußtseins bildet, oder aber aktiv, wenn der Intellekt des Künstlers eine Analyse und zugleich eine Rekonstruktion des vom Unbewußten zur Verfügung gestellten Materials unternimmt, um die möglichen Strukturen der Psyche oder die möglichen Strukturen der Gegenstände in den möglichen Perspektiven der Psyche darzustellen. Die spontane Zuversicht in die zufällige oder unberechenbare, aber ästhetisch effektvolle Verbindung von letzten Elementen miteinander impliziert den Glauben an die Fähigkeit des Geistes, allem einen Sinn zu geben und alles zum Ausdrucksmittel von sich selbst zu machen; in ihrer Dekomposition und freier Rekonstruktion mittels der ureigenen Dynamik der Psyche wird somit die innere und äußere Welt zum Organ des Künstlers, ohne daß dieser gezwungen wire, den Regeln bürgerlicher Rationalität Rechnung zu tragen. Der Subjektivismus moderner Kunst hat also eine doppelte Bedeutung: einerseits bedeutet er den Vorrang der Subjektivität als des Bereichs, in dem sich alles in ständigem Fluß befindet und unablässig neue Kombinationen der vorhandenen Elemente oder psychischen Atome Zustandekommen; andererseits ist er aber mit dem oben erläuterten Intellektualismus oder Spiritualismus identisch, und dann bedeutet er die Allmacht des kombinierenden Subjekts, unabhängig davon, ob die freie Kombinatorik auf dem Gebiet menschlicher Subjektivität oder etwa im Reich reiner Formen und reiner Farben ihre Künste entfaltet. Der Subjektivismus in diesem letzteren Sinne wird umso uneingeschränkter, je mehr sich die verbindlichen Normen des bürgerlichen Kanons auflösen. In dem Maße, wie die Kunst aufhört, Nachahmung der Natur zu sein und dem entsprechenden Harmonieideal an Hand der entsprechenden stilistischen Mittel zu dienen, wird der Künstler 70

zum Demiurgen. Die Kunst schafft die Welt bzw. ihre eigene Welt oder wenigstens setzt sie durch die Schaffung eines Kunstwerkes etwas ganz Neues und Ursprüngliches in die Welt - und dies erfolgt wiederum auf eine Art und Weise, die dem Verfahren, welches bei der künstlerischen Darstellung des Naturideals angewandt wurde, diametral entgegengessetzt ist: die freie Kombination tritt an die Stelle der auf festen Regeln beruhenden Synthese. Die Beschaffenheit und die Tätigkeit des kombinierenden Subjekts wird nun zum Thema ersten Ranges und stellt oft den Gegenstand oder das Produkt dieser Tätigkeit in den Schatten, d. h. das Kunstwerk wird immer mehr zum Anlaß, die theoretischen und technischen Probleme künstlerischen Schaffens zu stellen und zu lösen. Dieses Schaffen wird selbst zunehmend zum Thema des Kunstwerkes, das fortab nicht in alter Manier vollendet werden muß, sondern als Torso oder als Entwurf - also in einem Zustand, der den Vorgang seiner Erschaffung bloßlegt - dem Publikum vorgestellt werden darf: wird die Tätigkeit des Künstlers zum Thema der Kunst, so stellen auch die Bruchstücke bzw. die Phasen dieser Tätigkeit Kunstwerke dar. Die Allmacht des kombinierenden Subjekts und die damit zusammenhängende vorrangige Thematisierung künstlerischer Tätigkeit erklären die große Menge kunsttheoretischer und ästhetischer Texte, die seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s von Künstlern und Literaten produziert wurden. Hierin spiegelt sich das neue Bewußtsein wider, die Anzahl der möglichen Kombinationen sei grundsätzlich unbegrenzt, wobei jeder souveräne Kombinator unabhängig von den anderen die Regeln aufstellen will, nach denen er die letzten Bauelemente in seinem eigenen Tätigkeitsbereich miteinander zu kombinieren gedenkt. Wir werden nun erläutern, wie sich die allgemeinen Tendenzen, die in diesem Abschnitt umrissen wurden, auf den einzelnen Gebieten der Literatur und der Kunst artikuliert und konkretisiert haben. Zugleich wollen wir zeigen, daß und wie auf jedem dieser Gebiete die Ablösung der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur durch die analytisch-kombinatorische den neuen Vorrang der Größe „Raum" vor der Größe „Zeit" teils gezeitigt, teils begleitet hat. Die Voraussetzung dafür entstand schon durch die Zertrüm71

merung der bürgerlichen Synthese und die Fragmentierung der Welt, woraus schließlich die Vorstellung von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der einzelnen Fragmente oder Atome hervorgehen mußte. Durch diese Vorstellung wurde der Raum, innerhalb dessen sich diese Atome bewegten, durchweg homogenisiert und zugleich die Rolle der Zeit minimalisiert, da die genannten Atome oder letzten Bausteine in ihrer ursprünglichen und ureigenen gleichsam zeitlosen Form vom Kombinator verwendet, während die Bestandteile der bürgerlichen Synthese als reife Früchte der geschichtlichen Zeit oder zumindest der zur Geschichte und Kultur gewordenen Natur aufgefaßt wurden. Der Vorrang des Raumfaktors in der analytisch-kombinatorischen Denkfigur war aber auch aus anderen Gründen bedingt, die im Laufe der folgenden Analyse ans Licht kommen werden.

b. Die einzelnen Gebiete Es wäre eine äußerst schwierige und zugleich undankbare Aufgabe, sich mit der Frage zu befassen, auf welchem Gebiet der literarisch-künstlerischen Tätigkeit die Ablösung der synthetischharmonisierenden Denkfigur durch die analytisch-kombinatorische zuerst stattfand. Sollte es sich erweisen, daß sie sich auf allen Gebieten auf Grund ähnlicher Motive und Vorstellungen vollzog, so ist die genannte Frage strukturell belanglos; in historischer Hinsicht bleibt sie wiederum deswegen dornig, weil die Entwicklung, von der wir hier reden, in erstaunlich kurzer Zeit alle relevanten Gebiete erfaßte, wobei das Bewußtsein von ihrer Einheitlichkeit vielfach in der Forderung zum Ausdruck kam, einige oder alle Künste nach demselben Muster umzugestalten. Auf allen Gebieten der modernen Literatur und Kunst ist jedenfalls die Abwendung von der bürgerlichen Synthese zunächst als analytische Suche nach reinen Formen und letzten Bauelementen zutage getreten - eine Suche, die ihrerseits so betrieben wurde, daß sie auch eine inhaltliche Infragestellung der bürgerlichen Weltanschauung nach sich ziehen mußte. So ging schon seit den Anfängen moderner Lyrik das Ideal der reinen Dichtung oder der Dichtung als rei72

ner Sprache mit einer Demontierung jenes Weltbildes einher, das die bürgerliche Rationalität konstruiert hatte. Die bürgerliche Dichtung konnte zwar, und manchmal mußte sie auch, die Sprache thematisieren, nicht aber in ihrer Reinheit, sondern immer als Mittel, um Sinn ästhetisch anspruchsvoll auszudrücken. Daher wurden auch die sprachlichen Konventionen, wie sie von der (gebildeten Schicht der) Gesellschaft festgelegt und anerkannt wurden, weitgehend respektiert; der Dichter durfte sie gegebenenfalls nur in dem Maße brechen, wie dies nötig erschien, um den ästhetischen Effekt zu steigern, nie aber auf eine solche Art und Weise, daß er dadurch bloß Verwunderung und Befremden beim (gebildeten) Leser hätte hervorrufen können. Die Sprache war m.a.W. organisierter Träger von organisiertem Sinn, und durch sie sprachen wiederum die Träger dieses Sinnes, d. h. die Natur und der Mensch, wobei das ästhetische Gebot, sprachliche Form und sinnhaften Inhalt harmonisch miteinander zu verbinden, derselben synthetischen Harmonievorstellung entsprang wie der weltanschauliche und ethische Wunsch nach Zusammenwirken von Geist (Norm oder Sinn) und Materie oder Vernunft und Trieb auf der Ebene der Natur und des Menschen. Nur durch seine Loslösung vom Sinn (in dieser spezifischen und multidimensionalen bürgerlichen Bedeutung des Wortes) vermag der moderne Dichter, die Reinheit von Sprache und Dichtung jenseits sozialer Konventionen und Verständigungszwänge zum ästhetischen Ideal zu erklären. Sinn überhaupt fällt nunmehr mit dem Sinn der Sprache als solcher zusammen, und da sich dieser letztere vom bürgerlich verstandenen Sinn radikal unterscheidet, so kommt es dazu, daß die Sprache, wenn sie zum einzigen Sinn erklärt wird, nur das ausdrücken kann, was nach bürgerlichem Maßstab sinnlos ist. Die reine Sprache kann also auch aus einer Zerstückelung jener Sprache hervorgehen, die der Träger von bürgerlich verstandenem Sinn war, und ihr entspricht eine bruchstückhafte Wirklichkeit oder auch keine. Der Wirklichkeitsbezug ist kein Kriterium mehr für den Sinn der Sprache, sondern vielmehr etwas, das der Leser im Hinterkopf behalten muß, um den Abstand zu ermessen, der die Sprache des Gedichts von der empirisch gegebenen Welt trennt, und dadurch den angestrebten ästhetischen Effekt besser 73

einschätzen zu können. Sonst ergibt sich der Sinn der Sprache aus ihrer eigenen Bewegung und Dynamik, kraft deren sich die Gegenstände in Sprache verwandeln oder vielmehr durch die Sprache aufgesaugt werden; dann läßt sich das Universum der Sprache vom Universum der Dinge nicht mehr unterscheiden, die Sprache der Dichtung bildet eine Welt, die die Welt sein will. Wird die Dichtung zur Sprache und die Sprache zur Welt, so wird Sprache auch zum zentralen Thema der Dichtung. Der Gebrauch der Sprache in der Dichtung verkörpert eine Reflexion über diesen selben Gebrauch, und die Entscheidung über diesen Gebrauch fällt mit der Entscheidung über die Konstitution der Welt zusammen. Je konsequenter die Auflösung der bürgerlichen Synthese und des harmonisch gegliederten Weltbildes betrieben wird, umso unerbittlicher wird die frühere Sinnhaftigkeit der Sprache zertrümmert. Der völlige Verzicht auf Substanz, d. h. auf Ich- und Dingbezug führt zum Sprachspiel als bloßer Klangkombination, zum bruitistischen oder zum abstrakten phonetischen Gedicht. Aber nicht solche avantgardistischen Extravaganzen haben die Physiognomie moderner Dichtung maßgeblich geprägt, sondern jene Entwicklung, die mit der Durchsetzung des vers libre einen ersten Höhepunkt erreichte und die dadurch eingeleitete Lockerung der Syntax in der vollständigen Autonomisierung des Wortes gipfeln ließ. Der vers libre ermöglichte eine ungehinderte und grundsätzlich unendliche Aufnahme von Motiven ins Gedicht, was die frühere Geschlossenheit der Form nicht zuließ, die in ihrer Verbindlichkeit z.T. den Inhalt des Gedichts bedingte. Der entgrenzte Vers bzw. Satz förderte die Loslösung vom Dingbezug und zugleich die Entfesselung der Dynamik der Sprache, also die Aufwertung und Autonomisierung des sprachlichen Faktors. Nunmehr konnte sich die Phantasie als Kalkül betätigen und die eigene Welt viel freier als in jener Zeit gestalten, als Ich- bzw. Dingbezug und Geschlossenheit der Form ihr spürbare Grenzen setzten. Der Traum und die freie Assoziation werden immer mehr zur Materie und zugleich zum Muster des Gedichts, und entsprechend ändert sich die Bildtechnik: räumliche und zeitliche Zusammenhänge verlieren ihre Umrisse und ihre Verbindlichkeit, sie vermischen sich beliebig mit den Dingen, die ihrerseits in unabge74

schlossenen oder lückenhaften Reihen nebeneinander angeordnet werden. Die dadurch bewirkte Lockerung der Syntax endete bei der bloßen Anreihung von bruchstückhaften und deformierten Sätzen. Durch die Autonomisierung des einzelnen Wortes wurden die Fesseln der Syntax endgültig abgeschüttelt. Nicht alle gingen soweit, die Abschaffung der Deklination, der Konjugation, des Adjektivs, des Adverbs und der Zeichensetzung zu fordern, wie etwa die Futuristen es taten, dennoch wurde nunmehr das Wort in erster Linie als Wort und nicht etwa als Substantiv, Verb oder Adjektiv betrachtet. Solange Wörter primär von ihrer Wortart her verstanden wurden, wurden sie automatisch in einen von vornherein feststehenden Sinnzusammenhang eingeordnet und konnten nicht beliebig miteinander kombiniert werden. Die Möglichkeit der Loslösung des Wortes von seiner Wortart gestattet das Aneinanderreihen von Wörtern, die weder grammatisch noch logisch zueinander passen; das Wort verliert also seinen Sinn, wie dieser früher verstanden wurde, und wird zum ästhetischen Element und frei verwendbaren Material. Es handelt sich nicht mehr um Beziehungen zwischen Bedeutungen, sondern es kommt vornehmlich auf die Beziehungen zwischen Wörtern an. Sprache, Logik und Ordnung der Gegenstände in der Welt entsprechen nicht mehr einander; die Summe der Wörter, die das Gedicht ausmachen, muß also nicht nach Regeln angeordnet sein, die eine offensichtliche Parallelität zur Ordnung der Logik oder der Dinge gewährleisten würden. Die Einheit des Textes tritt somit an die Stelle der Einheit der Welt. Dieser nach außen selbstgenügsame Text ist aber innerlich gespalten und bruchstückhaft, er bedient sich einer elliptischen Sprache, in der das Objekt oder das Subjekt eines Satzes weggelassen, die Sätze selbst abgebrochen, Namen ohne Verben aneinandergereiht, Wörter nur um einer etymologischen Anspielung willen verwendet, Nebensätze ohne Bezug auf Hauptsätze konstruiert und gegenständliche mit affektiven Aussagen absichtlich vermischt werden können. Die Auflösung der festen Bezugssysteme des bürgerlichen Weltbildes zeigt sich nicht zuletzt am Gebrauch von dingfremden Adjektiven, die auf keine sinnliche Erfahrung, wohl aber auf die Absicht zurückgehen, das We75

sen eines Dinges durch eine überraschende Verbindung mit einem ihm fremden Attribut tiefer zu beleuchten, als Erfahrung und Logik es tun könnten. Freilich, unter diesen Umständen ändert sich der Begriff vom guten literarischen Stil gänzlich. Geht es nicht mehr um die Organisation des Gedichts um die soliden Achsen von Form und Inhalt, Sinn und Materie, Ganzem und Teil, so kann auch Stil nicht im geglückten Einsatz jener sprachlichen Mittel bestehen, die für die genannte Organisation am zweckmäßigsten erschienen; er ist weniger die souveräne Ausgewogenheit bei völliger Beherrschung des Stoffes und mehr eine Explosion oder eine Reihe von Explosionen auf verschiedenen aufeinanderfolgenden Ebenen, er ist Bruch und plötzliche, aber vollständige Epiphanie eines Absoluten in jedem einzelnen Bestandteil des Gedichts als Produkt eigener erlebter Intensität. Der ästhetische Effekt wird nicht durch Geschmeidigkeit der Sprache und dekorative Elemente, sondern durch einen reißenden Fluß von Bildern und durch kühne Metaphern, Analogien oder Vergleiche erreicht, die scheinbar weit auseinanderliegende Dinge, Qualitäten oder Bedeutungen miteinander verbinden. Dies alles soll heißen: die Dichtung hat aufgehört, eine synthetische Kunst im bürgerlichen Sinne zu sein, und hat sich in eine Kombinatorik verwandelt. Kombiniert miteinander werden letzte Bauelemente, die für sich und in absoluter Isolierung von allen anderen bestehen können, gerade deshalb aber grundsätzlich gleichwertig sind, sich also auf derselben Fläche befinden und sich fast beliebig auswechseln lassen; nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze Verse können ihren Platz im Gedicht miteinander tauschen, was in der früheren Dichtung absolut unmöglich war. Die für die analytisch-kombinatorische Denkfigur grundlegende Konstellation - d. h. das Nebeneinander von an sich isolierten letzten Elementen auf einer einzigen Fläche - bedingt hier die Durchsetzung des analytischen Prinzips der einfachen Reihung, die den Platzaustausch ermöglicht, gegenüber dem synthetischen Prinzip der hierarchischen Gliederung, innerhalb deren der Platz jedes Bestandteils festgeschrieben ist. Diese Umgestaltung der Dichtung auf analytisch-kombinatorischer Grundlage verschmolz mit zwei Vorgängen, von denen wir bereits gesprochen haben. Erstens 76

hat die Autonomisierung des sprachlichen Faktors oder die Gleichgültigkeit der reinen Sprache gegen den Dingbezug und gegen die Bedeutung schon deshalb die Kombinatorik kräftig gefördert, weil das, was vorher die Wörter und die Sätze unbeweglich und unaustauschbar machte, eben ihre Bindung an einen Inhalt und an eine Bedeutung bzw. die Rücksicht auf die Entsprechung zur realen Welt war; dies ist der Grund, warum die moderne Lyrik den Sieg über die epische Dichtung, die wesensgemäß objektiv eingestellt war, endgültig davontrug. Die Auflösung der bürgerlichen synthetischen Einheit von Form und Inhalt und die Voranstellung der Form oder der Sprache war eben Voranstellung jenes Elements, das nach Belieben zerstückelt und rekonstruiert werden kann. Zweitens erweiterte sich das Gebiet des Kombinierbaren durch die bewußt antibürgerliche Einbeziehung des Trivialen, Häßlichen, Schrecklichen etc. in die Thematik der Dichtung, was auch den komplementären Effekt hatte, daß dadurch Werthierarchien nivelliert wurden, die der freien Kombination von allem mit allem im Wege standen. Gegenüber diesem breiten vereinheitlichten und homogenisierten Feld steht nun der Dichter als der souveräne Kombinator, der über die auf diesem Feld liegenden letzten Bauelemente frei verfügen kann. In dieser seiner Eigenschaft operiert er als organisierende Intelligenz mit mathematischer Kühle und nüchterner Distanz, er behandelt auch die eigenen Erlebnisse und das eigene (bleibende) Ich wie jedes andere Bauelement seiner Kunst. Zwischen dem poetischen und dem empirisch-persönlichen Ich des Dichters verläuft also eine mehr oder weniger klare Linie, wobei ersteres das letztere zum Thema macht. Nur das empirische Ich oder die private Existenz des Dichters darf unter jener Auflösung oder Zerstückelung leiden, von der die Auflösung der (alten) Form und die Zerstückelung des (alten) Inhalts im Gedicht zeugen. Die Aufgabe des poetischen Ichs besteht im Gegenteil darin, Auflösung und Zerstückelung mit sprachlichen Mitteln derart zu organisieren, daß daraus der adäquate ästhetische Effekt hervorgehen kann. Die Sprache moderner Lyrik hat die Sprache wichtiger Vertreter des modernen Romans beeinflußt, was mit innerer Notwendigkeit geschah: denn bei diesen letzteren wurde die Autonomisie77

rung der Sprache aus denselben Motiven und in derselben Absicht wie bei den Lyrikern betrieben. Aber im Bereich des modernen Romans, wenn man ihn in seiner Gesamtheit überblickt, blieb eine Zweideutigkeit bestehen, die in der Lyrik entweder verschwand oder eine viel kleinere Rolle spielte, nachdem sich der freie Vers endgültig durchsetzte. Die Prosadichter konnten sich nämlich von den traditionellen Formen und stilistischen Mitteln weniger und nicht mehrheitlich lösen (inwiefern dies an der Natur von Prosa und Lyrik liegt, mag hier dahingestellt bleiben) und daher kam es zur scheinbaren Paradoxie, daß die inhaltliche Auflösung der bürgerlichen Synthese im modernen Roman durch sprachliche und stilistische Mittel erfolgte, die zu den besten Leistungen des bürgerlichen Romans gehörten. Hier müssen wir also zwischen der inhaltlichen und der formalen Zertrümmerung des bürgerlichen Kanons unterscheiden. Die erwähnte Beeinflussung der Sprache des modernen Romans durch die Sprache der modernen Lyrik war eine Folge dieser letzteren. Wir fangen indes bei der ersteren an, die nicht zuletzt durch den frontalen Angriff gegen das bürgerliche Menschenbild und Persönlichkeitsideal zustandekam. Wir wissen (Kap. II, Absch. 2), daß dieses Ideal zwei Grundaspekte hatte: einerseits sollte die Persönlichkeit in ihrer Weise die Synthese von Vernunft und Trieb oder Natur und Kultur verwirklichen und verkörpern, andererseits ihre Individualität objektivieren, d.h. im gesellschaftlichen Rahmen und in Ubereinstimmung mit überindividuellen Normen und Werten entfalten. Alle beiden Aspekte standen vor dem Hintergrund des humanistischen Bildungsideals und beide zusammen prägten weitgehend den Charakter des bürgerlichen Romans par excellence, d. h. des Bildungsromans. Dieser beruhte auf der Annahme, daß die (literarisch interessante) Person eine feste Substanz besitzt, die zunächst als Anlage vorhanden ist und eine Entwicklung durchmachen muß, um ihre Potenzialitäten aktualisieren und sich selbst erkennen zu können; die Entwicklung schien also zur Herausbildung einer allseitigen Persönlichkeit unentbehrlich zu sein, aber gleichzeitig war sie Entwicklung eines ursprünglich existierenden substanziellen Kerns. Sie konnte, ja mußte konflikt- und widerspruchsreich sein, Konflikte und Widersprüche dienten indes schließlich dazu, die 78

endliche Synthese gehaltvoll zu machen. Denn die Entwicklung mußte zur Synthese führen, sie vollzog sich zwar unter Umständen, die sich nicht immer vorhersehen oder kontrollieren ließen, doch war der Held wenigstens im Idealfall in der Lage, sie gemäß seinen eigenen höheren Zielen und seinem eigenen Selbstverwirklichungsideal zu verwerten oder auch zu gestalten. In seiner ständigen Auseinandersetzung mit den objektiven Umständen seiner Entwicklung objektivierte er seine Entwicklung, er verlor sich also nicht im Labyrinth seiner privaten Erlebnisse und Monologe - und ebensowenig verlor sich der Bildungsroman im bloß Psychologischen. Natürlich enthielt er eine wesentliche psychologische Komponente, zumal er in gewissen Hinsichten den bürgerlichen sentimentalen Roman des 18. Jh.s fortsetzte, der eigentliche psychologische Roman gedieh aber erst in einer späteren Phase der Geschichte des Genres, als es nicht mehr um die Bildung, sondern um die Auflösung der bürgerlichen Person ging. Im Gegenteil verbindet sich der Bildungsroman vom allgemeinen Konzept her mit anderen typischen Produkten bürgerlichen Geistes, wie etwa mit den Biographien großer Individuen. Denn in beiden Fällen wird die Einordnung der Person in ein bestimmtes Milieu bewußt unternommen und im einzelnen geschildert, und außerdem bleibt die Zeit bestimmender Faktor der Weltwahrnehmung. Entsprechend den beiden Aspekten des bürgerlichen Persönlichkeitsideals war der Bildungsroman anthropozentrisch und realistisch. Es wundert also nicht, daß verschiedene Richtungen der Avantgarde einerseits die Eliminierung des Ichs und seiner Probleme aus der Literatur, andererseits die Zerschlagung der festen Umrisse des realistischen Romans ausdrücklich forderten. Beide Forderungen wurden früher oder später, mehr oder weniger erfüllt, noch vor ihrer Erfüllung oder parallel zu ihr wurde aber an Hand verschiedener, d. h. sowohl traditioneller als auch moderner stilistischer Mittel die (implizite) Grundannahme des Bildungsromans bekämpft, die Person verfüge über eine feste Substanz und sei auf der Basis derselben zu einer rationalen, an Normen orientierten Entwicklung fähig. Um genauer zu sein, muß man sagen, daß die Entwicklungsfähigkeit der Person früher bestritten wurde als ihre Substanzialität - bei Ausklammerung der Entwicklungsfähigkeit 79

wurde aber für die Substanz der Person etwas ganz anderes als das gehalten, was die Entwicklung des Charakters im Sinne des Bildungsromans trug. Die große Infragestellung des bürgerlichen Menschenbildes in der Literatur beginnt mit der naturalistischen Schilderung der fatalen Herrschaft von blinden Trieben und Leidenschaften über die Vernunft des Menschen. Entgegen dem bürgerlichen Versuch, den Menschen als Natur und zugleich als Herren über die (eigene) Natur aufzufassen, geht er hier ganz in der Natur auf. Und diesmal handelt es sich nicht mehr um jene normativ gedeutete Natur, die sich willig von der Vernunft leiten ließ, sondern um eine Natur, die als elementarer Instinkt in den tiefsten Schichten des Fleisches sitzt und früher oder später jeden Widerstand der Vernunft bricht. Der Mensch erscheint als Sklave von Mächten, die einem unentrinnbaren Schicksal gleichkommen, sein Bewußtsein wird zum Spielzeug oder gar zum Instrument in den Händen seines Unbewußten, das es vor allem nach zweierlei dürstet: nach Macht (als Herrschaft, als Ruhm oder als Reichtum) und nach Sexualität. In ihrer Isolierung von jeder anderen Rücksicht müssen diese beiden Ziele das Gleichgewicht von Vernunft und Trieb, von Kultur und Natur zerstören, wobei insbesondere die ungehemmte Sexualität spezifisch bürgerliche Konventionen und Institutionen (Familie) zu sprengen droht. Die antibürgerliche Spitze dieses Menschenbildes zeigt sich noch deutlicher, wenn etwa die wilde Entfesselung der Sexualität nicht als Versklavung des vernünftigen Teiles des Menschen bedauert, sondern als Befreiung des ganzen oder des „wahren" Menschen gefeiert und eine Mystik des Fleisches propagiert wird, die den sexuellen Akt als erlösende Wiedertaufe des Einzelnen in den echten Lebensquellen hinstellt. Im positiven Lichte erscheint die Aufwertung des Unbewußten und Irrationalen auch in den Fällen, in denen den unfruchtbaren Hemmungen der Vernunft die befreiende Wirkung des Traums und der Phantasie entgegengestellt wird. Sind die eigentlichen Mechanismen menschlichen Denkens überhaupt im Traum zu finden, so kann keine Vernunft existieren, die den Mächten des Instinkts die Stirn bieten könnte, die Bestrebungen normativer Vernunft sind also in Wirklichkeit überflüssige Schattengefechte. 80

Innerhalb der bürgerlichen Synthese sollte die Herrschaft der Vernunft im Menschen die Brücke zwischen Natur und Kultur schlagen und somit die Persönlichkeit bzw. die Individualität im sozialen und kulturellen Rahmen objektivieren. Die Herrschaft des Instinktiven oder Irrationalen mußte daher das Gegenteil bewirken, d. h. sie löste den Einzelnen vom sozialen und kulturellen Zusammenhang los und warf ihn in die dunklen Regionen seiner Existenz zurück, in denen er im Grunde nur allein sein konnte. Aber nicht weniger einsam ist ein ganz anderer antibürgerlicher Typ, der im Roman des 20. Jh.s oft auftaucht. Dieser gehorcht den souveränen Entscheidungen seines Geistes und kann alle Entbehrungen und Opfer auf sich nehmen, um gemäß den eigenen Entscheidungen zu handeln. Das, wofür er sich entscheidet, ist dennoch die pure Aktion, die ihn vom erstickend engen Horizont, von der Mittelmäßigkeit und den feigen Kompromissen des bürgerlichen Lebens befreien soll, er ist der Aktionist, der Desperado, der um des Kampfes willen kämpft. Gewiß, dieser Kampf steht notgedrungen immer im Dienste einer Sache, aber nicht die Sache an sich berauscht ihn, sondern das Gefühl, es gebe etwas, wofür gekämpft werden kann. Die Ziele der puren Aktion erscheinen somit austauschbar; derselbe Aktivist kann gegebenenfalls für entgegengesetzte Ziele kämpfen oder aber es stehen sich Aktivisten, die menschlich vom selben Schlage sind, als Feinde gegenüber, wobei sie wissen, daß das, was sie miteinander verbindet, stärker ist als das, was sie aufeinander zu schießen zwingt. Die Norm, der Wert oder die Vernunft unterwerfen sich der Logik der puren Aktion, und deshalb kann der Vorrang des Geistigen bei der puren Aktion nicht im bürgerlichen Sinne der Bändigung oder Kanalisierung der Triebe durch Vernunft aufgefaßt werden. Vielmehr ist der Geist, der sich für die pure Aktion entscheidet und sich in ihr betätigt, pure Aktion selbst, er ist nämlich selbst ein Trieb und daher aus bürgerlicher Sicht ebenso irrational oder blind wie etwa der auf sich allein gestellte sexuelle Instinkt. In den beiden geschilderten Fällen kann noch immer von einer Substanz des Menschen gesprochen werden, obwohl diese keine normativen Anlagen mehr enthält und daher keiner Entwicklung im Sinne des Bildungsromans fähig ist. In Frage kommt hier nur 81

eine äußere Entwicklung, die oft bei der (Selbst)Zerstörung des so definierten menschlichen Subjekts endet. Der nächste und letzte Schritt auf dem Wege zur Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese erfolgt, wenn sich die wie auch immer definierte Substanz des Ichs in eine Vielfalt von Funktionen auflöst, die herumirren und vergeblich nach einem festen Orientierungspunkt suchen. Diese Auflösung hat verschiedene, milde, starke und extreme Formen angenommen. Sie kann bei der unaufhörlichen Introspektion und der selbstquälerischen Selbstanalyse beginnen, beim bohrenden Fragen nach der eigenen wahren Motivation und der Aufrichtigkeit der eigenen Handlungen - beim Selbstzerfleischen also, das schließlich in eine Sackgasse führt, indem die beharrliche Beschäftigung mit immer engeren Winkeln der eigenen Psyche die zunehmende Verengung des Horizonts bewirkt. Das ist keine souveräne Selbsterkenntnis, die den Werdegang einer allseitigen Persönlichkeit begleitet und krönt, sondern es entartet in eine Monomanie und bedeutet eben den Verzicht auf Universalität und auf konstruktive Entfaltung der eigenen Anlagen. Die Auflösung des Ichs schreitet fort, wenn sich dieses nicht einmal um den Pol der Selbstzerfleischung zusammenhalten läßt. Dann bildet es bloß einen ständig unterbrochenen und ständig weiterfließenden Strom aus Wahrnehmungen und Eindrücken, der aber kein Flußbett und keine erkennbare Richtung hat; insofern diese flüssige Masse überhaupt noch als Ich existiert, nimmt sie die Form des Gefäßes an, in dem sie sich jeweils befindet, m.a.W. das Ich existiert nur als Produkt einer vorübergehenden Konstellation oder eben als Produkt des augenblicklichen Glaubens an die Existenz eines Ichs. Ein festes Identitätsgefühl kann sich kaum herausbilden, das Ich fühlt sich ständig wie ein anderer und hört schließlich auf, nach Vermittlungen und Versöhnungen zwischen seinen verschiedenen Identitäten zu suchen; es handelt bloß auf Grund der gerade vorherrschenden Impulse, wobei sein inneres Leben zersplittert und diese Zersplitterung dann auf die äußere Welt übertragen wird. Zersplittertes Ich und zersplitterte Welt können sich nun offensichtlich nur auf eine höchst widersprüchliche und unberechenbare Art und Weise begegnen und kreuzen - jedenfalls tritt nicht mehr die Lage ein, in der ein ganzer Mensch, wie 82

etwa der tragische Held, der Welt unbeugsam gegenübersteht und dabei weiß, was ihn mit ihr verbindet und was ihn von ihr trennt. Da die Person keine feste Substanz besitzt, sondern aus Relationen besteht, wandelt sie sich unablässig je nach dem Charakter und den Peripetien ihrer Beziehungen zu den anderen; sie trägt jeweils andere Masken, mit denen sie sich jedesmal identifiziert, und da sie bloß die Summe ihrer eigenen Masken ist, kann sie weder in sich einig sein noch die anderen von ihrer Einheitlichkeit überzeugen. Es gähnt immer eine Kluft zwischen der jeweiligen Selbsteinschätzung der Person und der Meinung, die die anderen über diese oder über jene Maske von ihr haben, und der einzige Weg, den daraus unablässig entstehenden Schwierigkeiten zu entgehen, ist die Schaffung von immer neuen Masken und die Flucht in immer neue Rollen. Schließlich kommt es dazu, daß Wirklichkeit nur in der Perspektive von Subjekten existiert, die selber nicht wissen, aus welchen Motiven heraus sie die Wirklichkeit so und nicht anders sehen und aus welchen Gründen sie so und nicht anders handeln oder handeln sollten. Die Auflösung des substanziellen Kerns der Person in veränderliche Funktionen endet bei der Eliminierung der Person als Person. Dann erscheint das, was früher Person war, als bloßer Punkt, der sich entlang einer Linie bewegt, welche sich ihrerseits ohne zwingenden Grund mit anderen solchen Linien schneidet. Von innen betrachtet bleibt weiterhin der Punkt, der die Person vertritt, mit Träumen, mythischen oder sexuellen Assoziationen, Phantasien oder Neurosen beladen, maßgeblich ist aber nun die Betrachtung von außen, welche zeigt, daß derart geladene, also aufgelöste Personen nur bloße Punkte darstellen können, wenn man sie nicht einzeln, sondern in der Gesamtheit ihrer Beziehungen zueinander sieht. Die Gesellschaft der innerlich aufgelösten Personen kommt dann dem Beobachter wie ein Haufen von Ameisen vor, die sich nach verschiedenen Richtungen bewegen und dabei verschiedene Konstellationen und Kombinationen zustandebringen. Erreicht die individual-psychologische Analyse durch die Feststellung von der Auflösung der Person ihren Abschluß, so folgt auf sie - sobald sich die Frage nach der Gesellschaft stellt, die solche Personen ausmachen - keine Sozialpsy83

chologie, sondern eine abstrakte Strukturlehre, die von der Gesamtheit der Beziehungen zwischen den in Punkte verwandelten Personen handelt. Anders gewendet: die innerlich aufgelöste Person ist als Mitglied einer Gesellschaft nur ein schwacher, identitätsloser und anonymer Punkt, der in der Farblosigkeit und Anonymität von unpersönlichen Strukturen aufgeht, wobei die individuellen Züge der Person auf bloße Zeichen reduziert werden. Die innere Auflösung der Person schlägt in die Atomisierung des sozialen Lebens um - und dann kommt der Augenblick, in dem sich die aufgelöste Person als bloßer Punkt oder als Spielzeug in den Händen von unkontrollierbaren und undurchschaubaren Mächten fühlt. Uber einer chaotischen Psyche kann nur eine dunkle und drückende Autorität stehen, die deshalb unangreifbar ist, weil sie nichts anderes darstellt, als jene anonymen Strukturen, die die Personen zusammenhalten, nachdem sich diese als soziale Existenzen in Punkte oder Atome verwandelt haben. Die Reduktion der Person auf eine irrationale Substanz sowie ihre Auflösung bildeten vielleicht den spektakulärsten Akt bei der Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese. Denn in dieser stand die Person als Persönlichkeit oder als entfaltete Individualität im Mittelpunkt, und darüber hinaus war sie nicht bloß ein Teil, sondern auch der Typ des Ganzen, d.h. die schönste und wertvollste Inkarnation von dessen Struktur und Geist. Es ist daher irreführend, den spezifisch antibürgerlichen Sinn des neuen literarischen Bildes von der Person oder vom Ich zu übersehen und vage oder pathetische Reden über die Auswegslosigkeit und den inneren Zusammenbruch des Menschen nach dem Tode Gottes etc. zu führen. Gott hatte um 1900 längst aufgehört, die menschlichen Angelegenheiten zu lenken; im bürgerlichen Weltbild stand er im Hintergrund oder war vornehmlich in dem Sinne ethische Instanz, daß er als Garant bürgerlicher Normen und Werte fungierte. Jener Gott also, dessen Tod durch die literarisch-künstlerische Moderne und die Avantgarde proklamiert wurde, konnte einfach nicht mehr der alte sein, er war nur der Rentner, den die moderne (bürgerliche) Naturwissenschaft aus ihm gemacht hatte - obwohl die Feinde des Bürgertums in verständlicher polemischer Ubertreibung dazu neigten, den bürgerlichen Gottesbegriff mit dem tradi84

tionellen kirchlichen zu identifizieren bzw. Bürger und Pfaffen als gleichwertige Säulen der „Reaktion" zu betrachten, während umgekehrt sich mancher Bürger oder bürgerlicher Denker in seiner Angst vor der Radikalität der neuen Strömungen in die Arme des traditionellen kirchlichen Gottes warf. So entstand die optische Täuschung, der Tod »des" Menschen müßte auf den Tod (eines nicht näher definierten) Gottes folgen. Gott starb aber nicht allein, sondern mit ihm ging auch die bürgerliche Synthese zugrunde - und eben dieser letztere Vorgang bedingte die Auflösung der Person; denn aufgelöst wurde nicht der christlich-mittelalterliche, sondern der bürgerliche-moderne Mensch, ganz davon zu schweigen, daß der Mensch und die Person als ontologisch selbständige Größen eigentlich bürgerliche Entdeckungen waren, die dann im traditionellen Christentum in der Absicht wiederentdeckt wurden, das Christentum bürgerlichen Zwecken nutzbar zu machen. Die innere Beziehung zwischen der Auflösung der Person und der Auflösung des bürgerlichen Weltzusammenhanges zeigt sich im bürgerlichen Roman darin, daß außer dem Ich auch das seine klaren Umrisse verliert, innerhalb dessen sich das Ich bewegte und bildete. Und da sich die Auseinandersetzung oder gegenseitige Durchdringung von Ich und Welt'im bürgerlichen Roman im Rahmen einer Handlung vollzog und durch die entsprechenden stilistischen Mittel dargestellt wurde, so entfällt nun die kohärente und fortschreitende Handlung. Die epische Komponente schwindet, die Form wird frei und offen, da sie elastisch genug bleiben muß, um Gegenstände in sich zu fassen, die sich um keinen sinnhaften Mittelpunkt gruppieren. Die Romanhandlung kann gleichsam aus dem Nichts entstehen und alles nur Denkbare darf jederzeit vorübergehend die Szene beherrschen; manchmal wird auch die Geschichte, die der Roman erzählen sollte, eben nicht erzählt, und dann ist der Roman nichts anderes als die Darstellung der Unmöglichkeit, eine Geschichte zu erzählen. An die Stelle der ehemals angestrebten Kontinuität tritt nun die programmatische Diskontinuität und die plötzliche Wendung im Geschehen und im Erzählen, die Kette der innerlich notwendigen Aktionen wird durch eine Serie von Entscheidungen ersetzt, die intuitiv oder zufällig getroffen werden können. Wenn der Roman nicht als Auf85

einanderfolge von Traumbildern gegliedert ist, dann besteht er aus Teilstücken von Geschehnissen, aus Fragmenten von Gesprächen, aus unabgeschlossenen Handlungen; die Wirklichkeit erscheint amorph und breitet sich wie ein Fluß ohne Ufer aus. Das, was die im Chaos schwebenden Bruchstücke zu einem Ganzen miteinander verbindet, ist nur die Tätigkeit eines assoziierenden und kombinierenden Subjekts, nämlich die des Autors. Wird die Handlung als Faktor der Romankomposition herabgesetzt oder scheidet sie sogar aus, so verblaßt oder entfällt die Schilderung des sozialen und geschichtlichen Hintergrunds, vor dem sich die Handlung abspielte. Der Roman wendet sich hauptsächlich oder ausschließlich der inneren Welt zu, er wird psychologisch in einem sehr subjektiven Sinne. Das Subjekt, um das es sich nun handelt, entwickelt sich aber nicht mehr nach dem Muster des Bildungsromans, denn eine solche Entwicklung konnte nur durch seine aktive Auseinandersetzung mit der sozialen Welt, also nur mittels einer Handlung stattfinden. Die Charaktere werden somit nicht als feste, wenn auch sich entwickelnde Wesenheiten geschildert, sondern in verschiedenen Augenblicken ihres Lebens und Tuns gleichsam abgelichtet, wobei es dem Leser überlassen wird, die Lücken zu schließen und das Gesamtbild zusammenzustellen. Dieser Psychologismus zerstört den bürgerlichen Anspruch auf Objektivierung der Persönlichkeit durch reflektiertes und rationales Handeln im Rahmen der Gesellschaft. Paradoxerweise wird aber das Subjekt gerade im Augenblick seiner größten Schwäche allmächtig. Denn fortab existiert die Wirklichkeit nur in der Perspektive des Bewußtseins und als Funktion des Bewußtseins, ohne deshalb aufzuhören, für die volle und ganze oder jedenfalls für die einzig relevante Wirklichkeit gehalten zu werden. Der Stoff oder die (Überbleibsel der) Handlung werden so dargestellt, wie sie sich im Strom des Bewußtseins zerstückeln und rekonstruieren, d.h. sie werden gesehen durch die Linse der Erinnerungen, der Gefühle, der Phantasien und der Eindrücke des jeweiligen Subjekts; es handelt sich hier nicht um die bloße Vertiefung in die Psychologie der Charaktere, sondern um die Betrachtung oder gar die Erschaffung der Dinge durch die Mechanismen des bewußten und des unbewußten Teils der Psyche. Die stilistischen 86

Mittel, die dabei verwendet werden (innerer Monolog, bei dem freie Assoziationen vorherrschen, äußerer Monolog, bei dem sich das Subjekt in seiner Vorstellung an die anderen richtet und sich daher einer kohärenten Rede bedient, Schilderung der inneren Vorgänge aus der Sicht des allwissenden Autors), waren schon im realistischen Roman bekannt, nun ändert sich aber ihre Funktion, indem sie innerhalb einer Komposition Anwendung finden, die ursprünglich subjektiv konzipiert ist. Außerdem wird nun die Montagetechnik viel konsequenter, ja programmatisch angewandt, um die Fragmentierung von Raum und Zeit im Bewußtseinsstrom teils wiederzugeben, teils im Hinblick auf die Bedürfnisse der Erzählung zu überbrücken. Die Bestandteile des Bewußtseinsstroms, wie sie mikroskopisch analysiert werden, erscheinen an sich selbständig und gleichwertig, alle können daher gleichermaßen den ersten oder den jeweiligen Einstieg in die Erzählung abgeben. Gerade wegen ihrer prinzipiellen Gleichwertigkeit lassen sie sich miteinander nur montieren, doch nicht nach dem Schema „Ganzes-Teile" in eine Synthese einordnen. Die Montage stellt eine Notwendigkeit dar, die sich aus der Durchsetzung der analytischen Einstellung gegen das synthetische Anliegen ergibt. Das Zurücktreten des epischen Elements gegenüber dem reflexiven, des objektiven gegenüber dem subjektiven und des architektonischen gegenüber dem musikalischen bewirkt nun eine Annäherung zwischen Roman und lyrischer Dichtung, die sich am Sprachgebrauch und zugleich an der Auffassung über Funktion und Stellenwert der Sprache zeigt. Erst die Flexibilität oder auch Vieldeutigkeit lyrischer Sprache ermöglicht die Uberbrückung logischer Lücken und Widersprüche, sie ermöglicht also die neue, mehr oder weniger lockere Zusammenfügung der Bruchstücke dessen, was einmal als einheitlich erschien. Dabei soll die Sprache nicht durch ihre Geschlossenheit feste Gegebenheiten umreißen, sondern im Glanz des Fragments etwas offenbaren, in der Ursprünglichkeit und Plötzlichkeit der Epiphanie augenblicklich tiefere Zusammenhänge erhellen. Andererseits soll der spontane oder gezielte Verstoß gegen die geläufige Grammatik und Syntax die bereits erfolgte Auflösung des sinnhaften oder logischen Welt87

Zusammenhanges indizieren und ästhetisch reproduzieren. Es entstehen Sondersprachen, deren jede Elemente oder Zitate aus anderen Sondersprachen oder einfach Dokumentarmaterial an Hand der Montage- und Collagetechnik in sich einverleiben kann. Die Sprache wird zur Karikatur, und die Parodie auf die Sprache meint die Parodie auf die angebliche Logik des Weltzusammenhanges. Die Änderung eines Buchstabens kann die Änderung des Wortsinnes herbeiführen, der Sinn entblößt sich somit in seiner ganzen Kontingenz und erweist sich als flüchtige Kreuzung von Elementen innerhalb einer Funktion, hinter der keine Substanz steht. In extremis muß der Leser selbst die Grammatik und die Syntax finden, an Hand deren er den Text bzw. den Sinn des dargebotenen Sprachstoffes erschließen kann, ihm wird also überlassen, die notwendigen funktionalen Beziehungen zwischen den Sprachelementen herzustellen. Das kann er deshalb ohne weiteres tun, weil diese Elemente durch ihre Anreihung im Text keinen „schönen Stil" im alten Sinne hervorbringen sollen und daher beweglich oder gar austauschbar sind. Was sich nicht gegen anderes austauschen läßt, ist nur die Sprache in ihrer Ganzheit. Entfällt der (bürgerliche) Wirklichkeitsbegriff und kann die Kunst des Romans schon deshalb keine Nachahmung der Wirklichkeit sein, so bleibt die Sprache als einziges reales Universum der Literatur übrig, Grenzen der Welt und Grenzen der Sprache fallen auch hier zusammen. Die Romandichtung bildet die Welt nicht ab, sie baut die eigene Welt auf, sie wird bewußt zu einem Artefakt, hinter dem sich die Figur des Dichter-Demiurgen abhebt. Vielleicht noch wichtiger ist der Vorgang, wodurch der Vorrang der Größe „Zeit" im bürgerlichen Roman durch den Vorrang der Größe „Raum" im modernen abgelöst wurde. Dies muß zunächst paradox klingen, da die vornehmliche Thematisierung des Bewußtseinsstroms sehr oft gerade als Analysse des Zeitbewußtseins etwa in Form der Erinnerung erfolgte. Die entscheidende Frage lautet aber nicht, ob von der Zeit gesprochen, sondern ob die Zeit auf Grund räumlicher Denkmuster aufgefaßt oder in solche eingeordnet wird. Die Ersetzung der Schilderung einer Handlung durch die Schilderung eines Bewußtseinsstroms bedeutete an sich eine Verschiebung der Zeitproblematik von der Ebene der äuße88

ren Zeit auf die der inneren Zeit. Die äußere Zeit, in der sich die Handlung abspielte, war eine lineare Ereigniszeit, in ihr tauchten also die verschiedenen Ereignisse in einer unumkehrbaren Reihenfolge auf, so daß der Zeitfaktor in seiner Verbindlichkeit bezüglich der Anordnung der einzelnen Ereignisse ausschlaggebend erschien. Denn er stellte eine Größe dar, die vor den Ereignissen existierte und durch dieselben allmählich gefüllt wurde, aber so, daß kein späteres Ereignis den Platz eines früheren einnehmen konnte oder umgekehrt; nicht die Ereignisse bestimmten die Struktur der Zeit, sondern die Zeit stellte das Medium zur Strukturierung der Ereignisse zur Verfügung. Ganz anders verhält es sich bei der Erlebniszeit, also der Zeit, in der der Bewußtseinsstrom fließt oder genauer mit der er identisch ist. In dem Maße, wie die Auflösung der Person die Handlung im Sinne des bürgerlichen Romans überflüssig machte, mußte sie auch der Erlebniszeit den Vortritt vor der Ereigniszeit geben, sie mußte also die Subjektivierung oder Verflüssigung des bis dahin festen Zeitfaktors herbeiführen. Gerade die Subjektivierung der Zeit gestattete aber die Verräumlichung der Zeit, nämlich ihre Erfassung nach räumlichen Mustern. Nur als subjektive Zeit konnte die Zeit bzw. die Ereignisfolge, die sich bereits in der Zeit abgespielt hatte, in einzelne Erinnerungen zerstückelt werden, die dann auf einer einzigen Fläche so ausgebreitet oder angeordnet werden konnten, wie das Bewußtsein es wollte, d.h. unabhängig davon, was die äußere lineare Zeit der Handlung erforderte. In der Erinnerung ist die ganze Zeit simultan gegenwärtig, sie kann nach Belieben in Bestandteile bzw. Ereignisse aufgelöst und dann wieder nach Belieben derart rekonstruiert werden, daß ihre Bestandteile bei jeder neuen Rekonstruktion einen anderen Platz einnehmen. Die Voraussetzung für die freie Rekonstruktion der Zeit durch die Erinnerung ist aber die, daß die Zeit nicht als Linie vorgestellt wird, die die Aufeinanderfolge der Ereignisse ein für allemal festlegt, sondern als Fläche, auf der die Ereignisse beliebig aneinandergereiht und miteinander kombiniert werden können. Der ununterbrochene Fluß der Erzählung ergibt sich nicht aus der logischen Kohärenz des Inhalts, sondern die logische Diskontinuität des Inhalts macht neue Mittel (Bildmuster, Leitmotive, Analogien und Kontraste) 89

zur Verbindung der Bestandteile der Erzählung zu einem kontinuierlichen Fluß erforderlich, zumal die Beseitigung der linearen Zeitfolge die kausalen Beziehungen zwischen den einzelnen Ereignissen und Dingen, die das zeitliche Vorangehen der Ursache vor der Wirkung implizieren, vernichtet und somit einen grundlegenden Orientierungsrahmen der Erzählung zersprengt. Man könnte die Psyche, in der der Bewußtseinsstrom die Zeit verräumlicht, mit einer Großstadt vergleichen, auf deren Fläche sich unzählige voneinander getrennte Ereignisse simultan abspielen. Diese Psyche ähnelt übrigens einer Großstadt nicht nur, sie bewegt sich auch in einer solchen. Nicht von ungefähr ist die Großstadt die Wiege der literarisch-künstlerischen Moderne gewesen. Ein Vergleich der Entwicklung auf dem Gebiet der Literatur mit der fast gleichzeitigen Entwicklung auf dem der bildenden Künste verblüfft zunächst durch Ähnlichkeiten, die zentrale Aspekte betreffen und bis ins einzelne gehen; so kann man an die beiderseitige Auflösung der festen Bezugssysteme, an die Parallelität zwischen der Isolierung des Gegenstandes und der Autonomisierung des einzelnen Wortes, an die Analogie von dingfremder Farbe und dingfremdem Adjektiv, an den Zusammenhang zwischen Flächigkeit des Bildes und Veriäumlichung der Zeit etc. denken. Am verblüffendsten und zugleich am lehrreichsten erscheint indes die innere Notwendigkeit, mit der auch die Umwandlung der bildenden Künste seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s in die Herausbildung der für sie spezifischen Version der analytisch-kombinatorischen Denkfigur mündete. Die Vielfalt von Schulen und Stilrichtungen sowie ihre fast atemberaubende Aufeinanderfolge wirkt weniger verwirrend oder erscheint sogar als sinnvoller Zusammenhang, wenn wir bedenken, daß jede dieser Stilrichtungen die Vorarbeit der gerade vorangegangenen mit dem stereotypen und zugleich grundsätzlichen Vorbehalt lobt, diese hätte sich noch nicht weit genug auf dem Wege der Findung der ersten Elemente und deren freier Kombination ohne Rücksicht auf die äußere Natur vorgewagt. Der Vorwurf zeigt uns die Richtung, in der wir suchen müssen. Aber noch vor der Herausbildung der analytisch-kombinatorischen Denkfigur auf dem Gebiet der bildenden Künste zeigte sich die antibürgerliche Richtung 90

und Spitze der Entwicklung an inhaltlichen Neuerungen, zu denen sich freilich früher oder später stilistisch-formale gesellten. Eine der wichtigsten dieser Neuerungen traf einen Nervenpunkt bürgerlicher Kunst, nämlich das Menschenbild. Dessen völlige Auflösung und schließliche Eliminierung war das natürliche Ende eines Prozesses, der sich als Ganzes gegen die bürgerliche Weltanschauung und Synthese richtete. Zunächst wurde aber der bürgerliche Mensch in der Kunst, der durch seine idealisierte Darstellung die angestrebte Harmonisierung von Natur und Kultur oder Norm verkörpern sollte, durch einen anderen verdrängt, dessen Erscheinungsbild eine Vorliebe für andere Werte erkennen ließ. Der Naturalismus in der Malerei hatte bereits die Typen aus den unteren Schichten entdeckt - den gequälten, nicht mehr bloß pittoresken Bauern und darüber hinaus den Bettler oder den Vagabunden; vor allem das industrielle Leben aus der Sicht der Notleidenden nimmt das Interesse naturalistischer Künstler immer mehr in Anspruch, die Arbeitsszenen in der Fabrik oder industrielle Landschaften malen. Die Lieblingstypen der Impressionisten stammen ebenfalls aus den städtischen Unterschichten oder aus der Halbwelt der Cafés, der Boheme und der Kunstateliers, d. h. sie sind Personen, die am Rande des Universums bürgerlicher Normen leben. Noch ein anderer menschlicher Typ verschafft sich zur gleichen Zeit in der Malerei Eingang, der gleichfalls auf den Antipoden der bürgerlichen Lebensform steht: der edle Wilde, der weise Primitive, der in der Literatur des 18. Jh.s zusammen mit anderen exotischen Figuren als Maßstab diente, an dem die Übel damaliger westeuropäischer Gesellschaften gemessen wurden, jetzt aber durch seine natürliche, naive und lebensfrohe Art nicht mehr die alte Aristokratie, sondern den Bürger beschämen soll. Künstler und Primitiver verbünden sich gegen den Bürger, der erstere sucht sogar in den Kunstwerken des letzteren nach den stilistischen Mitteln, um die akademischen Regeln bürgerlicher Kunst ein für allemal zu überwinden; diese Berufung auf den Neger gerade in einer Zeit, in der der imperialistische Missionsgedanke des weißen Mannes seinen absoluten Höhepunkt erreicht hatte, bildete wahrhaft eine Provokation an das bürgerliche Kulturund Geschichtsverständnis. All diese un- oder antibürgerlichen 91

Menschentypen wurden zudem in einer Art und Weise dargestellt, die dem bürgerlichen Verständnis vom öffentlichen Auftritt der Person und von der Notwendigkeit einer noblen und würdigen Stilisierung seines Verhaltens auf der ganzen Linie widersprach. Die Menschen wurden in zufälligen und spontanen Haltungen, ja in intimen Augenblicken ohne Rücksicht auf gute Manieren und sittliche Konventionen gezeigt. Dies stellte die bürgerliche Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem auf den Kopf und verriet zugleich eine Gleichgültigkeit gegen die Person als gefestigte Identität, die einen bestimmten Bildungshintergrund hat und derart auftritt, daß ihr inneres, gebildetes Wesen erkennbar wird. Der Vorrang des Augenblicks und des augenblicklichen Eindrucks macht die Geschichte der Persönlichkeit im Sinne der Bildung irrelevant. Der Einbruch des Momentanen, sowie der Wunsch, den Augenblick zu verewigen anstatt das Ewige in einem idealen Augenblick zu fixieren, hat der bürgerlichen Werthierarchie, in der Festigkeit, Dauer und Berechenbarkeit zusammengehörten, einen harten Schlag versetzt. Nicht zufällig entwickelte sich die Kunst der Photographie parallel mit dem Aufstieg des Impressionismus: die Kamera ließ den Reiz des flüchtigen Blicks und des überraschenden Blickwinkels entdecken. Auch das impressionistische Gemälde war vom Konzept her ein Augenblicksprodukt; es wollte einen Augenblick festhalten und deshalb sollte es im Idealfall in einem einzigen Augenblick abgeschlossen werden, jedenfalls wurde versucht, es an Ort und Stelle anzufertigen. Wir sind nun an dem Punkt angelangt, wo die innere Beziehung zwischen den inhaltlichen und den stilistischen Neuerungen, die der Impressionismus einführte, sichtbar und verständlich gemacht werden kann. Die Auflösung des objektiven Weltzusammenhanges, wie dieser innerhalb der bürgerlichen Synthese aufgefaßt wurde, erfolgt durch die Reduktion des Realen auf eine Reihe von Augenblicken oder Eindrücken als dessen wahren letzten Bestandteilen. Dem entspricht auf kognitiver Ebene das Zurücktreten der synthetischen Erkenntnisweise, bei der Vernunft bzw. Verstand und (reflektierte) Erfahrung zum Aufbau des objektiven Weltzusammenhanges harmonisch zusammenwirkten, vor der Unmittelbarkeit der Sinnesempfindung, die äußere Reize internalisiert, 92

nicht etwa um dieselben in einen breiteren Rahmen einzuordnen und somit zu relativieren, sondern um sie nach Möglichkeit in ihrer ersten Frische zu bewahren. Diese Verselbständigung des Flüchtigen oder Momentanen und der Sinnesempfindung mußte den Vorrang der Farbe vor der Form oder vor dem Gegenstand nach sich ziehen. In der bürgerlichen Malerei wurde zwar das ästhetische Gleichgewicht von Farbe und Form angestrebt, doch behielt die Form stillschweigend die Oberhand, und ihre Festigkeit sollte die Festigkeit des objektiven Weltzusammenhanges indizieren. Das tektonische Element blieb hier maßgeblich, und es gab verwandte Künste, wie die Bildhauerei oder die Architektur, in denen eben die definitionsgemäße Vorherrschaft des Tektonischen den Verzicht auf die Farbe ermöglichte, ja zwecks Heraushebung des Tektonischen nahelegte. So gesehen war die Verflüssigung der Form die notwendige Begleiterscheinung der ontologischen Priorität des Momentanen und der kognitiven Priorität der Sinnesempfindung; diese Verflüssigung ließ sich aber nur durch den freien Gebrauch der Farbe erreichen. Denn die Farbe, die im Idealfall eine Sinnesempfindung mit einem Pinselflecken à la prima wiedergibt, kann zwischen verschiedenen Formen oder Gegenständen Brücken schlagen; nur die Farbe kann ja übergreifen - die Form wird eben durch ihre Grenze definiert und für immer festgelegt. Die materielle Heterogenität der Dinge verliert sich in der Homogenität der Farbe, so daß sich die Dinge auf Grund von Farbkriterien in neue Klassen und Gruppen einteilen lassen. Die Formen werden in den Farben, nicht die Farben an den Formen gesucht. Erst durch den Reichtum der Farbe erreicht die Form ihre höchste Fülle, erst dadurch wird die bloße Zeichnung zum echten Gemälde. Indem sich die Farbe von der Form oder vom Gegenstand befreit, entledigt sie sich auch der Aufgabe, das Spiel von Hell und Dunkel miteinander wiederzugeben, das auf der Annahme vom festen Umriß des Gegenstandes beruhte und die Reinheit der Farbe nicht zur Geltung kommen ließ; nun gibt es nicht mehr Licht und Schatten, sondern nur Farben, die sich auf diese oder auf jene Art und Weise miteinander verbinden. Die Überlegenheit der Farbe gegenüber der Form konnte einen solchen Grad erreichen, daß es erschien, als ob die Gegenstände 93

im Bilde aus flüssigen Farbenmassen entstehen und nicht mehr die Natur reproduzieren würden. In der Tat war spätestens bei den unmittelbaren Nachfolgern der Impressionisten einschließlich der Fauvisten das Gefühl stark, durch die Priorität der Farbe würden sie die Auffassung von der Malerei als Naturnachahmung überwinden können; in ihren Augen waren Schönheit und Natur, Exaktheit und Wahrheit nicht mehr identisch. Andere konnten aber entweder meinen, die bloße Priorität der Farbe bei Beibehaltung der Form reiche zur Überwindung der akademischen Lehre nicht aus, oder aber, diese an sich richtige Auffassung werde von den Impressionisten und ihren unmittelbaren Nachfolgern nicht konsequent genug angewandt. Und in der Tat: sosehr diese letzteren auch das Imitationsideal erschüttert hatten, blieben sie doch in einem sehr weiten Sinne an der Natur orientiert, deren Ursprünglichkeit und Reinheit sie der bürgerlichen Kultur oder Zivilisation gegenüberstellen wollten. Sie betonten also den Faktor „Natur", um das bürgerliche Gleichgewicht von Natur und Kultur aus den Angeln zu heben, wobei sie die Zerstörung dieses Gleichgewichts auch als eigene Befreiung vom kulturellen Gebot der künstlerischen Nachahmung der Natur, zugleich aber als Berechtigung dazu empfunden haben, sich der Natur auf eine neue Art und Weise zu widmen, die sich vom bürgerlichen paysage portrait oder paysage historique wesentlich unterschied. Dieser impressionistische Naturalismus, wenn man sich so ausdrücken darf, wurde auf zwei Ebenen und in zwei Phasen beseitigt, welche gleichzeitig die zwei entscheidenden Schritte auf dem Wege zur Herausbildung der analytisch-kombinatorischen Denkfigur auf diesem Gebiet gewesen sind. Einerseits wurde die einzelne Form bzw. der einzelne Gegenstand in seine letzten Bestandteile zerlegt, um dann auf der Basis dieser Analyse rekonstruiert und von neuem interpretiert zu werden; andererseits mündete die Analyse der einzelnen Form bzw. des einzelnen Gegenstandes in eine Analyse dieser Analyse selbst, d. h. in die Suche nach den Urelementen, auf die jede Analyse stoßen muß, also in die Suche nach der reinen Form und der reinen Farbe, wobei der Gegenstand nicht mehr von neuem interpretiert, sondern vielmehr weginterpretiert und die Malerei als Thematisierung des Wesens der Malerei selbst definiert und betrieben wurde. 94

Das Übergreifen der Farbe über den Gegenstand mußte, wie gesagt, die Form des Gegenstandes verflüssigen, also Form und Gegenstand als instabile und problematische Größen erscheinen lassen. Die Tatsache, daß der Gegenstand zum Problem wird, ergibt sich somit als notwendige Begleiterscheinung der Infragestellung der natürlichen Formen, wie diese auf Grund der Regeln des bürgerlichen ästhetischen Kanons gesehen wurden. Freilich wurden diese Formen hier verfeinert oder idealisiert, so daß sie der „wahren", d. h. normhaft aufgefaßten Natur entsprechen konnten, und eben deshalb mußte sich jene Stilrichtung, die „Naturalismus" genannt wurde, wegen ihres unterschiedlichen Naturverständnisses wenigstens zum Teil gegen den bürgerlichen ästhetischen Kanon wenden. Durch das Ubergreifen der Farbe über den Gegenstand entfernt sich aber dieser von seiner empirischen Naturform, nicht mehr um idealisiert, sondern geradezu um deformiert zu werden; das, was früher als bloße Karikatur angesehen wurde, wird nun zur künstlerisch legitimen Wiedergabe eines Gegenstandes. Nach der Verabschiedung vom bürgerlichen Schönheitsideal gilt indes die Deformation mangels des früheren Maßstabs nicht mehr als Deformation; eher dient sie - von den späteren Impressionisten und ihren unmittelbaren Nachfolgern bis zu den Ausläufern der expressionistischen Bewegung - zur Darstellung der inneren Dynamik einer Person bzw. eines Dinges oder der Dynamik eines Vorgangs, an dem die Person bzw. das Ding direkt beteiligt ist. Wird nun der Gegenstand zum Träger einer eigenen Dynamik, so verselbständigt er sich, er kann daher aus seinem üblichen Zusammenhang herausgerissen und entweder in pure Tätigkeit und pures Werden verwandelt oder aber mit symbolischen und quasi magischen Eigenschaften ausgestattet werden, die ihn befähigen, über seine eigenen Grenzen ständig hinauszufließen und sich mit anderen Gegenständen auf unerwartete Art und Weise zu verbinden. Dies waren die beiden Folgen, die die Dynamisierung des isolierten Gegenstandes bei der futuristischen und der surrealistischen Avantgarde gezeitigt hat. Die Isolierung des Gegenstandes bildete aber gleichermaßen die Voraussetzung für das Unterfangen des (analytischen) Kubismus, denn erst in seiner Isolierung konnte der Gegenstand als eigenständige Struktur betrachtet werden, de95

ren Analyse zu besonderer und erfüllbarer Aufgabe gemacht werden konnte. Im Rahmen der Weiterentwicklung des impressionistischen Ansatzes hatte man bereits angefangen, die getrennte Behandlung der verschiedenen Aspekte des Gegenstandes, die sich bereits in der Eliminierung jeder festen Beziehung zwischen Form und Farbe ankündigte, mit dem Versuch einhergehen zu lassen, die ehemals integren Formen in ihre Bestandteile zu zergliedern, die dann dadurch miteinander harmonisiert wurden, daß sie einem gemeinsamen Rhythmus oder einer (lockeren) Gesamtlinie untergeordnet wurden. Diese selbe Zergliederung erfolgt beim Kubismus durch eine Geometrisierung, die die formale Struktur des Gegenstandes bloßlegen soll. Dabei ist aber nicht das geometrische Moment, sondern vielmehr die analytische Absicht und Verfahrensweise entscheidend; die Geometrisierung erscheint als der am meisten geeignete Weg, die Analyse durchzuführen und ihre Ergebnisse in aller Anschaulichkeit vor Augen zu führen, gleichzeitig soll sie aber noch etwas signalisieren: daß sich das Wesen der Gegenstände nicht durch sinnliche Organe erschließen läßt, sondern erst dann, wenn sie von ihrem alltäglichen praktischen Zusammenhang losgelöst und durch den Intellekt bzw. an Hand der reinen Formen des Intellekts analysiert werden. Der Intellekt findet also im empirischen Gegenstand seine eigene Struktur wieder, indem er diesen zerlegt; und die kubistische Rekonstruktion des Gegenstandes, die durch die Aufzählung und Nebeneinanderreihung seiner einzelnen Aspekte erfolgt, kombiniert nur die Elemente miteinander, die der Intellekt in den Tiefen der Erfahrung gefunden hat, d. h. Symbole, die für die Erfahrung stehen. Es entfällt daher das Zusammenwirken von Intellekt, Sinnen und Gefühl, wie es durch die bürgerliche Synthese postuliert wurde. Bei der Rekonstruktion des Gegenstandes findet aber nicht bloß eine analytische Reduktion auf Geometrisches, sondern auch eine Deformation statt. Die aufgezählten oder nebeneinandergereihten Aspekte oder Bestandteile des Gegenstandes erscheinen nicht mehr in ihren ursprünglichen, d.h. empirisch gegebenen Analogien zueinander, sondern sie werden vergrößert, verkleinert oder einfach umgeformt, je nach der Bedeutung oder der Funktion, die die Optik des analytischen Intellekts ihnen im Bil96

de zuteil werden läßt; manche verschwinden sogar, so daß der Rest besser zur Geltung kommen und die vereinfachte Gesamtstruktur größere ästhetische Wirksamkeit entfalten kann. Die ästhetische Botschaft des Kubismus war die, daß Form und Gegenstand nicht dasselbe sind, da die wahre Form des Gegenstandes hinter dessen empirischer Erscheinung steckt. Die anfängliche Einheit von Farbe, Form und Gegenstand wurde zunächst durch die impressionistische Trennung zwischen Farbe und Gegenstand zerschlagen, die auch eine Trennung zwischen Form und Gegenstand insofern war, als die Farbe über die Grenzen des empirischen Gegenstandes hinaus übergreifen und dabei eine von diesem letzteren verschiedene Form ins Leben rufen konnte. Dennoch wurde hier der Unterschied zwischen Form und Gegenstand noch nicht konsequent thematisiert, denn der empirische Gegenstand wurde durch die Form gleichsam aufgesaugt, die die Farbe in ihrer soeben entdeckten Eigendynamik schuf. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist es, daß die bewußten analytischen Bemühungen von (Neo)Impressionisten die Zerlegung der Farbe, nicht die Zerlegung des Gegenstandes betrafen; der Gegenstand wurde deshalb nur in dem Maße zerlegt, wie er in den kleinsten Farbeinheiten aufgehen konnte. Im Gegensatz dazu betrieb der Kubismus die Zerlegung des Gegenstandes von der Form her, d.h. er ordnete sein analytisches Bemühen formalen Gesichtspunkten unter und aus dieser Sicht mußte der Impressionismus wie eine späte Variation des alten Ideals von der Naturnachahmung vorkommen. Auf der Linie dieser selben Syllogistik konnte aber gegen den Kubismus selbst eingewandt werden, die Naturnachahmung sei solange nicht überwunden, wie vom Gegenstand überhaupt geredet und zur Findung von reinen Formen die Zerlegung eines Gegenstandes überhaupt benötigt werde. Dieser Einwand war nach der vorangegangenen doppelten Trennung der Farbe vom Gegenstand und der Form vom Gegenstand naheliegend und logisch. Alle drei Bestandteile der alten Dreiheit lagen nun isoliert vor, und weil die Vorstellung von reinen (Natur)Gegenständen keinen Sinn ergibt, so mußte die Suche nach dem Reinen zur Suche nach der reinen Farbe und der reinen Form, also zur Suche nach den Urelementen der Malerei - und die Malerei 97

selbst zur Thematisierung der eigenen Urelemente oder zum Thema von sich selbst werden. Hier geht es offenbar um etwas viel Grundsätzlicheres als um jenes Spiel von manchem Vertreter des Jugendstils mit reinen Farben und Formen ledig aller Perspektive, das noch im Rahmen dekorativer Zwecke stattfand. Zur Reinheit der Form konnte man kommen, indem man geometrische Formen, die der Kubismus vom Gegenstand abstrahierte, um diesen dann analytisch darzustellen, als selbständige Formen betrachtete, d. h. vom Volumen des Gegenstandes ganz absah und zur unverwässerten Linienkonstruktion auf nackter Fläche überging; das, was als Reduktion einer natürlichen Form auf eine geometrische anfing, wird nun durch die Reduktion des Produktes dieser ersten Reduktion auf die konstanten Elemente der Form überhaupt vollendet. Aber auch bezüglich der Farbe war eine Reduktion in der zweiten Potenz notwendig, um die reine oder elementare Farbe zu gewinnen. Die erste Reduktion wurde bereits unternommen, als die unmittelbaren Nachfolger der Impressionisten und die Fauvisten natürliche und reine Farbe voneinander unterschieden, die Reinheit der Mittel ihrer Kunst forderten und dabei die impressionistische Bindung der Farbe an die Sinnesempfindung in Frage stellten. Die reine Farbe blieb aber auch bei ihnen weiterhin Farbe eines (freilich deformierten) Naturgegenstandes, d. h. Farbe wurde noch immer mit dem Licht oder mit der Lichterscheinung eines Gegenstandes zusammengedacht. Die Loslösung des Lichtes vom Gegenstand und seine autonome Darstellung, wie sie etwa den Rayonnisten vorschwebte, bildete eine paradoxe, aber notwendige Mittelstation zwischen den Impressionisten bzw. deren Nachfolgern und den Abstrakten. Reines Licht und reine Farbe waren jenseits allen Gegenstandsbezugs dasselbe und die Aufgabe bestand nunmehr darin, den jeweils passenden Zusammenklang reiner Farben zu finden - oder, noch mehr, die Gesetze zu formulieren, nach denen reine Farben etwas permanent ausdrücken und in dieser ihrer Eigenschaft getrennt oder zusammenstimmend verwendet werden dürfen. In dem Maße, wie hier weiterhin zwischen Form und Farbe unterschieden wird, bildet die Form den Entfaltungsraum der Farbe und darf die Wirkung dieser letzteren in keiner Weise beeinträchtigen. Selbst bei abstrakten Malern, die sich 98

streng geometrischer Formen bedienten, waren diese in erster Linie Träger von Farbe, d. h. die Form sollte sich aus dem psychischen oder musikalischen Inhalt der Farbe ergeben. Somit schien sich das Programm futuristischer Malerei zu verwirklichen, in dem nicht nur Farben und Formen ohne objektive Darstellung, sondern darüber hinaus Farben ohne Formen als Ausdruck irreduzierbarer Gemütszustände vorgesehen wurden. Die Suche nach dem Reinen, Elementaren oder Abstrakten wurde freilich als Befreiung vom bürgerlichen Sentimentalismus und als Zusammengehen mit den neuen unsentimentalen Mächten wie etwa der Maschine empfunden. Der bürgerliche ästhetische Kanon wurde aber darüber hinaus in seinem Kern getroffen, denn die Beseitigung des Gegenstandes war zugleich Absage an jene Bedeutung, mit der sich der Gegenstand in der bürgerlichen Kunst verband. Dieser letzteren ging es ja nicht um beliebige Gegenstände, sondern um solche, die entweder den normativen Naturbegriff verkörperten oder die individualistisch-anthropozentrische Betrachtung spezifizierten, und zwar in Gestalt von Menschen, die als Träger einer substanziellen Identität oder als Produkte einer Bildung dargestellt wurden. Die Bedeutung eines Gegenstandes schlug die Brücke zwischen seinem physischen und seinem werthaften Aspekt, sie war der Hort der Normen und des höheren Sinnes der Dinge, die zugleich in ihrer Dinghaftigkeit anerkannt wurden. Da diese Bedeutung an bestimmte Gegenstände und an eine bestimmte Auffassung vom Gegenstand gebunden war, so mußte sie zugrundegehen, nachdem der Gegenstand überhaupt und als solcher verschwand. Gegen die so verstandene bürgerliche Koppelung von Gegenstand und Bedeutung bzw. von Natur oder Mensch und Norm machen nun die Abstrakten mit allem Nachdruck und in allen Tönen geltend, Natur und Kunst hätten nicht das Geringste miteinander zu tun, Kunst stelle keine Nachahmung der Natur dar, ja sie sei der Natur überlegen, denn sie entstehe aus der autonomen Tätigkeit des reinen Geistes, d. h. sie schaffe ihre Bilder auf der Basis von Urelementen, die nicht in der sichtbaren Natur auffindbar, sondern nur dem Geist zugänglich seien. Die empirische Natur und die natürlichen Gegenstände haben in dieser Perspektive keine tiefere Dimension, die sich 99

an ihrer Bedeutung ablesen läßt, sondern sie sind bloßer Schein, den der Künstler durchbrechen muß, um hinter ihm die innere Konstruktion der Welt und die diese Konstruktion tragenden Urelemente und Ursymmetrien anschauen zu können. Erklärungen gegen den Sensualismus und den Materialismus verbinden sich bei den Abstrakten mit mystisch-pathetischen metaphysischen Aussagen über jenes herrliche Reich der reinen Farben und Formen, das die wahre Wirklichkeit und das wahre Wesen der Dinge ausmache. Es ist nicht schwer zu erraten, warum hier eine Metaphysik aufgeboten werden mußte: nur im Namen einer höchsten Instanz kann man es wagen, die Gewißheiten alltäglicher Erfahrung anzufechten - und nur durch den Verweis auf den metaphysischen Glanz des Reinen kann man über die Monotonie hinwegtrösten, unter der die an die bunte Vielfalt der Erfahrung gewöhnten Augen im Reich der Abstraktion leiden. Auch Metaphysik bleibt aber zeitgebunden, und daher ist es hermeneutisch interessanter, nach dem konkreten Inhalt der jeweiligen Metaphysik zu fragen, als auf ihre Vagheit oder Willkür herabzublicken. Denn der konkrete Inhalt zeigt den Punkt an, an dem das reale Tun des Metaphysikers sein Selbstverständnis Lügen straft, an dem sich also die Zeitgebundenheit und die objektive geschichtliche Funktion der metaphysischen Vorstellungen bemerkbar macht. So gesehen war es z.B. symptomatisch, daß das Reich des Reinen nicht selten Ähnlichkeiten mit dem etwas prosaischen, aber ebenfalls geometrisch strukturierten Gebiet der technischen Konstruktion aufzuweisen hatte. Es liegt auf der Hand, daß die Verlegung künstlerischer Tätigkeit in das Reich des Reinen oder Abstrakten die kombinatorische Arbeit erheblich erleichtern mußte. Empirisch gegebene Größen oder Gegenstände sind nicht beliebig miteinander kombinierbar, es sei denn, man entzieht ihnen die Bedeutung, die sie innerhalb der empirisch gegebenen Zusammenhänge haben. So konnten die Surrealisten Gegenstände aus der Welt der alltäglichen Erfahrung innerhalb von Traumbildern miteinander in Verbindung setzen, das konnten sie indes nur deshalb tun, weil sie dieselben aus ihrem Zusammenhang gerissen, also ihnen die gewohnheitsmäßig beigelegte Bedeutung genommen und eine andere gegeben haben, die 100

sich aus dem neuen, nicht empirischen Zusammenhang ergab. Das Kombinationsspiel nimmt aber in dem Augenblick eine andere Form an, in dem Gegenstand und Bedeutung gleichzeitig über Bord geworfen werden. Jetzt werden ideelle Größen miteinander kombiniert, deren einzige Bedeutung in ihrer Kombinationsfähigkeit oder in ihrer tatsächlichen Beteiligung am Kombinationsspiel liegt, welches nun, wie man meint, "von jeder Zufälligkeit befreit und mit der Würde des wissenschaftlichen Kalküls ausgestattet werden kann. Das Ideal lautet, an Hand einer begrenzten Anzahl von letzten Elementen und Konstruktionsregeln unendliche Kombinationen hervorzubringen. Der Schwerpunkt der theoretischen Aufmerksamkeit liegt dabei nicht sosehr auf der abgeleiteten Ebene der einzelnen Kombinationen, sondern vielmehr auf dem Gebiet der irreduzierbaren Urelemente und der grundlegenden Konstruktionsaxiome. Dies ist aber kein anderes als das Gebiet der elementaren Ausdrucksmittel der Malerei, die jetzt im Vorgang des Malens selbst thematisiert werden müssen. In der bürgerlichen Malerei wurden die Mittel für objektiv gegebene Grenzen gehalten, hinter denen der Künstler zwar nicht zurückbleiben durfte, deren Existenz er aber stillschweigend voraussetzen mußte; nur an der Darstellung des Gegenstandes wurde mittelbar gezeigt, was er von diesen Grenzen und somit vom Wesen seiner Kunst wußte und inwiefern er sein Handwerk beherrschte. Jetzt aber wird zum Gegenstand der Malerei die Malerei selbst. Das freie Kombinationsspiel allein reichte nicht aus, es mußten noch die Regeln und die Ausgangslage definiert werden. Dies war freilich die Kombination aller Kombinationen. Außer und neben ihr gab es zahlreiche Formen des Kombinationsspiels, welche in ihrer Gesamtheit verdeutlichten, wie zentral die Funktion war, die ihm nunmehr in der Kunst zufiel. In dieser Hinsicht gehörten die Traumbilder der Surrealisten, die Collagen der Dadaisten und die verschiedenen Formen der Montagetechnik zusammen. Sie alle beruhen auf der Uberzeugung, alles sei mit allem grundsätzlich kombinierbar. Die Kombinierbarkeit von allem mit allem ist aber ihrerseits nur möglich, wenn alles auf einer einzigen ebenen Fläche liegt, wenn also der Raum derart homogenisiert wird, daß alle für das 101

Kombinationsspiel in Frage kommenden Elemente jeden beliebigen Platz in ihm einnehmen können; denn andernfalls könnte die ungleichförmige Struktur des Raumes den Platz der Elemente in ihm teilweise oder ganz im voraus bestimmen und ihre unbegrenzte Beweglichkeit oder Austauschbarkeit teilweise oder ganz verhindern. In der vormodernen Malerei stand der Gegenstand im Raum, und zwar nicht an einer beliebigen Stelle desselben, sondern an jener, die ihm seine eigene Beschaffenheit zuwies. Der strukturierte und endliche Raum bildete ein Medium der Ordnung, d. h. jenes Medium, in dem die Gegenstände gemäß den Gesetzen der Perspektive bzw. gemäß der Raumstruktur geordnet wurden. Die Verflachung des Raums, d. h. die Ablösung des strukturierten und begrenzten Raums durch den flächigen und unabgeschlossenen bedeutet eo ipso die Loslösung der Gegenstände vom festen Bezugssystem, ihre freie Verfügbarkeit - und Kombinierbarkeit. Charakteristisch für die Malerei seit der Renaissance war die Spannung zwischen der ebenen Bildfläche und der Dreidimensionalität der darauf gemalten Gegenstände, die den Zuschauer die Flachheit des Bildes vergessen ließ. Die moderne Aufhebung dieser Spannung erfolgt durch die Verflachung des Bildes, d. h. durch die Abschaffung der Perspektive und die Übertragung der dargestellten Gegenstände auf eine einzige Fläche, die mit der Bildfläche zusammenfallen muß, wobei die Gegenstände selbst auf dieser Fläche verflachen und sich in ihre letzten Bestandteile auflösen. Die Entwicklung in dieser Richtung fing bereits an mit dem Vorrang der Farbe gegenüber der Form, der die Verflachung des Bildes förderte. Denn wird die Farbe gegenüber den perspektivisch gesehenen Gegenständen autonomisiert, so kann sie die Bildfläche zu ihrer eigenen Entfaltung verwenden und sich frei(er) ausbreiten; der Fortfall des Helldunkels macht übrigens an sich das Bild flacher, während dessen Frontalität durch das Nebeneinanderreihen von reinen Farben zunehmen muß. Zugleich entdeckt das reine Sehen neben den reinen Farben auch reine Formen und Gestalten, die gleichsam vor den natürlichen Gegenständen da sind und dieselben erst konstituieren. Für das reine Sehen bildet also der Raum nicht mehr das Medium, in dem die Gegenstände existieren, sondern er ist die Art und Weise, wie Farben 102

und Formen in ihrer Vermengung mit der Vielfalt der Gegenstände in Erscheinung treten. Die Perspektive wird sowohl als Verengung des Raums wie auch als Trennung zwischen Raum und Gegenstand empfunden; ihr wird eine unendliche Erweiterung des Raums und zugleich eine gegenseitige Durchdringung von Raum und Gegenstand gegenübergestellt, die schließlich die Auflösung des Gegenstandes bewirken muß. Die Aufgabe der früheren Auffassung vom Raum, in dem der Gegenstand stand, und die Auflösung des Gegenstandes bilden also die beiden Aspekte einer und derselben Entwicklung. Dies wurde an der Arbeit der Kubisten besonders deutlich. Hier fließen Raum und Gegenstand ineinander, indem die verschiedenen Ansichtsseiten des Gegenstandes gleichzeitig das Bild bzw. den im Bild erfaßten Raum ausmachen. In dem Augenblick also, in dem die Perspektive zur Fläche wird, wird auch aus der Folge Simultaneität. Der Gegenstand muß auf der Fläche dargestellt werden, und dies läßt sich nicht anders machen denn durch das Nebeneinanderreihen seiner verschiedenen Ansichtsseiten, d.h. durch das simultane Zeigen derselben im Raum und nicht etwa durch ihre Aufeinanderfolge innerhalb jener Zeit, die der Betrachter desselben Gegenstandes bedurft hätte, um ihn rund herum anzusehen. Das Ende dieser Entwicklung, die mit der ersten Verflachung des Bildes infolge der Vorrangstellung der Farbe anfängt und sich durch die Verflechtung von Gegenstand und Fläche fortsetzt, endet bei der bloßen Färbung oder Aufteilung dieser Fläche selbst. Nur die abstrakte Malerei konnte die absolute Verflachung des Bildes erreichen und die neue Raumauffassung zu ihrem konsequenten Ende führen; eben deshalb hat sie auch in solcher Offenheit und Klarheit das Problem der Malerei als Problem der Kombination von letzten Elementen miteinander betrachtet und behandelt. In der modernen Bildhauerei hat die Neubestimmung des Raumfaktors eine ebensogroße Rolle gespielt. Ehe wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir uns indes in Erinnerung rufen, daß der Kampf gegen die bürgerliche Synthese auf diesem Gebiet, wie auf dem Gebiet der Literatur und der Malerei auch, noch vor der völligen Auflösung der traditionellen Formen durch inhaltliche Schwerpunktverschiebungen oder Änderungen geführt wurde, 103

die aus naheliegenden Gründen vor allem das Menschenbild betrafen. Dabei ging es nicht bloß um die frühe naturalistische Entdeckung des einfachen oder arbeitenden Menschen, der in nicht stilisierten Haltungen und als Träger alltäglicher Sorgen und Gefühle dargestellt wurde, sondern um Grundsätzlicheres. Bürgerliche Bildhauerei stilisierte oder idealisierte die menschliche Gestalt derart, daß in ihr die lebende Aktualisierung der (angestrebten) Synthese von Geist und Materie, Vernunft und Trieb, Natur und Kultur erblickt werden konnte. Die Spannung oder die Unruhe fehlten oft nicht, sie waren aber entweder als bedauernswerter Verlust des Gleichgewichts oder als Kampf um dessen Erlangung gedacht. Da, wo Gleichgewicht und Harmonie so hoch eingestuft werden, muß aber bei allen gezielten Andeutungen auf ein reiches und bewegtes inneres Leben eine gewisse Statik eintreten, deren extreme Form die starre Monumentalität ist. Gegen diese stilistischen Züge und zugleich gegen das dahinterstehende normative Konzept wendet sich der Versuch, in die Masse der Skulptur so viel Bewegung und Dynamik wie möglich hineinzutragen. Im Hinblick auf die Darstellung des Menschen hatte dies zur Folge, daß dieser nicht mehr als Vertreter oder Sucher einer idealen Harmonie, sondern im Gegenteil in extremen Situationen gezeigt wird, in denen Leidenschaft und höchste Intensität jenseits von Gut und Böse im bürgerlichen Sinne herrschen. Solche Situationen werden nicht mehr in die Sphäre des Privaten, des Schändlichen oder immerhin des normativ und künstlerisch Gleichgültigen verwiesen, sondern in der Absicht thematisiert, in die tiefsten Schichten des menschlichen Wesens einzudringen, die sich auf der Basis bürgerlicher Rationalitätsvorstellungen nicht erfassen lassen. Vor allem wird die menschliche Sinnlichkeit und Körperlichkeit in ihrer ganzen Explosivität gezeigt, der sexuelle Akt ist kein Tabu mehr, und selbst reflexive Tätigkeiten treten als Anstrengungen in Erscheinung, die den ganzen Menschen beanspruchen und sein Fleisch und Blut nicht weniger als seinen Geist in fieberhafte Bewegung setzen. Die Harmonie zwischen Vernunft und Trieb und die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem werden in dieser Bildhauerei gleichermaßen ad acta gelegt, was sich formal an der bewußten Verabschiedung vom Schönheitsideal als 104

Perfektion im Verhältnis zwischen Ganzem und Teil bemerkbar macht. Das so verstandene Schönheitsideal wird vollends und ostentativ aufgegeben, indem das Fragmentarische und Unabgeschlossene, der Torso also, den Status und die Würde des Kunstwerkes erlangt. Die Abschaffung des Sockels besiegelt die Absage an die monumentale Abgeschlossenheit des Denkmals, das in erhabenem Abstand vom Zuschauer stand, um ihn in Andacht und Sinnen über höhere Dinge und Werte zu versetzen. Bildhauerei soll also nicht mehr bürgerlichen ideologischen und repräsenttiven Zwecken dienen. Wird die Bewegung des Gegenstandes gegen die Ruhe des Denkmals aufgeboten, so kann die Dekomposition oder Deformation des Gegenstandes als Form von Bewegung angesehen werden, die die klare Linie der in sich ruhenden Form zerbricht. Bewegung kann aus jeder Seite und Ecke des Gegenstandes herausfließen, und dies impliziert, daß die Skulptur keine zentrale Achse und keine ideale Mitte mehr haben muß. Die in sich ruhende Skulptur war zentripetal, d. h. ihre nicht unterbrochene Oberfläche umfaßte ein Volumen, das vom Zentrum her gestaltet wurde. Die Skulptur, die gleichsam Bewegung ausstrahlt und von der Bewegung lebt, erscheint im Gegenteil zentrifugal, d.h. ihre Bestandteile richten sich nicht nach einem Zentrum, obwohl sie interdependent bleiben können; außerdem treten hier Diskontinuität und Offenheit nach allen Richtungen hin an die Stelle von Solidität und Abgeschlossenheit. Das Hineintragen von Bewegung in die Skulptur ändert somit radikal deren Stellung im Raum oder ihre Beziehung zum umgebenden Raum. Während die festen nicht unterbrochenen Linien vormoderner Bildhauerei als Grenze zwischen Volumen und Raum dienten und dem Raum die Funktion des bloßen Rahmens zuwiesen, erfolgt nun eine gegenseitige Durchdringung von Volumen und Raum, die zunächst die Bewegung der Skulptur im Raum wiedergeben soll. Indem sich die Skulptur im Raum bewegt, wandelt sich notgedrungen ihre eigene Struktur; sie kann nicht mehr idealisierte Wiederholung einer Körpermasse oder Füllen des Raums durch ein in sich ruhendes Volumen sein, sondern sie muß sich öffnen, den ganzen Reichtum ihrer möglichen Einzelansichten vor Augen führen und ihre 105

vorher ungeahnte innere Komplexität zutage treten lassen. Die Skulptur verbreitet sich im Raum und nimmt ihrerseits den Raum und alles, was in ihm vorhanden ist, in sich auf, der Raum selbst wird also in dem Maße zum plastischen Element, wie die Skulptur allseitig offen und durchsichtig wird. Die Plastizität des Raumelements macht sich daran bemerkbar, daß das Konkave ebenso wichtig wie das Konvexe wird, die Hohliäume besitzen ebensoviel Formbedeutung wie die Volumen selbst. Andererseits bewirkt die Verräumlichung der Skulptur, also ihr freies Ausgreifen in den Raum, schließlich eine Auflösung der festen Formen in Energie und Dynamik, die materielle Masse wird in ihrer aktiven Expansion, in ihrem flüchtigen und letztlich unerfaßbaren Wesen angeschaut - kurzum, der Stoff wird zur Kraft. Entsprechend der Verlegung des Schwerpunktes von der Masse zur Bewegung muß auch das Material nach Möglichkeit entmaterialisiert werden, es wird nämlich hauptsächlich als Kraftträger verwendet; im extremen Fall hat man sogar versucht, es durch optische Suggestionen zu ersetzen oder wenigstens die Immaterialität der Plastik durch Lichteffekte zu intensivieren. Das neue Formgefühl bedurfte immerhin neuer Materialien, die ihrerseits als Möglichkeiten zur Schaffung von neuen Formen betrachtet wurden. Es ist bekannt, wie weit man dabei gegangen ist und welche Vielfalt dabei entstand, nicht nur von Skulptur zu Skulptur, sondern auch an der einzelnen Skulptur selbst, die nunmehr aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt werden konnte. An dieser Stoffverwendung zeigt sich die grundsätzliche Uberzeugung von der beliebigen Kombinierbarkeit von allem mit allem in ihrer bewußten Verbindung mit der Absage an die bürgerliche Auffassung über Schönheit, künstlerische Tätigkeit und Stil. Nach ihr sollte Kunst ihren jeweiligen Stoff veredeln, und der Künstler entwickelte den eigenen Stil eben bei der Veredelung des Stoffes; der Verzicht auf die Arbeit am Stoff heißt also Verzicht auf Stil im alten Sinne des Wortes. Das Ready-Made vertritt die äußerste Folge und Form dieses Verzichts auf Stil, nämlich den Wunsch, Kunst voll im „Leben" aufgehen zu lassen (s. Kap. IV, Absch. 5). Die Gedankenwelt moderner Bildhauerei kreuzte sich nicht nur an diesem besonderen Punkt mit dem programmatischen Glau106

benssätzen moderner Kunst überhaupt. Moderne Bildhauer meinten genauso wie moderne Maler oder Dichter, ihre Kunst sei keine Nachahmung der Natur, sondern eine ganz neue Schöpfung, die zwar auf immer vorhandenen, aber in der Regel unsichtbaren letzten Elementen beruhe, welche mit dem Organ intellektueller Anschauung in einer mystischen Realität gesucht werden müßten. Nicht um die Abbildung von Gegenständen oder um die Darstellung von Gefühlen solle es gehen, sondern um Beziehungen zwischen Elementen, um die freie Gestaltung der Verhältnisse zwischen Stoff, Volumen, Raum und Form. Die harmonischen Analogien bürgerlicher Ästhetik werden ersetzt durch den Sinn für Proportionen, wie diese durch die tragende Idee und die innere Logik des Kunstwerkes diktiert werden; dementsprechend soll der Zuschauer seinerseits diese Idee und diese Logik erfassen, um Funktion und Bedeutung der Einzelheiten begreifen zu können, und nicht nach vergegenständlichten Symbolen oder symbolischen Gegenständen im früheren Sinne suchen. Ein anderes zentrales Kennzeichen der literarisch-künstlerischen Moderne tritt ebenfalls auf dem Gebiet der Bildhauerei mit besonderer Deutlichkeit in Erscheinung. Es handelt sich dabei um jenen richtungsweisenden und zukunftsreichen Zwiespalt zwischen Mythus und Technik, dessen beide Glieder indes notwendig koexistieren. Die eine Grundströmung orientiert sich hier am Zeitlosen und Kosmischen, sie sucht nach den Urformen, und in diesem Geiste entdeckt sie primitive und archaische oder organische Formbildungen wieder. Die andere will den Weg der Zukunft einschlagen, wie die moderne Wissenschaft und Technik ihn vorzeichnen, und wählt sich als Ausdrucksmittel die geometrischen Abstraktionen und die architektonischen Korrelationen, die reine Fläche und die reine Linie, die durchsichtigen Formen und die streng konstruktivistischen Aufbauverfahren. Beide Strömungen richten sich komplementär gegen den bürgerlichen ästhetischen Kanon und beide münden auf verschiedenen Umwegen in das doppelseitige geistige Universum der Massendemokratie. Von allen Kunstformen, die das Anliegen der literarisch-künstlerischen Moderne zum Ausdruck brachten, ist Architektur diejenige gewesen, die den Rückgriff auf den Mythus kaum benötigt hat, 107

um die bürgerliche Synthese aus den Angeln zu heben. Hier genügte das ideelle Bündnis mit der zeitgenössischen Industrie und Technik völlig, und der Grund dafür lag allerdings in der materiellen Notwendigkeit dieses selben Bündnisses, d. h. im ursprünglichen Verwachsensein moderner Architektur mit den schnell steigenden industriellen und technischen Bedürfnissen. Die neuen architektonischen Formen bildeten sich zunächst an industriellen Nutzbauten heraus; Hauptvertreter der architektonischen Moderne begrüßten die industrielle Architektur als Vorbote der gerade anbrechenden Epoche und betonten nicht nur die materielle Interdependenz ihrer Kunst mit Industrie und Technik, sondern auch die Gemeinsamkeiten im Arbeitsstil. Trotzdem wollte moderne Architektur kein bloßes Anhängsel oder Nebenprodukt der Industrie sein, sondern sie entwickelte ihr Selbstverständnis auf der Grundlage von Annahmen, die die übrigen modernen Künste gleichermaßen geprägt haben. Angestrebt wurde zunächst eine Bestimmung des reinen Wesens der Architektur oder ihres spezifischen Charakters im Unterschied zu den anderen Künsten, um das rein Tektonische etwa vom Ornamentalen oder Malerischen abzusondern. Innerhalb des abgegrenzten Bereichs des Tektonischen wurde dann nach den reinen oder letzten Elementen gesucht, die jeder architektonischen Kombinatorik, also jedem Bauplan zugrundeliegen müßten. Bei dieser Suche klingen manchmal spekulative Töne an, die an die Theoretiker abstrakter Malerei direkt erinnern: es wird von den ewig feststehenden und gültigen Formen gesprochen, die in der Architektur hinter der Scheinwelt des Ornaments und im Universum hinter der empirischen Mannigfaltigkeit steckten, wobei Architektur als pure Schöpfung des Geistes in Übereinstimmung mit diesen kosmischen Urformen definiert wird. Prosaischer ausgedrückt erscheint derselbe Gedanke als Wunsch, zu den Grundlagen und -regeln allen Bauens zurückzukehren, also die Struktur des Baus in ihre letzten Komponenten aufzulösen, ihre Urzelle oder ihre reine Kernform ans Licht zu bringen, um dann auf der Basis dieser Analyse zur Synthese, d.h. zur Konstruktion überzugehen; so konnte die neue Architektur in dem Sinne „elementar" genannt werden, weil sie sich aus den letzten Elementen des Bauens entwickelt. Und da diese 108

letzten Elemente definitionsgemäß gleichwertig und -berechtigt waren, so durfte es im Bau, der aus ihrer Kombination entstand, kein Über- und Unterordnen mehr geben; die hierarchische Anordnung der Teile muß von dem Augenblick an entfallen, in dem das Ganze nicht mehr als organisches Gebilde, sondern als Zusammensetzung von einfachen und gleichermaßen unentbehrlichen Elementen aufgefaßt wird. Der Vorrang des funktionalen Gesichtspunktes setzte die moderne Architektur dem Vorwurf aus, sie würde dem engen utilitaristischen Geist dienen und das Schönheitsideal mit Füßen treten. In den Fällen, in denen man das Bedürfnis empfunden hat, auf diesen Vorwurf überhaupt zu antworten, bestand die Antwort im Grunde genommen in einer Tautologie, nämlich in der Reduktion von Schönheit auf die Normen moderner Architektur bzw. in der Annahme, Funktionalität sei nicht nur Funktionalität, sondern auch Schönheit. Insofern also moderne Architektur Ästhetik und Schönheit weiterhin vertreten und verteidigen will, identifiziert sie dieselben mit den funktionalen Notwendigkeiten, die nachträglich als schön oder ästhetisch befriedigend bezeichnet werden - eher, um dem geläufigen Wortgebrauch und taktischpolemischen Bedürfnissen Genüge zu tun, denn aus dem Interesse heraus, die Ästhetik im herkömmlichen Sinne neu zu begründen. Auf dem höchsten Abstraktionsniveau konnte freilich das Ästhetische durch die Behauptung abgesichert werden, die wahrhaft schönen Formen seien die Urformen; Harmonie konnte ihrerseits als logische Konstruktion, als ökonomischer Umgang mit den Mitteln oder als Spiritualisierung des Materiellen durch Abstraktion definiert werden, wobei vom guten „Stil" im bürgerlichen Sinne ohne Wehmut Abschied genommen wurde. Aber selbst die höchste Ebene der Urformen lag nur einen Schritt entfernt vom Bereich der praktischen Anwendung, in dem die funktionalen Gesichtspunkte allein maßgeblich waren. Denn der gewollte Verzicht auf alles Entbehrliche bedeutete Beschränkung auf die Grundformen, die bloß wiederholt werden mußten.Wird die Wiederholung zum wichtigsten Stil- und Konstruktionsmittel, so liegt der Gedanke der Standardisierung und der industriellen Serienproduktion nahe; die Analyse, die zu den Urformen oder den 109

letzten Bauelementen führte, erweist sich somit als bloße theoretische Vorarbeit für das praktische Ziel, nämlich für die Anpassung der Baukunst und -tätigkeit an das Zeitalter der Massenproduktion. Der Serienbau wird verherrlicht, und es wird erwartet, daß er zur Aufgabe der großen Industrie wird; die Ersetzung der natürlichen und heterogenen Baumaterialien durch künstliche und homogene sollte eben Standardisierung und Serienproduktion ermöglichen. Hinzu wird aber noch etwas anderes verlangt, nämlich die Durchsetzung jener Einstellung oder Lebenshaltung, die zum Wohnen und Arbeiten in derartigen Bauten gehört: der Geist des Kollektivs oder der Sinn für das Allgemeine und Universelle soll den kranken Geist des Individualismus ablösen, der sich in der Baukunst in Form des Eklektizismus und der Suche nach Originalität um jeden Preis manifestiert. Die offene Polemik der Verfechter moderner Architektur gegen den bürgerlichen Individualismus zeigt an sich, daß hier die Belange der Massengesellschaft, die sich auf dem Wege zur Massendemokratie befindet, den Ausschlag geben; es wird immer von den Massenbedürfnissen bzw. von den „Interessen der Gemeinschaft" her gedacht und das Problem der Einzelwohnung wird dementsprechend im Zusammenhang mit dem des Wohnblocks, des Straßenbildes und des Städtebaus erörtert und gelöst. Erklärtes negatives Ziel bleibt dabei die Vernichtung des eigenständigen und isolierten bürgerlichen Hauses, das eher repräsentativen denn praktischen Zwecken zu dienen scheint. An die Stelle der prunkhaften Standeseinrichtung soll der schlichte Gebrauchsgegenstand treten, das Haus soll in ein Instrument wie etwa das Auto verwandelt werden. Gegen das Ornament wird das formale Argument vorgebracht, es verschleiere die reine tektonische Gestalt und die notwendige innere Beziehung der elementaren Bestandteile des Bauwerkes, das daher heterogen anmute und in seiner Geschlossenheit und Einheitlichkeit beeinträchtigt werde. Dieses formale Argument, in dem der Gegensatz zwischen synthetischem und analytisch-kombinatorischem Anliegen steckt, wird des öfteren durch ein anderes begleitet, bei dem der soziale Gegensatz offener) zutage tritt. Das Ornament wird nämlich als Repräsentationsmittel einer bestimmten Klasse, und zwar des Bürgertums, 110

verurteilt und die Hervorhebung der Funktion gegen das Ornament dient jenseits aller formalen Erwägungen zur Anfechtung biigerlicher Ansprüche auf die führende Rolle in der Gesellschaft. Anders als das Ornament, das schließlich eine Sache des unberechenbaren persönlichen Geschmacks bleibt, ist Funktion etwas, das für alle gleichermaßen gilt und dessen praktische Notwendigkeit allen einleuchten und allen zugute kommen kann - Funktion ist also von ihrem Charakter her ubiquitär und dementsprechend egalitär. In Wirklichkeit hatte bürgerliche Architektur die utilitas weder übersehen noch verachtet, gemäß der grundlegenden Harmonievorstellung sollte aber diese im Zeichen der ästhetischen Idee oder der Idee überhaupt stehen; das Bauwerk sollte m.a.W. durch seine ästhetische Form die bloße Zweckmäßigkeit übersteigen und durch die Veredelung oder die elegante Uberdeckung des nackten Stoffes einen höheren Sinn und übergeordnete Werte veranschaulichen. Der architektonische Klassizismus verband sich zunächst mit der Forderung nach tektonischer Strenge, durchsichtiger Symmetrie und natürlicher Einfachheit, die sich gegen die dekorativen Neigungen des Rokoko wandte. Das war noch die heroische Zeit des Bürgertums, als seine Ideologen und Künstler aus dem republikanischen oder humanistischen Mythus von der Antike Muster und Ideale schöpfen wollten. Dies änderte sich aber schon vor der Mitte des 19. Jh.s, als das siegreiche oder im schnellen Aufstieg begriffene Bürgertum Repräsentationsbedürfnisse verspürte, teils um sich dem Adel anzugleichen, teils um nach außen zu demonstrieren, daß es auch auf diesem Gebiet mit den Blaublütigen erfolgreich konkurrieren konnte. Dann fängt die neue Blütezeit des dekorativen Stils an, wobei das Ornament den Kern des Bauwerks immer mehr verschleiert, während sich die Oberfläche gegenüber dem Baukörper fast verselbständigt; die Harmonie ergab sich hier aus der Symmetrie unterschiedlicher Einzelteile, nicht aus der rhythmischen Wiederholung gleicher Formen. Die Suche nach Ornamenten führte zur Nachahmung verschiedener Baustile oder -elemente aus der Vergangenheit und somit zu einem Eklektizismus mit historischem Einschlag. Der bürgerliche Historismus fand seinen architektonischen Ausdruck im Versuch, verschiedene tradierte Baustile zu 111

imitieren oder miteinander zu verbinden; im Rahmen des historistischen Eklektizismus fanden sogar stilistische Imitationen wie etwa die Neogotik Verwendung, die ursprünglich in der Absicht unternommen wurden, dem heidnisch-profanen bürgerlichen Klassizismus aristokratische Religiosität entgegenzustellen. Die Wiederbelebung alter Stilformen im 19. Jh. bedeutete jedenfalls keine organische Fortentwicklung derselben, sondern vielmehr ihre Einordnung in ein modernes Dekorationskonzept; erst die Entscheidung für die Dekoration machte den Weg für die Wiederentdeckung (von Aspekten) der architektonischen Tradition frei. Der Eklektizismus gab immerhin dem jeweiligen Bauherren die Möglichkeit, seine Repiäsentationsbedürfnisse auf individuelle Art und Weise geltend zu machen, da ihm Auswahl und Anordnung der dekorativen Elemente frei standen. Insofern waren Vielheit und Vielfalt dekorativer Formen Ausdruck des bürgerlichen Individualismus. Die neuen Baustoffe hatten bereits seit der Mitte des 19. Jh.s ihre Folgen für die Konstruktion an den Tag gelegt, die bürgerliche Architektur fuhr aber ohne Rücksicht darauf fort, ideologische und repräsentative Funktionen zu erfüllen, so daß die Gesamtentwicklung auf diesem Gebiet keineswegs einheitlich oder geradlinig verlief. Der Gegensatz zwischen Funktion und Form eines Bauwerks verschärfte sich jedenfalls, und allmählich traten die Alternativen klar hervor. Auf der einen Seite beruhte das Bauprinzip auf ästhetischen Gesichtspunkten, wobei Schönheit als Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen unter einem höheren Formgesetz aufgefaßt wurde; Symmetrie und Axialität galten als oberste Werte, und die Symmetrieachse sollte den Eindruck von Ausgewogenheit und Geschlossenheit erwecken, so daß der Raum sowohl durch die Abgrenzung gegen den Außenraum als auch durch den perspektivistischen Aufbau der Raumverhältnisse verendlicht wurde. Demgegenüber ging moderne Architektur vom Grundsatz aus, die Konstruktion solle die Form bedingen und nicht umgekehrt. Eine so bedingte Form mußte sich aber durch Einfachheit, Übersichtlichkeit, Geradlinigkeit, Härte und Eckigkeit auszeichnen, die Gliederung des Baukörpers mußte ausschließlich durch die Stufung der Baumassen, durch die Verteilung der Fenster und Offnungen sichtbar gemacht werden. Für unsere Fragestellung ist indes am wichtigsten, 112

daß der neue Vorrang der Konstruktion oder der Funktion den Primat der Größe „Raum" gegenüber der Größe „Zeit" nach sich gpzogen hat. Angesichts der engen Bindung des dekorativen Stils an historische Reminiszenzen implizierte die Kampfansage an das Ornament eine Absage an den Historismus in der Architektur und zugleich an die Geschichte überhaupt oder an die geschichtlich geladene Zeit als Quelle von Inspiration und als ästhetische Instanz. Die Funktion bedurfte hingegen keiner geschichtlichen Zeit, um sich zu definieren oder zu legitimieren, sie brauchte nur den Raum, um sich zu entfalten. Darüber hinaus enthielt die Eliminierung des Zeitfaktors eine Spitze, die sich speziell gegen die bürgerlichen Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen richtete. Der funktional erfaßte Raum der modernen Architektur berücksichtigte zwar die gegenwärtigen Bedürfnisse der Personen, die in einem Bau arbeiten oder wohnen sollten, im Gegensatz zum Innenraum des bürgerlichen Hauses nahm er aber keine Rücksicht auf die Vorgeschichte dieser selben Personen, d.h. auf ihre Verankerung in einer bestimmten Familientradition, die nach Möglichkeit gepflegt und fortgesetzt werden mußte, und ebensowenig wollte er von der Neigung des bürgerlichen Subjekts Notiz nehmen, sich zurückzuziehen oder sich gar gelegentlich zu isolieren. Die Anordnung des Raums ohne Rücksicht auf die Zeit als geschichtliche und als subjektive Zeit sollte den bürgerlichen Individualismus und zugleich den Hort solchen Individualismus, d.h. das Haus als Kristallisierung und als Träger einer Familientradition zerstören. Im Idealfall würden Häuser kürzer als Menschen leben, jede Generation würde sich sogar ihre eigenen Städte bauen können. Nach der Durchsetzung des funktionalen Gesichtspunktes und der damit verbundenen Eliminierung des geschichtlichen Elements oder des Zeitfaktors erscheint das Bauwerk vornehmlich als Gestaltung des Raumes - ja es ist in seinem Wesen nichts anderes als Raum, der sich im Baukörper verdichtet und in seiner Ausprägung als Baumasse die Form von stereometrischen Gebilden (Kugel, Würfel, Pyramide) mehr oder weniger deutlich annimmt. Die Verdichtung des Raumes im Bauwerk heißt nicht, daß das Bauwerk den Außenraum in sich aufnimmt und gleichsam aufsaugt. Die Sache wird vielmehr so vorgestellt, als ob das 113

Bauwerk ein Stück Raum bildete, das durch die zweckmäßige Verwendung dazu geeigneter Materialien und Mittel aus dem Raum als Ganzem herausgeschnitten worden wäre; dabei soll aber keine unüberwindliche Grenze zwischen dem Raum als Bauwerk und dem übrigen, also dem kosmischen Raum entstehen, vielmehr wird Wert darauf gelegt, daß die Einheit des Raumes bewahrt wird und das Bewußtsein wach bleibt, im Raum als Ganzem zu leben und sich mit dem Raum als elementarer Voraussetzung des Daseins ständig auseinandersetzen zu müssen. Moderne Architektur will vom geschlossenen zum offenen, vom begrenzten zum unbegrenzten Raum übergehen; Innen- und Außenraum müssen sich deshalb gegenseitig durchdringen und in dieser ihrer Durchlässigkeit ein ganz anderes Raumerlebnis als die geschlossenen Baumassen erwecken. Denn hier verschwindet nicht bloß die Abgrenzung von Innen und Außen gegeneinander, sondern gleichzeitig die harmonische Proportionalität im Sinne klassischer Architektur und sogar der Unterschied zwischen Oben und Unten; wie in der abstrakten Malerei ein Gemälde, so kann auch in der modernen Architektur ein Bau auf den Kopf oder auf die Seite gestellt werden, ohne daß sich der ästhetische Eindruck dadurch änderte. Dennoch ist keine Monotonie beabsichtigt. Im Gegenteil, die Abschaffung der Axialität und der Perspektive soll die Einsicht in die Multidimensionalität und die innere Vielheit des Raumes ermöglichen, die sich sowohl beim Übergang der einzelnen Räume ineinander oder im häufigen Schnitt von horizontalen und vertikalen Elementen zeigt als auch an der Vielfalt der Perspektiven, die sich aus der Beseitigung des einen einzigen Brennpunktes ergibt. Der Reichtum der inneren Beziehungen dieses mehrteiligen und doch einheitlichen Raumes läßt sich von einem einzigen Standpunkt aus erfassen und beschreiben. Man muß sich im Raum bewegen, um der Struktur des Raumes innezuwerden, um Inneres und Außeres in ihrer Aneinanderreihung so zu betrachten, als ob es sich dabei um die kubistische Darstellung eines Gegenstandes gehandelt hätte. Die innere Vielfalt des Raumes soll also seiner Offenheit und Einheit keinen Abbruch tun. Das Bauwerk ist und bleibt ein Stück Raum, das nach funktionalen Gesichtspunkten unterteilt ist. Die daraus entstehenden einzelnen Raumteile fließen ineinan114

der, zugleich scheinen sie sich aber in verschiedenen Richtungen zu bewegen, da die Flächen, von denen sie umfaßt werden, als unendlich ausgedehnt oder ausdehnbar, d. h. in ihrer Beziehung zur Unendlichkeit des kosmischen Raumes vorgestellt werden können. Das Bauwerk kann daher auch als die Kombination einer Vielzahl von Flächen miteinander definiert werden (dies macht wiederum die ebene Platte zum wichtigsten Konstruktionselement und fördert somit die Standardisierung und die Serienproduktion) - Flächen, die die räumliche Erweiterung des Bauwerks nach allen Richtungen hin bewirken. Eine solche räumliche Erweiterung wird durch das flache Dach bezweckt, das indizieren soll, daß das Bauwerk keinen Abschluß nach oben hat, also nach allen Seiten hin offen bleibt und eben dadurch die freie Gestaltung seines Innenraums zuläßt: das spitze Dach und der damit zusammenhängende Zwang zur Axialität und zur Symmetrie standen ja einer solchen freien Gestaltung im Wege. Dieser letzteren sollen auch die anderen Schutzflächen sowie die Trennflächen (d. h. die Außen- und die Innenwinde) dienen. Die Skelettkonstruktion machte die Wände zu unabhängigen, ja z.T. beweglichen Bauelementen, sie mußten also nicht mehr in ihrer Massivität den Bau tragen und einen festen Platz in ihm einnehmen, sondern sie wurden im Gegenteil vom Skelett getragen und konnten derart gebaut werden, daß sie durch ihre Transparenz und Leichtigkeit die Einheit der Innenräume sowie die gegenseitige Durchdringung von Innen- und Außenraum vor Augen führen; sie sind eigentlich nicht da, um Raumteile voneinander zu trennen, sondern nur um den absolut notwendigen Schutz gegen Witterung, Hitze, Kälte und Lärm zu gewähren. Die Werkstoffe moderner Architektur, die an sich amorph sind und erst gegossen werden müssen, wirken im Gegensatz zu den Naturstoffen in vielerlei Hinsicht entmaterialisierend und fördern die angestrebte Einheit der inneren Raumteile sowie von Innen- und Außenraum miteinander. Glas macht Transparenz zur Selbstverständlichkeit und, indem es die Trennung zwischen Innen und Außen praktisch aufhebt, bringt es symbolisch die Tatsache zum Ausdruck, daß es mit der grundsätzlichen bürgerlichen Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem nunmehr vorbei ist. Eisen und Stahl entlasten andererseits 115

das Bauvolumen erheblich, indem sie die Fläche verringern, die von tragenden Bauelementen besetzt werden muß. Außerdem ermöglichen die neuen Baustoffe und Konstruktionsmethoden die Uberbrückung von großen Spannweiten und die Schaffung von riesigen stützfreien Räumen. Das neue Raumgefühl und -bedürfnis erfordert aber sehr oft asymmetrische Lösungen, wobei die Asymmetrie durch die rhythmische Spannung und Bewegung der Baumassen kompensiert wird. Dank der neuen Raumkonzeption und -gestaltung kann also Bewegung und Dynamik in das Bauwerk (wie auch in die moderne Plastik) hineingetragen werden, um die Starrheit axialer Konstruktion ein für allemal zu überwinden: in Bewegung wird das Bauwerk in dem Maße gesetzt, wie sich Raum und Bauwerk gegenseitig durchdringen. Die Elastizität der Baustoffe überträgt sich nun als Spannung auf das Bauwerk, das als immer vorläufige Resultante eines unendlichen Kräftespiels im Raum erscheint. Der neue Vorrang des Raumfaktors konnte in der modernen Architektur im Raum selbst sichtbar gemacht werden. In der Musik war dies ebensowenig wie in der Literatur möglich; in jener wie in dieser erfolgte die Verräumlichung der Welt und der Weltwahrnehmung dadurch, daß das ehemals hierarchisierte synthetische Ganze in letzte, untereinander gleichwertige Elemente aufgelöst wurde, die dann auf einer ideellen Fläche ausgebreitet und miteinander kombiniert werden durften. Das Endstadium der Verräumlichung bringt also einen hohen Grad an Formalisierung mit sich - und die Feststellung ist hier interessant, daß die Entwicklung in der Musik, die schließlich zu der Formalisierung führte, ähnlich wie in der Literatur oder in der Malerei mit einer Aufweichung oder Verflüssigung herkömmlicher fester Formen begann, die zwar zunächst als sentimentale Entgleisung anmutete, dennoch wesentlich dazu beitrug, den hinter der Geschlossenheit der bürgerlichen Synthese steckenden Reichtum an verstreuten Materialien und unerforschten Möglichkeiten ins Bewußtsein zu bringen. Die Auflösung der klassischen Form in der Musik setzte dann ein, als die gefühlsmäßig geladene Chromatik die Grenzen der Tonalität, bei der ein Grundton (die Tonika) den Aufbau und die Aufeinanderfolge der Akkorde bestimmte, überflutete und all116

mählich überschwemmte. Dieser Vorgang vollzog sich in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Umwegen, sein Abschluß führte aber einen Zustand herbei, in dem die Veriäumlichung der musikalischen Weltwahrnehmung möglich war. Die Aufgabe der Grundtonart bewirkte eine Erweiterung des Klanges, wodurch Zerfließen und dauerndes Modulieren zu wichtigen musikalischen Ausdrucksmitteln wurden. Die Klänge galten nun in erster Linie als Farbwerte, und in dem Maße, wie die Grundtöne durch bloße Leittöne ersetzt wurden, verselbständigten sich die Klänge und konnten oder mußten in einem nuancenreichen Spannungsverhältnis nebeneinander existieren. Die Ganztonleiter beseitigte die tonalen Schwerpunkte, und in den Akkordbeziehungen wurden nicht mehr die Gegensätze, sondern eher die Affinitäten hervorgekehrt. In anderen Fällen löste man sich von der Grundtonart los, indem man die Dreiklangharmonik durch einen sechstönigen Akkord ersetzte, der sich aus reinen und alterierten Quarten zusammensetzte. Dadurch wurden die hierarchischen Strukturen bürgerlicher Musiktheorie und -ästhetik mehr oder weniger abgebaut, mit der einsetzenden Nivellierung der Hierarchien gingen aber auch die Anfänge einer Fragmentierung des synthetisch aufgefaßten Ganzen einher, die sich nicht zuletzt an den Wandlungen der Melodie zeigte. An die Stelle der endlosen Melodie, in deren Zeichen die Chromatik zuerst die Grundtonart verdrängte, traten bald geschlossene und knappe Melodien, die in manchen Fällen sogar auf wenigen Noten beruhten, oder aber parallele Melodielinien, die nicht auf der Basis harmonisch-klanglicher Gesetze gestaltet waren; Polymetrik und Polyrhythmik verdrängten gleichzeitig den traditionellen Rhythmus. Nivellierung und Fragmentierung, Verflüssigung und freier Wiederaufbau des organischen bzw. hierarchischen Ganzen hatten außerdem zur Folge, daß musikalische Elemente, die früher als miteinander unvereinbar galten oder nur als Glieder einer Antithese miteinander verbunden werden konnten, nun ohne weiteres einander näher kommen und im Rahmen derselben musikalischen Einheit fungieren durften. Der Verzicht auf ein tonales Zentrum ermöglichte die Verkoppelung von Tonarten, die einen sehr geringen Verwandtschaftsgrad aufwiesen, während die Dissonan117

zen, die sich daraus ergaben, musikalisch genauso wie die Konsonanzen eingestuft und behandelt wurden. Der Sieg der Chromatik über die Grundtonart erweiterte gleichzeitig den Bereich der Tonalität, da die fünf Töne der chromatischen Skala mit den sieben diatonischen gleichgestellt wurden. Bitonalität und Polytonalität lagen nunmehr nahe, und sie sind in der Tat als Entwicklungsstufen zur Atonalität zu betrachten, obwohl sie die alten Dur- und Moll-Tonarten bewahrten. Atonalität setzte aber noch etwas anderes voraus, nämlich die extreme Formalisierung der Komposition, und zwar im Bewußtsein der Notwendigkeit, an Hand der Regeln einer bestimmten Kombinatorik ohne Rücksicht auf andere Faktoren zu verfahren. In diesem Bewußtsein haben sich die Schöpfer atonaler Musik der Nachahmung der Natur oder der Nachahmung von Eindrücken und Gefühlen entgegengesetzt. Wie sich die Abstrakten gegen die Impressionisten haben wenden müssen, obwohl sie selbst aus einer Entwicklung hervorgingen, an deren Anfang die Impressionisten standen, so mußte man nun vom Sentimentalismus und von der Imitationstheorie, die im Vorrang der Chromatik zur Geltung kamen, Abschied nehmen, um die moderne Musik auf rein kombinatorischer und verräumlichter Basis zu begründen. Wegweisend war dabei die analytische Einstellung, d.h. der Wunsch, jenseits aller Gefühle und Stimmungen die musikalischen Grundelemente in ihrer Reinheit wiederzuentdecken. Dazu mußte man aber diese Elemente aus ihren früheren symmetrischen Ordnungen herauslösen. Die neue Priorität des Elementaren und Irreduzierbaren äußerte sich daher in der Auffasung, jede musikalische Einheit ein Klang, ein Ton oder ein Akkord - solle an sich und nicht auf Grund ihrer jeweiligen Beziehung zu einem harmonischen Ganzen ästhetisch beurteilt werden; jede solche Einheit stelle also eine selbständige Verdichtung des Musikalischen dar und bedürfe keiner Einordnung in einen melodisch-zeitlichen Zusammenhang, um sich als solche erkennen zu lassen. Gleichzeitig wurde eingesehen, daß die Befreiung der einzelnen Elemente von ihren früheren Bindungen eine Änderung des Charakters und der Ziele kompositorischer Arbeit bedeutete. Komposition wurde immer mehr als Spiel mit Themen, Klängen, Rhythmen und Formen aufgefaßt, 118

der formal-strukturelle Aspekt gewann also zunehmend die Oberhand und die Konzentration auf die Form diente ihrerseits als Mittel dazu, mit dem endgültig zu brechen, was für Sentimentalismus oder unzuverlässiger Subjektivismus gehalten wurde. Die Verschiebung des musikalischen Schwerpunktes vom Harmonisch-Klanglichen zum Formal-Strukturellen implizierte also eine Herabsetzung dessen, was bis dahin als der geistige Gehalt der Musik galt, und eine entsprechende Aufwertung des technisch-handwerklichen Aspekts. Es wurde zwar keineswegs geleugnet, daß Musik Schöpfung und Ausdruck des Geistes ist, dieser Geist war aber nicht mehr der teils humanistische, teils romantische bürgerliche, sondern der analytisch-kombinatorische Geist, der sein Selbstverständnis in der Abgrenzung gegen bürgerliche Verschwommenheit suchte und fand. Der höhere Zweck der Form wurde fortab nicht in der Schönheit gesehen, sondern Form hieß vornehmlich präzise Organisation zur Formulierung präziser Gedanken. Auch in der Frage der Tonalität galten ästhetische Kriterien im alten Sinne nicht als maßgeblich, vielmehr schien der Vorzug atonaler Musik in ihrer Fähigkeit zu liegen, größere formale Einheit und Geschlossenheit zu erzielen. Die bürgerliche Synthese und der bürgerliche ästhetische Kanon wurden indes nicht bloß mit Hilfe der Instrumente des formalistischen und konstruktivistischen Geistes zerstört. Wie auf anderen Gebieten der literarisch-künstlerischen Moderne Geist des Mythus und Geist der Technik im antibürgerlichen Sinne zusammenwirkten, so gingen auch auf dem Gebiet der Musik, wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet, heterogene Strömungen und Schöpfungen ein antibürgerliches Bündnis ein. Die konstruktivistische Einstellung der Zwölftonmusik kam - nicht zufällig - zur selben Zeit zum Durchbruch, in der man anfing, das Dionysische an der Jazzmusik zu entdecken und zu feiern. Von ihrem besonderen Einfluß auf einzelne moderne Komponisten abgesehen trug Jazzmusik in der Tat erheblich dazu bei, das alte symmetrische Rhythmusempfinden durch ein viel komplizierteres, zwei- oder vielschichtiges, m.a.W. polyrhythmisches zu überholen. Das Gefühl für Rhythmus verbindet sich aber hier mit der Respektlosigkeit vor der melodischen Linie, das Fragmentarische und sich Wiederholende 119

tritt als ständig gebrochener Rhythmus an die Stelle der bruchlos fließenden Harmonie. Die Komposition ist offen, sie kann endlos fortfahren oder plötzlich aufhören, es gibt keine Teile, die sich einem wohltemperierten Ganzen unterordnen, sondern nur Stücke, die beliebig miteinander verbunden werden; Exkurse, Improvisationen und unvermittelte Höhepunkte sind ebenso kennzeichnend und wesentlich wie die rhythmischen Einheiten auch. Die synthetisch-hierarchisierende Einstellung macht der Freude am ständigen Spiel mit ungebundenen und gleichwertigen Elementen Platz. Bei aller Anerkennung der Selbständigkeit der zwölfstufigen chromatischen Tonleiter, die nicht mehr als bloße Färbung der Dur- und Moll-Tonart angesehen wurde, konnten zunächst alle zwölf Töne dieser Tonleiter weiterhin auf einen einzigen Ton bezogen werden. Der letzte Schritt zum Abbau traditioneller Hierarchie und zur Veriäumlichung der musikalischen Gesamtkonzeption erfolgte, als die absolute Gleichberechtigung aller zwölf Töne angenommen und ihre harmonische Beziehung zueinander geleugnet wurde. Grundlage des Musikstückes war fortan nicht ein harmonischer Grundton und die entsprechende Grundtonart, sondern eine zwölftonige Reihe als Folge einzelner Töne, die mechanisch rotieren und getrennt voneinander bleiben, damit eine absolute Reinheit der Klänge erzielt werden kann. Die regelmäßige Verwendung einer Reihe von zwölf Tönen bewirkt, daß jeder Ton nicht mehr und nicht weniger als jeder andere zur Geltung kommt, weshalb auch keiner eine privilegierte Stellung für sich beanspruchen darf; die Wiederholung eines Tons in der Reihe, die das Thema abgibt, wird (mit Ausnahme unmittelbar anschließender Wiederholung und Oktavierung) vermieden, damit der sich wiederholende Ton nicht als Grundton aufgefaßt werden kann, und die Verwendung aller zwölf Töne innerhalb der Reihe dient eben dazu, die Wiederholung jedes Tons so lange wie möglich zu verschieben. Die Gleichschaltung der Töne bedeutet aber zugleich eine Anerkennung ihrer Selbständigkeit, da nun alle absolut nebeneinander bestehen und nicht wechselnd gedeutet werden können; wie man bemerkte, handelt es sich hier eigentlich nicht um Atonalität, sondern um Pantonalität, d.h. um die parallele 120

und gleichwertige Verwendung aller Töne. Die analytische Einstellung wird daran sichtbar, daß die musikalischen Elemente zunächst voneinander getrennt und dann miteinander kombiniert werden, wobei die Findung der möglichen Kombinationen großenteils zur Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird. Musikstücke bestehen aus den strengen Wiederholungen und Umkehrungen der Themen, die in der Grundreihe gebildet werden, Grundreihe und Umkehrung bzw. Krebs und Krebsumkehrung sind unter sich genauso wie die Töne untereinander gleichberechtigt. Das grundsätzliche Anliegen, alle musikalischen Elemente auf einer einzigen Fläche einzeln auszubreiten und gleichberechtigt zu behandeln, meldet sich aber nicht nur darin, daß Reihung und Wiederholung Entwicklung und Durchführung verdrängen oder daß kontrastierende Themen nebeneinander gestellt werden, sondern auch im freien Gebrauch der Dissonanz (teilweise unter völligem Verzicht auf Konsonanz) sowie in der Auflösung der alten Verbindung zwischen Melodie und Klang und in der Durchsetzung der klanglichen Faktoren gegenüber den melodischen. Gerade die Autonomisierung der einzelnen musikalischen Elemente und die Nivellierung der Hierarchien, in denen diese Elemente vor ihrer Autonomisierung verankert waren, vereinheitlichen den Raum derart, daß es in ihm kein absolutes Unten und Oben, Rechts oder Links, Vor- oder Rückwärts gibt. Es gibt nur Beziehungen zwischen Klängen und Tönen, Beziehungen, die ihre Stellung im Raum haben und räumlich gedacht werden können. Räumlich gedacht ist auch die Gesamtstruktur der Komposition, in der sich Grundreihe, Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung schematisch auf einer ebenen Fläche entfalten. Die Filmkunst konnte auf keine Tradition zurückblicken und mußte sich daher weder im Gegensatz zu einer solchen neu definieren (die seinerzeit naheliegenden und üblichen Vergleiche mit dem Theater zielten in der Regel auf die Herausarbeitung des radikal neuen Charakters der Filmkunst ab) noch sich befleißigen, eine schon vorhandene künstlerische Synthese auf diesem Gebiet aufzulösen, um nach letzten Elementen als materielle Ausgangsposition eines kombinatorischen Verfahrens zu suchen. Sie entstand und gedieh in aller Selbstverständlichkeit vor dem Hinter121

grund des sich schon vollziehenden Zusammenbruchs der bürgerlichen Synthese, und zwar jener Aspekte von ihr, die direkt die Wahrnehmung der Welt betrafen. Das heißt: das Weltbild der Filmkunst, wie es sich auf Grund der technischen Möglichkeiten ihrer Ausdrucksmittel gestaltete, beruhte auf einer anderen Einstellung zu Raum, Zeit und Kausalität als jene, die die bürgerliche Weltwahrnehmung kennzeichnete. Raum und Zeit bilden hier keine geschlossenen Einheiten oder gleichförmigen Kontinuen, innerhalb deren sich die Dinge so anordnen oder abspielen, wie die Kausalität es bestimmt; im Gegenteil, sie werden in kleinere oder größere Stücke zerschnitten, die ihrerseits nicht oder nicht notwendig unter Wahrung strenger Kausalprinzipien aneinandergereiht werden. Die Zerstückelung des Raums und der Zeit in Einheiten unterschiedlichen Umfangs geht also mit der Aufhebung oder Relativierung der Kausalität einher, wobei nunmehr Kontinuität in einer solchen Aufeinanderfolge besteht, die mehr oder weniger offen bleibt und dementsprechend eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten zuläßt. Das, was nach dem Fortfall der im Raum und Zeit wirkenden Kausalität der bloßen Aufeinanderfolge Kohärenz und Geschlossenheit verleiht, ist die Tätigkeit einer Intelligenz, die das verfügbare Material an Wirklichkeitsstücken bzw. an Bildern gemäß der angenommenen Funktionsweise oder den Fähigkeiten menschlichen Geistes organisiert und dabei an die Assoziationskraft, die Aufmerksamkeit, die Phantasie oder das Gedächtnis des Zuschauers appelliert. Indem sich der Film über die raumzeitliche und kausale Ordnung der alltäglichen Erfahrung hinwegsetzen und aus dem Wirklichkeitsbild ein Werk der frei kombinierenden Intelligenz machen kann, nähert er sich von seiner Struktur her wie kein anderes Kunstwerk dem Traum an. Gewiß, moderne Lyrik arbeitet nicht weniger als die Filmkunst mit assoziativen Verbindungen etc., im Film werden aber Bilder (und nicht etwa Wörter, die für Bilder stehen) direkt und als solche miteinander assoziiert; in der modernen Malerei, zumal der surrealistischen, tauchen wiederum sehr oft Traumbilder auf, diese können aber nur unbewegliche, gleichsam erstarrte Träume zeigen, während sich im Film jene ständige Bewegung und jener fließende Ubergang von Bild zu Bild reproduzieren lassen, die ein we122

sentliches Merkmal des Traumes ausmachen. Das ist der Grund, warum der Film nicht nur selbst Traumstruktur aufweisen, sondern auch als einzige Kunst Träume als Träume (re)konstruieren kann. Film und Traum sind gleichermaßen zu unendlichen Metamorphosen, Variationen und Kombinationen fähig, und obwohl sich der Film aus naheliegenden Gründen nur in begrenztem Ausmaß oder nur relativ selten als pure Traumstruktur gestaltet und ausschließlich mit freien Assoziationen arbeitet, bleibt doch für ihn als Genre die Möglichkeit wesentlich, Zusammenhänge von Dingen, Räumen und Zeiten darzustellen, die in der alltäglichen Erfahrung nicht vorkommen. Man könnte also den doppelten Wesenszug der Filmkunst in der Formulierung zusammenfassen, sie mache aus der Realität etwas Irreales, diesem Irrealen verleihe sie aber gleichzeitig Substanz und Realität. Die Projektion der Dinge auf eine flache Leinwand scheint ihnen die Tiefendimension zu bewahren, und dennoch werden sie dadurch ihrer Materialität wenigstens teilweise entkleidet, sie werden beweglicher und flüssiger, als ob sie über die Leinwandfläche gleiten würden. Die Bilder besitzen Eigenrealität, sie sind Wesen unter anderen Wesen oder Elemente einer selbständigen Welt. In ihrer künstlerisch anspruchsvollen und geglückten Form sollen sie das vermitteln, was das bloße Auge und die abgestandene Sehgewohnheit nicht erfassen. Denn sie enthalten nicht primär „die" Realität, sondern vielmehr eine ideale Betrachtung derselben - und eben dieser ideale Aspekt gewährt ihnen ihre Uberzeugungskraft. Durch die Bilder werden die Dinge gleichsam gesiebt, selektiv behandelt und zugleich in bestimmte Grenzen, d.h. in einen bestimmten Rahmen eingeschlossen, obwohl in manchen Fällen eine Fortsetzung des Bildes über das auf der Leinwand Gezeigte hinaus geradezu suggeriert wird. Die Realität wird somit durch die Bilder nicht (partiell) wiedergegeben, sondern in ihren interessanten oder wesentlichen Aspekten zusammengefaßt und in dieser ihrer Verdichtung vor Augen geführt, die ausgewählten Dinge verwandeln sich aus Elementen der Welt in Elemente einer Aussage über die Welt. Mittels seiner Einbeziehung in das Bild wird ein Gegenstand in ein bestimmtes Milieu oder raumzeitliches Kontinuum eingeordnet, er tritt dadurch in neue Beziehun123

gen zu anderen Gegenständen und wird zum Teil einer gerade geschaffenen neuen Realität oder genauer zum Beweisstück einer subjektiven Betrachtung der gerade interessierenden Realität. Bereits die Bildkomposition bringt also entweder durch die Anordnung des Inhalts (Gruppierung oder Verteilung von Menschen oder Gegenständen) oder durch andere Mittel (Verteilung von Licht und Dunkel, Schärfe oder Unscharfe, Ruhe oder Bewegung) eine bestimmte Betrachtungsweise zum Ausdruck. Es geht immer um eine besondere Optik, um eine besondere Perspektive - und das radikal neue, unerschöpfliche Potential der Filmkunst besteht eben darin, Optik und Perspektive ständig und nach Belieben ändern zu können, wobei die Beweglichkeit des Blickwinkels die Kombinierbarkeit der Gegenstände miteinander unbegrenzt steigen läßt, gleichviel, ob die Kombinationen tatsächlich gezeigt oder der Assoziationsfähigkeit und der Phantasie des Zuschauers überlassen werden. Die Vielfalt der Perspektiven umfaßt nicht nur Verlegungen des Bildzentrums je nach den Bedürfnissen der Erzählung und nicht nur verschiedene Ansichten und Aspekte desselben Gegenstandes je nach der ihm jeweils beigemessenen Bedeutung, sondern auch die parallele Entfaltung sowie die damit gleichzeitig stattfindende Kreuzung mehrerer subjektiver Betrachtungsweisen, die sich sowohl auf Gegenstände als auch auf Personen beziehen. Die Suche nach dieser Vielfalt der Perspektiven sowie der Gegenstände, die in der jeweiligen Perspektive auftauchen können, erzeugt die multidimensionale Bewegung, von der der Film lebt. In technischer Hinsicht ergibt sich die Vielfalt und die Simultaneität der Perspektiven aus der Bewegung der Kamera nach verschiedenen Richtungen, mit unterschiedlicher Schnelligkeit und in unterschiedlichem Abstand vom Gegenstand. Genaugenommen beginnt die Geschichte der Filmkunst als Kunst mit charakteristischer Weltwahrnehmung und eigener Ästhetik mit der Einführung der beweglichen Kamera. Die anfangs verwendete unbewegliche Kamera konnte bloß das Geschehen in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit wiedergeben, ohne die Perspektive ändern zu können, in der dieses Geschehen gesehen werden mußte. Bewegung gehörte zwar bereits damals zum Wesen 124

des Films, da ohnehin nur im Film Bewegung als solche und in ihrem Ablauf, nicht bloß in ihrer Kristallisation während eines bestimmten Augenblicks gezeigt werden konnte, doch gestattete es die Statik des Rahmens und der Perspektive nicht, die Grenzen der einfachen realistischen Darstellung zu sprengen. Auch nach der Einführung der beweglichen Kamera hörte die Bewegung des Gegenstandes keineswegs auf, einen wesentlichen Faktor der Filmökonomie zu bilden; sie blieb weiterhin eine der beiden großen Quellen, aus denen Bewegung flöß, und erst die geglückte Kreuzung der Bewegung des Gegenstandes mit der Bewegung der Kamera konnte in der Regel den erwünschten Effekt erzielen. Dennoch mußte letztere aus verschiedenen Gründen eine übergeordnete Bedeutung erlangen. Erstens kann die Kamera nicht nur den Standort wechseln, sondern auch im horizontalen oder vertikalen Sinne schwenken und überdies die Brennweite variieren, um größere oder kleinere Räume zu erfassen; die Bewegung des Gegenstandes hat hingegen offensichtlich physische Grenzen und zudem stößt sie, wenn sie sich nach oben, unten, rechts oder links richtet, auf die Grenzen der Leinwand - nur die Bewegung zu oder weg von der Kamera ist grundsätzlich unbegrenzt und erweckt die Illusion der Tiefe auf einer ebenen Fläche. Zweitens bleibt die Bewegung der Kamera von der Bewegung des Gegenstandes wenigstens in dem Fall unabhängig, in dem sich die Kamera bewegt, während der Gegenstand ruht. Die Bildkomposition wird dann allein durch die Bewegung der Kamera bedingt, die sich zum Ziel setzt, den Gegenstand zu erforschen, seine prima vista unauffälligen, aber wesentlichen Züge ans Licht zu bringen oder aber ihn als Ganzes unter einem neuem Blickwinkel oder in einem neuen Zusammenhang zu betrachten. Total- und Großaufnahmen wechseln sich ab, wobei jene die synthetische, diese die analytische Kraft der Kamera erkennen lassen, indem sie die Spannung oder die Dynamik aufzeigen, die selbst dem innewohnen kann, was aus der Ferne statisch oder ausdruckslos erscheint, und indem sie durch die Zerlegung des Gegenstandes in Einzelteile eine Tiefendimension zutage fördern, die mikroskopisch auf Makroskopisches schließen läßt. Drittens kann die Bewegung der Kamera die Bewegung des Gegenstandes dadurch relativieren, daß sie 125

parallel mit dieser verläuft oder aber durch ihre größere Schnelligkeit die Richtung der Bewegung des Gegenstandes scheinbar umkehrt. Dieselbe Relativierung kann durch die Beeinflussung der Ablaufsgeschwindigkeit des Bildstreifens während der Aufnahme erreicht werden (Zeitraffer, Zeitlupe). Wichtig bei all diesen Fällen ist, daß die aus der Vielfalt der Bewegung hervorgehende Vielfalt der Perspektiven die Beziehung des Zuschauers zum Dargestellten auf eine neue Basis stellt. Die Handlung im Theater spielte in demselben Raum und wurde vom Zuschauer immer aus derselben Entfernung und unter demselben Blickwinkel betrachtet; Entfernung und fester Standort wurden übrigens für notwendig erachtet, um das Dargestellte als in sich ruhende und Ehrfurcht einflößende Totalität wahrzunehmen. Ganz anders beim Film: Raum der Handlung, Entfernung, aus der die Handlung verfolgt wird, und Standort des Zuschauers ändern sich ständig, obwohl sich seine Position gegenüber der Leinwand ebensowenig ändert wie die gegenüber der Bühne. Der Zuschauer kann das Geschehen von außen, aber auch von innen und in wechselnder Perspektive verfolgen - und er hat die zusätzliche Möglichkeit, sich mit dem Blick der Kamera zu identifizieren und gleichzeitig kritischen Abstand davon zu halten; dadurch wird er zum Betrachter eines Gegenstandes und zugleich zum Betrachter einer bestimmten Betrachtung dieses selben Gegenstandes. Der Film lebt also, wie wir wiederholen müssen, von der Bewegung, zumal viele und charakteristische Bewegungsarten nur durch seine spezifischen Ausdrucksmittel (und nicht etwa durch die der Tanzkunst, die gleichfalls von der Bewegung lebt) wiedergegeben werden können. Bewegung kommt schon bei der Bildkomposition als sichtbare Bewegung des Gegenstandes und als unsichtbare Bewegung der Kamera maßgeblich ins Spiel, maßgeblicher noch wirkt sie aber bei der Kombination der Bilder miteinander zur Herstellung der filmischen Einheit. Denn diese Kombination bestimmt die Art und Weise, wie der Film den Gesamteindruck der Bewegung vermittelt, und außerdem ist sie Bewegung selbst, d. h. in ihr und durch sie wird deutlich, in welchem Ausmaß Filmkunst auf die sich abwechselnde Zerstückelung und Vereinheitlichung der Wirklichkeit unter unablässiger oder häufiger 126

Überschreitung der raumzeitlichen und kausalen Schranken alltäglicher Erfahrung angewiesen ist. Der Wechsel der Blickrichtungen, der eine immer neue Betrachtung einzelner Dinge gestattet, steigert sich hier regelrecht zum Aufbau einer ganzen multidimensionalen und selbstgenügsamen Welt an Hand der bereits fertiggestellten Bauelemente, d. h. der Bilder. Diese Bilder sind indes ursprünglich im Hinblick auf ihre Kombination mit anderen Bildern konzipiert und angefertigt worden, sie sind also sowohl Kompositionen mit eigenständigem künstlerischem Anspruch als auch Glieder eine Kette, die ihren vollen Sinn nur innerhalb des Ganzen erhalten. Man könnte auch sagen, daß sie einzelne Phasen der Einen großen Bewegung darstellen, die der Film ausmacht. Ist Bewegung Wesen und inneres Gesetz des Films, so kann sie bei keinem einzelnen Gegenstand und keinem Bild endgültig haltmachen, sondern muß sich bis zu dem Punkt fortsetzen, an dem die Reihe der Gegenstände und der Bilder einen natürlichen Abschluß erreicht. Zu diesem Abschluß kommt aber die Bewegung nicht geradlinig, sondern über ständige Fragmentierungen und vorläufige Vereinheitlichungen, die sich zu der abschließenden Vereinheitlichung ähnlich verhalten wie die Fragmente zu den vorläufigen Vereinheitlichungen selbst. Einstellungen (die kleinsten Einheiten des Films im technischen Sinne der ununterbrochenen Kameraaufnahme) und Szenen bzw. Sequenzen (die kleinsten Einheiten des Films im dramaturgischen Sinne der zusammenhängenden Folge von Einstellungen) sind Ganzheiten und zugleich Bruchstücke - was dem Charakter der Bildkombination oder der Montage durchaus entspricht: Montage ist gleichzeitig Trennung und Verbindung, getrennt wird also hier im Hinblick auf eine Verbindung, von der jedoch immer gewußt wird, daß sie auf Trennungen und Fragmentierungen beruht. Die Bildkomposition bleibt eine Arbeit und ein Kunstwerk für sich, erst die Montage liefert aber die endgültige Interpretation des einzelnen Bildes, denn erst dessen Koppelung oder Konfrontation mit anderen Bildern innerhalb der Szene oder der Sequenz läßt erkennen, welche Elemente im Bild für die Handlung bzw. für den Film als Ganzes wesentlich sind. Je nach seiner Stellung innerhalb der Bilderreihe zeitigt das einzelne Bild unterschiedliche Effekte, was wiederum 127

heißt, daß die Montage etwas mehr als das mitteilt, was die einzelnen Bilder enthalten. Das bloße Aneinanderreihen von Bildern oder Begebenheiten wird somit erweitert zur Konstruktion von Situationen; die Dauer der Einstellungen oder der Sequenzen, ihr innerer Rhythmus und der Ubergang von der einen zur anderen werden dabei durch die Montage gestaltet und bestimmen den Charakter dieser Situationen. Montage besteht also nicht bloß im einfachen Schnitt, der die Handlung verständlich machen soll, sie dient auch (als Parallelmontage) nicht bloß dazu, die Gleichzeitigkeit zweier räumlich voneinander getrennter Aktionen vor Augen zu führen, oder (als beschleunigte Montage) dazu, das Tempo der Erzählung durch die Vervielfachung immer kürzer werdender Einstellungen zu steigern. Darüber hinaus wirkt sie assoziativ, indem sie etwas erraten läßt, was in den Bildern selbst nicht gezeigt wird, oder sie zeigt direkt Assoziationen, d.h. den Ubergang des Denkens einer Person von einer Vorstellung zu einer anderen (Rückblende); vor allem kann sie aber (als Attraktionsmontage) Gedanken oder logische Zusammenhänge veranschaulichen, indem sie die Bedeutung eines Bildes durch die Gegenüberstellung mit einem anderen, inhaltlich verschiedenen und von der Handlung unabhängigen bald verstärkt, bald erläutert oder kommentiert. Die Technik der Fahrt- und Schwenkaufnahme ermöglichte den Aufbau des Films auf der Grundlage von Einstellungsequenzen, d. h. von langen Einstellungen, die eine ganze Sequenz in sich aufnehmen: die Kamera konnte ja nun entweder die ganze Szenerie panoramatisch abdecken oder sich auf Tiefenschärfe einstellen und das Spielfeld vom Vorder- bis zum Hintergrund erfassen. Die fragmentarische Aufnahme, der rasche und kontrastierende Bildwechsel blieben somit aus, die Bildkomposition gewann an Wichtigkeit, und entsprechend wurde die Bedeutung der Montage herabgesetzt. Auf diese stilistischen Möglichkeiten hat man eine ästhetische Theorie über das Wesn der Filmkunst gründen wollen, wobei bestritten wurde, daß der Film im Grunde die (jeweils in Frage kommende) Realität zerstückeln muß, um durch die Kombination der daraus entstandenen Bauelemente eine neue fiktive Realität aufzubauen. Es ist wahr, daß im Unterschied zum klassi128

sehen Gebrauch der Montage, der auf die rasche Änderung der Perspektive und das Aufzeigen immer neuer (Aspekte der) Gegenstände hinzielte, die Fahrtaufnahme die Gegenstände bloß begleiten, also ihre Selbständigkeit respektieren und ihre eigene Sprache sprechen lassen will. Dennoch kann dieser Unterschied weder die Bewegung als Wesensmerkmal des Films beseitigen noch die Montage überflüssig machen. Die Fahrtaufnahme kann bloß die Montage teilweise ersetzen, d.h. eine lange Einstellung an die Stelle von mehreren getrennten Bildern setzen oder durch ständiges Addieren das Dividieren bis zu einem gewissen Punkt vermeiden. Abrupte Ubergänge lassen sich aber kaum umgehen, selbst wenn die lange oder sogar die sehr lange Einstellung bzw. die Sequenz zur kleinsten filmischen Einheit erklärt wird, zumal in den Fällen, in denen sich der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von der Handlung auf die Schauspieler, ihre Gesichtsausdrücke und ihre Gesten oder ihr Schweigen und ihre inneren Monologe verschoben hat. Schon der (unvermeidliche) Ubergang von einem statischen Bild zum anderen, also das einfache Aneinanderreihen der Bilder sowie die Art und Weise ihres Wechsels bringt Bewegung hervor. Die grundsätzliche Frage lautet also nicht, ob dieser oder jener Regisseur eher auf Tiefenschärfe bedacht und die Möglichkeiten einer Einstellung bis zum letzten erschöpft, um dadurch Bewegung und Montage einzuschränken oder herunterzuspielen, sondern vielmehr ob die Filmkunst als solche es gestattet und legitimiert, etwas ganz anderes als dies oder sogar das Gegenteil davon zu tun. Es darf übrigens nicht vergessen werden, daß sich die Filmkunst gerade durch die raschen und spektakulären Errungenschaften der Montage als selbständige Kunst konstituierte und daß erst auf dieser Basis eine kritische Erörterung des ästhetischen Stellenwertes der Montage selbst möglich wurde. Die ästhetische Herabsetzung der Montage ging oft mit der programmatischen Absicht einher, einen realistischen Stil in der Filmkunst durchzusetzen, welcher angeblich dem Wesen dieser Kunst entspreche. Dennoch können Filme, deren ästhetische Konzeption keineswegs auf Montage-Effekten beruht, von surrealistischer Inspiration sein und an langsam verlaufende Träume erinnern, während es umgekehrt realistisch eingestellte Filme gibt, 129

die sich der Montage als des ästhetischen Hauptausdrucksmittels bedienen. Mit solchen Präferenzen hat jedenfalls die Bewegung an sich nichts zu tun, die, wie gesagt, im Film notgedrungen als Zerstückelung und Rekonstruktion der Realität erscheint - und zwar jener Realität, die innerhalb der bürgerlichen Synthese ein wohlgeordnetes, also räumlich, zeitlich und kausal übersichtliches und erklärbares Ganzes darstellte. Die Art und Weise, wie Raum und Zeit im Film behandelt werden, bietet den besten Beleg dafür. Wir erläuterten bereits, daß die Zerstückelung des früheren Raum- und Zeitkontinuums im Film die Aufhebung der Kausalität zur Folge hat oder wenigstens haben kann, wobei eine neue Wahrnehmung der Welt entsteht. Tatsächlich bedeutet die Zerstückelung des Raums keine bloße Teilung desselben in Stücke, die ansonsten und an sich dieselben wie vorher bleiben. Vielmehr wird die Absonderung von Raumstücken voneinander dazu benutzt, alle ihre Dimensionen und Inhalte genauer unter die Lupe zu nehmen, wodurch sich der Raum vertieft und sich zugleich in seiner inneren Heterogenität zeigt. Der einheitliche filmische Raum bildet wiederum keine bloße Summe aus disparaten Raumstücken, sondern er ergibt sich aus einer Vereinigung einzelner Raumelemente, die an sich aus verschiedenen Räumen stammen, in ihrer Gesamtheit und ihrem Ineinandergehen aber eine eigenständige polyprismatische Raumstruktur zustandebringen. Daher kommt es, daß das Raumgefühl im Film mehr oder weniger unklar oder unsicher bleiben muß; jedes räumliche Arrangement wird als vorläufig empfunden und kann sich jeden Augenblick ändern. In ähnlicher Weise geht aus der Zerstückelung des zeitlichen Kontinuums nicht eine bloße Reihe von getrennten Zeitstücken, sondern eine multidimensionale und unendlich plastische Zeit hervor. Die Zeit im Film wird nicht gefüllt, sondern geradezu gemacht, und zwar durch das ständige Übergehen von der natürlichen zur filmischen Zeit sowie umgekehrt; die Filmzeit verkürzt, beschleunigt, verlangsamt oder schaltet die natürliche Zeit aus, wobei in ihr die Bruchstücke oder die Manipulationen dieser letzteren derart verschmelzen, daß daraus ein besonderes und spezifisches Zeiterlebnis entsteht. Die Analyse oder Manipulation der Zeit kann schon im einzelnen Bild stattfinden, wenn die Zeit 130

durch Zeitraffer und Zeitlupe gleichsam materialisiert und mittels der Abweichung vom Gleichmaß des natürlichen Zeitablaufs in ihrem jeweils charakteristischen Fluß gezeigt wird. Regelmäßigen Zeitablauf gibt es nur innerhalb der einzelnen Szene, auch dieser kann aber durch das Einschieben einer anderen Szene oder ganzer Sequenzen modifiziert werden; außerdem muß er nicht mit dem tatsächlichen Zeitablauf der in der Szene dargestellten Handlung zusammenfallen, da sich letztere als Zusammenfassung ihrer bedeutenden Augenblicke oder Höhepunkte rekonstruieren läßt. Zwischen verschiedenen Szenen, die auf verschiedenen Schauplätzen spielen, gibt es keine notwendige Zeitabfolge, die Verformung der natürlichen Zeit erfolgt hier schon wegen der Unklarheit darüber, wieviel Zeit zwischen zwei Einstellungen oder Sequenzen verging. Die filmische Zeit umfaßt jedenfalls nur die Dauer dieser Einstellungen oder Sequenzen, und sie kann entweder objektiv in dem Sinne sein, daß sie die Ereignisse nacheinander, also in ihrer tatsächlichen Reihenfolge unabhängig von den dazwischen liegenden Zeitabständen enthält, oder aber subjektiv, wenn sie das Geschehen in der Zeitperspektive eines Subjekts ohne Rücksicht auf seine geradlinige Abfolge in der natürlichen Zeit wiedergibt; das Tempo, d.h. die Kürze oder Länge der Szenen unterstreicht eben ihren subjektiven Sinn oder das mit ihrem Inhalt verbundene subjektive Zeiterlebnis. Antizipationen und Rückblenden ermöglichen das Einschieben der subjektiven in die objektive Filmzeit und, indem sie die natürliche Zeit ipso facto verstümmeln und reorganisieren, machen sie ständig aus der Gegenwart Vergangenheit oder Zukunft, sie relativieren also die Gegenwart und ordnen sie als bloßen Punkt in einen umfangreichen Zeit-Raum ein, auf dessen Fläche alle Zeitpunkte in austauschbaren Positionen liegen. So gesehen findet hier eine ähnliche Verräumlichung der Zeit statt wie diejenige, die uns in manchem modernen Roman begegnete. Die Zeit breitet sich wie der Raum aus, indem sie sich nicht geradlinig nach vorne bewegt, sondern sich vor den Augen des Zuschauers Ereignisse gleichzeitig abspielen und somit nebeneinander bestehen können, die an sich zeitlich weit auseinandergelegen haben. Wird die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitpunkte durch das Nebeneinander verschiedener Räume begleitet und zudem 131

eine Verbindung von beliebigen Punkten in der Zeit mit beliebigen Punkten im Raum hergestellt, so entsteht ein raumzeitliches Kontinuum, in dem sich Nebeneinander und Nacheinander miteinander vermischen. Die besondere soziologische Bedeutung der Filmkunst im Spektrum der literarisch-künstlerischen Moderne hat darin bestanden, daß sie breite Massen mit der programmatischen und gezielten Zerstückelung und Rekonstruktion der alltäglichen Erfahrung vertraut gemacht und sie sogar gelehrt hat, Gefallen daran zu finden. Filmkunst kann die massendemokratische Kunst par excellence im doppelten Sinne genannt werden, weil sie sich an ein Massenpublikum richtet und weil sie dies tut, indem sie die massendemokratische Wahrnehmung der Welt vertritt und verbreitet, in der die Zeit im Raum aufgeht und alles mit allem grundsätzlich kombiniert werden kann. Gewiß, der absolute Traum von der Kombination von allem mit allem, wie er bereits in der Frühzeit der literarisch-künstlerischen Moderne und dann beim sogenannten viellinigen Lyrismus der Futuristen z.B. ausgemalt wurde, konnte weder in theoretisch zwingender Weise artikuliert noch in sozial relevantem Ausmaße verwirklicht werden; Farben, Töne, Gerüche und Geräusche blieben bei allen Versuchen zur Schaffung der integralen Ästhetik und der integralen Wahrnehmung mehr oder weniger voneinander getrennt, wie sie es auch vorher waren. Die Aufstellung eines solchen Programms indiziert aber an sich, in welcher Richtung sich der Zeitgeist bewegte. Die Filmkunst hat jedenfalls die Kombination von allem mit allem genügend praktiziert, um dem massendemokratischen Denkstil zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei schuf sie sich ein echt massendemokratisches Publikum, d. h. ein solches, das bürgerliche Verhaltensweisen, Schranken und Abstufungen hinter sich gelassen und in parvo einen sozialen Schmelztiegel gebildet hat. Das Kino hat kein eigenes Publikum mehr, wie das bürgerliche Theater oder die bürgerliche Oper es hatten; sein Publikum reicht quer durch alle Klassen und Schichten, und es wird durch keine charakteristischen Bande zusammengehalten, es hat weder an derselben Bildung noch an derselben sozialen Lebensweise teil. Gerade dieses Publikum, das in seiner Amorphie und Anonymität weder die 132

Gemeinsamkeit des Einen mit dem Anderen noch die Distanz des Einen vom Anderen kennt, konnte den früheren andächtigen Abstand zwischen Zuschauer und Kunstwerk eliminieren. Jene Anonymität und diese Eliminierung gehören zusammen, dem Verwischen der sozialen Umrisse des Publikums entspricht die Verflüssigung der raumzeitlichen und ästhetischen Umrisse dessen, was auf der Leinwand gezeigt wird. Die Filmkunst machte schließlich ein zentrales Merkmal postbürgerlicher Kultur allgemein sichtbar, nämlich die Vorherrschaft des Bildes. Sie konnte deshalb die Massenkunst par excellence werden, weil das Bild Massen viel direkter anspricht als etwa das geschriebene Wort, um das sich bürgerliche Kultur trotz Malerei, Architektur und Musik vornehmlich drehte. Das Zeitalter, das mit der Erfindung der Photographie ansetzt, empfindet einen regelrechten Durst nach Bildern und nach Aufeinanderfolgen von Bildern, so daß ein Großteil bürgerlicher Kultur, der sich im geschriebenen Wort niedergeschlagen hatte, nunmehr in die Bildsprache übersetzt werden mußte, um weiterleben und darüber hinaus ein neues Publikum erreichen zu können, das inzwischen eine andere Wahrnehmung der Welt entwickelt hatte. Durch seine Ubersetzung in eine andere Sprache, der eine andere Weltwahrnehmung zugrundelag, hörte freilich bürgerliches Kulturgut auf, das zu sein, was es vorher war, selbst wenn es dadurch sein Fortbestehen abzusichern schien. Das Aufkommen und die Verbreitung der Filmkunst wurden von Anfang an und zu Recht als Niederlage bürgerlicher Kultur empfunden. Es hilft wenig, diese Feststellung in eine Klage zu verwandeln und sie kulturpessimistisch zu deuten. Viel wichtiger erscheint die Einsicht, der visuelle Charakter postbürgerlicher Kultur hänge mit dem neuen Vorrang des Raumes gegenüber der Zeit als Orientierungsrahmen oder Grundmodus der Weltwahrnehmung zusammen. Die Künste des Bildes sind gleichzeitig die Künste des Raumes, die bildenden Künste sind deshalb in eminentem Sinne die modernen Künste denn in ihnen stellt sich nicht hauptsächlich die Frage nach der Abfolge innerhalb einer linear konzipierten Zeit, sondern die nach dem Nebeneinander im Raum. Kein Mittel war derart dazu geeignet, die lineare Zeitabfolge festzuhalten, wie das geschriebene 133

Wort. Daher mußte es seinen früheren Stellenwert in dem Augenblick verlieren, in dem sich die Wahrnehmung der Welt am Raum orientierte und dementsprechend dem Bild den Vortritt einräumte.

2. Philosophie und Wissenschaften „Die" bürgerliche Philosophie reinen Wassers hat es ebensowenig gegeben wie etwa „die" sozialistische oder „die" konservative. Das heißt: in keiner einzelnen philosophischen Theorie hat sich je das Bürgertum als Ganzes wiedererkannt, keine einzelne Philosophie hat je alle seine Weltansichten und normativen Aspirationen in Gestalt eines geschlossenen Corpus formuliert und kodifiziert. „Das" Bürgertum war ja selbst eine höchst heterogene Schicht, deren Grenzen nach oben und nach unten immer schwer definierbar blieben, von den nationalen oder auch lokalen Besonderheiten seines sozialen Charakters und seiner Ideologie ganz zu schweigen. Es wäre daher a limine verfehlt, bürgerliche Philosophie am Werk eines einzigen Philosophen oder einer einzigen philosophischen Schule dingfest machen zu wollen. Denn abgesehen davon, daß nicht alle Aspekte der bürgerlichen Weltanschauung in der Sprache der Philosophie artikuliert werden konnten oder mußten, haben sich die Philosophen, die zur Herausbildung dieser Weltanschauung mehr oder weniger beigetragen haben, in der Regel nicht als ideologische Apologeten einer bestimmten sozialen Klasse verstanden, sondern sie argumentierten im Namen universaler Wahrheiten und Ideale, die ihrerseits so formuliert wurden, wie es die konkrete Lage auf dem relativ eigenständigen Gebiet der Geistesgeschichte und die ebenfalls relativ autonomen technischen Erfordernisse des philosophischen Diskurses jenseits oder diesseits der aktuellen sozialen Bezüge geboten. Trotz dieser Zusammenwirkung von mehreren heterogenen Faktoren in einem fast unentwirrbaren Geflecht dürfen wir legitimerweise von bür134

gerlicher Philosophie genauso reden wie wir auch den Terminus »Bürgertum" bei aller inneren Vielfalt, ja Widersprüchlichkeit seines soziologischen Gehalts nicht entbehren können. Diese bürgerliche Philosophie gestaltete sich ansatz- und teilweise bereits zur Zeit des Humanismus, vor allem aber im 17. und 18. Jh. unter dem Einfluß der siegreichen mathematischen Naturwissenschaft und der Erkenntnisfragen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen wurden. Sie fand in mehreren philosophischen Richtungen ihren Ausdruck, die gegeneinander kämpften, da jede von ihnen einen partiellen Aspekt des bürgerlichen weltanschaulichen Komplexes herauskehrte, der in seiner Ausschließlichkeit oder Einseitigkeit mit den übrigen in Konflikt geraten mußte; Konflikt konnte aber auch daraus entstehen, daß der genannte Komplex zwar als Ganzes behandelt, jedoch im Lichte jeweils anderer Erkenntnisinteressen und polemischer Rücksichten gesehen und entsprechend gestaltet wurde. Bei allen Konflikten gab es dennoch bestimmte leitende Ideen, die die gemeinsame Grundlage im gemeinsamen Kampf gegen die kirchliche Theologie und die traditionelle Metaphysik abgaben. Es handelte sich dabei um die Loslösung von der Frage des Seins oder des Transzendenten und um die gleichzeitige Wendung zur Natur, die nun ontologisch aufgewertet wurde, und zum Menschen, der aus dem Schatten Gottes heraustrat. Diese doppelte Wendung bedeutete thematisch zweierlei: einerseits die systematische Beschäftigung mit epistemologischen Fragestellungen und nicht zuletzt mit der Methodenfrage, andererseits die Voranstellung der Erkenntnistheorie und der Ethik im anthropologischen Kontext, wobei freilich die Verbindung der Erkenntnistheorie mit der Epistemologie naheliegend oder unvermeidlich war. Inhaltlich konnten diese großen Themen im empiristischen oder im intellektualistischen Sinne behandelt werden, so daß ein breites Spektrum von extremen, gemäßigten oder schwankenden und vagen Positionen sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite zustandekam. Die Einheit bürgerlicher Philosophie lag indes nicht so sehr in den Antworten auf die einzelnen Fragen, sondern vielmehr in der Festlegung des Rahmens, innerhalb dessen der Philosoph nach Antworten zu suchen hatte, sowie in der Bestimmung der zentralen Größen, die bei der 135

Herausarbeitung dieser Antworten ins Spiel kommen durften. Aus dieser Sicht war es nicht primär, wie man z.B. Intellekt und Sinne erkenntnistheoretisch oder Vernunft und Triebe moralphilosophisch einstufte oder miteinander verband, um zum erwünschten bzw. polemisch zweckmäßigen intellektualistischen oder empiristischen Ergebnis zu kommen; entscheidend blieb, daß jedes Mal eine so oder so gewichtete Synthese dieser Größen auf immanenter Basis und vor dem Hintergrund einer anthropologischen Betrachtung und einer letztlich humanistischen Sorge unternommen wurde. Die verschiedenen Strömungen bürgerlicher Philosophie, die im 19. Jh. vorherrschten, gehen begrifflich und inhaltlich auf aufklärerisches Gedankengut zurück und können an Hand aufklärerischer Denkmaterialen rekonstruiert werden. Positivismus, Utilitarismus, Kritizismus stellten sich ungefähr dieselben Fragen, und eben deshalb mußten sie mit jeweils unterschiedlicher Intensität gegeneinander ins Feld ziehen. Gleichzeitig teilten sie gewisse Grundannahmen, die den bürgerlichen Wunsch artikulierten, das Transzendente zwar praktisch auszuschalten, es aber aus ethischen Überlegungen heraus nicht ganz zu vernichten, die Substanzen zwar durch Funktionen zu ersetzen, doch sie andererseits weiterhin irgendwo im Hintergrund ihr Dasein fristen zu lassen, da auf die Substanzialität von normativ geladenen ontologischen Größen, wie die Natur und der Mensch es waren, nicht ohne bedenkliche ideologische Folgen verzichtet werden konnte; ein so oder so nuancierter Agnostizismus wurde von allen Seiten vertreten, der diese typisch bürgerliche Ambivalenz philosophisch ermöglichte. Diese selbe Ambivalenz, die nach bürgerlichem Empfinden innerhalb einer breit angelegten weltanschaulichen Synthese aufgehoben werden und sich sogar positiv auswirken konnte, bildete in den Augen der Gegner solchen Philosophierens einen logisch unüberbrückbaren Gegensatz, der sich nur durch die Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen seiner beiden Glieder beheben ließ. So wurde der Funktionsgedanke konsequent zu Ende gedacht und gegen die Annahme von der Substanz in allen ihren Formen und in allen Wissensbereichen aufgeboten, wobei die Auflösung der Substanz Welt- und Menschenbild sowie die (epi136

stemo)logischen Fragestellungen gleichermaßen revolutionierte. Hier begegnet uns ein Phänomen wieder, das sich nach unseren Erkenntnissen (Absch. la in diesem Kapitel) bei der Herausbildung der literarisch-künstlerischen Moderne ebenfalls bemerkbar machte: die bürgerliche Synthese wurde dadurch zertrümmert, daß einer ihrer Bestandteile abgesondert, verabsolutiert und gegen alle anderen sowie gegen die Synthese als Ganzes gerichtet wurde. Zwischen der Entwicklung auf dem Gebiet der Philosophie und derjenigen auf dem der Literatur und der Kunst gibt es aber auch eine andere auffallende und bezeichnende Parallelität. Die bürgerliche Synthese wurde gleichzeitig von zwei ganz entgegengesetzten Seiten angegriffen: die eine davon stand in der Nähe von Naturwissenschaft, Mathematik und Logik, wie sich diese um die Jahrhundertwende umgestalteten, und entwickelte jenes begriffliche Instrumentarium, das nach vollständiger Beseitigung der Substanz für die Bewältigung oder Neuformulierung philosophischer Fragen erforderlich schien; die andere nährte sich von großen philosophischen oder auch nicht philosophischen Mythen, sie desavouierte oder setzte die positive Wissenschaft herab und der wissenschaftlichen Erkenntnisweise stellte sie höhere Intuitionen oder spekulative Denkweisen gegenüber, die Wesenswahrheiten erschließen sollten. Beide Richtungen machten aber bei allem unversöhnlichen Gegensatz zueinander mit der anthropologisch begründeten Erkenntnistheorie und Ethik, wie sie im Rahmen bürgerlicher Philosophie seit dem 17. Jh. geläufig wurde, endgültig Schluß, wobei die erstere das erkenntnistheoretische und ethische Subjekt ganz beiseiteschob, während die letztere den Menschen unter die Ägide von rational nicht erfaßbaren Mächten stellte und daher die Frage der Erkenntnis und der Moral nicht mehr in der Perspektive des bürgerlichen Anthropozentrismus behandeln konnte. Die restlose Auflösung der Substanz bildet das zentrale Ereignis bei der philosophiegeschichtlichen Wendung, aus der sich die erstere dieser beiden Richtungen ergab - jenes Ereignis nämlich, in dessen Licht die Wandlung mancher philosophischen Disziplin und das Aufkommen mancher anderen verständlich wird, unabhängig davon, ob sich die betreffenden Philosophen dessen be137

wußt waren oder ob sie von der Auflösung der Substanz als vollendetem Faktum mehr oder weniger unreflektiert ausgingen und über die Substanzfrage kaum ein Wort verloren. Der restlosen Auflösung der Substanz stand rein theoretisch wenig im Wege, nachdem die mathematische Naturwissenschaft den Begriff der Funktion herausgearbeitet und durch die funktionale Auffassung vom Naturgesetz die scholastisch-aristotelische Hierarchie der Substanzen sowie die (secundae) substantiae selbst zertrümmert hatte; in der Tat wurden im Zeitalter der Aufklärung konsequente Schritte getan, um den Substanzbegriff endgültig ad acta zu legen. Geistesgeschichtlich maßgeblich und zugleich aufschlußreich sind aber zwei andere Tatsachen: einerseits die Weigerung der meisten Vertreter bürgerlicher Philosophie, diesen Schritten zu folgen und die Substanz spurlos zu beseitigen, obwohl sie sie für unerkennbar erklärten und ihren philosophischen Status erheblich einschränkten, und andererseits die Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit, mit der seit den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s der Substanzgedanke ganz preisgegeben bzw. durch folgerichtige und umfassende Ausarbeitungen des Funktionsgedankens auf der ganzen Linie verdrängt wurde. Das war an sich ein beredtes Zeichen für die Breite und Tiefe des sich gerade vollziehenden Ubergangs zu einer neuen weltanschaulichen Einstellung, die mit Grundannahmen der bürgerlichen brach. Denn die Auflösung der Substanz bedeutete nicht einfach die Ersetzung von bestimmten Systemen oder Synthesen durch andere, sondern die radikale Infragestellung jeder philosophischen Systematik und jeder Möglichkeit einer Synthese. Zunächst wandte sich freilich diese Infragestellung vornehmlich gegen idealistische monistische Konstruktionen; auf Grund ihrer inneren Logik mußte sie aber daraufhin jede Philosophie treffen, die ein zusammenhängendes Gesamtbild von der Wirklichkeit und zugleich objektive Erkenntnis in dieser oder jener Version anstrebte. Wie die Auflösung des Gegenstandes auf dem Gebiet der Malerei eine Umwälzung des gesamten Wirklichkeitsbildes in dieser Kunst begleitete, so ging auch die Destruktion der Substanz oder des Einzeldinges auf dem Gebiet der Philosophie mit der Beseitigung des herkömmlichen Wirklichkeitsbegriffes einher. In dem Maße, wie aus der Substanz ein funktionales 138

System wurde, wurde auch aus dem Einzelding ein System von Ereignissen, und dies legte wiederum die Suche nach letzten Bestandteilen oder Atomen nahe. Nur einfache Elemente können ja ihren Platz ständig wechseln und in rein funktionale Beziehungen zueinander treten; notwendige Verbindungen von Elementen lassen sich im Gegenteil nicht als bloße veränderliche Funktionen auffassen, sie müssen wie feste Substanzen vorkommen. Ob nun die letzten Elemente Sinnesempfindungen, physische oder logische Atome sind - das Ganze und jede Idee vom Ganzen werden zertrümmert, die Welt wird zur lockeren Summe von kontingenten und diskontinuierlichen Ereignissen oder Erlebnissen, die durch Konstruktionen auf der Ebene der Theorie zusammengehalten werden. Der Zusammenbruch der Hierarchie der Substanzen und die Destruktion der Substanz selbst machten ihrerseits die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung oder zwischen Sein und Schein hinfällig, die zwar metaphysischen Ursprungs war, doch weiterhin ein übliches und beliebtes Refugium des bürgerlichen Agnostizismus darstellte. Nun gibt es kein Oben und kein Unten, kein Vorne und kein Hinten mehr, die einfachen letzten Elemente der Erkenntnis, des Seins oder der Logik befinden sich alle auf derselben flachen Ebene und warten auf den großen Transformator und Kombinator. Wird die Substanz beseitigt, so sind keine festen Eigenschaften oder Größen vorhanden, die von sich aus der kombinatorischen Tätigkeit Grenzen setzen könnten, da sie von ihrer Beschaffenheit her nur zu bestimmten, nicht zu allen Kombinationen fähig sind; was nun als Eigenschaft gilt, wird nicht durch das innere Wesen des Dinges, sondern durch vorübergehende und ständig wechselnde Beziehungen oder Funktionen bestimmt. Der sozialen und politischen Ideologie der societas civilis, die den Grund sozialer auf die Gott- bzw. naturgegebene Ordnung der Dinge zurückführte, entsprach der philosophische Glaube an die ontologische Festigkeit der Substanz und an die Hierarchie der Substanzen; mit der sozialen und politischen Ideologie des Bürgertums, wonach sich soziale Unterschiede zwar in der Praxis substanziell auswirken, theoretisch dennoch auf keine Ontologie oder Anthropologie gegründet werden und daher auch jeweils an139

deren Individuen zugute kommen können, ging der philosophische Glaube einher, Substanzen könne es zwar geben, diese seien aber unerkennbar; die angehende demokratische Massengessellschaft, in der die soziale Mobilität und die Austauschbarkeit der sozialen Rollen grundsätzlich unbegrenzt sind, artikulierte sich philosophisch im Glauben, es gebe keine Substanzen, sonderi} nur Akzidenzien, die zeitweilige Verbindungen miteinander eingehen. Die direkten Entsprechungen zwischen der herrschenden Substanzlehre und den ideologischen Vorstellungen über die menschlichen Dinge machen sich aber nicht nur in der Gesellschaftstheorie bemerkbar. Die Auflösung der Substanz beeinflußte ebensosehr das Gebiet der Anthropologie, so daß mancher Philosoph im Zuge seiner Polemik gegen den traditionellen Substanzbegriff ein Menschenbild entwarf, das sich von dem des modernen Romans kaum unterschied: der Mensch erschien als bloßes Bündel von Sinnesempfindungen, Eindrücken oder Assoziationen, ohne festen substanziellen Kern und ohne bleibende, durch überlegene intellektuelle Kräfte gelenkte Identität. Nachdem die äußere Welt in Eindrücke oder Sinnesempfindungen zerlegt worden war, mußte auch der Mensch in ähnlichem Sinne zerlegt werden, bis er nicht mehr als substanzielle Einheit zu erkennen war. Die Auflösung der menschlichen Substanz war m.a.W. die notwendige Folge der Auflösung aller anderen Substanzen - auch derjenigen, die die bürgerliche Weltanschauung als Ersatz für Gott geschaffen hatte und als Instanzen benutzte, um daraus ethisch-normative Imperative zu ziehen. Natur, Geschichte und Mensch mußten als solche Hypostasen oder Substanzen gemeinsam zugrundegehen, wobei insbesondere die Destruktion des Menschen für die Physiognomie postbürgerlichen Philosophierens schwerwiegende Folgen hatte. Nun konnten Denkschulen aufkommen, die sich erlauben durften, von der Philosophie alles zu entfernen, was bis dahin mit ihrer bürgerlichen, also anthropozentrischen und humanistischen Orientierung zusammenhing. Inhaltlich und fachlich bedeutete dies, daß Erkenntnistheorie und Ethik teils direkt ausgestoßen, teils radikal umgemodelt wurden. Bürgerliche philosophische Ethik stellte das vernünftige Individuum in den Mittelpunkt und selbst wenn sie annahm, daß die 140

Psyche dieses Individuums letztlich durch die Gefühle von Lust und Schmerz getrieben wurde, gestand sie ihm doch die Fähigkeit zu, diese Gefühle im ethischen Sinne zu kanalisieren. Diese ganze Problematik wird in dem Augenblick irrelevant, in dem infolge der konsequenten Destruktion des Substanzbegriffes von Individuum und dessen innerer Organisation keine Rede mehr sein kann. Als philosophische Disziplin behandelt die Ethik nunmehr nicht direkt das moralische Verhalten, die moralischen Tugenden und Pflichten, sondern die Aussagen darüber, ihren Sinn, ihre Struktur und ihre Motivation; sie verwandelt sich also in metaethische Untersuchung. Aber auch die Erkenntnistheorie setzte eine bestimmte innere Organisation und somit die substanziell verankerte Fähigkeit des kognitiven Subjekts voraus, durch intellektuelle Operationen Erkenntnis zu erlangen, gleichviel, ob man den Ursprung derselben in den Sinnen vermutete oder nicht; der extreme Sensualismus hat ohnehin nie die bürgerliche Erkenntnistheorie beherrscht. Ein aufgelöstes und substanzloses Ich konnte ebensowenig erkenntnistheoretisches wie ethisches Subjekt sein, es konnte nur Gegenstand, nicht souveräner Organisator der Erkenntnis werden. Nach der Eliminierung des organisierten und organisierenden Erkenntnissubjekts mußte daher an die Stelle der seit dem 17. Jh. in der Philosophie vorherrschenden erkenntnistheoretischen Disziplin die Logik treten, in der die Frage des Erkenntnissubjekts überhaupt nicht thematisiert wurde. Moderne Logik entwarf das eigene Programm, indem sie sich gegen den Anspruch der aristotelischen abgrenzte, die Erkenntnis von Substanzen zu vermitteln. Logik hat nichts mit solcher Erkenntnis zu tun, und eben deshalb sind ihre Sätze tautologisch oder analytisch; das (empirisch gegebene) Sein wird nur durch synthetische Urteile a posteriori erfaßt, synthetische Urteile a priori kann es nicht geben, daher muß auch Mathematik auf analytischer, d.h. logischer Basis begründet werden. Kommt nun eine Erkenntnis der Substanz nicht in Frage, so muß sich Logik ausschließlich mit der Schilderung von Funktionen und Beziehungen befassen und dabei die traditionell verstandene Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat im Urteil, innerhalb dessen diese beiden Termini unterschiedlichen logischen Status hatten, 141

nach Möglichkeit beseitigen. Die am Subjekt orientierte Logik wird durch eine solche ersetzt, in der das Prädikat im Vordergrund steht, denn das Prädikat zeigt die Funktion an, d.h. die Gesamtheit der Beziehungen, in denen sich das Subjekt befinden kann; das Subjekt geht also tatsächlich in der Gesamtheit seiner Beziehungen oder Prädikate unter. Es kann zwar den Anschein haben, als ob das Subjekt hier alle seine Prädikate in sich aufnehmen würde, das will aber bloß heißen, daß es nichts anderes und nichts mehr als die Summe seiner möglichen Prädikate darstellt. Begriffe bzw. Subjekte sollen daher erst im Urteil und durch das Urteil gebildet werden; moderne Logik geht im Gegensatz zur aristotelischen vom Urteil und nicht von Begriffen aus, die an Hand eines Abstraktionsverfahrens definiert wurden. Die Nivellierung substanzieller Unterschiede durch das Aufgehen des Subjekts in seinen Beziehungen und Funktionen oder der Substanz in ihren Akzidenzien homogenisiert innerlich das Urteil und breitet dessen Bestandteile auf einen einheitlichen logischen Raum aus. Und da die Destruktion der Substanz mit dem Zusammenbruch der Hierarchie der Substanzen einhergehen mußte, so befinden sich nun alle logischen Sätze auf derselben Ebene, sie sind also von ihrem Wahrheitswert her grundsätzlich gleichberechtigt und stehen in keiner Abhängigkeitsbeziehung zueinander, die auf ontologische Statusunterschiede zurückgehen würde. Der atomisierten Welt entsprechen atomische Sätze, die sich nach formalen Regeln untereinander verbinden, um molekulare Sätze zu bilden, wobei die Kriterien, an Hand deren die Wahrheit dieser Sätze beurteilt wird, logischen und formalen, nicht ontologischen Charakters sind. Die, wie es nun scheint, verhängnisvolle Verflechtung von traditioneller Logik und traditioneller Ontologie wird den irreführenden Wirkungen der Sprache zugeschrieben, deren Grammatik und Syntax unzulässige Hypostasierungen oder Substanzialisierungen und ein entsprechendes Welt- und Seinsverständnis suggeriere. Die systematische Beschäftigung mit der Sprache, die ein Charakteristikum der Philosophie seit der Jahrhundertwende bildet, stammt also letztlich aus dem Bestreben, eine neue Logik zu begründen, die dem Faktum der Auflösung der Substanz Rechnung tragen sollte. Aus dem Bemühen dieser Logik, den Täu142

schungen und Fallen der Sprache zu entgehen, ergab sich wiederum ihr Charakter als symbolische Logik. Die Loslösung von den ontologischen Fragestellungen, die auf die Destruktion der Substanz folgte, ist nicht nur für die Logik richtungweisend gewesen. Die Logik als Rede über Sätze ersetzte weitgehend die Rede über die Dinge, aber auch da, wo weiterhin von den Dingen selbst die Rede sein sollte, geschah dies im Bewußtsein, Dinge ließen sich nicht in ihrem Wesen, sondern nur noch nach konventionellen Kriterien erfassen. Die Herausbildung der modernen Logik und der Aufstieg des Konventionalismus sind parallele und verwandte Erscheinungen, obwohl angemerkt werden muß, daß die moderne Logik mit dem Substanzgedanken von Anfang an brechen mußte, während der Konventionalismus im Kontext des bürgerlichen Agnostizismus entstand und sich erst allmählich mit den logisch-analytisch ausgerichteten philosophischen Strömungen verbündete. Auch hier liegt ein Fall vor, in dem sich ein Bestandteil der bürgerlichen Synthese verselbständigte und schließlich gegen die Synthese als Ganzes wandte. Die Annahme von der Unerkennbarkeit der Substanz oder des Dinges an sich mußte konventionalistische Ansätze ermutigen, denn die zugegebene Unfähigkeit des Erkennenden, zum ontologischen Grund vorzustoßen, wurde dahin umgedeutet, die Erkenntnis des Gegenstandes laufe faktisch auf dessen Gestaltung oder gar Schöpfung durch den Erkennenden und seine Erkenntnisweise hinaus; wird die metaphysische Frage nach der objektiven Beschaffenheit des Seins im Hinblick auf die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens a limine ausgeklammert, so kann Erkenntnis immer nur Konvention oder Fiktion sein. In seiner Verbindung mit der Logistik erreicht der Konventionalismus seinen antimetaphysischen Höhepunkt, indem nämlich alles, was jenseits der Grenzen konventioneller Erkenntnis liegt, für sinnlos, also praktisch für nicht existent erklärt wird; Realität fällt mit dem konventionell Erkennbaren und Sagbaren zusammen. In denselben Denkzusammenhang mündeten großenteils die pragmatistischen Positionen, die zwar ursprünglich als Weiterentwicklung bürgerlicher empiristischer und positivistischer Topoi auf den Plan traten, in ihrer scharfen Abgrenzung gegen monistische Idealismen aber bald da143

zu gelangten, einen extremen ontologischen Pluralismus anzunehmen und dementsprechend jede synthetische Weltdeutung abzulehnen. In dem Maße, wie Pragmatisten weiterhin bürgerliche soziale und ethische Werte verteidigten, taten sie dies aus Gründen, die ebenso konventionalistisch konzipiert waren wie das pragmatistische Erkenntnisideal selbst. Die Entkoppelung von Wahrheit und Nützlichkeit voneinander im Bereich der Werte entsprach dem Gegensatz zwischen Wesenserkenntnis und Konvention im Bereich des Wissens, und sie brachte den Pragmatismus in die Nähe der relativistischen Soziologie, die ihrerseits, wie wir gleich sehen werden, das bürgerliche Menschen- und Geschichtsverständnis zersetzte. Die analytische Richtung in der Philosophie wußte sich in Ubereinstimmung mit den exakten Wissenschaften und verstand sich als wissenschaftliche Philosophie im Sinne des Erkenntnisideals dieser letzteren. Die Revolution, die um die Jahrhundertwende im Bereich der Naturwissenschaft stattfand, bedeutete für sie teils eine Bestätigung teils eine neue Inspirationsquelle - ihre Anfänge lagen ja der genannten Revolution zeitlich voraus und sind mit ihr vielfach verflochten. Wesentlich anders sah aus und verstand sich die zweite große antibürgerliche Richtung in der Philosophie. Hier wurden die großen philosophischen Mythen vom Sein, von der Transzendenz, von der (materiellen oder geistigen) Urquelle etc. weitergesponnen, und zwar oft im Rahmen von Wiederbelebungsversuchen der Metaphysik. Diese Metaphysik huldigte indes weder der alten Substanzmetaphysik noch dem bürgerlichen Dualismus, der hinter einer gesetzmäßig funktionierenden oder aber hypostasierten und sublimierten Natur einen ziemlich harmlosen Gott sein Dasein fristen ließ. Sie war im Gegenteil monistisch orientiert und, obwohl sie sich nur in den wenigsten Fällen offen zum Spiritualismus oder zum Materialismus bekannte, setzte sie sich doch über die traditionellen Trennungen zwischen Geist und Materie, Sein und Schein, Transzendenz und Immanenz, Substanz und Akzidenzien hinweg - Trennungen, die das bürgerliche Philosophieren ernst nahm und eben deswegen so handhaben wollte, daß ihre beiden Glieder innerhalb einer Synthese möglichst friedlich koexistieren könnten. Dieses Ideal 144

der multidimensionalen Synthese ontologisch heterogener Größen wurde nun durch die Idee eines ontologisch einheitlichen Ganzen verdrängt, Theismus und Deismus wurden durch (neu aufgelegte) monistische und emanatistische Konstruktionen in den Schatten gestellt, da sie aber ohnehin nicht mehr zugkräftig erschienen, so richtete sich die Polemik der neuen Metaphysiker vornehmlich gegen die Wissenschaft oder genauer gegen das, was für die Borniertheit der szientistischen Denkweise gehalten wurde. Der wissenschaftlichen Rationalität und den profanen Verheißungen von Wissenschaft und Technik stellte man höhere Intuitionen und eine Auffassung über Wesen und Bestimmung des Menschen gegenüber, die von der Annahme seiner Verwurzelung im Sein jenseits aller kognitiven oder praktischen Zwecksetzungen ausging. Insofern wird der Mensch nicht mehr als animal rationale betrachtet, seine Irrationalität wird aber andererseits nicht als beunruhigendes Symptom des unabänderlichen Obwaltens des Triebhaft-Tierischen in ihm gedeutet, sondern im Gegenteil mit seiner Fähigkeit verbunden, sich zu Dingen und Wahrheiten zu erheben, die über das Fassungsvermögen der Wissenschaft gehen. Im mythologischen Philosophieren verschwindet oder verblaßt der Mensch nicht, wie dies in der analytischen Richtung der Philosophie weitgehend geschieht, das Menschenbild ändert sich aber im Vergleich zum bürgerlichen drastisch. Entsprechend verschieben sich die Schwerpunkte innerhalb der philosophischen Disziplinen, da Erkenntnistheorie und Ethik, die in der bürgerlichen Philosophie ein bestimmtes Menschenbild voraussetzten und davon ausgehend in dieser oder jener Form von den Beziehungen zwischen Intellekt und Sinnen oder Vernunft und Trieben handelten, nicht mehr im Mittelpunkt stehen können. Vor allem die Ethik hört auf, direkt oder indirekt Tugendlehre zu sein, und die Rede über das praktische Verhalten des Menschen betrifft seine Dilemmata in den existenziellen Situationen, in die er fatalerweise hineingeworfen wird. Der persönlichen Entscheidung kommt eben deshalb größere Bedeutung zu, weil die festen bürgerlichen Orientierungspunkte fehlen und sie lassen sich nicht leicht durch den angenommenen ontologischen Bezug auf eine inhaltlich vage Transzendenz oder ein nebulöses Sein ersetzen. Daher zieht man145

cher es vor, diese Entscheidung ohne jeden solchen Bezug, als auf sich allein gestellter Atheist oder gar Nihilist zu treffen. In diesem Fall schweben aktivistische Vorbilder vor, die uns bereits im modernen Roman begegneten. Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften oder der Wissenschaften vom Menschen hat die entscheidende Wendung in der Verdrängung der Geschichte durch die Soziologie oder der historischen durch die soziologische Betrachtung schon während der letzten Jahrzehnte des 19. Jh.s bestanden. Auch in diesem Fall handelte es sich um das Auseinanderfallen von ursprünglich verschränkten Größen und die anschließende Infragestellung der einen durch die andere. Das Bürgertum vertrat die Gesellschaft, die sich zwar nach Möglichkeit gegen den Staat abgrenzte, aber im Bündnis mit diesem (neuzeitlichen) Staat den Sieg über die societas civilis davongetragen hatte. Geschichte und Soziologie bildeten eben die Wissenschaften von jener Gesellschaft, als deren Führer sich das Bürgertum fühlte. Es bot in seinen vorrevolutionären ideologischen Kämpfen die Geschichte auf, einerseits um die diesseitige Tätigkeit und Bestimmung des Menschen gegen seine einseitige Inanspruchnahme durch die Transzendenz zu verteidigen, andererseits um die Fortschrittsidee zu begründen, die die Unvermeidlichkeit seines eigenen Sieges der ganzen Welt vor Augen führen sollte. Schon während der Aufklärung enthielten aber bestimmte historiographische Werke einen starken soziologischen Einschlag oder es entstanden sogar Werke, in denen soziologische Rekonstruktionen des geschichtlichen Materials (auch in Form von Periodisierungen) unternommen wurden. Das polemische Ziel dieser Orientierung am Soziologischen war der Nachweis, der Mensch sei allseitig in geographischen, ökonomischen und sonstigen materiellen Faktoren verwurzelt, erst vor dem Hintergrund solcher Faktoren und nicht etwa auf der Basis spiritualistisch-theologischer Voraussetzungen könne daher sein Wesen und Handeln am besten verständlich gemacht werden. Die doppelte und fast gleichzeitige Entdeckung von Geschichte und Soziologie befriedigte auf diese Weise mehrere miteinander zusammenhängende ideologische Bedürfnisse; in ihr lag indes der Keim eines logischen Zwiespalts. Denn die soziologische Betrachtung 146

betonte naturgemäß über- und unpersönliche treibende oder gestaltende Kräfte im Sein und Werden menschlicher Gesellschaften, die Beschäftigung mit der Geschichte, die in ihrer Trennung von der Soziologie vor allem politische Geschichte war, legte hingegen den Gedanken nahe, den bürgerlichen Individualismus aus normativer Forderung in ein Deutungsprinzip zu verwandeln und den geschichtlichen Ablauf als Ergebnis der Handlungen von mehr oder weniger großen Individuen aufzufassen; wurde im Gegenteil dieser Ablauf nicht als Aufeinanderfolge von einzelnen Ereignissen, die auch anders hätten ausfallen können, sondern als geschlossene Entwicklung betrachtet, die einem großen Ziel entgegensteuerte, so wurden die (großen) Individuen als bewußte oder unbewußte Träger der in der Geschichte insgeheim wirkenden Antriebskräfte angesehen. Die innere Spannung zwischen soziologischer und historischer Betrachtung wurde trotz ihrer frühen Entstehung erst dann deutlich wahrgenommen, als die Soziologie anfing, die (politische) Geschichte zu überschatten und den bürgerlichen Individualismus nicht bloß auf der Ebene der Geschichtsdeutung, sondern auch dadurch anzufechten, daß sie sich oft mit der sozialistischen Bewegung als deren quasi offizielle Wissenschaft verbündete. Indem die zunehmende epistemologische Durchsetzung einer von der politischen Geschichte weitgehend losgelösten Soziologie die bürgerlichen Auffassungen über die Rolle des Individuums in der Geschichte verblassen ließ, setzte sie zugleich eine regelrechte Revision des bürgerlichen Menschenbildes in Gang. Das bürgerliche Subjekt wollte seine irrationalen Neigungen weder leugnen noch ausrotten, es glaubte dennoch von sich, es könnte durch Vernunft die blinde Selbstsucht in aufgeklärte Selbstliebe verwandeln und schließlich sein ethisches Verhalten mit universalen und ewigen Werten in Einklang bringen; es meinte zudem, bei allen Grenzen seines Erkenntnisvermögens und trotz Unerkennbarkeit des Dinges an sich ein klares Weltbild konstruieren zu können, das objektive und permanente Gültigkeit besitze. Gerade diesen Glauben, das animal rationale könnte auf ethischer Ebene die Relativität der Werte und auf kognitiver Ebene die Schranken subjektiver Perspektiven überwinden, hat die Soziologie, wenn man ihre Wir147

kung insgesamt beurteilt, zu Fall gebracht. Sie hat im allgemeinen den Eindruck gefestigt, daß Weltbilder keine Produkte von Vernunft und reflektierter Erfahrung, sondern Ideologeme sind, die Herrschaftsansprüche und soziale Interessen in die Beschaffenheit des Seins hineinprojizieren, sich also grundsätzlich durch eine (individuelle oder kollektive) subjektive Perspektive bestimmen lassen. Als Ideologeme wurden aber nicht nur die Weltbilder, sondern auch die Werte eingestuft, die als Funktionen von gesellschaftlichen Bedürfnissen oder von Machtansprüchen, nicht etwa als Versuche angesehen wurden, sich schrittweise absoluten Idealen anzunähern; Werte sind an Gefühle und Wünsche oder an Institutionen und Herrschaftsmechanismen gebunden, sie sorgen für den reibungslosen Ablauf des gesellschaftlichen Lebens und für die Kohärenz des sozialen Systems. Zwischen dem philosophischen Konventionalismus oder Pragmatismus und dem soziologischen Relativismus gibt es eine offensichtliche Gemeinsamkeit des Ansatzes, die sich bei aller Verschiedenheit der Nuancen und der subjektiven Absichten der betreffenden Denker in ähnlichem Sinne ausgewirkt hat: die Moral und die Wahrheit gibt es an sich und in Reinform nicht, es gibt nur Konventionen, die aus einem Zusammenwirken von sozialen und anthropologischen Faktoren entstehen und unendlich variieren können. Es muß freilich daran erinnert werden, daß dieser Relativismus bereits während der Aufklärung gegen die theologischen unhistorischen Universalismen aufgeboten worden war, die bürgerliche Hauptströmung der Aufklärung hatte sich aber gleichzeitig von seinen extremen nihilistischen Versionen distanziert und ihn durch ihre eigenen normativen Universalismen verwässert. Der moderne soziologische Relativismus stellte seinerseits alle Universalismen ohne Ausnahme in Frage und insofern tat er etwas, das uns auch auf anderen Gebieten der geistigen Produktion begegnete, er richtete nämlich einen Aspekt der ursprünglichen bürgerlichen Synthese gegen den anderen und somit zerstörte er die Synthese als Ganzes, wobei er gleichzeitig durchblicken ließ, daß ihre anthropologischen Prämissen nicht stimmten: wenn Weltbilder und Werte Ideologeme mit sozial bedingter Funktion sind, dann muß offenbar das Verhältnis von Vernunft und Trieb im Menschen anders als in der 148

Perspektive der Auffassung vom animal rationale beurteilt werden; Vernunft ist demnach keine souveräne Gesetzgeberin, keine normative Instanz mit allgemeingültigem Anspruch, sondern ein Instrument im Dienste der individuellen oder kollektiven Selbsterhaltung - im Dienste der Macht im weitesten Sinne des Wortes. Ihre argumentativen Instrumente und ihre ethischen oder auch theoretischen Schlußfolgerungen hängen von Träger, Ort und Zeit ab, woraus eine unendliche Vielfalt von Weltdeutungen und Werten entsteht, die sich nicht miteinander versöhnen lassen. Die Beliebigkeit des Sollens macht ihrerseits den Graben zwischen Sein und Sollen tiefer und tiefer, d. h. Natur und Mensch entkleiden sich ihrer angeborenen normativen Dimensionen, sie werden normativ stumm, und Normen tauchen bei aller praktischen Unentbehrlichkeit aus einem ontologischen Vakuum als Produkte von subjektiven Entscheidungen auf. Gerade die Uberzeugung von der Relativität der Werte treibt die Soziologie dazu, Wertfreiheit für sich zu beanspruchen und zu praktizieren. Die Verdrängung der Geschichte durch die Soziologie bedeutete, daß auf einem neuralgischen Gebiet der Geisteswissenschaften die Dinge des menschlichen Universums nunmehr vornehmlich in der Perspektive des Raumes und nicht der Zeit wahrgenommen wurden. Wenn wir an die stilistischen und strukturellen Analogien zwischen den Anfängen des bürgerlichen Romans und den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsschreibung im 18. Jh. denken, dann wundert die Feststellung nicht, Soziologie habe die Geschichte in demselben Sinne und mit denselben Folgen bezüglich der Weltwahrnehmung abgelöst wie der moderne Roman den Bildungsroman; in beiden Fällen hat sich das Nebeneinander gegenüber dem Nacheinander durchgesetzt. Der in der Zeit fließende Strom der Ereignisse, wie ihn die Geschichte zu schildern pflegte, machte festen Typen oder Strukturen Platz, in denen Ereignisse entweder einen neuen, d. h. typischen Stellenwert oder gar keinen hatten. Innerhalb der Typen, die die Soziologie von ihrer Verfassung als Wissenschaft her aufstellen muß, verdichten und formalisieren sich Ereignisse oder Erscheinungen aus ganz verschiedenen Zeiten, d. h. in der Zeit Verstreutes wird auf einen einzigen Raum versammelt. Die Zeit wird also dadurch aufgehoben, daß zeitlich 149

auseinanderliegende Dinge vergleichend oder kontrastierend nebeneinander gestellt und nicht auf Grund ihres zeitlichen Aspekts, sondern unter dem Gesichtspunkt von strukturellen Merkmalen erforscht und geordnet werden, die diachronisch und insofern überzeitlich oder gar eine Art zeitloser Konstanten sind. Gewiß, genetisch-zeitliche und formal-strukturelle Analyse können sich auf verschiedene Weisen ergänzen, abwechseln oder die Waage halten, wenn wir aber die Gesamtentwicklung der Soziologie im Auge behalten, dann muß auffallen, daß sich ihr historischer Gehalt zunehmend verdünnt hat. Die ersten großen soziologischen Synthesen erblickten das Licht der Welt in einer Epoche, in der die Geschichte und der historische Evolutionismus ihren Höhepunkt noch nicht überschritten hatten, und sie versuchten eben durch Periodisierungen der geschichtlichen Entwicklung Typen zu entwerfen, die aufeinander in der Zeit folgten. Die historisch gesättigte Soziologie, die irgendwo in der Mitte zwischen Evolutionismus und Typologie stand, ging in dem Maße unter, wie der Fortschrittsglaube des Bürgertums und die mit ihm verbundenen normativen Einstellungen dahinschwanden, um entweder durch noch immer historisch orientierte soziokulturelle Typologien ersetzt zu werden, bei denen die Typen mit geschlossenen geschichtlichen Kreisen gleichgesetzt wurden, oder aber, und vor allem, durch stark formalisierte Konzepte, bei denen die herausgearbeiteten Kategorien den Anspruch auf universale, also diaoder überhistorische Anwendbarkeit erhoben. Diese Tendenz wurde aus naheliegenden Gründen mit dem Versuch gekoppelt, das Soziale in letzte Elemente oder Strukturen zu zergliedern, deren unterschiedliche Kombination oder Komplexität von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit die Vielfalt der geschichtlich bezeugten Gesellschaftsformationen ergeben haben soll. Moderne Sprachwissenschaft übte in diesem Sinne einen großen methodischen Einfluß auf die Entwicklung von Soziologie und Ethnologie aus, da sie die erste Geisteswissenschaft war, die den Primat der Geschichte und der historischen Betrachtung offen und programmatisch bestritt. Sie bildete sich gerade in der Zeit heraus, in der sich der allgemeine Ubergang von der synthetischharmonisierenden zur analytisch-kombinatorischen Denkfigur 150

auf mehreren Gebieten zugleich vollzog, und erlangte eben deshalb eine außerordentliche epistemologische Bedeutung, weil sie mit bemerkenswerter Klarheit und Folgerichtigkeit die Beseitigung des geschichtlich-zeitlichen Faktors, die Verräumlichung der Wahrnehmung, die Atomisierung von Ganzheiten und das Kombinationsspiel betrieb. Bereits in der grundlegenden Unterscheidung zwischen Diachronie und Synchronie meldete sich der Entschluß, mit historisch, psychologisch oder anthropologisch ausgerichteten Denk- und Arbeitsweisen endgültig zu brechen. Diese wurden durch den erklärten absoluten Primat der synchronischen Betrachtung über Bord geworfen, welcher besagen sollte, daß das Wesen der Sprache ohne jeden Rückgriff auf geschichtliche Faktoren (im weiten Sinne des Wortes) erfaßt werden könne, während sich vom diachronischen Standpunkt aus nicht dieses Wesen selbst, sondern nur eine Reihe von vielfach unberechenbaren und unzusammenhängenden Ereignissen ermitteln lasse, die auf die Sprache modifizierend wirkten. In dem Maße, wie der Diachronie überhaupt Aufmerksamkeit geschenkt wird, heißt dies keine Beibehaltung oder gar Wiederbelebung historischer Methodik, sondern es läuft auf eine Untersuchung des Diachronischen an Hand derselben Systematik hinaus, die auf das Studium des Synchronischen angewandt wird. Die diachronische Analyse besteht demnach im Vergleich von zwei oder mehreren Synchronien miteinander und nicht in einer genetischen und entwicklungsgeschichtlichen Erörterung des Ubergangs von der einen zur anderen. Denn es wird angenommen, daß jedem Prozeß ein System innewohnt, das sich ausfindig machen läßt, wenn der betreffende Prozeß in seine letzten Bestandteile zerlegt wird und deren mögliche Kombinationen rekonstruiert und inventarisiert werden; die einzelnen Modifizierungen des Systems ergeben keine teilweisen Deformationen desselben, die noch immer außerhalb des Systems als solchem lägen, sondern ein jeweils neues System, aus dem ein anderes hervorgeht usw. Eine historische Betrachtung, die das im Prozeß steckende System verkennt und nur Ereignisse im Fluß registriert, hält nach dieser Auffassung die Dinge für individuell und einmalig, sie kann daher keine rationale und methodisch exakte Wissenschaft zustandebringen. 151

Der Synchronie wird also deshalb der Vorzug gegeben, weil nur in ihr System herrscht, weil nur sie systematisch erfaßt und dargestellt werden kann. Indem moderne Sprachwissenschaft den zeitlich-geschichtlichen Faktor ausschaltet, betrachtet sie die Sprache als selbstgenügsames und auf Grund eigener spezifischer Gesetze strukturiertes Ganzes; erst dadurch konstituiert sie sich als strenge Disziplin. Die Konzentration der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Sprache in der geschichtlichen Zeit hindert angeblich gerade daran, die Geschlossenheit des Systems der Sprache deutlich zu erkennen, welches auf der synchronischen Wechselbeziehung seiner Bestandteile in ihrem augenblicklichen Zustand, d.h. unabhängig von ihrer Geschichte beruht. Die Komplexität dieser Wechselbeziehung sowie die enge Abhängigkeit der Bestandteile des Systems voneinander machen die gleichzeitige Untersuchung der Beziehungen innerhalb des Systems und der Beziehungen in der Zeit unmöglich. Die Analyse des Systems wird durch die geschichtliche Herkunft und Beschaffenheit seiner Bestandteile ebensowenig beeinflußt wie etwa die Regeln des Schachspiels durch den Stoff, aus dem die Schachfiguren gemacht sind. Nicht die Rede in ihrer Vielförmigkeit und Ungleichartigkeit, d. h. in ihrer konkreten geschichtlichen Verwurzelung, in ihrer Individualität und Kontingenz interessiert hier, sondern die Sprache jenseits all dieser Aspekte und Fragestellungen die Sprache als überindividuelle und unpersönliche Struktur, die die Gesetze der eigenen Gestaltung in sich trägt. Die scharfe begriffliche Gegenüberstellung von Rede und Sprache ergänzt diejenige von Diachronie und Synchronie und besiegelt den Abschied von der Geschichte in der erkenntnistheoretischen Form einer Absage an die Erfahrung und eines entsprechenden Plädoyers für die Rechte reiner Theorie. Wie die moderne Malerei nach reinen Farben und Formen in einem ideellen Reich jenseits der erfahrbaren Welt gesucht hat, so ging moderne Sprachwissenschaft von der Vorstellung aus, es gebe eine tiefere Ebene der Sprache, auf der die bunte Vielfalt der Erfahrung verblaßt und die schlichten reinen Elemente oder Strukturen in Erscheinung treten. Die Aufstellung einer allgemeinen Theorie von der Sprache bildet daher nicht oder nicht hauptsächlich eine Aufgabe, die mit empirischen Mit152

teln zu bewältigen ist, sondern es geht hier im Grunde um eine Berechnungsarbeit, um ein Kalkül, das die Grenzen und Lücken der Erfahrung überwinden und eine widerspruchsfreie erschöpfende Schilderung der Sprache in ihrer Reinform bieten kann; in extremen Fällen werden sogar die völlige Unabhängigkeit von der Erfahrung und das deduktive Verfahren postuliert. Abgesehen vom jeweiligen Gebrauch und von der jeweiligen epistemologischen Bewertung der Erfahrung bestand indes der Sinn der allgemeinen Neigung der Linguisten zu ahistorischen theoretischen Konstruktionen darin, daß dadurch eine Kombinatorik auf einer von allen geschichtlichen Unebenheiten gereinigten Fläche in Gang gesetzt werden konnte. Die Befreiung von der Bindung an die empirischen und geschichtlichen Gegebenheiten steigerte enorm die Kombinationsmöglichkeiten von Elementen, deren Einfachheit, Unabhängigkeit und Beweglichkeit ebenfalls dank der genannten Befreiung entdeckt oder behauptet werden konnten. Der Begriff der Struktur, der nicht zuletzt durch die moderne Sprachwissenschaft zum charakteristischen Stichwort der postbürgerlichen Kultur wurde, setzt in der Tat die Vorstellung vom Vorhandensein letzter Bestandteile oder Elemente voraus, aus deren Zusammenfügung sich die Struktur ergibt. Struktur ist die Art und Weise dieser Zusammenfügung, die sich dennoch ändern kann, da die Elemente grundsätzlich gleichwertig, d. h. an keine unabänderliche hierarchische Ordnung gebunden sind. Darin besteht der entscheidende Unterschied des modernen Strukturbegriffes vom traditionellen Begriff des Ganzen, dessen Teile innere Beziehungen zueinander haben, die auf substanzielle Eigenschaften zurückgehen, auf Grund deren der einzelne Teil einen festen Platz innerhalb des Ganzen einnehmen muß. Die Beziehungen der Elemente zueinander innerhalb der Struktur sind ihrerseits für die Struktur von konstitutiver Bedeutung, sie dürfen daher nicht mit den inneren Beziehungen der Teile des Ganzen zueinander verwechselt werden, da sie von keinen Substanzen getragen und festgelegt werden, sondern grundsätzlich offen sind. Die Logik der Struktur bleibt zwar für die einzelnen Elemente verbindlich, sie hat aber angesichts der Unabhängigkeit und Gleichwer153

tigkeit dieser letzteren nicht denselben Stellenwert wie das Ganze in bezug auf seine Teile. Die Struktur bildet nur die Summe ihrer Elemente, wenn diese zu bestimmten Beziehungen zueinander kommen, und eben deshalb soll ihre Schilderung mit der Findung ihrer letzten Bestandteile beginnen, deren Beziehungen zueinander dann retrospektiv oder antizipierend rekonstruiert werden müssen. Methodisches Ideal moderner Sprachwissenschaft ist es gewesen, analytisch bis zu einer möglichst kleinen Anzahl von elementaren Einheiten vorzustoßen, die auf allen Stufen der Rekonstruktion der Sprache maßgeblich präsent sind und gleichsam die Achsen der immer komplexer werdenden Sprachgebilde abgeben. Die ontologische Ambition ist dabei die, jeden Emanatismus und jede archetypische Denkweise zu vermeiden, d. h. die Sprache nicht aus einer nicht näher zu definierenden Urquelle, sondern aus Funktionen, d.h. aus der Kombination von einfachen Elementen hervorgehen zu lassen, hinter denen nichts mehr steht. Daher das Bestreben, die wahrhaft letzten, also wahrhaft irreduzierbaren Elemente zu finden und an den Anfang zu stellen, wobei der Anfang logisch, nicht mehr historisch gedacht wurde. Die Definition der Ureinheit der Sprache als Zeichen wurde von manchen Linguisten eben deshalb als unbefriedigend empfunden, weil man meinte, die mit dem Begriff des Zeichens einhergehende Unterscheidung zwischen signans und signatum würde dem Zeichen die erwünschte Einfachheit und Irreduzierbarkeit entziehen und außerdem die ausgestoßenen geschichtlichen Faktoren in die linguistische Analyse wieder einschmuggeln, da das signatum eine geschichtliche und kulturelle Größe darstellt. Wenn Zeichen durch die Beziehungen der Sprache zu außersprachlichen Faktoren und nicht ausschließlich durch die inneren Funktionen der Sprache bedingt werden, wenn sie innerlich gespalten sind und zwischen ihrer Form und ihrem Inhalt eine unüberbrückbare Kluft gähnt, dann kann Sprache, soll sie als Struktur betrachtet werden, kein System von Zeichen bilden; ihr System muß sich vielmehr aus der Kombination jener Ureinheiten ergeben, aus denen sich die Zeichen selbst zusammensetzen und denen man im übrigen den Namen des Zeichens beilegen kann, wenn man ihn denn unbedingt behalten will. Unter dem Zwang des analytisch154

kombinatorischen Denkstils gelangte man also dazu, die Semantik aus der Linguistik auszustoßen bzw. sie mit der Phonetik weitgehend gleichzusetzen. Dadurch konnte man geschichtliche Faktoren radikal beseitigen, indem man versuchte, die inneren linguistischen Eigenschaften der Sprachlaute oder ihren Charakter als signantia zu bestimmen. Die Vielfalt der empirisch registrierbaren Sprachlaute wurde ihrerseits auf grundlegende Phoneme reduziert, die in einem unveränderlichen und universalen psychologischen System wurzeln sollen und als solche zunächst abstrakte oder formale Einheiten bilden, deren Aktualisierung dann in den konkreten empirischen Sprachphänomenen erfolgt. Diese Betrachtung der Sprache als System von phonetischen Urelementen oder Phonemen entsprach der Wiederentdeckung des Wortes, auch des sinnlosen, als autonomer Klang- und Lauteinheit durch die moderne, und zwar die avantgardistische Lyrik; das, was in dieser als Bruitismus auf den Plan trat, kommt in der Linguistik der Verabsolutierung des Phonetischen gleich. Die Frage, ob der dadurch erzielte Gewinn für das Verständnis der Sprache bedeutend war oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben; wichtig in diesem Zusammenhang bleibt die Feststellung vom Drang des neuen Denkstils, sich aller Gebiete der geistigen Produktion möglichst rasch und absolut zu bemächtigen. Ob nun die linguistischen Ureinheiten als Zeichen oder als Phoneme aufgefaßt werden, sie bilden jedenfalls Funktionsbegriffe, d.h. sie existieren nur innerhalb eines Systems und werden auf Grund ihrer positiven oder negativen Beziehungen zu den übrigen Bestandteilen dieses selben Systems bestimmt. Der Sprachzustand beruht ganz auf Beziehungen, die linguistische Beziehung stellt die linguistische Tatsache vollkommen in den Schatten. In den selbstbewußteren und konsequenteren Richtungen der modernen Linguistik wird betont, in einer Sprachtotalität hätten nicht irgendwelche Substanzen, sondern allein innere und äußere Beziehungen in wissenschaftlicher Hinsicht Bestand. Der Wunsch nach Auflösung der Substanz kann Geist und Methodik des Linguisten so sehr beherrschen, daß er manchmal seine Wissenschaft weder auf die Semantik noch auf die Phonetik gründen, sondern aus ihr eine Algebra machen will, die auf der Basis willkürlich de155

finierter Größen ohne Rücksicht auf natürliche Bezeichnungen operieren würde. Diese algebraischen Größen, für die man in der Arithmetik verschiedene Zahlenbezeichnungen einsetzen kann, bilden die Elemente, die das System der Sprache ausmachen, indem sie darin bestimmte Plätze einnehmen und bestimmte Verbindungen miteinander eingehen. Sowohl die Anzahl als auch die Verbindungsmöglichkeiten dieser Elemente sind ein für allemal festgelegt und durch diese ihre Festlegung ergeben sie den Sprachbau, der dem Sprachgebrauch (d.h. der Realisierung dieser oder jener im Sprachbau enthaltenen Möglichkeit) vorausliegt. Sprache ähnelt einem Schach- oder Kartenspiel, bei dem die Elemente durch die Figuren bzw. die Karten und der Sprachbau durch die Spielregeln vertreten werden, während der Sprachgebrauch dem tatsächlichen und jeweils anderen Verlauf des Spiels entspricht, bei dem an Hand der Figuren bzw. Karten Kombinationen realisiert werden, die auf Grund der Spielregeln möglich sind. Offenbar bedeuten die Elemente an sich oder als Substanzen nichts, wenn sie in keine Beziehung zueinander treten, so daß sich daraus bestimmte Spielregeln oder Funktionen entwickeln. Daher sieht Sprachwissenschaft ihre Aufgabe in der Beschreibung von Funktionen, gleichviel, ob sie analytisch verfährt, d. h. ob sie die Sprache in Teile zerlegt oder ob sie die Sprache als Gesamtstruktur wiederaufbaut. Der Vorrang der Funktionen gegenüber den Substanzen innerhalb der Struktur geht darauf zurück, daß deren Elemente gegenseitig austauschbar sind, daß also Strukturen ebensowenig wie ihre Elemente als substanzielle Entitäten aufgefaßt werden dürfen. Das Bestreben, aus der Linguistik eine Algebra zu machen, oder Versuche, Operationen der symbolischen Logik in der Linguistik zu verwenden, sind symptomatisch für die zunehmende Neigung gewesen, die Sprache von ihrem geschichtlichen und psychologischen Gehalt, mit dem sie im bürgerlichen Verständnis verbunden war, völlig loszulösen und sie im Sinne der Entwicklung und der Bedürfnisse auf anderen Gebieten umzugestalten, auf denen sich der analytisch-kombinatorische Denkstil in Reinform zeigte. Die Reduktion der Sprache auf Zeichen oder letzte Elemente, die keine Geschichte haben oder deren Geschichte irrelevant ist, und das Kombinationsspiel mit denselben auf einer einheitlichen flachen 156

Ebene nahmen teils vorweg und begleiteten teils Verfahren und Techniken, die sich durch die Kybernetik und die Rechenanlage verbreiteten, um den Alltag und die Denkgewohnheiten der hochtechnisierten Massendemokratie tief zu beeinflussen. Die Analyse und Bearbeitung der Sprache durch die Methoden moderner Linguistik spielte in dieser Entwicklung deshalb eine wichtige Rolle, weil die Sprache wesensgemäß an Zeichen gebunden, das geläufigste Zeichensystem oder gar das Zeichensystem par excellence ist, gleichviel, wie man Zeichen definieren will. Jede Theorie über die Sprachzeichen muß sich daher direkt oder indirekt zu einer allgemeinen Semiotik mit weitreichenden Implikationen erweitern. Die entscheidende Wende dabei tritt dann ein, wenn das Qualitative in Quantitatives, die Substanz in Funktion verwandelt wird und auf der Basis dieser Verwandlung ein Kombinationsspiel ohne Grenzen beginnt. Die Reduktion der sprachlichen Vielfalt auf letzte Elemente fördert die Quantifizierung des Qualitativen und gestattet, die Kombinationen im voraus zu errechnen, die an Hand der verfügbaren Elemente in Frage kommen. Die Verwandlung der Dinge bzw. Zeichen in Quantitäten, die miteinander austauschbar und kombinierbar sind, kennzeichnet die moderne Linguistik ebenso wie die Rechenanlage; dies ermöglichte auch die Zusammenarbeit der beiden bei Problemen wie dem der Ubersetzung z.B.. Vor diesem Hintergrund fand moderne Linguistik den Anschluß an die neuesten Fortschritte der Technik in einer zunehmend sich mathematisierenden Lebenswelt. Die Technik entwickelte sich freilich nicht infolge der Wandlungen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, sondern parallel mit ihnen und in engem Zusammenhang mit den Wandlungen in der Naturwissenschaft. Moderne Naturwissenschaft ist indes ihrerseits kein bloßes theoretisches Reservoir für die Technik gewesen. Sie brachte ein ganzes Weltbild hervor, bei dem sich die Zertrümmerung des ehemals harmonischen Ganzen in letzte Bestandteile und die neue vornehmlich räumliche Wahrnehmung der Welt maßgeblich ausgewirkt haben. Es ist von Anfang an aufgefallen, daß die großen Wandlungen auf dem Gebiet der Kunst und jenem der Naturwissenschaft zum selben geschichtlichen Augenblick stattgefunden haben. Die Su157

che nach inhaltlichen Parallelen lag daher nahe, sie blieb aber deswegen nicht besonders ergiebig, weil man Berührungspunkte in einzelnen Fragen und im technischen Sinne, ja persönliche Einflüsse entdecken wollte. Schon chronologische sowie andere reale Gründe machen indes Forschungen in solcher Richtung unfruchtbar. Viel wichtiger erscheint die Feststellung von bestimmten strukturellen Gemeinsamkeiten, die zur Schlußfolgerung führen muß, auch der Übergang von der klassischen zur modernen Physik lasse sich ohne weiteres und ganz unabhängig von seiner „streng wissenschaftlichen" Notwendigkeit in den großen Vorgang einordnen, den wir hier schildern. Ganz allgemein betrachtet bestehen diese Gemeinsamkeiten in folgenden Punkten: Dynamisierung oder gar Auflösung des Dinges und der Materie bzw. der Substanz, Infragestellung der alltäglichen Erfahrung von Raum, Zeit und Kausalität, Zuflucht zur Abstraktion bei der Suche nach reinen Formen oder reinen Relationen jenseits der dynamisierten oder aufgelösten Materie, schließlich die Neigung, die Welt nicht als wohlgeordnetes Ganzes mit festen Bestandteilen und einen festen Platz für jeden von ihnen, sondern vielmehr als flüssiges und zugleich einheitliches Feld zu betrachten, in dem Dinge und raumzeitliche Verhältnisse erst entstehen müssen. Diese Gemeinsamkeiten kamen weder durch die direkte Beeinflussung der modernen Kunst durch die moderne Physik noch dadurch zustande, daß sich die Urheber moderner Physik durch die Kunstwerke der Moderne inspirieren ließen, sondern sie ergaben sich aus der Einbettung beider Geistestätigkeiten in denselben Denkstil, der sich vom bürgerlichen scharf abgrenzte. In dem Bereich zwischen modernèr Kunst und moderner Physik schwebten zwar bestimmte Vorstellungen, die eine direkte Brücke zwischen den beiden zu schlagen schienen, diese hatten aber einen jeweils anderen Inhalt und Sinn; sie zeugten dennoch vom gemeinsamen Bestreben, an die Stelle der herkömmlichen Wahrnehmung der Welt eine neue zu setzen, sowie vom Bewußtsein, eine radikale Umwälzung auf diesem Gebiet stehe schon vor der Tür. So hat die Aufstellung nicht-euklidischer Geometrien die Künstler nicht weniger als die Physiker dazu ermutigt, von den Selbstverständlichkeiten des herrschenden Weltbildes Abschied zu nehmen, ob158

wohl Künstler freilich kaum imstande waren, solche Theorien im einzelnen nachzuvollziehen und sich von ihnen anders denn atmosphärisch anregen zu lassen. Eine ähnliche Wirkung hat die seinerzeit in künstlerischen, und zwar kubistischen Kreisen vieldiskutierte Spekulation über die „vierte Dimension" gehabt, die zur Bekämpfung der klassischen Lehre von der Perspektive manches Argument lieferte und im allgemeinen den Glauben der sich gerade entfaltenden abstrakten Kunst stärkte, jenseits der illusorischen Welt der Sinne befinde sich die wahre vierdimensionale Welt; nachdem die Relativitätstheorie die Zeit zur vierten Dimension innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums erklärte, verstummten allerdings die diesbezüglichen Spekulationen, nicht aber ohne ihren Beitrag zur Zerstörung alter Denkgewohnheiten geliefert zu haben. Auf diese Weise hat sich im großen ganzen die atmosphärische Wechselwirkung zwischen moderner Kunst und moderner Physik abgespielt, wobei angemerkt werden muß, daß sich moderne Künstler viel öfter auf die (wie auch immer gedeuteten) Befunde der modernen Physik berufen haben als umgekehrt. Viel direkter haben sich auf die Herausbildung moderner Physik die Entwicklungen auf dem Gebiet der Philosophie ausgewirkt, und zwar durch den massiven Angriff gegen den Begriff der Substanz, den der programmatische Aufstieg des Konventionalismus begleitete: denn eine Welt ohne Substanzen und sonstige feste Bezugspunkte kann nur durch kognitive Konventionen zusammengehalten werden, diese selbe Feststellung legt aber den Gedanken nahe, das gerade herrschende Weltbild nicht als notwendigen Ausfluß des gesunden Menschenverstandes, sondern als Fiktion zu betrachten, die sich unter bestimmten Voraussetzungen durch eine andere und bessere ersetzen ließe. Die große Wandlung, die zur modernen Physik und ihrem Weltbild führte, wurde durch die Verlegung des wissenschaftlichen Hauptinteresses vom Gebiet der Makrophysik auf das der Mikrophysik gekennzeichnet - ein Schritt, den die einige Jahrzehnte früher erfolgte Verdrängung der Mechanik durch die Elektrodynamik vorbereitete. Der neue Vorrang der Mikrophysik implizierte insofern eine inhaltliche Vorentscheidung, als es sich hier um ein Gebiet handelte, auf dem die klassische Auffassung von 159

der Materie und der Substanz direkt thematisiert und leichter in Frage gestellt werden konnte. Tatsächlich ging der neue epistemologische Status der Mikrophysik mit einer Dynamisierung des Materiebegriffes einher, die buchstäblich den Gnadenschuß auf den Substanzbegriff bedeutete. Eine Partikel hat zwar Masse, daraus läßt sich aber nicht folgern, daß sie auch eine feste Substanz besitzt. Löst sie sich nämlich in Strahlung auf, so bleibt sie als Energie weiter bestehen, sie läßt sich aber nicht mehr als diese Partikel wiedererkennen, noch wird sie von neuem dieselbe Partikel, falls sich die Strahlung in eine Partikel zurückverwandeln sollte. Man kann hier von einer bloßen Struktur in dem Sinne reden, daß kein fester Kern vorhanden ist, sondern nur Qualitäten vorliegen, deren jeweilige Zusammenfügung eben die jeweils vorliegende Struktur ergibt. Die mikrophysikalische Materie wird also durch Beziehungen und Formen ersetzt. Die völlige Entsubstanzialisierung der Materie muß aber bei der prinzipiellen Verwandelbarkeit der Materie in Energie enden. Nun verschwindet der substanzielle Dualismus, von dem die klassische Physik ausging, indem sie zwischen wägbarer Materie und schwereloser Energie unterschied; die Energie hat Masse, und die Masse kann in Energie verwandelt werden, also müssen auch nicht mehr zwei getrennte Erhaltungsgesetze, eins für die Masse und eins für die Energie, angenommen werden. Die Relativierung des Materiebegriffes, die auf die restlose Beseitigung der Substanz folgen mußte, hat aber auch eine andere weitreichende Folge nach sich gezogen. Die Physik mußte neben dem Materiebegriff den Begriff des Feldes als einer zweiten Art von physikalischer Wirklichkeit einführen, die für die Verbindung der Materieteilchen miteinander sorgt. Angesichts der wesensmäßigen Identität von Masse und Energie und auf der Basis der bereits formulierten Gesetze von Elektrizität, Magnetismus und Gravitation erscheint nun eine reine Feldphysik denkbar, obwohl die wissenschaftliche Praxis in der Physik an der Dualität von Materie und Feld vielfach festhalten muß. Das Konzept von einem Feld, in dem an sich formlose Kräfte wirken und immer nur vorübergehende Kristallisationen und Konstellationen zustandebringen, bedeutet den endgültigen Abschied von der bürgerlichen Harmonievorstellung, d.h. der Vorstellung 160

von einer geordneten Welt greifbarer Formen und Dinge, die sich zwar im Werden befinden, in ihrer dynamischen Bewegung aber bestimmten Gesetzen gehorchen, die ein Ausarten des Werdens in die Formlosigkeit verhindern. Im Gegenteil können die Kräfte oder Energieformen, die im Feld am Werk sind, für die Entstehung keiner Form bürgen, die bürgerlichem Formempfinden genügen würde. Die Einheitlichkeit des Feldes wird nicht durch den harmonischen Zusammenhang der Formen und der Dinge miteinander gestiftet, sondern durch eine Gesetzmäßigkeit, die ihrerseits eher mathematisch denn ontologisch konzipiert ist: sie drückt nämlich nicht ein streng kausal bedingtes und immer vorhersehbares Verhalten substanziell fester Dinge aus, sondern sie besteht in mathematischen Formeln, die Relationen erfassen, welche den makro- und mikrophysikalischen Erscheinungen zugrundeliegen sollen und insofern rein gedanklichen oder transzendentalen Charakter haben. Diese mathematische Gesetzmäßigkeit entspricht in ihrer Abstraktheit und Idealität dem Reich der reinen Farben und Formen, das mancher moderne Maler hinter der erscheinenden Welt witterte. Die Auflösung der Substanz, wie sie durch die Mikrophysik vorgenommen wurde, warf erkenntnistheoretische und epistemologische Fragen auf, deren Lösung eine weitere Erschütterung des bürgerlichen, kohärenten und klar umrissenen Weltbildes bewirkte. Dabei ging es vor allem um die Analysierbarkeit oder NichtAnalysierbarkeit der Elementarprozesse, um die Anschaulichkeit physikalischer Erklärungen und um den Sinn und die Grenzen des Kausalitätsprinzips. Man kann leicht erraten, warum die Analysierbarkeit physikalischer Vorgänge nach Beseitigung der Substanz als problematisch erscheinen muß. Nur Substanzen können jederzeit hinsichtlich aller ihrer Bestimmungen definiert werden, Elementarteilchen stellen aber Strukturen oder Ensembles von Beziehungen dar, sie sind Wellenfelder mit bestimmten Potenzialitäten. Die Unschärfe-Relationen drücken die Nicht-Analysierbarkeit der Elementarprozesse in der allgemeinen Form aus, wir könnten nicht gleichzeitig und scharf zwei miteinander zusammenhängende Größen, wie etwa Ort und Geschwindigkeit, sondern jeweils nur eine von ihnen messen. Eine weitere logische Fol161

ge der Auflösung der Substanz ist letztlich auch das Prinzip der Komplementarität, an Hand dessen die moderne Physik Dinge zusammenzudenken versucht, die an sich entgegengesetzt sind; denn nur unter komplementären Gesichtspunkten läßt sich etwas erfassen, das im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften Korpuskel und im Hinblick auf bestimmte andere Welle sein dürfte. Die Unmöglichkeit, nach Beseitigung der Substanz das Wesen der physikalischen Erscheinungen mit Hilfe (wenigstens nach geläufigen Kriterien) eindeutiger Begriffe und Vorstellungen verständlich zu machen, bedeutete das Ende der Anschaulichkeit. Zur Beschreibung der mikrophysikalischen Welt mußten Denkkategorien verwendet werden, die nicht bloß der Gedankenwelt klassischer Physik, sondern auch uralten Denkgewohnheiten zuwiderliefen. Insofern darf der Ubergang von der klassischen zur modernen Physik als Ubergang von der Selbstverständlichkeit des Anschaulichen zur Notwendigkeit des Abstrakten bezeichnet werden. Der Verlust der Anschaulichkeit wurde wiederum durch die Infragestellung, Lockerung oder Umdeutung des Kausalitätsprinzips noch spürbarer. Anschaulichkeit und Kausalität gehörten in der bürgerlichen Vorstellung zusammen - eine frühe und geistesgeschichtlich höchst wirksame Version des Harmoniegedankens war ja das streng kausal konzipierte mechanizistische Weltbild selbst. Die Annahmen von der Kausalität und der Gesetzmäßigkeit lagen jener Ordnungsvorstellung zugrunde, die jahrhundertelang gegen das feudale „Chaos" in Natur und Geschichte aufgeboten wurde, und daher gehörten sie zum festen Bestand und zum bewährten Arsenal bürgerlicher Ideologie, obwohl manchmal mit Rücksicht auf atheistische und materialistische Deterministen ihrer Geltung und Stringenz Grenzen gezogen werden mußten. Gerade der in jenem geistesgeschichtlichen Augenblick verständliche Eindruck, die Relativierung oder Leugnung des klassischen Kausalitätsprinzips würde dem drohenden Materialismus und Determinismus einen harten Schlag versetzen, bewegte manchen Pionier moderner Physik dazu, Grundvoraussetzungen des bürgerlichen Naturverständnisses aus den Angeln zu heben und einer Denkfigur zur Durchsetzung zu verhelfen, die den Gegebenheiten des postbürgerlichen Zeitalters entsprach, indem sie die kausal bedingte Ord162

nung und die Vorhersehbarkeit der Vorgänge gegenüber der offenen Möglichkeit, der unbegrenzten Mobilität und der Plötzlichkeit des einzelnen Ereignisses zurücktreten ließ. Auch bezüglich der Kausalitätsfrage ist die Wendung zur Mikrophysik entscheidend gewesen. Ein stetiges und kontinuierliches Naturgeschehen wird hier durch das Eingreifen von elementaren Akten verhindert, die sich selbst nicht beobachten lassen, dennoch den kausalen Zusammenhang zwischen den aufeinanderfolgenden Beobachtungen zersprengen. Unter diesen Umständen muß die kausale Gesetzlichkeit durch eine bloß statistische ersetzt werden, die uns zwar darüber aufklärt, was im allgemeinen, nicht aber darüber, was in jedem konkreten Fall in der Natur geschehen wird. Die restlose Auflösung der Substanz wurde schließlich durch eine tiefgreifende Wandlung der raumzeitlichen Wahrnehmung der Welt begleitet. Jene Auflösung lief, wie schon gesagt, auf eine Identifizierung von Masse und Materie, Energie und Bewegung hinaus, die das Universum zwar formlos, gleichzeitig aber in einem bis dahin unbekannten Ausmaß einheitlich machte. Diese Einheitlichkeit wurde eben dadurch erreicht, daß den grundlegenden physikalischen Größen der substanzielle Charakter, also die Absolutheit abgesprochen und an ihre Stelle die prinzipielle Verwandelbarkeit des einen in das andere gesetzt wurde. Die Absolutheit von Raum und Zeit konnte dabei nicht verschont bleiben, denn sie war mit der Annahme von festen Dingen verbunden, die sich in Raum und Zeit ohne Substanzverlust oder -änderung bewegen konnten. In der klassischen Physik nahm jedes Ding ein bestimmtes Raumvolumen ein, das mit dem Ding wesensgemäß zusammengehörte und unabhängig vom jeweiligen Beobachter war; die Beobachtungen wurden daher ohne Rücksicht auf die Größe „Zeit" vorgenommen, und es galt als selbstverständlich, daß Beobachtungen oder Ereignisse absolut gleichzeitig stattfinden können. Substanzielle Festigkeit des Dinges und getrennte Messung von Raum und Zeit waren also die zwei Seiten derselben Medaille; deshalb mußte die Annahme von einem raumzeitlichen Kontinuum mit der Verwandlung der Körper in Ereignisse oder substanzlose Strukturen einhergehen. Wird bei der Beobachtung von Raumvolumina nicht mehr von der Zeit abstrahiert, wird al163

so der Zeitpunkt angegeben, in dem sich dieses oder jenes Raumvolumen in diesem oder jenem Zustand befindet, so muß letzteres als Ereignis, d. h. als etwas betrachtet werden, das sich so oder so in der Zeit abspielt und entfaltet. Es handelt sich nicht mehr um die bloße Bestimmung des Platzes eines Körpers im Raum, sondern die drei Komponenten der Raummessung zusammen mit der Komponente der Zeitmessung bestimmen den Platz eines Ereignisses innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums. Die vierdimensionale Weltlinie bildet eine ununterbrochene Folge von Ereignissen ab, wobei die Einheit von Raum und Zeit die Struktur von Relationen zwischen den Ereignissen darstellt. Sobald Raum und Zeit aufhören, für absolute und daher voneinander getrennte Größen gehalten zu werden, wird auch die Materie zu einer Folge von Ereignissen - sowie umgekehrt. Die neue Auffassung von der Materie, wie sie sich aus der restlosen Auflösung der Substanz ergeben mußte, und die Verschmelzung von Raum und Zeit innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums bedingen sich gegenseitig. Noch mehr: Struktur der Materie und Struktur der Raumzeit hängen unzertrennlich zusammen, da letztere durch die Verteilung der Massen und Energien in ihr gestaltet wird und daher eine große topologische Vielfalt aufweist. Da die Einheit von Raum und Zeit innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums ipso facto die Einheit dieses selben Kontinuums mit den sich in ihm abspielenden Ereignissen impliziert, so kann kein Raum und keine Zeit ohne Ereignisse, also außerhalb des Universums existieren. Raum und Zeit entstehen und bestehen da, wo sich etwas ereignet, in ihrer Einheit stellen sie den Rahmen dar, in den Ereignisse eingeordnet werden - genauer: die Ordnung der Ereignisse fällt mit der raumzeitlichen Ordnung zusammen. Nun ist es zwar denkbar, daß auf der Basis einer einzigen Gleichung, die die Zeit als vierte Variable enthalten würde, unendlich viele unterschiedliche Schilderungen eines und desselben Ereignisses vorgenommen werden könnten und daß sich aus einer unendlichen Reihe solcher Gleichungen eine Gesamtschilderung des raumzeitlichen Kontinuums ergeben würde. Die Wirklichkeit, mit der gerechnet werden muß, ist aber die des konkreten Beobachters, der die Ereignisse nur entsprechend seiner relativen 164

Position wahrnehmen und beschreiben kann. Dies bedeutet eine regelrechte Zerstückelung der Zeit in verschiedene, unabhängig voneinander existierende Zeiten, die im raumzeitlichen Kontinuum gleichsam nebeneinander schwimmen, ohne sich je zu begegnen. Von seinem Standpunkt aus neigt freilich jeder Beobachter dazu, seine Zeit auf den ganzen Raum zu übertragen (und dadurch bei der Trennung von Zeit und Raum voneinander zu bleiben, die bei jedem Bezugssystem anders ausfallen muß), das dürfte er aber nur dann tun, wenn es keine obere Grenze für die Geschwindigkeit von Signalen gäbe. Die Entdeckung der konstanten, endlichen und unübertreffbaren Lichtgeschwindigkeit mußte daher als entscheidendes Argument gegen die Möglichkeit einer absoluten Gleichzeitigkeit von räumlich voneinander entfernten Ereignissen bzw. gegen die Absolutheit der Zeit überhaupt gedeutet werden. So hängt die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen von der relativen Position des Beobachters ab, d. h. sie bildet keine objektive Relation zwischen den Ereignissen selbst. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen wird durch die Wahl eines bestimmten Bezugssystems bedingt, d.h. sie besteht nur innerhalb desselben Bezugssystems und darf nicht im Hinblick auf Systeme angenommen werden, die nicht aufeinander bezogen sind. Ein absolutes Bezugssystem existiert nicht, weshalb auch Bewegungen nur im Verhältnis zueinander beschrieben werden können. Dabei geht es letztlich darum, die Bruchstücke der einst einheitlichen und absoluten Zeit miteinander zu vergleichen. Diese Zerstückelung der Zeit bringt zwei Dinge mit sich, die für unsere Fragestellung wichtig sind. Erstens wird die Zeit veriäumlicht, indem sie an die Koordinaten des Raums gebunden wird. Jedes Bezugssystem hat die eigene Zeit, die von seinem Ort bzw. von der Geschwindigkeit seiner Bewegung abhängt; die Uhren gehen je nach dem jeweiligen Gravitationsfeld anders und umso langsamer, je mehr sich ihre Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert. Was jeweils zum Zeitmaß dient, läßt sich also im allgemeinen auf ein räumliches Maß zurückführen. Zweitens kann sich die Zeit - eben wegen ihrer Veriäumlichung - ausdehnen oder zusammenziehen. Als erste dehnt sich die Gegenwart infolge des Fortfalls der absoluten Gleichzeitgkeit räumlich vonein165

ander entfernter Ereignisse aus: galt sie vor dem Hintergrund der linearen Zeitauffassung als ein verschwindend kleiner Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, so erlangt sie nun eine zeitliche Ausdehnung, die dem räumlichen Abstand zwischen dem Beobachter und dem beobachteten Ereignis entspricht. Vergangenheit und Zukunft lassen sich ihrerseits deshalb als Gegenwart vorstellen, weil sie sich nicht auf der geraden Linie eines objektiven Zeitablaufs befinden, sondern genauso wie die Gegenwart verschiedene Punkte im raumzeitlichen Kontinuum darstellen und als solche koexistieren. Es hängt von der Richtung und der Geschwindigkeit der Bewegung im Kontinuum ab, ob man der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft begegnet. Wäre es anders, so müßte man das Naturgeschehen dynamisch, d.h. als Bewegung im dreidimensionalen Raum verstehen. Die Relativitätstheorie hält aber erklärtermaßen die „statische" Betrachtung des Naturgeschehens als vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum für „objektiver" als die „dynamische" und insofern suggeriert sie geradezu die Vorstellung von einem eleatischen Sein, in dem sich verstreute Zeitbruchstücke in verschiedenen Richtungen bewegen, sich kreuzen oder sich voneinander entfernen - ohne aber dadurch an der Tatsache etwas zu ändern, daß alles, was sein kann, schon da ist und daß sich in diesem Sinn das Sein kaum ändert. Zweifelsohne kann im Kontext der Relativitätstheorie von keinem Raum die Rede sein, der die Zeit gleichsam verschlingen würde: der Raum ist hier ebensowenig absolut wie die Zeit, d. h. er konstituiert und spaltet sich entsprechend der jeweiligen Verteilung von Masse und Energie, also auch entsprechend der jeweiligen Art und Weise, wie sich Zeit konstituiert und spaltet. Und dennoch muß gesagt werden, daß eine Spaltung des Raums begreiflicher erscheint denn eine Umkehrung der Zeit, die infolge ihres Zerfalls in mehrere Zeiten innerhalb des raumzeitlichen Kontinuums erfolgt. Dieses unvollkommene Bild mag verdeutlichen, warum moderne Physik derselben Wandlung der Weltwahrnehmung vorgearbeitet hat wie etwa der moderne Roman oder die moderne bildende Kunst.

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IV. Die Entfaltung der Massendemokratie, der Verfall der bürgerlichen Lebensform und die Weiterentwicklung der analytischkombinatorischen Denkfigur

1. Umdeutung und Wandlung des Liberalismus Die Ablösung der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur durch die analytisch-kombinatorische erfolgte in demselben Zeitraum wie die Verdrängung des klassischen bürgerlichen Liberalismus durch die Massendemokratie - und diese Verdrängung vollzog sich ihrerseits vielfach als Umdeutung und Wandlung des Liberalismus im Sinne der Massendemokratie, nicht immer als offener und programmatischer Konflikt zwischen den beiden. Es handelt sich freilich dabei weder um einen Zufall noch um zwei bloß zeitlich parallele Vorgänge, sondern um eine tiefgreifende strukturelle Entsprechung, die wir hier nur registrieren wollen, ohne die methodologisch heikle und vielleicht unfruchtbare Frage nach den genetischen Faktoren und Prioritäten zu stellen. In der analytisch-kombinatorischen Denkfigur schlug sich ideell die Funktionsweise jener Gesellschaftsformation nieder, die allmählich jene überdeckte oder verschlang, in der das Bürgertum (vorherrschte und der Liberalismus vornehmlich im Sinne des Bürgertums verstanden und praktiziert wurde. Die leitende Vorstellung von prinzipiell gleichwertigen letzten Elementen oder Atomen, die sich allesamt auf einer flachen Ebene befinden und sich beliebig und unablässig miteinander kombinieren lassen, erfaßte in der Tat eine gesellschaftliche Wirklichkeit adäquat, in der politisch und sozial gleichberechtigte Individuen als solche, d. h. ledig jeder anderen sozialen Voraussetzung, jeweils verschiedene Rollen übernehmen können und dürfen, ohne daß ihrer Mobilität und dem dadurch ermöglichten Kombinationsspiel prinzipielle Grenzen gesetzt worden wären. Ein solches Konzept war dem bürgerlichen Liberalismus, d.h. dem Liberalismus vor seiner massendemokratischen Umdeutung vollkommen fremd, ja es wurde schon in seinen frühen Formen von den damaligen Liberalen bekämpft. Bürgerlicher Individualismus kannte Schranken, die erst sichtbar wurden, als sie zu fallen begannen. Die physische Individualität als solche war noch keine ausreichende Bedingung für die politische und soziale, nicht einmal für die juristische Gleichberechtigung aller Individuen miteinander. Dies fing bei der Struktur der Familie an, die 169

zwar nicht mehr die Großfamilie der societas civilis war, dennoch ein Haupt hatte und die Rollen ihrer Mitglieder mehr oder weniger genau festlegte, so daß sie - und nicht jedes einzelne physische Individuum - als die Zelle des gesellschaftlichen Organismus angesehen werden konnte. Auf politischer Ebene fand diese Familienstruktur ihre Entsprechung darin, daß meistens nur Familienhäupter politische Rechte hatten, wiederum aber nicht notwendig alle, sondern vornehmlich oder ausschließlich jene, die über ein bestimmtes Eigentum verfügten. Selbst da, wo der Kreis der politisch Berechtigten nicht allzu eng war, trug der bürgerliche Liberalismus klare oligarchische Züge, die in der Zeit vor der unaufhaltsamen Wendung zur Massendemokratie mit ziemlicher Nonchalance bei den Debatten über das Wahlrecht zutage traten. Hier ging es offenbar um substanzielle Unterschiede und um soziale Hierarchisierungen als Ausdruck eben dieser substanziellen Unterschiede. Die Durchsetzung des rein funktionalen Gesichtspunktes wurde erst auf der Basis der prinzipiellen, sozialen, politischen und juristischen Gleichheit aller Individuen qua Individuen möglich. Denn nur absolut gleiche Individuen sind in verschiedenen Funktionen miteinander austauschbar, nur solche können wechselnde Kombinationsspiele miteinander treiben. Es mußte die Massendemokratie aufkommen oder sich wenigstens als reale Möglichkeit abzeichnen, damit ein Zustand denkbar werden konnte, in dem die funktionalen Gesichtspunkte die Oberhand gewinnen und sich alles mit allem kombinieren läßt. Der bürgerliche Liberalismus litt unter einem Grundwiderspruch: er war von seinem Wesen her oligarchisch und gleichzeitig mußte er sich politisch in einer (werdenden) Massengesellschaft entfalten, die die conditio sine qua non seines eigenen realen Bestands bildete. Die Masssengesellschaft drängte aber zur Massendemokratie, und dies machte den Widerspruch nur noch krasser. In dem Maße, wie die industrielle Massengesellschat die letzten Überbleibsel der societas civilis beseitigte und sich festigte, zeichneten sich die Konturen der Massendemokratie immer deutlicher ab, bis Massengesellschaft und Massendemokratie auf einer hochtechnisierten wirtschaftlichen Basis verschmolzen. Diese Phasen in der Entwicklung der Massengesellschaft (und zugleich 170

der Industrie und der Wirtschaft insgesamt) muß man im Auge behalten, um die spezifischen Merkmale und den geschichtlichen Ablauf des bürgerlichen Liberalismus erfassen zu können. Die Tatsache, daß er über verschiedene Umdeutungen und allerlei Anpassungen schließlich in der Massendemokratie aufging und sich heute nur in Marginalien zu behaupten vermag, beweist noch lange nicht die Annahme, er sei von Anfang an und von seinem Anliegen her dazu prädistiniert gewesen bzw. seine oligarchischen Züge seien bloße Nebensächlichkeiten oder Schönheitsfehler. Das können wir aber erst dann einsehen, wenn wir den konkreten sozialen und geschichtlichen Charakter des bürgerlichen Liberalismus von einem vagen normativen Liberalismusbegriff klar unterscheiden, der zum theoretischen Vehikel der soeben genannten Umdeutungen und Anpassungen diente. In dem Maße, wie der Liberalismus im massendemokratischen Sinne umgedeutet wird, wird das, was von der konkreten geschichtlichen Bedeutung des Begriffes übrigbleibt, als „Konservativismus" apostrophiert und von den Befürwortern der Massendemokratie mit entsprechender Schärfe verurteilt, wobei freilich der Konservativismusbegriff seinerseits jeden konkreten geschichtlichen Bezug verliert und zum polemischen Schlagwort wird. Ebenfalls polemisch, wenn auch diesmal mit positiven Konnotationen, wird der Liberalismusbegriff im massendemokratischen Sinne verwendet; durch ihn soll nämlich suggeriert werden, nun werde der „wahre" Sinn „des" Liberalismus endlich begriffen und in die Tat umgesetzt. An sich ist die Wahl der Termini in einer wissenschaftlichen Analyse zweifelsohne gleichgültig, wenn nur diese Termini nicht polemisch aufgeladen und somit schon besetzt sind, so daß ihre Verwendung einem Bekenntnis gleichkäme. Eingedenk der massendemokratischen Umdeutung des Liberalismusbegriffes, die sich heutzutage auf weite Strecken durchgesetzt hat, erscheint es daher zweckmäßiger, den sachlich deutlichen Unterschied zwischen den sozialpolitischen Verfassungen der frühen und der späten Massengesellschaft durch den Gebrauch von zwei verschiedenen Begriffen kenntlich zu machen und dabei an der prägnanten Gegenüberstellung von (bürgerlichem) Liberalismus und (postbürgerlicher) Demokratie festzuhalten. Andererseits muß erklärt werden, welche 171

geschichtlichen und begrifflichen Voraussetzungen die demokratische Umdeutung des Liberalismus nahegelegt und ermöglicht haben, so daß - auch der Fall jener jungen Gleichsetzung von Demokratie und Liberalismus nicht ausgenommen, die im Kampfe gegen den „Totalitarismus" geläufig wurde - grundsätzliche inhaltliche Gegensätze geflissentlich oder guten Gewissens übersehen werden konnten. Den Leitfaden zu dieser Erklärung liefert uns die Erinnerung an das polemische Ziel, das die Urheber liberaler Theorie vor Augen hatten. Sie wandten sich gegen den juristischen und sittlichen Kodex der societas civilis, der eine Unterwerfung des Individuums unter die ständischen Bindungen vorsah und aus der ständischen Zugehörigkeit hierarchische Beziehungen zwischen den Individuen ableitete. Die Gegenbegriffe mußten also lauten: Individualismus und Gleichheit, d.h. Loslösung des Individuums von den ständischen Bindungen und zugleich Abschaffung der auf diese Bindungen zurückgehenden hierarchischen Beziehungen zwischen den Individuen; die Gleichheit sollte unter Individuen als solchen hergestellt werden, ebenso wie sich die Ungleichheit auf ständisch gebundene Individuen erstreckte. Dieser ursprüngliche innere Zusammenhang von Individualismus und Freiheit konnte dahin verstanden werden, daß die Befreiung des Individuums nur dann vollendet werden könnte, wenn alle Individuen untereinander gleich sind. D a die Gleichheit unter den Menschen nicht durch geschichtliche Argumente bewiesen werden konnte, so dienten zu ihrer Untermauerung Konstruktionen wie die des Naturzustandes oder des Urvertrages, bei denen eben das in die Ursprünge der Gesellschaft hineinverlegt und somit sanktioniert wurde, was zeitgenössisches sozialpolitisches Desideratum war. Gegen anthropologische Auffassungen, die Ständeunterschiede stützen sollten, wurde zudem im 17. und 18. Jh. geltend gemacht, daß sich die natürlichen Anlagen und Gefühle nicht wesentlich von Mensch zu Mensch unterscheiden. In diesen frühen und grundsätzlich polemischen Abgrenzungen gegen Ideologie und Praxis der societas civilis steckten, logisch gesehen, Forderungen, die wir, etwas vorgreifend, sowohl liberal als auch demokratisch nennen dürfen. Aus den inhaltlichen und sprachlichen Zuspitzun172

gen dieser Abgrenzungen ergaben sich jedenfalls Keime demokratischen Denkens. Dies wurde indes erst später bewußt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es in der Vorstellung des frühen Liberalismus völlig unfaßbar erschien, daß man demokratische Grundsätze beim Wort nehmen oder den eigenen Grundsätzen eine demokratische Bedeutung beilegen könnte. Alle Menschen waren selbstverständlich frei und gleich - nicht weniger selbstverständlich war es aber auch, daß der Hausherr Rechte hatte, die dem Hausknecht nicht zuteil werden durften und konnten. Dies kann nur jemand merkwürdig finden, der unsere heutigen Denkgewohnheiten für überhistorische Kategorien hält und außerdem mit dem geschichtlichen Gebrauch und Schicksal von Begriffen wenig vertraut ist. Es genügt diesbezüglich daran zu erinnern, daß der Begriff „populus" jahrhundertelang ausschließlich die versammelten Oikos-Führer der societas civilis bedeutete und niemand daran dachte, die große Mehrheit der Bevölkerung als Volk zu bezeichnen. Noch vor 1789 wurden verstreute liberale Warnungen vor der Tyrannei der Demokratie laut, die teils durch Reminiszenzen an manche Erscheinung aus dem englischen Bürgerkrieg, teils durch die Entstehung einer demokratischen (vertragstheoretischen oder utopistischen) politischen Literatur angeregt wurden. Greifbare Form nahm der Gegensatz zwischen liberal-bürgerlicher und demokratischer Einstellung erst während der Französischen Revolution an, als Demokraten eine Reglementierung des Wirtschaftslebens durch die Regierung zugunsten der Besitzlosen verlangten, ohne aber in allen Fällen oder auf der ganzen Linie die Abschaffung des Privateigentums zu fordern. Das bildete ein Indiz dafür, daß die Fronten noch immer nicht ganz klar waren. Dazu bedurfte es des gewaltigen Aufstieges oder Sieges des bürgerlichen Liberalismus nach 1830, der von Anfang an durch den langen Schatten der Aufstände des immer zahlreicher werdenden vierten Standes begleitet wurde. Die große theoretische Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Demokratie fand in diesem Zeitraum statt, und noch vor Ende des 19. Jh.s förderte sie all jene Argumente zutage, die seitdem und bis heute in verschiedenen Abwandlungen beiderseits verwendet werden. Dabei ist klar gewor173

den, daß die Liberalen den Individualismus keineswegs in einem Sinne verstehen und verteidigen wollten, der eine Erweiterung der formellen Gleichheit in materielle implizieren würde. Für ihre Polemik sowie für den Charakter des bürgerlichen Liberalismus überhaupt war folgende doppelseitige Position bezeichnend: einerseits beklagten sie die wachsende Bedrohung des Individuums nicht mehr durch die ständischen Bindungen, sondern vielmehr durch die anonyme und amorphe Masse; andererseits entrüsteten sie sich über die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft, aus welcher offensichtlich Individuen hervorgingen, die nicht der bürgerlichen Vorstellung vom Individuum entsprachen. Daraus mußte gefolgert werden, daß nicht alle Individuen auf Grund ihrer bloßen Eigenschaft als physische Individuen ins bürgerliche Individualismuskonzept paßten - sonst wäre die Klage gegen die Atomisierung der Gesellschaft sinnwidrig - , sondern nur solche, die bestimmte materielle oder geistige Voraussetzungen besaßen und darüber hinaus in der bürgerlichen Familie oder in anderen Institutionen beheimatet waren. Das Eintreten für die Rechte des Individuums als ganzer Person gegen die unpersönliche Masse verknüpfte also ausdrücklich oder stillschweigend mit dem Begriff der Person eine Reihe von Faktoren, auf denen die soziale Hierarchie beruhte, so daß der Gegensatz zur Atomisierung einem Plädoyer für die soziale Hierarchisierung der Individuen gleichkam. Freilich konnte nicht mehr von einer Hierarchisierung nach den Maßstäben der societas civilis die Rede sein. Daher die immanenten logischen Schwierigkeiten der liberalen Position, sobald es um den Nachweis der Grenzen der Gleichheit ging. Als einzige anthropologische Begründung der Ungleichheit konnte der Unterschied an Begabung und Tüchtigkeit angegeben werden, das Allument stolperte aber über die alltägliche Erfahrung, die keine genaue und oft auch keine approximative Entsprechung zwischen der sozialen Stellung und den persönlichen Vorzügen des Einzelnen kennt, und außerdem konnte es im Sinne des demokratischen Elitegedankens umgedeutet werden. Denn aus der Feststellung über die Ungleichheit der Talente und der Leistungen läßt sich keine Legitimation der Herrschaft einer ganzen Klasse ableiten, da Talente und Leistungen an konkrete vergängliche Individuen 174

gebunden sind; auf Grund solcher Kriterien wire nur die Herrschaft einer Elite denkbar, deren Zusammensetzung sich ständig ändern würde - und eben um zu erreichen, daß die pure Meritokratie obwaltet, sollte man dem Individuum all das aus dem Marschgepäck nehmen, was nicht mit Talent und Leistung zusammenhängt, d.h. alle Vorteile, die einem Einzelnen wegen seiner Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit zuwachsen. Gerade eine solche Bestrebung mußte aber die vollständige Atomisierung der Gesellschaft zur Folge haben. Dieser Aspekt des Problems deutet schon auf das Bemühen der Demokraten hin, den bürgerlich-liberalen Topos vom Individualismus derart umzudeuten, daß sich aus dem individualistischen Grundsatz ein materielles Gleichheitsideal ergeben müßte. Dabei wird das Individuum von substanziellen Bindungen und sozialen Voraussetzungen nach Möglichkeit getrennt, denn es wird angenommen, daß eben diese seinen eigensten persönlichen Kern nicht zur Entfaltung kommen lassen. In ihrer Loslösung von solchen Bindungen und Voraussetzungen können die Individuen austauschbar sein oder, anders gewendet, alle sozialen Rollen stehen grundsätzlich allen Individuen offen. Gegen diese letztere Formulierung hätte auch ein Liberaler nichts einzuwenden, der wesentliche Unterschied zur demokratischen Auffassung würde aber dann in zwei Punkten liegen. Erstens, indem der Liberale die substanziellen Bindungen und sozialen Voraussetzungen des Individuums gelten läßt und sogar das Individuum nur vor diesem Hintergrund als vollwertige Person anerkennt, muß er bestimmten Individuen beim Kampf um die Besetzung der sozialen Rollen einen faktischen - keinen formellen - Vorsprung einräumen; dieser Vorsprung wird als eine zwar manchmal beklagenswerte, doch ohnehin unvermeidliche Gegebenheit angesehen, die trotzdem durch besondere Tüchtigkeit und etwas Glück wiedergutgemacht werden kann. Zu ihrer Beseitigung dürfen aber - und dies ist der zweite Punkt - keine institutionellen oder dirigistischen Maßnahmen getroffen werden, sondern die Dinge sollen in der Gewißheit ihren Lauf nehmen, die unsichtbare Hand werde wohl die sozial nützlichste und tragfähigste Lösung finden. Im Gegensatz dazu geht in der demokratischen Gedankenwelt das neue Ver175

ständnis vom Individuum und vom Individualismus mit der Forderung einher, die Gesellschaft bzw. der Staat dürfe und solle eingreifen, um sicherzustellen, daß alle sozialen Rollen faktisch und nicht bloß formell allen Individuen zugänglich sind. Es liegt auf der Hand, daß die Neubestimmung des Individualismus und die Neubestimmung der Aufgaben der Gesellschaft bzw. des Staates aufs engste zusammenhängen. Denn diese Aufgaben sollen eben darin bestehen, durch Loslösung der Individuen von ihren substanziellen Bindungen und sozialen Voraussetzungen jene Gleichheit materiell unter ihnen herzustellen, die nur formell sein konnte, solange jene Loslösung nicht stattfand. Die Liberalen nannten dies einerseits Entwurzelung des Individuums, Verengung der Persönlichkeit und Atomisierung des sozialen Ganzen, andererseits Einschränkung der konkreten Freiheit zugunsten einer abstrakten Gleichheit und Bürokratisierung oder Mechanisierung des gesellschaftlichen Lebens; für die Demokraten bedeutete dieser selbe Vorgang zum einen die Befreiung des Individuums von den Fesseln der Heteronomie (der autoritären Familie etc. etc.) und die Erlangung wahrer Selbständigkeit, zum anderen die institutionelle Garantie dafür, daß sich das selbständige Individuum auf der Basis derselben Voraussetzungen wie alle anderen auch entfalten kann. Im demokratischen Konzept gehen also paradoxer-, aber logischerweise die Radikalisierung des Individualismus und die Forderung nach organisiertem Schutz der Individuen Hand in Hand. Wirksame institutionelle Absicherung des Individualismus heißt nun nicht bloß formelle Absicherung der Chance, etwas durch eigenes Tun zu erlangen, das andere bereits haben, sondern von rechtswegen möglichst viel von dem zu haben, was alle besitzen sollten. Der sozialethische Grundsatz, die Gesellschaft sei dem Individuum gegenüber zu bestimmten Leistungen verpflichtet, verwandelt sich schließlich in die These, Ziel des auf sich allein gestellten Individuums sei die Selbstverwirklichung, wozu die Gesellschaft zumindest die wichtigsten Voraussetzungen zur Verfügung stellen sollte. Was als ethisch motivierte soziale Fürsorge anfing, endet somit beim individualistischen Hedonismus (vgl. Abschn. 3 dieses Kapitels). Liberalismus war seit eh und je als der Hort „desaIndividualismus bekannt, und deshalb konnte sich die demokratische Umdeutung 176

bzw. Radikalisierung dieses letzteren im Interesse der Erreichung materieller Gleichheit weiterhin „Liberalismus" nennen, was ihr einen doppelten politisch-taktischen Vorteil verschaffte: sie zwang die Liberalen reinen Wassers in eine ideologische und moralische Zwickmühle hinein und zugleich konnte sie sich vom Schreckgespenst des sozialistischen Kollektivismus distanzieren. Dieser demokratische oder linke oder soziale Liberalismus - wie man will - durfte sogar in dem Maße mehr „Liberalität" als der orthodoxe Liberalismus für sich beanspruchen, als dieser letztere zur Abwehr gegen den Sozialstaat etc. manchmal mit autoritären Lösungen liebäugelte, also sich in extremis bereit zeigte, den politischen Liberalismus zum Teil oder ganz auf dem Altar des wirtschaftlichen zu opfern. Bei allen terminologischen Uberdeckungen oder Verwirrungen wurde indes der sachliche Gegensatz zwischen den beiden Liberalismen schon früh bewußt, zumal die Akzente jeweils wesentlich anders gesetzt wurden. Es l'äßt sich im allgemeinen feststellen, daß der klassische Liberalismus das Funktionieren der Gesellschaft der lenkenden Kraft der unsichtbaren Hand zu überlassen pflegt, wobei die Bedürfnisse und die Wünsche des Menschen pragmatisch und nicht in erster Linie moralisch beurteilt werden: Menschen streben naturgemäß nach dem, was sie für ihr Interesse halten, und aus der unvermeidlichen Kreuzung ihrer Bestrebungen miteinander ergibt sich die große Resultante, d.h. das Gleichgewicht, das sich ohne Rücksicht auf individuelles Wohl und Weh herstellt; Moral ist hier vornehmlich Sache des Einzelnen und nicht der Maßstab, nach dem die Gesellschaft als Ganzes ihre Tätigkeit richten soll. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der demokratische Liberalismus bereits seit seinen Anfängen durch die Neigung aus, die Gesellschaft insgesamt nach moralischen Kriterien zu beurteilen und danach zu fragen, ob sie der Würde der einzelnen Person gerecht wird. Der Individualismus wird dementsprechend von der Ethik her radikalisiert, es wird m.a.W. von den Rechten ausgegangen, die der Person als Person eigen sein sollen, wobei die Person des Einzelnen als Selbstzweck gilt, dem die Gesellschaft zu dienen hat; naturrechtliche Gemeinplätze, die im ideologischen Arsenal des Liberalismus sehr früh auftauchten, werden nun als Gebote humanistischer Solidarität 177

interpretiert. Es ereignete sich indes das Paradox, daß der demokratische „Liberalismus" bei aller ethischen Grundeinstellung nicht zuletzt unter dem Einfluß sozialistischer Ideen zunehmend soziologisch argumentiert hat, um seine politischen und sozialen Forderungen zu untermauern, wobei dieselbe menschliche Person, deren ontologisches Hauptattribut die Würde sein soll, im gleichen Atemzug als willenloses Produkt „objektiver Faktoren" aufgefaßt wird. Dieser logische Sprung entstammte einer polemischen Notwendigkeit, denn nur aus der These, der Mensch in seiner gegenwärtigen Verfassung sei ausschließlich oder größtenteils das Produkt der Verhältnisse, in denen er lebe, läßt sich die Norm ableiten, die Verhältnisse sollten geändert werden, damit sich der wahre Mensch (d.h. der Mensch, wie eine ethisch geprägte Anthropologie ihn schildert) entfalten könne; selbstverständlich sind die Verhältnisse dann so zu ändern, daß mehr Gleichheit im materiellen Sinne erreicht wird. Das Unbehagen des orthodoxen Liberalismus an solchen soziologischen Erklärungen und Rezepten entspringt hingegen dem Wunsch, die Eigenständigkeit des Individuums und seines Handelns hervorzuheben, um die Uberzeugung zu festigen, dem Tüchtigen würden die formellen Rechte schon genügen, um voranzukommen. Bei der polemisch bedingten Umkehrung der Positionen muß also nun der Liberale die Soziologie der unsichtbaren Hand etwas beiseiteschieben und moralisch argumentieren. Jedenfalls verhält es sich im allgemeinen so, daß die liberale scharfe Gegenüberstellung von Freiheit und Gleichheit soziologischen Argumenten eher abhold ist, während sich die demokratische Verschränkung dieser beiden Größen oft auf solche beruft. Die liberale Abneigung gegen soziologische Argumentation in diesem speziellen Zusammenhang entspringt zudem der Sorge um die Wahrung der sauberen formellen Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem, die mit der Option für die formelle und gegen die materielle Gleichheit in dem Sinne zu tun hat, daß der Einzelne als öffentliche Person bestimmte Rechte und Chancen besitzt, während er sich als private Person entscheidet, was er daraus machen will. Das Auseinanderhalten des öffentlichen und des privaten Aspekts der Person voneinander soll der soziologischen 178

Überlegung den Boden entziehen, der Einzelne sei faktisch der Öffentlichkeit ausgeliefert, auf deren Gestalt bzw. Umgestaltung es eben ankomme. Diese Überlegung gewinnt hingegen im demokratischen Denkrahmen in dem Maße an Gewicht, wie Privates und Öffentliches miteinander vermengt werden, und zwar schon deswegen, weil sich die Öffentlichkeit um manchen Aspekt und Entschluß der Person kümmern solle, der nach bürgerlichen Kriterien privat war. Werden die Bedingungen für die freie Entfaltung der Person nicht zuletzt in der materiellen Gleichheit gesucht, so leuchtet ein, daß hier weder zwischen privatem und öffentlichem Aspekt der Person noch zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten mehr unterschieden wird. Ist die Gesellschaft auf Grund ihrer ethischen Bestimmung verpflichtet, um die Person als Person möglichst umfassend zu sorgen, so wird schließlich das Glück oder das Unglück des Einzelnen zum Maßstab bei der Beantwortung der Frage, ob die Gesellschaft ihre Aufgabe erfolgreich bewältigt hat oder nicht. Entsprechend wandelt sich der Gleichheitsbegriff. Es geht nicht mehr um die gleiche Chance, ungleichen Status und Reichtum zu erlangen, sondern um die Gleichheit im Ergebnis, d. h. im Genuß; nur auf diese Weise läßt sich nach demokratischem Dafürhalten die Gefahr bannen, daß die Nachfahren von Individuen, die (meritokratisch) ungleichen Status und Reichtum erlangten, einen Vorsprung vor den anderen haben und somit den alten Teufelskreis erneut in Gang setzen. Das sind freilich extreme Projektionen und Auffassungen, die sich nie haben verwirklichen lassen; gleichzeitig bilden sie aber Leitvorstellungen des Handelns - eines Handelns, das in dieser Form dem liberalen Verständnis von der Politik wenig entspricht. Denn zur permanenten Aufgabe der Demokratie wird hier die Demokratisierung erklärt, die liberale Verfassung wird also nicht als endgültige Festlegung von formellen Spielregeln angesehen, sondern vielmehr werden ihre normativ geladenen Formeln als Gebot ausgelegt, die Gesellschaft im demokratischen Sinne zu reformieren. Dieses Handeln heißt sehr oft „liberal", damit ist aber ein bloß politischer Liberalismus gemeint, der Schritte zur Verwirklichung der materiellen Gleichheit unternimmt, selbst wenn dies den wirtschaftlichen Liberalismus einschränkt; der Liberalismus179

begriff wird in diesem spezifischen Sinne vornehmlich wegen seiner angenehmen normativen Konnotationen verwendet, er kann sich indes direkt gegen die sozialen Inhalte des bürgerlichen Liberalismus wenden und unterscheidet sich kaum von sozialdemokratischen Positionen. Die antikommunistische Sozialdemokratie, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Westeuropa wirkte, kann übrigens in ihrer grundsätzlichen ethischen Einstellung als eine wichtige Variante der demokratischen Umdeutung des Liberalismus angesehen werden. Obwohl die liberale Kritik an der Demokratie bereits im 19. Jh. die strittigen Fragen beim Namen genannt und den inhaltlichen Gegensatz zwischen den beiden Richtungen mit fast idealtypischer Klarheit herausgearbeitet hatte, gewann doch die demokratische Umdeutung liberaler Topoi ständig an Boden. Der Ubergang vom klassischen bürgerlichen Liberalismus zur modernen Massendemokratie ist in seinen großen Linien erforscht und bekannt, dennoch müssen wir hier auf einige Punkte kurz eingehen, die oft begriffliche und historische Verwirrung stiften. Zunächst müssen wir zwischen den von Land zu Land variierenden, im engeren Sinne politischen und den allgemeinen, längerfristig wirkenden sozialen Gründen unterscheiden, die der genannten Umdeutung den Weg geebnet haben. Die ersteren lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. Außenpolitisch war der Liberalismus in jeweils unterschiedlichem Ausmaß auf Bündnisse mit konservativen oder demokratischen Kräften angewiesen, die in ihrer Weise und in Verbindung mit den eigenen innenpolitischen Zielen die nationale Idee vertraten; die Notwendigkeit, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, bildete einen handfesten Beleg für die Unvermeidlichkeit des Einbaus demokratischer Elemente in das Leben der modernen Staaten, gleichviel, wie ihre politische und soziale Verfassung ansonsten aussah. Innenpolitisch mußte der Liberalismus wiederum darauf achten, daß er die unteren Schichten, und vor allem die antikapitalistisch eingestellte Arbeiterschaft, nicht den Konservativen in die Arme trieb, die bei allem Abscheu gegen die Plebejer den Gedanken des allgemeinen Wahlrechts und der sozialen Gesetzgebung ab und an lancierten, um insbesondere dem liberalen Industriellen zu schaden und die Interessen des Groß180

grundbesitzers zu schützen; unter diesem Zwang gewann ein Flügel des Liberalismus den Eindruck, es würde langfristig lohnen, die Arbeiterschaft durch gewisse Zugeständnisse an die liberale Sache zu binden und zugleich diese letztere entsprechend zu deuten und auszugeben. Schließlich ging in Ländern, in denen die liberale Idee aus besonderen Gründen von Anfang an eine starke juristische Prägung erhalten hatte und Leitmotive wie etwa die Herrschaft des Gesetzes und die Menschenrechte in den Vordergrund stellte, eine soziale und demokratische Umdeutung des Liberalismus leichter vonstatten als in anderen, in denen sich der Liberalismus ursprünglich und hauptsächlich mit dem laissez-faire-Prinzip verbunden hatte. Unter den allgemeinen und längerfristig wirkenden sozialen Gründen, die der demokratischen Umdeutung des Liberalismus zur Hilfe gekommen ist, verdienen drei unsere besondere Aufmerksamkeit. Wir müssen erstens an die Folgen der Mechanisierung des Lebens und der damit zusammenhängenden Verbreitung des Massenkonsums denken, die um die Jahrhundertwende mit großem Schwung ansetzten. Die Maschine dringt nun in einem vorher unbekannten und unvorstellbaren Ausmaße in den Alltag der einfachen arbeitenden Menschen ein, und zwar sowohl in Form des Transportmittels wie auch des Hausgeräts; sie hört somit auf, in erster Linie Arbeitsinstrument zu sein, und wird zum selbstverständlichen Bestandteil des täglichen Lebensablaufs. Gleichzeitig findet eine weitgehende Ersetzung der traditionellen handwerklich hergestellten Gebrauchsgegenstände durch industrielle Massenprodukte statt. Diese Vorgänge, die den avantgardistischen Feinden des Bürgertums das Loblied auf den kühlen Geist der Maschine eingaben und zur Unterminierung der bürgerlichen Synthese von klassischer und technischer Bildung beitrugen, schienen den materiellen Beweis dafür zu liefern, daß nunmehr eine ständige Verbesserung des Lebens der breiten Massen auf solider Basis im Rahmen des Möglichen lag. Sozialisten hatten schon früher auf die Entwicklung der Produktivkräfte als Garantie für die Uberwindung des Kapitalismus gesetzt; „sozial" gesinnte Liberale, die sich um die, wie sie meinten, notwendige Anpassung ihrer Doktrin an die neuen Verhältnisse bemühten, wollten freilich 181

nicht soweit gehen, andererseits stellten sie fest, daß auf Grund der neuen Möglichkeiten von Technik und Industrie ihren ethischen Postulaten ein reeller Inhalt gegeben und daß dadurch zwar nicht der Kapitalismus als solcher, wohl aber die inhumanste Gestalt des Wirtschaftsliberalismus beseitigt werden konnte. Mit der Entdeckung der Würde der Person jedes Einzelnen ging aber die Entdeckung der unteren Schichten als potenzieller Konsumenten einher. Die neuen Produktionsmöglichkeiten erforderten neue Absatzmöglichkeiten, und der sich abzeichnenden Gefahr von schweren Uberproduktionskrisen ließ sich nur durch eine wesentlich andere Bewertung der Rolle des Arbeiters im wirtschaftlichen Gesamtprozeß vorbeugen. Indem der Arbeiter zum Konsumenten wurde, erlangte er eine Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit, die er als Produzent nie hatte. Er wird jemand, der umworben und überzeugt werden muß, er wird also zur Person nicht im abstrakten ethischen, sondern in einem sehr konkreten Sinne. Es ist kein Zufall und auch keine vulgärsoziologische Konstruktion, daß die ethisch geprägte demokratische Umdeutung des Liberalismus parallel zu den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen an Boden gewann, die aus dem Arbeiter und dem kleinen Mann im allgemeinen einen wenigstens potenziellen Konsumenten machten. Zweitens mußte nun mit dem Arbeiter nicht nur als Konsumenten von materiellen Gütern, sondern auch als politischem Konsumenten gerechnet werden. Die Zeit des Eindringens der Industrie in das Alltagsleben der Massen war zugleich die Zeit der Herausbildung von politischen Massenorganisationen, die zunächst von den Sozialisten in Angriff genommen und nicht zuletzt unter dem Einfluß von deren Beispiel zum Hauptinstrument der politischen Tätigkeit innerhalb der sich demokratisierenden Massengesellschaft wurde. Für die liberalen Parteien bedeutete dieser Vermassungsvorgang zweierlei. In dem Maße, wie der Druck der Sozialisten oder taktische Manöver von anderen Parteirichtungen eine Erweiterung des Wahlrechts herbeiführten, mußten sie sich wenigstens für Werbezwecke zu sozialstaatlichen und massendemokratischen Parolen bekennen. Vor diesem Hintergrund gewann die Position jener, -die die demokratische Umdeutung des Libera182

lismus ernst nahmen und systematisch betrieben, direkten taktischen Wert und reales politisches Gewicht, denn sie schien die nunmehr notwendige, wenn auch bei den Bürgern nicht immer beliebte Brücke zu den neuen Wählerschichten zu schlagen. Die Verwandlung der Parteien in Massenorganisationen brachte es zugleich mit sich, daß die gehobenen bürgerlichen Elemente in ihnen an Gewicht verloren. Freilich haben die liberalen Parteien noch lange manchen Zug des mehr oder weniger lockeren Honoratiorenverbandes beibehalten; die Stufenleiter der hierarchischen Massenorganisation konnte jedenfalls viel leichter durch Mitglieder kleinbürgerlicher oder gar proletarischer Herkunft erklommen werden, denen der Anklang bei den Wählern bzw. die eigene politische Laufbahn oft wichtiger erschien als die manchmal peinliche Verteidigung des Wirtschaftsliberalismus oder des jeweiligen Anliegens dieser oder jener bürgerlichen Gruppe. Die wachsende Macht der Verbände in der Massengesellschaft trug neben der organisatorischen Umstrukturierung der Parteien das Ihrige dazu bei, ein Bild von der Politik geläufig zu machen, das nicht mehr das frühere bürgerliche war, sondern im großen ganzen den Realitäten des Demokratisierungsvorgangs entsprach. Die zunehmende Komplexität und Bürokratisierung der Wirtschaft, die parallel zu der zunehmenden Technizität und Bürokratisierung der Politik ablief, ist der dritte große Faktor gewesen, der die demokratische Umdeutung des Liberalismus begünstigte. Auch in diesem Fall hing die Verschiebung auf der Ebene der Theorie mit einer Abschwächung der sozialen Stellung des Bürgertums zusammen. Wie der Bürger alten Schlages innerhalb der Massenpartei mehr oder weniger verblaßte oder unterging, so konnte er sich als solcher von dem Augenblick an nicht mehr behaupten oder entfalten, in dem an die Stelle des Familienunternehmens Konzerne, Trusts oder Banken traten, deren Funktionieren auf eine eigenständige und bleibende Schicht von Spezialisten, Technikern und Verwaltern angewiesen war. Selbst wenn das Eigentum seinen persönlichen Charakter nicht (ganz) verlor, trat jedenfalls eine Disharmonie zwischen dem Besitz von Eigentum und dessen tatsächlicher Funktion im Wirtschaftsprozeß ein, die vielfach als Parasitismus empfunden wurde. Die sich daraus erge183

bende Aufwertung der Funktion oder der Kompetenz verstärkte die demokratischen und egalitären Tendenzen sowie die Neigung, sich einen Liberalismus vorzustellen, der nicht oder nicht allein durch die Interessen des Bürgertums geprägt worden wäre. Die Durchsetzung der bürokratischen Organisation auf der Ebene des Großunternehmens und der Wirtschaft im allgemeinen bedeutete, daß manche spezifisch bürgerliche Eigenschaft oder Tugend überflüssig, wenn nicht schädlich wurde. Die speziellen technischen Kenntnisse werden nun wichtiger als die allgemeinen, die Kluft zwischen Arbeit oder Technik und Kultur vertieft sich. Der neuen Phase in der Geschichte des Kapitalismus entspricht eine neue Phase in der Geschichte des Bürgers und des Bürgertums. Der Wirtschaftsbürger des 20. Jh.s hat immer weniger Zeit und Muße, um sich zum Träger der Bürgerlichkeit in allen ihren Aspekten zu machen, er begrenzt seine Interessen, um der komplexen Lage Herr zu bleiben, während sich andere Angehörige seiner Klasse, die auch Mitglieder seiner eigenen Familie sein können, um die Angelegenheiten des Geistes kümmern und dabei oft verächtlich auf das „Geschäft" herabblicken. In dieser ihrer Fremdheit oder Abneigung gegenüber der Praxis verlieren sie freilich bei allen eventuellen künstlerischen oder sonstigen intellektuellen Neigungen und Leistungen das Prädikat der Bürgerlichkeit - ebenso wie der Wirtschaftsbürger, der sich seinerseits immer mehr an den Typ des Ingenieurs oder des Managers anlehnt, kurzum vom Bürger zum Unternehmer wird. Die historische und soziologische Analyse darf nicht der optischen Täuschung zum Opfer fallen, die aus der Verwechslung des Schicksals von physischen Personen mit dem Schicksal von geschichtlich-sozialen Typen und Kategorien entsteht. Zweifelsohne haben viele bürgerliche Familien über Generationen hinweg ihren höheren sozialen und wirtschaftlichen Status behaupten können, das haben sie aber in der Regel nicht als Träger der Bürgerlichkeit und der bürgerlichen Lebenshaltung und Wertskala getan, sondern ganz im Gegenteil nur insofern, als sie die Rollen und Funktionen haben übernehmen und bewältigen können, die in der neuen Lage den Ausschlag gaben; die Tatsache, daß sie bereits der oberen Schicht angehörten, gab ihnen allerdings gute Anfangsschancen, den Anschluß an die 184

veränderten Verhältnisse zu finden, ohne von ihrem früheren Niveau abzusinken. Und umgekehrt: Träger der Bürgerlichkeit gehen im massendemokratischen Zeitalter entweder zugrunde oder sie überleben, indem sie dieselbe soziale Funktion erfüllen wie der Adel nach seinem Niedergang, sie bieten nämlich Vorbilder mondänen Verhaltens an, die von Neureichen imitiert werden, wenn sich diese gegen andere Neureiche abgrenzen wollen. Das Unglück der heutigen Neureichen besteht freilich darin, daß sie viel weniger Zeit und Geduld als die früheren haben, um einen ursprünglich fremden Lebensstil zu verinnerlichen. Die demokratische Umdeutung des Liberalismus und die Betonung der ethischen Verpflichtungen von Gesellschaft und Staat gegenüber dem Individuum als Individuum zog neben der Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem auch das Verwischen der klassischen liberalen Unterscheidung zwischen Wirtschaft und Politik nach sich. Die Politik, also der Staat durfte nunmehr grundsätzlich in die Wirtschaft intervenieren, und zwar nicht mehr einfach um den gesetzlichen Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeit abzustecken oder der Wirtschaft gegebenenfalls unter die Arme zu greifen, sondern um sie für sozialstaatliche Zwecke einzuspannen. Die Politik lenkt somit die Wirtschaft unter Berufung auf nicht rein wirtschaftliche Gesichtspunkte. Offensichtlich hat die Politik, die eine solche Lenkung unternimmt, einen anderen Charakter als jene, die von derlei nichts wissen wollte. Es geht um die massendemokratische Politik, die sich im Gegensatz zur liberalen nicht mit den zivilen Freiheiten zufriedengeben will, sondern ihr Handeln an der Gewährung und Ausübung der politischen Freiheiten, allen voran des Wahlrechts, orientiert. Der Sinn der Stimmabgabe lag nach Auffassung der Liberalen in der Äusserung eines Urteils darüber, ob die jeweilige Regierung im Rahmen der festgelegten Spielregeln korrekt gehandelt hat, ohne die Grenzen ihrer Zuständigkeiten zu überschreiten. In der demokratischen Vorstellung bedeutet hingegen die Stimmabgabe eine unter mehreren möglichen und wünschenswerten Formen der Beteiligung der breiten Massen am politischen Leben und insofern einen Auftrag an die Regierung, im Sinne der weiteren Demokratisierung zu handeln. Dem entspricht die Tatsache, daß 185

der Liberalismus die gesetzgeberische Tätigkeit auf allgemeine Gesetze beschränken wollte, die den Spielraum der Gesellschaft nach formalen Kriterien umreißen und den materiellen Inhalt der Aktionen dem Ermessen der Einzelnen überlassen sollten, während unter den massendemokratischen Verhältnissen an die Stelle des allgemeinen Gesetzes die Maßnahme tritt, die konkrete Fälle regelt. Die Maßnahme stellt das Instrument dar, mit dessen Hilfe die Politik in die Wirtschaft und in das Leben der Gesellschaft überhaupt eingreift, um den Sozialstaat auszubauen und die Demokratisierung voranzutreiben. Nun ist es aber so gewesen, daß sowohl unter liberalen Verfassungen und Regierungen Gesetze verabschiedet wurden, die deutlich den Charakter einer Maßnahme zugunsten dieser oder jener Gruppe trugen, als auch unter Umständen, in denen die Massendemokratie bereits im Vormarsch war oder im Wesentlichen gesiegt hatte, bestimmte Maßnahmen der Demokratisierung zuwiderliefen, also die liberalen Restbestände schützen sollten. Das impliziert bereits, daß manche gängigen Auffassungen über Kompetenzen und Grenzen des Staates in der liberalen und in der massendemokratischen Epoche einseitig sind. Diesem wichtigen Punkt müssen wir einige abschließende Bemerkungen widmen. Es wird oft pauschal behauptet, der Liberalismus sei theoretisch und praktisch für einen Nachtwächterstaat eingetreten, während die Massendemokratie zum Etatismus und Dirigismus neige. Dem muß man im Lichte der geschichtlichen Fakten entgegnen, daß die angeblich wesensgemäße Staatsfeindlichkeit des Liberalismus eine Legende ist, die unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Gefahr einer Einspannung staatlicher Macht für demokratische Zwecke entstand. Aufstieg des modernen Staates und Aufstieg des Bürgertums liefen jahrhundertelang parallel zueinander, und der Sieg des Bürgertums hat keine Abschwächung dieses Staates, sondern im Gegenteil dessen Ausbau und Vervollkommnung nach sich gezogen. Die freie Entfaltung der Gesellschaft und insbesondere die freie Konkurrenz in der Wirtschaft setzten Einheitlichkeit der Spielregeln, d.h. eine allgemeine Gesetzgebung voraus, die nur der moderne Staat und seine Bürokratie in die Wege leiten und gegen Übertretungen in Schutz nehmen können. Das Miß186

trauen oder gar die Auflehnung des Bürgertums gegen den Absolutismus entstammten nicht einem grundsätzlichen Gegensatz zum Staat - übrigens wußte das Bürgertum die antifeudalen Ansätze des absolutistischen Staates gehörig zu schätzen - , sondern einerseits dem Gefühl, nun selbst reif und stark genug zu sein, um politisch zu herrschen, andererseits dem Eindruck oder der Feststellung, der Absolutismus sei von seinem Charakter her nicht imstande, mit den feudalen Kräften ganz zu brechen. Nach dem Sturz des Absolutismus wurde dessen Staat zwar reformiert, aber nur in der Absicht, ihn auszubauen und effektiver zu machen. Die Frage ist daher nicht abstrakt die, ob „der" Staat von dieser oder jener Partei von der grundsätzlichen Einstellung her gehaßt oder geliebt wurde, sondern konkret die, welcher Staat von welcher Partei und unter welchen Bedingungen bejaht oder abgelehnt wurde. Solange der bürgerliche Liberalismus seine oligarchischen Züge mehr oder weniger intakt bewahrte, konnte oder wenigstens wollte er den Staat für die eigenen Zwecke einsetzen, obwohl man andererseits unterstreichen muß, daß ihm dies nie auf der ganzen Linie gelungen ist, da er die politische Herrschaft bald mit dem Adel, bald mit einem starken Bauerntum, bald mit militärischen Bürokratien hat teilen müssen. Der Aufstieg der Demokratie ermöglichte den Einsatz staatlicher Macht für Zwecke, die denen des Bürgertums vielfach zuwiderliefen, und dies mußte die Einstellung des Liberalismus zum Staat von neuem zwiespältig machen, diesmal aber auf einer wesentlich anderen Basis als zur Zeit des Absolutismus oder des konstitutionellen „monarchischen Prinzips". Ein starker und effektiver Staat wird dann verlangt, wenn es um den Schutz bürgerlicher Eigentumsrechte und um die Verteidigung jener sozialen Ordnung geht, in der derartige Rechte gedeihen; solches Verlangen kann manchmal im Verzicht auf den politischen Liberalismus zur Rettung des wirtschaftlichen gipfeln. Den demokratischen Forderungen nach politischer Lenkung der Wirtschaft und insbesondere dem Ausbau des Versorgungs- und Sozialstaates wird im Gegenteil die Losung „weniger Staat!" gegenübergestellt. Das Bürgertum, das inzwischen kein Bürgertum im vollen historischen und soziologischen Sinne des Wortes mehr ist, sondern im großen ganzen ebensoviel wie die Unternehmerklasse 187

bedeutet, weiß, daß es den Einfluß über den Staat mit demokratischen Kräften teilen muß; da Wirklichkeit und Macht dieses Staates ohnehin unübersehbar sind, so ist es gezwungen, um solchen Einfluß zu kämpfen - und dieser Kampf ist Kampf um den Einsatz eines Staates, der nicht mehr der bürgerliche sein kann, für bürgerliche Zwecke. Wir sind in die Phase eingetreten, in der das Bürgertum bzw. die Unternehmerklasse, wie alle anderen sozialen Schichten und Gruppen auch, auf die Maßnahmen, d. h. auf die politischen Entscheidungen des Staates angewiesen ist und deshalb versucht, sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu beeinflussen. Nicht Bürger bestimmen, welche allgemeinen Regeln der Staat festlegen soll, damit Wirtschaft und Gesellschaft abseits des Staates funktionieren können, sondern Unternehmer drängen den Staat dazu, Maßnahmen zu ihren Gunsten zu ergreifen und somit in Wirtschaft und Gesellschaft einzugreifen. Die Wandlung des Liberalismus macht sich sehr anschaulich daran bemerkbar.

2. Strukturelle Merkmale der Massendemokratie Das zentrale Merkmal der Massendemokratie, das sie von allen früheren Gesellschaftsformationen unterscheidet und zu einem geschichtlichen Novum macht, ist die Uberwindung der Knappheit der Güter. Es kann zwar eine Massengesellschaft, nicht aber eine Massendemokratie westlichen Typs geben, wenn jener Uberfluß an materiellen Gütern fehlt, der eine quasi automatische Bindung des Begriffs des Bürgers (als citoyen) an den des Konsumenten bewirkt. Freilich handelt es sich dabei nicht um eine formaljuristische oder verfassungsrechtliche Bindung, sondern um etwas viel Tieferes: eine Gesellschaft nämlich, die die Güterknappheit überwindet und ihren Mitgliedern Konsumgüter in immer größeren Mengen zur Verfügung stellt, muß als Massendemokratie 188

strukturiert sein. Denn sowohl die Organisation der Arbeit, die zur Uberwindung der Güterknappheit erforderlich ist, als auch die sozialen Folgen dieser Uberwindung erzeugen aus ihrem Schoß die Massendemokratie, indem sie bestimmte ideologische und psychologische Einstellungen sowie die entsprechenden institutionellen und persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen hervorbringen und festigen. Uberwindung der Güterknappheit heißt zunächst, daß immer weniger Menschen ihre eigene Nahrung und Kleidung selbst produzieren müssen oder daß immer weniger Menschen die Nahrung und die Kleidung für die anderen produzieren können: immer mehr Menschen produzieren also Dinge, die nicht der elementaren Subsistenz dienen, wobei materielle Bedürfnisse entstehen, die über die elementare Subsistenz weit hinausreichen und auf mehrere Weisen gleichzeitig, d. h. durch das Angebot mehrerer vergleichbarer Produkte befriedigt werden können. Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte wurde somit ein Zustand beseitigt, der für die Gestaltung des sozialen Lebens und nicht zuletzt der ethischen Vorstellungen ausschlaggebend war: die Knappheit der Güter. Wie tief dieser Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit gewesen ist, wird an einer Wandlung erkennbar, deren weitverzweigte Folgen uns in diesem und in den folgenden Abschnitten im einzelnen beschäftigen werden. Vor dem Aufstieg der Massendemokratie schlug sich die Tatsache der Güterknappheit ideell in ethischen Anschauungen nieder, die auf Begriffen wie Askese, Enthaltung, Selbstzucht u.a. beruhten und das Verhalten der Mitglieder der verschiedensten Gesellschaften derart zu beeinflussen suchten, daß keine Forderungen oder Erwartungen entstehen würden, die die vorhandenen Strukturen und Hierarchien, also die geltenden Entscheidungen zur Verteilung der knappen Güter umwerfen könnten. Selbstverständlich gebot diese Ethik, die wir nach altem Usus die asketische nennen wollen, nicht bloß das Fasten, d.h. sie bezog sich nicht nur und nicht immer direkt auf die Knappheit der Güter (die übrigens als natürlich galt und als solche kein Thema war), sondern sie extrapolierte sich in Grundsätzen über die Überlegenheit der geistigen Güter gegenüber den materiellen und über die notgedrungen zügelnde Rolle der Vernunft angesichts der 189

Zügellosigkeit der Triebe. Innerhalb dieses alten und bewährten begrifflichen Rahmens gab es freilich Verschiebungen, deren wichtigste durch die neuzeitliche Rehabilitation der Sinnlichkeit gegen die christliche Askese erfolgte. Dennoch wurde der prinzipielle Gedanke nicht aufgegeben - auch die bürgerliche Synthese hat ihn beibehalten, zumal er sich mit den Desiderata der Akkumulationsphase des frühen Kapitalismus gut vertrug. Hingegen benötigt die Massendemokratie, deren Wirtschaft ohne den Massenkonsum und deren Gesellschaft ohne ein entsprechendes Selbstverständnis ihrer Mitglieder nicht auskommen kann, hedonistische Einstellungen und Ideologien als Leitlinien sozialen Handelns. Der Hedonismus ist hier genausowenig wie die Askese in den früheren Gesellschaftsformationen im engen Sinne zu verstehen. Als Gegenbegriff einer weit gefaßten Askese extrapoliert sich der Hedonismus gleichfalls in Grundsätzen, die nicht einfach und direkt den materiellen Konsum legitimieren, sondern sich darüber hinaus anthropologischen und normativen Vorstellungen entgegensetzen, die mit der asketischen Ethik verbunden waren. So wird an die Stelle der kardinalen Tugend der Selbstüberwindung die Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung gesetzt, wobei die dualistische Vernunftanthropologie preisgegeben und das Recht der Triebe des einheitlichen Menschen auf Befriedigung geltend gemacht wird; ebenfalls ersetzt der Pluralismus der Werte die frühere Festlegung auf eine einzig verbindliche Werthierarchie, die in bestimmten obersten Werten gründete, während die Theorien über die Menschenrechte etc. im Sinne demokratisch-egalitärer Ideen sowie des Selbstverwirklichungsideals ausgelegt werden. Dennoch lassen sich diese Extrapolationen des Hedonismus, in denen sich der hedonistische Kern oft kaum wiedererkennen läßt, fast immer in eine Sprache übersetzen, die das unmittelbare Anliegen einer massenhaft konsumierenden Massendemokratie in Erscheinung treten läßt. Die These z.B., menschliche Würde oder Selbstentfaltung müsse unter den Bedingungen materieller Entbehrung leiden, konnte auf der Basis christlich-asketischer Grundsätze nicht ohne weiteres einleuchten und kommt in concreto der Auffassung gleich, der Einzelne sollte zum Konsum von Waren fähig sein, um als ganzer Mensch gelten zu dürfen. Dasselbe indi190

ziert auch die Verflechtung der genannten These mit dem demokratischen Ideal der materiellen Gleichheit. Wir erwähnten im vorigen Abschnitt, daß um die Jahrhundertwende infolge vieler neuer Erfindungen eine umfassende Mechanisierung des Alltags einsetzte. Diese erfaßte einerseits den Bereich von Arbeit und Produktion, in dem die komplizierte handwerkliche Arbeitsweise großenteils durch das Fließband abgelöst wurde, und andererseits den privaten häuslichen Bereich (Küche, Bad und ihre Apparaturen, Reinigungsprozesse, Automatisierung der Wärmequellen und der Kälteerzeugung); damit ging die Mechanisierung der Nahrung (z.B. Konservenindustrie) und der Transportmittel einher. Die gleichzeitige Mechanisierung in all diesen Bereichen war ein Anzeichen unter mehreren für das Ausmaß der gegenseitigen Abhängigkeit von Massenproduktion und Massenkonsum. Sobald sich die technischen Voraussetzungen der Massenproduktion einstellten, mußte der Massenabsatz abgesichert werden; die menschlichen Massen, die die industrielle Revolution in große wirtschaftliche Zentren zusammenführte, mußten den Bestand und die Erweiterung des Systems ebensosehr durch ihren Konsum wie durch ihre Arbeit gewährleisten. Genauer gesagt: die Produktion von Konsumgütern nahm nun solche Dimensionen an, daß für breite Massen Konsumieren zu einer besonderen Tätigkeit neben dem Arbeiten werden konnte, die über die bloße materielle Sicherung der physischen Existenz mehr oder weniger hinausreichte. Die Zusammengehörigkeit von industrieller Massenproduktion, organisiertem Massenabsatz und Konzentration von Menschenmassen in den Städten wurde jedenfalls gleich eingesehen, und die großen Warenhäuser, die ebenfalls um die Jahrhundertwende schon das Stadtbild der amerikanischen und europäischen Metropolen prägten, setzten diese Erkenntnis in lukrative Praxis um. Das gleichzeitige Aufkommen von Massenproduktion und Massenkonsum durch Menschenmassen leitete die Umwandlung der Massengesellschaft in die Massendemokratie ein und wurde durch drei zentrale Erscheinungen begleitet, die sowohl einzeln als auch komplementär die analytisch-kombinatorische Denkfigur gleichsam sozial inkarnieren. In allen dreien herrscht die Vorstellung 191

von letzten nicht weiter analysierbaren Elementen, die an sich gleichwertig sind und sich auf einer ebenen Fläche miteinander kombinieren, wobei die Dimension der Zeit bzw. der Geschichte kaum eine Rolle spielt und die funktionellen Gesichtspunkte die substanziellen beiseite gestellt haben. Diese Erscheinungen sind die (fortgeschrittene) Arbeitsteilung, die Atomisierung der Gesellschaft und die soziale Mobilität. Die vorindustrielle Arbeitsteilung war vornehmlich eine äußere, d. h. die jeweils erforderliche soziale Arbeit wurde unter mehreren Berufsgruppen aufgeteilt, innerhalb deren aber der jeweilige Arbeitsvorgang kaum oder wenig in spezielle und zugleich komplementäre Teilaufgaben zerlegt wurde; erst die Manufaktur und die erste industrielle Revolution führten die innere Arbeitsteilung neben die äußere in nennenswertem Umfang ein. In der Zeit der beginnenden Massenproduktion erreichen nun sowohl die äußere als auch die innere Arbeitsteilung eine bis dahin völlig unbekannte Intensität und Bedeutung. Es entstanden sehr viele neue Berufe und zugleich vollzog sich vor allem innerhalb der industriellen Produktion eine Zerlegung des Arbeitsprozesses, die musterhaft und sprichwörtlich wurde. Diese extreme Arbeitsteilung beruhte auf einem analytischen Denkmodell, sie wurde nämlich durch das erfolgreiche Bestreben ermöglicht, ein Ganzes bis in seine allerletzten Bestandteile zu zergliedern und dann dieses selbe Ganze auf der Basis der vorangegangenen Zergliederung zu rekonstruieren. Die minutiöse Zerlegung des Arbeitsvorganges zerstörte endgültig das uralte handwerkliche Ideal von einem einheitlichen Produkt, das von einer einzigen Hand wie ein Kunstwerk gefertigt wird - ein Ideal übrigens, welches in den bürgerlichen Arbeitsvorstellungen und in der bürgerlichen Ästhetik neben anderen z.T. sehr heterogenen Ansätzen weiterlebte. Die fortgeschrittene Arbeitsteilung bedeutete eine Absage an Tradition und Geschichte eben in dem Sinne, daß sie jede handwerkliche Vorstellung, die sich an herkömmlichen Arbeitsgewohnheiten und vorgegebenen Mustern orientierte, zunichte machte und statt dessen dem zweckrationalen Prinzip ständiger Verbesserung und Erneuerung huldigte. Die Atomisierung der Gesellschaft setzte freilich damit an, daß im Zuge der Fortschritte der Industrialisierung die natürlichen 192

Lebensverbände (Großfamilie, Hausgemeinschaft, Sippe, Dorfgemeinschaft) zum ersten Male in der Geschichte wirtschaftlich unbrauchbar, ja hinderlich wurden. Die bürgerliche Gesellschaft hatte aber die Tendenz zur Atomisierung weder in extremer Form gekannt noch gutgeheißen. Sie behielt, wie wir wissen, den Glauben an die substanziellen Bindungen und die sozialen Voraussetzungen des Individuums und sah in der Familie die natürliche Zelle des sozialen Organismus. Erst unter den Bedingungen der Massendemokratie wurde die Atomisierung derart realisiert und legitimiert, daß die Mitglieder der Gesellschaft weitgehend mobil und miteinander austauschbar werden konnten. Die erweiterte Familie wurde durch die Kernfamilie großenteils abgelöst, die Bedeutung der substanziellen Bindungen stark herabgesetzt und die soziale Voraussetzungslosigkeit des Einzelnen zur Voraussetzung für die echte Gleichheit der Chancen erklärt. Die Kernfamilie bildet eine Reduktion der Familie auf jenes Minimum, das für ihre fundamentale Funktion, d. h. die Zeugung und Erziehung von Kindern unbedingt notwendig ist - von dem immer häufiger werdenden Fall zu schweigen, in dem Kinder ohne Eheschließung gezeugt und dann von einem der beiden Eltern erzogen werden. Die Abschwächung der sozialen Rolle der Familie, auch in ihrer reduzierten Form, zeigt sich nicht nur an der Verkürzung ihrer durchschnittlichen Dauer und der Häufung der Ehescheidung, sondern auch an der Tatsache, daß sie nicht mehr den entscheidenden Faktor bei der Erziehung der Kinder darstellt, da ihr Einfluß diesbezüglich hinter dem des weiteren sozialen Milieus immer mehr zurückbleibt. Die Kern- oder Restfamilie wirkt also insgesamt nicht als Damm gegen den massendemokratischen Individualismus, sondern eher als dessen Vorschule oder Exerzierplatz. Zu betonen ist noch ein Aspekt, der bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es handelt sich um die innere Beziehung zwischen Atomisierung der Gesellschaft und Uberfluß an leicht zu erwerbenden Konsumgütern. Indem sich der Einzelne mit allen möglichen Geräten ausstatten und sich allein versorgen, informieren, amüsieren und bewegen kann, wird er selbständiger und benötigt den Kontakt mit anderen immer weniger oder zumindest kann er ihn leichter entbehren. Er hat die Möglichkeit, sich eine vollständige 193

kleine Welt in der eigenen Wohnung einzurichten und sich ansonsten auf jenes Minimum an menschlichen Bindungen zu beschränken, das beruflich und sozial notwendig erscheint. Die Reduktion der Gesellschaft auf Atome muß daher in dem Maße gedeihen, wie sich jedes dieser Atome mit Hilfe der von ihm jeweils bevorzugten Konsumgüter seine persönliche kleine Burg bauen kann und darf. Soziale Mobilität wächst offensichtlich infolge der fortschreitenden Arbeitsteilung und der zunehmenden Atomisierung der Gesellschaft, d. h. sie geht sowohl mit der steigenden Differenzierung der sozialen Arbeit und der Berufe einher als auch mit der Auflösung der substanziellen Bindungen und der sozialen Voraussetzungen des Einzelnen. Die Mobilität der Menschen ordnet sich ihrerseits in den umfangreicheren Zusammenhang der Mobilität aller sozial relevanten Größen ein, der außerdem den schnellen Verbrauch und die rasche Ersetzung von Waren sowie von geistigen Gütern umfaßt, und sie kann aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und eingeteilt werden. Zunächst ist zwischen ihrer subjektiven und ihrer objektiven Funktion zu unterscheiden, d. h. Mobilität funktioniert als Chance, die den sozial miteinander konkurrierenden Subjekten Wechsel- und Aufstiegsmöglichkeiten bietet, und zugleich als Ausleseprinzip, das im Ergebnis objektiv ausdrückt, wie erfolgreich die Subjekte ihre Chancen innerhalb der mobilen Gesellschaft haben ausnutzen können. Chancen bieten sich aber sowohl horizontal (z.B. Wechsel des Berufs ohne Änderung des Status) als auch vertikal (Gewinn an Status) und dementsprechend läßt sich von einer horizontalen und einer vertikalen sozialen Mobilität reden. Erstere bezieht ihren Schwung aus der real vorhandenen Vielfalt der nebeneinander praktizierten Berufe sowie aus der wachsenden Differenzierung der sozialen Arbeit. Die vertikale Mobilität zeigt wiederum an, welche und wieviele Einzelne auf der Hierarchie- oder der Statusleiter eines Berufes oder der Gesellschaft in toto auf- und abgestiegen sind. In beiden Fällen geht es um die Besetzung von verfügbaren Rollen, d. h. die Personen, die diese Rollen übernehmen können, sind letztlich austauschbar und ersetzbar, selbst wenn die Rollenbesetzung nicht immer befriedigend ausfällt. Bei der sozia194

len Mobilität ist aber nicht nur der Aspekt der Austauschbarkeit der Einzelnen wichtig, sondern auch der, daß sich immer mehr Einzelne miteinander treffen oder vielmehr kreuzen, wobei ihre Kontakte immer kürzer und flüchtiger werden. Das bringt uns auf die Beziehung zwischen äußerer und innerer oder psychischer Mobilität. Letztere verbindet sich vielfach mit der Überzeugung, daß ständiger Wechsel und ständig neue Eindrücke das innere Gesetz des Lebens in der gegenwärtigen Gesellschaft seien. Diese Überzeugung nährt sich von der täglichen Wahrnehmung der soeben geschilderten Aspekte der Mobilität der Menschen und zugleich von der Vielzahl und -fait der Nachrichten und Bilder, die unablässig in das Bewußtsein hineinströmen. Die drei Geräte Auto, Telephon, Fernsehapparat - , die den Alltag der massenhaft konsumierenden Massendemokratie prägen, dienen allesamt dazu, Distanzen fast beliebig zu überbrücken und die Psyche des Einzelnen wenigstens vorläufig an andere Orte, aber auch in andere Zeiten zu versetzen. Die größere innere Mobilität macht ihrerseits den Einzelnen bereiter, sich so zu verhalten, daß die äußere oder soziale Mobilität steigt. Arbeitsteilung, Atomisierung und Mobilität tragen jede in ihrer Weise zur Verstärkung der egalitären Tendenzen der Massendemokratie bei. Freilich stellt die Arbeitsteilung eine Kristallisation von hierarchischen Verhältnissen und insofern auch den praktischen Ausdruck und die faktische Sanktionierung sozialer Ungleichheit dar. Bei den gröberen Formen der Arbeitsteilung in der vorindustriellen und der frühen industriellen Gesellschaft fiel in der Tat die Arbeitsteilung mit einer bestimmten Form des Verhältnisses von Befehl und Gehorsam zusammen. Dies ändert sich in dem Maße, wie die fortschreitende Arbeitsteilung die soziale Arbeit in ihrer Gesamtheit derart differenziert und in solch kleine Einheiten zerstückelt, daß diese nicht mehr als Pyramide vorgestellt werden kann, sondern vielmehr als Ebene, auf der die verschiedenen Arbeitsformen nebeneinander existieren und in ihrer Unentbehrlichkeit füreinander prinzipiell gleichwertig sind. Je komplexer die soziale Arbeit, um so kleiner und zugleich größer das relative soziale Gewicht jeder arbeitenden Gruppe. Denn diese kann ihren isolierten Willen in einem dichten und kaum durch195

schaubaren sozialen Geflecht nicht einseitig und dauernd durchsetzen, andererseits kann sie aber diese selbe Situation der gegenseitigen Abhängigkeit, in der sich auch die anderen Gruppen befinden, zu ihren Gunsten ausnutzen und aus der Unentbehrlichkeit ihrer Leistungen für die soziale Arbeit als Ganzes Vorteile ziehen, zumal in einer Gesellschaft, in der politische Rechte uneingeschränkt gelten. Diese Ambivalenz wirkt sich letztlich egalitär aus, da sie das Gefühl erweckt, daß jeder seine Arbeit tut und daß deshalb jeder wichtiger in dieser und unwichtiger in jener Hinsicht als ein anderer ist. Der bürgerliche Begriff des Berufes, der auch eine hierarchische Konnotation hatte, wird durch den Begriff der sozialen Rolle abgelöst, und obwohl offenbar nicht alle Rollen gleich sind, tröstet sich die egalitäre Grundeinstellung durch die prinzipielle Austauschbarkeit der Personen über den Statusunterschied der z.Z. so und nicht anders besetzten Rollen hinweg. Die Atomisierung, d.h. die Loslösung des Individuums von substanziellen Bindungen und sozialen Voraussetzungen hat wiederum zur Folge, daß soziale und familiäre Herkunft bei der Beurteilung einer Person oder für ihren Aufstieg prinzipiell keine Bedeutung haben (sollen). Was zählt, ist die Leistung - Leistung kann also zum Maßstab für die soziale Einstufung einer Person erst nach der Atomisierung der Gesellschaft, d. h. erst in der egalitären Massendemokratie werden. Wird der Einzelne nicht auf Grund seiner Herkunft oder anderer rein persönlicher und nicht austauschbarer Eigenschaften, sondern auf Grund seiner Leistung und seiner entsprechenden Stellung innerhalb der mobilen Gesellschaft sozial definiert, so heißt dies, daß diese Definition zunehmend im Hinblick auf Qualitäten vorgenommen wird, die jeder als Einzelner haben könnte. Die Symbole, die die Zugehörigkeit zu einer höheren Stufe der wie auch immer verstandenen sozialen Hierarchie anzeigen, werden immer mehr zu solchen, die grundsätzlich in den Besitz jedes Einzelnen kommen können; im Gegensatz zu den früheren Gesellschaftsformationen, in denen diese Symbole nur demjenigen zugehören konnten, der sie auch tatsächlich besaß, dürfen sie nun auch jemandem zugehören, der sie ebensogut nie hätte besitzen können. In der allgemeinen Erkenntnis, daß dem so ist, gründet psychologisch die soziale Mobilität, 196

die die fortgeschrittene Arbeitsteilung sowie die Atomisierung voraussetzt und sich genauso egalitär wie diese beiden auswirkt. Nur da, wo alles mobil ist, ist auch alles offen und jedem erreichbar. Es kann freilich keine Rede davon sein, daß in der Massendemokratie, wie wir sie kennen, die Gleichheit im materiellen Sinne der Demokraten schon verwirklicht worden wäre. Die Realität der Gleichheit ist aber für das Funktionieren der Massendemokratie viel weniger wichtig als die Potenzialität der Gleichheit. Die Gleichheit wird von allen als greifbare Potenzialität anerkannt (selbst diejenigen, die Gleichheit nur als formelle Gleichheit der Chancen gelten lassen wollen, geben zu, daß diese Chancen von jedem genutzt werden dürfen, daß also jeder die soziale Leiter bis zur höchsten Stufe erklimmen darf, wenn er es nur kann) und das alltägliche feierliche Bekenntnis der Massendemokratie dazu eröffnet ipso facto einen Erwartungshorizont, der entsprechende Verhaltensweisen in Gang setzt. Anders gewendet: die prinzipielle Bejahung der Gleichheit und die Tatsache der sozialen Mobilität schaffen Umstände, unter denen psychologische Faktoren und ein subjektives Statusgefühl oft Aktionen und Reaktionen der Menschen bedingen. Das Gefühl der Gleichheit ist stärker als die Realität der Gleichheit. Daher wird der Umgang der Menschen miteinander zunehmend egalitär, d. h. der Ton dieses Umgangs entspricht nicht notwendig, und immer weniger, den tatsächlich vorhandenen Status- und sonstigen Unterschieden zwischen den in Frage kommenden Individuen oder Gruppen. Die grundsätzlich gegebene Möglichkeit, daß jeder jedem anderen von gleich zu gleich begegnen kann, beeinflußt das soziale Verhalten derart, daß schließlich Befehle nicht mehr als Befehle ausgesprochen werden, sondern als Anweisungen, die auf Grund einleuchtender sachlicher Notwendigkeiten befolgt werden müssen. In dem Maße, wie der Untergebene zum „Mitarbeiter" wird, tritt eine Versachlichung der Arbeitsverhältnisse und eine Verdrängung des Hierarchie- durch den Rollengedanken ein. Restriktive und streng hierarchisierte Arbeitsformen erscheinen nicht mehr produktiv, zumal die neuen hochtechnisierten Arbeitsprozesse höhere Qualifizierung, verstärkte Verantwortung und mehr Betei197

ligung erfordern. Die Vorstellung, der Vorgesetzte stehe im Grunde nur deshalb höher, weil er eine andere Rolle zu spielen hat und nicht etwa wegen unergründlicher Vorzüge, beruhigt das egalitäre Bewußtsein und versöhnt es mit den Realitäten der Arbeitsteilung. Übrigens trägt die Verdrängung des Hierarchie- durch den Rollengedanken von sich aus zur Intensivierung der Austauschbarkeit und des vorübergehenden Charakters der Positionen der Einzelnen im Prozeß der sozialen Arbeit bei. Die Autorität im herkömmlichen Sinne zerfällt, und an ihre Stelle tritt als zusammenhaltendes Element die Festigkeit von Strukturen und Mechanismen, innerhalb und im Namen derer die Rollen verteilt werden. Dennoch hat die Massendemokratie die Gleichheit des Herrschens ebensowenig verwirklicht wie die Gleichheit des Konsumierens. Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit von Herrschaft und dem allgemeinen Bekenntnis zum Gleichheitsprinzip wurde durch die Unterwerfung der Herrschaft unter dieselben Spielregeln gelöst, die auch auf den anderen Gebieten des massendemokratischen sozialen Lebens gelten. Die Ausübung von Herrschaft steht demnach grundsätzlich jedem offen, wenn er sich nur als fähig erweist, die dazu gegebenen Chancen besser als die Konkurrenten zu nutzen. Das bedeutet eine Ablösung der Klassenherrschaft durch die Herrschaft von Eliten, die sich ständig konstituieren, auflösen oder in ihrer Zusammensetzung ändern, da ihre Mitglieder keine sozialen Voraussetzungen mit sich bringen müssen. Zugehörigkeit zu den Eliten ist weder erblich noch wird sie durch irgendwelche persönliche Eigenschaft außer der Fähigkeit zuerkannt, dem jeweiligen Gegner innerhalb und außerhalb der Elite erfolgreich gegenüberzutreten; Eliten können demnach zu permanenten Herrschaftsorganen erst nach der Atomisierung der Gesellschaft und der Durchsetzung der egalitären Prinzipien und Einstellungen werden. Sie entstehen in der Politik, in der Wirtschaft und im sozialen Leben, sie konkurrieren oder sie schließen Bündnisse miteinander und sie beziehen ihre Legitimation aus der Tatsache, daß sie jedem offen stehen, also nicht gegen das übergeordnete Prinzip der Gleichheit (der Chancen) verstoßen. Konkurrierende politische Eliten, die um die Herrschaft 198

im Staat gegeneinander kämpfen, müssen sich zusätzlich durch das Votum der Wähler legitimieren. Jede Elite, die Anspruch auf solche Herrschaft erhebt, muß daher um die Gunst der Wähler werben, wobei sie den Willen derselben beeinflussen und sich zugleich von diesem Willen beeinflussen lassen muß. Der Ausweg aus der Zwickmühle der objektiv vorhandenen doppelten Notwendigkeit, Herrschaft auszuüben und den vielerlei Anliegen der Wähler Rechnung zu tragen, ist der Populismus, der in verschiedenen Abwandlungen und Intensitätsgraden eine nicht wegzudenkende Erscheinung im politischen und sozialen Leben der Massendemokratie darstellt. Populismus ist demnach die Art und Weise, wie der Gegensatz zwischen dem Grundsatz der allgemeinen Gleichheit und der (vorläufigen) faktischen Herrschaft einer Elite unter den Bedingungen massendemokratischer Politik (vorläufig) überbrückt wird. Er besteht darin, daß die politischen Eliten bei allem Bestreben, das Entscheidungsmonopol für sich zu behalten, bestimmten weitverbreiteten Ideen oder Vorurteilen Tribut zollen müssen, die dem Selbstgefühl der Massen schmeicheln. Demnach weist die jeweilige Elite den Verdacht von sich, ihre Herrschaft im Staat bzw. ihr Anspruch darauf würde die Gleichheit unter allen Mitgliedern der Gesellschaft beeinträchtigen oder gar aufheben, und stellt sich im Gegenteil als die zuverlässigste Garantie für die Bewahrung oder für den Ausbau dieser Gleichheit dar. Sie soll Fleisch vom Fleische des Volkes, bester Kenner und Interpret von dessen intimen Wünschen und Träumen, kurzum treuer Vollstrecker des Volkswillens sein. In dem Maße, wie die Wähler durch ihre Verbände oder durch die Massenmedien ihre Bedürfnisse und Interessen konkret artikulieren, muß auch der Wille „des Volkes" konkret verwirklicht werden, d.h. unter den Umständen massendemokratischer politischer Freiheit können volonté générale und volonté des tous nicht so sehr voneinander abweichen, daß unter Berufung auf die Interpretation der ersteren durch die herrschende Elite die letztere ignoriert werden könnte. Die populistische Verschränkung oder Identifizierung von volonté générale und volonté des tous konkretisiert sich materiell in Form einer Erfüllung von Forderungen, die bei Anwendung von rein sachlichen, wirtschaftlichen oder anderen Kriterien hätten 199

abgelehnt werden müssen, so daß Leute in den Genuß von Gütern oder Positionen kommen, die sie auf Grund des sonst allgemein geltenden Leistungsprinzips nicht verdienen.Meritokratie und Populismus müssen insofern innerhalb der Massendemokratie einen unaufhörlichen Kampf gegeneinander austragen, dessen Ausgang von Fall zu Fall anders aussieht. Der Populismus muß aber auch permanent psychologische Bedürfnisse befriedigen, und zwar dadurch, daß er Ersatz für die Gleichheit da schafft, wo faktisch keine vorhanden ist. Solchen Ersatz bietet z.B. die zunehmende Beseitigung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem, so daß sich der „kleine Mann" oder auch der „mündige Bürger" auf Grund der Berichte der Massenmedien z.B. davon überzeugen kann, daß sich dieses oder jenes Mitglied dieser oder jener Elite „menschlich" verhält und im allgemeinen genauso ist „wie wir alle auch". Der immanente Populismus der Massendemokratie macht es für die Mitglieder der Eliten zur ersten Pflicht, bei passender Gelegenheit zu demonstrieren, wie nahe sie dem Menschen auf der Straße stehen; eine andere Haltung wird als Verachtung des Mitmenschen sowie der geltenden Gleichheitsgrundsätze empfunden und entsprechend geahndet. Diesbezüglich tritt der „kleine Mann" in der Massendemokratie besonders anspruchsvoll und selbstbewußt auf, und insofern unterscheidet er sich vom Kleinbürger des bürgerlichen Zeitalters, der sich zwischen Bürgertum und Proletariat eingekeilt fühlte und die Welt mit entsprechend ehrfurchtsvollen oder ängstlichen Augen sah. Die mittlere Schicht, die das Gros der massendemokratischen Gesellschaft ausmacht, betrachtet sich hingegen immer mehr als die universale Klasse und prägt mit ihren Lebensgewohnheiten und ihrem Geschmack das massendemokratische Leben in seinen charakteristischen Aspekten. Sie kann konsumieren, sie kann reisen, sie kann sich informieren, und auf Grund von all dem kann sie vor allem den Eindruck gewinnen, daß sie Urteilskraft oder wenigstens Schlauheit genug besitzt, um sich von niemandem reinlegen zu lassen. In diesem seinem Selbstbewußtsein blickt der mehr oder weniger kleine Mann oft auf die Mitglieder der politischen Eliten bzw. auf „die Politiker" verächtlich herab und legt seine Gleichgültigkeit gegen ihr Geschäft an den Tag. Die Politik als Beruf ver200

liert somit erheblich an Autorität im alten Sinne des Wortes und erscheint als Job neben vielen anderen, der von Spezialisten einer besonders suspekten Art ausgeübt wird und genauso wie jeder andere auch Gewinne und Verluste mit sich bringt. Politische Gleichgültigkeit, die mit der Reduktion der Politik auf Job zusammenhängt, und Populismus, der den Träger dieses Jobs zu einem bestimmten Verhalten zwingt, um die Massen aus ihrer Gleichgültigkeit herauszureißen, gehen in der Massendemokratie einher und zeichnen ihr Gesicht. Die Massendemokratie leidet aber nicht nur unter dem Widerspruch zwischen erklärten Gleichheitsprinzipien und faktischer Herrschaft von Eliten, der in den Populismus mündet. Ein anderer Widerspruch rührt ebenfalls an ihren Grundlagen und ist anscheinend genauso unüberwindlich wie der erstere: der Widerspruch zwischen Leistungsprinzip oder technischer Rationalität überhaupt und den hedonistischen Einstellungen. Leistungsprinzip und technische Rationalität haben offenbar mit dem Arbeitsprozeß, die hedonistischen Einstellungen mit dem für die massendemokratische Wirtschaft nicht weniger unentbehrlichen Vorgang des Massenkonsums zu tun. Der Mensch in der Massendemokratie, insofern er gleichzeitig Arbeitender und Konsument ist, muß also zwei unterschiedliche Mentalitäten und Verhaltensweisen beherzigen, obwohl die Art seiner Arbeit und die dadurch bedingte Lebensweise den Schwerpunkt in die eine oder die andere Richtung verlegen. Manche Arbeitsart, die in der Regel zu den Dienstleistungen gehört, hat auch unter massendemokratischen Bedingungen mit technischer Rationalität kaum oder wenig zu tun, und deshalb kann sie, wie wir gleich sehen werden, den natürlichen Boden für das Gedeihen hedonistischer Einstellungen abgeben. Andererseits stehen nicht bloß mechanische Arbeiten und technische Prozesse im Zeichen technischer Rationalität, sondern im Grunde genommen alle Arbeiten, in denen das Kalkül einen unpersönlichen zweckrationalen Charakter annimmt. Vor allem bei solchen Arbeiten, die in der massendemokratischen Gesellschaft vielfach den Ton angeben, können die Ergebnisse an Hand bereits festgelegter Kriterien gemessen werden und heißen dann in bezug auf ihren Urheber „Leistung". Das Leistungsprin201

zip verschränkt sich mit wesentlichen Aspekten der Massendemokratie und bildet sogar selbst eine Triebkraft des Demokratisierungsvorganges. In dem Maße, wie sich das Einkommen vom persönlichen Eigentum loslöst, wird Leistung zur einzigen oder wichtigsten Quelle von Einkommen, d.h. Einkommen stammt hier ursprünglich nicht von den substanziellen Bindungen oder den sozialen Voraussetzungen, sondern von der Arbeitsqualität des Einzelnen, die dieser in der Konkurrenz mit anderen chancengleichen Einzelnen erbringt. Vom Konzept her gehören also Gleichheit (der Chancen), Leistung und Einkommen (als Lohn) zusammen. Vor egalitärem sozialem Hintergrund muß die Leistung steigen, da der Einzelne davon überzeugt sein kann, daß ihm alle Möglichkeiten des Genusses und des Status allein auf Grund seiner Leistung offen stehen. Leistung steigt aber auch durch Partizipation, d.h. durch die Auflockerung der (traditionellen) Arbeitshierarchie und durch eine solche Verteilung der Rollen, die bloß arbeitstechnischen Gesichtspunkten zu entsprechen scheint und daher von allen Beteiligten im Hinblick auf ihre jeweilige Qualifikation gemeinsam beschlossen oder allgemein akzeptiert werden kann. So gesehen verdichtet sich im Leistungsprinzip die Tatsache, daß Demokratisierung der Lebensbereiche, die sich durch die materielle Konkretisierung der grundsätzlich angenommenen Chancengleichheit vollzieht, eine funktionale Notwendigkeit der hochtechnisierten Massengesellschaft darstellt; die hochtechnisierte Massengesellschaft kann m.a.W. nur als egalitäre Massendemokratie bestehen. Selbst die Gleichheit der Geschlechter konnte letztlich nur kraft des Leistungsprinzips in die Wege geleitet werden; Leistung bildet den großen gemeinsamen Nenner, an dem Gleichheit gemessen und unter Beweis gestellt werden kann. Angesichts dieser funktionalen Notwendigkeit des Leistungsprinzips für die Massendemokratie wundert es nicht, daß dieses oft als ethisches Postulat hingestellt und legitimiert wird. Die Massendemokratie bedarf aber nicht nur der technischen Rationalität und der Leistung, um funktionieren zu können. Ebensosehr bedarf sie - als erste Gesellschaftsformation in der bisherigen Geschichte - hedonistischer Einstellungen und Werte, 202

die den wirtschaftlich notwendigen massiven Verbrauch der massenweise produzierten Konsumgüter teils psychologisch nahelegen teils ethisch rechtfertigen. Der Breite des Spektrums hedonistischer Einstellungen und Werte entspricht die Breite der Konsummöglichkeiten. Konsumiert werden nicht nur Gebrauchsund Luxusgegenstände, sondern auch Bildungsgüter und Freizeit sowie Wort und Bild, die durch die Massenmedien angeboten werden; es darf schließlich nicht der parallele Konsum von verschiedenen Werten oder Lebensidealen vergessen werden, aus dem ein ideologischer Pluralismus und ein Relativismus hervorgeht, der seinerseits die Verbreitung hedonistischer Einstellungen begünstigt. Was als erstes auffällt und das Verhalten breiter Massen direkt beeinflußt, ist freilich der Konsum von Gebrauchsgegenständen. In der populären Vorstellungswelt tritt der Held des Konsums an die Stelle des Helden der Arbeit, die Massenmedien vermitteln ständig Einblicke in die Welt der massendemokratischen Aristokratie, deren Mitglieder sich aus verschiedenen Eliten rekrutieren, aber alle Superkonsumenten sind, über alles verfügen, was moderne Technik und Industrie zur Verfügung stellen und wovon man träumen kann, und die sich mit entsprechender Souveränität in dieser Wunderwelt bewegen. Auf den höheren Stufen des Konsums können persönlicher Geschmack und individuelle Wahl ganz den Ton angeben, diese Möglichkeit verringert sich aber, je mehr auf der Leiter abgestiegen wird; auf der untersten und breitesten Stufe können individuelle Träume, die in Wirklichkeit von vielen Individuen gleichzeitig geträumt werden, meistens nur durch den Konsum von Massenprodukten verwirklicht werden. Diese Paradoxie, d. h. individuelle Erfüllung durch den Konsum von Massenprodukten zu finden, ist die Quelle von manch charakteristischer psychopathologischer Erscheinung in der Massendemokratie und wohnt auch dem Modephänomen inne. Bestand die traditionelle Funktion der Mode darin, soziale Unterschiede herauszustellen, so gibt sie im Gegenteil dem Mitglied der massendemokratischen Gesellschaft das Gefühl der Beteiligung an etwas, das zwar Gemeingut ist und insofern die grundsätzliche Gleichheit aller bestätigt, im selben Augenblick aber die Bereitschaft des Einzelnen signalisieren soll, mit dem Alten zu brechen 203

und sich insofern als echt autonomes Individuum zu betätigen. Konformismus und Individualismus bilden übrigens nicht nur im Falle der Mode die zwei komplementären Seiten eines psychologischen Geflechts, das in der Massendemokratie unter besonders günstigen Umständen entsteht und gedeiht. Von der Welt des Konsums her wird nun immer mehr die Welt der Arbeit betrachtet und beurteilt. Dabei geht es zunächst darum, daß mit der Möglichkeit des Konsums und in der Erwartung des Konsums die Leistung steigt, d.h. der Arbeitende als potenzieller Konsument mehr leistet. Damit verbindet sich aber eine tiefere Wandlung, die den Begriff und die Ausübung der Arbeit selbst betrifft. Es wird weder in puritanischer Frömmigkeit ad majorem dei gloriam noch um der Arbeit selbst willen gearbeitet, die gleichsam als Einübung in die Tugend und als Selbstdisziplinierungskraft bewertet wird. Arbeit wird eher pragmatisch aufgefaßt, d. h. als Mittel zum Erwerb materieller Güter, und dementsprechend des ethischen Ernstes entkleidet, so daß sie sich im Rahmen des jeweils Möglichen dem Spiel annähern kann. Während man nach bürgerlichen Kriterien das individuelle Streben oder den „Charakter" schätzte, für selbstverständliche Motivation das eigene Interesse und für verdienten Lohn (auch) Erfolg und Autorität hielt, wird nun oft eher der nette Mitarbeiter denn der strebsame Einzelgänger, eher der kollektive Geist und das „TeamWork" denn egoistischer Alleingang geschätzt. Die pragmatische Arbeitsauffassung drückt sich symbolisch aus in der Verdrängung des bürgerlichen Berufsbegriffes, in dem sich eine ganze Lebenshaltung verdichtete, durch den Job als Betätigung, der man ohne innere Anteilnahme und auch ohne sonstige ethische Verpflichtungen nachgehen kann. Ein folgerichtiger Schritt in dieselbe Richtung ist die (teilweise) Umkehrung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Freizeit: Freizeit soll nicht bloß Erholung zur noch produktiveren Fortsetzung der Arbeit bieten, sondern die Arbeit erscheint als Mittel, das einen instand setzt, seine Freizeit auf breiterer Konsumbasis zu gestalten. Die Einstellung zur Arbeit wird durch das bedingt, was man in der Freizeit als Konsument von materiellen oder auch ideellen Gütern bzw. „Erlebnissen" treiben kann. In diesem weiten Sinne scheint Konsum wich204

tiger als Arbeit zu sein. Die spielerische Tätigkeit des Konsumenten in der Freizeit hebt sich in günstigem Licht gegen die disziplinierte Tätigkeit des Arbeitenden ab. Das Bedürfnis nach mehr Konsum als Mittel zur persönlichen Erfüllung in der verfügbaren Freizeit muß demnach steigen, was aber andererseits mehr Arbeit zum Erwerb dieses Mittels erfordert. Darin besteht ein typisches Dilemma im täglichen Leben vieler Menschen in der Massendemokratie. Die Uberwindung der Güterknappheit drückte sich soziologisch in der erheblichen Verringerung der Anzahl der unmittelbaren Produzenten und in einer entsprechenden Erweiterung des tertiären Sektors, also der Dienstleistungen aus. Dienstleistungen mit sozialem Charakter (Gesundheitswesen, Erholung, Erziehung, Fürsorge) haben sich auch infolge des Ausbaus des Sozialstaates rasch verbreitet und wurden naturgemäß zum Ort, in dem sich eine Arbeitsauffassung entwickelte, die sich vom Maßstab technischer Rationalität am meisten entfernte und Arbeit auf Formen der kreativen Improvisation oder des ernsten Spieles hat zurückführen wollen. Wir dürfen deshalb grosso modo zwischen zwei Arten von Werteträgern in der Massendemokratie unterscheiden. Jene, die in Industrie und Finanz tätig sind, neigen eher zur Annahme und Verteidigung des Leistungsprinzips und der technischen Rationalität, während sich diejenigen, die Dienste mit sozialem Charakter leisten, eher von mancher Idee der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre direkt oder indirekt beeinflussen lassen; das soll natürlich nicht heißen, daß sich einige unter den ersteren in ihrem persönlichen Leben nicht von ähnlichen Sympathien in dieser oder jener Version leiten lassen oder daß sie nicht manchmal nolentes volentes versuchen, die Arbeitsverhältnisse in eben diesem Geist lockerer zu gestalten. Die Zunahme des relativen Gewichts der sozialen Dienstleistungen innerhalb der Wirtschaft bewirkt eine Verlagerung des Interesses vom Quantitativen, das man mit dem Wachstum in meßbaren Größen identifiziert, zum Qualitativen, das man Lebensqualität nennt. Da Produzenten und Konsumenten der Dienstleistungswirtschaft nicht in den Kategorien industriellen Wachstums denken müssen, so können hier die sogenannten alternativen Ideolo205

gien, vom romantischen Umweltschutz bis zur Selbstversorgung und zur Randexistenz, viel leichter an Boden gewinnen. Der Vorrang der Lebensqualität verbindet sich mit einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber Fragen, die mit „dem Menschen" und mit der „Kommunikation" zu tun haben. Im Gegensatz zu den industriellen Tätigkeiten erfordern die personenbezogenen Dienstleistungstätigkeiten eine intensive Beteiligung des Konsumenten, der ein unbestrittenes Recht auf Mitsprache hinsichtlich der Qualität und des Verfahrens der Dienstleistung hat. Mit anderen Worten: diese spezielle Form von wirtschaftlicher Tätigkeit setzt sehr oft eine Mitwirkung aller Beteiligten voraus (also von Arzt und Patient, Lehrer und Schüler, sogar Verkäufer und Kunde) und bringt eine teilweise Verschiebung der wirtschaftlichen Beziehung auf die Ebene der persönlichen Beziehung mit sich. Die Sensibilität, die Kommunikations- und Hilfsbereitschaft, die in mancher kulturrevolutionären Subkultur als ethische Werte gepriesen und verschiedentlich praktiziert wurden, finden nun ihre Entfaltung und wirtschaftliche Verwendung vor allem im Bereich der sozialen Dienstleistungen. Die Dienstleistungsgesellschaft gewinnt somit ein Gesamtprofil, das den älteren stereotypen Vorstellungen über die industrielle Gesellschaft als der Gesellschaft von Fließband und Entfremdung geradezu entgegengesetzt erscheint. „Kommunikation" wird hier nicht bloß zur Manifestation von modernisierter Humanität, sondern darüber hinaus zum Prinzip der Arbeitsorganisation, die man gerne als Frage der Gestaltung intersubjektiver Beziehungen auffaßt, wobei der wirtschaftliche Ertrag gleichsam die Resultante der humanen Regelung dieser Beziehungen darstellen soll. Die Uberwindung der Güterknappheit schuf, wie gesagt, die Voraussetzungen für die Verbreitung der hedonistischen Einstellungen, die den wirtschaftlich unabdingbaren Konsum ermutigen. Mit dem Uberfluß entstand aber auch die Möglichkeit, daß sich kleinere oder größere Gruppen gegenüber der technisch-rationalen Arbeitswelt oder der Arbeitswelt überhaupt materiell und ideell verselbständigen und Ansichten propagieren, deren Verwirklichung eben diese selbe Gesellschaft zerstören würde, die solche Gruppen nicht bloß toleriert, sondern geradezu aus ihrem Schoß 206

erzeugen muß. Da diese Gruppen vor allem im kulturellen Bereich beheimatet sind, so wird eine Spannung zwischen der technologischen Basis und zumindest einem Teil des ideologischen Überbaus der Massendemokratie mehr oder weniger spürbar; der Pluralismus, der im letzteren herrscht, läßt sich nicht in die eindeutige Sprache der ersteren übertragen, sondern er sprengt vielfach deren klare Umrisse. Es ist dennoch ein Fehler, in diesem tatsächlich vorhandenen Gegensatz eine Erscheinung zu erblicken, die an sich die Zukunft der Massendemokratie gefährden könnte. Wie jede Gesellschaftsformation, so trägt auch die Massendemokratie ihre eigenen spezifischen Gegensätze oder Widersprüche in sich, die zugleich ihre Lebensbedingungen sind. In diesem Fall kann die technologische Basis bzw. die Wirtschaft nicht funktionieren, wenn nicht hedonistische Einstellungen, die wesensgemäß den Wertpluralismus oder gar die ethische Gleichgültigkeit und einen diffusen Amoralismus nach sich ziehen, den Massenkonsum fördern. Die Beziehung zwischen den beiden Gliedern des genannten Gegensatzes muß also im Grunde als komplementär betrachtet werden; übrigens läßt die Spannung in dem Maße nach, wie die ursprünglich kulturrevolutionären Einstellungen in verwässerter Form institutionalisiert oder veralltäglicht werden, und auch in dem Maße, wie sich die Arbeitsverhältnisse selbst unter der Wirkung der vorhin erörterten Faktoren im Sinne der Auflockerung alter Hierarchien ändern. Das passende Bild in diesem Zusammenhang ist nicht das von einer ständig sich vertiefenden Kluft, sondern das von einem Pendel, das bald nach der Seite der technischen Rationalität und der ethisch disziplinierten Leistung bald nach der Seite des Hedonismus, des Wertrelativismus und der Permissivität hin ausschlägt. Ein permanentes und ungestörtes Gleichgewicht ist jedenfalls nicht zu erwarten. Der immanente Dualismus der Massendemokratie schlägt sich nicht bloß in der Heterogenität der Institutionen oder in der ambivalenten Zielsetzung von einzelnen Institutionen, sondern auch in den politischen Konzepten nieder, wie sich dies etwa bei den herrschenden Versionen oder Umdeutungen des Liberalismus zeigt. Die eine von ihnen orientiert sich hauptsächlich an den Kriterien von technischer Rationalität und Leistung und wendet sich nach Kräften 207

gegen den Wertrelativismus und die Permissivität, die im kulturellen Uberbau den Ton angeben, indem sie glaubt, daß hedonistische Einstellungen den Ausbau eines riesigen Sozialstaates fördern, der schließlich den Wirtschaftsliberalismus lahmen muß. Die andere Richtung des Liberalismus lehnt ebenfalls den bürokratischen Staatsinterventionismus ab, dadurch will sie aber nicht direkt oder nicht primär den Sozialstaat treffen, sondern vielmehr die freie Entfaltung von kleinen überschaubaren Gemeinschaften und Teilbereichen absichern, in denen der Einzelne sich selbst bestimmen und verwirklichen kann; hier überwiegen offenbar die Vorstellungen und Werte, die den kulturellen Uberbau prägen. Diese Liberalismen ergänzen sich funktionell innerhalb der Massendemokratie, obwohl sie sich offen bekämpfen. Denn der erstere kann nicht einfach zum bürgerlichen oligarchischen Liberalismus zurück: der Bürger ist längst tot, und der Unternehmer oder Manager, die an seine Stelle getreten sind, benötigen nicht bloß die von ihnen selbst vertretene technische Rationalität und Leistungsethik, sondern zumindest ebensosehr die von ihnen oft grundsätzlich abgelehnten hedonistischen Einstellungen, die in mehr oder minder vulgarisierten Versionen dem Massenkonsum, also dem Absatz ihrer eigenen Massenprodukte zugutekommen.

3. Massendemokratische Mentalität und Lebensform Mentalität und Lebensform in einer Gesellschaft haben offenbar sehr viel mit den gerade herrschenden Ideen über Rechte und Pflichten des Einzelnen, über seine Rolle als Mitmensch sowie über seine Beschaffenheit als Mensch zu tun. Wir wissen aber, daß sich Umdeutung und Wandlung des Liberalismus im massendemokratischen Sinne nicht zuletzt im Zeichen einer drastischen inhaltlichen Verschiebung des Individualismusbegriffes vollzogen haben. Die neue Auffassung vom Individuum, mit der massende208

mokratische Mentalität und Lebensform in wesentlichen Punkten zusammenhängen, beruhte auf einer grundsätzlichen Ablösung der Selbstdisziplinierungswerte durch die Selbstentfaltungwerte, die ihrerseits einen doppelten Bezug oder eine doppelte Bedeutung haben. Auf der Ebene politischer Programmatik und Zielsetzung verband sich die Losung von der Selbstentfaltung des Individuums mit Forderungen, die auf das Bewerkstelligen der materiellen Gleichheit hinausliefen und darüber hinaus die Demokratisierung durch Partizipation in die Wege leiten sollten. Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung des Individuums bedeutete in Verbindung mit dem Ziel der materiellen Gleichheit, daß der Staat für die Schaffung jener Rahmenbedingungen sorgen sollte, die jedem Einzelnen „echt", d. h. nicht bloß formaljuristisch gleiche Chancen bieten würden, seine natürlichen Anlagen und Interessen frei zur Entfaltung zu bringen. Andererseits erscheinen Selbstverwirklichung und Demokratisierung deshalb zusammenzugehören, weil nur Individuen, die sich im obigen Sinne verwirklicht haben oder sich wenigstens auf dem richtigen Wege dazu befinden, von ihren Fähigkeiten her imstande sind, als Gleiche unter Gleichen an der Gestaltung der sozial wichtigen Entscheidungen auf allen Stufen der Willensbildung zu partizipieren; Partizipation an demokratischen Prozessen ist demnach notwendige Bedingung und zugleich natürliche Folge der Selbstverwirklichung. Als politische Größe bedeutet Selbstverwirklichung ebensoviel wie Selbstbestimmung, d.h. die Fähigkeit des Individuums, durch Partizipation an demokratischen Entscheidungsprozessen sowohl die individuelle Selbstverwirklichung als absolute gesellschaftliche Priorität durchzusetzen, als auch den gesetzlichen Rahmen für die materielle Absicherung dieser Priorität herauszuarbeiten. Entsprechend werden nun auch die „Menschenrechte" gedeutet, die entgegen dem teleologischen Geschichtsverständnis der Demokraten keine endgültige geistige und ethische Errungenschaft nach langen Jahrhunderten der Unterdrückung und der Finsternis, sondern im Grunde die Funktions- und Uberlebensweise der Massendemokratie darstellen und daher mit dieser auf Gedeih und Verderb verbunden sind. „Menschenrechte" sind Rechte, die für die Selbstverwirklichung im demokratischen Sin209

ne unentbehrlich erscheinen und genauso wie diese letztere nicht nur eine politische, sondern auch jene oben angedeutete zweite Dimension haben, der wir uns nun zuwenden. Auf der engeren Ebene des Einzelnen - jenseits oder diesseits politischer Programmatik - verschränkt sich die Forderung nach Selbstverwirklichung verschiedentlich mit jenen hedonistischen Einstellungen, die den Massenkonsum und somit den Bestand der Wirtschaft psychologish tragen. Diese hedonistische Selbstverwirklichung muß freilich von der politischen unterschieden werden; sie ist dieser letzteren nicht unbedingt theoretisch entgegengesetzt, als praktische Haltung entspringt sie aber sehr oft jener Passivität, die aus der Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen innerhalb der riesigen Strukturen und Mechanismen der Massendemokratie folgt und deren Kompensation in der Intensivierung des persönlichen Lebens und Erlebens gesucht wird - sowie umgekehrt: die Gewißheit, das Leben in der Massendemokratie könne eine Fülle von solchen Kompensationen bieten, verstärkt die Neigung zu einer Existenz abseits der großen und kleinen Politik. Zweifelsohne gibt es eine primäre und wesenhafte Beziehung zwischen den verfügbaren Konsummöglichkeiten und der herrschenden Version des Selbstverwirklichungsideals. Denn erst diese Möglichkeiten boten die konkrete Veranlassung und die reale Grundlage zu einer prinzipiellen Verbindung von Selbstverwirklichung und Hedonismus miteinander, während in allen früheren Gesellschaftsformationen Selbstverwirklichung vorwiegend als Selbstüberwindung, d.h. als Durchsetzung des wahren oder eigentlichen Selbst über die niederen Triebe etc. definiert wurde; Selbstüberwindung im herkömmlichen ethischen Sinne erscheint nun aber in der Regel als das gerade Gegenteil echter Selbstverwirklichung. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß unter dem Einfluß von kulturrevolutionären Lebensidealen und Strömungen, die vor allem von Gruppen (ζ. B. von Jugendlichen und Literaten) mit geringerer Konsumfähigkeit oder -bereitschaft vertreten werden, der Hedonismus sehr oft Formen annimmt und sich unter Formen verbreitet, die dem Vulgärmaterialismus des Konsums z.T. direkt zuwiderlaufen. Höher als materielle Güter werden dabei ideelle geschätzt, dennoch entfällt wie210

derum die traditionelle asketische Gegenüberstellung von Geistigem und Sinnlichem: in diesem Fall können ideelle Güter und Befriedigung der Sinnlichkeit zusammenfallen, es handelt sich also um Erotik, Sport, Konvivialität, Muße oder Reflexion im Dienste von Kommunikation und Selbstverwirklichung. Allerdings kann nur eine Gesellschaft, die materielle Güter massenhaft produziert und konsumiert, die Freiräume schaffen, die zur Suche und Pflege von solchen ideellen Gütern notwendig sind. Das erklärt, warum sich diese letzteren bei allem Selbstverständnis der Betreffenden mit den prosaischen Konsumbedürfnissen der meisten Mitglieder der Gesellschaft unter einen gemeinsamen Nenner, den des Hedonismus, subsumieren lassen. Es sind beides Einstellungen, die sich unter denselben sozialen Bedingungen herausbilden und sich komplementär, wenn auch nicht immer harmonisch zueinander verhalten. Kurzum, das Charaktermuster, das in der Massendemokratie zwar nicht auf der ganzen Linie herrscht, doch den Ton angibt, verkörpert in zentralen Punkten eine Umkehrung des puritanischen oder des viktorianischen bürgerlichen Habitus. Im Vordergrund steht hier nicht die Selbstzucht zwecks Erreichung äußerer und innerer Ziele, auch nicht die Unterwerfung der alltäglichen Tätigkeit unter langfristige Bestrebungen, sondern vielmehr die Bejahung des kurzfristigen Genusses, des Augenblicklichen und des Spontanen sowie die Ablehnung von äußerer Kontrolle, Zucht und Autorität. In dieser Gegenüberstellung werden freilich eher zwei extreme Richtungen des Verhaltens denn zwei in Reinform real existierende Menschentypen skizziert. Die noch immer starken Überbleibsel der bürgerlichen Ethik sowie unüberwindliche Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt setzen dem Aufgehen des Einzelnen im Augenblicklichen, Spontanen und Genußvollen Grenzen, die bei sehr vielen Menschen eng bleiben müssen; dann spielt sich das Ritual der so verstandenen Selbstverwirklichung entweder auf ziemlich harmlosen Gebieten oder in der Phantasie ab (in beiden Fällen sind die psychologischen Begleiterscheinungen solchen Verhaltens nicht schwer zu erraten). Obwohl uns aber in der Realität meistens Mischtypen und -formen begegnen, bleiben doch die Verschie211

bung der Akzente und die drastische atmosphärische Änderung, zumal in den letzten Jahrzehnten, unverkennbar. Man kann sie an Hand eines Beispiels veranschaulichen, welches freilich typischen Wen besitzt: gemeint ist die allmähliche Ablösung der Aufrichtigkeit durch die Authentizität auf der obersten Stufe der Skala der Tugenden. Die Aufrichtigkeit war eine bürgerliche Tugend reinen Wassers, d. h. sie bezog sich sowohl auf die Ethik des Marktes und das Prinzip „pacta sunt servanda" als auch auf die persönliche Sphäre; in seiner Aufrichtigkeit war der Einzelne moralische Person und darüber hinaus hatte er feste Individualität oder „Charakter", der sich immer wieder zu bewähren suchte. Nunmehr wird Aufrichtigkeit in diesem Sinne nicht mehr für ausreichendes Attribut einer Individualität gehalten, die diesen Namen verdient. Hinzukommen muß die Authentizität, d. h. die Fähigkeit des Individuums, gemäß den eigensten Antrieben, Anlagen und existenziellen Bedürfnissen zu leben und ohne Rücksicht auf Konventionen oder Gewohnheiten zu reden und zu handeln; das Gegenteil dieser existenziellen Echtheit oder Reinheit heißt Entfremdung oder Heteronomie. Angesichts des anscheinend unersättlichen menschlichen Sehnens nach Anerkennung, das in allen Zeiten unter allen sozialen Umständen mit jeweils anderen Mitteln zur bewußten oder unbewußten Stilisierung des inneren und äußeren Verhaltens treibt, kann aber auch das authentische Ich nicht ganz authentisch in Erscheinung treten. Authentizität bildet daher des öfteren bloß die neue Maske, die bei einem uralten Schauspiel getragen wird - eine Maske, die im Gegensatz zur bürgerlichen keine Schöpfung der Erziehung und der Übung, sondern vielfach das wechselhafte Produkt unberechenbarer Improvisation darstellt. Das Bestreben, sich authentisch zu benehmen oder zu zeigen, ruft jedenfalls Konflikte unter den verschiedenen Arten von Authentizität hervor und mündet schließlich in einen Narzißmus, der die anderen tyrannisiert oder scheinbar von sich abstoßen will, dennoch ständig ein Publikum benötigt, das er im Notfall auch durch offen zur Schau getragenes Selbstmitleid zu gewinnen trachtet. Selbstmitleid ist neben dem Narzißmus eine geläufige psychologische Erscheinung in der Massendemokratie der authentischen Menschen. Es findet seinen Ausdruck in alltäglichen 212

Verhaltensweisen sowie in autobiographischen Texten, in denen die Welt zur Selbstbespiegelung dient, und nährt sich theoretisch von der weitverbreiteten vulgärsoziologischen Auffassung, der Einzelne werde durch die sozialen Umstände geprägt und sei für sein eigenes Tun und Lassen nicht (ganz) verantwortlich. Freilich gibt es auch einen Narzißmus, dem Selbstmitleid mehr oder weniger fremd und abhold ist; es handeltssich hier um jene verfeinerte Form des Hedonismus, die eine Abgrenzung gegen die anderen als Vollendung empfundenen Genusses braucht. Bei labileren Naturen gleiten solch narzißtische Abgrenzungsversuche leicht ins Autistische ab; die Selbstverwirklichung kann dann bei der extremen Selbstbezogenheit oder beim Infantilismus enden. Die hedonistische Absage an die Selbstüberwindung im Namen der Selbstentfaltung impliziert eine neue Auffassung vom Selbst. Fällt die Tugend im Sinne der Selbstüberwindung fort, so bricht auch die traditionelle oberste Instanz der Vernunft zusammen, die eben jene „tierischen" Schichten der Existenz im Zaum halten sollte, denen im Lichte der hedonistischen Prioritäten Sympathie und Verständnis entgegengebracht wird, da sie als Träger oder Erreger von Lust gelten. Das Selbst wird nicht mehr grundsätzlich in höhere und niedere Regionen geteilt, sondern es wird dazu aufgefordert, die Qualen der alten Spaltungen hinter sich zu lassen und alle seine Triebe, Gefühle und Kräfte in ihrer Wechselwirkung als lebendige Einheit auszukosten. Eine wichtige Folge davon ist die Loslösung vom bürgerlichen Persönlichkeitsbegriff, der sowohl einen objektiv-sozialen als auch einen objektiv-ethischen Aspekt hatte, d. h. einerseits auf die Bindung des Einzelnen an das gesellschaftliche Ganze durch Beruf, Familie, Klasse etc. und andererseits auf seinen „Charakter" abhob. Nun wird Persönlichkeit weder an solchen objektiven Faktoren noch an ihrem äußeren Tun überhaupt gemessen, sondern die psychologische Betrachtung gewinnt die Oberhand, und es interessieren in erster Linie subjektive Motive und Absichten. Die ethische Beurteilung muß sich der Psychologie beugen, wenn Selbstverwirklichung zum Ziel des Einzelnen erklärt wird. Denn die ethische Beurteilung setzte die vernünftige Substanz der Persönlichkeit voraus, die Selbstverwirklichung bringt aber die ganze Vielfalt der Psyche ins 213

Spiel, in der jene Substanz versinkt und verschwindet. Das Selbst wird dadurch vielseitiger und zugleich zerstreut es sich leichter, zumal es sich innerhalb einer bunten Welt bewegt, die ständig durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Eindrücken und Anregungen auf es einwirkt. Wie der moderne Konsument immer mehr dazu neigt, dem Besitz von dauerhaften Gütern den unmittelbaren, wenn auch vergänglichen Genuß vorzuziehen, so wird auch das Selbst und seine Erfahrung nicht als organisiertes Ganzes mit stabilen Umrissen und gleich erkennbarer hierarçhischer Gliederung empfunden, sondern vielmehr als eine Kette von an sich gleichwertigen Erlebnissen, die mehr assoziativ denn logisch miteinander zusammenhängen. Das Leben erscheint dementsprechend als unendliche Menge von konsumierbaren Personen oder Sachen, in der man umhertreibt und das eine oder das andere wählt, wobei man Bedürfnisse und Wunschvorstellungen von Fall zu Fall ändern kann und darf. Die Grenzen des Selbst bleiben flüssig und durchlässig, die künftigen Perspektiven der menschlichen Beziehungen werden ebenfalls offen gelassen, denn nur dadurch werden immer neue „Erlebnisse" möglich, während feste Vorlieben und Entscheidungen in diesen Fragen die Abwechslung und die erwünschte Schmerzlosigkeit der Ubergänge erschweren. Das schlichte Ergebnis kann dabei auch Rücksichtslosigkeit, Heuchelei oder Opportunismus sein, obwohl es keine Anhaltspunkte für die Annahme gibt, unter massendemokratischen Verhältnissen wären die Menschen rücksichtsloser, heuchlerischer oder opportunistischer als zu anderen Zeiten und Orten. Jedenfalls kann man feststellen, daß sich das geläufige Bild vom Selbst im geschilderten Sinne gewandelt hat und daß Erfahrungen und Erlebnisse, die mit einem anderen idealen Bild vom Selbst verbunden waren, nun verurteilt oder verspottet werden. So findet die früher bewunderte große Leidenschaft bzw. die Bereitschaft, für eine Sache oder eine Person alles zu geben und alles zu opfern, immer weniger Beachtung und Anerkennung. In der Tat stellt die Leidenschaft das gerade Gegenteil der Zerstreuung des Selbst dar (sie könnte als die absolute Konzentration des Selbst auf ein einziges Ziel definiert werden) und zudem den heftigsten Protest gegen die Schwächung ethischer Prinzipien (sie entstand ja nicht unbedingt als blinde Be214

gierde, sondern entweder beim Versuch, ethische Prinzipien zu verteidigen, oder aber als innerer Kampf infolge von deren Verletzung). An die Stelle der Leidenschaft treten nun das „Gefühl", das „Verständnis" und kleine vorübergehende Emotionen, die sich im massendemokratischen Alltag flexibel verteilen und verwenden lassen. Als schematische Zusammenfassung würde hier die Behauptung zutreffen, das Bild vom Selbst in der Massendemokratie entspreche eher dem Vorgang des Konsums denn dem der Akkumulation. Das bürgerliche Selbst, das unter dem Gebot der Bildung stand, stand eo ipso unter dem Gebot der Akkumulation; Bildung war ja Akkumulation von ideellen Gütern auf der Basis eines festen Eigentums bzw. eines festen geistigen Kerns, sie erforderte genauso wie die Akkumulation von materiellen Gütern - Zeit und Mühe sowie die Einordnung der besonderen Ziele und Anstrengungen in einen großen Lebensplan. Bei der Selbstverwirklichung konsumiert sich hingegen das Selbst, indem es Personen und Güter konsumiert, ohne eine Beziehung mit ihnen einzugehen, die als das einzige und für immer praktisch verbindliche Lebensziel empfunden werden könnte; der Selbstkonsum des Selbst vollzieht sich m.a.W. durch dessen sukzessives Verweilen bei unterschiedlichen Dingen, denen man sich nie ganz widmet, die man als Hobbys betrachtet und betreibt. Dazu wird das Selbst durch das Bedürfnis getrieben, sich mit möglichst vielen Dingen so schnell wie möglich zu identifizieren, gleichviel, wie weit diese Identifikation reichen kann. Die faktisch vorhandene Vielfalt der möglichen Identifikationen bildet einen wesentlichen Grund für die psychische Mobilität und Labilität in der Massendemokratie. Ihre Wirkungen zeigen sich besonders stark auf dem Gebiet der persönlichen Beziehungen, wo der Einzelne ständig vor mehreren Identifikationsmustern oder Personen steht, die sowohl unterschiedlichen Beschäftigungen nachgehen als auch unterschiedliche Charakterzüge tragen. Die relativ wenigen und einfachen Identifikationsmuster des bürgerlichen Zeitalters (vom Pfarrer und Lehrer bis zum Unternehmer, Künstler oder Politiker, die allesamt Träger derselben Kardinaltugenden waren, obwohl sie auf Grund ihres Berufs diese Tugenden jeweils anders mischen und 215

anwenden mußten) lösen sich auf unter dem Druck und dem Eindruck der tausend Gestalten, die täglich auf der Bühne der Massendemokratie aufeinander folgen. Diese lassen sich freilich auf einige Grundtypen reduzieren, der wesentliche Unterschied zu früher, der den psychischen Identifikationsvorgang kompliziert, besteht aber darin, daß nun der große gemeinsame Nenner der Erfolg (auch in der Selbstverwirklichung) ist und daß daher ganz unterschiedliche Charaktere nachahmenswert erscheinen können. Sänger, Fußballspieler, Chirurgen, Bankiers sind als Identifikationsmuster gleichzeitig und ebensosehr gefragt wie harte und tatendurstige oder zärtliche und zurückhaltende, reiche und elegante oder am Rande lebende, aber originelle „Typen". Dabei entsteht die Paradoxie, daß die individualistische Grundeinstellung des Einzelnen in der Massendemokratie den selbstgefälligen Eindruck erweckt, auch die Identifikation mit der jeweils bevorzugten Person sei ein Akt im Rahmen der Suche nach Originalität und individueller Selbstverwirklichung. Individualistisches Selbstgefühl und faktische Vermassung, persönliche Intensität und Auflösung des Selbst in der Gruppe gehen glatt miteinander einher, wie sich dies etwa am massendemokratischen Phänomen des Starkultes zeigt. Der massendemokratische Individualismus schließt also die innere Abhängigkeit des Einzelnen von einer bestimmten Gruppe oder seine Anpassung an Gruppenverhalten keineswegs aus. Der Einzelne beschäftigt sich zwar ständig mit sich selbst und beurteilt auch seine Beziehungen zu den anderen aus der Sicht der Bedürfnisse seiner Selbstverwirklichung, gleichzeitig steigt aber sein Verlangen nach Selbstbestätigung, das nur durch die Anerkennung im Rahmen der jeweils relevanten Gruppe befriedigt werden kann. Daher die wachsende Bedeutung der „psychologischen Probleme" und der entsprechenden Behandlungsmethoden im massendemokratischen Alltag. An Phänomenen wie dem Starkult enthüllen sich nicht nur die Ambivalenzen der Identifikationsmechanismen in der Massendemokratie, sondern auch Reichweite und unmittelbare Folgen der Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem. Der Star der Kunst, des Sports oder der Politik lebt ständig unter den teils neugierigen, teils neidischen und teils staunenden Augen 216

der massendemokratischen Öffentlichkeit, sein Privatleben ist Thema und Gesprächsstoff, der durch die Massenmedien reichlich angeboten wird; in Kenntnis der bestehenden Aufnahmebereitschaft für solche Information publizieren auch die Stars immer fleißiger ihre Tagebücher und Memoiren. Es ist nicht schwer einzusehen, warum diese Produkte der leichteren Literatur in harmonischer Zusammenarbeit mit den Illustrierten und den Boulevardzeitungen in ihrer mehr oder minder vulgären Art egalitäre Gefühle verstärken und insofern Demokratisierung betreiben: im Privaten erscheinen alle im großen ganzen gleich, sie haben dieselben Leidenschaften, Wünsche oder Schwächen, sie erfahren Glück und Unglück auf dieselbe Art und Weise, kurzum, alle sind gleichermaßen „Menschen". Das Private wirkt sich daher einigend und egalitär aus, während das Öffentliche mit jenen Abstufungen im Amt oder im Status und Reichtum verbunden ist, die dem egalitären Grundgefühl zuwiderzulaufen pflegen. Die Wendung zum Privaten hängt natürlich auch mit dem Ideal der Selbstverwirklichung zusammen, dessen materielle Voraussetzung der Sozialstaat ist, der dem Einzelnen manche Sorge abnimmt und ihm ermöglicht, sich mit sich selbst und mit den anderen als Privatperson zu befassen. Die bürgerliche Forderung nach Öffentlichkeit verwandelt sich nun in die demokratische Forderung nach Transparenz, deren Sinn vielfach eben in der Aufhebung der Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem besteht. Diese Aufhebung vollzieht sich ihrerseits nicht einfach durch den Sieg des Privaten über das Öffentliche im bürgerlichen Sinne dieser Worte, sondern vielmehr durch die Verschmelzung der beiden Bereiche, so daß die öffentlichen Angelegenheiten zunehmend aus der Sicht der privaten Anliegen dieser oder jener (Gruppen von) Einzelnen beurteilt werden, während das Private immer mehr ohne die bürgerlichen Hemmungen in die Öffentlichkeit eindringt, ja absichtlich zur Schau gestellt wird. Das macht sich an der Loslösung von den bürgerlichen Umgangsformen und Manieren besonders bemerkbar, von der wachsenden Selbstverständlichkeit, mit der sich Fremde duzen, bis zum Austausch von Liebkosungen auf der Straße. Diese oft ostentative Absage an die „Konventionen" will indizieren, daß sich der Betreffende unterwegs zur Selbstverwirklichung be217

findet und dabei die Selbstüberwindungstugenden in froher Spontaneität hinter sich gelassen hat. Die egalitäre Grundeinstellung, die zur Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem auf die geschilderte Art und Weise beiträgt, verdichtet sich in einem weiteren Tatbestand, der für Mentalität und Lebensform der Massendemokratie vielleicht noch wichtiger ist. Die Austauschbarkeit der Individuen und der Rollen, die die soziale Gleichheit ermöglicht und trägt, scheint nun soweit gehen zu können, daß sie zur Beseitigung von Unterschieden fähig ist, die früher als geradezu naturgegeben galten. Das betrifft in erster Linie die Beziehung der beiden Geschlechter zueinander. Wir erwähnten bereits, daß deren Gleichberechtigung erst auf der Basis des Leistungsprinzips, also einer quantifizierbaren Größe, handfeste und meßbare Gestalt hat annehmen können. Ideell gründet diese Gleichberechtigung in der Reduktion der Begriffe von Mann und Frau auf Begriffe, die nicht mehr biologisch, sondern nur sozial und politisch verstanden werden können und dürfen. Selbst wenn Mann und Frau auf die übergeordnete Kategorie „Mensch" reduziert werden, ist der Mensch als Träger von konkreten Rechten gemeint, also der Mensch als Bürger und als einzelnes Mitglied einer politischen Gemeinschaft. Die konsequente Gleichberechtigung von Mann und Frau setzt insofern die Atomisierung der Gesellschaft voraus. Das wird durch den parallelen Verlauf von Gleichberechtigung und Auflösung der Familie bewiesen, der freilich nicht zufällig sein kann. Dieser Zusammenhang macht seinerseits verständlich, warum Sex im Zuge der Gleichberechtigung nicht mehr primär der Reproduktion der Spezies, sondern der Selbstverwirklichung zu dienen hat (vgl. den nächsten Abschnitt). Angesichts der individualistischen Grundintention der Selbstverwirklichung befremdet es daher nicht, daß im Rahmen der atomisierten Gesellschaft die sexuelle Beziehung zum Musterbeispiel für die Austauschbarkeit der Rollen und der Individuen wird, wobei eben die real vorhandene Möglichkeit des Austausches einen Zustand erzwingt, in dem die Autorität fortfällt und an ihre Stelle die „Partnerschaft" tritt. Diese Wandlung entspricht, wie übrigens das Selbstverwirklichungsideal im allgemeinen auch, dem Ubergang von Akku218

mulations- zum Konsummodell: sexuelle Befriedigung wird nicht als glückliches Ende einer Anstrengung verstanden, die bestimmte soziale Bedingungen und Folgen hat, sondern als kurze und schnell erreichbare Form der Lust, die unabhängig von anderen, langfristig wirkenden Faktoren genossen werden kann. Dies alles heißt freilich nicht, daß die massendemokratische Praxis in dieser Frage immer auf der Höhe der Gleichberechtigung und der Partnerschaft stehe oder daß Biologie und „Überbleibsel" traditioneller Verhaltensweisen über Nacht über den Haufen geworfen worden seien. Nichts weniger als das. Das gilt nicht nur für unverbesserliche „Phallokraten", sondern erst recht für Frauen, die sich für „emanzipiert" halten wollen. Die erste emanzipierte Frau ist neben der bohémienne die femme fatale gewesen, die die klassischen weiblichen Waffen gegen „den Mann" einzusetzen wußte; sie benötigte also „den Mann" als Gegen- und Mitspieler. Die moderne emanzipierte Frau setzt sich aber zum Ziel, eben dieses Bild vom Mann zu demontieren, um dies zu erreichen, scheut sie indes nicht davor zurück, außer den Waffen der Emanzipation auch die altbewährten weiblichen Waffen ins Feld zu führen und sich somit einen doppelten Vorteil zu verschaffen. Die femme fatale stirbt ab, ihr Arsenal geht aber in Hände über, die nicht mit gleicher Feinheit damit umgehen können. Die Hetäre des bürgerlichen Zeitalters wird somit durch die kleine Nutte der massendemokratischen Epoche abgelöst. Eine notwendige Folge der angestrebten Verringerung oder gar Verwischung der Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern und der damit verbundenen Zurückerinnerung an die Mystik der Androgynie ist die neue Beurteilung der Homosexualität und die wachsende Bereitschaft für homosexuelle Erlebnisse. Entfallen die genannten Unterschiede, so muß man nicht mehr nach spezifisch weiblichen oder spezifisch männlichen erotischen Eigenschaften suchen, das Erotische wird daher diffuser und flacher, eben in dieser seiner Verschwommenheit verliert es aber seine Bindung an das eine oder das andere Geschlecht und kann unter Umständen bei beiden gefunden und erlebt werden. Die neue Bewertung der Homosexualität ergibt sich freilich auch aus dem massendemokratischen Pluralismus der Werte, von dem wir 219

gleich reden werden; das Bekenntnis zum Pluralismus oder die Verinnerlichung des pluralistischen Prinzips treibt übrigens die erotisch noch immer orthodoxe Mehrheit dazu, wachsende Toleranz gegenüber den Homosexuellen zu üben. Aus der Sicht des pluralistischen Prinzips stellen Homosexuelle bloß eine jener Minderheiten dar, die in ihrer Gesamtheit die materiellen Träger des Pluralismus der Werte abgeben; ohne Minderheiten, die gemäß unterschiedlichen Werten leben, läßt sich kein Wertpluralismus denken, daher die Vorliebe und Sorge der modernen Massendemokratie für die Minderheiten jeder Art. Als („unterdrückte") Minderheiten gelten manchmal auch jene, die man sonst Psychopathen und Verbrecher nennt. Diese scheinen, ähnlich wie die Homosexuellen, den Bruch mit der bürgerlichen Denk- und Lebensform am radikalsten vollzogen zu haben, die Sympathie mit ihnen hat also mit dem erwähnten Zerfall der bürgerlichen Auffassung über die leitende Rolle der Vernunft und der damit verbundenen ethischen und anthropologischen Einstellung zu tun. In dieser selben Perspektive kann man auch manche Entwicklung in der demokratischen Erziehungstheorie und -praxis erklären. Die Abschaffung des bürgerlichen Bildungskanons geht hier mit dem Kampf gegen die Autorität und mit dem Bestreben einher, Spontaneität und Kreativität als Voraussetzungen für die Selbstverwirklichung zu entwickeln. Die Forderung nach Abbau der „Autorität" auf diesem speziellen Gebiet erwächst aber auch aus einem anderen Tatbestand, der für das soziale Leben in der Massendemokratie kennzeichnend und geschichtlich gesehen höchst originell ist. Wir meinen die grundsätzliche soziale Nivellierung der Altersstufen, die genauso wie die angestrebte Beseitigung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus dem Aufstand des Egalitarismus gegen die Biologie folgen muß. In diesem Fall liegt aber auch ein besonderer sozialer Grund vor, der aus der Gleichheit der Altersstufen schließlich eine Überlegenheit des jugendlichen Status macht. Die weitgehende oder immerhin relative Stabilität der Arbeitsmethoden und der Arbeitsteilung in allen früheren Gesellschaftsformationen brachte es mit sich, daß lange Erfahrung ein erstklassiger Vorteil war, den man nicht zuletzt dann ausnutzte, wenn man junge Leute in die tradierten Arbeitstechniken 220

einweihen sollte. Diesen Vorteil verlieren die Älteren in dem Maße, wie die Entwicklung im Bereich der sozialen Arbeit so schnell vor sich geht, daß nur diejenigen, die als letzte diesen Bereich betreten, Anschluß an den neuesten Stand finden können. Vor diesem Hintergrund entsteht der massendemokratische Kult der Jugend und der Jugendlichkeit, dem die Älteren ständig Rechnung tragen müssen, indem sie sich mit unterschiedlichem Erfolg bemühen, möglichst lange fit zu bleiben, sich nach Kräften in der Mode etc. auf dem Laufenden zu halten und wohlwollendes Verständnis für die neuen Sitten zu demonstrieren. Mit der drastischen Änderung im sozialen Status der Jugend werden auch Beschäftigungen, die wesensgemäß Sache von jungen Menschen sind, wie etwa Sport und Spiel, erheblich aufgewertet, ja sie rücken in den Mittelpunkt des sozialen Lebens, während umgekehrt Krankheit und Tod überhaupt verdrängt und als Ereignisse mit Diskretion oder Schweigen übergangen werden. Wie gesagt mußte die Durchsetzung des Selbstverwirklichungsideals den Zusammenbruch der bürgerlichen Vernunftanthropologie nach sich ziehen. Die Vernunft vertrat und stützte die Selbstüberwindungsethik, die auch im bürgerlichen Kontext grundsätzlich unangefochten blieb, obwohl die christliche Askese und die streng dualistische Anthropologie im Zuge des synthetisch-harmonisierenden Ansatzes abgelehnt wurden. Die Vernunft sollte die Triebe teils gegeneinander ausspielen, bis das erwünschte Gleichgewicht zustande kam, teils im Zaum halten oder auch unterdrücken, wenn es nicht anders ging. Das konnte sie aber nur unter Berufung auf eine feste und eindeutige Wertskala tun, woraus sich e contrario ergibt, daß Zusammenbruch der Vernunftanthropologie und Wertpluralismus oder ethische Permissivität miteinander einhergehen mußten. Dabei handelt es sich freilich um ideelle Symptome, deren Ursachen tiefer liegen. Um es nochmals schematisch zu formulieren: die Selbstüberwindungs- oder Vernunftethik entsprach dem ökonomischen Akkumulationsmodell, Wertpluralismus und ethische Permissivität entsprechen dem ökonomischen Konsummodell. Wie die Eindeutigkeit und Festigkeit der Werte Selbstüberwindung gebietet und ermöglicht, so ermutigen oder gar erzeugen der Pluralismus der Werte und das ihn 221

begleitende Gefühl von deren Relativität jene hedonistischen Einstellungen, die eine auf den Massenkonsum angewiesene Wirtschaft dringend benötigt. Es verhält sich aber nicht bloß so, daß der Wertpluralismus den Konsum von materiellen Gütern zumindest indirekt fördert. In ihrer Pluralität werden Werte selbst zu Konsumgütern, die mehr oder weniger schnell verbraucht und in der Gunst der Konsumierenden durch andere ersetzt werden. Dies erklärt, warum selbst diejenigen, die in der Massendemokratie gerne eher ideelle denn materielle Güter verbrauchen, das innere Gesetz dieser Gesellschaftsformation kaum durchbrechen können. Denn zwischen dem Verbrauch des ideellen Guts bzw. der Aneignung eines beliebigen Wertes und dem praktischen Verhalten des Betreffenden gibt es in der Regel keine sozial verbindliche Beziehung, d.h. die Gesellschaft verlangt nicht vom Einzelnen, daß er in strenger Ubereinstimmung mit den von ihm bevorzugten Werten lebt, sondern bloß, daß er gewisse Spielregeln einhält, unabhängig davon, wie ernst er im Privaten seine Werte nimmt. Das Fehlen sozialer Verbindlichkeit bewirkt in den meisten Fällen ein Erschlaffen der Bereitschaft, Verbindlichkeit im Privaten streng anzuwenden. Werte werden also in dem Sinne bloß konsumiert, daß sie nicht das Verhalten des Einzelnen im einzelnen leiten müssen; man kann sich zur Magie oder zum Spiritualismus bekennen, ohne daß man wesentlich anders als jene leben müßte, die unterschiedlichen Glaubenssätzen und Werten huldigen. Darüber hinaus entfällt infolge der fortschreitenden Atomisierung der Gesellschaft die Bindung von Ideen und Werten an große kollektive Träger, die als deren Vertreter und Vollstrecker auftreten und die eigene Identität und Tätigkeit auf Gedeih und Verderb mit ihnen verbinden würden. Die massiven Subjekte, die früher solche Träger bildeten (z.B. das Bürgertum oder das Proletariat), haben sich nun aufgelöst, und an ihrer Stelle melden sich nun kleinere Gruppen oder Einzelne, die ständig auf dem Markt der Werte neue Produkte lancieren. Herrscht der Wertpluralismus in der Gesellschaft, so muß sich der Staat streng wertneutral verhalten. Genauer gesagt: der Staat muß den Wertpluralismus als Wert betrachten und ihn verteidigen, und in entsprechendem Sinne muß er für Menschenrechte

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und ähnliche Wertvorstellungen eintreten. Wertvorstellungen überhaupt fungieren aber dabei als formaler Rahmen, der inhaltlich durch die Entscheidung des Einzelnen ausgefüllt werden muß - oder: der einzige Inhalt der vom massendemokratischen Staat in Schutz genommenen Werte ist der, daß die inhaltliche Bestimmung der Werte dem Einzelnen innerhalb der Grenzen der bestehenden Legalität überlassen werden soll. Der massendemokratische Staat kann daher seine konkreten Entscheidungen nicht inhaltlich, d. h. unter direkter Berufung auf Werte legitimieren. Solche Berufung ist freilich im politischen und ideologischen Streit der im Staate miteinander konkurrierenden Eliten häufig, nicht sie legitimiert aber die Entscheidungen jener Elite, die den Staat gerade durch ihre Regierungsgewalt lenkt, sondern die Einhaltung eines formalen Verfahrens, das im voraus feststeht. Die Legitimation durch Verfahren stellt die einzig praktikable Lösung des Legitimationsproblems in einer Gesellschaft dar, die sich zum Wertpluralismus bekennt und daher keine inhaltliche Bestimmung der Werte durch den Staat zuläßt. Die Wahrheitsfrage wird nicht mehr inhaltlich bzw. überhaupt nicht gestellt, Wahrheit wird immer mehr zur Konvention und als Ergebnis eines Konsenses definiert, der soziales Zusammenleben in friedliche Bahnen lenken soll. Auf den Standpunkt formaler Legalität hatte sich auch der absolutistische Staat bei seinem Bestreben zurückziehen müssen, die Religionskriege zu beenden. Aber abgesehen davon, daß hier das Verfahren zur Festlegung der Legalität selbst wesentlich anders aussah, diente die Voranstellung des Formalen gegenüber dem Inhaltlichen dazu, die schädlichen Wirkungen des Pluralismus einzudämmen, während sie heute den Pluralismus absichern, ja fördern soll - einen Pluralismus übrigens, der sich auf das ganze geistige Spektrum erstreckt und nicht bloß die Religionsfreiheit betrifft. Kritiker, denen bürgerliche oder gar vorbürgerliche Vorbilder und Maßstäbe vorschweben, meinen oft, der Wertpluralismus bzw. das Fehlen eindeutiger ideologisch-ethischer Orientierung würde auf'die Dauer den Untergang der Massendemokratie herbeiführen, da er die gesellschaftliche Tätigkeit zersplittere und immer neue Konflikte ins Leben rufe. Dem läßt sich entgegnen, daß 223

die Massendemokratie zwar aus anderen Gründen zerfallen kann, nicht aber speziell am Wertpluralismus zugrundegehen muß. Denn dieser ist kein fremdes und bloß störendes Nebenprodukt ihrer Funktionsweise, das sich gegen seine eigenen genetischen Umstände wenden und dieselben unterminieren muß, sondern er stellt eine notwendige Begleiterscheinung und sogar eine grundlegende ideelle Vorbedingung jener Funktionsweise dar. Die Tatsache, daß die Massendemokratie eine Vielfalt von Werten, Gesichtspunkten oder Motiven auf der Ebene der Individuen zuläßt oder gar gutheißt, bedeutet nicht eo ipso, sie würde sich in mehreren Richtungen gleichzeitig bewegen und sich dabei spalten. Im Gegenteil: das Vorhandensein der Vielfalt und der Freiheit der Wahl auf der Ebene der Individuen gründet darin, daß die Massendemokratie auf eine Art und Weise funktioniert, die dies gestattet. Obwohl Vielfalt und Freiheit manchmal zu weit gehen und manchen Kurzschluß hervorrufen können, ist es doch andererseits zunehmend möglich geworden, in den normalen Ablauf massendemokratischen Lebens Vorstellungen und Verhaltensweisen einzubauen, die sich prima vista dagegen wenden; diese Möglichkeit wird freilich nur solange bestehen, wie sich die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Massendemokratie unversehrt halten. Ebenfalls ist es nicht einzusehen, warum ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, das infolge des Wertpluralismus um sich greife, die Menschen in ihrer sozialen Tätigkeit lähmen sollte. Das Fehlen von metaphysisch begründetem Sinn kann freilich, zumal bei Intellektuellen, die sich als Sinnstifter ausgeben wollen, Unbehagen hervorrufen, es gibt aber keine ernsten Indizien dafür, daß dieses Unbehagen breite Massen erfaßt hat und praktisch beeinflußt oder jedenfalls daß es unerträglicher als jenes ist, das die Menschen in anderen Gesellschaften und Kulturen anderen Ursachen zugeschrieben und unter anderen Umständen empfunden haben. Das Fehlen an metaphysischem Sinn kann im Gegenteil Kräfte auslösen oder fördern, die der Funktionsweise der Massendemokratie zugutekommen, so z.B. die genannten hedonistischen Einstellungen oder die Austauschbarkeit der Personen und der Rollen; gerade die Auffassung von einem festen Sinn legitimierte ja früher in der jeweils zweckmäßigen Spezifizierung und 224

Interpretation feste hierarchische Verhältnisse. Schließlich kann jenes Fehlen durch Versuche zu rein diesseitigen Lösungen von Problemen kompensiert werden, die von vielen Menschen als ethisch sinn- und wertvoll empfunden werden. Unter dem Fehlen an metaphysischem Sinn hat jedenfalls der Humanitarismus in der Massendemokratie nicht gelitten. Der Wertpluralismus stellt einen besonderen Fall des allgemeinen Sachverhalts dar, bei dem mehrere austauschbare, also im Prinzip gleichwertige Elemente nebeneinander existieren und sich in verschiedenen Weisen miteinander kombinieren lassen. In der Tat weisen Mentalität und Lebensform in der Massendemokratie dieselben strukturellen Grundmerkmale auf, die die analytischkombinatorische Denkfigur kennzeichnen. Die Einheitlichkeit der ebenen Fläche, auf der sich die hier in Frage kommenden Elemente befinden, ergibt sich aus der Beseitigung der bürgerlichen Schranken und Trennungen zwischen Öffentlichem und Privatem, Moralischem und Unmoralischem, Anständigem und Unanständigem, Verbotenem und Verfügbarem, Vernunft und Trieb, Mensch und Tier, Männlichem und Weiblichem, Kunst und Alltag, Heiligem und Profanem, Ewigem und Zeitlichem. Die Verflüssigung, Auflösung oder Zerstückelung der ehemals festen und selbständigen, wenn auch innerhalb der bürgerlichen Synthese zusammengehörenden Größen brachte unzählige Kombinationsmöglichkeiten hervor, und die Ausnutzung derselben wurde zum selbstverständlichen Stil massendemokratischer Mentalität und Lebensform. Alles kann und darf nun mit allem kombiniert werden, in der Mode, in der Kultur, in der geistigen Produktion oder im Rahmen der persönlichen Lebensführung. Herkunft und Vergangenheit der zu kombinierenden Elemente erscheinen dabei irrelevant, es interessiert nur die Gestalt, in der sie im Horizont der Gegenwart auftauchen, und der Effekt, den sie innerhalb der zu konstruierenden Kombination auslösen können. Vor dem Hintergrund der Kombinierbarkeit von allem mit allem verblassen die spezifischen qualitativen Bestimmungen, die in erster Linie genetischen Charakters sind. Die Genese im streng historischen Sinne fällt ebensowenig ins Gewicht wie die familiäre Herkunft des Einzelnen bei der Besetzung der verfügbaren Rollen auf der Basis des 225

Leistungsprinzips. Die Zeit wird somit weitgehend ausgemerzt und bestimmend bleibt allein die räumliche Vorstellung von der ebenen Fläche, auf der die Kombinationen stattfinden. Die Loslösung massendemokratischer Mentalität von der zeitlichen Dimension und der Geschichte spiegelt demnach nicht bloß die tiefe Zäsur wider, die die Massendemokratie als geschichtliches Novum von der früheren Geschichte trennt. Sie ist entstanden aus der Funktionsweise der Massendemokratie selbst, wie wir bereits bei der Schilderung der strukturellen Merkmale derselben ausführten. Weiter unten (s. Absch. 6 dieses Kapitels) werden wir noch erklären, wie sich derselbe Sachverhalt in der Durchsetzung strukturalistischer und funktionalistischer Auffassungen auf wissenschaftlichem Gebiet niedergeschlagen hat.

4. Charakter und Wirkungen der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre Die Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre erfaßte bezeichnenderweise diejenigen Nationen, die auf dem Wege zur Massendemokratie am weitesten fortgeschritten waren, und hinterließ in ihrem Leben Spuren, die genauso tief sind wie es die Ursachen der Kulturrevolution selbst waren. In dieser artikulierte sich das Bedürfnis der inzwischen zur Reife gekommenen Massendemokratie, die sozialen, ideologischen und psychologischen Überbleibsel des bürgerlichen Zeitalters loszuwerden und dementsprechend jenen Lebenseinstellungen und Mentalitäten zur Klarheit und zum Durchbruch zu verhelfen, die der Funktionsweise der Massendemokratie atn meisten angemessen sind. Dies wird freilich erst dann deutlich, wenn man die wuchtigen kulturrevolutionären Parolen nicht in ihrem Nominalwert nimmt, sondern ihre objektive Funktion und Wirkung bei Freund und Feind untersucht. Eine langfristige Wirkung der Kulturrevolution ist 226

unter anderem auch die heutige Diskussion über die Postmoderne, in der ebenfalls Anliegen und Ideologeme der gereiften und von der bürgerlichen Denkform vollkommen losgelösten Massendemokratie in mehr oder weniger hochfliegenden Worten ihren Ausdruck finden. Die Ziele der normativ konzipierten Postmoderne - vor allem die Abschaffung der ehemals verbindlichen Hierarchien, die durch die Herrschaft von Vernunft und Identität über Phantasie und Differenz sanktioniert wurden, die Uberbrückung der Kluft zwischen Kultur der Eliten und Kultur der Massen, die Erweiterung der Kapazitäten des Bewußtseins jenseits des Apollinischen und im Sinne des Dionysischen etc. - gehören ursprünglich zum Gedankengut der Kulturrevolution und wurden bloß nach deren Abklingen theoretisiert, um auf diese Weise teils kanonisiert, teils von neuem aktualisiert zu werden. Die Kulturrevolution ist aber auch ihrerseits nicht nur Vorhut, sondern auch Nachhut gewesen. Sie bildete zwar einen Schmelztiegel, in dem sehr unterschiedliche ältere und jüngere oder ganz junge Tendenzen verschmolzen, wenn man aber einen fiktiven Durchschnitt der in ihr vertretenen Ideen und Haltungen konstruiert, dann darf man zwischen ihr und der Avantgarde eine gerade Linie ziehen. Die Kulturrevolution erfaßte freilich Massen, von denen die Avantgarde seinerzeit nur träumen konnte, andererseits bezahlte sie aber diese Popularität mit einem Verlust an gedanklicher Geschlossenheit und Tiefe, so daß sie sich z.T. auch als Vulgarisierung der Avantgarde unter den Umständen der massenhaft konsumierenden Massendemokratie bezeichnen läßt. Wie die Avantgarde, so hat auch die Kulturrevolution ostentativ und bewußt als Bürgerschreck auf den Plan treten wollen, als gezielte und folgerichtige Umkehrung von all dem, was für „bürgerlich" gehalten wurde. Die offene Verachtung gegen die „guten Manieren" und die provokativen Auftritte gingen Hand in Hand mit der Vorliebe für das Unkonventionelle in Kleidung und Nahrung, mit der Verlagerung des Lebensschwerpunktes von dem Tag auf die Nacht, mit nonchalanter Beiseiteschiebung von Pünktlichkeit und berechenbaren Arbeitsgewohnheiten - und darüber hinaus mit der grundsätzlich sympathisierenden Einstellung zu allem, was nach bürgerlichen Maßstäben als Verbrechen oder Perversion 227

eingestuft wurde, sowie mit irrationalistischen Auffassungen, die sich im Zeichen der Suche nach dem Echten und Ursprünglichen und des Strebens nach Überwindung künstlicher Grenzen verbreiteten. Alle diese Haltungen und Ideen verdichteten sich im Vorrang des Lustprinzips, wobei Lust in Ubereinstimmung mit der Ökonomie des Konsums nicht als verdienter Lohn eines fleißigen und gut organisierten Lebens, sondern eher als unvermittelter existenzieller Höhepunkt erscheint, der sich möglichst oft wiederholen soll; Lust ist also elementarer und primärer Akt, keine Kompensation für vorangegangene Entbehrungen und für den Verzicht auf unmittelbare Befriedigung. Dem Bekenntnis zu dem so verstandenen Lustprinzip entsprach die Forderung nach einer Selbstverwirklichung, die mit dem mühsamen Weg zur charakterlichen und geistigen Reife, die im bürgerlichen Bildungsroman geschildert wurde, kaum Gemeinsamkeiten teilte. Lust und Selbstverwirklichung sollten hier und jetzt erfolgen und erfahren werden, zumal Selbstverwirklichung nicht zuletzt die Entwicklung der Fähigkeit bedeutete, das Unmittelbare unmittelbar und spontan zu erleben. Das Ich, das sich auf diese Weise verwirklicht, kann sich zwar auf das Unmittelbare konzentrieren, gerade diese aufeinanderfolgenden und ständig unterbrochenen Konzentrationen entziehen ihm aber den „Charakter" im bürgerlichen Sinne des Wortes. Die Selbstverwirklichung wird also hier in dem gesucht, was aus der Sicht des bürgerlichen Persönlichkeitsbegriffes als regelrechte Auflösung des Ichs, aus kulturrevolutionärer Sicht aber als Erweiterung desselben durch Abschaffung der Grenzen zwischen Vernunft und Phantasie, Normalität und Verrücktheit vorkommt. Die Verwandtschaft solcher Vorstellungen mit futuristischem, dadaistischem und surrealistischem Gedankengut liegt auf der Hand. Wie die Avantgarde, so meinte auch die Kulturrevolution keineswegs, das Ende des bürgerlichen Ichs würde das Ende menschlicher Erfahrungs- und Lebensfähigkeit mit sich bringen; im Gegenteil, das Ende des bürgerlichen Ichs wurde als Ende der Unterdrückung des Ichs und als Anfang der Entfaltung seiner echten und ursprünglichen Anlagen gefeiert. Gerade der anthropologische Glaube an das Vorhandensein solcher Anlagen erklärt die Beliebtheit des Entfremdungstheorems bei den meisten Strömungen der Kulturrevolution. 228

Die Zusammengehörigkeit von Avantgarde und Kulturrevolution zeigt sich nicht weniger an der symmetrischen inneren Widersprüchlichkeit beider. Wir wissen, daß sich die antibürgerliche Einstellung der Avantgarde sowohl in der Verherrlichung als auch in der Verurteilung der Maschine und der technischen Rationalität, sowohl im Lob der kühlen geometrischen Konstruktion als auch in der Forderung nach Befreiung der Kreativität der assoziativ arbeitenden Phantasie äußerte - und wir wissen auch, daß dieser scheinbare Widerspruch seine innere Logik insofern hatte, als seine beiden Glieder den beiden Grundaspekten massendemokratischer Denk- und Lebensweise entsprachen, von der die technische Rationalität ebensowenig wie die hedonistische Grundeinstellung wegzudenken ist. Im Rahmen der Kulturrevolution verband sich das Motiv der subjektiven Selbstverwirklichung vielfach mit einer Absage an die technische Rationalität und mit einer Sehnsucht nach ganzheitlichen und gemeinschaftlichen Lebensformen. Die antikapitalistische und insofern auch antibürgerlich gefärbte Romantik drückte sich hier in der Erwartung und im Wunsch aus, die humane Sensibilität und das erweiterte Bewußtsein würde den engen Geist der Konkurrenz und des Profits ersetzen; der Rückgriff auf exotische Vorbilder, wie etwa die verschiedenen Formen orientalischer Weisheit, sowie der Synkretismus von allerlei pantheistischen, panpsychistischen oder vitalistischen Mystizismen sollten den handfesten Beweis für die Überzeugung erbringen, zum fehlgeleiteten westlichen Rationalismus gebe es doch reale Alternativen. Eine andere Grundtendenz der Kulturrevolution, die vor allem von marxistisch geprägten Intellektuellen vertreten wurde, plädierte im Gegenteil für den technischen Fortschritt im Sinne der Vollendung des Projekts der Aufklärung aber unter dem Vorbehalt, daß die technisch-instrumentelle Rationalität nicht die normativen Gebote der Vernunft verkennen oder verdecken dürfe; Industrie und Technik wurden also in dem Maße bejaht, wie sie Mittel für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit zur Verfügung stellen könnten. Nun wurde aber diese Entfaltung auch beim linken Flügel der kulturrevolutionären Bewegung nicht mehr oder nicht hauptsächlich im Sinne des humanistischen Ideals aufgefaßt, wie dies im ursprünglichen mar229

xistischen Kontext noch der Fall war, sondern in die Nähe des Selbstverwirklichungsideals gebracht, wie es die nicht marxistischen Kulturrevolutionäre propagierten. Diese Öffnung zum individualistischen Hedonismus (die oft seltsame Mischungen mit Formen von sektiererischem Asketismus einging), sowie die unvermeidbare Vagheit bei der inhaltlichen Bestimmung jener normativen Vernunft, die die technische Rationalität überwinden und lenken sollte, schwächten freilich die praktische Relevanz der grundsätzlichen Bejahung des technischen Fortschritts ab und bewirkten eine Verwässerung des angeeigneten marxistischen Gedankengutes, die sich auch an der Wendung zum revolutionären Voluntarismus, Dezisionismus und Aktivismus zeigte. Angesichts dieser Ambivalenz des Bekenntnisses zum technischen Fortschritt selbst da, wo ein solches abgelegt wurde, dürfen wir feststellen, daß die Kulturrevolution in ihrer Gesamtheit, ebenso wie die Avantgarde übrigens, ihren Beitrag zur Herausbildung der reifen Massendemokratie nicht etwa durch die Förderung eines (postbürgerlichen) technisch-rationalen Geistes leistete, sondern vielmehr durch die ideologische Legitimierung und die praktische Gestaltung der hedonistischen Einstellungen. Dadurch hat sie freilich sowohl das allgemeine Bewußtsein der Gesellschaft über das Problem der technischen Rationalität als auch die arbeitsmäßige Organisation dieser letzteren erheblich beeinflussen können. Der antibürgerliche Habitus der Kulturrevolution, den sie mit der Avantgarde geteilt hat, konnte deshalb so hemmungslos in Erscheinung treten, weil die physischen Träger der Bewegung aus sozialen Gruppen stammten, die sich wesensgemäß den bürgerlichen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten am ehesten widersetzen und die bürgerliche Auffassung von der Ordnung und der Disziplin neigungsgemäß des Konformismus verdächtigten. Diese Gruppen waren Teile der Jugend und (vor allem jüngere) Intellektuelle. Es ist mehr als zweifelhaft, ob in den vorangegangenen Gesellschaftsformationen diese Gruppen eine solche soziale Energie hätten entwickeln und einen derartigen sozialen Einfluß hätten gewinnen können. Unter massendemokratischen Verhältnissen ist dies deshalb möglich geworden, weil sich im allgemeinen die Funktion der Jugend und des Wissens innerhalb des Wirtschafts230

apparates und des Systems der sozialen Arbeit im Vergleich zu früher radikal änderten. Wir erläuterten im vorigen Abschnitt, daß der neue Status der Jugend in der Massendemokratie letztlich auf die unaufhörliche Entwicklung der Arbeitstechnik und -organisation zurückzuführen ist, die den altehrwürdigen Vorteil von Erfahrung und Alter beiseiteschiebt und statt dessen schnelle Anpassungsfähigkeit, Energie und Entscheidungsfreude verlangt. Neben Arbeitsformen, die auf das Wissen des modernen Technikers angewiesen waren, entstanden aber vor allem im Dienstleistungssektor solche, die ohne das Wissen des Intellektuellen - was man auch immer darunter verstehen mag - nicht auskommen konnten; die Massenmedien kommen dabei als erste in Betracht, sowohl wegen ihrer Bedeutung für den beruflichen und sozialen Stand des heutigen Intellektuellen als auch angesichts ihres Einflusses auf die gesellschaftliche Bewußtseinsbildung. Die doppelte Aufwertung der Jugend und des Wissens fand ihren konkreten sozialen Ausdruck im sprunghaften Anstieg der Studentenzahl, der zum ersten Male die realen Voraussetzungen für die Entstehung einer massiven Kulturbewegung mit höheren intellektuellen Ansprüchen schuf. Analoge Bewegungen vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beschränkten sich auf Söhne und Töchter der oberen Schichten ohne nennenswerten Anklang bei den jungen Angestellten und Arbeitern; hingegen schlug der steigende Anteil von Kindern aus ärmeren Familien innerhalb der Studentenschaft eine direkte Brücke zwischen der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre und breiteren Bevölkerungsschichten. Dennoch ist die Studentenschaft keinesweis der einzige oder gar der ursprüngliche Träger der Kulturrevolution unter der Jugend gewesen. Noch vor den Vermassungserscheinungen und auch noch vor den ersten kulturrevolutionären Regungen auf den Universitäten gab es die jugendliche Suche nach einem alternativen Lebensstil, wie sie z.B. durch die sogenannte Beat-Generation artikuliert wurde. Die intellektuellen Feinheiten waren hier nicht besonders gefragt, Establishment, familiäre Bindungen und Karrieredenken wurden auf elementare Art und Weise abgelehnt, und ebenso elementar brach das Bestreben durch, durch Sex, Drogen und Gewalt neue Erfahrungen zu machen. Die Hippies verfügten bereits über 231

eine embryonale Ideologie, in deren Mittelpunkt die Rückkehr zur Natur, die Ablehnung von Technik und Gewalt sowie die mystische Erweiterung des Bewußtseins standen. Im allgemeinen kann gesagt werden, daß die aus den mittleren und höheren Schichten stammenden Angehörigen der jugendlichen Subkultur eher an intensiven inneren Erlebnissen interessiert waren, die Jugendlichen plebejischer Herkunft hingegen, wie etwa die Skinheads oder die Fußballhooligans, die Aufhebung der bürgerlichen Konventionen und die unmittelbare Selbstbefreiung auf dem Wege des offenen Konflikts und der Gewaltausübung erreichen wollten. Bei aller inneren ideologischen und sozialen Differenzierung hatte die Kulturrevolution das große gemeinsame Ziel, die „Antistruktur" oder die „Nullstruktur" zur verwirklichen, d.h. Formen von Gemeinschaft ins Leben zu rufen, innerhalb deren die Hierarchisierung der Menschen und der Werte, wie sie angeblich vom Establishment praktiziert wurde, entfallen sollte. Diese Gemeinschaften konnten politische oder kulturelle Organisationen, Arbeits- oder Wohngemeinschaften, Banden an der Grenze der Legalität oder auch vorübergehende Zusammenschlüsse wie etwa das Publikum eines Rockkonzerts sein. Der Beitritt zu ihnen hatte grundsätzlich nichts mit Beruf, Status oder Geschlecht zu tun, d. h. er erfolgte als freier Akt des Einzelnen, der erst dadurch eine (neue) Identität erlangte. Das egalitäre Desideratum der kulturrevolutionären Anti- und Nullstruktur wurde freilich durch die faktische Durchsetzung eines Führers, durch die Anbetung eines Stars oder durch den gläubigen Appell an Priester und Propheten der Revolution in seiner praktischen Realisierung gehindert, das wurde aber entweder ganz übersehen oder nicht als entscheidender Nachteil empfunden, solange nur die Beseitigung der alten „Struktur" die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu garantieren schien. Struktur bedeutete Grenze und Begrenzung, ihre Zerstörung kam also ipso facto der Schaffung eines Freiraums zur Entfaltung von Spontaneität und Kreativität gleich. Wichtig und bezeichnend ist nun, daß sich der Drang nach Beseitigung der Struktur und Verwirklichung der Anti- oder Nullstruktur geradezu körperlich äußern will. Er tut das durch die Rockmusik bzw. 232

den Tanz als weitgehend freier Bewegung, in der der Einzelne Fesseln abschütteln, Protest artikulieren und Entlastung durch Spannung erzielen kann. Die Abwendung der Jugendkultur vom bürgerlichen Apollinischen und ihre Hinwendung zum Dionysischen auf der Suche nach dem adäquaten leiblichen Ausdruck der Anti- oder Nullstruktur erreicht aber ihren Höhepunkt bei der neuen Einstellung zu Gewalt und Sex. Beides erscheint nun als zumindest potenzielle Manifestation von Spontaneität und Freiheit, von Energie und Uberwindung enger konventioneller Schranken. Der politisierte Flügel der Kulturrevolution betreibt freilich den Kult der Gewalt nur im Zusammenhang mit revolutionären oder politisch inspirierten terroristischen Aktionen, dabei wird aber vielfach bloß das theoretisiert, was bei der Gewaltausübung seitens der unpolitischen Plebejer der Subkultur unreflektiert angenommen und in die Praxis umgesetzt wurde: daß Gewalt den ersehnten existenziellen Ausbruch und Aufbruch am direktesten herbeiführt, daß sie als selbständiger Akt unabhängig von Strategien und Ergebnissen eine befreiende Wirkung hat und daß sie schließlich als Katharsis im gesellschaftlichen Drama fungieren kann. Analog wurde die regelrechte Apotheose der Sexualität durch die Kulturrevolution begründet, die dabei Motive aufnahm und weiterentwickelte, welche bereits in der literarischen Moderne und in der Avantgarde herausgebildet worden waren. Sexualität wurde zunächst als Bereich per excellence betrachtet, in dem Selbstentdeckung und -Verwirklichung im erwünschten kommunikativen Rahmen stattfinden konnte, wobei gleichzeitig die freie Entfaltung der Körperlichkeit und der Triebhaftigkeit die Grundlage für die Beseitigung der Selbstüberwindungsethik und der Vernunftanthropologie abgeben würde. Sexualität wurde in diesem Denkduktus manchmal geradezu als Erlösung und Entfesselung tiefster existenzieller Kräfte gepriesen, die mit einer kosmischen Urkraft verflochten sein sollen; es wurde m.a.W. eine Mystik des Fleisches entwickelt, wobei der sexuelle Akt gleichsam als religiöse Handlung erschien, die die Menschen nach dem Tode des geistigen Gottes im Namen des vergöttlichten Fleisches vornehmen. Hinter solchen Schwärmereien steckten zwei antibürgerliche Implikationen des kulturrevolutionären Sexkultes. Einerseits förder233

te die offene Thematisierung oder gar das demonstrative ZurSchau-Stellen des Intimen die Aufhebung der Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, andererseits bewirkte die Aufwertung und schließlich Verselbständigung des sexuellen Faktors dessen Loslösung von den ethischen und institutionellen Bindungen, denen er nach bürgerlicher Auffassung unterliegen sollte. Der sexuelle Trieb wird nicht mehr im Sinne der Liebe, der Treue und der Ehe kanalisiert, sondern dem freien Spiel seiner jeweiligen Bedürfnisse überlassen; daher muten nun diejenigen seiner Formen besonders interessant an, die sich am wenigsten eignen, institutionellen und sozialen Zwecken zu dienen, und man entdeckt das revolutionäre Potenzial von sexuellen Perversionen als Verhaltensweisen, die wesensgemäß bürgerlichen Konformismen zuwiderlaufen und Mechanismen sozialer Disziplinierung überhaupt aus den Angeln heben. Indem die Kulturrevolution in der selbstgefälligen Gestalt des Bürgerschrecks auftrat, erweckte sie bei vielen den Eindruck, sie könnte den Sturz des „Systems" herbeiführen. In Wirklichkeit war sie keine Revolution, wenn wir damit die Ablösung einer Gesellschaftsformation oder einer Herrschaftsform durch eine andere meinen, sondern eine Anpassungsbewegung auf dem Wege zur reifen Massendemokratie. Wie gesagt, trug sie zur Beseitigung der Überbleibsel bürgerlicher Werte und Verhaltensweisen bei und förderte Ideen und Einstellungen, die sich mit der Funktionsweise der postbürgerlichen Gesellschaft in Ubereinstimmung befanden. Ihr zentrales Begehren, die Selbstverwirklichung hier und jetzt zu erreichen oder zu erleben, entsprach strukturell einem wesentlichen Merkmal der massenhaft konsumierenden und hedonistisch ausgerichteten Massendemokratie, daß nämlich hier und jetzt konsumiert werden kann und soll. Nimmt man darüber hinaus ihre einzelnen Forderungen unter die Lupe und übersetzt sie in die objektive Sprache der konkreten Anwendung unter den gegebenen Umständen, so muß man feststellen, daß sie allesamt der inneren Logik der massenhaft konsumierenden Massendemokratie unterworfen waren. So hat z.B. die sogenannte sexuelle Revolution, von der erwähnten Legitimierung der Perversion bis zur Abtreibungsfreiheit, der weiteren Zersetzung der Familie und so234

mit der weiteren Atomisierung der Gesellschaft und der Intensivierung der sozialen Mobilität gedient. Der Zusammenhang der Forderungen der Kulturrevolution mit der Funktionsweise der massenhaft konsumierenden Massendemokratie ist aber auch ein direkter, und er wird offenbar, wenn man bedenkt, was denn alles die Selbstverwirklichung an Konsum impliziert, von Motorrädern und Reisen bis zu elektronischen Stereoanlagen und Musikinstrumenten - von der billigen praktischen Kleidung zu schweigen, die die bürgerliche Förmlichkeit der äußeren Erscheinung erledigen soll. Die Massenproduktion von Konsumgütern - und zwar als Massen produktion - mußte steigen, um Bedürfnisse zu befriedigen, die eben durch die Kulturrevolution geweckt oder verbreitet wurden. Dabei bemächtigte sich die Industrie der ideellen kulturrevolutionären Bedürfnisse ebensosehr wie der materiellen, freilich in der Vulgarisierung, die die Notwendigkeiten des Massenkonsums mit sich bringen. Es ist kein Zufall, daß Gewalt und Sex zu einer Zeit wie noch nie zuvor die Leinwand beherrschten, in der sie ihre kulturrevolutionäre Ideologisierung oder Sublimierung erlebten. Diese Auffangsfähigkeit des „Systems" zeigt e contrario, daß die Kulturrevolution als Gesamterscheinung gesehen im Grunde nur eine fällige Wandlung im Uberbau bewirkt hat, d. h. sie hat bloß das beseitigt, was das „System" nicht mehr benötigte oder gar ausstoßen mußte. Die Radikalität ihrer Parolen kann freilich optische Täuschungen entstehen lassen, sie besagt aber kaum etwas über die objektive Funktion der Bewegung. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte wurde mehr Energie, Rhetorik und Illusion aufgeboten als zur Erreichung des eingetretenen Resultates unbedingt erforderlich war - andererseits wäre aber das Resultat nie erreicht worden, hätte man es mit rein zweckrationalen Vorstellungen und Mitteln angestrebt. Die Unfähigkeit der Kulturrevolution, an der technischen und wirtschaftlichen Basis des „Systems" einschließlich der „Produktionsverhältnisse" zu rühren, machte sich am Scheitern ihres Angriffs gegen das Leistungsprinzip bemerkbar. Auch an diesem neuralgischen Punkt bestand ihre (indirekte) Wirkung in Korrekturen, die manches Uberholte an hierarchischen oder „autoritären" Strukturen beseitigten und somit das Ganze funktionsfähiger 235

im Sinne der massendemokratischen Verhältnisse machten. Sogar Leistung konnte durch Einimpfen einer gewissen Dosis kulturrevolutionärer Werte wirksamer motiviert werden, so z.B. durch die „Humanisierung der Arbeitswelt", die „Mitbestimmung", die teilweise Vermischung von Arbeit und Spiel, die Anerkennung für den guten spontanen Einfall und für die kleinere oder größere Initiative etc. Hier kreuzte sich die Kulturrevolution mit langfristigen Tendenzen, die der immanenten Entwicklung der Massendemokratie innewohnten, und deshalb hat sie auch manchen Erfolg verbuchen können. Mit der langfristigen Entwicklung der Massendemokratie kreuzte sie sich auch in dem Sinne, daß ihre Ideologeme gerade auf jenem Gebiet Verwendung und Vertreter finden konnten, das gerade im Wachstum begriffen war: gemeint sind der (soziale) Dienstleistungssektor und die Massenmedien. Wie sich das alles abgespielt hat, ist zur Genüge bekannt - die Gründe dafür liegen übrigens auf der Hand. Hier müssen wir nur noch kurz auf einen viel subtileren Vorgang eingehen, den nämlich, wodurch kulturrevolutionäre Vorstellungen, Werte und Verhaltensweisen in Massen eingedrungen sind und Wurzel gefaßt haben, die von der Kulturrevolution im einzelnen wenig wußten und sehr oft gar nichts wissen wollten. In der Massendemokratie, wie in anderen Gesellschaftsformationen auch, richten nicht alle Einzelnen und nicht alle Gruppen ihre alltägliche Lebensweise nach dem jeweils bahnbrechenden und insofern sozial tonangebenden Kodex - und eben deshalb sind Art und Weise sowie Umfang der Verbreitung dieses letzteren über die Minderheit seiner ursprünglichen Verfechter hinaus soziologisch so wichtig. In unserem Falle trifft die Behauptung zu, daß das, was früher als Avantgarde galt, durch die Wirkung der Kulturrevolution zum Alltag breiter Massen wurde. Dazu waren aber gleichermaßen erforderlich sowohl die radikale Formulierung und Anwendung der kulturrevolutionären Losungen durch aktive Minderheiten, so daß diese Losungen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Risse in die Mauer des Establishments schlagen konnten, als auch ihre anschließende Verwässerung, Umdeutung und Anpassung, so daß sie auch jene Mehrheit beeinflussen konnten, die nicht bereit war, sich radikal zu verhalten, sondern sich Radikales 236

erst nach dessen Veralltäglichung aneignen konnte. Mit anderen Worten: breitere Massen konnten für Losungen und Einstellungen der Kulturrevolution in dem Maße gewonnen werden, wie Radikalität und Konformismus verschmolzen bzw. wie aus der früheren Radikalität auf Umwegen ein neuer Konformismus wurde. Um es konkreter auszusprechen: aus der wilden kulturrevolutionären Verachtung der guten Manieren wurde das spontane Duzen, der offene Ton, das freie Vokabular, das Küssen und die Umarmung als Begrüßungsformen, aus der kulturrevolutionären ostentativen Vernachlässigung der Kleidung wurde die modische Vorliebe für den offenen Kragen und das Räuberzivil, aus den kulturrevolutionären Orgien wurde die wachsende Selbstverständlichkeit des Ehebruchs, der getrennte Urlaub oder der Partnertausch. Solche Verhaltensweisen bildeten gleichsam eine Domestizierung der Kulturrevolution vor allem für den Gebrauch einer mittleren Schicht, die über gesteigerte Konsummöglichkeiten verfügt und sich ansonsten bemüht, Nonchalance mit Schick zu verbinden, durch genauere Kenntnis der Weinmarken Verfeinerung an den Tag zu legen, auf exotischen Reisen das „Abenteuer" durch die Vermittlung von Agenturen zu erleben oder auf gesicherter Existenzbasis ökologisches Bewußtsein zu entwickeln. Die Veralltäglichung und Domestizierung der Kulturrevolution beeinflußte zudem Verhalten und Sitten von Schichten, die bestrebt sind, das soziale Niveau der genannten mittleren Schicht zu erreichen - sie beeinflußte aber auch die (ehemaligen) Kulturrevolutionäre selbst. Solange sich die Kulturrevolution auf ihrem Höhepunkt befand und sich in verschiedenen mehr oder weniger überschaubaren Strömungen artikulierte, vermischten sich in ihr politisches Engagement und nichtkonformistisches Verhalten. Im Laufe ihrer Veralltäglichung schrumpfte ihr direkt politisierter Flügel in kleine Sekten zusammen, die in ihrer sozialen Isolierung dazu neigten, einer intoleranten revolutionären Asketik zu huldigen, während das nicht konformistische Verhalten die geschilderte Verwässerung erfuhr, um allmählich salonfähig oder sogar schick zu werden. Unter diesen Umständen war die praktische Frage nicht mehr die, an die Stelle von Beruf und Karriere die Selbstverwirklichung zu setzen, sondern die Neigung gewann an Boden, Beruf 237

und Karriere mit der Selbstverwirklichung auf verschiedenen Umwegen und durch verschiedene Rationalisierungen („Marsch durch die Institutionen", „engagierte Sozialarbeit" u.a.) zu verbinden. Den meisten ehemaligen Kulturrevolutionären gelang dies relativ mühelos, zumal keine Ströme von Blut und keine heroischen Hekatomben sie vom Establishment trennten. In psychologischen Kategorien kann ihre Bewegung, die sich im sicheren Rahmen des mehr oder weniger gut funktionierenden Rechtsstaates entfaltete, als Aufstand von verwöhnten Kindern gegen kastrierte Eltern bezeichnet werden. Das ist nicht abschätzig gemeint, zumal diese Feststellung der sozialen Wirkung der Kulturrevolution keinen Abbruch tun kann, sondern es soll bloß die charakteristische Tatsache vor Augen führen, daß in der Atmosphäre der Massendemokratie selbst Revolutionen hedonistisch angehaucht sind.

5. Kunst und Kultur in der Massendemokratie In der reifen Massendemokratie, wie sie sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und unter den Bedingungen des steigenden Massenkonsums und dem Einfluß der Kulturrevolution gestaltete, wurde eine Kunst produziert, deren Stilanalyse einen zusätzlichen Nachweis für die These erbringen kann, die sogenannte Postmoderne stelle keinen neuen Anfang, sondern vielmehr den Abschluß von Entwicklungen dar, die bereits vor der Jahrhundertwende massiv ansetzten und die Auflösung der bürgerlichen Synthese herbeiführten. Wir wissen, daß die treibende Kraft dieser Auflösung die literarisch-künstlerische Moderne war, die dabei von der Avantgarde mit Wucht sekundiert und sogar übertrumpft wurde, obwohl beide Richtungen sonst in wichtigen Punkten voneinander abwichen. Die Erinnerung an die Unterschiede zwischen literarisch-künstlerischer Moderne und Avantgarde scheint hier deshalb wichtig und notwendig zu sein, weil 238

sich die Kunst der Massendemokratie insgesamt viel stärker an diese letztere anzulehnen pflegt. Ein äußeres Zeichen dafür ist die begeisterte Wiederentdeckung der programmatischen Texte und der Werke von Futuristen, Dadaisten und Surrealisten zur Zeit der Kulturrevolution, die zur Quelle neuer Inspiration werden sollten, während die großen Vertreter der literarisch-künstlerischen Moderne inzwischen den Status des Klassikers erlangten und bei aller Bewunderung in eine gewisse Distanz rückten. Ein entscheidender Punkt, in dem die postmoderne Avantgarde der alten Avantgarde folgt und sich insofern von der literarisch-künstlerischen Moderne unterscheidet, ist ihre Weigerung, im unwiderruflich erfolgten und allerseits festgestellten Zusammenbruch der bürgerlichen Werte und der bürgerlichen Kultur eine Niederlage des Menschen überhaupt und eine Sackgasse der Kultur als solcher zu erblicken und sich dementsprechend in die finstere Zone morbider Stimmungen und apokalyptischer Prophezeiungen zurückzuziehen. Solche Tendenzen, die in der direkten Nachfolge der literarisch-künstlerischen Moderne stehen, fehlen keineswegs in der künstlerischen, und vor allem der literarischen Produktion der Nachkriegszeit (sie sind im Gegenteil durch Werke hoher Qualität vertreten), neben ihnen wirkt aber mit wachsendem Elan die postmoderne Avantgarde, die eine Einstellung propagiert, welche man den fröhlichen Nihilismus nennen könnte. Was für die Moderne Verlust war, erscheint hier als Befreiung und als Chance, vor allem wird aber die alte Werthierarchie, in der die Moderne durch ihre Klagen selbst noch befangen war, ganz über Bord geworfen und eine lebensbejahende Entfaltung der Kreativität jenseits von Gut und Böse verlangt. Wie sich diese Einstellung zum Hedonismus und Wertpluralismus verhält, der für die Funktionsweise der Massendemokratie unentbehrlich ist, muß nicht eigens auseinandergesetzt werden. Die gemeinsame Front von postmoderner und alter Avantgarde gegen die literarisch-künstlerische Moderne erstreckt sich aber auch auf einen anderen wichtigen Bereich. Ubereinstimmend wird deren Formalismus abgelehnt, d. h. ihr Wille, die Perfektion der Form und die Autonomie der Kunst zu retten, formale Traditionen in der Kunst zu bewahren und aus der Kunst einen Elfen239

beinturm oder ein warmes, wenn auch bitteres Refugium in der dürftigen Zeit großer menschlicher Not zu machen. Dem Formalismus in diesem weiten Sinne wird nun in der Nachfolge der Avantgarde die Forderung nach radikaler Loslösung von jeder Tradition und Form sowie nach einem immer neuen Anfang gegenübergestellt, deren Legitimität man aus dem surrealistisch begründeten Vorrang des Assoziativen und Unbewußten oder Spontanen bei der künstlerischen Tätigkeit abgeleitet hat; Spontaneität beim Künstler heißt aber Bruchstückhaftigkeit, zufällige Anordnung der Form oder gar Formlosigkeit beim Kunstwerk. Die postmoderne Avantgarde wandte sich indes gegen den Formalismus der Moderne nicht einfach infolge ihrer programmatischen Anlehnung an die alte Avantgarde; erst ihre eigenen sozialen Voraussetzungen und besonderen Entstehungsbedingungen machten aus der theoretischen Ubereinstimmung eine sehr konkrete und aktuelle Angelegenheit. Die postmoderne Avantgarde trat nämlich unter sozialen Umständen auf den Plan, die der alten avantgardistischen Forderung nach Beseitigung des Unterschiedes zwischen höherer und inferiorer Kunst und nach Aufgehen der Kunst im Leben neuen Nachdruck und zugleich handfeste Realisierungsmöglichkeiten gaben. Erst die egalitäre, mobile und massenhaft konsumierende Massendemokratie konnte sich die Losungen der Avantgarde aneignen, indem sie dieselben gleichzeitig der Logik der eigenen Funktionsweise unterwarf. Damit ist nicht nur im allgemeinen gemeint, daß die Verachtung der Tradition oder der Kult der Bewegung, der Dynamik und der Spontaneität in einer solchen Gesellschaft am ehesten gedeihen, sondern auch, noch konkreter, daß die Mechanismen des Massenkonsums die Bedingungen geschaffen haben, unter denen die geistigen Produkte der alten, vor allem aber der postmodernen Avantgarde mit einigen Abstrichen und Vulgarisierungen Eingang in die Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten breiter Massen haben finden können. Massenkonsum läuft über massive Werbung, über Reklame und Plakate, also über Bilder und Graphiken, auf denen sich die avantgardistischen Einfälle, Konzepte oder Stereotypen in den Dienst des Marktes stellen lassen. Eine Gesellschaft, die ständig schnelle und wirksame Suggestion in Bild und Wort benötigt, 240

kann auf die assoziative und assoziierende, knappe und emphatische Ausdrucksweise der Avantgarde kaum verzichten. Durch ihre direkte oder indirekte Verbindung mit vitalen Bedürfnissen der Massendemoknitie gewann die postmoderne Avantgarde ihren Kampf gegen den Formalismus der literarischkünstlerischen Moderne und setzte sich durch. Ästhetische Rücksichten und Vorbehalte im herkömmlichen Sinne fielen weitgehend weg, der Kitsch und das Naive wurden rehabilitiert, und Künstler nahmen in ihre Werke Motive aus der populären Literatur oder aus den Illustrierten auf. Man könnte etwas überspitzt behaupten, die literarisch-künstlerische Postmoderne sei die Avantgarde (und z.T. auch die Moderne) in Kitsch verwandelt; jedenfalls war es kein Zufall, daß die Frage nach den Beziehungen zwischen Kunst und Massenkultur in den letzten Jahrzehnten so oft und intensiv erörtert wurde. Am Phänomen der Pop Art zeigen sich beide Grundaspekte des Problems der Kunst in der massenhaft konsumierenden Massendemokratie. Einerseits wurde hier versucht, die Kluft zwischen Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem, Erhabenem und Banalem vergessen zu machen; andererseits wurde vorzugsweise die Welt des Konsums und der Konsumgüter geschildert, d.h. Gegenstände, die zwar vertraut sind und zur alltäglichen Umgebung des heutigen Menschen gehören, in ihrer Loslösung von dieser Umgebung und in ihrer isolierten Darstellung aber den Wert des Typischen für sich beanspruchen und über die Bedingungen modernen Massendaseins etwas aussagen sollen. Die Sachlichkeit der Darstellung verweist auf die dadaistischen Ready Mades und zugleich deutet sie an, daß sich äußere und künstlerische Wirklichkeit voll und ganz decken, daß alles zur Kunst werden kann oder vielmehr Kunst ist. Betrachtung der Gegenstände der Konsumwelt als Kunstgegenstände und Abschaffung der Kunst im bürgerlichen Sinne des Wortes bilden die zwei Seiten derselben Medaille. Künstlerische Sensibilität kann sich nun auf alles beziehen und sich in jedem Kontext aktivieren, indem sie aber dies tut, relativiert sie sowohl die Bedeutung des Gegenstandes als auch ihre eigene jeweilige Option, sie geht spielerisch mit der Welt und mit sich selbst um und vergißt dabei ganz den bürgerlichen Ernst. An diesem Kreuzpunkt von Pop Art bzw. 241

Popkultur und avantgardistischer Einstellung findet sich der Keim der sogenannten Postmoderne als spielerischer Kombinatorik, die sich leichten Herzens über den bürgerlichen ästhetischen Kanon hinwegsetzt und heiter dem massendemokratischen Alltag zuwendet. Le merveilleux quotidien, durch welches die Surrealisten ihre künstlerische Legitimierung des Banalen begründeten, verblaßt dabei teilweise, es bleibt aber weiterhin im Hintergrund. Die Aufhebung der Kunst ausgerechnet durch ihre Vermischung mit der Warenwelt bzw. der Vorstellungswelt des Konsumenten bringt offensichtlich eine ästhetische Aufwertung oder Beschönigung des Massenkonsums mit sich, der nun um eine subtilere hedonistische Dimension bereichert wird. Aber auch umgekehrt bedeutet die Möglichkeit, alles, auch Schrott, in Kunstwerk zu verwandeln, daß alles zur Ware werden kann, zumal Kunstwerke in der massenhaft konsumierenden Massendemokratie mehr denn je als Waren gehandelt werden. Durch die Erweiterung des Begriffes vom Kunstwerk erweitert sich somit die Welt der Waren; in einer Wirklichkeit, deren Charakter durch die Warenmassen bestimmt wird, muß das totale Aufgehen der Kunst in der Wirklichkeit schließlich der totalen Verwandlung der Kunst in käufliche Ware gleichkommen. Somit befinden wir uns bei der praktischen Anwendung der alten avantgardistischen Forderung nach Abschaffung der Kunst oder nach Identifizierung von Kunst und Leben. Soziologisch gesehen artikulierte sich in dieser Forderung das massendemokratische Anliegen nach Nivellierung aller ideellen Instanzen, die im bürgerlichen-vordemokratischen Zeitalter soziale Unterschiede und Abstufungen teils wiederzuspiegeln, teils zu bestätigen schienen; Hierarchien im Bereich der Kunst sollten nun in demselben Sinne und mit gleicher Konsequenz wie Hierarchien in der Gesellschaft beseitigt werden. In ästhetischer Hinsicht wandte sich wiederum die genannte Forderung gegen den inzwischen mit der Aura des Klassischen umhüllten Formalismus der literarisch-künstlerischen Moderne, der aus der Entfernung wesentliche Zugeständnisse an bürgerliches ästhetisches Empfinden zu machen schien. Dies war freilich eine optische Täuschung, Tatsache bleibt dennoch, daß die postmoderne Avantgarde in ihrer kulturrevolutionären Wucht gegen Tradition und 242

Establishment kaum Zeit und Lust für solche Differenzierungen fand. Jedenfalls wollte sie jede Kunstauffassung bekämpfen, die auf Objektivationen beruhte: weder ist das einzelne Kunstwerk ein einzelnes autonomes Objekt, dem der Zuschauer ehrfurchtsvoll und andächtig gegenübersteht, noch bildet die Welt der Kunst in ihrer Gesamtheit einen abgesonderten Bereich, dessen objektiver Bestand an bestimmten Orten und Institutionen wie etwa den Museen sichtbar wird. Nun sollten die Kunstwerke eins mit der umgebenden Wirklichkeit werden und genauso natürlich wie die Pilze aus dem Boden wachsen, während der Künstler seinerseits auf die Gestik des einsamen Eingeweihten oder Erwählten verzichten und sich mit seinem Publikum identifizieren sollte. Im Rahmen der Asthetisierung des Alltags und der Veralltäglichung der Ästhetik kann sich jeder als Künstler betätigen, denn die Eigenschaften und Voraussetzungen für die Schaffung von Kunstwerken im neuen erweiterten Sinne des Wortes befinden sich mehr oder weniger im Besitz aller Menschen, d. h. sie sind wesentlich andere als jene, mit denen der geniale Meister, und er allein, ausgestattet sein mußte. Obwohl diese Kunstauffassung den avantgardistischen Künstler zur Bescheidenheit zu verpflichten scheint, die er auch gerne und oft zur Schau trägt, bleibt ihm dennoch zur Befriedigung seines Selbstgefühls manches Türchen offen. Kann jeder Gegenstand grundsätzlich Kunst sein oder Kunst werden und läßt sich demnach Kunst nicht vom Gegenstand und seiner spezifischen Beschaffenheit her definieren, so muß - so lange wenigstens nicht alle Menschen gemäß den avantgardistischen Lehren sich für Künstler halten und als solche betätigen wollen - für Kunst nur das gehalten werden, was jene tun, die von sich selbst und von den (meisten) anderen auch als Künstler anerkannt werden. Nach dem Fortfall des Stils hört die Kunstfrage auf, eine Stilfrage zu sein, die mehr oder weniger objektiv beurteilt werden kann, und wird zur Frage des künstlerischen Subjekts, also der Lebensweise des Künstlers. Interessierte früher in erster Linie das Kunstwerk als fertiges Ergebnis, d.h. als Kristallisation einer Bemühung und eines Stils, so rückt nun der Vorgang seiner Schöpfung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die Suche wird wichtiger als die 243

Entdeckung und die persönliche Motivation bedeutender als ihre unpersönliche Objektivierung. Es wird erwartet, daß der Künstler im Prozeß seiner Arbeit sein ganzes Ich mit all seinen Stärken und Schwächen in Erscheinung treten läßt, daß er also auf seinem Gebiet und in seiner Weise die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem vermischt. Die Echtheit des Kunstwerkes wird nicht primär an der Fähigkeit des Künstlers gemessen, das Akzidenzielle im Licht des Wesentlichen zu sichten und den Teil dem Ganzen unterzuordnen, sondern daran, ob der Künstler spontan und als ganzer Mensch gehandelt hat oder nicht. Der Künstler legt m.a.W. ein intimes Bekenntnis ab und, indem er sich dadurch an die anderen richtet, sucht er den Dialog mit ihnen und deutet die Offenheit seines Werkes als Offenheit der dialogischen Möglichkeiten; der logische Abschluß der Auffassung vom Kunstwerk als Vorgang ist neben der direkten Thematisierung dieses Vorgangs (entweder auf der Haupt- oder auf einer Metaebene des Kunstwerks) auch die Beteiligung derjenigen an ihm, an die sich das Kunstwerk zunächst richtet und die nun an ihm mitwirken sollen. Manchmal wird die Verschränkung von Kunst und Subjektivität des Künstlers so weit getrieben und so eng gefaßt, daß auf die Schaffung des Kunstwerkes ganz verzichtet wird und der Künstler seine Lebenseinstellung und Gefühlslage ganz unmittelbar und spontan durch Gesten oder Bewegungen zum Ausdruck bringt. Body Art und Happening kamen nach dem Zweiten Weltkrieg unter den geschilderten Voraussetzungen zu Ehren - und es ist wahrlich beredt und bezeichnend, daß ihre Ursprünge auf die künstlerische Theorie und Praxis der alten Avantgarde zurückgehen. Die (versuchte) Verschmelzung von Kunstwerk und Umwelt auf der programmatischen Basis der Abschaffung der Kunst nahm außer der Form seiner weitgehenden Gleichsetzung mit dem Konsumartikel auch die seiner Annäherung an die moderne Technik an. Die Beziehung postmoderner avantgardistischer Kunst zur Technik bezeugt ihre Verwurzelung in der konkreten Wirklichkeit einer Massendemokratie, die sich ohne hochtechnisierte Infrastruktur nicht denken läßt, und zugleich verstärkt sie die Bindung der Avantgarde an die echt massendemokratische Welt der 244

Massenmedien, der Unterhaltung und der Werbung. Sie macht sich auf doppelte Weise bemerkbar, nämlich an der Verwendung moderner technischer Verfahren zur Herstellung des Kunstwerkes und an der emphatischen Anwesenheit von Bildern und Motiven aus der modernen Technik im Kunstwerk selbst. Technisierung der Kunst und Aufgehen derselben in einer hochtechnisierten Wirklichkeit gehen freilich miteinander einher und verleihen dem postmodernen avantgardistischen Kunstwerk jene stark unbürgerliche ethische Neutralität, die dem technisch hergestellten Ding eigen ist. In den kinetischen Kunstwerken, die mit optischen und illusionistischen Effekten oder mit mechanischen und mechanisch-optischen Mitteln arbeiten (Op Art etc.), wurde über den Gebrauch moderner Technik hinaus ein aktiver Einbau derselben in ihr Umfeld unternommen. Aber auch in Fällen, in denen moderne Technik nicht oder nicht in diesem Ausmaß verwendet wurde, blieb das Bestreben nicht aus, das bildnerische Werk auszuweiten, bis es sich mit der Landschaft vereinigt. Kunst wird also dadurch aufgehoben, daß die ihr traditionell gesteckten Grenzen ständig durchbrochen werden. Dies gilt für die Grenzen zwischen einzelnem Kunstwerk und technischer oder natürlicher Umgebung, aber ebensosehr für die Grenzen zwischen den Künsten untereinander; im letzteren Fall handelt es sich um Phänomene wie etwa die Skulpto-Malerei, bei der Reliefs aus heterogenen Materialien die beiden Künste unter einen gemeinsamen Nenner subsumieren sollen, oder die Synästhetik, die im Anschluß an den futuristischen viellinigen Lyrismus eine Verkoppelung gleichzeitig auftretender Wahrnehmungen unternimmt, also Klang, Farbe und Geruch zu einem einzigen Gesamteffekt zusammenwirken läßt. Die Abschaffung der Kunst soll schließlich durch ihre Reduktion auf die anorganisch-industriellen, manchmal aber auch organischen Materialien erzielt werden, aus denen das Kunstwerk jeweils hergestellt wird. Dabei will der Künstler alles beiseiteschieben, was mit Ästhetik, Kunstgeschichte etc. zu tun hat, und die innere Ausdruckskraft seines Materials zur Geltung kommen lassen. Im Bewußtsein der Oberflächlichkeit und des Bankrotts aller Formen wird nun versucht, in die Tiefen der Materie einzudringen und aus ihr die ästhetische oder ideologische Botschaft her245

auszuholen. Bei dieser Reduktion des Kunstwerks auf sein Material scheint zwar der kreative künstlerische Anspruch ganz zu entfallen, dennoch meldet er sich in der Wahl und der Anordnung des Materials von neuem. Erst der Eingriff des Künstlers befähigt das Material, sich zu zeigen und dadurch auf Anderes hinzudeuten. Die programmatische Abschaffung der Kunst eröffnete neue Kombinationsmöglichkeiten oder machte gar die freie Kombination zum selbstverständlichen Verfahren bei der Herstellung von Kunstwerken, gleichviel, wie diese jeweils definiert wurden. Die genannte Abschaffung bestand ja in der Verwischung von Grenzen, also in der wachsenden Formlosigkeit, die leichte Ubergänge und immer neue Zusammensetzungen des Disparaten ermöglichte oder nahelegte. Die geradezu freche postmoderne Beliebigkeit beim Kombinieren wird an der Rolle sichtbar, die viele Künstler dem puren Zufall bei der Herstellung ihrer Werke zuteilen. Diese Beliebigkeit erklärt den grundsätzlich offenen Charakter des Kunstwerkes, das in seinen Anfängen noch inmitten unzähliger verfügbarer Möglichkeiten steht, aber nur einige davon realisieren kann; die Art und Weise, wie es diese Realisierung unternimmt, soll keine Abgrenzung gegen das Nicht-Realisierte andeuten oder bewirken, sondern im Gegenteil die Vorläufigkeit, Vergänglichkeit und Relativität, also die wesensgemäße Offenheit der bevorzugten Kombination vor Augen führen. Diese Offenheit nimmt ihrerseits in dem Maße zu, wie die Suche nach letzten irreduzierbaren Elementen, die die erste große Phase in der Geschichte der literarisch-künstlerischen Moderne kennzeichnete, aufgegeben wird. Nun sollen nicht unbedingt oder vornehmlich Urelemente miteinander kombiniert werden, um daraus ebenso elementare wie reine Strukturen zu bilden, sondern in der Kombination kann alles einen Platz haben, was dem Künstler gerade ein- und gefällt. Das bedeutet, daß in die Kombination auch ganze zusammengesetzte Stücke aufgenommen werden können, die gegebenenfalls völlig andersartigen ästhetischen und weltanschaulichen Gebilden entnommen sind. So werden manchmal auch keineswegs moderne oder avantgardistische Elemente von neuem verwendet, das ist aber weder Nostalgie für die Vergangenheit noch 246

Respekt vor der Tradition, sondern kombinatorische Willkür, die nicht davor zurückschreckt, alles Denkbare aus seinem ursprünglichen Zusammenhang loszureißen und es als ungebundenes Element einer offenen Kombination einzuverleiben. Kunststile, Einfalle und Materialien kreuzen sich ständig, und an ihrer Kreuzung wird das einzelne Kunstwerk geboren - also vor dem Hintergrund der gesamten Kunstszene und nicht notwendig innerhalb der Grenzen einer bestimmten Richtung oder Schule. In der Tat gestattet die absolute Vorherrschaft des kombinatorischen Verfahrens keine Herausbildung und Aufeinanderfolge von festen und dauerhaften Stilen und Strömungen. Der daraus entstehende Gesamteindruck ist der einer Stagnation in der Bewegung, einer Wiederholung des Allgemeinen bei ständiger Änderung des Besonderen. Wir erläuterten bereits, warum die Fragestellungen der postmodernen Avantgarde über die Forderung nach Aufgehen der Kunst im Leben in die Problematik der Massenkultur münden mußten; schon der besondere Stellenwert dieser letzteren in der Gedankenwelt der sogenannten Postmoderne bildet übrigens ein beredtes Indiz für deren Charakter als massendemokratische Ideologie. Der hedonistischen Grundeinstellung der Massendemokratie kam die postmoderne Avantgarde durch die radikale Ausmerzung des Ethischen und auch durch ihr ostentatives Bekenntnis zum Pluralismus und zugleich zur Beliebigkeit der Werte entgegen. Die Abschaffung der Kunst, die praktisch auf die Identifizierung der Kunst mit der Subjektivität des Künstlers hinauslief, führte ihrerseits in kulturrevolutionärer Manier ein gutes Stück Selbstverwirklichung vor, indem dem spontanen und stilistisch ungebundenen Ausdruck des Selbst der Vorzug vor den Werten der disziplinierten Form und der Selbstdisziplinierung des Künstlers gegeben wurde. Die massendemokratische Konsumkultur hat aber die durch die Avantgarde angebotenen Formmöglichkeiten vor allem deshalb in solchem Ausmaß popularisieren und für den eigenen Gebrauch ausnutzen können, weil ihr hauptsächliches Ausdrucks· und Kommunikationsmittel das Bild ist. Dabei handelt es sich nicht bloß um die bereits erwähnte Übernahme avantgardistischer Grundmotive für Werbungszwecke etc., sondern um eine 247

tiefere Beziehung, die den Denkstil und die Wahrnehmungsweise selbst betrifft. Im Gegensatz zur obligatorischen Kontinuität und Geschlossenheit der Schrift, die nur dadurch eine ganz verständliche Mitteilung zu machen vermag, kann das Bild nach Belieben aus seinem Zusammenhang losgerissen und neben andere gestellt werden, um zusammen mit ihnen eine unterbrochene, aber suggestive Reihe auszumachen. Suggestion wird durch eine Kombination von Bildern erzielt, die auf deren Loslösung aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang folgt. Die Durchsetzung des Bilds als Hauptkommunikationsmittel verfestigt die Diskontinuität des alltäglichen Weltbildes und zugleich den Eindruck, dieses gestalte sich als Produkt von Einfallen, Improvisationen und Kombinationen bestimmter Subjekte, die sich auf diese Weise ausdrücken wollen. Das Weiterbestehen der Schrift neben dem Bild ändert daran nur wenig. Denn in dem Maße, wie die Schrift Einfluß auf große Menschenmengen ausübt, verwandelt sie sich selber in eine Art von Bild, d. h. in das optisch oder akustisch suggestive Wort, das im Grunde einem Signal oder Zeichen gleichkommt. Aus Bildern und sprachlichen Zeichen besteht der diskontinuierliche Strom der Nachrichten, der die massendemokratische Informationsgesellschaft Minute für Minute überflutet. Es wire allerdings stark übertrieben, die Postmoderne auf den Aufstieg und den Einfluß der Massenmedienkultur zurückzuführen: diese letztere war ihrerseits erst unter massendemokratischen Bedingungen möglich und setzte außerdem eine Optik voraus, die durch die literarischkünstlerische Moderne und die alte Avantgarde vorbereitet wurde. Dennoch besteht kein Zweifel daran, daß der Gebrauch von Bild und Schrift in der heutigen Massendemokratie dem Denkstil entspricht, zu dessen Verbreitung die postmoderne Avantgarde kräftig beitrug, obwohl auf dem Wege zu den Massen manche künstlerische Radikalität, Mystifikation oder Feinheit aufgeopfert werden mußte. Die Vorherrschaft des Bildes ist ein Aspekt und zugleich eine Triebkraft der Demokratisierung der Kultur. Ein Bild scheint allgemein verständlich und direkt deutbar zu sein, es kann also Massen ansprechen, ohne dazu kundiger Vermittler zu bedürfen. Das entspricht dem massendemokratischen egalitären Grundgefühl, 248

das sich auch im Bereich der Kultur desto lauter meldet, je mehr der Elitismus der literarisch-künstlerischen Moderne und die provokative Arroganz der alten Avantgarde vor den Realitäten der Massenkultur mehr oder weniger weichen müssen. Auf den Bereich der Kultur übertragen besagt der egalitäre Grundsatz, daß alle gleichermaßen an den Kulturgütern teilhaben können und sollen, wie dies auch hinsichtlich der Konsumgüter der Fall sein könnte und sollte. Die Reduktion des Kulturgutes auf Konsumgut dient in dem doppelten Sinne der Demokratisierung, daß sie Kulturgüter ebenso zugänglich macht wie Konsumgüter und daß sie die Hierarchie der Güter im allgemeinen und dadurch auch die Hierarchisierung der Konsumenten lockert oder völlig beseitigt. Zugänglich wird aber das Kulturgut in zweifacher Hinsicht: indem es im Rahmen des finanziell Erschwinglichen liegt und indem es die geistigen Kapazitäten des Einzelnen nicht übersteigt. Der selbstbewußt gewordene Konsument neigt zur Uberzeugung, alles sei im Prinzip verständlich, wenn es nur „einfach" und ohne elitistische Mystifizierungen oder Pedanterien ausgesagt werde, wobei die allgemeine Bereitschaft wächst, das rasche Verständnis durch die Reduktion der jeweiligen Materie auf einprägsame Stichworte zu ermöglichen und die Schöpfer dieser Stichworte in den Massenmedien durch Anerkennung zu belohnen. Der Verbreitung solcher Denkgewohnheiten kommen freilich auch die avantgardistischen Reden über den erwünschten oder gar schon erfolgten Fortfall der Unterschiede zwischen Künstler und Publikum oder zwischen höherer und Trivialkunst, über die künstlerische Begabung aller Menschen etc. zugute - Reden, die auch von diesem Standpunkt aus ihren konkreten massendemokratischen Gehalt erkennen lassen. Beobachter oder auch Protagonisten der Kulturszene, die im bürgerlichen Geist großgeworden sind oder dem Ästhetizismus und Formalismus der literarisch-künstlerischen Moderne treu bleiben, erheben oft gegen die postmoderne Avantgarde und die Massenkultur die Klage, sie würden die Kultur überhaupt vulgarisieren und schließlich zerstören. Daß in dieser Klage und in dieser Sorge Polemik steckt, liegt auf der Hand: der Kulturbegriff, an Hand dessen hier argumentiert wird, ist normgebunden und da249

her läßt er keinen anderen gleichberechtigt neben sich gelten. Es bleibt unbestritten, daß Kulturgüter auf ihrem Wege zu den breiten Massen auf formal dürftige Stereotypen reduziert und inhaltlich verflacht werden. Dem polemisch gemeinten Kulturpessimismus, der sich auf solche Feststellungen beruft, kann indes zweierlei entgegnet werden. Erstens, nicht alle Kulturgüter werden im Hinblick auf ihren Massenverbrauch derart zurechtgemacht; sehr viele - einschließlich zahlreicher avantgardistischer Werke - lassen sich in keiner Weise popularisieren, und in ihrer Gesamtheit konstituieren sie die wenigstens z.T. geschlossene Kultur der mehr oder weniger Eingeweihten, die ihren Weg nach den eigenen inneren Gesetzen unabhängig vom täglichen Geschehen im Bereich der Massenkultur geht. Hier sind qualitativ hohe und höchste Leistungen durchaus möglich - es gibt übrigens keine Anzeichen für irgendeine Abschwächung oder Verminderung anspruchsvoller kultureller Produktion auf allen Gebieten in unserem Jahrhundert im Vergleich zu allen früheren. Die Massenkultur gewinnt für sich nicht jene, die das Publikum der Kultur im alten Sinne ausmachen, sondern meistens Menschen, die bis dahin eine ganz rudimentäre oder gar keine geistige Nahrung zu sich nahmen und deren Teilnahme an der Massenkultur schon deswegen keinen Kulturverlust mit sich bringen kann; außerdem darf der Einfluß der Massen&«/i«r auf die Denk- und Lebensgewohnheiten der Massen nicht überschätzt werden, zumal die meisten Menschen eher flüchtige oder oberflächliche Eindrücke von dem haben, was außerhalb ihrer jeweiligen Arbeitswelt geschieht. Zweitens, es läßt sich historisch belegen, daß sich ein Teil der höheren Kultur, wie diese von Seiten der Eingeweihten jeweils definiert wurde, in allen Zeiten und Gesellschaften populäre Formen annahm oder mit den populären Kulturformen in unmittelbarer Beziehung, ja Wechselwirkung stand. Die antike Kunst mußte nicht unter ihrer vielfachen Verschränkung mit der Vorstellungswelt der Volksmythologie und des Volksaberglaubens leiden - genausowenig wie die Popularisierung oder Vulgarisierung christlicher Theologie im Volkskult oder in der sehr verbreiteten religiösen Volksliteratur die selbständige Entfaltung theologischen Denkens von hohem Niveau im Mittelalter verhindert hat. Zwischen Volks- bzw. 250

Massenkultur und bestimmten Bereichen der höheren Kultur, die dem Gebrauch bestimmter Minderheiten vorbehalten war, hat es immer eine Osmose gegeben, die das Funktionieren des Systems der sozialen Ideologie und die Homogenisierung des sozialen Verhaltens überhaupt ermöglichte. In der Massendemokratie findet diese Osmose durch die Wirkung der Massenmedien, der Populärliteratur und des Erziehungswesens statt. Ihr Hauptträger ist eine Schicht, die die mittlere Schicht der Bildung genannt werden darf und sich großenteils mit der mittleren Schicht des Konsums deckt. Mittlere Schicht der Bildung und mittlere Schicht des Konsums werden immer breiter, ihr Geschmack und ihre Bedürfnisse geben zunehmend den Ton in der Gesellschaft an, und die Befriedigung dieser Bedürfnisse, die in wirtschaftlicher Hinsicht immer interessanter wird, ruft neue Konsum- und Kulturgüter ins Leben, die entsprechend der mittleren sozialen Stellung und der Mentalität der Käufer sich vom Naiven und Kunstlosen absetzen und das Höhere durch Imitation erreichen sollen; dabei wird freilich Imitation mit der schöpferischen Tätigkeit verwechselt oder gemischt und daher ohne schlechtes Gewissen oder Minderwertigkeitskomplexe betrieben. Im vielfältigen Spektrum dieser neuen Kulturgüter tauchen auch solche auf, die sogar Anspruch auf intellektuelle Feinheit erheben, charakteristisch für das ganze Gebiet bleibt aber die Leichtigkeit des Ubergangs von einem Genre zum anderen und von einer Ebene zur anderen. Man kann daher nicht immer mit Gewißheit sagen, ob der sogenannte Kitsch die untere Ebene des Gebiets umfaßt oder dasselbe in jeweils verschiedenen Formen und Dosierungen ganz durchdringt. Tatsache ist, daß sich der Kitsch unter den Umständen der Osmose zwischen höherer und Massenkultur verbreitet, zumal er sich wenigstens zum Teil von den Leistungen der ersteren speist, die er in Ubereinstimmung mit dem Geschmack seines Publikums bearbeitet. Im Hinblick auf den bereits erörterten Zusammenhang zwischen Avantgarde und Massenkultur muß an die avantgardistische Verwendung von Kitsch erinnert werden, die die Normen bürgerlicher Ästhetik lächerlich machen wollte (so z.B. die surrealistische Ästhetik des Flohmarktes). Kitsch darf von dem Augenblick an ästhetisch legi251

timiert werden, in dem Kunst im bürgerlichen Sinne für überholt erklärt und dem Kunstwerk der Nimbus seiner Einzigartigkeit und Besonderheit entzogen wird. Verlieren Kunst und Schönheit ihre soziologisch verstandene Bindung an eine Minderheit, hören sie also auf, Aspekte oder Bestandteile der Ideologie der Minderheit zu sein und sollen sie zum Gemeingut werden, so müssen sie offensichtlich mit ihrer sozialen Funktion auch ihren Charakter gründlich ändern, ja ins Gegenteil kehren. Kitsch erhebt nun den Anspruch, ästhetischen Genuß zu bereiten, und läßt keinen wesentlichen Unterschied zwischen der eigenen und der ewigen Schönheit gelten. Er kann deshalb unverblümt als billige Nachahmung oder schlechte Kopie erscheinen, weil er mit der ewigen Schönheit überhaupt nicht konkurrieren will, die ja inzwischen schon wegen des massiven Aufkommens von Kitsch die Bühne gesenkten Hauptes hat verlassen müssen. Nicht aus einer ästhetisch adäquaten Substitution des bürgerlichen Schönheitsideals bezieht also der Kitsch seine Kraft innerhalb der Massenkultur, sondern aus der Tatsache, daß er psychische Kräfte mobilisiert, die mit den als bürgerlich definierten ästhetischen Bedürfnissen und Empfindungen wenig Berührungspunkte haben. Beim Kitsch handelt es sich um die sentimentalen Stereotypen der Sehnsucht und des Traums, denen man sich hingeben kann, ohne die Mühe des begründeten ästhetischen Urteils auf sich nehmen zu müssen. Ästhetischer Genuß war im Verständnis bürgerlicher Ästhetik keine Form des unreflektierten Hedonismus, sondern er ergab sich aus der Zusammenwirkung von Gefühl, Kenntnis, Übung und Uberlegung - ein Zusammenwirken, welches sich in dem konkretisierte, was man den Geschmack nannte. Kitsch entspricht hingegen der hedonistischen massendemokratischen Grundhaltung, er bietet an, ohne ewas zu verlangen, dafür aber bietet er bloß Vorübergehendes und Geläufiges an. Er gewährt immerhin vielen Menschen die Befriedigung zu glauben, sie teilten mit den Wenigen das, was bisher nur diesen letzteren vorbehalten war. Nachahmung, von der Kitsch lebt, entsteht letztlich als Realisierung der demokratischen Forderung, alle sollten dasselbe genießen können, aber unter Umständen, in denen nicht alle über die gleichen materiellen und geistigen Möglichkeiten dazu verfügen; Nachah252

mung drückt den Wunsch nach Gleichheit da aus, wo sich diese nur mittels der Ersetzung der Originale durch Kopien erzielen läßt. Wir führten bereits aus, daß sich das postmoderne oder neuavantgardistische Bestreben nach Abschaffung der Kunst unter anderem am Unternehmen äußerte, in der Abgrenzung gegen den Formalismus der literarisch-künstlerischen Moderne aus dem Kunstwerk eine Darstellung des Vorgangs des künstlerischen Schaffens selbst oder eine Erörterung der künstlerischen Mittel (d.h. der Sprache oder der Materialien) zu machen. Wollte moderne Dichtung poetisches und empirisches Ich voneinander trennen und ersteres mit der Organisierung des Stoffes und der Vervollkommnung der Form beauftragen, so werden nun poetisches Ich und Formideal mit einem Schlag beseitigt, während das Ich als die konkrete Person des Künstlers voll und ganz in die Dichtung einbezogen wird, die man nun als spontanen schöpferischen Vorgang auffaßt und dabei versucht, eher die Mechanismen der Sprache durch deren Dekomposition bloßzulegen denn die Sprache zur formalen Perfektion zu bringpn. Die dichterische Tätigkeit besteht daher nicht zuletzt in einer Manipulation der Sprache, die in Anlehnung an die assoziativen Techniken der alten Avantgarde eine „offene Form" ergeben soll. Gedichte werden nicht erst entworfen, um dann auf Grund eines Konzeptes und durch erschöpfende Detailarbeit endgültig formuliert zu werden, sondern jedes Wort kann den Anlaß und den Anfang von neuen selbständigen Ausführungen abgeben, die ihrerseits sprung-, bruchstück- und lückenhaft verlaufen, um irgendwo abrupt zu Ende zu kommen. Um Gedichte in solcher Manier zu schreiben, muß man sich nicht als Dichter im alten Sinne anstrengen, um hinter der Perfektion der Form die Zufälligkeiten der Inspiration und des schöpferischen Vorgangs zu verstecken gerade das Gegenteil wird beabsichtigt: die Offenheit der Form entspringt der Gleichsetzung des dichterischen Schaffens mit allen anderen Erlebnissen, in denen sich die Seele spontan zeigt und dem Unmittelbaren hingibt; dementsprechend soll sie dazu dienen, den Prozeß des dichterischen Schaffens vor den Augen des Lesers auszubreiten und ihn daran zu beteiligen, auch mit Hilfe erklärender Zusätze oder persönlicher Bekenntnisse. 253

Nicht anders im postmodernen Roman, in dem das Schreiben selbst als Akt und Vorgang zunehmend zum Hauptthema wurde. Aufgabe der Sprache ist nicht mehr die Darstellung eines psychologischen oder faktischen Geschehens, d. h. die Sprache verzichtet ganz auf das bürgerliche Ideal objektiver Imitation, sie hat keinen anderen Bezug außer sich selbst und in dem Maße, wie im Roman Geschehen zur Sprache gebracht wird, wird es eben als Sprache behandelt und es entfaltet sich aus den inneren Möglichkeiten und der inneren Dynamik der Sprache heraus. Der postmoderne Roman schafft insofern sich selbst durch die Reflexion über sich selbst. Er ist kein Mittel, um irgendetwas zu sagen, sondern eine eigenständige und in sich ruhende Wirklichkeit - aber eine fiktive, die auf der Basis eines Verfahrens oder vielmehr als dieses Verfahren selbst entsteht. Fiktion oder Erfindung und Spiel liegen aber dicht nebeneinander, der Text gestaltet sich wie ein Spiel und durch ein Spiel, jedes Element in ihm kann zum Organisationspol werden, und das ständige Experimentieren mit der Organisation des Textes beruht auf der Uberzeugung, alle Regeln und Arten des Schreibens seien letztlich willkürlich; die Kunst des Schreibens, wie Kunst überhaupt, wird daher praktiziert, um sich selbst abzuschaffen, der Vorgang des Schaffens ist zugleich ein Akt des Abschaffens. Diese Doppelseitigkeit oder Ambivalenz des postmodernen Textes schlägt sich in seiner Selbstbezüglichkeit nieder, d. h. darin, daß der Autor seine eigene Arbeit im Roman thematisiert und sich gleichzeitig auf zwei Ebenen bewegt, indem er seine Karten offen auf den Tisch legt. Damit steigt er vom Thron des souveränen literarischen Demiurgen und inszeniert neben dem Spiel mit der Sprache noch ein anderes, an dem er selbst gleichzeitig mit den Personen des Romans und mit dem Leser teilnimmt. Vor dem Hintergrund dieser literarischen Praxis entstanden die von Philosophen popularisierten Theoreme, der Leser sei der eigentliche Stifter der Einheit des Textes, es existiere kein Ich des Autors außerhalb seiner Sprache etc. Bei aller ostentativen Selbstentthronung des postmodernen Autors zeichnet sich dennoch seine Haltung durch gesteigerten Narzißmus aus. Sein Verweilen bei der Sprache ist im Grunde ein Verweilen bei sich selbst bzw. bei etwas, das er nach Belieben manipulieren und worin er sich 254

ganz zu Hause fühlen kann, ohne sich gemäß den Erfordernissen einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung einschränken zu müssen ; die Herabsetzung des Autors bleibt Werk des Autors, während die Aufwertung der geistigen Initiative des Lesers eigentlich eine Aufforderung an ihn bedeutet, das Recht des Autors anzuerkennen, nach seiner augenblicklichen Eingebung oder Lust die Richtung zu ändern und dabei mit der Treue und der Geduld des Lesers zu rechnen. Die offene Form verbindet die postmoderne Lyrik mit dem postmodernen Roman, der sich ebensowenig wie jene scheut, syntaktische und grammatische Regeln zu verletzten, den kaum strukturierten Text in Einheiten zu zerstückeln, die aus einem ganz kurzen oder aber aus einem seitenlangen Satz bestehen können, und unverblümt zu plagiieren, also Stellen aus fremden Texten unverändert zu übernehmen und sie nach Gutdünken miteinander zu kombinieren; als Materialquellen können dabei sogar Zeitungen oder Reklamen dienen. Hinter der Collage, wie sie durch die literarische Moderne entdeckt und praktiziert wurde, stand noch immer eine einheitliche und erkennbare gedankliche Linie, die im postmodernen Text des öfteren fehlt. Der Ausgang des Geschehens bleibt nicht selten offen oder es werden verschiedene Möglichkeiten entworfen, Widersprüche werden nicht vermieden und ebensowenig Wiederholungen und Diskontinuitäten, die das Schweigen in den Text integrieren sollen. Die Struktur des Textes hält somit die zufälligen und beliebigen Umstände seiner spontanen Entstehung fest; konsequente Fragmentierung und ununterbrochener Redefluß deuten dabei gleichermaßen auf den Mangel an innerer Struktur hin. Der einzig sichtbare Zusammenhang ist manchmal nur ein äußerer, wie etwa eine alphabetische oder numerische Anordnung des dargebotenen Materials. Auch die Wirklichkeit, die durch diese Schreibweise wiedergegeben wird, besteht aus einer Collage von austauschbaren Elementen und Details. Episodisch kann viel geschehen, die Handlung als Zusammenhang der einzelnen Episoden wird aber auf ein Minimum reduziert, wenn sie nicht bewußt durch ganz unbegründete und unwahrscheinliche Episoden oder Sprünge ad absurdum geführt wird. Das subjektive Element steht jedenfalls immer im 255

Vordergrund, und es meldet sich etwa in den Bekenntnissen oder Erzählungen der Personen des Romans, die ihrerseits von Unklarheiten und Zweideutigkeiten wimmeln. Die subjektiven Perspektiven kreuzen sich ständig, das Denken des einen spiegelt sich im Denken des anderen wider usw., ohne daß wenigstens der Autor den Uberblick bewahrt und den Sinn des Ganzen durchschaut. In der lockeren Thematik des postmodernen Romans tauchen immer wieder Motive der politischen und unpolitischen Kulturrevolution auf, die sich um das Selbstverwirklichungsideologem drehen. Es wird nach einem neuen Ich gesucht, das von den Fesseln des engen instrumentellen Rationalismus befreit und mit tieferen Erfahrungen vertraut wäre; Exotismus, Sexmystik und Psychedelik gehören zu dieser literarischen Denkkonstellation. Damit verwandt ist eine Richtung, die man den magischen Realismus genannt hat. Die Phantasien, die direkt oder indirekt, positiv oder negativ mit der Selbstverwirklichung zu tun haben, erscheinen hier genauso real wie die Realität selbst, sie bilden einen Teil der Realität wie andere Dinge auch, während Realität umgekehrt in Phantasien aufgelöst wird. Bei all diesen Variationen der mehr oder weniger kulturrevolutionär bzw. neoromantisch inspirierten literarischen Postmoderne - und nicht nur bei ihnen - bleibt das Ich, von dem doch ständig die Rede ist, merkwürdigerweise in der Schwebe. Die Personen werden in vagen Umrissen skizziert, es handelt sich also dabei eher um das, was man die subjektiven Faktoren nennen darf, denn um feste Individualitäten mit gleich erkennbaren Zügen. Diesen Personen fehlt außerdem eine klare soziale Identität, sie sind also sozial amorph und bewegen sich innerhalb einer gleichermaßen amorphen Gesellschaft, die keinen sozialen Rahmen für das Handeln sozial deutlich festgelegter Individuen abgeben kann. Helden gibt es hier nicht, denn es gibt die Konflikte nicht mehr, in denen sich der heroische Charakter als solcher bewährte; der Einzelne existiert eher in der Art und Weise, wie sich sein Bewußtsein in der Welt des Konsums und der unaufhaltsamen Mobilität von Menschen und Dingen verhält, d.h. wie ein Bündel von Eindrücken, dessen Mittelpunkt sich ständig verschiebt. Diese Schwäche und Vagheit des Ich selbst bei jenem Flügel der postmodernen Literatur, der das Ich direkt thematisiert, erklärt, 256

warum sich andere Richtungen des postmodernen Romans bereit zeigen, von einem derart gespenstischen Ich leichten Herzens Abschied zu nehmen und das Ich als Ding in der Welt der Dinge aufgehen zu lassen. Die beunruhigende und letztlich vergebliche Suche nach Sinn wird beiseitegelassen, und das Ich wird erlöst, indem es sich im Fluß der Dinge vergißt und in dieser seiner Einigkeit mit der Vielfalt und der ethischen Indifferenz der Dinge die quälende Frage der ethischen Option nicht mehr stellt. Dies alles artikuliert sich in der programmatischen Wendung gegen den psychologischen Roman, der als Sproß oder Ausläufer der bürgerlichhumanistischen Tradition gilt. Nun sollen Dinge als Dinge geschildert werden, der privilegierte Standpunkt des Menschen wird von keinem vertreten - auch vom Autor nicht, der die Menschen wie Dinge beschreibt, die sich in konkreten Lagen und nur in solchen befinden. Wo keine Psychologie und keine Charaktere da sind, da ist auch keine Ethik und keine Tragödie, es gibt nur Dingstrukturen, die sich in den Textstrukturen widerspiegeln. Derselbe Abschied von der Psychologie und vom Charakter kennzeichnet auch das sogenannte Theater des Absurden. Dem Fehlen von Handlung, die durch aufeinanderfolgende Situationen und Bilder ersetzt wird, entspricht hier die Verwandlung der agierenden Personen in blutlose Figuren, die wie Marionetten wirken und bloß Funktionen erfüllen; da sie keine Substanz haben, die ihrem Handeln mit innerer Notwendigkeit eine Richtung geben würde, so bewegen sie sich zweck- und sinnlos hin und her, wobei sie viele und überraschende Kombinationen zustandebringen. In der demonstrativen Abwendung vom schönen Stil und von der „Literatur", in der parallelen Zerstückelung der Sprache und des Charakters folgt das absurde Theater den Strömungen der Avantgarde, während es in seiner pessimistischen Grundeinstellung bzw. in seiner Neigung, den Zusammenbruch der bürgerlichen Synthese als Verlust zu empfinden oder gar aus ihm eine Niederlage „des" Menschen zu machen und den Fortschrittsoptimismus radikal abzulehnen, eine echte Fortsetzung der literarisch-künstlerischen Moderne darstellt. Die Thematisierung des Todes und des Morbiden in der zeitgenössischen Literatur kann in diesem Sinn als ideelles Erbe der literarisch-künstlerischen Moderne gedeutet wer257

den. Aber auch der postmoderne fröhliche Nihilismus kann in die moderne düstere Stimmung umschlagen: je mehr sich hedonistische Einstellungen verbreiten, desto bedrohlicher werden die Schatten von Schmerz und Tod. Die (relative) Isolierung des Künstlers von der Wirklichkeit der massenhaft konsumierenden Massendemokratie, seine vielbeschworene Einsamkeit bildet einen zusätzlichen Grund für das Weiterleben des Pessimismus im postmodernen Zusammenhang. In diesem Fall, wie in vielen anderen auch, drückt Kunst die Probleme des Künstlers, nicht die der massendemokratischen Gesellschaft aus. In den bildenden Künsten fand die Moderne ihre thematische und stilistische Fortsetzung in der Entstellung der menschlichen Gestalt z.B., die teils den noch frischen Horror des Krieges und die vielfältige Unterdrückung, teils das Leiden unter der wachsenden Anonymität und Entfremdung in der Massengesellschaft künstlerisch artikulieren sollte. Im postmodernen Zusammenhang geben jedoch jene avantgardistischen Tendenzen den Ausschlag, die die Forderung nach Abschaffung der Kunst mit der Uberzeugung verbinden, Person und Handlungen des Künstlers seien wichtiger als sein Werk, die formale Perfektion des Kunstwerks stehe an künstlerischem Interesse hinter dem Akt des Schaffens weit zurück. Das Kunstwerk stellt also kein Mittel zur Mitteilung von etwas dar, sondern es fällt mit dem Vorgang seiner Entstehung zusammen. So zeigt die Leinwand beim Action Painting ein Ereignis und kein Bild; indem sie mit Farbe bespritzt oder betropft wird, soll sie durch die daraus entstehenden amorphen Formen oder Farbwirrsale den psychischen Zustand oder allgemeiner die Persönlichkeit des Künstlers wiedergeben, der beim Akt des Malens das Malen und sich selbst entdeckt. Die weitgehende Identifizierung der Vorgänge im Unbewußten mit dem Vollzug der Kunst, d. h. die drastische Aufwertung des Assoziativen und Spontanen gegenüber der handwerklichen Selbstzucht, die ein bestimmtes Verhältnis zwischen Form und Inhalt auf der Basis vorgegebener ästhetischer Normen herstellen wollte, bildet freilich ein direktes Erbe des dadaistischen und surrealistischen Automatismus. Bei anderen Richtungen postmoderner Malerei wird die Beseitigung der bürgerlichen Auffassung vom künstlerischen 258

Schaffen im Rahmen der programmatischen Vereinigung von Kunst und Leben miteinander auf anderen Wegen angestrebt. Hyperrealistische Versuche, Gegenstände mit photographischer Akribie wiederzugeben, implizieren die Annahme, das Kunstwerk sei keine persönliche Schöpfung, die eine Deutung der Welt seitens des Künstlers enthalte, sondern ein Stück Wirklichkeit, das zwanglos unter andere eingereiht werden könnte. Der Minimalismus kommt diesem Hyperrealismus insofern nahe, als er vom avantgardistischen Konzept des Ready Made ausgeht und funktionalen Objekten ästhetischen Wert beimißt. Die Arbeit des Künstlers besteht dabei eher in der Wahl eines schon vorhandenen Gegenstandes denn in der Erschaffung eines neuen. Dementsprechend hat die Komposition bei den Minimalisten erheblich geringeren Stellenwert als die Größe, die Farbe, die Fläche oder die Umgebung, die sich in ein malerisches Feld verwandelt. Von extremen Variationen des Minimalismus abgesehen, bei denen der Gegenstand weder erschaffen noch gewählt, sondern einfach durch sein „Konzept" ersetzt wird, begegnet uns die postmoderne Abschaffung von Stil und Kunst bzw. Künstler auch bei Richtungen, die den Weg der Abstraktion bis zum Ende gehen. Die Farbfeldmalerei beseitigt den Wertkontrast als Basis des Bildes, und an Hand des homogenen Feldes einer einzigen Farbe will sie die innere Zusammengehörigkeit von einem kurzen, spontanen und einfachen Schaffensvorgang mit einem ästhetischen Ergebnis vor Augen führen, das allen Regeln bürgerlicher Ästhetik widerspricht. Postmoderne abstrakte Malerei beruht ebensosehr wie postmoderne Literatur auf dem Prinzip der Selbstbezüglichkeit: der Thematisierung des Schreibens durch das Schreiben und im Schreiben entspricht die Reduktion der Malerei auf den elementaren Akt des Malens, d. h. auf die Gestaltung der Leinwand ohne direkten oder indirekten Bezug auf Dinge, die sich außerhalb der Leinwand befinden. Ahnliche Erscheinungen geben im Bereich postmoderner Skulptur den Ton an. Auch hier sollen die Grenzen zwischen Kunst und Leben durch die Identifizierung der Kunst mit dem Tun des Künstlers aufgehoben werden. Letzteres wird wiederum als kurzer und spontaner Akt aufgefaßt, der sehr oft in einer blo259

ßen dezisionistischen Option bestehen kann, wodurch etwas zum Kunstwerk erklärt wird; gerade die Beliebigkeit dieser Option soll andeuten, daß alles und nichts Kunst ist, daß Kunst und Leben dieselbe Reichweite haben (können). Dennoch soll das beliebige Objekt, das zur Skulptur erklärt wird, eine eigene und besondere Bedeutung haben; insofern bleibt es unabhängig von den Gegenständen, die es umgeben, und bedeutet nur das, was es ist, und nichts anderes. Auch Objekte, die zum Alltagsgebrauch bestimmt sind, erheben sich über den Status des bloßen Gebrauchsgegenstandes dadurch, daß ihre formalen Charakteristika einen allgemeinen Sinn erhalten. Dieser Sinn ist aber andererseits eben der, daß hier die Trennung zwischen Kunst und Leben bzw. zwischen Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand aufgehoben wurde. Die Absonderung des Objekts soll also an einem sieht- und zeigbaren Beispiel veranschaulichen, daß die Skulptur die letzte Spur von repräsentativer Funktion verloren hat und lediglich die Anwesenheit eines materiellen Körpers im Raum darstellt; Bildhauerei als Kunst im alten Sinne des Wortes wird somit auf ein Minimum reduziert. Dieselbe ästhetische Grundhaltung treibt andere Bildhauer dazu, Skulpturen aus allen möglichen Materialien zusammenzubasteln, selbst aus leicht verderblichen oder aus solchen, die bis dahin von niemandem benutzt worden waren (Abfall z.B.). Dabei interessiert nicht so sehr die Herstellung eines Gegenstandes, der als Kunstwerk hätte fungieren können, sondern vielmehr der Nachweis, durch den Gebrauch beliebiger Materialien seien traditionelle Kunstbegriffe und mit ihnen auch die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufgehoben. Eine andere Art und Weise, diese Aufhebung zu erreichen und zu demonstrieren, ist das beliebige Aufstellen der Skulptur im Raum, das auf die Verschmelzung von Skulptur und Raum oder auf die Betrachtung des Environment als Gegenstand künstlerischer Tätigkeit und als mögliches Kunstwerk hinausläuft. Zumal in der Gestaltung des Environment als Gesamtkunstwerk konkretisiert sich eine Leitvorstellung der Avantgarde, d. h. die Abschaffung der Grenzen zwischen den einzelnen Künsten, die zur Verflüssigung des Kunstbegriffes und schließlich zum Dahinschwinden der Kunst selbst führt. Die Offenheit der Form geht in Formlosigkeit über - genauer gesagt, sie 260

will in Formlosigkeit übergehen. Das Prinzip der offenen Form, von dem wir im Zusammenhang mit der postmodernen Dichtung gesprochen haben, bedingt aber auch die Beschaffenheit des Kunstwerkes, solange es noch seine Eigenständigkeit im Raum bewahrt. Offene Form weisen Werke auf, die bloß räumliche Volumina umschließen bzw. den Raum durch wenige Markierungen definieren. Ebenso offen, wenn auch in einem anderen Sinne, ist die Form bei Montagen heterogener Elemente zu einem disparaten Gebilde; an solchen Montagen oder Assemblagen zeigt sich übrigens sehr deutlich die Zusammengehörigkeit postmoderner formaler Prinzipien mit dem spontanen und fragmentarischen Charakter der Technik oder mit der neuen Auffassung über die Aufgaben des Künstlers im Rahmen des Bestrebens, Kunst im „Leben" aufgehen zu lassen. Der freien Verwendung heterogener Materialien in der Bildhauerei entspricht die freie Kombination oder zufällige Mischung von Klängen und Geräuschen in der postmodernen Musik. Geräusch und Lärm wurden früher nur am Rande verwendet (z.B. Vogelgesang), nun dienen sie aber systematisch zur Erweiterung des Klangmaterials, das außerdem durch technische Mittel (und zwar durch elektronische Musikinstrumente, bei denen der Ton Erzeugnis von Frequenz auf wissenschaftlicher Grundlage ist) sowie durch menschliche Laute (neben der Sing- die Sprechstimme) bereichert wird. All dies bewirkt eine Verdrängung des Tons durch das Geräusch, die mit einem wesentlich anderen Strukturkonzept einhergehen muß, da die Abstimmung der Geräusche aufeinander auf eine ganz andere Art und Weise als die Abstimmung der Töne in Akkorde erfolgt. Die extreme Form dieser Verdrängung ist der avantgardistische Bruitismus, d.h. der Aufbau von musikalischen Formen auf der Basis von Geräuschen, die als musikalische Werte ganz unabhängig voneinander sind. Auch hier läßt sich eine gerade Linie zwischen der alten und der postmodernen Avantgarde ziehen, wenn wir etwa an die futuristische Forderung nach Ausweitung des musikalischen Hörbereichs durch Einbeziehung der Geräusche der industriellen Zivilisation oder an den Uberdruß futuristischer Musiktheoretiker an den herkömmlichen Instrumenten denken. Auch im Bereich der Musik gewann 261

also der avantgardistische Geist über den Geist der Moderne die Oberhand, wie die Entwicklung zeigt, die mit den Versuchen anfing, die Zwölftonkomposition umzugestalten, zunächst aber ohne ihren Rahmen zu sprengen. Diese Umgestaltung wurde durch den Wunsch geleitet, den musikalischen Raum noch einheitlicher zu machen, und zwar durch die Aufhebung des Prinzips der Uber- bzw. Unterordnung einzelner Parameter, durch die Reduktion von Melodie und Harmonik auf die zugrundeliegenden Töne, durch die damit zusammenhängende Verschmelzung der beiden Satzebenen, d.h. von Horizontalem und Vertikalem, miteinander, schließlich durch die Abschaffung des Themas als Keimzelle musikalischen Gestaltens. Indem die einzelnen Töne allein die Grundlage der Komposition abgeben, werden alle Gestaltungsmomente gleichwertig, und es wird der größtmögliche Zusammenhang innerhalb des Materials erreicht. Die neue Komposition bewegt sich zwar auf mehreren Ebenen, keine von diesen hat aber eine privilegierte Stellung; und obwohl die Elemente, die die Komposition ausmachen, miteinander verbunden bleiben, kann sich doch jedes von ihnen von den übrigen loslösen, da es keine harmonische Gesamtentwicklung, keinen Höhepunkt und kein Ende gibt. Die absolute Vereinheitlichung des musikalischen Raumes und zugleich dessen Zerstückelung in Einzelelemente ermöglicht nun die Einbeziehung des Geräusches in die Sprache der Musik. Dieses wurde solange als Widerspruch zum harmonischen System empfunden, wie die musikalische Hierarchie auf der Identität von Klangbeziehungen beruhte, die sich auf jede Stufe der Tonleiter transponieren ließen; ein Geräusch läßt sich aber nicht in gerader Linie auf ein anderes zurückführen und deshalb kann es nur in einem Ganzen Platz finden, das nicht auf der genannten Identität beruht, sondern sich in kleine Einheiten gliedert. Die musikalische Rehabilitation des Geräusches wurde aber auch durch die Verdrängung klassischer Harmonie durch den Rhythmus erleichtert, zumal die Instrumente, die Rhythmus erzeugen, sehr oft auch bloßes Geräusch erzeugen können. Bereits im Rahmen der konsequenten Weiterentwicklung des Ansatzes der Zwölftonmusik war also die absolute Isolierung der musikalischen Einzelelemente und mithin auch ihre absolute Mo262

bilität und Austauschbarkeit erreicht. Der nächste und letzte Schritt wird in dem Augenblick getan, in dem die isolierten und an sich gleichwertigen Elemente ihren Platz nicht mehr innerhalb einer und derselben festen Struktur miteinander austauschen, sondern ganz frei miteinander kombiniert werden und dabei wechselnde und instabile Strukturen ins Leben rufen. Da die serielle Komposition, bei der noch Großform und Detailformen eines Werkes aus einer einzigen Proportionsreihe abgeleitet wurden, jedem Element gleiches Gewicht beimaß und dadurch die Nivellierung bis zum Äußersten trieb, so mußte die totale Durchführung des seriellen Prinzips seine eigene Aufhebung bewirken: die Reihe als zusammenhaltende Form wurde aufgelöst und die normierte Klangsprache aufgegeben. Die Reihe wurde als starr empfunden, da sie nur eine bestimmte endliche Menge von Kombinationsmöglichkeiten verwirklichte, die durch vorhandene Affinitäten gegeben waren, und alle anderen ausschloß; sie wurde daher in Abschnitte oder abgegrenzte Felder zerstückelt, die sich beliebig umspielen ließen, so daß sich daraus eine Ansammlung frei kombinierbarer Töne ergab und die Definition der strukturellen Beziehungen an Hand fester Kriterien entfiel. Die Lokalstrukturierung wurde wichtiger als die Globalstrukturierung, und die Kontinuität wurde zerstört, indem die punktuelle Gliederung des musikalischen Materials an die Stelle der linearen trat. Die jeweilige Form erhebt somit keinen Anspruch auf Geschlossenheit oder Ausschließlichkeit, sie will nichts anderes sein als eine Kombination unter mehreren denkbaren. An die Vielfalt der möglichen Formen und Optionen soll eben durch die Offenheit oder Instabilität jener Form ständig erinnert werden, für die sich der Komponist entschied, ohne jedoch für seine Entscheidung zwingende Gründe angeben zu können oder zu wollen. Selbst größte Entfernungen in den Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Tönen oder Klängen werden nun einfach ignoriert, ja Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen und Momenten geradezu vermieden. Es gibt keine Wiederholung, keine Variation, keine Entwicklung und keinen Kontrast, denn all dies setzte bestimmte Motive und Themen voraus. Werden harmonische Verbindungen konsequent beseitigt, so bleibt nur eine Anzahl von Klängen übrig, de263

ren musikalischer Effekt nicht von ihrer Beziehung zueinander, sondern davon herrührt, daß sie Spannung, Auflösung oder synkopierte Rhythmen zu Gehör bringen. Es interessiert bloß das isolierte Detail und der einzelne musikalische Augenblick, ohne Zusammenhang mit Früherem oder Späterem. Daher werden nun Ton bzw. Klang und Stille zu gleichberechtigten musikalischen Ereignissen, die Pause wird in das Stück als aktiver Teil der Komposition einbezogen, und die traditionelle Standardisierung der Intervalle wird preisgegeben, indem Intervalle je nach der jeweiligen Verknüpfung und Anordnung der Klangphänomene variiert werden. Die Atomisierung wird durch die Suche nach den letzten Elementen oder den reinen Schwingungen ins Äußerste getrieben, deren Mischung den jeweiligen Klang und das jeweilige Geräusch konstituiert. Es wird zwar manchmal versucht, in das willkürlich zusammengestellte Material Ordnung und Struktur hineinzutragen, wobei die technischen Mittel des Elektronenrechners oder statistisch-mathematische Methoden zur Hilfe genommen werden. Dennoch muß der Unterschied zwischen automatischem und zufälligem Produkt bei dieser Organisationsform minimal bleiben, zumal das Klangergebnis kaum interessiert und die Rhythmik keinen Ablauf in der Zeit, sondern ein zeitloses statistisches Verhältnis darstellt, das sich auch anders hätte gestalten können. Die postmoderne Musik beseitigt die traditionelle Unterscheidung zwischen Inhalt und Form sowie den Begriff der musikalischen Gattung. Die Gattung als die allgemeine Form kann nicht bestehen, wenn Form als solche relativ ist, wenn also jedes Werk seine eigene einmalige Form hervorbringen muß. Brechen die festen Formen zusammen, so rückt der Entstehungsvorgang in den Vordergrund, der nun wichtiger als das Endergebnis zu sein scheint; es wird versucht, das Endergebnis vom Entstehungsvorgang her zu verstehen und zu beurteilen oder gar Entstehungsvorgang und Endergebnis miteinander verschmelzen zu lassen. Dem Action Painting entspricht die experimentelle Aktion in der postmodernen Musik, eine solche nämlich, deren Ergebnis nicht vorausgesehen werden kann. Die Klänge sollen gleichsam von selbst ihre Sprache zur Entfaltung bringen, das Komponieren erfolgt al264

so durch Zufallsoperationen, in denen sich der jeweilige innere Zustand des kreativen Künstlers kristallisiert. Es kann auch sein, daß die Einzelheiten für die Aufführung des Stückes nicht festgelegt werden und der Interpret dann die Reihenfolge der einzelnen Abschnitte oder auch die Struktur der Details bestimmt; die Gliederung des musikalischen Gebildes kann auch dem Zuhörer überlassen werden. Außerdem werden die technischen Begleitumstände von Entstehung und Aufführung des Werkes manchmal in das Werk selbst einbezogen, so z.B. die Klänge, die die Vorbereitung des Orchesters vor der Aufführung kennzeichnen. Entscheidend bleibt jedenfalls der Vorgang des Musikmachens, nicht das fertige Werk; Thema der Musik wird die Musik selbst als konkreter Akt, der von konkreten Menschen unter konkreten Umständen unternommen wird. Es wird komponiert, um dabei zu beobachten, was alles beim Komponieren geschieht. Die Musik lebt von der Musik oder vom Musizieren, und insofern verhält sie sich genauso wie die postmoderne Literatur, deren großes Thema das Schreiben selbst ist. Es liegt indes auf der Hand, daß Selbstbezüglichkeit der Kunst und Selbstgefälligkeit oder Omphaloskopie des Künstlers die zwei Seiten derselben Medaille ausmachen. Die postmoderne Architektur hat auf ihre Weise deutlich gemacht, daß der Formalismus der literarisch-künstlerischen Moderne, d. h. die analytische Suche nach reinen Formen als Grundlage des kombinatorischen Verfahrens keine polemische Notwendigkeit mehr ist. Er war solange als Kampfmittel unentbehrlich, wie die bürgerliche Synthese wirksam und als Gegner sichtbar war, seine Bedeutung mußte aber in der reifen Massendemokratie dahinschwinden, die die offene Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kultur schon hinter sich hat und zudem den Pluralismus der Werte und der Anschauungen funktional benötigt. Der postmoderne Denkstil beruht nicht weniger als der moderne auf der freien Kombinatorik; miteinander kombiniert werden nun aber nicht unbedingt letzte irreduzierbare Elemente, sondern auch oder vor allem fertige zusammengesetzte Stücke, die unterschiedlichen Zeiten, Stilen oder Kulturen entlehnt werden. In diesem Sinne stellt die architektonische Postmoderne der Einförmigkeit moderner Architektur, die sich gegen den bürgerlichen reprä265

sentativen Eklektizismus wandte, das Bestreben nach Differenzieren und Artikulieren sowie Momente gegenüber, die den bloßen Funktionalismus übersteigen sollen. Das Fiktive, Erzählende, Darstellende und Poetische, das Interessante und Auffallende kommen zu Ehren und mit ihnen auch der Rückgriff auf historische Formen und der Versuch, zwischen der älteren und der jüngeren Vergangenheit in der Geschichte der Architektur tragfähige Vermittlungen zustandezubringen. Diese Wendung zur Geschichte entspringt aber keiner echt historischen Einstellung, die den Primat des Raumes gegenüber der Zeit, wie die literarisch-künstlerische Moderne ihn begründete, irgendwie in Frage stellen würde. Denn die Anleihen aus der geschichtlichen Vergangenheit werden bloß im Raum nebeneinandergereiht, und zwar nach den jeweils vorherrschenden heutigen ästhetischen Gesichtspunkten und Bedürfnissen, nicht etwa mit Rücksicht auf den geschichtlichen Zusammenhang, d.h. auf ihre Entstehungsbedingungen und Funktionen, wie sich diese in der geschichtlichen Zeit konkretisiert haben. Der freien Verwendung geschichtlichen Materials in der postmodernen Architektur liegt eine stillschweigende Unterscheidung zwischen Form und Inhalt zugrunde: Formen, die sich in der Vergangenheit mit „reaktionären" Inhalten verbanden (wie etwa der bürgerliche Eklektizismus oder der faschistische Monumentalismus), werden nun in den Dienst von „progressiven" Zwecken gestellt, nicht zuletzt in den Dienst des Kampfes gegen die nivellierende und entfremdende instrumentelle Rationalität der funktionalistischen Technokratie. An den programmatischen Schlagworten der postmodernen Architektur erkennt man unschwer, daß sie der Geschichte wenig, der Kulturrevolution hingegen viel zu verdanken hat. Kulturrevolutionären (und indirekt avantgardistischen) Ursprungs ist die Hochpreisung der kreativen Phantasie und die entsprechende Abgrenzung gegen die monotone Statik bautechnischer Rationalität, die sich angeblich in der funktionalistischen Reduktion der Lebensbedürfnisse des Einzelnen äußert. Das Spiel mit den Formen in der Architektur soll eben den wahren Lebensbedürfnissen bzw. dem kulturrevolutionären Selbstverwirklichungsideal Rechnung tragen und insofern gehört es zu den 266

künstlerischen Manifestationen des massendemokratischen Hedonismus, der sich gegen die Strenge technischer Rationalität wendet. Die naheliegenden Sachzwänge setzen freilich dem Spielen mit Formen und Materialien in der Architektur engere Grenzen als etwa in der postmodernen Malerei oder Bildhauerei, die Ambition geht immerhin dahin, das technisch Notwendige mit dem Spielerischen und Hedonistischen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die kulturrevolutionäre Ambition muß sich indes bei ihrer praktischen Umsetzung in den Dienst von ziemlich prosaischen sozialen Zwecken stellen. Der Eklektizismus und die Vielförmigkeit postmoderner Architektur befriedigen in erster Linie das Bedürfnis der Mitglieder der höheren und höchsten Konsumentenschicht, sich durch ostentativen Individualismus und Originalität gegen Ihresgleichen abzusetzen; insofern erfüllen sie mutatis mutandis ähnliche Funktionen wie die eklektizistische Richtung bürgerlicher Architektur seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Außerdem - aber im Zusammenhang damit - genügt postmoderne Architektur den Repiäsentationsbedürfnissen der neuen (vor allem wirtschaftlichen) Machtzentren der Massendemokratie, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr von bürgerlichen Denk- und Lebensgewohnheiten entfernt haben und darauf Wert legen, ein „modernes" und „schickes" Image nach außen zu präsentieren. Die schwächeren Konsumenten und die Pariahs der Konsumgesellschaft werden sich noch lange mit den serienweise hergestellten Nebenprodukten der architektonischen Moderne begnügen müssen.

6. Grundzüge wissenschaftlichen und philosophischen Denkens in der Massendemokratie Die Dichotomie von technischer Rationalität und Hedonismus, die für das soziale Leben der Massendemokratie in seiner Gesamt267

heit bezeichnend ist, bedingt auch den allgemeinen Charakter und die Hauptrichtungen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens unter masssendemokratischen Verhältnissen. Verständlicherweise findet technische Rationalität bei den exakten Wissenschaften ihren ausgeprägtesten Ausdruck, und zwar in dem Maße, wie sich diese mit Industrie und Technik verbinden. Dies hat zur Folge, daß sich die Kluft zwischen exakter Wissenschaft und Philosophie vertieft, denn diese übernimmt zunehmend die Vertretung oder Verteidigung der hedonistischen Selbstverwirklichungsideale und versucht dabei, das humanistische Erbe in deren Sprache zu übersetzen, um dadurch in einer für Philosophen besonders schwierigen Zeit den Kontakt mit dem realen Geschehen und mit dem „Menschen" nicht (ganz) zu verlieren. Die analytisch-kombinatorische Denkfigur erfährt im Bereich technischer Rationalität ihre anschaulichsten Ausarbeitungen, ihre Wirkung erstreckt sich aber auch auf die übrigen Bereiche oder Disziplinen. Dies geschieht entweder indirekt, d. h. durch die Herausbildung von mehreren strukturell verwandten, dem analytisch-kombinatorischen Denkstil gemeinsam verpflichteten Methodologien oder Ontologien, deren jede auf einem besonderen Gebiet Geltung beansprucht, oder aber direkt, d.h. durch den universalen Anspruch einer einzigen Methodologie oder Ontologie. Einen solchen Anspruch hat die Kybernetik angemeldet, deren Verbreitung nach dem Zweiten Weltkrieg die innere Einheit von analytisch-kombinatorischer Denkfigur und wesentlichen Aspekten massendemokratischen Daseins anzeigt. Analyse und Kombination bilden in der Tat die beiden grundlegenden methodischen Instrumente des kybernetischen Ansatzes. Üblicherweise wird zwar Kybernetik als Theorie über die Verhaltensweise von Systemen oder über den Zusammenhang selbstregulierender Systeme mit ihren Teilsystemen definiert, der übergeordnete Begriff des Systems wird indes hier nicht im alten metaphysischen Sinne eines Ganzen aufgefaßt, das etwas mehr und etwas qualitativ anderes als seine Teile ist, sondern als die Summe seiner letzten Elemente; der Unterschied zwischen einfachen und komplexen Systemen geht dementsprechend auf die Quantität und die Verbindungsweise der Elemente miteinander zurück. Die Operationen, die innerhalb 268

des Systems möglich sind, werden an den einzelnen Elementen desselben vorgenommen, die infolge eben dieser Operationen von einem Zustand a in einen Zustand b übergehen. Transformationen des Systems werden also dadurch erzielt, daß jedes seiner Elemente in ein anderes Element übertragen bzw. daß jedes Element des neuen Systems das Resultat der Transformation eines Elements des früheren Systems darstellt; die Transformation zeigt somit an, welche Wirkung der Operator auf die einzelnen Elemente eines Systems gehabt hat. Die Art und Weise wiederum, wie die Elemente des Systems miteinander zusammenhängen, d.h. kombiniert werden, machen den Informationsgehalt des Systems aus, der demnach ein Maß für den Grad der Ordnung des Systems oder umgekehrt ein Ergebnis der Anordnung der Elemente ist. Die Verarbeitung von Information erfolgt durch die Herstellung von Querverbindungen zwischen den Elementen des Systems, wobei sich aus der Kreuzung der gerade eingegebenen mit den schon gespeicherten Daten eine Anzahl von neuen Kombinationen ergibt. Gerade der zusammengesetzte Charakter des Systems und seine jederzeit mögliche Zergliederung in seine Elemente gestatten die technischen Anwendungen der Kybernetik. Automation beruht z.B. auf einer Aufteilung und Trennung von Handlungen, die dann auf der Basis ihrer ermittelten letzten Bestandteile rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktion erfaßt aber nicht den ganzen Ablauf der Handlung, sondern nur deren technisch relevanten Aspekte. Die Handlung wird m.a.W. auf ein Schema oder ein Modell reduziert, das im Grunde eine funktionale Abstraktion darstellt. Abstrahiert wird hier vor dem Hintergrund einer bereits erfolgten Analyse, im Laufe deren die funktional entscheidenden Elemente festgestellt und abgesondert werden konnten, um anschließend miteinander kombiniert zu werden. Die Konstruktion von Modellen setzt also die Zergliederung eines Dinges oder Vorgangs in letzte Elemente voraus. Modell ist eine Verkürzung des jeweiligen Gegenstandes oder ein System, das an Hand von Relationen und Strukturen aufgebaut wird, die als wesentlich für den Gegenstand gelten, wenn er unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet wird; die Änderung des Gesichtspunktes kann 269

daher ein anderes Modell für denselben Gegenstand ergeben. Als funktionale Abstraktion kann das Modell mehrere Gegenstände gleichzeitig erfassen und auf diesem Wege eine Vereinheitlichung der Wirklichkeit erzielen. Wirklichkeit wird in der Tat schon dadurch vereinheitlicht, daß ihre verschiedenen Elemente in die jeweils benutzte künstliche Sprache übersetzt werden, um Bestandteile des Systems auszumachen. Kombination und Verarbeitung der eingegebenen Daten können ohne Kodifizierung derselben, d. h. ohne ihre Umwandlung in Zeichen einer Begriffsschrift oder Kunstsprache nicht stattfinden. Vereinheitlichung und Abstraktion gehören zusammen, sie schlagen sich in der Einfachheit und Eindeutigkeit der künstlichen Sprache gemeinsam nieder, und alles, was sich in diese Einfachheit und Eindeutigkeit nicht hineinpressen läßt, wird nie zum Bestandteil des Systems oder der kybernetischen Wirklichkeit. Das heißt: Kybernetik schafft sich selbst die für sie relevante Wirklichkeit, ihre Modelle sind daher nicht nur Hilfsmittel der Forschung, sondern auch Gegenstand derselben und Anwendungsbereich der Kybernetik selbst. Die Lehre über den Inhalt und die Lehre über die Form lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden, sie verschmelzen innerhalb einer einheitlichen Lehre über die kybernetische Wissenschaft oder Kunst. Insofern diese eine Methodologie und gleichzeitig eine Ontologie darstellen soll, wird sie in demselben Sinne selbstbezüglich, wie die postmoderne Literatur oder Malerei es sein wollen. Kybernetik kann den Anspruch auf universelle Geltung deswegen erheben, weil in ihr die Reduktion auf letzte Elemente mit der Abstraktion von deren konkreten Qualitäten einhergeht. Dies gestattet die Konstruktion von Systemen, deren formale Struktur auf materiell heterogenen Gebieten wiedererkannt werden kann. So will Kybernetik mathematische Methoden auch in Bereiche wie etwa die Psychologie oder die Biologie einführen, die sich bis dahin des Zugriffs der Mathematik wesensgemäß zu entziehen schienen. Die Mathematisierung aller Bereiche bedeutet eine Verwandlung aller Gegenstände in ideelle Größen, sie bewirkt also ihre Homogenisierung, und dadurch macht sie sie miteinander austauschbar und kombinierbar. Kybernetik löst sich somit vom 270

Substanzdenken konsequent los, sie abstrahiert von der Materie und fragt nicht nach den Ursachen des Systems oder des Verhaltens; sie untersucht die Funktionsmöglichkeiten informationeller Systeme ohne Rücksicht auf deren materielle, physiologische oder psychologische Eigenschaften und kann daher Sozio,- Bio- oder Maschinentechnik zugleich sein. Auch in diesem letzteren Fall ist indes von Informationsaufnahme, -Verarbeitung und -Übertragung die Rede, da nur die äußere Funktion in Frage kommt. In dieser rein funktionalistischen Perspektive werden die Ähnlichkeiten zwischen datenverarbeitenden Maschinen und biologischen bzw. geistigen Vorgängen verständlicherweise zum zentralen Untersuchungsthema. Soziale Phänomene werden ebenfalls dadurch theoretisch bewältigt, daß sie auf Informationen oder Informationsgruppen reduziert und in entsprechende Systeme eingeteilt werden. Die Umwandlung eines konkreten Phänomens in Information macht aus ihm eine abstrakte und zugleich bewegliche Kalkulationseinheit, die sich nach Belieben klassifizieren und mit anderen kombinieren läßt. Auf diese Weise wird aus der Qualität Quantität, aus der Heterogenität Homogenität und aus der Geschichte Mathematik, gleichzeitig bildet aber die kybernetische Erfassung des Sozialen eine treue strukturelle Reproduktion oder ideelle Widerspiegelung der höchst mobilen massendemokratischen Wirklichkeit, in der Funktionen und nicht Substanzen, bewegliche Atome und nicht starre Qualitäten in ihrer ständigen Kombination miteinander den vorläufig herrschenden, aber flüssigen Zustand des sozialen Systems ergeben, dessen allgemeine formale Struktur gleichwohl stabil bleibt. Die einzelnen „Informationssysteme" beziehen sich freilich auf die entsprechenden materiellen Teilbereiche, der Übergang vom einen System zum anderen ist aber auf Grund der formalen und strukturellen Parallelität leicht und sogar naheliegend. Die Wechselwirkung und die Interdependenz der Systeme und der Bereiche untereinander -wächst, so daß diese kraft ihrer gemeinsamen Reduktion auf gleichförmige Kalkulationseinheiten einheitlich behandelt bzw. zum Gegenstand einer und derselben Tätigkeit werden können. Das findet seine engere technische Anwendung in der Automation, die die Produktion von unterschiedlichen Erzeugnissen an Hand derselben 271

Maschinen und desselben Verfahrens ermöglicht. Die Vereinheitlichung der Erkenntnismethoden und der praktischen Tätigkeiten im Zeichen der Kybernetik bzw. Informatik verstärkt darüber hinaus die Neigung zu einer Verschränkung oder gar Verschmelzung von Disziplinen, die nach bürgerlicher Auffassung, wie sich diese in der Organisation des Bildungswesens konkretisierte, von ihrem Inhalt und ihrer Methode her getrennt bleiben mußten. Die wachsende Vorliebe für das interdisziplinäre Studium bildet an sich und unabhängig von dessen realen Vor- oder Nachteilen ein Indiz für den Untergang des bürgerlichen Kanons und für die vorhandene Bereitschaft, alle Wissensbereiche dem gleichen Denkmodell zu unterwerfen oder alles mit allem zu kombinieren. Diese Bereitschaft entspringt und entspricht der massendemokratischen Bestrebung, qualitative Unterschiede zu beseitigen oder nach Möglichkeit auf quantitative zurückzuführen; insofern entstammt sie derselben geistesgeschichtlichen Wurzel wie die avantgardistische Forderung nach Abschaffung der Schranken zwischen Kunst und Leben. Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn wir bedenken, daß die methodische und inhaltliche Vermischung oder Vereinheitlichung der Disziplinen - sowohl der Natur- und der Geisteswissenschaften miteinander als auch derselben untereinander - sehr oft durch die Forderung nach Lebensnähe der Wissenschaft begleitet wird. Die vereinheitlichte Erkenntnis wird zunehmend sozialisiert, also nach ihrem sozialen Nutzen beurteilt, wobei sich der alte Glaube an die rein spekulative Fähigkeit des Geistes, Wahrheit zu entdecken und zu erfassen, immer mehr abschwächt, während sich die Ansicht verbreitet, Erkenntnis, die den Namen verdiene, solle „den Menschen etwas angehen". Konkret bedeutet all dies eine engere Bindung des Bildungswesens an die Bedürfnisse der Produktion und des Marktes, d.h. an das Leistungsprinzip. Unter ähnlichen Gesichtspunkten ließen sich auch die Spieltheorien erörtern, die parallel mit der Kybernetik einen beachtlichen Einfluß auf die Wissenschaften ausgeübt haben. Zur Vermeidung von Wiederholungen sei hier indes nur auf einen speziellen Punkt hingewiesen, der für unsere Fragestellung aufschlußreich ist. Es handelt sich um die Heiausarbeitung von dezisionistischen Theo272

rien, die erst vor dem Hintergrund der allgemeinen Durchsetzung der analytisch-kombinatorischen Denkfigur verständlich wird. Die Vielfalt der denkbaren logisch legitimen Kombinationen legt die Schlußfolgerung nahe, die Bevorzugung einer unter ihnen gehe nicht auf objektive und rational artikulierbare Sachzwänge, sondern auf eine nicht weiter hinterfragbare Entscheidung des jeweils betreffenden Subjekts zurück. Je mehr sich Systeme in letzte Bestandteile auflösen, desto wichtiger muß der Entscheidungsfaktor für die Konstitution des Systems erscheinen. Jede neue Information bedeutet die Möglichkeit einer besseren Steuerung eines kybernetischen Systems, sie lädt also von sich aus dazu ein, neue Kombinationen zu bilden und mithin neue Entscheidungen zu treffen. Die Verwendung von mathematischen Methoden und die Formalisierung der Inhalte bei Homogenisierung der Bereiche führen gleichfalls die Notwendigkeit und zugleich die Funktion von Entscheidungen ständig vor Augen, da sich auf rein formaler Ebene eine viel größere Anzahl von möglichen Lösungen und dementsprechend eine viel größere Wahlfreiheit anbietet als auf der (erheblich) engeren Ebene der Inhalte. Die Reduktion von Sachverhalten auf Modelle trägt das Ihrige zur epistemologischen Legitimierung dezisionistischer Einstellungen bei: das Modell stellt eine selektive Rekonstruktion der Wirklichkeit dar, jeder Selektion liegt aber eine Entscheidung zugrunde. Schließlich muß an die Herkunft des Dezisionismus aus dem epistemologischen und methodologischen Konventionalismus der Jahrhundertwende (s.o. Kap. ΙΠ, Abschn. 2) erinnert werden, zumal unser zeitgenössisches Modelldenken in dessen direkter Nachfolge steht, obwohl dies oft nicht wahrgenommen wird. Wissenschaftliche Konventionen sind genauso wie Modelle notwendige oder zweckmäßige fiktive Konstruktionen, die gerade auf dem Wege von Abstraktionen die Phänomene retten bzw. funktional erklären sollen. Uber den heutigen Dezisionismus, der teils mit der Kybernetik, teils mit der Spieltheorie verwachsen ist, ist noch zu bemerken, daß es bei ihm nicht um dramatische existenzielle oder weltanschauliche Entscheidungen geht, wie dies beim vorangegangenen Dezisionismus existenzialistischer Philosophen der Fall war, sondern um solche, die von einem kalkulierenden Intellekt 273

getroffen werden, der die weltanschauliche Grundeinstellung technischer Rationalität unreflektiert voraussetzt. Seine Entscheidungen betreffen also nicht das Ganze, nicht den Ursprung der Dinge und den letzten Sinn des Lebens, sondern sie gestalten sich innerhalb der zerstückelten Welt der Informationssysteme und der Modelle, sie sind Teilentscheidungen, die von einem Experten getroffen werden, um Teilprobleme zu lösen, die zudem mehr oder weniger vorübergehende Bedeutung haben. Die Entscheidung, die das Kombinationsspiel lenkt, wird somit selbst zum Bestandteil dieses Spiels. Eine andere neuere Version der analytisch-kombinatorischen Denkfigur, in die sich logische und mathematische Methoden Eingang verschafft haben, ist jene Richtung der Linguistik, die das Projekt einer generativen Grammatik in Angriff genommen hat. Die Transformation der Linguistik, die deren Annäherung an die Kybernetik ermöglichte, geht weniger auf Logiker zurück, die künstliche Sprachen entwerfen wollten, und mehr auf Techniker des Fernmeldewesens und der Rechenanlagen, die Lösungen für Ubertragungsprobleme u.ä. suchten. Die mathematische und logische Analyse soll in die Herausarbeitung einer formalen Theorie der Grammatik oder einer allgemeinen Theorie der linguistischen Struktur münden, an Hand deren über verschiedene Abstraktions- und Veiallgemeinerungsebenen schließlich die Systeme ermittelt werden könnten, in die sich die natürlichen Sprachen einordnen ließen. Diese Tiefengrammatik ist ein konzeptuelles Konstrukt, dem die figurativen und anthropomorphen Züge der Oberflächengrammatik fremd sind. Der methodologische und systematische Primat der Tiefengrammatik zielt auf die Beseitigung der verworrenen Mannigfaltigkeit empirischer Daten ab, um dadurch eine Ebene zu gewinnen, auf der pure Kombinationen ohne Einmischung von wechselnden und unberechenbaren Faktoren vorgenommen werden können; zur Abstraktion mit Hilfe logisch-mathematischer Mittel treibt also der kombinatorische Grundansatz. Die Kombinationen auf der Ebene der Tiefengrammatik erfolgen ihrerseits auf der Basis der Ermittlung von letzten Elementen, die sich in jeder Sprache finden bzw. a priori enthalten sein müssen und daher Universalien genannt werden dürfen. 274

Sie bilden die konstitutiven Kategorien, die für jede Sprache unentbehrlich sind und den Ausgangspunkt bei jeder Manipulation von Sinn abgeben müssen. Die Artikulationen von Sinn ergeben sich also aus einer Kombinatorik, die auf einem begrenzten Inventar semischer Kategorien beruht. Indem sich diese Kategorien oder Universalien klären, zeichnen sich zugleich die Umrisse der Tiefengrammatik als der Theorie ab, die besagt, welche Verkettungen der grundlegenden Elemente der Sprache zulässig sind. Das Problem, das sich nun stellt, ist die Ableitung der Oberflächengrammatiken aus der Tiefengrammatik. Es soll durch eine transformationale Grammatik bzw. Syntax gelöst werden, die die Regel zur Transformation der Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen aufstellt und dabei die Kriterien zum Vergleich von Grammatiken miteinander in die Hand gibt. Die Operationen, deren sich die transformationale Grammatik bedient, sind rein quantitativen Charakters, es handelt sich also um die Verschiebung, Addition oder Subtraktion von Elementen. Die konsequent durchgeführte Ausschaltung des zeitlichen oder geschichtlichen oder qualitativen Faktors läßt Linguistik und Rechenanlage vom Verfahren her dicht nebeneinanderrücken. Die Popularität, die die Semiotik erlangte, wundert nicht angesichts ihrer strukturellen Analogien zu der Funktionsweise der demokratischen Massengesellschaft. Die Reduktion der Dinge oder der Substanzen auf Zeichen bedeutet eine Auflösung des Festen und Beharrenden in bewegliche und beliebig miteinander kombinierbare Elemente, die ihren gegenwärtigen Platz ebenso leicht untereinander tauschen können wie es die Menschen unter den Bedingungen der grenzenlosen sozialen Mobilität auch tun. Genausowenig wundert natürlich die enge Nähe der Semiotik zu den neueren kybernetischen und linguistischen Versionen der analytisch-kombinatorischen Denkfigur. Durch die Einordnung der Zeichen in Zeichensysteme betritt die Semiotik methodologisch den Bereich der Modelle oder der Strukturen und erhebt den Anspruch, Analysen zu leisten, die mathematische Genauigkeit besitzen und frei von jeder subjektiven Willkür sind. Der Ubergang von der Semiotik zum Strukturalismus erklärt sich seinerseits unschwer, wenn wir uns nochmals erinnern, daß sich Mo275

delle oder Strukturen von der metaphysischen Auffassung über das Ganze wesentlich unterscheiden, da sie nichts anderes als die Summe ihrer Elemente und der Beziehungen derselben zueinander sind. Hinter diesen Elementen steht also keine unergründliche Kraft, die sie zusammenhält; die Struktur beruht bloß auf den funktionalen Beziehungen ihrer Elemente zueinander, und daher unterliegt sie Änderungen oder totalen Umwandlungen, sobald sich jene Beziehungen infolge eines neuen Kombinationsspiels gestalten (vgl. Kap. IH, Abschn. 2). Die Ausmerzung von allem, was über die einzelnen Elemente hinausgehen und sich zur Vorstellung von einem eigengesetzlichen Ganzen verdichten könnte, führt zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen Inhalt und Form. Der Inhalt hat keinen Bestand ohne die Struktur, in der er sich artikuliert, diese selbe Anordnung der Elemente, die den Inhalt ergibt, macht aber auch die Form aus. Die strukturalistische Analyse von Texten hat demgemäß vom Prinzip auszugehen, daß Literatur in der Summe von Zeichen, die ihre Sprache konstituieren, voll und ganz aufgeht, die Anordnung der sprachlichen Zeichen ist also kein Ausdrucksmittel der Literatur, sondern die Literatur selbst. Hinter der Sprache oder den Zeichen, die die Sprache zusammensetzen, gibt es nichts zu entdecken, die Sprache bildet daher nicht bloß die materielle Erscheinungsform eines historischen oder psychologischen Ganzen, dessen Geist durch die sprachlichen Zeichen hindurchschimmert, ohne je in vollem Umfang erfaßbar zu sein, sondern Sprache ist Kleid, Körper und Geist der Literatur in Einem. Diese Betrachtung, die die Geschlossenheit und Autonomie des literarischen Werkes a limine annimmt, will die schwer durchführbaren und ohnehin vagen genetischen Untersuchungen zugunsten rational verfahrender und nachprüfbarer, quasi meßbarer Deutungen aufgeben. Die Ergründung der Art und Weise, wie sich Zeichen bzw. letzte Elemente miteinander kombinieren, soll aber nicht nur bei Textanalysen den interpretatorischen Schlüssel in die Hand geben. Auf sie wird ebenfalls zurückgegriffen, wenn es gilt, Sinnzusammenhängen auf den Grund zu gehen. So werden Mythen z.B. in ihre elementaren Bestandteile (Mytheme) zergliedert, die dann nach Belieben in immer neue und immer kompliziertere Kombinationen gruppiert 276

werden. Der Sinn des Mythus ergibt sich nicht aus seinen einzelnen Elementen, sondern aus der Art und Weise von deren Zusammensetzung. Jede konstitutive Einheit bildet eine Beziehung, ja ein Beziehungsbündel, und nur als solche hat sie eine Bedeutung. Die vergleichende Mythologie wird demnach ungefähr so aufgebaut wie ein kybernetisches System, d. h. auf der Basis eines Symbolismus mathematischer Inspiration, der voneinander unabhängige Gebilde vereinheitlichen kann. Es ist sehr fraglich, ob diese Methoden, die übrigens bisher nur sporadisch und selektiv in die interpretatorische Praxis umgesetzt wurden, die Erkenntnis von Sinnzusammenhängen in irgendeiner bleibenden Weise voranbringen. Sie sind aber für den Drang bezeichnend, alle möglichen Wissensbereiche möglichst rasch unter die Ägide der analytischkombinatorischen Denkfigur zu stellen. Versuche, soziale Phänomene oder ganze Gesellschaftsformationen strukturalistisch zu erfassen, führen im Grunde den ahistorischen Hang der Soziologie (s.o. Kap. III, Abschn. 2) ad extremum und deshalb fanden sie vor allem in Ländern fruchtbaren Boden, in denen sich die Soziologie von Anfang an der historistischen Denkweise wenig verpflichtet fühlte. Betrachten wir die Soziologie in Reinform als Statik von Konstanten, die Geschichte hingegen als Dynamik von Ereignissen, so scheint die Reduktion des Sozialen auf Modelle und Strukturen nahezuliegen. Der offene Kampf der Strukturalisten gegen den bürgerlichen Humanismus und Anthropozentrismus, ihre Ankündigung vom Ende des Menschen etc., haben sich methodologisch im Primat der Struktur niedergeschlagen, die menschlichem Handeln logisch und real vorangehen soll - ja menschliches Handeln wird hier nach Möglichkeit entmenschlicht, indem es als direkter Ausfluß der inneren Logik der Struktur aufgefaßt wird. Die Zerteilung des Sozialen in letzte Elemente, die dann in Strukturen zusammengefügt werden, hat aber auch zur Folge, daß unterschiedliche und zeitlich weit auseinanderliegende Gesellschaften oder Kulturen in dem Maße als prinzipiell gleichwertig gelten, wie die Analyse zeigt, daß ihnen dieselben Strukturelemente zugrundeliegen, gleichviel, welchen Komplexitätsgrad diese jeweils erreicht haben. Dadurch verliert der Faktor „Zeit" die primäre Bedeutung, die er für die Wahr277

nehmung der sozialen Welt im Rahmen der bürgerlichen Geschichts- und Fortschrittsgläubigkeit hatte, während sich der Faktor „Raum" entsprechend vordrängt. Vom Primat des Zeitfaktors her gesehen gliederten sich die Kulturen in höhere und niedere, wobei die höheren auf die niederen zeitlich folgten und den geschichtlichen Fortschritt verkörperten. Die Auffassung von der Gleichwertigkeit der Kulturen, die sich auf die Einsicht in die Identität ihrer letzten Strukturelemente stützt, beseitigt den Unterschied zwischen Höherem und Niederem sowie die Fortschrittsidee im bürgerlichen Sinne und suggeriert die Vorstellung von einem Nebeneinander aller Gesellschaftsformationen auf derselben Ebene bzw. in demselben Raum ungeachtet ihres zeitlichen Abstandes voneinander. Herrscht der Gesichtspunkt der Zeit vor, so werden Räume als geographische Inbegriffe von geschichtlichen Entwicklungsstufen aufgefaßt (z.B. Afrika-Asien-Europa) und als solche in das übergeordnete Zeitschema eingegliedert; herrscht hingegen der Gesichtspunkt des Raumes vor, so werden geschichtliche Zeiten zu räumlichen Teilen einer Ebene, auf der die verschiedenen gleichwertigen Kulturen nebeneinander liegen. Die Priorität der Erkenntnis synchroner Beziehungen gegenüber der Erkenntnis von Prozessen bildet den methodologischen Ausdruck der Absage an die bürgerliche Geschichtsauffassung und an die Wahrnehmung der sozialen Welt unter dem Gesichtspunkt der Zeit. Die mit all dem verbundene Neigung der Strukturalisten, zumal der ethnologisch orientierten, archaische Kulturen zu verklären, vermengte sich mit dem Faible der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre für allerlei Primitivismen und Exotismen, die als Waffen gegen die technische oder instrumentelle Rationalität des Abendlandes eingesetzt wurden. Daran macht sich bemerkbar, daß manche Version der analytisch-kombinatorischen Denkfigur, die von ihrer Konzeption und ihrem Ursprung her dem Denkstil technischer Rationalität am ehesten verpflichtet war, erst durch ihre Vermischung mit heterogenen massendemokratischen Ideologemen ihre volle Wirkung hat entfalten können. Der irrationalistische Exotismus und Hedonismus der Kulturrevolution hat aber auch direkt die geistige, und zwar die philoso278

phische Produktion der Postmoderne beeinflußt. So fand, diesmal unter „progressiven" Vorzeichen, die schon ältere programmatische Infragestellung des abendländischen Logozentrismus Anklang, dessen traditionelle metaphysische Ausgestaltung auf eine höchst unhistorische Art und Weise mit der neuzeitlich-technischen in einen Topf geworfen wurde. Der geschichtliche Weg des Abendlandes, den das bürgerliche Geschichtsverständnis für den überlegenen hielt, entpuppte sich dadurch als Irrweg, und man schickte sich nun an, diesen Schaden durch die Wiederbelebung des Mythus und durch die Inthronisierung des Gefühls und der Phantasie wiedergutzumachen. Die neue positive Bewertung des Mythus, in deren Zuge Philosophen zu Ehren kamen, die kurz zuvor als „obskurantistisch" oder „reaktionär" galten, verband sich mit ökologischen und ähnlichen aktuellen Fragestellungen, da der Mythus den Weg zurück zum Schoß der intakten mütterlichen Natur zu weisen schien. Ebenso wichtig ist die Verbindung des neuen Hanges zum Mythischen mit dem Theorem der Selbstverwirklichung gewesen. Mythisches konnte leicht in Mystisches, Esoterisches oder Apokryphes übergehen, und dieses Gemisch ergab wiederum den Hintergrund, vor dem die hedonistische Aufhebung all jener Gegensätze oder Trennungen stattfand, die die Existenz zerstückelten, also den Weg zur Selbstverwirklichung sperrten. Mythisch, mystisch oder esoterisch konnte der Unterschied zwischen Mann und Frau verwischt, das Physische als Erscheinungsform des Psychischen gedeutet, der Körper vergeistigt und der Geist inkarniert, der sexuelle Akt zum Prototyp der Vereinigung mit dem All oder dem Sein erklärt werden etc. etc. In solchen Konstruktionen meldete sich eine begrifflich vage monistische Tendenz; der Monismus wurde aber in dem Augenblick suspekt, in dem er als die alles nivellierende Identität des Logos auf den Plan trat. Gegen diese Identität, die man zum Wesensmerkmal des abendländischen (metaphysischen und technischen) Rationalismus stilisierte, wurde die Differenz aufgeboten, also die irreduzierbare Vielfalt der Dinge, der Ansichten und der Werte. Und da die Identität das Werk des Logos oder der Ratio war, so bedeutete die philosophische Verteidigung der Differenz gleichzeitig eine Verteidigung der Phantasie und der freien Kreativität des 279

Geistes. Unter den Umständen des kulturrevolutionären Kampfes gegen den metaphysischen Logos und die instrumenteile Vernunft fanden ästhetische Anschauungen und Werte erneut Beachtung und Anhang; die Wendung zum Ästhetischen hatte aber auch einen zusätzlichen Grund: wie dies schon einige Male in der Vergangenheit geschah, setzte sie auch diesmal in einer Zeit ein, in der der Wertpluralismus das Ethische ins Wanken geraten ließ. Die Selbstverwirklichung mußte nun von vielen im Bereich des Ästhetischen und durch ästhetische Mittel gesucht werden - und diese ästhetische Selbstverwirklichung löste die aktivistische ab, die der Existenzialismus noch vor dem Aufstieg der hedonistischen Kulturrevolution in Aussicht gestellt hatte. Der Beitrag der Philosophie und der Sozialtheorie zur Herausbildung massendemokratischer Ideologeme in der Nachfolge oder im Umfeld der Kulturrevolution weist zwei weitere Aspekte auf, die hier noch kurz erwähnt werden müssen. Modisch gewordene Philosophen übernahmen die Vertretung und die geistesgeschichtliche Legitimierung von Minderheiten (Geisteskranken, Homosexuellen etc.), die nach Auffassung (eines Flügels) der Kulturrevolution die Fesseln bürgerlicher konformistischer Vernunft am konsequentesten abschüttelten (s. Abschn. 3 in diesem Kap.). Das Encomium der Verrücktheit und der Perversion war freilich die kulturrevolutionäre Weiterbildung von älteren avantgardistischen Positionen, die ebenfalls im Kampfe gegen die bürgerliche Rationalität formuliert worden waren; nun ging man aber methodischer vor und versuchte, die Machtmechanismen bloßzulegen, die das bürgerliche Zeitalter zur Unterdrückung solcher Abweichler erfand. Politisch relevanter sind sozialtheoretische Umdeutungen liberalen Gedankengutes für den Gebrauch der Massendemokratie. So wird das liberale Prinzip des öffentlichen Diskurses, das der Liberalismus ursprünglich gegen die arcana absolutistischer Kabinettspolitik ins Feld führte, im egalitären Sinne uminterpretiert, indem behauptet wird, Diskurs könne nicht echt und fruchtbar sein, wenn die daran Teilnehmenden nicht über gleiche Ausgangspositionen verfügten. Die Gleichheit der Ausgangsposition, in der die Gleichheit als zu realisierendes Ziel bereits antizipiert wird, gründet in der Annahme von der gleichen Vernünftigkeit 280

aller Einzelnen, die zwar in concreto nichts Verbindliches besagt, von außen betrachtet aber den massendemokratischen Charakter der Theorie enthüllt. Denn hier wird einerseits eine äußerste Atomisierung der Gesellschaft vorausgesetzt, da jeder Einzelne als solcher bzw. in seiner bloßen Eigenschaft als Mensch gleichberechtigter Diskurspartner sein soll, andererseits bedeutet die Erklärung der anthropologisch vorgegebenen Vernünftigkeit zur einzigen Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilnahme am Diskurs, daß materielle Faktoren oder substanzielle Bindungen, die Ungleichheiten hervorrufen könnten, a limine ausgeschaltet werden. Einzelne Menschen, die als einzelne Menschen gleich sind das ist bereits, wenn man alle Implikationen bedenkt, eine adäquate Beschreibung der Massendemokratie. Angesichts der heutigen Stärke der irrationalistischen Strömungen, von denen soeben die Rede war, hätten indes weder die neue Heiausarbeitung der Vernünftigkeit des Menschen noch der Appell an sie eine breitere Wirkung gehabt, wenn sie nicht durch Stichworte begleitet würden, die zur Gedankenwelt der hedonistischen Kulturrevolution eine Brücke schlagen. Ein solches Stichwort ist die Kommunikation. Legt man die Annahme von gleichberechtigten und vernunftbegabten Einzelnen zugrunde, die von ihrer Vernunft den „richtigen" Gebrauch machen, dann muß freilich Kommunikation als die natürliche Verkehrsweise zwischen solchen Einzelnen definiert werden, die sich durch freien Diskurs realisiert und zum Konsens, also zur Beilegung von Konflikten führt. Diese Auffassung von der Kommunikation findet leicht in einer Gesellschaft Vertreter und Anhänger, in der die Zerstückelung des Ganzen in gleiche Atome und zugleich der herrschende Wertpluralismus keinen anderen institutionellen Ausweg zur friedlichen Abwicklung des sozialen Lebens als die Legitimation durch Verfahren gestatten. Das bedeutet, daß sich im Lichte dieser Kommunikationstheorie und bei aller Beschwörung der Vernunft keine Angaben über den konkreten Inhalt des jeweils durch Diskurs zu erreichenden Konsenses machen lassen: Wahrheit ist bloß Funktion oder Ergebnis des Konsenses. So gesehen projiziert die Kommunikationstheorie auf die umständliche Weise der Philosophen eine unumgängliche massendemokratische Praxis auf die Ta281

fei der großen Theorie. Sie verdankt aber ihre Popularität weniger der Tatsache, daß sie dies getan hat, und mehr dem bloßen Gebrauch des Zauberwortes „Kommunikation", das den Eindruck erweckte, zwischen öffentlicher Praxis und privaten Sehnsüchten gebe es in der Massendemokratie eine notwendige Beziehung, das Leben des Gemeinwesens lasse sich also auf Grund derselben hedonistischen Prinzipien wie das Leben des Einzelnen gestalten. Öffentliches Handeln und private Selbstverwirklichung - nicht zuletzt durch den „Austausch", also durch die Kommunikation mit dem Anderen - sollten ja nach Auffassung der Kulturrevolution im Idealfall identisch sein. Der Begriff der Kommunikation wurde übrigens erst nachträglich und frei auf die Sphäre des Öffentlichen übertragen; er bildete sich im Rahmen existenzialistischer und personalistischer, oft theologisch beeinflußter Philosopheme heraus, die das dialogische Prinzip, die Beziehung von Ich und Du etc. emphatisch thematisierten und daher zur Zeit der Kulturrevolution aktuell wurden. In diesem Zusammenhang könnten wir auch zeitgenössische Versuche erörtern, das Naturrecht zu erneuern, Gerechtigkeitstheorien auf der Basis der Gleichheit aller Einzelnen als Einzelnen zu entwickeln und dabei den massendemokratischen Sozialstaat mit den Mitteln hoher Theorie zu legitimieren bzw. als Postulat „der" Vernunft auszugeben. Bei all diesen Fällen handelt es sich um die schon oft angesprochene massendemokratische Umdeutung liberaler Topoi, und daher müssen wir hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Statt dessen schließen wir diesen Abschnitt mit dem Hinweis auf eine Entwicklung ab, die zwar auf den ersten Blick bloß epistemologische Relevanz hat, aus der Nähe betrachtet aber das Ausmaß verdeutlicht, in dem der massendemokratische Wertpluralismus postmodernes Denken auf allen Gebieten durchtränkt. Die lange epistemologische Debatte, die mit der neopositivistischen Forderung nach Beseitigung jeder Metaphysik und nach Aufstellung eines endgültig wahren und empirisch nachprüfbaren Weltbildes anfing, endete bei der Durchsetzung der Überzeugung, Metaphysik (wenigstens im immanenten Sinne der empirisch nicht verifizierbaren Hypothesen) sei auch für die Arbeit der Wissenschaft unabdingbar und auf Grund eben dieser 282

Konstitution und Verfahrensweise der Wissenschaft könne es legitimerweise mehrere Weltbilder nebeneinander geben. Diese Relativierung der Wissenschaft, die ihrerseits die erwähnte Tendenz zur Rehabilitierung des Mythus im postmodernen Kontext förderte, bildete eigentlich die konsequente Fortführung des konventionalistischen Ansatzes. Ein Unterschied zwischen dem älteren Konventionalismus und dem heutigen Relativismus der Weltbilder besteht freilich darin, daß jener wenigstens teilweise vom bürgerlichen Agnostizismus herrührte, während sich dieser als parallele Erscheinung zum massendemokratischen Wertpluralismus und manchmal sogar zur massendemokratischen Permissivität versteht, deren wissenschaftliches Pendant er sein will; auch hier fehlen Analogien oder gar Bekenntnissse zur künstlerischen Avantgarde nicht. Der Kenner der widersprüchlichen Entwicklung des neuzeitlichen Rationalismus weiß, daß skeptische und relativistische Positionen in seinem Ansatz selbst implizit enthalten waren und ihn von Anfang an wie ein Schatten begleitet haben, daß sie sich aber nie in praktisch nennenswertem Ausmaß haben durchsetzen können. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie heute den Sieg davontragen, besagt in der epochalen Perspektive der Geistesgeschichte, daß der neuzeitliche Rationalismus seinen Abschluß erreicht hat. Die Art und Weise, wie man das Ende einer Epoche versteht, enthält aber bereits eine direkte oder indirekte Prognose über die kommende Zeit. Es wäre deshalb folgerichtig, diese Arbeit, die die großen Linien der Entwicklung seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis in unsere Tage hat verfolgen und rekonstruieren wollen, mit einem Ausblick abzuschließen.

283

V. Ausblick

Wir müssen nochmals hervorheben, daß in dieser Abhandlung nur diejenigen sozial- und geistesgeschichtlichen Erscheinungen erörtert wurden, in denen sich die spezifischen Merkmale der Funktionsweise und der charakteristischen Denkfigur der postbürgerlichen und -liberalen Massengesellschaft bzw. -demokratie verdichten. Es gibt keinen anderen methodischen Zugang zur Erfassung des Charakters einer Epoche oder einer Gesellschaftsformation als ihre Abgrenzung gegen eine frühere oder eine andere. Erfassung der Epoche und Epoche sind indes zweierlei, d.h. die Epoche als konkrete multidimensionale und heterogene Wirklichkeit besteht nicht nur aus den Erscheinungen, an denen sich ihre spezifischen Merkmale kenntlich machen. Das Spektrum des sozialen Lebens in der jeweils gegebenen Zeit umfaßt darüber hinaus Aspekte, die teils auf die jüngere oder fernere Vergangenheit zurückgehen, teils die Grenzen der Gegenwart zu sprengen scheinen - und all dies spielt sich wiederum vor dem Hintergrund eines Alltags ab, in dem das Banale oft in seinen archaischen Formen weiterlebt und wirkt. Die konkrete Vorstellung von der Epoche in ihrer Multidimensionalität und Heterogenität bewahrt uns vor der Versuchung, eine Abstraktion oder Reduktion von ihr unseren Prognosen über die Zukunft zugrundezulegen und so zu verfahren, als ob eine lineare Projektion eines eindeutigen Sachverhaltes möglich wäre. Lineare Projektionen sind außerdem deshalb unzulässig, weil die ständig wechselnde Richtung der Resultante, die sich aus dem dynamischen und oft unberechenbaren Kampfspiel der geschichtlichen Wirkungsfaktoren ergibt, der geschichtlichen Entwicklung die Form eines Zick-Zacks verleiht, so daß jede gerade Linie, die über die Länge des vorläufig letzten Bruchteils des Zick-Zacks hinausgehen würde, ins Leere laufen müßte. Nicht weniger unzulässig ist es, manche spezifische Verhaltens· oder Denkweise der Massendemokratie, der man kürzlich den Namen „Postmoderne" beilegte, gleichsam zur unumkehrbaren Tendenz der Geschichte zu erklären, die fortan ihren Lauf bestimmen und die ganze bisherige Geschichte zur Vorgeschichte degradieren würde. Es ist uns hoffentlich gelungen, die innere Zusammengehörigkeit von postmodernem Denken und massendemokratischem Habitus nachzuweisen, doch gerade der 287

Nachweis von der Geschichtlichkeit eines Denkens verbietet es, dessen Selbstverständnis in seinem Nominalwert zu nehmen und aus seinen Behauptungen über den Lauf der Geschichte den Lauf der Geschichte abzuleiten. In der Tat liegt ein großes Hindernis für die nüchterne Einschätzung der Physiognomie der Gegenwart und der Perspektiven der Zukunft darin, daß die vorherrschenden Auffassungen über die heutige Wirklichkeit mit dem verwechselt werden, was in der Wirklichkeit geschieht. Anders gewendet: an den ideologischen Auffassungen, deren die zeitgenössische Wirklichkeit bedarf, um so funktionieren zu können, wie sie funktioniert, will man die Funktionsweise und die inneren Tendenzen der Wirklichkeit selbst ablesen. Die Tatsache z. B., daß in der geistigen Produktion der letzten hundert Jahre „pessimistische" Motive vielfach den Ton angegeben haben, wird so verstanden oder empfunden, als ob die Geschichte in demselben Zeitraum nur vom Schlechten zum Schlimmeren schritte. Dabei wird die entscheidende polemische Komponente dieses Pessimismus übersehen, der sich nicht auf irgendwelche „Wirklichkeit" bezog (die Wirklichkeit kennt ja nur Ereignisse und nicht deren normativ inspirierte Beurteilungen; wirklich sind nur die Existenzen, die solche Beurteilungen unternehmen, sowie die Folgen des Handelns, das solche Beurteilungen in Bewegung setzen), sondern sich als Idee gegen andere Ideen wandte, und zwar gegen den bürgerlichen Fortschrittsoptimismus. Ahnlich wird die Auflösung der bürgerlichen ethischen und ästhetischen Normen auf eine tiefgreifende Krise „der" Gesellschaft und „des" Menschen zurückgeführt, ohne dabei zu bedenken, daß eben durch diese Auflösung sich jene Verhaltens- und Denkweisen haben durchsetzen können, die sich für das Funktionieren der Massendemokratie als unentbehrlich erwiesen haben. Hätte man übrigens den Begriff der Krise buchstäblich gemeint und alle Krisen zusammengezählt, deren Eintreten in der Neuzeit von verschiedenen Seiten zu verschiedenen Zeitpunkten behauptet wurde, so läge die Schlußfolgerung nahe, die menschlichen Gesellschaften hätten längst zugrundegehen müssen. Die Rede von der Krise gehört in Wirklichkeit zu den Gemeinplätzen des Selbstverständnisses der Neuzeit, die den Fortschritt zu ihrem ei288

genen inneren Gesetz erklärte und daher im Schatten des tatsächlichen oder vermeintlichen Ausbleibens des Fortschritts, also im Schatten der Krise hat leben müssen. Im Hinblick auf die Erwartung des Fortschritts mußte jeder, der seine Machtansprüche mit der Verheißung des Fortschritts verband, den gegenwärtigen Zustand der Dinge als inakzeptabel, also als Zustand der Stagnation und der Krise bezeichnen, und zugleich die Krise als Zeichen für die Notwendigkeit der Überwindung des in Frage kommenden Zustandes deuten. Umgekehrt mußten diejenigen, die dem im Namen des Fortschritts auftretenden Machtanspruch den eigenen entgegensetzten, behaupten, das Unternehmen ihrer Feinde würde Bewährtes aus dem Weg räumen und Unsicherheit oder Unruhe stiften, also eine Krise herbeiführen. Wo der Wechsel auf der Tagesordnung steht und entsprechende Geschichtsphilosophien vorherrschen, wie es in unseren Gesellschaften nach dem Zusammenbruch der societas civilis der Fall ist, da muß auch ständig von Krise geredet werden, gleichviel, ob man den Wechsel begrüßt oder befürchtet. Von Freund und Feind wurde ebenfalls der Zerfall „der" menschlichen Person oder gar die Eliminierung „des" Menschen in negativer Übereinstimmung festgestellt; was hier für die einen Befreiung vom hohlen und statischen bürgerlichen Humanismus war, bedeutete für die anderen einen irreparablen Verlust. Die Notwendigkeit, Wirklichkeit und Deutungen derselben streng auseinanderzuhalten, wird an diesem Beispiel besonders spürbar. Denn es kann nur einen polemischen, keinen realen Sinn haben, wenn vom Zerfall oder der Eliminierung der Person und des Menschen gesprochen wird. Es liegt ja auf der Hand, daß es in unserem Jahrhundert wie in den vergangenen auch Menschen gibt, die sich von ihrem Charakter und von ihren Interessen her voneinander unterscheiden, die auf den verschiedensten Gebieten aktiv sind und zu den verschiedensten Beziehungen zueinander kommen, die schließlich Gefühle und Gedanken haben und diesen auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln Ausdruck verleihen. Die Reden von der „Vermassung" und dem „Kulturverfall" halten ebensowenig der Kritik stand, wenn man sie buchstäblich und zugleich vergleichend verstehen will. Es kann nicht nach289

gewiesen werden, daß die Menschen, die etwa in traditionalistischen Gesellschaften lebten, mehr Originalität und Initiative als die heutigen entwickelt haben oder daß der Dorfpfarrer und das Wirtshaus mehr zur Bereicherung der Persönlichkeit beitrugen als etwa heute die Schule oder das Fernsehen es tun. Andererseits kann sich die geistige Produktion der letzten hundert Jahre in jeder Hinsicht mit der jedes anderen Jahrhunderts messen - selbst der kulturelle Schrott für den Massengebrauch ist vielleicht proportionell nicht wesentlich gewachsen, wenn wir bedenken, daß unsere zeitgenössische Massenkultur Formen traditioneller und traditionalistischer Massenkultur ablöste. Unpolemisch betrachtet kann also die Rede vom Ende „des" Menschen nur bedeuten, daß ein bestimmtes Menschenbild, das in einem bestimmten Zeitalter bei bestimmten Kulturträgern vorherrschte, seine Kraft und Wirkung verloren hat oder daß die Problematik des Menschen überhaupt nicht mehr im Mittelpunkt des geistigen Interesses steht. Das bürgerliche Menschenbild und der bürgerliche Anthropozentrismus können in der Tat tot sein, das besagt aber bloß, daß sich die Feinde dieser Auffassungen ideologisch durchgesetzt haben. Diese Feinde sind aber ihrerseits Menschen, wirkliche Menschen bestimmen also wiederum, daß der Mensch als begriffliche oder ästhetische Konstruktion nicht das ideologische Spektrum beherrschen darf. Mit anderen Worten: die Rede vom Ende „des" Menschen kann weder die physische noch die geschichtliche Eliminierung des Menschen, sondern nur den Niedergang jener Kultur und jener Weltanschauung bedeuten, die anthropologische Überlegungen oder humanistische Sorgen an die erste Stelle ihrer Prioritäten setzten. Sowohl diese Kultur und diese Weltanschauung als auch jene, die der Rede vom Menschen nicht diesen privilegierten Platz einräumen wollen, werden gleichermaßen von Menschen gemacht, die polemisch denken und auf Grund der konkreten polemischen Konstellation den Inhalt ihrer weltanschaulichen Entscheidungen gestalten. Die bürgerliche Weltanschauung bekannte sich zum Anthropozentrismus im Kampfe gegen den Theozentrismus der Theologie, und die analytisch-kombinatorische Denkfigur der Massendemokratie mußte ihrerseits den bürgerlichen Anthropozentrismus bekämpfen, dem weiter290

hin ein gutes Stück metaphysisches Substanzdenken anhaftete. Nicht der Mensch stirbt ab, sondern der Anthropozentrismus, genauso wie vorher der Theozentrismus abstarb. Nichts deutet darauf hin, daß sich die Menschen nach dem Tode des Anthropozentrismus wesentlich anders verhalten werden als vorher, genauso wie die Ablösung des Theozentrismus durch den Anthropozentrismus diesbezüglich keine dramatische Änderung mit sich brachte - keine jedenfalls, die uns grundsätzlich hindern würde, Motivation und Denkweise der Menschen in der Vergangenheit im großen ganzen zu verstehen. Diese Ähnlichkeit des Verhaltens beruht auf bestimmten Konstanten, unter denen das Streben nach Selbsterhaltung durch Machtsteigerung den Ausschlag gibt. Diese Konstanten aktualisieren sich aber nur in konkreten geschichtlichen Lagen und nur in solchen Lagen haben sie konkreten Bestand und Inhalt. Auf die Erfassung dieser Lagen kommt es also schließlich an, und der Erfassung der Lage unter den Bedingungen der Massendemokratie galt eben unsere Bemühung in dieser Abhandlung. Wenn wir von der Zukunft der Massendemokratie reden wollen, dann müssen wir in erster Linie bestimmen, in welchen Formen sich das Machtstreben in ihr aktualisieren und insbesondere welche Politik es ins Leben rufen wird. Politik, wie sie bisher in der Massendemokratie betrieben wurde, war mit Ideologien verbunden, die zwar nicht unbedingt und allesamt im Zeichen des Liberalismus standen, dennoch im bürgerlich-liberalen Zeitalter und in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus herausgebildet wurden. Zwischen der heutigen massendemokratischen Wirklichkeit und der in ihr bisher betriebenen Politik oder den in ihr bisher einflußreichen politischen Mentalitäten besteht daher eine Asymmetrie, die sich am ständig dünner werdenden Wirklichkeitsgehalt der Grundbegriffe von Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus zeigt. Nur um 1848 haben alle drei genannten Strömungen als mehr oder weniger reale und eindeutige Alternativen mit konkreten sozialen Trägern nebeneinander bestanden - und gegeneinander gekämpft. Aber der Konservativismus war bereits unheilbar abgeschwächt und ging allmählich im bürgerlichen (oligarchischen) Liberalismus auf, während gleichzeitig die demo291

kratische Umdeutung der liberalen Prinzipien einsetzte, die die Wendung von der liberalen Massengesellschaft zur Massendemokratie begleitete. Nach dem sozialen Absterben des Adels blieb zwar der Begriff des Konservativismus weiterhin am Leben, er diente aber fortab bloß polemischen Zwecken: die Linke benötigte ihn, um den bürgerlichen Liberalismus in die Nähe der „Reaktion" zu rücken, und die Liberalen eigneten ihn sich an, um die bürgerliche Position gegen die demokratische Umdeutung des Liberalismus abzugrenzen. Dieser verlor in dem Maße seine begriffliche Schärfe, wie seine Umdeutung infolge des Ausbaus der Massendemokratie bzw. des Niedergangs des Bürgertums und der oligarchischen Politik sozial an Boden gewann und sich im parteipolitischen Spiel vor dem Hintergrund des allgemeinen Wahlrechts als vorteilhaft erwies. Schließlich bewirkte die Durchsetzung von kommunistischen Regimes alles andere als die Klärung des Sozialismusbegriffs, denn nun entstand infolge der Spaltung der Sozialisten in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel die Möglichkeit seiner beliebigen Verwendung, so daß er so unterschiedliche Dinge wie sozialstaatliche Tendenzen im Westen und nationalistische Diktaturen in der sogenannten Dritten Welt bezeichnen konnte. Angesichts dieses Zerfalls der politischen Ideologien, die ein Erbe des 19 Jh.s waren, muß erwartet werden, daß sich die künftige massendemokratische Politik auf neuer Basis gestalten wird, und zwar in engem Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der planetarischen Politik, deren Physiognomie nun ebenfalls allmählich Konturen gewinnt. Der Zusammenbruch der politischen Bewegungen, die sich auf den MarxismusLeninismus beriefen, wird diesen Prozeß beschleunigen, denn nun wird ein wichtiger Grund entfallen, der den polemischen Gebrauch des Vokabulars des 19. Jh.s und somit das Verbleiben bei der entsprechenden Gedankenwelt bedingte. So betrachtet ist es freilich eine optische Täuschung, den Zusammenbruch des Marxismus als Sieg des Liberalismus zu deuten. Vielmehr muß gesagt werden, daß mit dem Marxismus auch die letzten Überbleibsel bürgerlicher Weltanschauung die Bühne der Geschichte verlassen haben. Der Marxismus war ja die letzte große weltanschauliche Synthese, die sich in enger Berührung mit dem bürgerlichen Den292

ken herausbildete und dessen wesentliche Prämissen teilte: Ökonomismus und Humanismus gingen auch bei ihm Hand in Hand, und zwar vor dem Hintergrund einer Wahrnehmung der Welt, die sich vornehmlich an der Zeit bzw. an der Geschichte orientierte; der Anthropozentrismus schlug sich hier in der Vorstellung vom Menschen als Demiurgen im geschichtlichen Universum nieder. Indem der Marxismus die Mythen der Neuzeit beherzigte, blieb er ebensosehr wie die bürgerliche Weltanschauung dem substanzialistischen Denken verhaftet; seine Niederlage bedeutet daher, daß die analytisch-kombinatorische Denkfigur ihren letzten großen Gegner beseitigt hat. Das ist der wahre Sinn der postmodernen Rede vom „Ende der großen Erzählungen". Der Zerfall der politischen Ideologien des 19. und 20. Jh.s wird nicht das Ende der Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen, Nationen und Staaten herbeiführen - selbst das an sich höchst unwahrscheinliche Ende der Kriege in ihrer zwischenstaatlichen Form würde dies nicht tun können. Manche Politologen und Historiker lassen den Ausdruck „Zeitalter der Ideologien" nur für die Epoche gelten, die mit der Französischen Revolution anfing, wodurch sie suggerieren wollen, daß das Abtreten dieser Ideologien von der geschichtlichen Bühne eine dauerhafte oder gar zunehmende Abschwächung der Fanatismen und der Gegensätze bewirken werde; das „Ende der Ideologien" müßte daher schließlich in das „Ende der Geschichte" münden. Dazu ist zu bemerken, daß die Spaltung des ideologischen Bereichs in gegeneinander kämpfende Weltanschauungen keineswegs eine unentbehrliche Bedingung für die Entstehung und Austragung von Konflikten größter Intensität darstellt. Die ideologische Differenzierung, die die Differenzierung des sozialen Körpers in feindliche Gruppen oder Lager begleitet, kann sich innerhalb einer und derselben, von allen Seiten grundsätzlich akzeptierten Weltanschauung vollziehen; dann beruft sich jede Gruppe oder jedes Lager nicht auf die eigene selbständige Weltanschauung, sondern auf die eigene Interpretation der allgemein vorherrschenden. Dies ist übrigens das Muster, nach dem die sozialen Kämpfe vor dem „Zeitalter der Ideologien", also während der langen Jahrhunderte der societas civilis ausgetragen wurden. Aber selbst ein Verschwinden der Ideologien auf der 293

ganzen Linie und in allen Formen kann keineswegs automatisch bedeuten, daß mit ihnen auch die Konflikte verschwinden werden. Denn es sind wohl Konflikte auf nackter existenzieller Basis ohne jede ideologische Verbrämung denkbar, die vermutlich noch roher und unerbittlicher als die ideologisch motivierten wären; das „Ende der Ideologien" würde dann nicht das „Ende der Geschichte" in Richtung auf eine strahlende metageschichtliche Zukunft, sondern das Zurückwerfen der Geschichte in das primitive Stadium der elementaren existenziellen Auseinandersetzung zur Folge haben. Um genau zu sein, müssen wir hinzufügen, daß die Rede vom Ende der Geschichte in den letzten Jahrzehnten nicht etwa deshalb aufkam, weil sich die Frage real stellte, sondern weil sich aus den vorher vielfach erklärten Gründen die in der Massendemokratie vorherrschenden Denkkategorien an dem Raum und nicht mehr an der Zeit orientieren. Die unhistorische Denkweise hätte aber nur dann das Ende der Geschichte herbeiführen können, wenn Geschichte und Denken zusammenfallen würden. Es verhält sich indes umgekehrt: die unhistorischen Denkweisen haben ebensosehr wie die historistischen geschichtliche Wurzeln und Folgen. Wenn die Rede vom Ende der Geschichte einen realen Sinn haben soll, dann muß sie als Neuausgabe der liberalen Erwartung des 19. Jh.s verstanden werden, der Handel werde den Krieg ablösen und eine zwar emsige, aber friedliche Epoche einleiten. Dabei stellt sich freilich die Frage, warum denn dem Manager das gelingen dürfe, was der Bürger nicht hat erreichen können. Die lange und relativ friedlich aufsteigende Entwicklung von Industrie und Handel im 19. Jh. hat jedenfalls ein politisches Konfliktpotenzial gezeitigt oder wenigstens - wenn man diese kausale Erklärung nicht akzeptieren will - hat sie die Entstehung eines solchen Potenzials nicht verhindern können. Es wird oft angenommen, die Beschäftigung mit Technologie und Wirtschaft versachliche das Denken und lenke von der Verwendung unsachlicher bzw. katastrophaler Methoden und Mittel ab. Das ist an sich fraglich, aber auch davon abgesehen bleibt es Tatsache, daß, wie wir wissen, selbst die hochtechnisierte Massendemokratie nur funktionieren kann, wenn sich die technische Rationalität in ihr mit wesentlich 294

andersartigen Verhaltens- und Denkweisen verbindet, die sich oft gegen die „instrumentelle" Vernunft wenden. Dieser innere Widerspruch bildet einen möglichen Unruheherd, man kann sich aber auch eine andere Möglichkeit vorstellen: die Technologie und die damit zusammenhängende Entwicklung der Produktivkräfte, die heute noch wegen ihrer geschichtlichen Neuheit die Geister so sehr beschäftigen, könnten eines Tages teils zum Stillstand kommen, teils zu einer derart selbstverständlichen Grundlage oder Komponente des sozialen Lebens werden, daß sie Mentalität und Lebenseinstellung der Einzelnen ebensowenig beeinflussen wie etwa das Klima. Bei einem sehr hohen Produktivitätsniveau würde technische Rationalität zur Sache einer Minderheit werden, deren Funktion in der Gesellschaft sich mit jener der heutigen Landwirte vergleichen ließe, die den Uberfluß der Agrarprodukte auf den Markt bringen, ohne sonst einen beträchtlichen sozialen Einfluß auszuüben. In einem solchen Falle würde der Gegensatz zwischen technischer Rationalität und hedonistischer bzw. irrationalistischer Lebenseinstellung seine Schärfe oder auch seine Bedeutung ganz verlieren, und Konflikte würden sich auf einer anderen Basis austragen. Das soll nicht heißen, daß Konflikte, und zwar scharfe, nicht möglich oder wahrscheinlich sind, solange hedonistische Lebenseinstellungen vorherrschen. Es hat zwar den Anschein, als ob hedonistisch eingestellte Menschen zu Konflikten weniger neigen, in der Tat besteht aber zwischen dem, was eine Einstellung logisch impliziert, und dem, was ihre Vertreter dann tun, kein notwendiger Zusammenhang; rein logisch wäre ja die Behauptung ebenfalls unanfechtbar, asketische Menschen würden kaum Streit schüren, da sie weniger Güter als andere benötigten und daher weniger habsüchtig als andere wären. Das „Ende der Ideologien" bleibt auch aus einem anderen Grunde außerstande, den ewigen Frieden auf Erden zu stiften. Es wurde selbst unter Berufung auf bestimmte Ideale und Werte, also bestimmte Ideologeme beschworen, die ihrerseits interpretationsbedürftig sind und infolgedessen unter gegebenen Umständen zum Zankapfel werden müssen. Was Vernunft, Konsens oder Gerechtigkeit heißen soll, muß jedesmal von einer Instanz verbindlich definiert und inhaltlich konkretisiert werden. Der Ernst der 295

Lage wird bestimmen, ob der Streit um solche Begriffe schärfer sein wird als jener um die früheren Ideologien. Menschenrechte könnten eine höchst explosive Angelegenheit werden, wenn sie z.B. unter schweren ökologischen Bedingungen das Recht auf Luft und Wasser miteinschließen sollten. Man darf nicht darauf bauen, daß der Pluralismus, der heute noch als das Allheilmittel gilt, solche Gegensätze mildern oder in „vernünftigen" Grenzen halten wird. Pluralismus, d. h. Vielheit und Vielfalt gibt es nur da, wo eben Raum für Viele und Vieles vorhanden ist, und daher muß der Mangel an solchem Raum den Pluralismus als Prinzip und als Praxis beeinträchtigen oder aufheben. Der massendemokratische Pluralismus hat übrigens noch immer eine polemische Funktion, d. h. er wendet sich gegen das, was die Postmodernen den Totalitarismus der Vernunft nennen. In dem Maße, wie dieser verblaßt und in Vergessenheit gerät, wird Pluralismus auch aufhören, als Wert und Gut an sich empfunden und bewußt angestrebt zu werden - es hat ja auch sehr lange Zeiten in der Geschichte gegeben, in denen er als Übel betrachtet wurde. Dasselbe gilt für alle Werte und alle ideellen Mittel, die zur Auflösung der bürgerlichen Synthese aufgeboten wurden. Was aus ihnen wird, wenn sie ihre polemische Aufgabe ganz erfüllt und keinen handfesten Feind als Existenzberechtigung mehr haben, kann nur vermutet werden. Analogien aus der Vergangenheit zeigen jedenfalls, daß kein Begriff ohne Gegenbegriff lange Zeit Bestand haben kann. Die künftige soziale und geschichtliche Entwicklung muß sich also keineswegs nach den heute vorherrschenden Begriffen und Werten richten. Begriffe und Werte sind nicht Richtlinien, die dem Geschehen den Weg weisen, sondern Funktionen dieses Geschehens in all seinen Peripetien und Schwankungen. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, was bisher diesbezüglich gegolten habe, werde fortab nicht mehr gelten.

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Sachregister

Adel 45, 51, 52, 111, 185, 292 Ästhetik 56, 109, 243, 280 Ästhetizismus 60, 61, 62 Agnostizismus 33, 36, 39, 136, 283 Anthropologie 30 f., 32 f., 57, 80 ff., 91 f., 104, 135, 140, 145, 146, 148 f., 172, 178 Anthropozentrismus 46, 48, 137, 277, 290 f. Arbeit 65, 201 f., 204f. 220f., 231 Arbeitsteilung 192, 195 Architektur 107 ff., 265 ff. Atomisierung 174, 192ff., 196, 218, 235, 281 Atonalität 118ff. Aufrichtigkeit 212 Authentizität 212f. Automation 269, 271 f. Avantgarde 54ff., 63, 79, 227ff., 238 ff., 257, 260, 261, 283 Beruf 40 f., 196, 204 Bewegung 105, 116, 124ff. Bild 123, 126 f., 133 f., 240, 247ff. Bildhauerei 103 ff., 259 ff. Bildung 34, 44ff„ 78f„ 92, 215 Bohemien 66 Bürgerlichkeit 37, 51, 184f. Bürgertum 12f., 24, 37ff., 44f., 51 ff., 64, 111, 134f., 183f., 187f, 222, 292

Chromatik

116, 118

Dandy 65f. Dekadenz 60f., 66 Demokratie 171 f., 172f., 175 f., 179 Diskurs 280 f. Ehe 41 f. Eklektizismus l l l f . , 266, 267 Elite 174f., 199 ff. Entscheidung 145, 273 f. Erkenntnistheorie 33, 135, 137, 141 Ethik 33, 39, 60 f., 135, 137, 140f„ 145, 147, 177, 189f. Familie 42, 80, 170f., 193, 234 Farbe 93 ff., 102 f. Feld 160 f. Filmkunst 121 ff. Fixismus 33 Form 48, 62 f., 65, 77, 93 ff., 119, 239f., 253, 260f., 264 Fortschritt 33, 59, 60, 146, 278, 288 f. Freiheit 172, 176, 178 Freizeit 41, 203, 205 Funktion 16, 35f., 109, lllff., 138, 142, 156 Ganzes 15f., 23, 26f., 28, 46, 62, 67, 109, 153, 268 f. Gegenstand 94ff., 101, 102f., 105

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Genie 63 f. Geräusch 261 f. Geschichte 33, 140, 146f., 277 Geschichtswissenschaft 33, 46 Geschmack 252 Gesetz 186 Gewalt 233,235 Gleichberechtigung 218 f. Gleichheit 172, 174, 175 f., 178, 179, 195 ff. Gott 25f., 29, 33, 39, 43, 84f., 144 Güterknappheit 188 ff. Harmonie 16, 23, 26 ff., 46, 62, 67, 109, 111, 160f. Hedonismus 32, 190 f., 202 ff., 210ff., 230, 267, 280 Ich 82, 85, 141, 228, 256f. Individualismus 65, 112, 147, 169f., 172f., 174ff., 193, 208ff., 216 Jazz 66, 119 f. Job 201, 204 Jugend 221, 230f. Kausalität 17, 122, 162f. Kitsch 251 ff. Klassizismus 45, 46, 59, l l l f . Kombinatorik 16, 67ff., 76f., lOOff., 118, 139, 153, 225f., 242, 246f., 265f., 268ff., 274f. Kommunikation 5, 281 f. Konkurrenz 43, 51, 186 Konservativismus 171, 291 f. Konsum 182, 190, 191, 203 f., 204f., 222, 235, 240, 241, 242, 249

Konventionalismus 143, 148, 159, 273, 283 Krise 288 f. Künstler 47f., 64, 70f., 91, 240, 243 f., 247, 258 Kultur 29f., 44f., 51 f., 94, 247 ff. Kunst 47f., 61 ff., 68, 70f., 99f., 238 ff., 260 Kunstwerk 48, 62, 71, 240, 243 f., 245 f., 258 f., 260 Kybernetik 157, 268 ff. Leistung 196, 201 f., 204, 218, 235 f., 272 Liberalismus 12 f., 15, 169 ff., 207f„ 291 f. Logik 137, 141 ff. Lust 228 Lyrik 72 ff., 253 Malerei 90 ff., 258 f. Marxismus 292 f. Massendemokratie 13, 56, 63, 170, 188 ff., 226, 240, 281 Massengesellschaft 12 f., 170, 191, 202 Maßnahme 186 Materie 36, 160 Mathematisierung 270 f. Mechanisierung 181 f., 191 Melodie 117, 121 Mensch, s. Anthropologie, Anthropozentrismus Menschenrechte 209 f., 296 Metaphysik 35, 100, 135, 144f., 282 f. Mobilität 194f., 235, 275 Mode 203 f. Modell 269f., 273 298

Moderne 9ff., 54ff., 62, 238f., 257 f. Monismus 25 f., 29, 40, 279 Montage 127 ff. Museum 46 f. Musik 116ff., 261 ff. Mythus 54, 57, 60, 107, 137, 144 f., 276f., 279, 283

Privates, s. Öffentliches

Nachahmung 48, 59, 69, 88, 94, 107, 118 Natur 29 f., 32, 46, 94, 99, 135, 140, 144 Naturgesetzmäßigkeit 26ff., 32, 43, 138, 161 Naturwissenschaft 45 f., 135, 137, 157ff.

Säkularisierung 44 Schönheit 27, 28, 60 f., 95, 104f., 112, 252 Selbst 213 ff. Selbstverwirklichung 56, 58, 65, 176, 190, 209ff., 218, 228ff., 233, 247, 256, 266, 268, 279 Semiotik 275 serielle Komposition 263 Sexualität 80, 218ff., 233f. Sinn 224f., 257 Sozialismus 292 Soziologie 34, 144, 146ff., 277 Spiel 65, 204, 221, 236, 254 Sprache 73f„ 77f., 87f„ 142f.,

Öffentliches 42, 44, 92, 104, 178 ff., 200, 216f„ 234, 282 Öffentlichkeit 43 f. Ordnung 33 f., 59 Ornament 110 f. Persönlichkeit 41, 44, 78 f., 84, 86, 92, 213 f. Person 83 f., 85, 92, 177 f., 179, 256 Perspektive 102f„ 124, 159 Philosophie 33, 134ff„ 159, 279f. Photographie 92 Pluralismus 8, 51, 190, 203, 207, 220, 221 ff., 296 Politische Ökonomie 34 Pop Art 241 f. Populismus 199 ff. Postmoderne 9 ff., 227, 238 ff., 287 f. Pragmatismus 143 f., 148

Raum 17, 34ff., 71 f., 88ff., lOlff., 105 f., 112ff., 116, 121, 122, 130ff., 133, 149ff., 163ff., 226, 278 Relativismus 148, 203, 283 Roman 77ff., 254ff.

151 ff., 253ff., 274f., 276 Sprachwissenschaft 150ff., 274f. Staat 43 f., 146, 185 ff., 222 f. Stil 76, 88, 106, 109, 243 Struktur 153 f., 160, 276, 277 Strukturalismus 275 ff. Substanz 16, 35f., 78, 136f„ 137ff., 155f, 159 ff. System 268 f. Technik 54, 55f., 58f., 107f., 157, 182, 229f., 244f. Teil, s. Ganzes Theater (des Absurden) 257 Traum 58, 70, 74, 80, 122 f.

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Vernunft 5, 6, 8, 29f., 31 f., 38, 80 f., 147, 148 f., 189, 220, 221 Wirtschaft 42f., 184f. Wissenschaft 56f., 137, 145, 268, 283

Zeichen 154, 156f., 275, 276 Zeit 17, 34f., 41, 46, 7 1 f „ 88ff., 113, 122, 130ff., 149 ff., 163ff., 226, 277f.

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