Der Kompetenzmensch: Lernen – und das ein Leben lang [1 ed.] 9783896448538, 9783896731104

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Der Kompetenzmensch: Lernen – und das ein Leben lang [1 ed.]
 9783896448538, 9783896731104

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Lothar Wildmann

Der Kompetenzmensch Lernen - und das ein Leben lang

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wildmann, Lothar: Der Kompetenzmensch : Lernen - und das ein Leben lang / Lothar Wildmann - Sternenfels : Verl. Wiss, und Praxis, 2001 ISBN 3-89673-110-6

ISBN 3-89673-110-6

© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2001 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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vorab Welche Anforderungen stellen Wirtschaft und Gesellschaft an den modernen Menschen? Antwort auf diese Frage gibt das ,7-Kompetenz-Modell‘ (Was wir wissen und können sollen). Der heutige Kompetenzmensch definiert sich demnach durch Allgemeinbildung, Fachwissen, Interdisziplinarität, Intemationalität, So­ zialkompetenz, Methodenkompetenz und IT-Kompetenz.

Kompetenzen werden in einem Prozeß lebenslangen Lernens erworben. ,Lernen - und das ein Leben lang4 thematisiert im zweiten Teil zentrale Aspekte der aktuellen Bildungsdiskussion: Wettbewerbsfaktor Wissen, Recht und Pflicht auf Bildung, Erfolgssystem Berufsakademie, Konsumgut Weiterbildung, Schatz des Wissens, „Nutz- und Zwecklosigkeit“ von Wissen, Macht der Sekundärtugen­ den und Lernen ohne Ende. Zielgruppen sind Lehrende und Lernende, Lehrer und Schüler, Dozenten und Stu­ denten, Personalleiter und Auszubildende, Verantwortliche in der Weiterbildung und Seminarteilnehmer, kurzum alle, die am lebenslangen Lernen interessiert sind.

Hausen ob Verena, im Dezember 2000

Lothar Wildmann

7

Seite

Teil 1 Das „7-Kompetenz-ModelI“ oder: Was wir wissen und können sollen

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1 Kompetenzmodul Allgemeinbildung oder: Von allem nichts wissen?

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2 Kompetenzmodul Fachwissen oder: Ist der Experte ein Fachidiot?

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3 Kompetenzmodul Interdisziplinarität oder: Warum soll der Techniker den Kaufmann verstehen?

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4 Kompetenzmodul Intemationalität oder: Ist Englisch unser aller Muttersprache?

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5 Kompetenzmodul Sozialkompetenz oder: Stört das Handy?

43

6 Kompetenzmodul Methodenkompetenz oder: Muß Lernen Spaß machen?

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7 Kompetenzmodul IT-Kompetenz oder: Computerkompatibilität des Menschen?

61

8

Seite

Teil 2

Lernen - und das ein Leben lang! Drohung oder Verheißung? 1

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5

6

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Einstieg in den globalen Wettbewerb oder warum die wettbewerbliche Marktwirtschaft ethisch, effizient und demokratisch ist

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Wettbewerbsfaktor Bildung oder warum Bildung „zwecklos“ ist

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Duales (Aus-)Bildungssystem Berufsakademie oder warum die Berufsakademie die erfolgreichste Innovation in Baden-Württemberg ist

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Weiter mit der Weiterbildung oder warum Mitarbeiter „surfen“ dürfen

98

Macht und Ohnmacht der Sekundärtugenden oder warum kreativ unzuverlässig ist

103

Der Schatz des Wissens oder warum Wissen Ganzwertzeit ist

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Ausstieg ohne Ende in das lebenslange Lernen oder warum wir nicht für das Leben lernen

115

9

Teil 1

Das „7-Kompetenz-Modell“ oder: Was wir wissen und können sollen? „Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle oder im Forschungslabor. Sie beginnt im Klassenzimmer“ (Henry Ford L).

Qualifizierung, Wissen und Bildung gelten heute als wichtigste Ressourcen für unsere zukünftige Welt- und Wissensgesellschaft. Die Appelle der öffentlichen Meinungsfuhrer und Entscheidungsträger - man denke an Roman Herzogs Berli­ ner „Bildungsrede“ - an die Menschen, sich dem neuen Zeitalter zu stellen und die entsprechenden Qualifikationen zu erwerben, nehmen an Zahl und Dringlichkeit zu. Insbesondere für das Wirtschaftsleben werden entsprechende Anforderungen for­ muliert. Beispielhaft seien einige dieser Forderungen zitiert:

• „Es sind vor allem soziale Kompetenz, interdisziplinäres Denken und kulturel­ les Wissen, was wir in die Betriebe tragen sollen.“ (Untemehmensberatung). • „Ingenieure ohne soziale Kompetenz, Ausländserfahrung und umfassende All­ gemeinbildung sind nicht mehr gefragt.“ (Verein Deutscher Ingenieure).

• „Wissen um politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse sind ein Muß.“ (Carl Duisberg Gesellschaft). • „Leistungsbereit und hoch motiviert, kooperativ und kommunikativ, mit viel Erfahrung und Professionalität - so sieht der ideale Mitarbeiter aus.“ (Stellen­ anzeigenanalyse des Bundesinstituts für Berufsbildung BIBB im Jahre 1999). Die Qualifikations-Empfehlungssliste könnte beliebig verlängert werden. Kein Hochschultag, keine Bildungsveranstaltung, kein Untemehmerkongreß gehen vor­

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über, wo nicht das „Hohelied“ auf spezielle Schlüsselqualifikationen und die Wis­ sensgesellschaft im Allgemeinen „gesungen“ wird.1 Die Anforderungen, die Gesellschaft und Wirtschaft an die zukünftigen Mitarbei­ ter und Manager stellen, sind enorm und mit einem hohem Erwartungsdruck ver­ bunden. Sie sind vielschichtig und sie vermitteln den Adressaten - sofern sie sich die Bandbreite an wünschenswerten Kompetenzen vor Augen halten - das Bild der „eierlegenden Wollmilchsau“. Trendthemen bzw. Schlüsselqualifikationen wie Sozialkompetenz oder Teamfähigkeit stehen in der Diskussion um die angeblich wichtigsten Kompetenzen hoch im Kurs. Weniger präsent ist das Hinterfragen dessen, was unter solchen Qualifikationen zu verstehen ist und eine tiefergehende Reflexion der mit diesen Anforderungen für den Einzelnen und im besonderen für eine (Wirtschafts-)Gesellschaft verbundenen Konsequenzen.

Welches sind nun die wichtigen und vielleicht auch unwichtigen Qualifikationen im postulierten Wissenszeitalter? Was ist unter diesen Qualifikationen zu verste­ hen? Ist das „lebenslange Lernen“ eine Forderung oder schon eine Diagnose unse­ res Zeitalters. Und ist mit dieser Lemenslebenslänglichkeit Drohung oder Verhei­ ßung verbunden? Wenden wir uns zuerst den Anforderungen seitens der Wirtschaft bzw. Gesell­ schaft an den heutigen Menschen zu. Betrachtet man die Anforderungen aus Sicht der Adressaten, so handelt es sich um Kompetenzen, mit denen der perfekt (aus-) gebildete Mensch ausgestattet sein sollte, um in Zukunft zu überleben und vor al­ lem erfolgreich leben zu können. Der zukünftige Mensch definiert sich nicht mehr allein als homo sapiens, als wissender bzw. weiser Mensch, sondern als homo discens, als lernender Mensch, als Mensch, der sich Kompetenzen aneignet, als Kompetenzmensch.

Die sieben Kompetenz-Module Wie sieht der Kompetenzmensch aus? Welche Eigenschaften sind ihm zuzuschrei­ ben? Eine Analyse und Systematisierung des modernen Anforderungskataloges läßt bestimmte Muster und damit Kompetenzmodule erkennen, die einen Kompe­ tenzmenschen charakterisieren.

1 Im Zusammenhang mit dieser Thematik wird oft ein anderes Problem gerne mit vereinnahmt, nämlich das Ar­ beitslosenproblem. Man argumentiert nämlich, dass Minderqualifikation zu Arbeitslosigkeit fuhrt und zieht daraus den zweifelhaften Umkehrschluß, dass Qualifikation automatisch Arbeitsplatzsicherheit bedeute.

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Unser Kompetenzmensch ist:

• • • • • • •

allgemeingebildet fachkompetent (kemkompetent) interdisziplinär und integrativ (vemetzungskompetent) international und global sozial kompetent und emotional intelligent (teamkompetent) methodenkompetent IT-kompetent

Das „7-Kompetenz-Modell“

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Erläuterungen zu den einzelnen Kompetenzmodulen: Allgemeinbildung: Allgemeinbildung bedeutet Grundlagenwissen in dem Sinne, dass man von allem etwas weiß. Vor allem aber heißt Allgemeinbildung Sprach-, Verständigungs - und Reflexionsfähigkeit. Gleichermaßen verlangt und verpönt ist diese Kompetenz.

Fachkompetenz (Kernkompetenz): Vertiefungswissen in dem Sinne, dass man von manchem etwas mehr weiß. Schwerpunktsetzung und Vertiefung charakteri­ sieren dieses Kompetenzmodul, im positiven Fall Spezialistentum und im negati­ ven Fachidiotie.

Interdisziplinarität (Integrativität): Beschäftigung mit anderen Wissensgebie­ ten, sowie Grenzüberschreitung und das Wiederherstellen eines Ganzen, zumin­ dest der Versuch der Schnittstellenbildung. Interdisziplinäres Denken korrespon­ diert mit entsprechendem Handeln und dieses Handeln heißt Kommunikation und Kooperation mit Menschen anderer Fakultäten und Abteilungen. Das Team tritt an die Stelle des Einzelnen und Kooperation dient als Hoffnungsträgerin im Zeitalter der globalen Konkurrenz. Das Kompetenzmodul der Internationalität (Globalität) steht im engeren Sinne für das Erlernen von Fremdsprachen und im weiteren Sinne für das Verstehen und Erfahren von interkulturellem Leben und Management. Fremdsprachenkompetenz und Fremdkulturempathie fundieren das Leben in der Weltgesellschaft und im Weltuntemehmertum.

Sozialkompetenz und emotionale Intelligenz: Beziehungsfähigkeit und Herzin­ telligenz gehören zu den Favoriten der modernen Kompetenzmodule. Dies rührt daher, dass Bildungs- und Berufsexperten der Sozialkompetenz eine Türöffner­ funktion - deshalb Schlüsselqualifikation - in die Welt der beruflichen Arbeit und der Karriere bescheinigen.

Nachdem in früheren Zeiten das Auswendiglernen von Gedichten und Vokabeln en vogue war, scheint „Büffeln und Pauken“ heutzutage „megaout“. An die Stelle des puren Lernens tritt das Lernen des Lernens, auch Meta- oder Deutero-Lemen genannt. Nicht der Inhalt, sondern Methoden wie Experimentieren und Problemlo­ sen, erfahren einen Bedeutungszuwachs und umschreiben das Anforderungsmodul der Methodenkompetenz.

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IT-Kompetenz2 als Computer-, Internet- und multimediale Vernetzungskom­ petenz prägt unsere Zeit und verleiht ihr den Charakter der Revolution, des Um­ bruchs und des Übergangs vom Industriezeitalter in die Dienstleistungsepoche und den Eintritt in das Informations- und Kommunikationszeitalter. DV-Fähigkeit und Computerkompatibilität sind selbstverständliche Bildungsinhalte, wenn sie auch noch nicht überall mit aller Selbstverständlichkeit vermittelt werden. Vielleicht sind computerlose Schulen in der selben Art zu entschuldigen, wie es an der Schule auch kein Fach „Telefonieren“ oder „Fernsehen“ gibt. Ansonsten liegt das Stadium Computer als effizienter Einzelarbeitsplatz zwischenzeitlich weit hinter uns. Die Vernetzung der Netze liefert das große Zukunftsthema. Vom Intemetsurfen bis zur multi- und intermedialen Nutzung von Kommunikationsmedien wie Handy und Laptop reicht die Bandbreite des Weltennetzwerkes.

2 Das Kürzel ,IT‘ steht für Informationstechnologie.

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1

Das erste Kompetenzmodul - Die Allgemeinbildung oder: Von allem nichts wissen?

Dass es um die Allgemeinbildung schlecht bestellt sei, beklagen nicht nur Perso­ nalleiter in Unternehmen, sondern auch Politiker, Bildungsexperten und Menschen die danach gefragt werden. Erstaunlicherweise wird der Mangel am Gut Allge­ meinbildung selten sich selbst zugestanden, sondern dem Rest der Ungebildeten. Zwischenzeitlich sind mir so viele Menschen begegnet, die alle anderen im Ge­ gensatz zu sich selbst für ungebildet halten, dass man davon ausgehen muß, dass wir doch ein allgemeingebildetes Volk sind - unter der Voraussetzung natürlich, dass den Klagenden und Mahnenden tatsächlich eine ausreichende Allgemeinbil­ dung zugesprochen werden kann. Im übrigen gehen nach einer Umfrage 77% der Bundesbürger davon aus, dass sie eine gute Allgemeinbildung besitzen.3

Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ein Großteil der Bevölkerung die Allgemeinbildung als Eigenkompetenz betrachtet, wird auch auf die herausragen­ de Bedeutung des Phänomens Allgemeinbildung hingewiesen. Meist wird die All­ gemeinbildung an erster Stelle genannt, wenn es um die Frage nach den wichtig­ sten Anforderungen hinsichtlich eines erfolgreichen Berufslebens geht. Die Studie „Was bleibt vom Abitur?“, welche vom „Forum Universität Gymnasium“ in Bay­ ern durchgeführt wurde und bei der im Rahmen einer Diplomarbeit 6.500 Studen­ ten zur Qualität der reformierten Oberstufe für ein Studium befragt wurden, be­ legt, dass als Garanten für ein erfolgreiches Studium eine umfassende Allgemein­ bildung sowie fächerübergreifende Zusatzkompetenzen gelten.4 Und auch der Landesvater des Bundeslandes, das die höchste Dichte an Bildungseinrichtungen in Deutschland aufweist, der Baden-Württemberger Erwin Teufel läßt sich zitie­ ren: „Es ist verhältnismäßig einfach, aus einem gebildeten Menschen einen Spe­ zialisten zu machen, aber es ist schwierig, aus einem Spezialisten einen gebildeten Menschen zu machen“.

Der allgemeinen Bildung ist gegenüber den anderen Kompetenzen ein Vorrang einzuräumen, denn die Allgemeinbildung bildet die Grundmasse, aus der dann die spezielle, die fachlich enge Bildung extrahiert werden kann. Allgemeinbildung ist Fundament für weiteres Detailwissen.

3 Nach einer Forsa-Umfrage (Basis: 1.019 Befragte) im Auftrag des Stern haben 77% der Befragten auf die Frage „Haben Sie eine gute Allgemeinbildung?“ mit „Ja" geantwortet. 4 Als fächerübergreifende Zusatzkompetenzen werden „eigenverantwortliches Arbeiten“, „Wichtiges von Unwich­ tigem unterscheiden“ und „sich motivieren“ genannt. Staatsanzeiger Baden Württemberg, 11.05.1998, S. 12.

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Allgemeinbildung als erstrebenswertes und sehr bedeutendes Gut zu betrachten, findet allgemeinen Konsens. Antworten auf die Frage, was unter Allgemeinbil­ dung zu verstehen ist, erweisen sich jedoch als schwierig und erscheinen häufig uneinheitlich. Naive und hilflose Bemühungen, Allgemeinbildung durch einen Fragekanon zu definieren, finden sich allerorten in den Medien; doch dazu später.

Was ist Allgemeinbildung? Läßt sich Allgemeinbildung definieren? Ist Allgemeinbildung überhaupt etwas, das man besitzen kann? Läßt sich Allgemeinbildung sogar messen? Gibt es Perso­ nen oder Institutionen, die dazu berechtigt sind, Allgemeinbildung zu definieren? Steht die Allgemeinbildung in einem bedingenden Zusammenhang mit unserem Weltbild, unserem gesellschaftlichen Verständnis, mit unserer Tradition? Inwie­ fern ist Allgemeinbildung zeit- und ortsabhängig? Zur ersten Frage: Was ist Allgemeinbildung? Sich mit dieser Frage zu beschäfti­ gen und vor allem andere Menschen damit zu beschäftigen, ist äußerst reizvoll. Eine Fülle von Antwortversuchen und Anregungen prägen die Diskussion.5 Eine Analyse der verschiedenen Anworten, also der „Bestandteile“ oder Wesenszüge von Allgemeinbildung, läßt drei unterschiedliche Betrachtungsebenen erkennen.

Pragmatischer Bildungsbegriff Die erste Perspektive im Hinblick auf die Allgemeinbildung kann als die pragma­ tische bezeichnet werden. Allgemeinbildung ist damit zu begründen, dass wir ein bestimmtes Grundwissen benötigen, um überleben zu können, um existieren zu können. Wenn in weit zurückliegenden Zeiten das Überlebenswissen beispielswei­ se darin bestand, dass man wußte, wie ein Hirsch zu fangen, zu zerlegen und zu­ zubereiten war, besteht das heutige Existenzwissen darin, dass wir lesen, schreiben und rechnen können (wobei die PC-Bedienung als selbstverständliches und not­ wendiges Wissen hinzukommt).

Was also damals das Hirschzerlegen war, ist heute das Ausfullen der Steuererklä­ rung, eine pragmatisch existentielle Qualifikation. Doch dann wäre es wahr­ 5 So beschreibt zum Beispiel die Bildungsministerin von Baden-Württemberg, Annette Schavan, in ihrem Beitrag „Verpflichtung und Anspruch - Bildungskanon und lebenslanges Lernen“ drei Kategorien der Bildung: 1. Erwerb grundlegender Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben. Rechnen und auch Computerkenntnisse, 2. Erwerb von Grundlagen im Blick auf Wissen und Kompetenzen bzw. berufliche Qualifikationen, 3. Reflexion, Vertiefung und Spezialisierung (lebenslanges Lernen), veröffentlicht in Forschung & Lehre, 4/1999, S. 172-174.

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scheinlich schlecht um unsere Allgemeinbildung bestellt, zumindest was die Steu­ ererklärung anbelangt!? Spaß beiseite, Allgemeinbildung heißt in diesem pragma­ tischen Sinne das Beherrschen der Kulturtechniken, also letztlich den Umgang mit Sprache, das Ermöglichen von Kommunikation auf einem einfachen, existentiellen Niveau. Bewußt spreche ich in diesem Zusammenhang von Kultur/ecAnzte«, um zum Ausdruck zu bringen, dass hier nicht eine Reflexion dieser Kulturmerkmale im Mittelpunkt steht. Wir bewegen uns auf einer „niedrigen“ Kulturebene, die nur das Notwendigste des Miteinanders beinhaltet, also Techniken der Sprache, Buch­ staben, Worte, Sätze, Zahlen, Symbole, Verknüpfungen: Ein Grundwortschatz der Verständigung. Ein Bildungsbegriff, den Nüchternheit und Pragmatismus prägen. Notwendig für das Existentsein, aber bei weitem nicht hinreichend für ein reflek­ tiertes und interessantes Miteinander- und Menschsein.

Lexikalischer Bildungsbegriff

Allgemeinbildung als lexikalisches Wissen aufzufassen, kommt dem Verständnis von „allgemeiner“ Bildung im Sinne einer generellen, die verschiedensten Wis­ sensgebiete umfassenden, Bildung recht nahe. Allgemeinbildung bedeutet Grund­ lagenwissen bzw. Querschnittswissen, angefangen von der Astronomie, der Ster­ nenlehre, bis hin zur Zytologie, der Zellenlehre. Allgemeinbildung besteht also darin, dass man von möglichst vielen Gebieten möglichst viel weiß. Allgemeinbil­ dung in Perfektion würde bedeuten, das ganze in einer Enzyklopädie niederge­ schriebene Wissen parat zu haben. Allgemeinbildung ist somit als lexikalischer oder enzyklopädischer Wissensbegriff aufzufassen.

Ein allgemeingebildeter Mensch vermittelt ein umfassendes Bild des geschichtli­ chen, aktuellen und relevanten Wissens. Erhöhung der Allgemeinbildung hieße dementsprechend Vermehrung des Grundlagenwissens - manche sprechen auch abwertend von „Vorratswissen“ - und, sollte es nicht zu sehr in das Spezielle füh­ ren, auch Vermehrung von Fachwissen. Die Frage, ob ein lexikalisch wissender Mensch ein reflektierender und begreifen­ der, ein hinterfragender und zweifelnder Mensch ist, ein Mensch, der von sich sa­ gen kann, dass er weiß, dass er nichts wisse, führt uns zur dritten Betrachtungse­ bene und zum transzendenten Bildungsbegriff.

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Transzendenter Bildungsbegriff Eine transzendente Allgemeinbildung bedeutet nicht allein das Haben von Wissen, sondern vor allem die Reflexion von Wissen: Warum weiß ich? Wozu weiß ich? Es sind Fragen, die sich auf der Metaebene bewegen, wobei der Fragende sich selbst als Wissender und Fragender beobachtet. Auf dieser Betrachtungsebene sto­ ßen wir unvermeidlich auf die Sinnfragen, auf die „letzten“ Fragen wie: Warum sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Oder um mit Martin Heidegger, dem großen Philosophen dieses Jahrhunderts, zu fragen „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“

3-Ebenen-Modell der Allgemeinbildung [Die Bildungspyramide]

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Das Entscheidende hierbei liegt nicht so sehr in den Anworten, sondern im Fragen selbst, im Hinterfragen, im Begreifen. Ein gebildeter Mensch in diesem Sinne stände uns nicht nur als wissender Mensch, sondern vor allem als fragender und lernender, als weiser Mensch gegenüber, als Freund der Weisheit und Wahrheit, sprich als Philosoph. Die Philosophie und ihre schwesterlichen Weisheitsgebiete wie die Theologie als Gotteslehre und die Anthropologie als Menschenlehre um­ fassen die Betrachtungsebene der transzendenten Bildung. Letztlich handelt es sich um eine Bildung der Bildung, eine Wissenschaft der Wissenschaft, ein selbst­ bezügliches Erkennen und Handeln. Da der Mensch die menschlichen Begriffsund Handlungsgrenzen zu überschreiten versucht, liegt in diesem Erkennenwollen ein göttliches Verlangen, das auch ins dämonisch Abgründige fuhren kann. Goe­ thes Faust ist uns diesen Weg vorangegangen: Vollständige Erkenntnis aller Dinge und das Sehen aller Orte und aller Zeiten in einem sehenden Blick, all dessen, was bisher von Menschen gedacht wurde und in Zukunft gedacht werden wird, Allwis­ senheit als göttliches Merkmal neben der Allmacht, Ewigkeit und der Allliebe.6

Institutioneile Perspektive der Allgemeinbildung Dem inhaltlichen Drei-Ebenen-Modell der Allgemeinbildung folgt nun ein weite­ rer Ansatz, Allgemeinbildung abzugrenzen, einzugrenzen und zu erfassen, und zwar der institutionelle Ansatz. Allgemeinbildung ließe sich definieren, indem wir die Institution analysieren, die als die eigentliche allgemeinbildende Institution angesehen wird, nämlich die Schule. Dass unsere Gesellschaft die Schule als die Trägerin und Vermittlerin von Allgemeinbildung betrachtet, zeigt sich am Attribut „allgemeinbildend“, mit dem die Institution „Schule“ versehen wird. Die Schule und im Besonderen das Gymnasium verkörpern die allgemeinbildungsstiftende Institution schlechthin! Das gegliederte (Hoch-) Schulsystem würde auch mit dem zuvor beschriebenen 3-Ebenen-Modell der Allgemeinbildung korrespondieren. Die pragmatische Bil­ dungsebene paßt zur Grundschule, wo in erster Linie die Kulturtechniken des Le­ sens, Rechnens und Schreibens vermittelt werden. Mit zunehmender Intensität entsprechen Haupt-, Realschule und besonders das Gymnasium der lexikalischen Bildungsebene. Eine Vielzahl von Fächern soll einen breiten Wissensfundus er­ möglichen. Nimmt man die Hochschulen hinzu, sollten diese zumindest vom An­ 6 Im Hinblick auf dieses babylonische Streben ist anzumerken, dass höhere Weihen des Wissens und der Bildung keineswegs ein höheres ethisches Bewußtsein bewirken müssen. Landläufig gesagt, muß ein gebildeter Mensch nicht gleichzeitig ein besserer Mensch sein. Charakter und Persönlichkeit korrespondieren nicht mit Bildung und Wissen.

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spruch her die dritte Ebene der Reflexion und Transzendenz repräsentieren, also ein tiefes, fragendes Einsteigen in die Welt der Wissenschaft.7 Akzeptieren wir an dieser Stelle die Schule als Trägerin und Vermittlerin von All­ gemeinbildung, ungeachtet der Diskussion um die Aktualität und Relevanz be­ stimmter Fächer, sind für ein Erfassen von Allgemeinbildung die Lehrpläne maß­ geblich. Beispielhaft sind der Lehrplan einer Grundschule sowie eines Gymnasi­ ums angeführt.

Beispiel Grundschule Hausen ob Verena

In der Grundschule Hausen ob Verena werden folgende Fächer vermittelt: Deutsch Religion Musik Bildende Kunst / Textiles Werken

Mathematik Heimat- und Sachkunde Sport

Daneben werden die Arbeitsgemeinschaften Englisch, Computer, Chor und Thea­ ter angeboten.

Beispiel Gymnasium Spaichingen Das Gymnasium Spaichingen kann seit dem Jahr 2000 verschiedene Bildungsgän­ ge und Profile anbieten.

1 .) In der Klasse 5 besteht die Wahl zwischen folgenden Bildungsgängen: • G 9 normal: neunjähriger normaler Bildungsgang • G 9 bilingual: neunjährig mit verstärktem Englischunterricht • G 8: achtjährig mit verstärktem Englischunterricht 2 .) In der Klasse 7 kann zwischen Französisch und Latein als zweiter Pflicht­ fremdsprache gewählt werden.

7 Der Aspekt der Reflexion und Transzendenz wird zugunsten der unmittelbar beruflichen Ausrichtung des

(Hoch-)Schulwesens abgewertet.

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3 .) In der Klasse 9 kann zwischen naturwissenschaftlichem und sprachlichem Pro­ fil gewählt werden.

Folgende Fächer stehen auf dem Stundenplan:

Religion/Ethik Deutsch Erdkunde Geschichte Gemeinschaftskunde Englisch Zweite Fremdsprache: Französisch/Latein Spanisch Mathematik

Naturphänomene Physik Chemie Biologie Naturwissenschaft!. Praktikum Sport Musik Bildende Kunst

Verschiedenste Wahlmöglichkeiten bestehen zudem im Bereich der Arbeitsge­ meinschaften: Instrumental AG Lehrer-Schüler-Chor Sing- und Spielkreis Latein AG 8 Latein AG 9 Latein AG 10 Französisch AG

Theater AG Lernen lernen Informatik AG Badminton Anfänger Badminton Fortgeschrittene Basketball AG

Die in den Gymnasien gelehrten und gelernten Fächer sind nicht unumstritten. Dies zeigen die Bemühungen um die reformierte Oberstufe an den Gymnasien und die Reformierung der Reform. Im Vordergrund stehen Fragen nach der Bedeutung und Gewichtung bestimmter Fächer. In welcher Quantität und mit welchem Ni­ veau sind beispielsweise Deutsch und Mathematik anzubieten? Weiter geht es um die Frage, ob bestimmte Fächer - man denke an Wirtschaft oder Jura - in den Schullehrplan aufzunehmen sind und damit verbunden andere Fächer entfernt bzw. „degradiert“ werden müßten. Wieviel Wahlfreiheit soll den Schülern als den Empfängern von Allgemeinbildung zugesprochen werden? Muß ein bestimmter Fächerkanon, zum Beispiel Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache oder ein naturwissenschaftliches Fach für alle verpflichtend betrachtet werden?

Neben der inhaltlichen Betrachtung, ist die Vermittlung des Inhalts zu beachten. Nicht mehr der Inhalt selbst, sondern die Methode der Vermittlung wird in zu­

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nehmendem Maße als vorrangig angesehen, mit der Folge, dass die Bedeutung der Art der Vermittlung von Wissen, zum Beispiel das teamorientierte Experimentie­ ren, meist höher eingestuft wird als die Bedeutung von Wissen an sich. Das Ler­ nen des Lernen erfährt eine höhere Wertschätzung als das Lernen selbst.8 Definiert man Allgemeinbildung ausschließlich über die Inhalte, die an der allge­ meinbildenden Institution Schule vermittelt werden, lassen sich die Kultusministe­ rien der verschiedenen Bundesländer - bei uns in Baden-Württemberg angeführt von der Kultusministerin und Reformerin Annette Schawan - als Defmierer, Be­ hüter und Beherrscher der Allgemeinbildung bezeichnen. Diese gewichtige Rolle wird jedoch in Frage gestellt. In der Diskussion ist eine stärkere Orientierung der schulischen und besonders der hochschulischen Bildung an den Anforderungen des Wirtschafts- und Berufsleben, was wiederum ein stärkeres Eindringen und Einmischen der Wirtschaft in die Bil­ dungslandschaft bedeutet. Die Klagen von Seiten der Wirtschaft über mangelnde oder aus ihrer Sicht falsche schulische Bildungsinhalte sind bekannt und öffent­ lichkeitswirksam. Dass es mit dem Bildungsniveau schließlich nicht zum Besten bestellt sein soll, versuchen in Mode gekommene Umfragen zu belegen. Beispiel­ haft möchte ich zwei Umfragen anfuhren.

„Testen Sie Ihre Allgemeinbildung“ (Bildungs-)Meinungsforschungsinstitute analysieren unsere Allgemeinbildung, indem sie anhand von Fragekatalogen das Bildungsniveau messen wollen. Diese meist amüsanten und manchmal auch interessanten Befragungen und Bewertungen zum Thema Allgemeinbildung erfolgen oft im Auftrag von Medien und werden zur Zeit gerne veröffentlicht. Eine dieser Umfragen wurde vom Ifep-Institut in Köln durchgefuhrt, wobei vierzig Fragen ausgedacht, formuliert und an Schüler gerichtet wurden.9 Das Ergebnis der Befragung sollte nicht verwundern: Schüler haben ein schlechtes Allgemeinwissen! Interessanter als das von den Befragern und den Veröffentlichem erwartete Ergeb­ nis ist jedoch die Auswahl der Fragen. Mit folgenden Fragen hatten sich die aus­ gewählten Schüler zu befassen:

8 In Kapitel 6 „Methodenkompetenz“ wird ausführlicher auf diese Thematik eingegangen. ’ Umfrage des Ifep-Instituts in Köln, Befragung von Mädchen und Jungen im Alter von 14 bis 16 Jahren; veröf­ fentlicht im Stern, 03/1999.

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Wer wählt den Bundeskanzler? Wer waren die Supermächte im kalten Krieg? Wer hat ‘Mutter Courage’ geschrieben? Wer hat das deutsche Reich gegründet? Von wem ist das Pop-Album »Thriller*?10

Bemängelt wurde, dass zwar 75% der Schüler Michael Jackson als Interpret des »Thriller* nennen konnten, aber weniger als 50% wußten, dass Gerhard Schröder vom Bundestag zum Bundeskanzler gewählt wurde.11

Wenn man eine Befragungsbasis von 102 Lehrern ernst nehmen kann, müssen sich auch die, die neben den Eltern für den Bildungsstand ihrer Schüler verantwortlich sind, nämlich die Lehrer, Lücken in der Allgemeinbildung zuschreiben lassen. Manche Lehrer hatten nicht nur mit dem Prozentrechnen ihre Schwierigkeiten. Folgende Fragen wurden gestellt:

• • • •

Wieviel ist 36% von 120? Wo ist der Sitz des Europaparlaments? Welches sind die zwei wichtigsten Bestandteile der Luft? Welches Ereignis datiert am 3. Oktober?12

Die Frage zu diskutieren, ob das Wissen um den Autor der »Mutter Courage* die Allgemeinbildung fordert, ist letztlich müßig. Das Phänomen Allgemeinbildung läßt sich nicht über einen Fragenkatalog definieren, wenn es auch verführerisch scheint, sich des Definitionsproblems auf eine solch einfache Weise zu entledigen. Allgemeinbildung ist kein statischer und starrer Inhaltskanon und ein mehr oder weniger willkürliches Fragen-Antworten-Spiel. Unsere allgemeine Bildung äußert sich in einem Ringen um menschliche Existenz und Sinnhaftigkeit, eingebunden in einen Kulturkreis wie dem der abendländisch christlichen Kultur. Es geht um die wissenschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, religiösen, politischen, ge­ sellschaftlichen Fundamente unseres Lebens. Insofern ist Allgemeinbildung rela­ tiv. Goethe und Schiller nicht zu kennen, gälte als blamabel, aber Tagore nicht zu kennen, erschiene sicherlich weniger peinlich.

Aufschlußreichere Ergebnisse und Erkenntnisse verschafft uns eine weitere, vom Forsa-Institut durchgeführte, Befragung.13 Im Rahmen dieser Untersuchung wur­ 10 Bundestag; USA und UDSSR; Brecht; Bismarck: Michael Jackson. 11 Was nicht heißt, dass nicht auch Michael Jackson zum heutigen Bildungsgut gehört!? 12 36; Straßburg; Stickstoff und Sauerstoff; Wiedervereinigung. 13 Umfrage von Forsa auf Basis von 1.019 Befragten, ebenfalls veröffentlicht im Stern 40/1999.

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den zwar ebenfalls Wissensfragen gestellt, doch zuerst wurde geprüft, ob be­ stimmte Wissensgebiete überhaupt als allgemeinbildungsrelevant zu bewerten sind. Zum Beispiel bejahten nur 32 Prozent der Befragten die Literatur als zur All­ gemeinbildung gehörend. Im Gegensatz dazu wurde die Politik von 61% der Be­ fragten als allgemeinbildungsrelevant angesehen. Gefragt wurde schließlich auch nach dem Sinn von Allgemeinbildung: „Wozu braucht man eine gute Allgemeinbildung?“. Aus Gründen des beruflichen Erfolgs nannten 31% als Antwort. Eine weitaus geringere Quote ergab sich bei der Frage nach gesellschaftlichem Ansehen durch Allgemeinbildung. Nur 6% sehen hier ei­ nen Zusammenhang. Die im Kapitel »transzendenter Bildungsbegriff beschriebe­ ne Reflexionsbereitschaft und -Fähigkeit wird stark gewichtet. 58% der befragten Personen bejahten, dass man Allgemeinbildung in erster Linie brauche, „um zu verstehen, was heute in der Welt passiert“. Doch nun zu den Fragen aus elf verschiedenen Wissensgebieten.

• • • • • • • • • • •

Politik: Wie heißt die Hauptstadt der Bundesrepublik Jugoslawien? Weltgeschichte: Wie hieß der erste Präsident der USA? Computer und Internet: Wie bezeichnet man die elektronische Post? Literatur: Wie hieß die weibliche Hauptfigur in Goethes „Faust“? Klassische Musik: Wer komponierte „Die Zauberflöte“? Bildende Kunst: Wer malte das Bild „Mona Lisa“? Englische Sprache: Wie lautet die Übersetzung von „May I introduce myself*? Deutsche Geschichte: Wann begann der erste Weltkrieg? Wirtschaft: Wie lautet die Abkürzung für den Deutschen Aktienindex? Naturwissenschaft: Wie lautet die chemische Formel für Kohlendioxid? Mathematik: Wie lautet die Quadratwurzel aus 16?14

Diese Fragen sind sicher nicht im Sinne von obligatorischen Bildungsgeboten zu verstehen, aber sie könnten als klassische Aufgabenstellungen unserem Bildungs­ fundament angehören und beinhalten somit doch einen Hauch von Allgemeinbil­ dung. Die inhaltliche und institutioneile Perspektive wird schließlich durch die funktio­ nale Betrachtungsweise vervollständigt. Nicht über die Frage „Was ist Allgemein­ bildung?“ nähren wir uns dem Verständnis von Allgemeinbildung, sondern über 14 Die Lösungen lauten: Belgrad; Washington; email; Gretchen; Mozart; Leonardo da Vinci,

Darf ich mich Ihnen vorstellen?; 1914; DAX; CO2; 4.

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die Frage „Welcher Sinn ist mit Allgemeinbildung verbunden?“. Allgemeinbil­ dung wird funktional interpretiert, wobei das Inhaltliche in Wechselwirkung mit der Funktion steht.

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt/6 Im Fächerkanon, dem die verschiedensten allgemeinbildenden Bildungsinhalte angehören (siehe Schulfächer und Forsa-Fragen), lassen sich einige wenige Fächer als „Fackelträger“ bestimmen. Ohne diese Grundlagenfächer wären alle anderen Fächer nicht vermittelbar. Welches sind nun diese entscheidenden Fächer? Schau­ en wir uns an, welche Fächer in Baden-Württemberg und Bayern in der gymnasi­ alen Oberstufe als Fundamentalfächer eingestuft werden. Es sind dies Deutsch und Mathematik. Hinzu kommt je nach Ausrichtung des Gymnasiums das Fach Fremdsprache oder ein naturwissenschaftliches Fach.

Den Fächern Deutsch und Mathematik - wir beschränken uns auf diese zwei Fun­ damentalfächer - liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit zugrunde. Beide Fächer sind Sprachen. Deutsch ist unsere Muttersprache. Während nun die heimischen und die fremden Sprachen auf den Symbolen der Buchstaben, Worte und Sätze und deren Verknüpfungen aufbauen, basiert die Sprache der Mathematik auf den Symbolen der Ziffern, Zahlen und deren Verbindungszeichen. Die Mathematik als Zahlensprache ist die universale Weltsprache. Ohne Zahlen könnten wir keine Uhrzeit lesen und kein Fußballergebnis verstehen. Das Erlernen von Deutsch und Mathematik heißt nichts anders als Sprechen lernen und das sich Verständigen können mit anderen Menschen. Und diese Basiskom­ petenzen sind ihrerseits Voraussetzung für das Erlernen und Verstehen der ande­ ren Fächer, wobei auch diese Fächer wiederum Sprachen im Sinne von Fachspra­ chen sind.

Mit dem Erlernen der Sprache sind wir unser ganzes Leben beschäftigt. Wir brau­ chen Sprache nicht nur für das Leben, sondern Sprache ist Leben. Sprache ist eine conditio sine qua non menschlichen Lebens15. Der Mensch ist Sprache! Von Lud­ wig Wittgenstein, dem 1889 geborenen Sohn eines Wiener Industriellen, der sein Millionenerbe an seine reichen Geschwister verschenkte, als Dorfschullehrer, Hilfsgärtner in einem Kloster und als Dozent in Cambridge tätig war, und als Au­ tor des Tractatus logico-philosophicus bekannt ist, wird der wunderbare Satz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ überliefert. Ohne Spra15 Bedingung, ohne die es nicht geht.

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ehe, ohne die Möglichkeit der Mitteilung, bin ich ein Gefangener meiner selbst, bin ich einsam, bin ich menschlos, bin ich unmenschlich. Der Volksmund besitzt ein ebenfalls eingängliches Wort, wenn er zum Ausdruck bringen will, dass eine Ehe oder eine Beziehung zwischen zwei Menschen am Ende und tot ist. Dann heißt es: „Sie haben sich nichts mehr zu sagen!“

Wir lernen zeitlebens Sprache, wir leben in der Sprache, wir sind Sprachwesen. Im Vorschulalter hat dieses Erlernen noch privaten Charakter. Das Baby und später das Kind lernt durch Beziehung mit schon Sprechenden. Und diese Lernen ge­ schieht mit einem bewundernswerten Gedächtnis und einer frappierenden Logik. Unvergeßlich ist mir eine Kinderszene, die sich bei uns im Wohnzimmer abge­ spielt hatte. Ein Schmetterling hatte sich im Fenstervorhang verfangen. Meine Frau versuchte mit der kleinen Adriana auf dem Arm den Schmetterling zu befrei­ en und zürnte den Schmetterling mit den Worten „Du Dummerle!“. Einige Tage später sah unser Töchterchen abermals einen Schmetterling und berichtete uns freudenstrahlend „Mama, Papa, ein Dummerle!“ Die Reaktion unsererseits: „Du Dummerle, das ist doch ein Schmetterling!“ Noch viel verwunderlicher ist es dann, wenn man dem Kind erklärt, dass das Dummerle (für das Kind ein Schmet­ terling) keine Dummerle ist, sondern ein Schmetterling und das Kind das auch noch versteht.

In der Schule geht die bisher in privater Obhut vermittelte Spracherziehung und -Vermittlung in ein sozialisiertes und institutionalisiertes Lernen über. Spracher­ ziehung bzw. die Vermittlung der Kulturtechniken geschieht nun in staatlicher Obhut. Nach der Grundschule erweitert sich die Sprachvermittlung und die Ler­ nenden werden mit verschiedenen Fremdsprachen im Sinne von Fachsprachen vertraut gemacht. Im Bereich der Naturwissenschaft steht die Sprache der Chemie und der Physik auf dem Stundenplan. Eine der faszinierendsten Ordnungssprachen der Naturwissenschaften dürfte die Elementensprache des Periodensystems sein, eine grandiose Erfindung, um sich verständigen zu können, um Wissenschaft überhaupt betreiben zu können, denn Wissenschaft heißt erkennende Ordnung. Antoine Laurent Lavoisier, der große „Chemiker“, der im 18. Jahrhundert hinge­ richtet wurde, hatte selbst kein einziges chemisches Element entdeckt, vollbrachte aber die große Aufgabe, eine „Sprache“, sprich das Periodensystem für die Che­ mie ge-/erfunden zu haben. Ein weiteres faszinierendes und großartiges Sprachsystem ist das Notensystem, das uns Musik ermöglicht. Eine Vermittlung von Musik über Jahrhunderte und über Räume hinweg wäre ohne die Notensprache nicht möglich. Die Notensprache ist neben der Zahlensprache eine der großen Weltsprachen. Deshalb ist die Musik

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als die zum Leben erweckten Noten eine der fruchtbarsten und angenehmsten Möglichkeiten der Völkerverständigung. Schillers »Ode an die Freude* zu verste­ hen setzt Deutschkenntnisse voraus. Die in der neunten Sinfonie von Beethoven vertonte „Freude schöner Götterfunken ...** ist jedoch universal. So lernen wir in der Schule Sprache um Sprache. Was jedoch im Kleinkindesalter noch größtenteils als Spiel verstanden wurde, hat nun Pflichtcharakter bekommen. Vom Staat wird das Wissen um Sprachsysteme, sprich Bildung, als so wichtig an­ gesehen, dass Schulbildung nicht mehr nur als Recht betrachtet wird, sondern als Pflicht.16 Nach der verpflichtenden Schule und der Vermittlung einer hoffentlich ausreichenden Allgemeinbildung erhält Bildung ihren freiwilligen Charakter zu­ rück. Man hat nun beispielsweise das Recht, aber nicht die Pflicht, ein Studium aufzunehmen. Im Studium wird schließlich das „Sprachenlemen“ fortgesetzt, als Vertiefung von Schulfächern oder Erlernen einer neuen „Sprache“. Zum letzteren gehören beispielsweise die Sprache der Maschinen und der Technik. Dies wird als Ingenieurstudium bezeichnet. Oder man lernt die Sprache der Rechtsbegriffe und der Paragraphen und bezeichnet dies als Jurastudium.

16 In der Volkswirtschaftslehre bezeichnet man ein solches Gut als meritorisches Gut. Der großen Bedeutung we­ gen überläßt es der Staat nicht der Privatwirtschaft allein, dieses Gut anzubieten, sondern sorgt selbst für das Bil­ dungsangebot.

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Das zweite Kompetenzmodul - Das Fachwissen oder: Ist der Experte ein Fachidiot?

Nachdem Allgemeinbildung im institutioneilen Sinne als Kanon verschiedener Fächer definiert werden kann, bedeutet Fachwissen Auslese und Konzentration auf eines dieser Fächer. Das Erlernen von Fachwissen beinhaltet intensive Beschäfti­ gung mit der entsprechenden Materie. Man gräbt sich tief in die Fachmaterie ein, um bis zu den Wurzeln und den Ursprüngen des Wissens zu gelangen. Man be­ trachtet die Frucht des Spezialgebietes nicht nur von außen, sondern man beißt hinein und nimmt das Wissen in sich auf - bis man im wahrsten Sinne des Wortes zum Kem dieser Wissensfrucht stößt. Sowohl umfassender Überblick als auch Detailkenntnisse einer Materie befähigen zum Spezialisten und bestätigen den Ex­ perten. Zur Vervollkommnung des Expertenstatus fuhrt schließlich die langjährige Reifung durch Erfahrung.

Der Fachwissende könnte demnach auch als Kemkompetenter bezeichnet werden. „Kemkompetenz“ ist ein moderner Erfolgsbegriff, der jedoch nicht nur im Zu­ sammenhang mit den geforderten Qualifikationen an zukünftige Mitarbeiter eine Rolle spielt, sondern vor allem auch bei der Erfolgs- und Strategieanalyse von Unternehmen in Mode ist. Denn im Rahmen von Erfolgsanalysen und Empfehlun­ gen für Unternehmen zählt die Rückkehr zur Kernkompetenz eines Unternehmens - im Sinne einer Bekehrung auf den rechten Weg und Wiedergutmachung - zu der am häufigsten verabreichten „Medizin“ von Untemehmensberatem für kränkelnde Firmen. Profilierung und Benchmarking (altertümlich Betriebsvergleich mit ande­ ren Untenehmen) sollen Kernkompetenz und Konzentration auf seine eigenen Stärken ermöglichen.

Die Wahl des Fachfaches Grundlage auf dem Weg zum Expertentum sind im frühen Pflichtstadium die Schulfächer und im späteren Wahlstadium Ausbildungsberufe und Studiengänge.

Ausbildungsberufe Derzeit sind in Deutschland 360 Ausbildungsberufe anerkannt, wobei seit 1995 eine größere Anzahl neu strukturiert wurde und 27 ganz neu hinzugekommen sind.

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Exemplarisch sind im folgenden die Berufe im Verkauf und in der Kundenwer­ bung sowie die Büroberufe in Wirtschaft und Verwaltung aufgefiihrt. Berufe im Verkauf und in der Kundenwerbung

• • • • • • • • • • • • • • • •

Bankkaufmann/-frau Buchhändler/-in Drogist/-in Kaufmann/-frau im Einzelhandel Kaufmann/-frau im Eisenbahn und Straßenverkehr Kaufmann/-frau für Verkehrsservice Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel Kaufmann/-frau in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft Hotelkaufmann/-frau IT-System-Kaufmann/-frau Musikalienhändler/-in Reiseverkehrskaufmann/-frau Speditionskaufmann/-frau Verlagskaufmann/-frau Versicherungskaufmann/-frau Werbekaufmann/-frau

Berufe in Wirtschaft und Verwaltung

• • • • • • •

Bürokaufmann/-frau Informatikkaufmann/-frau Steuerfachangestellte/-r Industriekaufmann/-frau Kaufmann/-frau für Bürokommunikation Rechtsanwaltsfachangestellte/-r Sozialversicherungsfachangestellte/-r

Daneben existieren Berufe in der Metallbearbeitung und Montage, im Kraftfahr­ zeugbereich und im Installationsbereich. Hinzu kommen Elektroberufe, Bau- und Holzberufe, naturwissenschaftliche und technische Berufe sowie Berufe der Raum-, Form- und Farbgestaltung. Zu nennen sind schließlich die Berufe im Ge­ sundheitswesen, im Hotel, in der Gaststätte sowie in der Nahrungs- und Genuß­ mittelherstellung, Berufe in der Tierpflege und Agrarwirtschaft und die Textilund Bekleidungsberufe.

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Zu den neu hinzugekommenen Berufen gehören unter anderem: • • • • • • • • • •

Mediengestalter/-in für Digital- und Printmedien Automobilkaufmann/-frau Fachkraft für Veranstaltungstechnik Fotomedienlaborant/-in Kaufmann/-frau für audiovisuelle Medien Servicekaufmann/-frau im Luftverkehr Mechatroniker/-in MikrotechnoIogeAtechnologin Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste Fachmann/-frau für Systemgastronomie17

Weitere dreißig Neuordnungsprojekte sind in Vorbereitung. Diese Aktualisierung betrifft Berufsprofile unter anderem im Gesundheitswesen, in der Entsorgungsund Recyclingwirtschaft und in der Bauwirtschaft. Die Fülle an Ausbildungsberu­ fen kommt den unterschiedlichen Neigungen und Begabungen der jungen Men­ schen entgegen.

Studienfächer Eine vergleichbar Fülle an (Aus-)Bildungsmöglichkeiten existiert in der Hoch­ schul- und Studienlandschaft. Baden-Württemberg zeichnet sich durch besonders zahlreiche und vielfältige Studienmöglichkeiten aus. Die Bewerber haben die Wahl zwischen: • • • • • • • • • • •

9 staatliche Universitäten 2 private internationale Universitäten Hochschule für Jüdische Studien 6 Pädagogische Hochschulen 37 Fachhochschulen 5 Musikhochschulen 3 Hochschulen für Kirchenmusik 2 Kunstakademien 1 Hochschule für Gestaltung 8 Berufsakademien 1 Filmakademie

17 Kursbuch Studium Ausbildung Beruf, Ausgabe 1998/99, Hrsg. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und Landesarbeitsamt Baden-Württemberg.

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Diese verschiedenen Hochschularten und Berufsakademien bereiten die Studie­ renden auf unterschiedlichste Tätigkeitsfelder vor und ermöglichen diverse Ab­ schlüsse mit unterschiedlichen Schwerpunkten.18

An den neun Universitäten in Baden-Württemberg Freiburg, Heidelberg, Hohen­ heim, Karlsruhe, Konstanz, Mannheim, Stuttgart, Tübingen und Ulm sind Studien­ fächer in den Fachgruppen Ingenieurwissenschaften, Informatik, Mathematik und Naturwissenschaften sowie Agrar-, Forst-, Haushalts- und Ernährungswissen­ schaften möglich. Studienmöglichkeiten gibt es schließlich in den Fachgruppen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Sprach- und Kulturwissen­ schaften. Beispielhaft sind die Fächer aus dem Bereich der Rechts-, Wirtschafts- und Sozi­ alwissenschaften angeführt: •

• • •

Politikwissenschaften, Politologie • Politologie • Verwaltungswissenschaft Rechtswissenschaft Sozialwissenschaften bzw. Soziologie Wirtschaftswissenschaften • Betriebswirtschaftslehre • Betriebswirtschaftslehre, technisch orientiert • Haushaltsökonomie • Informationswissenschaft • Volkswirtschaftslehre • Volkswirtschaftslehre, technische • Wirtschafts Informatik • Wirtschaftspädagogik • Wirtschaftswissenschaften bzw. Ökonomie19

Sowohl bei den Ausbildungsberufen als auch bei den Studiengängen ist eine Zu­ nahme von Berufen und Fächern festzustellen. Einher geht damit eine Segmentie­ rung und Ausdifferenzierung bisheriger Fachgebiete. Fächer, die Vertiefungscha­ rakter hatten, zum Beispiel medizinische und technische Informatik werden zu ei­ genständigen Studienfächern. Für die Nachfrager von Ausbildungsberufen und Studiengängen wird die Auswahl größer, gleichzeitig aber auch komplexer und unübersichtlicher. Zudem wird das Stoffgebiet immer enger und spezialisierter. Man lernt immer mehr von immer weniger. 18 www.mwk-bw.de 19 Kursbuch Studium, Ausbildung, Beruf Baden-Württemberg.

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(Fach-)Wissen ist Macht Hat man eine Fach und das heißt vor allem auch eine Fachsprache in ihrer Fülle und in ihren Nuancen gelernt, gilt man als Experte und Spezialist. Ein Experte ist meist daran erkennbar, dass er eine Sprache spricht, welche die anderen, also die Laien, nicht verstehen. Im Wissen um diesen Unterschied und diese Vorteilsstel­ lung pflegt ein Großteil der Expertenschar ihre Fach- und Geheimsprache. Dies fuhrt dann dazu, dass zum Beispiel diejenigen, die nicht der Sprache der Medizin mächtig sind, ein Rezept oder eine Diagnose nicht verstehen und von der Überset­ zung in die Alltagssprache abhängig sind. Besonders auch die Sprache der Büro­ kratie und der Behörden hat hier eine Meisterschaft entwickelt, die so weit geht, dass wir wiederum Experten benötigen, die uns die Fach- und Fremdsprache eines Steuerbescheides ins „Normaldeutsche“ übersetzen. Diese Steuersprachexperten bezeichnen wir als Steuerberater. Wie begehrt Fachleute, zum Beispiel Ingenieure oder IT-Experten sind, hängt von der jeweiligen konjunkturellen Branchensituation ab. Nachdem der Sympathiekurs für Ingenieure vor ein paar Jahren einen Tiefpunkt durchschritt, sind diese Fach­ leute heutzutage sehr gefragt. Eine Spitzenstellung nehmen jedoch die IT-Kräfte ein. Diese Experten sind so begehrt, dass sie mit Hilfe einer Greencard aus dem Ausland rekrutiert werden (müssen?). Nicht auszuschließen ist, dass in ein paar Jahren ein Arbeitskräfteüberangebot in der IT-Branche herrschen wird. Wenn man für die Allgemeinbildung den Plakativsatz „von allem nichts wissen“ zugrunde legt, ließe sich analog für die Fachbildung der Provokativsatz „von nichts alles wissen“ formulieren. In abgeschwächter Form könnte diese Aussage modifiziert werden und hieße dann: Von manchem etwas mehr wissen. Fachkom­ petenz bzw. Kemkompetenz bedeutet Vertiefungs- und Konzentrationswissen.

Experten, die über den Tellerrand ihres Fachgebietes blicken können und wollen, und in der Lage und gewillt sind, andere Menschen an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, indem sie ihre Fachausdrücke in verständliche Begriffe übersetzen, sind Spezialisten im wünschenswerten und positiven Sinne. Fachidioten sind das Ge­ genteil.

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Das dritte Kompetenzmodul - Die Interdisziplinarität oder: Warum soll der Techniker den Kaufmann verstehen?

Im selben Maße wie heute die Fachgebiete und damit auch die Fachsprachen zu­ nehmen, nimmt die Verständigung untereinander ab. Gleichzeitig ist man aber immer mehr auf die Zusammenarbeit mit Menschen anderer Fachgebiete angewie­ sen. Die Bildung von Projektteams soll helfen, komplexe Aufgaben in den Griff zu bekommen. Eine einzelne Person dürfte sich kaum in der Lage sehen, wirtschaftli­ che, technische, rechtliche, politische Aspekte eines größeren Vorhabens zu erfas­ sen. Dass Arbeits- oder Expertengruppen funktionieren, setzt allerdings voraus, dass der eine den anderen versteht - zumindest in Ansätzen. Und es setzt voraus, dass sich ein Generalist findet, der die Menschen, die Spezialisten und die Fach­ themen zu moderieren und zu koordinieren vermag. Deshalb wird heute das Zeit­ alter der Generalisten ausgerufen, obwohl man die Spezialisten braucht, die dann im Anschluß die fachlich begrenzte Tätigkeit ausfuhren. Aber die Gewinner in diesem interdisziplinären Diskurs, in dieser Vemetzungswelt, in dieser Teamwelt sind die Generalisten und Koordinatoren - Menschen also, die diese Koordinations­ tätigkeit zwischen verschiedenen Fachbereichen beherrschen. Man denke bei­ spielsweise an den Baumanager im Bereich Hausbau, der nicht nur die Handwer­ kertätigkeit koordiniert, sondern sich um Finanzierungsfragen und Rechtsaspekte kümmert und dabei auf Leute zurückgreifen kann, die um diese speziellen Kennt­ nisse wissen.

Wirtschaftsingenieur und Sozialwirt Fachwissen ist notwendig und wichtig, aber allein nicht mehr ausreichend. Heut­ zutage sind mehr denn je Verknüpfungsfähigkeiten gefordert. Das heißt, wir brau­ chen Koppelungsmöglichkeiten, oder um beim Thema Sprache zu bleiben, einen Minimalgrundwortschatz anderer Wissensgebiete, um über eine gemeinsame Sa­ che sprechen und ein Projekt durchfuhren zu können. So ist es auch verständlich, dass typische Interdisziplinärfächer wie Wirtschaftsingenieur oder Mechatroniker im Kommen sind. Wirtschaftsingenieure beispielsweise sollen als Bindeglied zwi­ schen Kaufleuten und Ingenieuren fungieren. Sie handeln als Übersetzter und ver­ knüpfen die beiden „Fremdsprachen“ Betriebswirtschaft und Ingenieurwesen. Der Mechatroniker soll das Kunststück fertigbringen, als Mechaniker und als Elektro­ niker bzw. Elektrotechniker zu arbeiten. Erste Erfahrungen haben gezeigt, dass man sich damit auf dem richtigen Weg befindet, wobei sich das Problem stellen

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kann, dass ein ausreichender „Sprachwortschatz“ in der üblichen Ausbildungspha­ se, Schulzeit oder Studienzeit nicht erreicht wird, so dass „Nachbesserungen“ notwendig sind. Ein anderes Beispiel zeigt, dass in jüngster Zeit sogar „feindliche“ Disziplinen verbunden und vereinigt werden. Ich denke hier an die Zusammenfuhrung von Wirtschaft und Sozialpädagogik zur Sozialwirtschaft. Dass eine solche Verbin­ dung nicht nur interessant und sinnvoll ist, sondern auch Konfliktstoff bergen kann, zeigen die Warnrufe aus dem Lager der Sozialarbeiter und -pädagogen. Manche in der sozialen Arbeit tätigen und engagierten Personen sehen diese Ver­ bindung von Wirtschaft und Sozialwesen im Zeitalter der Ökonomisierung auch als „Zwangsheirat“ oder „feindliche Übernahme“ an. Man muß sich die Brisanz, vielleicht auch Tragikkomik, dieser Vereinigung vor Augen halten. Die „Sozialen“ sahen ihre Aufgabe und Existenzberechtigung gerade darin, dass sie die im Revier der Wirtschaft auf der Strecke gebliebenen und verletzten Individuen - zum Bei­ spiel krank oder arbeitslos gewordene Menschen - in ihren Sozialrevieren, sprich Krankenhäusern, Arbeitsämtern, Sozialämtern, Frauenhäusem und Pflegestatio­ nen, pflegten, betreuten und „wiederaufpäppelten“. Das wirtschaftliche Revier wurde als feindliches, gewalttätiges, auf dem Recht des Stärkeren beruhendes, unmenschliches System betrachtet. Die „Sozialen“ sahen sich nicht als Bestandteil des Gesamtsystems Wirtschaft, sondern als befriedeter, außenliegender Bereich, mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Moralstandards, wobei als Leitbild gerade die Verneinung von Wirtschaft und Geld diente. Denn diese Dinge wie Geld und öko­ nomische Zwänge wurden als die Hauptverursacher der sozialen Krankheiten an­ gesehen. Deshalb durften in logischer Konsequenz Prinzipien wie Wirtschaftlich­ keit im sozialen Bereich nicht nur keine Rolle spielen, sie wurden sogar als kon­ traproduktiv (ein interessanter Begriff in diesem Zusammenhang) und system­ schädigend eingestuft. Im übrigen sind solche Sichtweisen auch aus Bereichen wie der Kunst oder der Kultur - man denke an Intendanten - bekannt. Und nun passiert das Paradoxe. Gerade die Mechanismen, die als Urheber allen Übels gelten und von den „Sozialen“ verneint und abgelehnt werden, sollen nun deren eigene Ret­ tung sein. Soziale Institutionen sehen sich plötzlich mit der Aufforderung kon­ frontiert, sich selbst wirtschaftlich zu fuhren. Ein Affront! Nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen stehe an erster Stelle, sondern das Geld!? Geld war bis dato kein Thema, weil davon mehr oder weniger genug vorhanden schien. Aber das hat sich geändert. Finanzierungs- und Verteilungsfragen, Wirtschaftlichkeitsund Qualitätsaspekte werden diskutiert und so kam es, dass die sozialen Institutio­ nen selbst ins Blickfeld der Kritik gerieten. Nicht die Wirtschaft - aus Sicht der Sozialvertreter - wird als Problem betrachtet, sondern die unwirtschaftlich agie­ renden Leiter und Mitarbeiter sozialer Institutionen. In Folge dessen breitet sich

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die Ökonomisierung des Sozialen über das Berufs- und Bildungsland aus, wobei erste Bildungsträger berechtigt mit der Einrichtung von neuen Studiengängen rea­ gieren wie beispielsweise die Berufsakademie in Villingen-Schwenningen mit der Sozialwirtschaft oder die Berufsakademien in Stuttgart und Heidenheim mit So­ zialmanagement.

Doch nicht nur die Sozialen haben zu lernen und umzulemen. Auch die Wirt­ schaftler bedürfen der Neubesinnung, wurde doch oft abwertend auf die Sozialen hinabgesehen. Macht nun ein Wirtschaftler in einer Behindertenanstalt oder einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche ein Praktikum, bringt das den Vorteil mit sich, dass die Anforderung und die stärkere menschlichen Intensität der sozialen Arbeit mehr respektiert und geachtet wird. Für ein gegenseitiges Verständnis hilft es persönlich Situationen zu erfahren, in denen mich ein Patient zeitlich und an­ teilnehmend braucht und beansprucht, aber gleichzeitig die Uhr der Ökonomie tickt. Eine interdisziplinäre Ausrichtung und Einrichtung wie die Sozialwirtschaft ist überfällig, sinnvoll und erfolgversprechend.20

Ob man nun den technischen Betriebswirt, dessen Pioniertätigkeit in einem ZEITArtikel21 mit dem Blauhelmeinsatz von Soldaten verglichen wurde und der bei­ spielsweise am Beruflichen Bildungszentrum (BBT) in Tuttlingen ausgebildet wird, oder den Wirtschaftsingenieur, der an der Berufsakademie in Horb im Mit­ telpunkt steht, als Beispiel nimmt, oder den Sozialwirt an der Berufsakademie Villingen-Schwenningen oder den Mechatroniker, sie alle stehen für eine neue in­ terdisziplinäre Einstellung, Anforderung und Arbeitsweise. Und sie sollen helfen, Sprachlosigkeit zwischen Abteilungen und „befeindeten Revieren“ zu überwinden. Diese Brückenfunktion wird mit zunehmender Komplexität und Spezialisierung des Wirtschaftsleben an Bedeutung zunehmen. Einher geht eine Differenzierung von Managementfunktionen im Hinblick auf einzelne Branchen wie beispielswei­ se facility management (Gebäudebetreuungs- und -Organisationsmanagement), Pflegemanagement und Medienmanagement. Die inflationäre Verwendung des Begriffes Management in allen möglichen und unmöglichen Begriffskombinatio­ nen zeugt im übrigen von der Besetzung und Einvernehmung der noch übrig ge­ bliebenen weißen Flecken auf der Karte der Ökonomiegesellschaft.

20 Die SPD-Landtagsfraktion von Baden-Württemberg fordert mit Hinweis auf positive Erfahrungen in der Schweiz, wonach Wirtschaftsbosse durch Praktika in sozialen Institutionen neue Erfahrungen machen können, die Einrichtung von gemeinsamen Weiterbildungsangeboten in der Alten-, Behinderten- und Jugendarbeit für Füh­ rungskräfte aus Baden-Württemberg. (Südwestpresse vom 16.11.1999) 21 „Mission der Blauhelme - Die Wirtschaft entdeckt den Technischen Betriebswirt“, Die Zeit, Nr. 8, 18.02.1999, S. 70.

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Das vierte Kompetenzmodul - Die Internationalität oder: Ist Englisch unser aller Muttersprache?

Nachdem wir Fachsprachen als Fremdsprachen bezeichnet und das Erlernen von Fachfremdsprachen zum Zwecke der gegenseitigen Verständigung und Unterstüt­ zung propagiert haben, kommen wir zum Thema Fremdsprachen im engeren Sin­ ne, das heißt Fremdsprachen im Verständnis von Muttersprachen fremder Länder. Die Welt wird „kleiner“ und globaler und der Einfluß und die Bedeutung von fremden Sprachen nehmen zu. Fremdsprachenkenntnisse gehören zum Allgemein­ gut einer qualifizierten Berufsbildung und -ausbildung. Die englische Sprache in ihrem Grundwortschatz gilt zwischenzeitlich als Bestandteil der allgemeinen Bil­ dung. In baden-württembergischen Grundschulen werden erste Erfahrungen mit dem Englischunterricht in diesem frühen Stadium gewonnen. In grenznahen Schulen zu Frankreich ist an den Unterricht von Französisch für Grundschüler ge­ dacht. Welches sind nun die präferierten Sprachen, wenn wir die Wirtschaft als Nachfragerin von fremdsprachenkompetenten Arbeitskräften betrachten? Nach einer Um­ frage des Instituts der deutschen Wirtschaft besteht in rund achtzig Prozent der befragten Unternehmen ein ständiger oder häufiger Bedarf nach Englisch. Eng­ lisch ist die Fremdsprache Nummer eins. Danach folgen Französisch, Spanisch und Italienisch.

Fremdsprachen: Bedarf in Unternehmen (in Prozent) Englisch Französisch Spanisch Italienisch Russisch Niederländisch Tschechisch Portugiesisch Dänisch Japanisch Chinesisch Polnisch

ständig 35,8 8,7 2,6 2,6 1,3 0,7 0,4 0,7 1,3 0,4 0,4 0,7

häufig 44,8 24,9 10,7 5,7 4,6 3,5 4,1 1,7 2,6 0,9 0,7 0,9

selten 16,8 47,8 33,8 38,0 18,3 14,6 13,3 13,5 6,6 6,1 5,2 2,4

Stand 1995; Mehrfachnennungen; Quelle: IW-Umfrage bei 663 Unternehmen in Deutschland Institut der deutschen Wirtschaft Köln (7/1999 Deutscher Instituts-Verlag)

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Interkulturelles Management oder zuviel Reis gegessen Fremdsprachenkenntnisse werden von den meisten Unternehmen als Bringschuld der Mitarbeiter angesehen, deshalb sollen diese Kurse vor allem dazu dienen, schon vorhandene Kenntnisse aufzufrischen, zu aktualisieren und spezifische Län­ derkenntnisse zu erlangen. Interkulturelles Management ist „in“. Sprachenlemen allein reicht nicht mehr aus. Kenntnisse vor allem der kulturellen Begebenheiten eines Landes sind gefordert. Um zu demonstrieren, dass nicht beachtete oder falsch verstandene Landesbräuche zu peinlichen wenn nicht gar untemehmensschädigenden Folgen fuhren können, werden gerne amüsierende und pädagogisierende Geschichten erzählt. Hier eine Auswahl:

Eine China-Reisender berichtet, dass er beim Gastmahl viel Reis gegessen habe, um zu demonstrieren, dass er hungrig sei und das Essen honoriere, worauf er dann gefragt wurde, ob ihm das eigentliche Hauptessen nicht schmecke, da er über Maßen den nur sattmachenden Reis zu sich nehme. Ein anderes Beispiel berichtet Kumar: Dem deutschen Präsidenten der japani­ schen Niederlassung eines großen deutschen Chemiekonzerns fiel auf, dass von ihm zwei neu eingestellte japanische Mitarbeiter auch nach einigen Monaten der Firmenzugehörigkeit von ihren japanischen Kollegen und Untergebenen nicht recht angenommen wurden. Obwohl die Neuen nichts sagten, war ihnen deutlich anzusehen, dass sie sich stark isoliert fühlten, und der Präsident hatte den Ein­ druck, auch ihre Leistung leide darunter. Der Präsident wandte sich an den japa­ nischen Personalleiter und war konsterniert, als dieser ihn schüchtern belehrte, dass er (Präsident) es versäumt habe, die neuen Mitarbeiter offiziell in die Firma aufzunehmen. Die neuen Mitarbeiter erwarteten, dass sie in einer Einfuhrungszeremonie in Anwesenheit ihrer Gruppen willkommen geheißen und den anderen vorgestellt würden. Ohne diese "Begrüßungsveranstaltung" fühlten sie sich vom Familienkreis ausgeschlossen, ihm nicht verbunden. Der Präsident holte die Ze­ remonie nach und konnte alsbald die Integration der neuen Mitarbeiter in ihrer Gruppe feststellen. "22

Zu verwirrenden Situationen wird es kommen, wenn sich Land A auf die Gebräu­ che von Land B einstellt und umgekehrt. Gibt man sich nun die Hand oder den angedeuteten Wangenkuß. Wer richtet sich nach wem, sprich der Gast nach den Pflichten des gastgebenden Landes oder das gastgebende Land nach den Bedürf­ nissen des Gastes? Zeugt es von Gastfreundschaft, in China einem Geschäftsmann n Nino Kumar: Szenen aus dem Alltag des interkulturellen Managements. In WiSt, Nr. 8, 1988, S. 426-427.

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aus Baden-Württemberg Maultaschen anzubieten oder erfreut sich der Reisende lieber an einem typisch heimischen Menü des Gastlandes?

In einem wiederum anderen Licht ist es zu sehen, wenn sich Unternehmen als so mächtig empfinden, dass sie ihre eigene (Untemehmens-)Kultur pflegen und un­ abhängig von der Kultur des Landes agieren, in dem sie ihren Standort gewählt haben (culture-free-These). Insofern steht die Kultur des Unternehmens über der Kultur des Landes beziehungsweise der Untemehmenskulturmitglieder oder Fir­ menmitarbeiter. Ob nun die culture-free-These oder culture-bound-These propa­ giert wird, internationales Management heißt interkulturelles Management.

Bachelor & Master - die Favoriten unter den Studienabschlüssen? Internationale Universitäten, die sich durch ein private-public-partnership hervor­ tun, man denke an die International University in Germany in Bruchsal oder das Institute of Management and Technology in Stuttgart, machen den traditionellen Universitäten Konkurrenz. Neue Studiengänge und Fachrichtungen mit internatio­ naler Ausrichtung werden allerorten geschaffen und gefördert. Beispielhaft nenne ich den Studiengang International Business Administration an der Berufsakademie Villingen-Schwenningen. Manchmal werden bestehende Studiengänge nur „auf­ gemotzt“, indem man ihnen durch eine englische Namensgebung internationales Flair verleiht. Beliebt ist auch die Firmierung von Bildungsinstitutionen unter englischem Namen. Die Universität wird zur »University*. Die Fachhochschule läuft unter »University of applied studies*, während sich die Berufsakademie mit der Bezeichnung ,University of cooperative education* schmückt. Intensiviert werden die Kooperationen mit Institutionen im Ausland. Allein die Berufsakade­ mie Villingen-Schwenningen pflegt Kontakte mit zwölf Universitäten und Aka­ demien im Ausland, angefangen von der größten Femuniversität der Welt, der Open University in England23, bis hin zur Webster University in St. Louis in den USA. Die Intemationalisierungsbestrebungen im Bildungssektor finden schließ­ lich ihren Höhepunkt in der Verleihung und gegenseitigen Anerkennung von Stu­ dienabschlüssen. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen stehen die angelsächsischen Abschlüsse des Bachelor (im Englisch-Wörterbuch findet sich die Übersetzung »Junggeselle* und »Bakkalaureus*) und des Master (Meister oder Lehrer), wobei hier im Wirtschaftsbereich der Master of Business Administration (MBA) im Vor­ dergrund steht.

2J Die Open University liegt in den Midlands zwischen London und Birmingham und verzeichnet mehr als 200.000 Femstudierende, um deren Betreuung sich rund 7.500 Tutoren kümmern.

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In Großbritannien dauert das Bachelor-Studium drei Jahre. Abschlüsse sind bei­ spielsweise zum B.A. Bachelor of Arts (Philosophie), B.D. Bachelor of Divinity (Theologie), B.L. Bachelor of Law (Recht), B.S. Bachelor of Science (Naturwis­ senschaften) und B.Sc.Econ. Bachelor of Economic Science (Wirtschaftswissen­ schaften) möglich. Im Anschluß an das Bachelor-Studium kann ein Masterstudium aufgenommen werden. Die Abschlüsse zum M.A. Master of Arts (Magister der Philosophie) und der schon erwähnte Master of Business Administration (MBA) sind die bekanntesten. In den USA wird das Bachelor*s Degree nach erfolgrei­ chem Abschluß der Undergraduate School verliehen. Die Graduate Schools ver­ leihen das Masteris Degree. Während in den USA und in Großbritannien mit dem Bachelor und dem Master ein zweistufiger Aufbau präferiert wird, operiert Deutschland mit einem einstufigen System. Mögliche Studienabschlüsse in Deutschland sind das Diplom, der Magister (M.A.) oder das Staatsexamen.

Kids statt Kinder? Die Deutschen sehen sich nun, berechtigt oder nicht, vor das Problem gestellt, dass die deutschen Abschlüsse im Ausland nicht oder nur mit Schwierigkeiten an­ erkannt werden, beziehungsweise wenn sie anerkannt werden, dann nur unter Wert. Ein „Diplom“, das bei uns in Deutschland als akademischer Abschluß ge­ achtet wird, ist im Ausland weniger wert, da bereits eine Lehre mit dem „Diplom“ abschließt. Man erkennt, dass es sich hier vor allem um ein Übersetzungsproblem sprich eine sprachliche Angelegenheit handelt. Gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen heißt letztlich Verständigung um eine gemeinsame Sprache. Und hier verhält es sich nun mal so, dass Englisch unangefochten die Weltsprache Nummer eins ist. Dieser Rang wird dem Englischen und das heißt der Weltmacht Verei­ nigte Staaten von Amerika nicht einmal mehr streitig gemacht, so dass in Deutschland die Überlegungen dahin gehen, das beste aus der Sache zu machen, indem der fast ausschließliche Zweck verfolgt wird, mit einem deutschen Studien­ abschluß auch gleichzeitig einen Bachelor oder Master verleihen zu können. Meines Erachtens geht die „Andienerei“ der Deutschen zu weit. Die Frage sollte nicht die sein, ob unsere Abschlüsse den ausländischen ebenbürtig sind, sondern ob wir uns mit der Gleichsetzung von deutschen und ausländischen Abschlüssen nicht unter Wert verkaufen. Ein Student der Berufsakademie VillingenSchwenningen absolvierte in seinem dritten Studienjahr ein Praktikum in einer Firma in New York. Viele seiner dortigen Arbeitskollegen hatten den BachelorDegree. Sein Resümee bestand darin, dass eine Gleichsetzung von BachelorDegree und BA-Diplom „eine Beleidigung wäre, aber nicht für die Bachelor-

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Absolventen, sondern für die deutschen Diplom-Absolventen“. Bezüglich Fach­ hochschule bestätigt ein internationaler Vergleich, dass deren Absolventen in der Regel besser qualifiziert sind, als es ein Bachelor nach britischem oder amerikani­ schem Muster erfordert.24 Die Deutschen laufen mal wieder Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten und in der Diskussion um eine Reformierung des Bildungswesens Gefahr, mit den faulen Äpfeln auch die vielen guten auszusondem. Das Deutsche wird kaputt ge­ redet und das Ausländische glorifiziert. Während in den 80er Jahren die Wirt­ schaftswelt wie das Kaninchen auf die Schlage nach Japan empor schaute, vernei­ gen wir uns heute ehrfurchtsvoll vor den Vereinigten Staaten von Amerika. Dies­ bezüglich sind dann plakative Bemerkungen zu hören wie: In den USA würden jetzt schon vorbildlicherweise alle Geschäfte über Internet und email abgewickelt. Den share-holder-value hätte man dort erfunden und überhaupt wären die Ameri­ kaner viel flexibler und mobiler. Vielleicht läßt sich diese Nestbeschmutzung des Eigenen und Glorifizierung des Anderen aus der geschichtlich begründeten Hal­ tung Deutschlands zur Demut erklären. Das bedeutet aber nicht, dass Deutschland in Bescheidenheit verharrt. In Südafrika sind die Weingüter in deutscher Hand. Ferienhäuser und Campingplätze auf der ganzen Welt werden von Deutschen be­ setzt und die Firma Chrysler hat nicht Daimler übernommen sondern umgekehrt. Um Rolls Royce haben sich die totgesagten deutschen Automobilfirmen - in die­ sem Fall die Bayerischen Motorenwerke BMW und Volkswagen VW - gestritten. Die Allianz fuhrt als größtes Unternehmen der Welt die Versicherungsbranche an. Die deutschen Banken mischen auf dem Weltmarkt kräftig mit. Und auch in den innovativen Schlüsselbereichen wie Gentechnik und Internet ist die deutsche Wirt­ schaft mit Verzögerung im Kommen.

Die Deutschen unternehmen viel und dies auch global; aber sie machen eines zu wenig. Sie feuern ihre Unternehmen zu wenig an. Ein Experte hatte in einem Vortag den globalen, wirtschaftlichen Wettbewerb mit einem Sportwettkampf verglichen, in dem die US-Amerikaner weit vor den Deutschen liegen würden. Mag sein, aber die Amerikaner feuern ihre Läufer wenigstens an, während wir den Konkurrenten zujubeln und die eigenen Wettkämpfer kritisieren und schlecht re­ den. Wir haben in Deutschland ein enorm starkes wirtschaftliches Potential. Wenn wir die politischen und administrativen Fesseln lösen und unsere Unternehmen anfeuem, werden diese den anderen ausländischen Firmen weit enteilen. Mit einem neuen wirtschaftlichen Selbstbewußtsein sollte auch die Denunzierung der deutschen Sprache aufhören. Nicht alles muß veramerikanisiert werden. Wenn 24 Hans-Ulrich Hensche: Neue Studienabschlüsse - Trojanische Pferde“. In: DUZ 10/1998, S. 15.

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Kinos im Einheitsamilook (bewußte Wortwahl) nur noch Popcorn und Cola an­ bieten, sollen sie dies tun. Wenn aber gestandene deutsche regionale Tageszeitun­ gen nur noch von ,kids* schreiben und nicht mehr von ,Kindern* sprechen, ist das gesunde Maß überschritten. Und wenn ich einen Brief von einem Mobilfunknetz­ anbieter bekomme, wo es heißt „Lieber Talkliner, möchtest Du ein refreshing?“, dann ist das höchstens noch spaßig. Dass die Deutsche Telekom von Sprachwis­ senschaftlern aufgefordert wurde, ihre Telefonrcchnungen in wichtigen Passagen statt in Englisch in Deutsch auszustellen, ist bekannt und bezeichnend. Englisch ist zur Zeit als Weltsprache zu akzeptieren. Ein Erlernen der englischen Sprache und ein vernünftiger Umgang mit dieser Sprache ist notwendig. Die Ak­ zeptanz dessen darf jedoch nicht heißen, die deutsche Sprache zu verunglimpfen und das Deutsche klein zu machen. Im übrigen dürfte es interessant sein zu wis­ sen, dass Deutsch die mit großem Abstand meistgesprochene Muttersprache der Europäischen Unionsbürger ist. Ein Viertel aller Unionsbürger sprechen mutter­ sprachlich deutsch! Englisch, Französisch und Italienisch halten sich mit jeweils 16% die Waage. Englisch erhält seinen ersten Platz als meistgesprochene Sprache in der Europäischen Union durch das Fremdsprachenlemen. 33% der Unionsbür­ ger beherrschen Englisch als Fremdsprache, während nur 9% Deutsch als Fremd­ sprache sprechen und verstehen. So rangiert Deutsch mit einem Anteil von 34% hinter Englisch mit 49%, aber immer noch vor Französisch mit insgesamt 31 %.25

Internationalisierung des Bildungswesens Die Internationalisierung des Bildungssystems in Deutschland steht neben den Forderungen nach mehr Praxisbezug und Verkürzung der Studienzeiten im Haupt­ katalog der Bildungsreformer und der Wirtschaft. In vielen Fachbereichen der Be­ rufsakademien in Baden-Württemberg wurden in den letzten Jahren im Rahmen von Wahlpflichtfächem Fremdsprachen als obligatorisches Studienfach eingefuhrt, so dass die nun prüfungsrelevanten Fremdsprachenfächer Englisch, Franzö­ sisch oder Spanisch in das Assistentenzeugnis („Vordiplom“ der Berufsakademie) und wahlweise in das Diplomzeugnis eingehen. Das überraschende liegt nun aber darin - und diese Erfahrung habe ich mit meinen Studenten des Studiengangs Mittelständische Wirtschaft machen können -, dass die Studenten von sich aus ei­ ne Erweiterung des Fremdsprachenangebots wünschen. Neben der viersemestrigen Pflichtveranstaltung »Language of Management*, die von einem in England ge­ bürtigen Unternehmer durchgefuhrt wird, ist nun ab dem zweiten Semester die Zusatzveranstaltung Französisch bzw. Spanisch geplant. Die Studenten sehen 25 Europäische Kommission, Eurobarometer 44.

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durch ihren frühen Einsatz in der Praxis, gepaart mit einer ausgeprägten Lei­ stungsbereitschaft, ein solches Angebot als Chance und nicht als Verpflichtung. Die Bringschuld wird als Bildungsrecht aufgefaßt! Auslandsaufenthalte sind an der Berufsakademie in den internationalen Fachrich­ tungen wie International Business Administration Pflicht, während sie in den an­ deren Fachbereichen erwünscht aber freiwillig sind. Eine Umfrage bei Studenten der Fachrichtung Industrie hat ergeben, dass über vierzig Prozent der Studenten im Rahmen ihrer betrieblichen Ausbildung ein Praktikum im Ausland durchfuhren konnten. Zu bemerken ist, dass in der Fachrichtung Industrie im Jahr 1999 auf Antrag von drei Studentinnen die mündliche Assistentenprüfung erstmals in Eng­ lisch abgenommen wurde. Eine Zunahme der Vorlesungen in englischer Sprache ist ebenfalls zu verzeichnen. Die Forderungen nach einer stärkeren Internationalisierung des Bildungswesens beruhen auf der zunehmenden wirtschaftlichen Internationalisierung und Globali­ sierung. Globalisierungsexperten machen uns jedoch darauf aufmerksam, dass die Internationalisierung gemessen an der Investitionstätigkeit der Firmen im Ausland und gemessen am Import und Export gegenüber den letzten Jahrzehnten nur ge­ ringfügig zugenommen hat. Wäre somit das „Gerede“ von der Globalisierung eine Leutetäuschung und Angstmache? Globalisierung ausschließlich unter den Ge­ sichtspunkten der Investitionstätigkeit und des Handelsvolumens zu betrachten, ist im Hinblick auf die ceteris-paribus-Regel26 zwar wissenschaftlich korrekt, doch eine Beschränkung auf diese zwei genannten Variablen ist nicht sinnvoll. Man denke an die Ausbreitung des „www“, des world wide web im Internet. Man den­ ke an die weltumspannenden Kapitalströme und Finanzmärkte. Man denke an die Reiseziele, die zu meiner Schulzeit aus Österreich und Italien bestanden und sich heute ,adventure-tour in Australien* oder ,wellness-Woche auf Barbados* nennen. Die Globalisierung ist da!27

Im Sog dieser Globalisierung nehmen die internationalen und fremdsprachlichen Anforderungen, die an die heutigen jungen Menschen gestellt werden, zu. Um sich diese geforderten Kompetenzen anzueignen, ist es nicht nur wie in früheren Zei­ ten, sondern auch heute immer noch das Beste, sich auf „Wanderschaft“ zu bege­ ben und „Lehrjahre“ in Form von Arbeitsaufenthalten, Praktika, Studienaufent­ 26 Ceteris-paribus-Regel (unter sonst gleichen Bedingungen): Man untersucht eine Variable und läßt allen anderen konstant. 27 Ein Wort zu den Folgen der Globalisierung: Vielleicht nehmen mit der Globalisierung die kulturellen länderspe­ zifischen Unterschiede ab, wahrscheinlich ist aber auch eine Zunahme von Regionalisierung und Abgrenzung zum Schutz des Eigenen; sei es die Pflege von Sprache, von Dialekten, von Bräuchen und von Landschaften. Auf Ent­ wicklungen folgten immer schon Gegenbewegungen.

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halte im Ausland zu verbringen. Ich erinnere mich an mein erstes Erlebnis in der faszinierenden Stadt Edinburgh in Schottland. Mein economics-Studium an der Heriott-Watt-University begann damit, dass ich beim Eintritt in das Universitäts­ gebäude auf den Hausmeister traf. Diesen fragte ich nach dem Weg und er gab mir eine Anwort, von der ich kein Wort verstand - ein Schock für mich, nach jahrelan­ gem Engiischlemen an der Schule. Dass dieser Mann einen stark ausgeprägten keltischen Dialekt sprach, konnte ich damals nur ahnen. Trotz dieser Unbill fand ich schließlich den Vorlesungssaal und fand mich auch beruhigenderweise insge­ samt im Studium zurecht - nachdem ich mir und den anderen Abstriche in der Grammatik, Wortwahl und Aussprache zugestanden habe.

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Das fünfte Kompetenzmodul - Die Sozialkompetenz oder: Stört das Handy?

Schauen wir zurück auf die eingangs erwähnten Anforderungsbeispiele seitens der Wirtschaft. „Ingenieure ohne soziale Kompetenz ....sind nicht mehr gefragt.“ oder „Es sind vor allem soziale Kompetenz ..., was wir in die Betriebe tragen sollen.“ Sozialkompetenz ist eine der am häufigsten genannten Schlüsselqualifikationen für ein Funktionieren unserer modernen Arbeitswelt und vor allem auch im Hin­ blick auf das Fortkommen sprich Karriere im Berufsleben. Ist diese enorme Be­ deutung der sozialen Kompetenz wirklich so gerechtfertigt? Sind die Menschen heute sozial unfähig, so dass sie das Sozialverhalten erst wieder lernen müssen? Und was versteht man unter Sozialkompetenz? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich den Einstieg in das Thema über ei­ nen Begriff vornehmen, der in engem Zusammenhang mit der Sozialkompetenz steht und vor kurzem ebenfalls in den Bestsellerlisten der populärwissenschaftli ­ chen Wirtschaftsliteratur stand, die emotionale Intelligenz!

Emotionale Intelligenz und die Macht der Gefühle „ Wenn es jedoch um wirkliches Leadership geht, ist emotionale Intelligenz eine conditio sine qua non.“ (Goleman) Im Jahre 1995 veröffentliche der amerikanische Psychologe Daniel Goleman das Buch „Emotional Intelligence“, das auch in Deutschland zu einem Verkaufsschla­ ger wurde.28 Goleman unterscheidet drei unterschiedliche Intelligenzen: Die Hirn-, Bauch- und die Herzintelligenz. Während bisher im Mittelpunkt der Intelligenz­ forschung die Intelligenz des Intellekts gestanden habe, gelte es nun auch die In­ telligenz der Gefühle zu beachten. Folgende fünf Aspekte erscheinen Goleman im Kontext der Gefühlsintelligenzen bedeutsam: • • • • •

Gefühlsbewußtsein, Gefühlskontrolle, Empathie, Arbeitsleidenschaft, Soziale Fähigkeiten.

28 Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, Carl Hanser München 1995.

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Voraussetzung fur eine Intelligenz der Gefühle ist, dass sich der Mensch seiner Gefühle bewußt ist. Nicht Negierung oder gar Ablehnung hilft dem Menschen weiter, sondern die Akzeptanz seiner Gefühle. Der nächste Schritt sollte darin be­ stehen, diese erkannten und akzeptierten Gefühle zu kontrollieren. Welche Ge­ fühle sind in welchen Intensitäten zuzulassen und zu beherrschen. Besitzt man zu­ dem die Fähigkeit, nicht nur die eigenen Gefühle zu erkennen und zu kontrollie­ ren, sondern auch die der Mitmenschen, spricht man von Empathie, also der Fä­ higkeit sich in die Gefühlswelt anderer Menschen hineinzuversetzen. Mit der Ar­ beitsleidenschaft kommt schließlich ein Aspekt ins Spiel, der eine Verbindung von Berufsleben und Erfolgsstreben herstellt. Das berufliche Leben basiert nicht allein auf rationalem Denken, sondern auf dem Gefühl der persönlichen Arbeitsleiden­ schaft. Doch auch hier gilt, dass der Mensch nicht allein „auf Erden lebt“, sondern auf die Mitarbeit mit anderen Menschen angewiesen ist. Er muß sich deshalb mit den Anderen arrangieren und zurechtkommen. Diese Fähigkeit, mit anderen Men­ schen emotional vernünftig zusammenzuleben, wird als Sozialfähigkeit bezeich­ net, als Kompetenz des sozialen Miteinanders. Der Erfolg der »Emotionalen Intelligenz* basiert nicht allein auf dem großen Er­ fahrungshorizont und der gründlichen Recherche des Autors. Goleman hat die Vermarktung seines Themas optimiert, indem er das beherzigt hat, was jeder Be­ rater und Verkäufer anstrebt, wenn er ein Produkt oder auch eine Idee vermarkten möchte, nämlich dem Ganzen einen einprägsamen Namen zu geben: Emotionale Intelligenz. Die Sehnsucht der Menschen nach Einfachheit und Einprägsamkeit fordert Schlagworte und merkfähige Begriffe. McKinsey bot sein Management­ modell als 7-S-Modell29 an, die Ausführungen von Maslow zu den Bedürfnissen und Motivationen der Menschen sind unter der „Bedürfnispyramide“ bekannt und für das moderne ökologische Bemühen der Menschen fand sich das Wort von der „Nachhaltigkeit“. Die vermarktungsfähige »Emotionale Intelligenz* ist eine Begriffskombination, die selber Emotionen weckt und zu Widerspruch reizt. Versteht man doch die Intelli­ genz als genaues Gegenteil von Emotion. Intelligenz wird mit dem Gehirn in Ver­ bindung gebracht und das Gefühl mit dem Herzen oder dem Bauch. Goleman stellt nun diese Zuordnung in Frage, wobei er sich unter anderem auf neue Erkenntnisse in der Himforschung berufen konnte. Anhand von Untersuchungen tragischer Schicksale und Beispielsfälle kamen Himforscher zu der Erkenntnis, dass be­ stimmte Himregionen für bestimmte Emotionen zuständig sind. Bekanntestes Bei­ spiel ist der Unfall eines Arbeiters, der sich von einem gütigen Menschen in einen

29 Die sieben „S“ stehen für systems, staff, skills, structure, strategy, style und superordinate goals

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unausstehlichen Zeitgenossen verwandelt hatte. Eine Eisenstange hatte sich durch seinen Kopf gebohrt und Teile seines Gehirns zerstört.

Goleman kommt das Verdienst zu, dass er kein schnelles, reißerisches Buch ver­ faßt hat, sondern er schildert aus einer reichen Lebens- und Berufspraxis und ver­ leiht somit dem Buch und auch dem Thema eine gewisse Essenz. Vielleicht ließe sich resümieren, dass es nicht unintelligent ist, Emotionen zu managen.

Sozialkompetenz und die Macht der Kommunikation Furore macht bei uns in Deutschland die „Sozialkompetenz“ - jedoch nicht so sehr die Umsetzung derselben sondern der Begriff an sich. Kaum ein Referent zum Thema Bildung, Arbeit und Erfolg verzichtet in seinem Vortrag auf das Wort von der Sozialkompetenz. Leider und ärgerlicherweise benutzen Redner und Mahner diesen Begriff in einer inflationären und seichten Weise, die dem berechtigten Anliegen nach mehr Sozialkompetenz Schaden zufugt. So gerne nämlich das Wort von der Sozialkompetenz verwendet wird, so leichtfertig umgeht man die inhaltli­ che Füllung des Begriffes. Wenn überhaupt ein inhaltlicher Beitrag erfolgt, wird allenfalls von einer nebulösen (Pseudo-)Toleranz gesprochen. Was aber ist Sozial­ kompetenz oder anders gefragt, welche sozialen Fähigkeiten oder Eigenschaften sollen die heutigen und zukünftigen Menschen für ihr Alltags- und Berufsleben mitbringen? In der Fachzeitschrift WISU (Das Wirtschaftsstudium) bin ich auf folgende - auf eine gewisse Art aufschlußreiche - Definition von Sozialkompetenz gestoßen: Hier einige Auszüge aus der Definition:

„Sozialkompetenz ist die Fähigkeit, verständigungsorientiert Aufgaben und Pro­ bleme im sozial-kommunikativen Handeln mit anderen Personen zu bewältigen. “ „Social Skills bestehen neben einer Inhaltskomponente aus einer Verhaltenskom­ ponente, die sich näher durch die Dialog-, Koordinations- und Kooperationskom­ petenz beschreiben lassen. “ Weiter heißt es dann: „Die Dialogkompetenz ist die Fähigkeit der Artikulation und Interpretation von Äußerungen. Eindeutig inter­ pretierbare Informationen müssen einerseits auf der verbalen Ebene durch einen geeigneten Redestil sowie rhetorische Mittel und andererseits non-verbal mit Hilfe von Mimik, Gestik, Körperhaltung und Blickkontakt ausgesandt werden. Zusätz-

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lieh unterstützen der gezielte Einsatz von Medien und Kommunikationstechniken sowie ein optimales Zeitmanagement die, Message “30

Wie wirkt diese Definition auf Sie? Abschreckend? Erklärend? Wissen Sie nun, was Sozialkompetenz ist? Und falls Sie es wissen sollten, sind sie damit auch so­ zialkompetent? Bedeutet das Wissen um Sozialkompetenz gleichzeitig auch die Kompetenz im sozialen Umgang?

Wenn ich diese Definition von Sozialkompetenz anfuhre, um im Generellen das heutige „Getue“ um die Sozialkompetenz zu hinterfragen, dann verfolge ich nicht das Ansinnen, die Richtigkeit dieser Definition in Frage zu stellen oder gar den Schluß zu ziehen, Sozialkompetenz wäre unsinnig und unwichtig. Nein, sicherlich nicht, insbesondere was das Letztere betrifft. Doch behaupte ich, dass mit dem Begriff der Sozialkompetenz viel Wichtigtuerei betrieben wird. Während vor eini­ gen Jahren Lean Management und Total Quality Management die Wirtschaft ret­ ten sollten, sind heute Sozialkompetenz und Teamfähigkeit die Spitzenreiter auf dem Weg des beruflichen und unternehmerischen Erfolges.31 Und dieser Erfolgs­ faktor Sozialkompetenz soll - wenn es nach dem Willen mancher Untemehmensund Lebensberater geht - durch ein intensives und teures Kompetenzwochenende vermittelt werden. In Ansätzen mag das wohl möglich sein. Doch Sozialkompe­ tenz bedeutet vor allen Dingen Begreifen und Erfahren. Ein ehemaliger Kollege beklagte sich, dass heutzutage viel zu wenig zugehört werde. Zuhören wäre eine der wichtigsten Eigenschaften einer Führungskraft. Daraufhin entgegnete ich ihm einige wenige Worte. Er hörte jedoch nicht zu!

Wissen um etwas ist eine Sache. Begreifen und umsetzen ist ein ganz andere Sache. Kleiner Exkurs zum Thema Zuhören. Ich halte es nämlich in manchen Situationen für wichtiger, Menschen in ihrem ungehemmten, egozentrischen und belanglosen Redeschwall zu stoppen, denn ihnen brav und sinnlos zuzuhören. Das Zuhörenkönnen und -sollen ist eine Floskel, die insbesondere von denen, die sie beherzigen sollten, nicht beachtet wird. Für die, die sowieso zu wenig reden und schon ständig zuhören, ist diese Forderung „tödlich“. Diese Menschen müssen lernen, sich Gehör zu verschaffen. Denn ohne Dialog geben die Zuhörenden höchstens den Mülleimer für die unsäglichen endlosen „Geschwafelbeiträge“ mancher Mitmenschen ab. Doch wahrscheinlich würde es bei solchen Redemenschen nicht einmal mehr nützen etwas zu sagen, da sie nicht zuhören. Man müßte also mit einem brutalen Keulenschlag intervenieren, um einen Schockzustand beim Gegenüber hervorzurufen, in der Hoffnung, dass der Nichthörende erkennt und begreift.

50 WISU, Ausgabe 8-9, 1998, S. 881. 31 Zur Teamfähigkeit siehe auch Kapitel 5 in Teil 2 ,Habitus und Team*.

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Meines Erachtens tritt der Aspekt des sozialen Miteinanders im Vergleich zu den Arbeitsinhalten und sachlichen Zielsetzungen eines Unternehmens zu stark in den Vordergrund. Die ständige Betonung des sozialen Umgangs untereinander und des Einflusses des Betriebsklimas auf den persönlichen und unternehmerischen Erfolg, die vielen Berichte über das sogenannte Mobbing am Arbeitsplatz, erzeugen eine Hysterie des Miteinanderauskommenmüssens.

In einer kleinen mittelständischen Firma pflegte einer der Abteilungsleiter steife Umgangsformen. Dieser Abteilungsleiter kam eines Montags wie verwandelt in die Firma und begrüßte die Mitarbeiter jovial mit Hand- und Schulterschlag. Sei­ ne Redebeiträge nahmen an Zahl und an witzigen Bemerkungen zu. Das Fatale an seinen veränderten Verhaltensweisen war, dass sie aufgesetzt wirkten. Der Mann hatte nämlich über das Wochenende ein Beratungs- und Selbsterfahrungsseminar besucht und aufgrund dessen seine Verhaltensweisen geändert. Die Mitarbeiter wünschten sich die „alte“ Person zurück, denn diese war ihnen ehrlicher und we­ niger gekünstelt gegenüber getreten. Oft ruft die Überbetonung der Sozialkompetenz und die Konzentration auf das Wir-Gefuhl gerade die zwischenmenschlichen Konflikte hervor, die vermieden werden sollten, weil die Gelassenheit in diesen Dingen beziehungsweise die Ein­ sicht fehlt, dass es nun mal Menschen gibt, mit denen ich nicht auskomme. Eine Pseudoharmonie zu pflegen verschärft auf Dauer die Konflikte. Besser ist es, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren und seine Arbeit zu erledigen. Sich zu sehr auf das Betriebsklima zu konzentrieren ist mit dem Abnehmen vergleichbar. Wenn man beim Essen ständig auf die Kalorien (Konflikte) achtet, nehmen diese, also die Kalorien (Konflikte) meist zu, anstatt sie abnehmen.

Richtig verstandene Sozialkompetenz heißt nicht belangloses Toleranzgebaren, Pseudoharmonie und unangebrachtes Wir- und Teamgefuhl. Sozialkompetenz be­ deutet, die Regeln des menschlichen Miteinander zu kennen und sie zu leben. Das setzt natürlich voraus, dass ein Grundkonsens über Sozialverhalten vorhanden ist. Doch dieses Postulat sozialer Verhaltensregeln und damit verbunden eines Werte­ konsenses ist ein äußerst heikles und meines Erachtens auch amüsantes (ironisch gemeint) Thema.

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Entschuldigung, dass ich nicht möchte, dass Sie mich stören! Nachdem in den letzten zwei Jahrzehnten im Rahmen der Individualisierung, Selbstverwirklichungspsychosen, Relativierungsbemühungen und Pluralisierungstrends Egomenschen herangezogen wurden (Psychoslogan: „Suche und finde Dich selbst!“), ging der Mitmensch verloren. Eine große Unfähigkeit, soziales Verhalten an den Tag zu legen, hat sich breitgemacht. Lehrer beklagen das von ihnen selbst verschuldete oder zumindest mitverursachte mangelnde Kooperations- und Sozialverhalten ihrer Schüler. Wenn in einigen Bundesländern in der politischen Öffentlichkeit diskutiert wird, ob ,Betragen* und ,Verhalten* wieder als maßgebliche Werte in das Schulzeugnis aufgenommen werden, stimmt das nachdenklich. „Die Schulen kranken nicht nur am Leitungsverfall; auch um das soziale Lernen steht es vielerorts nicht zum Besten.“ konstatiert Sabine Etzold in der ZEIT. Und sie resümiert, dass Schulen als gesellschaftliche Einheiten nur dann funktionieren, wenn sich ihre Mitglieder an gewisse Vereinbarungen halten und bei Nichteinhaltung auch sanktioniert werden können.32 Mein Ansinnen ist es nicht, einen Kriterienkatalog für Sozialverhalten aufzustel­ len. Zwischenmenschliche Verhaltensweisen, die dem Dialog und der Kooperation dienen, sollten wohl selbstverständlich sein. Aber vielleicht täusche ich mich in diesem Punkt. Denn ab und zu erlebt man Erschreckendes. Ich traf mich mit einem neuen Geschäftspartner in einem Cafe, um verschiedene Dinge zu besprechen. Was geschah? Der Gesprächspartner rauchte eine Zigarre, ohne mich zu fragen, ob es mich störe beziehungsweise ohne mir eine anzubieten. Er langweilte mich durch einen monologischen Dauerschwall von „Ich-Erzählungen“. Er ärgerte mich durch seine mehrmaligen Handygespräche, wobei er ohne ein Wort der Entschul­ digung offenherzig Urlaubsgespräche mit seinem telefonischen Gegenüber führte. In so einem krassen Fall gibt es nur eine Chance, nämlich massive Intervention und die Androhung, das „Gespräch“ und damit die weitere Zusammenarbeit zu beenden. Solche Erlebnisse habe ich in abgemilderter Form nicht nur einmal er­ lebt.

Nicht nur im Zusammenhang mit der Sozialkompetenz wird gerne der viel strapa­ zierte Begriff der Toleranz verwendet. Gesellschaftliches Leben gedeihe allein auf dem Boden der Toleranz. Man habe alles zu dulden und somit wären auch alle zu­ frieden. Doch wer hat wem gegenüber tolerant zu sein? Angenommen jemand kommt zu spät. Besteht dann die Sozialkompetenz darin, dass ich als Wartender tolerant bin und das Zuspätkommen akzeptiere? Angenommen jemand raucht in meiner Gegenwart als Nichtraucher? Besteht dann die Sozialkompetenz darin, 32 Sabine Etzold, DIE ZEIT, 21.10.1999.

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dass ich das Rauchen toleriere? Sicher nicht! Sozialkompetenz heißt zum einen, Regeln des sozialen Umgangs zu kennen und zu befolgen und das menschliche Miteinander in der Schul- und Arbeitszeit sowie im Alltagsleben und im gesell­ schaftlichen Leben zu pflegen und zu beherzigen. In meiner beruflichen Tätigkeit beim Existenzgründerzentrum EXZET in Stutt­ gart, die durch eine intensives Kenneniemen und Beraten von Existenzgründem geprägt war, habe ich einige anfangs erfolgversprechende Gründungskarrieren deshalb zum Scheitern miterlebt, weil grundlegende Regeln des Umgangs mitein­ ander nicht eingehalten wurden. Wenn jemand zwei Mal hintereinander zu einem vereinbarten Termin nicht erscheint, ist das schon nicht mehr akzeptabel. Ge­ schieht dieses aber dann auch noch ohne eine Entschuldigung, ist die Vertrauens­ basis für ein Geschäftstätigkeit nicht mehr gegeben. Zuverlässigkeit und Pünkt­ lichkeit sind nicht eine „Zier“, sondern Sozialkompetenz im wahrsten Sinne.

Wider den A-Sozialen Nach der Abschaffung der Kniggeregeln im gesellschaftlichen Leben und der Krawatten im Bundestag durch die Grünen in den siebziger und achtziger Jahren ist zwischenzeitlich wieder eine langsame und behutsame Renaissance von Ord­ nungen, Regeln und Ritualisierungen zu erkennen.33 Rituale wie Hochzeitszere­ monien oder Prozessionen schmücken, bereichern und verschönern das Leben. Konventionen und Regeln vereinfachen das Leben und schaffen Sicherheit. Man muß sich beispielsweise nicht jedesmal neu verständigen, wer wem zuerst die Hand gibt, wenn es gesellschaftliche Vereinbarungen gibt. Das bedeutet nicht, dass diese Vereinbarungen immer stur anzuwenden sind. Aber gerade das Wissen und Einüben von sozialen Handlungsweisen verleiht Souveränität und Freiheit und ermöglicht es, eine Situation schnell zu erfassen und entsprechend zu handeln. Stellen Sie sich vor, Sie haben im Rahmen einer Veranstaltung als Verantwortli­ cher Geschäftspartner zu empfangen. Sie begrüßen die ankommenden Personen, sprechen mit jedem einige Willkommensworte, übersehen keinen und schenken jedem genügend Beachtung. Und nun passiert es, dass sie von einer wichtigen Per­ son in ein längeres Gespräch verwickelt werden. Auf der einen Seite möchten Sie es vermeiden, den Gesprächspartner zu unterbrechen und eine Unhöflichkeit zu begehen. Auf der anderen Seite sehen Sie andere Personen wartend dastehen und 33 ganz abgesehen davon, dass sich die „Obergrünen“ Fischer und Trittin in ihren Ministerämtem sogar besser kleiden als der Bundeskanzler selber. Außenminister Fischer wurde jüngst sogar zu einem der bestgekleideten deutschen Politiker gekürt.

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würden sich gerne um sie kümmern. Wenn hier in Entweder-Oder-Kategorien ge­ dacht wird, verharrt man im Dilemma und hat verloren. Die beste Lösung besteht darin, dass man die Personen zusammenfuhrt, den Sprechenden und die Warten­ den und somit den Zweierkreis zu einem Dreier- oder Viererkreis erweitern. Man greift das angesprochene Thema auf und stellt die Personen gegenseitig vor. Die Menschen lernen sich gegenseitig kennen und das Gespräch kann mit neuer Beset­ zung weitergefuhrt werden. Man selbst ist frei für neue Begrüßungen. Solche Situationen erfordern viel Erfahrung und Souveränität sowie die Fähigkeit Situationen zu überblicken und vor allem auch so zu handeln, dass es nicht ange­ strengt wirkt, sondern wohltuend und ansprechend. Sozial- und Situationskompe­ tenz in diesem beschriebenen Sinne zu beherrschen, gehört zu den höchsten Schwierigkeitsgraden im Erlernen von sozialer Kompetenz. In der Ausübung von leitenden Tätigkeiten spielt diese Sozialkompetenz eine enorm wichtige Rolle.

Sozialkompetenz muß heute nach der Selbstbehauptungs- und Individualisie­ rungswelle von vielen Menschen wieder mühselig eingeübt werden. Bei manchen erwachsenen Menschen muß dies von Grund auf geschehen, weil man ihnen als Kinder im Kontext einer falsch verstandenen Freiheits- und Selbstverwirkli­ chungseuphorie keine Regeln des Zusammenlebens vermittelt hatte. Sozialkom­ petenz ist zwar erlernbar, aber nicht ausschließlich. Sozialkompetenz heißt erfah­ ren und begreifen und umsetzen. Und die Forderung nach Sozialkompetenz ist in­ haltslos und sinnlos, wenn Verantwortliche sich nicht trauen, Sozial- und Verhal­ tensregeln zu benennen und einzufordem. Insofern ist - unter der Annahme, dass wir eine Generation von Sozialunfähigen, im wahrsten Sinne des Wortes von Aso­ zialen, herangezogen haben - die Sozialkompetenz tatsächlich eine der wichtigsten Anforderungen, die an uns gestellt werden. Besteht das Verständnis von Sozial­ kompetenz allerdings in einem pseudoliberalen und a-sozialen Toleranzverhalten, gebe ich das Wort von der Sozialkompetenz gerne an den Äußerer zurück und di­ stanziere mich von diesem Sozialverständnis.

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6 Das sechste Kompetenzmodul - Die Methodenkompetenz oder: Muß Lernen Spaß machen? Nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln im Jahr 1999 gehören zu den von der Wirtschaft geforderten Schlüsselqualifikationen Kommu­ nikationsfähigkeit, Präsentationstechnik und Teamfähigkeit. Mit diesen genannten Kriterien, die sich zum Teil eng an die Sozialkompetenz anlehnen, leiten wir zu einer weiteren Art und Klassifizierung von Anforderungen über, die mit Begriffen wie Methodenkompetenz, Metakompetenz oder Deuterolemen verbunden sind. Wechseln wir diesbezüglich von den Anforderungen seitens der Wirtschaft zu den Erfordernissen im bildungspolitischen Bereich. Das Kultusministerium des Landes Baden Württemberg fordert beispielsweise für die Unterrichtskultur im Fach Mathematik an den weiterführenden allgemeinbil­ denden Schulen im südwestdeutschen Bundesland folgende Fähigkeiten:

• • • •

Weiterentwicklung der Aufgabenkultur, aus Fehlern lernen, kummulatives Lernen, Erfassen und Rückmelden von Kompetenzzuwachs.34

Diese Forderungen sind bemerkenswert und machen stutzig. Denn im Mittelpunkt dieser Begrifflichkeiten steht nicht das Lernen an sich, sondern der Umgang mit dem Lernen, sprich die methodische Vorgehensweise. Im Trend liegt nicht mehr das Lernen an sich, sondern das Lernen lernen. Der Schüler, der Student, der Mit­ arbeiter ist aufgefordert Methoden des Lerneniemens zu erlernen. Dieser auf sich selbst bezogene Sachverhalt des Lemenlemens, - ein anderes Beispiel wäre »Be­ obachtung beobachten* beziehungsweise »Beobachtung der Beobachtung* - um­ schreibt man in der wissenschaftlichen Terminologie mit den Zusätzen »Meta* oder auch ,Deutero*. Lernen zu lernen wird demgemäß als Meta- oder Deuterolernen bezeichnet. Gesetzt den Fall, der Mensch beschäftigt sich in seinem Denken und durch sein Denken mit dem Denken, denkt er also, dass er denkt, ist dies ein selbst- oder rückbezüglicher Vorgang.35 Dieses Betrachten seiner selbst, dieses Einnehmen ei­ 54 Staatsanzeiger vom 28.12.1998. 35 Humberto Maturana und Francisco Varela haben sich in der Neurophysiologie, Heinz von Foerster in der Kyber­ netik, Paul Watzlawick in der Kommunikationswissenschaft, Emst von Glasersfeld in der Wissenschaftstheorie, Gerhard Roth in der Physik, Peter Hejl und Niklas Luhmann in der Soziologie mit dieser Thematik befaßt. Begriffe

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ner Vogelperspektive, die sich selbst zum Gegenstand hat, soll nun auch im Ler­ nen ihre Anwendung finden. Dass dieses Lernen des Lernens, das Deuterolemen, in Mode ist, hat jedoch nicht nur seinen Grund darin, dass Metabetrachtungen „schick“ sind, sondern als Ursache läßt sich auch ein zwiespältiges Verhältnis vieler Bildungsdiskutierer zum Lernen ausmachen, das darin besteht, dass Lernen an sich negiert und sogar abgelehnt wird. Abwertend wird dieses pure Lernen mit Vorratsiemen, Konsumiemen, Frontallemen oder schlicht Auswendiglernen be­ schrieben. Im Grunde genommen kommt hierin auch ein gespaltenes Verhältnis zur Schulge­ schichte und letztlich zu unserer unrühmlichen deutschen Geschichte zum Aus­ druck. Auswendiglernen von Gedichten, Liedern und Gebeten wird nun mal mit unserer Eltern- und Großeltemgeneration und damit auch mit dem dritten Reich in Verbindung gebracht. Diese Pädagogik des Auswendiglernens stehe im Gegensatz zum reflektiertem, kritischen, infragestellenden Denken und Lernen. Das alte Ler­ nen im Sinne von Pauken - also etwas, was ein Computer, den es damals noch nicht gab, heute sowieso besser machen könnte - wurde seit den siebziger Jahren zunehmend in Frage gestellt und abgelehnt. Vokabeln büffeln und Zahlendrill wurden nicht nur als überholt, sondern als schädlich kritisiert. Denn diese fremdbestimmenden und die Konkurrenz fördernden, nur auf den Einzelnen abge­ stimmten Lemweisen hätten die Fähigkeiten beeinträchtigen können, die in den letzten Jahren zuoberst auf der Werteskala der Pädagogen und der Öffentlichkeit standen, nämlich Freiheit, Kreativität, Selbstverwirklichung, Teamgeist, Kritik­ vermögen und Experimentierfreude. Und diese Freiheitstugenden vertragen keine Fremdbestimmung; sie sind antiautoritär und sie sind vor allen Dingen nicht pflichtbestimmt sondern freiwillig und spaßorientiert, in letzter Konsequenz hedo­ nistisch.

Ein bekannter Discosong in den achtziger Jahren trug den vielsagenden Titel ,Ich will Spaß!‘. Ein Satz, der ein Zeitgefühl zum Ausdruck bringt. Das Lernen soll von den Fesseln des Zwanges und gelöst und frei von fremder Einflußnahme wal­ ten und seine Energien entfalten können. Texte erschließen sich nicht mehr aus der Summe von einzelnen Vokabeln und Grammatikregeln, sondern sind ganzheitlich zu verstehen. Der esoterische Kosmos in seiner gänzlichen Ganzheitlichkeit soll uns den ultimativen Weg der Erkenntnis weisen. Freude, Experiment, Probieren, Freiheit - kurz Infotainment. Lernen hat Spaß zu machen. Lernen und Leben als grandiose, nichtssagende Show.

wie Selbstreferenz, Synreferenz oder Autopoiese charakterisieren selbstbezügliche und/oder selbstorganisierende Systeme.

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Lernen als Grundnahrungsmittel oder Lightprodukt? Stellen Sie sich beispielhaft einen Gedichtvortrag im Klassenzimmer früher und im Projektraum heute vor. Wie wird sich die Szene früher im Klassenzimmer ab­ gespielt haben und wie wird sie heute im Projektraum ablaufen?

Szene früher (idealtypisch): Die Schüler erhalten als Hausaufgabe, den »Zauberlehrling* von Johann Wolfgang von Goethe (also etwas Klassisches) auswendig zu lernen. Einer nach dem ande­ ren stehen nun die Schüler stramm vor der Klasse und leiem mehr oder weniger monoton „Walle, walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe und mit reichem vollem Schwalle zu dem Bade sich ergieße.“ herunter. Für das Vortragen gibt es schließlich eine Note, die je nach Fehlerhäufigkeit gut oder schlecht aus­ fällt. Hinweis: In noch früheren Zeiten ist es auch vorgekommen, dass es bei Feh­ lern Schläge vom Lehrer setzte (Anmerkung: Heute müssen die Lehrer an man­ chen Schule froh sein, wenn sie selbst keine Schläge abbekommen!).

Szene heute (idealtypisch): Die Projektaufgabe besteht darin, dass - wer Lust habe - sich mit anderen zusam­ men ein Gedicht ausdenken könne. Eine Schülergruppe sitzt nun also zusammen mit dem Lehrer im Kreis auf dem Boden, wobei sich die Schüler irgendwelche coolen Reime an den Kopf werfen. Der Lehrer pinnt die Vorschläge mit bunten Zettelchen an die Metaplanwand. Falls ein Ergebnis herauskäme, könnte es even­ tuell so aussehen: „Loch in Erde - Bronze rinn - Glocke fertig - bim bim bim!“ Abschließend wird noch die örtliche Presse eingeladen, um das Ganze medien­ wirksam zu vermarkten. Während Lernen früher als Zwang und Pflicht den Charakter eines meist wenig schmackhaften, wenn nicht ungenießbaren „Grundnahrungsmittel“ besaß, möchte man heute das Lernen als spaßiges und freiwilliges „Lightprodukt“ verkaufen. Probieren und Experimentieren haben dem Büffeln und Auswendiglernen den Rang abgelaufen. Statt Frontalunterricht und Wissenskonsum wird Eigen- und Gruppenarbeit gefordert.

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früher

heute

• Frontalunterricht, Vorratsiemen, Wissensanhäufung

• Eigen- und Gruppenarbeit, Lernen lernen

• auswendig lernen und büffeln

• probieren und experimentieren

• Lernen als Zwang und Pflicht, anstrengend („Grundnahrungs­ mittel“)

• freiwilliges Lernen, spaßig und leicht („Lightprodukt“)

Lern- und Lehrphilosophie früher und heute

Der Mensch als Creator oder schaffen statt schuften Kreativität, Experimentierfreude und Selbsterfahrung haben den modernen Päda­ gogikstil in den letzten Jahren massiv geprägt, wenn auch zwischenzeitlich erste vorsichtige Abwanderungsbemühungen aus dieser ziellosen Bildungsleichtkost zu beobachten sind. Aber Volkshochschulkurse im Töpfern und Pseudoabenteuerkur­ se in der Wildnis - in seltenen Fällen passiert ein Unglück, wie in der Schweiz bei einer Raftingtour - sind immer noch „mega-in“. Das Streben des Einzelnen nach Vergöttlichung ist unbändig. So wie wir zwar in Gott den eigentlichen und origi­ nären Creator sehen, empfinden wir doch auch als Mensch das Verlangen, selbst ein kleiner Creator zu sein. Es muß ja nicht gleich die ganze Welt sein, die es zu erschaffen gilt, oder ein menschliches Wesen, das wir durch den Liebes- und Zeu­ gungsakt (die höchste Form menschlichen Schaffens) zum „Leben erwecken“. Aber einen Tontopf aus Erde oder ein Kunstwerk aus rostigen Eisenstangen oder, wenn alle sonstige Schaffenskraft versagt, wenigstens einen bungeejump als Er­ satzhandlung sollten wir schon beanspruchen dürfen. Wenn wir uns seit der Vertreibung aus dem Paradies mit mehr oder weniger be­ schwerlicher Arbeit konfrontiert sehen und nun schaffen müssen oder dürfen, dann sollte es zumindest ein Schaffen im Sinne von Erschaffen sein, als kreative und selbstverwirklichende Arbeit. Schaffen im Sinne von Schuften, sprich anstrengen­ der Arbeit, ist verpönt. „Nutzlose“ Arbeit ohne Ergebnis, zum Beispiel ständiges

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und immer wiederkehrendes Hemdenbügeln und Nähen oder Kochen, ist ohne ge­ sellschaftliches Ansehen. Aber das Entwerfen und Designen von Mode und die Kreation eines Festmahles sind geachtet und bewundert.

Beim Lernen verhält es sich ebenso. Punktuelles Event- und Infotainment-SpaßLemen soll das monotone, wiederkehrende anstrengende, mühselige Lernen erset­ zen. Und was für das Lernen Gültigkeit hat, kann für das Lehren nicht falsch sein. Als Lehrer kann ich mir nun die Mühe sparen, selbst das zu wissen und zu lernen und aufzufrischen und vorzubereiten, was den Schülern mitgeben werden soll. Im Extremfall bestehen der Unterricht und die Aufgabe darin, dass sich die Schüler selbst organisieren und selbst bestimmen, was sie nun lernen möchten oder auch nicht und wie sie sich Wissen aneignen. Untemehmensberater, Moderatoren, Coa­ ches, Teamleiter bringen dann gerne noch ihren Moderatorenkoffer mit - die im übrigen sehr teuer sind -, so dass die Schüler und Teammitglieder auch mit Mate­ rial versorgt sind, um ihre Ideen auf die verschiedenfarbigen und -förmigen Zettel­ chen schreiben zu können. Alles soll angeblich ohne Zwang und freiwillig ablau­ fen. Doch wenn sich keine Ergebnisse einstellen, ist es auch nicht recht und dann setzt der Zwang der Gruppendynamik ein.36

Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren ein Wiederaufleben von Gedichtvorträ­ gen, Gesangseinlagen, Musikvorfuhrungen und Sporteinlagen zu beobachten. Schuleröffnungsfeiem, Diplombälle und Verabschiedungen werden zunehmend ritualisiert und durch Darbietungen bereichert.

Drei, drei, drei - bei Issus Keilerei Worin besteht der Unterschied zwischen einer halbstündigen Dokumentation im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, zum Beispiel beim südwestdeutschen, fusio­ nierten Sender SWR, und einer angeblichen Dokumentation im Privatfemsehen, zum Beispiel bei RTL? Im SWR sehen Sie die Dokumentation. In RTL sehen Sie nur, dass Sie eine Dokumentation sehen werden. Die Dokumentation im Privat­ fernsehen beginnt üblicherweise damit, dass zuerst einmal mitgeteilt wird, dass die Sendung nun beginnt - nach der Werbung. Nach der Werbung, die länger dauert als der Sendebeitrag, sehen wir kurze Spots bzw. Auszüge aus der nun folgenden Sendung. Zuerst folgt aber ein weiterer Werbeblock. Nach dem Werbeblock sind als inhaltlicher Beitrag die zuvor gezeigten Vorausschauspots zu sehen, um dann 36 Ungelöst ist der Streit, ob Kreativ- bzw. Arbeitsgruppenstunden Vorbereitung bedürfen.

und Vorlesungsstunden die gleiche Zeit an

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nach dem anschließenden Werbeblock schon einige Häppchen der Sendung des nächsten Tages zu zeigen. Die Dokumentation schließt schließlich mit der Wer­ bung. Der Inhalt der Dokumentation bestand letztlich nur in der Ankündigung ei­ nes Inhalts; eines Inhalts also, der nie kam.

Entsprechend verhält es sich mit dem pädagogischen „Leme-zu-Lemen-Leitbild“. Ich lerne, dass ich lernen soll, aber ich lerne nichts - keine Inhalte. Erinnern Sie sich an Ihren Geschichtsunterricht? Sie haben Zahlen gelernt, stimmt‘s? Drei, drei, drei bei Issus Keilerei, 1789 Französische Revolution, 1848 Deutsches Reich, 1914-18 und 1939-45 Erster und Zweiter Weltkrieg. Auswendig- und Zahlenler­ nen werden immer noch negiert. In einem der öffentlichen Fernsehprogramme wurde eine neue Femsehreihe über das Christentum mit den Worten angekündigt „Die Sendung ist nicht über Zahlen gemacht, sondern von Menschen gelebt“. Ei­ ne pauschale Zahlenablehnung ist jedoch wenig hilfreich. Jahreszahlenlemen hilft uns nämlich zu strukturieren, zu ordnen und Geschehnisse in einen Zusammen­ hang zu bringen. Wenn die Studenten in der Vorlesung »Volkswirtschaftslehre* erfahren, dass im Jahre 1776 Adam Smith‘s Werk „On the origin of the wealth of nations“ veröffentlicht wurde, erleichtert es ihnen die Einordnung dieser Jahres­ zahl und damit auch das Verstehen der damaligen Zeit, wenn sie wissen, dass im gleichen Jahr die Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika stattfand, dass Europa in der Morgendämmerung der französischen Re­ volution lebte und dass das Zeitalter der Industrialisierung (Erfindung der Dampfmaschine 1765) seinen Lauf nahm.

Wir werden jedoch immer noch belehrt, dass es wichtiger ist Lernen zu lernen, als Zahlen und Vokabeln zu lernen. Steht hinter dieser Ansicht eine Geringachtung von Wissen oder eine Ablehnung der alten Pädagogik? Oder steht im Vordergrund die Meinung, dass es bei der Fülle an Informationen und der angeblich schnellen Veraltung von Wissen ineffizient und sinnlos ist, sich dieses anzueignen. An­ scheinend wäre es wichtiger zu wissen, wo und wie man zu Wissen kommen kann und wie man sich im heutigen Informationszeitalter gezielt die Informationen be­ schafft, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eben gebraucht werden. Die Schüler und Studenten lernen dementsprechend, dass in der Bibliothek ein Lexikon steht, in dem sie nachschauen könnten, oder dass eine Recherche über das Internet mög­ lich wäre - Informations- und Wissensmanagement. Oder man lernt, dass es hilft, Menschen zu kennen die wissen und an die man sich dann bei eigenem Nichtwis­ sen wenden kann. Das letztere nennt sich Netzwerkmanagement: Ich selbst weiß nichts, aber kenne genügend Leute, die wissen.

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Im Stuttgarter Existenzgründerzentrum EXZET wurden auf Initiative der Stif­ tungsleiterin und ihres Untemehmensberaters für die zukünftigen Selbständigen ausschließlich Trainings in Persönlichkeit, Selbstmanagement und Selbstreflexion also Gefühlsklärung angeboten. Angedachte Kurse mit Informationen über Be­ triebswirtschaftslehre, Steuern und Versicherungen, Kapitalbeschaffung, u.s.w. wurden mit dem Hinweis auf ein unnötiges konsumorientiertes Vorratsiemen an­ fänglich strikt abgelehnt. Erst als die angehenden Existenzgründem, deren Per­ sönlichkeit nicht deformiert war, immer dringlicher nach konkreten Informationen und praxisrelevantem Wissen nachfragten, rang man sich durch, das Angebot mit solchen „überholten“ Wissensseminaren zu ergänzen. Irgendwann kommt nun mal der Punkt, dass ich als Gründer für einen Kredit bei der Bank einen Geschäftsplan einreichen muß und dann wissen muß, was unter einer Rendite zu verstehen ist.

Die Vorstellung, dass Lernen und untrennbar damit verbunden auch das Lehren eine spaßige Selbstfindungs- und vordergründig teamorientierte, letztlich aber to­ tal egoistische, Experimentier- und Problemlösungskompetenz bedeutet, fuhrt in die Irre. Vor allem ist es illusionär zu glauben, dass Lernen als bequemes, leicht verdauliches „Lightprodukt“ konsumiert werden kann. Lernen ohne Lernen geht nicht. Lernen ist mit Anstrengung und Selbstüberwindung und -beherrschung ver­ bunden. Die alltägliche Überwindung des inneren „Schweinehundes“ ist wesentli­ che Voraussetzung für das Lernen und auch für beruflichen Erfolg. Selbstver­ ständlich gibt es ein effizientes Lernen und selbstverständlich existieren Techni­ ken und Methoden des Lernens (z.B. Karteikartensystem, Pausenregelung, u.s.w.), aber ich komme nicht umhin mein Gehirn zu beschäftigen und das kann nun mal anstrengend sein. Im übrigen kann auch Anstrengung Spaß machen, wahrscheinlich mehr als ein bequemes und pseudoeffizientes und damit letztlich unbefriedigendes Lernen. Man kann eine große Genugtuung empfinden, wenn man sich durch eine Sache hindurch gekämpft und das Ziel erreicht hat.37

37 Etwas erreichen zu wollen, ohne sich anstrengen zu müssen, ist auch in anderen Lebensbereichen in Mode. So wird propagiert, dass Abnehmen ohne Hunger oder Sport ohne Schweiß möglich ist. Nehmen wir letzteren Punkt und schauen uns die dosierte Bequemanstrengung im Fitnesscenter an. Im Fitnesscenter werde ich nicht von unan­ genehmem Regen oder von einem starken Gegenwind überrascht. Den „Gegenwind“ im Fitnesscenter als Stärken­ regulierung am Stehfahrrad kann ich jederzeit verändern, den Wind draußen aber kann ich nicht abstellen. Und wenn ich im Fitnesscenter tatsächlich völlig erschöpft bin, steht nichts dagegen aufzuhören. Aber wenn ich unter­ wegs bin und habe noch fünf Kilometer bis nach Hause zu fahren, muß ich diese Strecke wohl oder übel bewälti­ gen, auch wenn mir zum Heulen zumute ist. Im Fitnesscenter stören mich auch nicht Mücken oder Schnacken oder sonst etwas, das meine bequeme Anstrengung beeinträchtigen könnte.

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In Anlehnung an den römischen Spruch „panis et circenses“ (Gebt den Leuten „Brot und Spiele“) resümiere ich mit den Worten: Lernen und auch Lehren darf ruhig anstrengend sein, aber es ist auch nicht schlimm, wenn es Spaß macht.38

Flipchart und Metaplanwand oder schmackhaft zubereitet statt roh serviert Ein Teilgebiet des methodischen Lernens besteht in der Beherrschung verschiede­ ner Kommunikations- und Präsentationsmethoden, -techniken und -medien: Wann setze ich wie eine Metaplanwand oder einen Overhead-Projektor oder einen Flip­ chart oder einen Beamer oder eine Tafel ein? Die Beherrschung von Präsentationsmedien ist nicht selbstverständlich. Die Be­ nutzung eines Overhead-Projektors kann zu einer vertrackten Situation fuhren. Dies ist dann der Fall, wenn sich zum Beispiel das Mikrofon am Rednerpult befin­ det, man aber Folien für den zwei Meter entfernten Overheadprojektor benutzen will und dann eine „Raum- und Zeitbrücke“ vom Pult sprich Mikrofon zum Pro­ jektor und zurück überbrücken muß. Zudem bedarf es nicht wenigen Geschickes, für seine Folien ein Plätzchen zu finden, ohne dass sie abrutschen und zu Boden fallen. Und vor allem ist die Folienablage so einzurichten, dass man eine Folie auch ein zweites Mal wiederfindet, wenn ein Teilnehmer danach fragt. Auch hier macht Übung den Meister und verleiht Souveränität, um mit schwierigen und un­ vorhergesehenen Situationen, zum Beispiel Ausfall der Technik, fertig zu werden. Übung und Erfahrung verleihen auch Selbstbewußtsein, um für sich die infra­ strukturelle Umgebung einzufordem, die einem persönlich zusagt und eine ver­ traute Situation schafft. Die Güte einer Präsentation und die Anzahl der eingesetzten Medien korrespon­ dieren nicht zwangsweise miteinander. Eine Präsentation muß nicht umso besser sein, je mehr Medien eingesetzt werden. Vergleichbare Versuchungen sind den Verfassern von Diplomarbeiten bekannt, da der Einsatz des Computers mit den zahlreichen Möglichkeiten unterschiedlicher Schriftgrößen und -arten zu einer Überladung des Textes und Inhaltes fuhren kann. Die layout-freaks übertreffen einander mit einer möglichst großen Anzahl an Schriftvarianten und Sondermar­ kierungen. In Folge dessen wird es schwieriger den Inhalt wahmehmen, weil sich

38 Im übrigen haben Untersuchungen des Gerontologen Wolf-Dieter Oswald zur Verbesserung der geistigen Ver­ fassung im Alter gezeigt, dass Lernen das Risiko beispielsweise für Alzheimer deutlich verringern kann. Oswald betont jedoch: „ Man muß sich und seinen Geist aber quälen.“

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dem Leser und Prüfer ein überbordendes, den Inhalt verdeckendes, barockes Fresken-Ungetüm darbietet.

Präsentationstechniken und -methoden sollen keinen Selbstzweck darstellen, son­ dern Mittel zum Zweck einer verständlicheren und angenehmeren Darstellung sein. Der Vorgang ist mit der Zubereitung eines Mahles vergleichbar. Die Zutaten stellen den Inhalt dar. Zubereitet werden die Zutaten, weil sie roh und ungekocht nicht genießbar oder wenig schmackhaft sind. Im übertragenen Sinne bereite ich auch thematische Inhalte auf diese Art zu, indem ich sie in eine Form (Gliederung, Schaubilder) bringe, Übergänge zwischen Kapiteln schaffe und schwierige Sach­ verhalte erläutere. Das Schmackhaftmachen soll jedoch nicht zum Selbstzweck ausarten. Wenn eine zehnminütige mündliche Präsentation darin besteht, dass der Vortragende fünf Minuten der Zeit beansprucht, um seine Zettelchen an die Me­ taplanwand zu heften, „garniert“ mit Papierhinweispfeilen, anhand derer der Refe­ rent demonstrieren will, bei welchem Inhalt sprich Zettelchen er sich gerade be­ finde, ist der Einsatz verfehlt. Besonders schlimm stellt es sich dar, wenn Präsen­ tationszettelchen und Beameraktionen - wie schon erlebt - ohne Bezug zum Inhalt verwendet werden oder wenn kein Inhalt zu erkennen ist, weil entweder tatsäch­ lich keiner da ist oder der Inhalt vollständig unter den Präsentationstechniken be­ graben liegt.

Lernen durch Lehren „Ich höre und ich vergesse. Ich sehe und ich merke es mir. Ich tue und ich verstehe.44 Es ist zwar eine Binsenweisheit, aber trotzdem richtig. Die besten Lernergebnisse sind zu erzielen, wenn man einen anderen Person den Lernstoff vermitteln soll. Lehren ist der beste Lemmeister: Ein Thema vorbereiten, den Stoff aufbereiten, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und zusammenfassen um ihn dann an­ schließend weiterzugeben, zu erklären, an der Tafel niederzuschreiben und auf unterschiedlichste Fragen zu reagieren.

Durch eine intensive Vorbereitung und Vermittlung als Lehrender in regelmäßigen Wiederholungen und im Sinne des „Übung macht den Meister“ wird Lernen, Be­ greifen und Merken optimiert. Handelndes Lehren und Lernen, im Gegensatz zum einseitigen Konsumieren, fordert das Lernen und die Wissensspeicherung und vor allem auch das Begreifen und Verständnis einer Sache. Dass ein wechselseitiges

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duales Prinzip von Lernen und Tun beziehungsweise von Erkennen und Handeln besteht, erfahren schon Babies und Kleinkinder in ihrem sensomotorischen Ler­ nen. Ein Kleinkind lernt eine Herdplatte als heiß und schmerzhaft einzuschätzen, wenn es diese Herdplatte berührt. Ohne das Tun, ohne die Erfahrung des Schmer­ zes, könnte ein Kind nie begreifen, was „weh tun“ oder „heiß“ bedeutet. Ich brau­ che also meine Sinnesorgane, um über das Sehen, über das Hören, über das Schreiben und über das Sprechen erfahren und lernen zu können. Ich tue und ich verstehe. Handeln heißt Erkennen und Erkennen heißt Handeln.

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Das siebte Kompetenzmodul - Die IT-Kompetenz oder: Computerkompatibilität des Menschen?

Das also ist es. Man spricht leiser, geht langsamer, hält etwas Abstand und be­ staunt das „Allerheiligste“ eines Unternehmens, nämlich den ,main server*. Der Zutritt zur zentralen EDV-Anlage, falls man zutreten darf, erinnert an den gehei­ ligten und nur wenigen Menschen gestatteten Zutritt zum Allerheiligsten in der Kirche, zum Tabernakel. Mit der gleichen Ehrfurcht nährt man sich dem main ser­ ver als dem Herz des Unternehmens, dem Behüteten, dem Unverständlichen, dem Bewunderten. Der main server leitet zwar nicht die Geschicke des Unternehmens, als „Hauptmeßdiener“ ist er allerdings, vergleichbar der Liturgie in der Messe, für das Funktionieren von Infrastruktur und Organisation des Unternehmens zuständig und notwendig. Die Auswirkungen eines Fußtritts in einen Ameisenhaufen hätten ähnliche Folgen wie der Ausfall des main server - Alarmzustand. Alle würden hektisch durcheinander laufen, um das Mißgeschick zu beheben. Im übrigen lau­ fen die EDV-Zuständigen in den Unternehmen auch in friedlichen Zeiten schimp­ fend und nervös um den Hauptdiener herum oder stehen ratlos vor den Kabeln und Tasten dieses summenden und pulsierenden Herzes des Unternehmens. Meistens funktioniert nämlich irgendein Detail nicht, so dass die „Herzbetreuer“ ständig mit Pflege und Heilarbeiten beschäftigt sind. Dass dies dem Reich des main server den Nimbus der Heiligkeit nimmt, kann uns auch wieder etwas beruhigen. Warum soll es den Menschen im Zentrum der PC-Macht anders ergehen als unsereins, die wir uns auch ständig mit irgendwelchen Zipperleins der Computer herumschlagen müssen. Man wäre fast versucht zu sagen, diese Computer sind auch nur Men­ schen.39

Jedes Joghurt an seinem Platz Doch nun zu der Frage, welche Segnungen die Computer und EDV-Anlagen, die Intra- und Internets der Wirtschaft und uns Menschen bringen. Wir begeben uns dazu auf eine Autofahrt von Ulm in Richtung München und nehmen auf Höhe von Augsburg die Autobahnausfahrt nach Mertingen. Vor den „Toren“ Mertingens

39 Das ganz große „Zipperlein“, die Umstellung der Datumsanzeige in den Computern von 31.12.1999 auf 01.01.2000, haben wir übrigens zwischenzeitlich hinter uns gelassen. Ob und wie diese Umstellung von 99 auf 00 funktioniert, war die spannende Frage und beschäftigte unzählige Software-Experten. Waren Flugzeugabstürze, steckengebliebene Fahrstühle und nichtüberwiesene Gehälter zu befürchten? Doch nichts dergleichen geschah. Im nachhinein erscheint der Übergang so harmlos, dass man sich fragt, ob die IT-Berater alle recht hatten und eine

sehr gute Software-Umstellungs-Leistung vollbracht hatten, oder das ganze Szenario von der Beraterbranche zu dramatisch geschildert wurde, um an möglichst viele lukrative Aufträge zu kommen.

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residieren zwei große bekannte Firmen, die Firma Sigel, Herstellerin von Bürobe­ darf, und die Firma Zott, Herstellerin von Milchprodukten wie ,Zott* oder,Monte*. Wenn Sie bei Zott einen Firmenbesuch machen, werden Sie in eine Halle kom­ men, die das Verbindungsstück zwischen Produktion und Lagerung herstellt. Der Transport der fertigen Milchprodukte, die zu Hunderten auf Paletten gestapelt sind, gibt ein amüsantes Bild ab. Zwischen ein paar vereinzelten Menschen wuseln nämlich Roboterfahrzeuge, welche die fertigen Paletten abholen und zur Andock­ station der Lagerhalle bringen. Diese mit den notwendigen Daten versorgten Ab­ holroboter fahren kreuz und quer durcheinander um ihre Aufträge auszufuhren. Dabei erkennen sie Hindernisse und suchen sich ihren eignen Weg. Und sie sind so „clever“, dass sie bei nachlassender Energie von selbst die Stromversorgungs­ station anfahren um Energie zu tanken. Einer dieser Roboter stand allerdings we­ gen eines Funktionsschadens regungslos inmitten seiner Kollegen. Auch in diesem Fall ertappte man sich mit menschlichen Gefühlen der Schadenfreude und des Mitleids.

Wirkliches Erstaunen erregte jedoch der Besuch der Lagerhalle. Die Lagerhalle faßt rund 10.000 Paletten. Eine neue Halle für noch einmal 18.000 Paletten ist im Bau. Wir standen auf einem Steg in etwa 15 Metern Höhe. Vor uns lagen die lan­ gen Schluchten von Paletten. Zwischen den Schluchten fuhren leise schnurrend und mit einem hohen Tempo Kräne vor und zurück. Sie holten die von den Robo­ tern bereitgestellten Paletten und deponierten sie zielsicher an einem freien Platz in einer der langen Schluchtenreihen. Dann wieder holte einer diese Kräne eine Palette aus dem Lager und brachte sie zum hinteren Ende des Lagers, wo sich das Abholdock für den Versand befand.

Die Szenerie vermittelte einen faszinierenden und unheimlichen Eindruck. Die Ausmaße waren riesig, die Kräne bewegten sich mit einer Schnelligkeit und Präzi­ sion und ohne ihr leises Schnurren wäre es vollständig still gewesen in dieser Halle. Kein Mensch außer uns Besucher hielt sich in der Halle auf. Eine knappe halbe Stunde beobachteten wir die ungewöhnliche Szenerie und ließen uns vom Firmenfuhrer das Lagerhaltungssystem erklären. In diesem menschenleeren Lager läuft die Lagerhaltung vollautomatisch nach dem chaotischen Prinzip ab. Ein chaotisches Lagerhaltungssystem nennt sich deshalb chaotisch, weil die einzelne Palette, z.B. Montejoghurt, keinen festen Platz, z. B. 3. Reihe, 7. Ebene, 25. Platz, beansprucht, sondern vom Computer auf irgendeinen freien Platzt beordert wird. Das heißt, die zuständigen Mitarbeiter wissen nicht mehr - im Falle eines Schief­ gehens könnte sich das als sehr fatal herausstellen -, wo die einzelnen Produkte gelagert sind. Der Mensch schuf zwar das Softwareprogramm, mit Hilfe dessen

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der Computer die Lagerhaltung betreiben kann; nach Inbetriebnahme „weiß“ je­ doch nur noch der Computer selbst, wo die verschiedenen Milchprodukte ihren Platz haben, wobei sich die Plätze permanent verändern. Dieses Abgeben von Wissen an den server, den „Diener“ der Lagerverwaltung und die damit verbunde­ ne Zunahme von Abhängigkeit vom Funktionieren der hard- und software, erklärt auch den ungeheureren Aufwand, der mit der Datensicherung betrieben wird. Die Informationen der Lagerhaltung werden mehrfach abgespeichert und gesichert und über Nacht in einem Panzerschrank in einem anderen weiter entfernten Gebäude eingeschlossen. Die hohe Bedeutung dieses Softwareprogramms und deren Absi­ cherung kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Einrichtung der Software, eines immateriellen Produktes, das man quasi nicht sehen kann, mehr gekostet hat als die materielle Ausstattung des Lagers. Das Managen von Informationen bekommt eine neue Bedeutung. Information und Wissen sind neben den volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital zu einem eigenständigen Produktivfaktor geworden.40 Manche spre­ chen auch von ,know how‘ oder ,Wissenskapital‘. Wissensmanagement vollzieht sich aber nicht nur auf der technischen DV-Ebene, wo die Begriffe ,Daten* und »Information* angebrachter und passender sind. Die große Herausforderung für den Menschen besteht in der Selektion von Daten, in der Bewertung von Wissen, in der Weitergabe von Wissen, in der Vernetzung von Wissen, in der Reflexion von Wissen.

Wir kommen zurück zur Lagerhalle von Zott und zu einer anderen Betrachtung des Themas. Faszinierend und wie gesagt auch etwas unheimlich hat die Szenerie auch deshalb auf uns gewirkt, weil kein einziger Mensch, außer uns selbst, in der Lagerhalle zu sehen war. Da drängt sich natürlich die Frage nach dem Verlust von Arbeitsplätzen auf. Im klassenkämpferischen Jargon würde man die Ersetzung des Menschen durch die Maschine beklagen. Nun ja, die Menschen, die vorher die Paletten einsortiert hatten, sind speziell diese Arbeit los, doch ob sie arbeitslos sind, bedarf einer genaueren Prüfung. Der Einsatz von Maschinen und Informati­ onstechnologien setzt durch sein kostengünstigeres Einsatzverhältnis und höhere Produktivität Arbeitskräfte „frei“. An anderer Stelle müssen jedoch wieder Men­ schen beschäftigt sein, die Computer und Software-Programme entwickeln.

Wir verlassen die Firma Zott und fahren auf der Autobahn zurück in Richtung Mannheim. Vor dem Autobahnkreuz Karlsruhe/Mannheim ist ein großes Gebäude nicht zu übersehen, auf dem drei bekannte Buchstaben prangen: SAP! Diese in 40 Die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital gehen auf das Ständewesen Adel/Klerus, Arbeiterklasse/Proletarier und Untemehmer/Kapitalisten zurück.

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aller Welt bekannten Buchstaben stehen für „Systeme, Anwendungen und Pro­ gramme“ und zeugen von einer erstaunlichen Erfolgsgeschichte. In den siebziger Jahren von sechs ehemaligen IBM4‘-Mitarbeitern gegründet, hat sich das Unter­ nehmen für Betriebssoftware in Walldorf - man denke an das Softwareprodukt SAP R/3 - zum Weltmarktführer für Betriebssoftware entwickelt. Den Umsatz steigerte man im Jahre 1993 von 1,1 Mrd. DM auf 8,5 Mrd. DM in 1998. Jedes Jahr werden zur Zeit ein- bis zweitausend neue Mitarbeiter gesucht und eingestellt, wenn sie denn gefunden werden. IT-Kompetenz, also Beherrschen der Informationstechnologie, gehört in die Reihe der Basis- und Schlüsselqualifikationen unserer Tage. Je „computerkompatibler“ sich ein Mensch erweist, um so einsatzfähiger ist er an den verschiedensten, vor allem dienenden, Arbeitsplätzen einzusetzen. Existiert noch ein Büro ohne die Möglichkeit der computerunterstützten Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Datenbankorganisation und Grafikerstellung? Diese Computereinsatzgebiete sind heute Selbstverständlichkeiten wie das Telefonieren und Faxen.

Die Netzwelt Die Computerrevolution (Computer verstanden als Einzelarbeitsplatzoptimierer) haben wir zwischenzeitlich hinter uns gelassen. Neue Modelle werden bei blei­ bender Technologie schneller, ausgefeilter und leistungsfähiger. Aber eine andere Revolution liegt vor uns. Diese Revolution basiert zwar auf dem Einsatz des Computers, wird jedoch die Art und Weise des Handelns in der Wirtschaft, wie auch im wissenschaftlichen, kulturellen und persönlichen Alltagsleben, funda­ mental ändern. Und das ist die Vernetzung der Computer - die weltweite Vernet­ zung! Die Vernetzung der Computers, sei es im Kleinen als Intranet (z.B. inner­ halb eines Unternehmens) oder sei es vor allem im großen als Internet, wird - und davon bin ich überzeugt, obwohl ich selbst kein Computer- und Intemetfreak bin die Welt radikal verändern. Diese Weltenänderung geschieht nicht mit Pauken und Trompeten und sie voll­ zieht sich auch nicht in einem explosiven Moment, aber sie kommt mit einer Macht, die einer Lawine vergleichbar ist. Die Anfänge nehmen wir klein und be­ scheiden wahr. Aber je mehr sich die Nutzer, die Informationen, die Netzwerke ausbreiten, desto mächtiger baut sich diese Intemetlawine auf. Die Zunahme ver­ läuft nicht linear nach oben sondern progressiv. Je mehr Anwender und Konsu­ menten das Netz nutzen, desto billiger und sinnvoller wird der Einsatz. Je mehr 41 Das Kürzel ,IBM‘ für .International Business Machines4, ist eine ebenfalls sehr bekannte Buchstabentrilogie.

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Menschen das Internet nutzen, desto größer wird der Wettbewerbsnachteil und die gesellschaftliche Ächtung der Nichtnutzung. Der Austausch von Information und Wissen macht die Welt zu einem globalen „thinktank“ und wird zu mehr wettbewerblicher Markwirtschaft fuhren. Räumli­ che und vor allem zeitliche Restriktionen haben jetzt schon an Bedeutung verlo­ ren. Der Einkauf über das Internet, die Buchung von Reisen, die Banküberwei­ sung, Abgeordnetenwahlen, die Lektüre einer Zeitung in Übersee und vieles ande­ re erfolgen über einen gigantischen weltweiten Datenaustausch. Nach einer Al­ lensbacher Analyse möchten 50 Prozent der Deutschen Behördenangelegenheiten von zu Hause am PC erledigen können. Danach folgen Geldgeschäfte, Eintritts­ kartenbestellung und Reisebuchungen. Diese Entwicklung des weltweiten Informations- und Datenaustausches mag für die einen beängstigend und für die anderen verheißungsvoll erscheinen. Im ge­ schichtlichen Rückblick wird diese Umstrukturierung in der Art verlaufen sein wie die Einführung der Elektrizität oder des Automobils. Die multimediale Vernetzung - also die Vernetzung nicht nur der Computer untereinander, sondern die Vernet­ zung der verschiedensten Geräte wie Computer, Telefon, Fernseher, Backofen, Auto - wird zu unserem Alltag gehören. Das heißt aber nicht, dass wir den ganzen Tag ehrfurchtsvoll vor dem Bildschirm sitzen werden, so wie ich auch nicht den ganzen Tag bei künstlicher Beleuchtung lebe oder mein Quartier im Auto auf­ schlage. Aber die Vernetzung wird unser Leben verändern. Bereiten wir uns glei­ chermaßen optimistisch wie auch nüchtern auf die Informations- und Wissensge­ sellschaft vor. Diese neue Welt wird nicht so aussehen, dass man Bücher nur noch über den Computer liest oder Einkäufe virtuell erledigt; sicherlich nicht. Jedes Medium besitzt seine spezifischen Vorteile. Ein Buch beispielsweise kann man problemlos mit ins Bett nehmen und darin schmökern. Manche Zukunftsvoraussa ­ gen haben sich im nachhinein als gegenteilig herausgestellt. Der Computer hat nicht zum papierlosen Büro geführt, sondern der Papierverbrauch hat enorm zuge­ nommen. Auch wenn das Internet eine rasante Entwicklung durchmacht, werden die bisherigen Medien ihre Existenzberechtigung behalten, wobei es jedoch Be­ deutungsverschiebungen geben wird. Auch eine Vorlesung wird weiterhin persön­ lich durchgeführt und nicht virtuell. Doch die Kommunikation insgesamt wird sich ändern und zwar fundamental. Sehen wir diesem strukturellen Wandel mit einer optimistischen Nüchternheit entgegen.

Während junge Menschen, sprich die Lernenden, mit diesen Computern und Mul­ timedia-Medien von Kindesbeinen an aufwachsen, herrschen bei den Erwachse­

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nen, sprich den Lehrenden, noch Unwissen und Ängste vor.42 Das fuhrt dann zu der interessanten Situation, dass die Lernenden zu den Lehrenden werden und die Jüngeren die Älteren in Informationstechnologie unterrichten. Ansonsten dienen die manchmal krampfhaft bemühten Versuche der älteren Generation, PC- und Intemetprojekte an Schulen zu installieren, eher der Bekämpfung der eigenen Furcht der Lehrenden vor dem Neuen. Durch die Installierung und Institutionali­ sierung erfahren die Ängstlichen Unterstützung von außen; das Projekt erhält Ver­ suchscharakter und man kann Lob und Bewunderung dafür einheimsen, dass man den Mut hatte, sich den neuen Medien und Möglichkeiten zu stellen. In den Bildungs- und Weiterbildungseinrichtungen sind EDV- und Intemetkurse Pflicht. Die Fachrichtung Mittelständische Wirtschaft an der Berufsakademie Vil­ lingen-Schwenningen bietet z. B. vom ersten bis zum sechsten Semester ITManagement als Pflichtfach an. Die Bandbreite des Kursangebots reicht von einer Einführung in die Datenverarbeitung und das „Computerleben“ über MS-OfficePakete wie word, access und ecxel bis hin zu unterschiedlicher Betriebssoftware. Selbstverständlich dürfen Intranet, Internet und e-commerce nicht fehlen.

In das IT-Management sind neben den technischen und rechtlichen Aspekten (z. B.: Wann können Prüfungsergebnisse wegen des Datenschutzes via Internet bekannt gegeben werden? Wer hat Zugang zu welchen Daten? Wer hat Ände­ rungskompetenz?) vor allem auch soziale Aspekte miteinzubeziehen. Ich erinnere mich an einen Fall, wo menschliche Probleme technische Möglichkeiten verhin­ dert haben. Wir waren vier Beschäftige. Jede Person hatte einen PC und Zugriff auf die Dateien der anderen - mit Ausnahme der „Persönlichkeitsdateien“ - mit Bearbeitungsmöglichkeit. Insbesondere für die beiden Sekretärinnen sollte dieses System Vorteile bringen. War eine der beiden nicht anwesend, konnte problemlos über den Hauptserver auf die Datei der anderen zurückgegriffen werden. Dies ging ein paar Tage gut, bis in einer Datei schwerwiegende Fehler auftraten. Die zwei Sekretärinnen, die sich sowieso nicht ausstehen konnten, beschuldigten sich ge­ genseitig und weigerten sich, ihre Daten weiterhin der anderen unbeaufsichtigt zur Verfügung zu stellen. Der Zugriff wurde auf einen reinen Lesezugriff umgestellt, so dass die Sekretärinnen bei Änderung der Datei eine Kopie erstellen mußten, während die Originalversion bei der ersten verblieb. In Folge dessen gab es stän­ dig unterschiedlich Dateiversionen. Das „Drama“ endete damit, dass eine der bei­ den Sekretärinnen auf eine andere Stelle versetzt wurde.

42 Nach einer Online-Befragung in Deutschland vom Marktforschungsuntemehmen W3B im April/Mai 1999 sind drei Viertel der Internet-Surfer jünger als 40 Jahre. Ein Viertel der Befragten sind älter als 40 Jahre. IWD Nr.9, 28.10.1999, S.3.

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Dieses Beispiel macht deutlich, dass die zukünftige Informationsvemetzung nicht nur eine technische Angelegenheit darstellt. Sie umfaßt vor allem auch menschli­ che und soziale Aspekte. Informations- oder Wissensmanagement ohne eine ver­ nünftige Einbindung des Menschen vergeudet im besten Fall technische Möglich­ keiten im schlimmsten Fall fuhrt sie zu Konflikten und gegenseitiger Zerstörung technischer Art, wenn es sich um Daten handelt und menschlicher Art, wenn sie zu Streit, Diffamierung und Vereinsamung fuhrt.

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Teil 2

Lernen - und das ein Leben lang!

Drohung oder Verheißung?

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1 Einstieg in den globalen Wettbewerb oder warum die wettbewerbliche Marktwirtschaft ethisch, effizient und demokratisch ist Information und Wissen haben sich heute zu einem Wirtschaftsgut entwickelt, das sowohl das traditionell-klassische volkswirtschaftliche Triumvirat der Produkti­ onsfaktoren - Boden, Arbeit und Kapital - als auch das betriebswirtschaftliche Dreigestim - Arbeit, Betriebsmittel und Werkstoffe - zu einem magischen Viereck der wirtschaftlichen und betrieblichen Einsatzfaktoren erweitert hat. Trendforscher prophezeien dem Faktor Wissen eine große Zukunft. Insbesondere in rohstoffar­ men Ländern wird Wissen als wichtigste Ressource angesehen. Wirtschaftsgurus beschreiben Wissen als Wettbewerbs- und Erfolgsfaktor schlechthin. Die (Aus-)Bildung von Menschen hat den Zweck, Wissen zu vermitteln und auf­ zunehmen, Informationen zu managen und Kompetenzen zu erlangen. Qualifizie­ rung der Mitarbeiter und Führungskräfte besitzt einen hohen Stellenwert. Die komplexen Anforderungen an den Menschen in fachlicher, methodischer und so­ zialer Hinsicht verlangen intensive und ständige Anstrengungen und erfordern ein lebenslanges Lernen der Menschen.

Dass der Faktor Wissen im globalen Wettbewerb eine dominierende Rolle spielt, ist unbestritten. Eine Investition in Wissen wird unabhängig von politischer und wirtschaftlicher Anhängerschaft von allen gutgeheißen und befürwortet. Wis­ senserwerb und Qualifizierung per se werden nicht in Frage gestellt. Was aber von manchen Kritikern - zurecht oder unrecht - in Frage gestellt wird, ist die Akzep­ tanz des Wettbewerbes an sich und zwar des globalen Wettbewerbs. Hier macht sich Unruhe und Unbehagen bemerkbar. Sind wir mit dieser Globalisierung noch auf dem richtigen Weg? Bringt uns die Globalisierung Segen oder Fluch?

Globalisierung - Segen oder Fluch? Während die einen Globalisierung als weltweite Wirtschaftsforderung preisen, weil Wirtschaft und Gesellschaft im Sog der Globalisierung prosperieren sollen, sehen andere Gesellschaft und Sozialwesen unter den Zwängen der Globalisierung leiden.

Für die Skeptiker und Gegner der Globalisierung steht die Globalisierung als Syn­ onym für Wettbewerb ohne Moral und Barmherzigkeit. Sie ist ein Wettbewerbs­

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sturm, der sogar noch den damaligen Manchester-Kapitalismus in England als dem Ursprungsland des freien Wettbewerbes übertrifft, da er nicht mehr auf ein Land beschränkt und damit beherrschbar ist. Sondern dieser neue Wettbewerb fegt über Ländergrenzen hinweg und „schert“ sich nicht um Belange des Einzelnen oder eines Gemeinschaftswesens. Man sieht sich vor die Wahl gestellt, entweder mitzuschwimmen und das heißt von diesem Globalkapitalstrom mitgerissen zu werden oder auszusteigen, also ein outside, ein Eremit zu werden und entspre­ chend genügsam sein Dasein zu fristen. Dieser wert- und bindungslose Wettbe­ werb schafft zwar Gewinner, ja sogar maßlose Globalgewinner, aber gleichzeitig produziert er auch Verlierer, nämlich Menschen, die nicht die nötige Kraft besit­ zen, um im Strom mit zu schwimmen, oder auch gegen ihn zu schwimmen, und die dann als Wirtschaftsverwundete und -leichen ans Ufer geschwemmt, allein gelassen, verenden und verwesen.

Nehmen wir die Ängste und Einwände ernst und fragen uns, wer Gewinner und Verlierer sein könnten. Hoch- und mehrfach beschäftigt oder arbeitslos Auf der einen Seite sind in Deutschland noch immer rund vier Millionen Men­ schen ohne Erwerbsarbeit, deren Chance, eine Stelle zu finden, mit jedem Tag der Arbeitslosigkeit abnehmen. Auf der anderen Seite prognostiziert die Organisation für wirtschaftliche Zusam­ menarbeit und Entwicklung (OECD) für Europa einen eklatant zunehmenden Facharbeiter- und Akademikermangel. Schon 1998 mahnte der OECD-Mitarbeiter Andreas Schleicher: „Hochwertige Arbeitskräfte wie Ingenieure, Informatiker und Ärzte muß sich die Bundesrepublik künftig aus dem Ausland holen, wenn sich nichts ändert.“43 Heute im Monat August des Jahres 2000 haben die ersten Hun­ dert IT-Kräfte aus dem Ausland ihre Greencard für ihren Einsatz in Deutschland erhalten!

Vermögend oder verschuldet

Statistiker schätzen das Privatvermögen der Deutschen auf rund 17 Billionen DM. 17 Billionen sind 17.000 Milliarden! Das heißt, das Privatvermögen der Deut­ schen ist sieben Mal so groß wie das verfügbare Jahreseinkommen.44 Doch nicht 43 Staatsanzeiger von Baden-Württemberg, Nr. 50, 28.12.1999, S. 21. 44 Dieses Vermögen im Wert von 17,315 Billionen DM besteht aus Sachvermögen wie beispielsweise Immobilien und aus 6,749 Billionen DM Geldvermögen.

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nur das Privatvermögen der Bundesbürger nimmt kontinuierlich zu sondern auch die durchschnittliche Verschuldung der Menschen. Die Prokopfverschuldung hat mit 34.500 DM ebenfalls einen Höchststand erreicht. Fusioniert oder „geschluckt“ Neue Branchen wie die Informationstechnologie drängen mit entsprechend positi­ ven Impulsen für die Beschäftigung in den Markt und ins Bewußtsein. Andere früher mächtige Branchen, wie Kohle und Stahl, überleben vor allem durch Sub­ ventionen, die den Niedergang zeitlich ausdehnen und ein sanftes Ende bringen. Fusions- und Konzentrationsmeldungen beeindrucken nicht nur den wirtschaftli­ chen Teil der Medienlandschaft. Die Fusion von Daimler und Chrysler war einer der Höhepunkte der Fusionswellen. Die Banken und Versicherungen rüsten sich, um führende Positionen in Europa und der Welt einzunehmen. Im Handel hatte die Konzentrationswelle mit Metro an der Spitze schon vor Jahren eingesetzt. Die De­ vise lautet: Konkurrenzvorteile durch Übernahme und Fusion.

Was für die Privatwirtschaft propagiert wird, soll auch für den öffentlichen Sektor gelten. Kommunen und Regionen betreiben Wirtschaftsförderung, Standortmar­ keting und public-private-partnership, um die Attraktivität eines Standorts zu er­ höhen. Staaten selbst sehen sich mit ihrem Angebot an Standortbedingungen wie Steuersätze, Infrastruktur und Subventionen dem internationalen Wettbewerb aus­ gesetzt. Lester Thurow sieht die Nationalstaaten und die politischen Regierungen insgesamt jedoch als Verlierer. Er befürchtet eine Weltwirtschaft ohne Weltregie­ rung, die sie regulieren und beaufsichtigen könnte. Online oder offline

Je größer die Bedeutung des Internet wird, desto notwendiger und vorteilhafter ist der Zugang in dieses Netz, also „online“ zu sein. Die Menschheit ließe sich also in die „Onliner“ einteilen, die Zugang haben, und in die, die keinen Zugang zu die­ sem Weltnetzwerk haben, also „offline“ sind. Der weltweite wirtschaftliche Wettbewerb ist ins Gerede gekommen. Ist dieser Wettbewerb, der doch als Garant eines erfolgreichen marktwirtschaftlichen Sy­ stems betrachtet wird, so noch zeitgemäß? Ist er noch gut? Tut er dem Menschen, der Gemeinschaft gut? Ist dieser Wettbewerb noch handhabbar? Ist er noch steu­ erbar? Soll die Politik, sprich der Staat, nicht weniger, sondern im Gegenteil mehr Einfluß nehmen. Wollen wir überhaupt noch den Wettbewerb? Denn je stärker der globale Wettbewerb zunimmt, desto mehr besteht bei einem Teil der Bürger und

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auch bei manchen Politikern selbst das Verlangen, den Staat zur Hilfe zu rufen. Der Staat solle den Wettbewerb eindämmen und die Bürger zumindest vor dem globalen, unberechenbaren Wettbewerb schützen. Manche gehen so weit, den Wettbewerb generell zu verneinen. Sie würden ihn gerne abschaffen.

Schaffen wir aber mit der Abschaffung nicht die Basis unseres Wohlstandes ab. Und man könnte noch weitreichender fragen, ob wir mit der Abschaffung der frei­ heitlichen wettbewerblichen Marktwirtschaft nicht auch - weil zusammengehörend - die Freiheit des politisch demokratischen Systems abschaffen? Gilt, was für die Demokratie Gültigkeit hat, nämlich dass sie die beste unter den schlechtesten po­ litischen Systemen ist, nicht auch für die wettbewerbliche Marktwirtschaft? Be­ steht bei Negierung derselben nicht die Gefahr, das Kinde mit dem Bad auszu­ schütten? Könnte es nicht so sein, dass marktwirtschaftlicher Wettbewerb und Ef­ fizienz gleichzeitig auch ein Mehr an Demokratie und vielleicht sogar Ökologie bedingen? Gehen wir zu den Ursprüngen des Wettbewerbs zurück und begeben uns in das 18. Jahrhundert.

Die Lehre vom guten Haushalten oder der Wohlstand der Nationen Im Jahre 1776 erklärten dreizehn amerikanische Staaten ihre Unabhängigkeit ge­ genüber dem britischen Empire. Im selben Jahr wurde in diesem britischen Empire ein Werk veröffentlicht, das die Geburtsstunde der Volkswirtschaftslehre und des marktwirtschaftlichen bzw. wettbewerblichen Systems45 markiert: „On the origin of the wealth of nations“. Kurztitel in Deutsch: „Wohlstand der Nationen“. Autor dieses gewaltigen Buches war der Schotte Adam Smith.

Erstaunlicherweise lehrte Smith nicht als Professor für Volkswirtschaftlehre, die es damals als eigenständiges Fach noch gar nicht gab.46 Sondern Adam Smith war Professor für Moralphilosophie. Die Oeconomia (Wirtschaft) als die Lehre vom guten Haushalten war Bestandteil der Moralphilosophie! Wenn man bedenkt, wie gegensätzlich heute Wirtschaft und Moral gesehen wer­ den, dürfte dieser Punkt schon Staunen hervorrufen. Die Paradeträger des freien Wettbewerbs, nämlich internationale Konzerne und deren Wirtschaftsbosse wer­ 45 Marktwirtschaft und Wettbewerb gehören untrennbar zusammen. Deshalb wird das System der Marktwirtschaft auch als Wettbewerbswirtschaft bezeichnet. 46 Die Betriebswirtschaftslehre entwickelte sich übrigens noch viel später zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Einrichtung des ersten Handelslehrstuhls in Leipzig 1898.

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den ja nur zu gerne der Macht- und Habgier, der Ausbeutung, der Ressourcenverschwendung und des ökologischen Raubbaus sowie des brutalen amoralischen Kapitalismus bezichtigt. Deren Denken und Handeln mit Moral und ethischen Wertvorstellungen in Verbindung zu bringen, scheint deplaziert. Und nun stelle man sich vor, dass vor über zweihundert Jahren in der Entstehungszeit des markt­ wirtschaftlichen Denkens und Handelns dieses Prinzip des angeblich amoralischen Wettbewerbs in die Moralphilosophie eingebettet war. Wie ist das zu verstehen?

„Oeconomia“ bedeutet die Lehre vom guten Haushalten. Und dieser gute und ver­ nünftige Umgang mit Ressourcen, zum Beispiel mit Arbeitskräften und Rohstof­ fen, ist eine sowohl moralische als auch effiziente Angelegenheit. Angenommen wir hätten ein bestimmtes Stück Stoff zur Verfügung. Ist es dann nicht sowohl ef­ fizienter als auch ethisch wertvoller, wenn ich aus diesem Stoff bei guter Eintei­ lung und Schneidetechnik zwei Hosen zu fertigen in der Lage bin statt einer? Die­ ses Prinzip, bei gegebenem Aufwand (in diesem Fall die bestimmte Menge an Stoff) den Ertrag (in diesem Fall die Anzahl an Hosen) zum maximieren, nennt man Maximalprinzip. Der umgekehrte Fall, dass ein gegebener Ertrag mit einem geringstmöglichen Aufwand erreicht werden soll, wird als Minimalprinzip be­ zeichnet. Beide Prinzipien umschreiben in ihrer jeweiligen Ausprägung das be­ rühmte ökonomische Prinzip. Der Moralphilosoph Smith war in seinen Analysen vom Ansinnen geleitet, die materielle Situation aller Bürger einer Nation zu verbessern. Leitfrage für ihn war: Wie können wir höchstmöglichen Wohlstand für die Nationen erreichen? Adam Smith lebte in den Anfängen der Industrialisierung und erlebte auf seinen Reisen durch Europa Ausbeutung und Abhängigkeit und damit einhergehend eine Ver­ elendung der Arbeiterschaft. Smith beschreibt nun eine Nationalökonomie, die sowohl mehr Freiheit als auch mehr Wohlstand bringen sollte und diese National­ ökonomie sieht er im freien marktwirtschaftlichen System verwirklicht. Der Markt, und das heißt, jeder von uns, kann und soll entscheiden, was produziert und was gekauft wird. Höchstmögliche Freiheit für den Einzelnen; höchstmögliche Freiheit für alle. Dass diese Freiheit von Eigennutz geleitet werden kann, betrach­ tet der Autor des „Wohlstandes“ nicht als nachteilig, höchstens als menschlich und macht das System von Angebot und Nachfrage kalkulierbar. Der Kauf eines Bro­ tes beispielsweise ist somit glücklicherweise nicht von der Gunst und Willkür des Brotverkäufers abhängig, sondern allein von der Fähigkeit und Bereitschaft des Käufers, den verlangten Preis zu bezahlen. Der Preis ist für alle gleich und das Mittel, um den Preis zu bezahlen, nämlich Geld, ist neutral.

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Durch das Streben jedes Einzelnen nach Gewinnmaximierung auf der Anbieter­ seite und Nutzenmaximierung auf der Nachfrageseite ergibt sich ein harmonisches Gleichgewicht. Mit Hilfe des Preismechanismus regeln sich in einer selbstregulie­ renden Weise Angebot und Nachfrage und fuhren zu einem harmonischen und optimalen Zustand. Die „invisible hand of God“ leitet dieses wettbewerbliche und marktwirtschaftliche System mit dem Ergebnis eines höchstmöglichen Wohlstan­ des für alle. Dieses in seinem Widerspruch - der Eigennutz des Einzelnen fuhrt zum Wohlstand der Gesamtheit - faszinierende und auf einfachen Prinzipien des Preismechanismus und des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage basie­ rende System unternahm im neunzehnten Jahrhundert seine ersten Gehversuch und hat im zwanzigsten Jahrhundert - etwas modifiziert und reglementiert - seinen Siegeszug in den westlichen Industrienationen fortgesetzt und das Konkurrenzsy­ stem der Planwirtschaft in den Ruin getrieben. Und es war nicht nur ein Sieg der Marktwirtschaft, sondern auch einer der Demokratie.

Keynes oder die „beste und demokratischste aller Wirtschaften46 Markwirtschaft und Demokratie gehören untrennbar zusammen. Das freie wirt­ schaftliche System baut auf dem freien politischen System auf und umgekehrt. Freiheit der Politik und Freiheit der Wirtschaft bedingen sich gegenseitig. In der Planwirtschaft bestimmt eine kleine Schicht von Menschen, wen ich zu wählen habe und was ich zu konsumieren habe. In der Marktwirtschaft und in der Demo­ kratie bestimmt jede einzelne Person, was sie kaufen möchte und wen sie wählen möchte. Deshalb bezeichnet unser größer Wirtschaftler dieses Jahrhunderts John Maynard Keynes die wettbewerbliche Marktwirtschaft als die „beste und demo­ kratischste aller Wirtschaften!“ Keynes hat wie Smith ein Werk veröffentlicht, von dem er selbst sagt, dass es die Art und Weise, wie man über Wirtschaft denkt, revolutionieren wird, und dieses Werk mit dem trocken klingenden Titel „On the employment, interest and money“ wurde 160 Jahre nach Smiths Meisterwerk im Jahr 1936 veröffentlicht.47 Und auch dieses Buch hat mit seinen revolutionären Ansichten weltweit für Furore gesorgt und die Denkweisen in der Wirtschaftsweit durcheinander gewirbelt und die Poli­ tik nachhaltig beeinflußt und geprägt. In Deutschland beispielsweise drückten die

47 Im Jahr 1936 wurde übrigens ein anderes Buch veröffentlicht, dessen Ruhm weit mehr als Keynes Fachbuch vom Wind in die Welt getragen wurde, nämlich Mitcherlichs grandioses Epos „Gone with the wind“ (Vom Winde verweht). Zehn Jahre Arbeit standen hinter diesem Werk. Die Verfilmung mit Clark Gable und Vivian Leigh heim­ ste verdientermaßen 12 Oskars ein.

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Sozialdemokraten in den siebziger Jahren ihrer Wirtschaftspolitik einen keynsianischen Stempel auf. Worin unterscheidet sich diese neue keynsianische Politik vom althergebrachten klassischen System? Das Smithsche System der liberalen Marktwirtschaft funktio­ nierte über lange Zeit. Es funktionierte bis zu dem Tag, der als der „schwarze Montag“ in die Geschichtsbücher einging. Im Oktober 1929 krachten die Börsen­ kurse zusammen und die Weltwirtschaft stürzte in ihre bisher schwerste Krise. In Deutschland suchten über sechs Millionen Menschen eine Erwerbsarbeit. Fotos aus dieser Zeit, die uns Menschen mit einem Schild auf dem Rücken „Suche Ar­ beit egal was“ zeigen, veranschaulichen diese tiefe Depression, sowohl der Wirt­ schaft als auch der Menschen. Das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft war im Kem erschüttert. Keynes bot einen Ausweg an. Wenn der Markt selbst nicht mehr in der Lage ist, das für einen Wirtschaftsaufschwung und mehr Beschäftigung notwendige Wachstum zu schaffen, dann muß der Staat als weiterer großer Wirtschaftsakteur diese Aufgabe übernehmen. Damit war die anti­ zyklische Konjunkturpolitik des Staates geboren. Auf einen einfachen Nenner ge­ bracht bedeutet diese staatliche Nachfragepolitik folgendes. Befindet sich die Wirtschaft in einer Rezession, steigert der Staat durch eine Erhöhung seiner Staatsausgaben, die notfalls durch Kredite finanziert werden (deficit spending) die Nachfrage und bringt damit die Wirtschaft wieder in Schwung. In Boomzeiten ist der Staat angehalten zu sparen und seine Ausgaben zu dämpfen.

Diese nachfrageorientierte und antizyklische Konjunkturpolitik des Staates fand in Deutschland in der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft*, kurz »Stabilitätsgesetz*, im Jahr 1967 ihren schriftlichen Ausdruck. Keynes Politik wurde allerdings in der Praxis nicht konse­ quent verfolgt. Mit dem Anliegen von Keynes, in Boomzeiten Rücklagen von Seiten des Staates zu bilden, tun sich die Politiker schwer. Im Übrigen stellte Keynes das liberale System der Marktwirtschaft nicht in Frage. Er plädierte jedoch für eine stärkere Einbeziehung des Staates in das wirtschaftli­ che Geschehen und er forderte Maßnahmen auf kürzere Frist. Auf das Argument der Klassiker, langfristig werde der Markt immer seine Probleme - zum Beispiel Arbeitslosigkeit - lösen, erwiderte Keynes sein zwischenzeitlich geflügeltes Wort „In the long run we are all dead“ (Langfristig sind wir alle tot). Ansonsten be­ zeichnete Keynes die Marktwirtschaft als die beste aller Wirtschaftssysteme, weil sie die demokratischste aller Wirtschaftssysteme sei.

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Nell-Breuning oder die Ethik des Wirtschaftens Nach Adam Smith und der effizienten, existenzsichemden, vor Hunger und Not bewahrenden, wohlstandsfördemden Marktwirtschaft sowie John Meynard Key­ nes und der demokratischen Marktwirtschaft möchte ich mit Oswald von NellBreuning und der ethischen (vielleicht auch ökologischen) Marktwirtschaft schlie­ ßen. Von Nell-Breuning ist sinngemäß die Aussage überliefert: Ethisch handeln heißt wirtschaftlich handeln. Diesen Ausspruch des großen Vertreters der katholischen Soziallehre sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: „Ethisch handeln heißt wirtschaftlich handeln.“ Man erinnere sich an das ökonomische Prinzip in seiner Minimal- und in seiner Maximalversion. Einen gegebenen Ertrag (Output) mit ei­ nem möglichst geringen Aufwand (Input) zu erreichen (Minimierung des Inputs) oder mit einem gegebenen Aufwand (Input) einen möglich hohen Ertrag (Output) zu erreichen (Maximierung des Outputs). Insofern handle ich ethisch, wenn ich aus dem gleichen Stück Stoff zwei Hosen statt einer fertige. Ich handle ethisch, wenn ich mit dem gleichen Stück Ackerland mehr Menschen zu ernähren in der Lage bin. Der Ressourcenverbrauch und die Verschwendung ist geringer, die „Ausbeute“ ist größer.48 Das wirtschaftliche Handeln ist nicht nur effizienter, son­ dern auch ökologischer und ethischer.

Straßenlaterne und Rauschgiftverbot Die wettbewerbliche Marktwirtschaft ist ein im höchsten Maße effizientes, demo­ kratisches und bei richtigem Gebrauch ethisches System. Im Angstzeitalter der Globalisierung sollte man nicht die Marktwirtschaft an sich als Grund allen Übels ansehen und demzufolge das Heil in einer zunehmenden Staatseinflußnahme su­ chen. Wettbewerb ist nicht eine schreckliche Folge, sondern Voraussetzung für ein gutes Funktionieren der Wirtschaft! Deshalb sollte die Diskussion nicht darüber geführt werden, ob die Marktwirtschaft weiterhin ihre Daseinsberechtigung hat, sondern diskutieren soll und muß man die Frage, mit welchen politischen, rechtli­ chen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Wirtschaft gezügelt wird, ohne sie durch zuviel Einflußnahme niederzudrücken und zu ersticken. Und diese Rahmenbedingungen sind auf internationaler Ebene zu schaffen: Eine soziale und ökologischen Marktwirtschaft im globalen Maßstab. 48 In dieser Betrachtungsweise wird unterstellt, dass die größere Ausbeute des Ackers nicht durch eine größere Ausbeutung - zum Beispiel mittelfristiges Zerstörung des Bodens durch übermäßigen Einsatz von Kunstdünger erkauft wird.

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Dass eine Marktwirtschaft ihrer Rahmenbedingungen bedarf, ist unbestritten. Das Phänomen des Marktversagens beispielsweise zeigt die Notwendigkeit für ein Eingreifen des Staates. Nehmen wir als Beispiel eine Straßenlaterne, die an einer öffentlichen Straße ihre Funktion erfüllt, indem sie den vorbeigehenden Passanten Licht spendet und Sicherheit gibt. Angenommen es wäre im Rahmen einer Exi­ stenzgründungsoffensive möglich, diese Straßenlaterne zu kaufen, um damit gege­ benenfalls Geld zu verdienen. Würden Sie sich mit der Straßenlaterne selbststän­ dig machen mit der Hoffnung auf einträgliche Einnahmen? Ein Kinobesitzer, der die Dienstleistung einer Filmvorführung verkauft, gestattet den Zutritt in den Ki­ nosaal erst dann, wenn er dafür Geld erhalten hat. Wenn jemand nicht bezahlt, wird diese Person vom Konsum des privat angebotenen Gutes ausgeschlossen. Es gilt das Ausschlußprinzip. Wie soll dieses Ausschließen nun aber bei der Straßen­ laterne funktionieren? Sie müßten eine Schranke errichten oder ein Haus um die Straßenlaterne bauen, um andere Menschen vom Konsum des Lichtes ausschlie­ ßen zu können. Technisch ist dies zwar möglich, aber unpraktisch und unsinnig. Auch die Landesverteidigung ist ein Gut, das nur über Pflichtabgaben zu finanzie­ ren wäre. Der Staat kümmert sich um diese Güter, indem er sie über Zwangsabga­ ben (Steuern) finanziert und der Allgemeinheit anbietet. Ob und von wem diese Güter wie Straßenlaterne und Landesverteidigung genutzt werden beziehungswei­ se man einen Nutzen davon hat, ist für die Finanzierung derselben unerheblich.

Neben diesen Bereichen, für deren Produktion und Anbieten sich private Unter­ nehmen nur schwerlich finden lassen, existieren Güter, die bei privaten Anbietern äußerst beliebt sind, deren Konsum aber von der Gesellschaft als schädlich für den Einzelnen und die Gesellschaft angesehen werden. Der Staat greift in die Privat­ wirtschaft ein und stellt die Produktion und das Angebot eines solchen Gutes unter Verbot. Ein Beispiel für ein solches demeritorisches, also ein nicht verdienstvolles Gut, ist Rauschgift. Im Gegensatz dazu lassen sich auch Güter bestimmen, deren Konsum von der Gesellschaft in einem so hohen Maße als bedeutend und ver­ dienstvoll für die Gemeinschaft betrachtet werden, dass sich der Staat selbst um das Angebot sorgt und die Menschen zum Konsum dieser Güter sogar verpflichtet. Man denke an die Schulpflicht oder an Impfungen.

Der Einfluß des Staates im Rahmen unserer Sozialen Marktwirtschaft geht jedoch über diese Belange hinaus. Der Staat nimmt manchen Menschen Geld weg, zum Beispiel Sozialversicherungsbeiträge wie Renten- oder Arbeitslosenbeiträge, um es anderen Menschen zu geben, zum Beispiel den Anspruchsberechtigten, sprich Rentnern und Arbeitslosen oder den staatlichen Umverteilem selbst.49 Struktur49 Der Chicagoer Ökonom Milton Friedman bemängelt, dass durch den „Sozialklimbim“ hauptsächlich die Sozial­ leistungsverteiler wie Arbeits- oder Sozialämter und die Verwaltungen finanziert und begünstigt werden. Der kleinste Teil der Abgaben komme bei den Bedürftigen an.

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und Branchenforderungen wie der Kohlepfennig oder das Wohngeld, Regionen­ forderung, Länderfinanzausgleich sowie Geld- und Zinspolitik runden die Inter­ ventionen des Staates in die Privatwirtschaft ab. Als eigentlicher Souverän in der Wirtschaft sollte bei aller berechtigten Einfluß­ nahme jedoch nicht der Staat, sondern der unternehmerische Anbieter und der konsumierende Nachfrager handeln. Es ist gut und sollte auch so bleiben, dass die grundsätzliche Entscheidungsfreiheit bei jedem Einzelnen von uns bleibt. Die Grundprinzipen der wettbewerblichen Marktwirtschaft, nämlich Freiheit, Effizienz und Demokratie, sind hohe Werte, die man aus einer Angstreaktion heraus nicht aufgeben sollte. Nicht das ,ob‘ sollte in der Diskussion um Wettbewerb und Glo­ balisierung im Vordergrund stehen sondern das ,wie‘. Welche politischen und rechtlichen und moralischen Rahmenbedingungen sind zu ändern oder neu einzu­ richten, auf nationaler und vor allem auf supra- und internationaler Ebene.

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2 Wettbewerbsfaktor Bildung oder warum Bildung „zwecklos“ ist Wenn wir Wettbewerb und Globalisierung im Grundsatz akzeptieren und uns dann fragen, welche Faktoren ein Unternehmen oder einen Staat Wettbewerbs- und kon­ kurrenzfähig machen, stoßen wir immer wieder und immer stärker auf den Aspekt der Qualifizierung. Bildung und Wissen sind der entscheidenden Erfolgsfaktor in unserer Weltgesellschaft. Das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln analysierte die Firmenstruktur in Deutschland unter dem Aspekt der Beschäftigungsentwicklung in der Wirtschaft. Im Ergebnis erweist sich der Mittelstand als der „Beschäftigungsmotor“ in Deutschland. Ergänzt wird das Ergebnis mit der Feststellung, dass die Unterneh­ men die höchste Wachstums- und Beschäftigungsperspektive aufweisen, deren Mitarbeiter ein hohes Qualifizierungsniveau besitzen.50 Dieses Ergebnis wird durch eine Studie bestätigt, die auf einer umfangreichen Umfrage in der mittel­ ständischen Wirtschaft in Deutschland basiert. Auf die Frage, welche Faktoren in den nächsten zwei Jahren am wichtigsten für eine erfolgreiche Entwicklung im Unternehmen sind (zwanzig Punkte standen zur Auswahl), wurde an erster Stelle und mit großem Abstand der Aspekt „Mitarbeiter qualifizieren“ genannt!51 Im Hochlohnland Deutschland schaffen Innovationen sowie technische und design­ orientierte Entwicklungen entscheidende Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Ländern. Machbar ist dies nur mit hoch qualifizierten Unternehmern und Mitar­ beitern. Und dieser Wissenswettbewerb benötigt das Engagement aller Beteiligten, des einzelnen Bürgers, sei es als Schüler, Student oder Mitarbeiter, der Unterneh­ men und des Staates, der für optimale Rahmenbedingungen zu sorgen hat. Hu­ mankapital ist der „unique selling point“52 der deutschen Wirtschaft.

Recht auf Bildung oder Pflicht zur Bildung In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 der rot-grünen Regierung ist zu lesen: „Unsere Leitidee ist das Recht auf Bildung, das heißt die bestmögliche Bil­ dung für alle. Ziele sind mehr Chancengleichheit, Gleichwertigkeit aller Bildungs­ gänge und die Förderung unterschiedlicher Begabungen, weniger Bürokratie, da­ für mehr Leistung, mehr Effizienz und mehr Wettbewerb.“ Und in der Regie­ 50 iwd Informationszeitschrift des Instituts der Deutschen Wirtschaft 1999. 51 mind-Studie „Mittelstand in Deutschland“ 1999 herausgegeben von Impulse und der Dresdner Bank. 52 „Unique Selling Point“ USP beschreibt den entscheidenden Unterschied und Wettbewerbsvorteil eines Produkts im Vergleich zu den Konkurrenzprodukten (Beispiel Spalttablette: Der „Spalt“ wäre hier der USP).

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rungserklärung spricht Bundeskanzler Gerhard Schröder am 11. November des selben Jahres: „Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesell­ schaft. Wissensgesellschaft heißt für mich Qualifikationsgesellschaft.“ Um Deutschland zum Qualifikationsstandort Nr. 1 zu machen, plant die Bundesregie­ rung, in den Jahren 2000 bis 2003 zehn Milliarden DM zusätzlich für Bildung, Forschung und Entwicklung bereitzustellen. Dass der Wissensgesellschaft das Wort geredet wird, heißt nun aber nicht, Qualifi­ zierung habe bisher keine Rolle gespielt. Im vorigen Kapitel wurde Bildung als Beispiel für ein meritorisches Gut genannt, ein für die Allgemeinheit wert- und verdienstvolles Gut. Das Angebot an Bildung und die Nachfrage nach derselben wird nicht dem Markt und dem Wettbewerb überlassen, sondern der Staat greift in das Marktgeschehen ein, indem er den Erwerb von Wissen nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht betrachtet. Die Schule in Deutschland darf nicht nur jedes Kind, sondern muß jedes Kind besuchen. Die Finanzierung dieses Gutes ,Schul­ bildung4 wird über steuerliche Zwangsbeiträge sichergestellt. Der Staat und die Gesellschaft haben ein berechtigtes Interesse, dass man allen Menschen - wenn sie schon nicht Geld- oder Sachkapital besitzen - doch wenigstens die Chance zur Bildung von Humankapital einräumen muß. Bestünde keine Schulpflicht und gäbe es ausschließlich teure Privatschulen, hätte das sicherlich zur Folge, dass ein Teil der Bevölkerung, entweder weil er es des Geldes wegen nicht könnte oder weil er es nicht wollte, das Gut Schulbildung nicht nachfragen würde. Dieses Risiko möchte man vermeiden. Für den Fortbestand und die Wettbewerbsfähigkeit einer Gemeinschaft wird Bildung als so verdienstvoll angesehen, dass alle Gemein­ schaftsmitglieder an diesem Gut teilhaben dürfen und müssen. Eine Nichtteilnah­ me von Gesellschaftsmitgliedem hätte negative Konsequenzen für das Gesamt­ system und somit auch für die Teilnehmenden.53

In welchem Maße das Gut Bildung als Mittel zum Zweck eines erfolgreichen wirt­ schaftlichen Wettbewerbs oder als kultureller Selbstzweck verstanden wird, sei an dieser Stelle dahingestellt. Festzuhalten ist jedoch, dass Wissen und Bildung zu Wettbewerbsvorteilen führen und zwar sowohl betriebswirtschaftlich im Hinblick auf das einzelne Unternehmen, das sich wettbewerblich mit seinen Konkurrenten messen muß, als auch volkswirtschaftlich im Hinblick auf den Standortwettbewerb von Staaten. Hinzu kommen nicht zu leugnende Wettbewerbsvorteile für die Nachfrager von Arbeitsplätzen beziehungsweise Anbieter von Arbeitskraft. Ein 53 In der Diskussion um Studiengebühren führen die Gegner derselben besonders diesen Aspekt an, weil sie be­ fürchten, dass sich dann ein Teil der Bevölkerung - die Ärmeren - ein Studium nicht mehr leisten können und wol­ len.

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Stellenbewerber erhöht im selben Maße seine Attraktivität, wie er Humankapital anbieten kann. Bildung und Wissen sind allseits akzeptierte und wünschenswerte Güter in unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Die Menschen, die sich durch ein hohes Niveau an Bildung und Wissen legitimieren, zum Beispiel Professoren, Wissenschaftler und Experten, erfahren eine entsprechend hohe Anerkennung in der Gesellschaft. Ver­ gleichbares gilt auch für die beruflichen Standesvertreter, die Güter mit einer ho­ hen gesellschaftlichen Wertschätzung anbieten, wie Ärzte und Richter. Denn diese Berufsgruppen vertreten die erstrebenswerten Güter Gesundheit und Gerechtigkeit beziehungsweise was das Letztere anbelangt zumindest das Gut Recht. Alle drei Güter, Bildung, Gesundheit und Recht (man könnte auch noch bestimmte Bereiche der Kultur und Kunst in die Betrachtung mit einbeziehen) galten bisher als sakro­ sankt und „out of money“. Materielle und finanzielle Erwägungen wie die Finan­ zierbarkeit dieser „hehren“ Leistungen haben bisher keine Rolle gespielt, weil sie es nicht gespielt haben durften. Darf Gesundheit eine Frage des Geldes sein? Darf Recht von Geld abhängen? Darf Kunst und Kultur ökonomischen Zwängen unter­ liegen? Darf die Chance auf Bildung von finanziellen Möglichkeiten beschnitten werden? Solche Fragen waren in Zeiten eines scheinbaren finanziellen Überflusses tabu und vor allem nicht notwendig. Heute in Zeiten knapper Kassen belegen die Lobbyisten diese Themen weiterhin mit dem Siegel des Tabus. Aber die Diskussi­ on um die Finanzierbarkeit dieser Güter ist nicht aufzuhalten. Und im Sog dieser Diskussion befindet sich eben auch unser Bildungsgut. Wer bestimmt, welche Bildung richtig und wichtig ist? Welches Wissen soll vermittelt werden? Inwiefern sollen die Nachfrager von Bildung zur Kasse gebeten werden? Wie soll die Weitergabe von Bildung organisiert werden? Wie sollen in Zukunft unsere Bildungseinrichtungen, Schulen und Universitäten, agieren? Welchem Zweck hat Bildung zu dienen? Hat Bildung überhaupt einem Zweck zu dienen? Ist Bildung frei? Oder hat sich Bildung nach den Anforderungen der Wirtschaft zu richten?

„Ist Bildung frei?“ oder Humboldts humanistisches Bildungsideal Im Bertelsmann-Lexikon ist zum Begriff Bildung folgendes zu lesen: „Bildung, urspr. im Sinne (äußere) Gestaltung gebraucht, erhält in der Zeit des deutschen Idealismus die Bedeutung innere Formung, Entfaltung der geistigen Kräfte des Menschen durch Aneigung kultureller Werte der Umwelt und der Vergangenheit und ihre Verarbeitung zu einer ganzheitlichen Ganzheit.“

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Wirtschaftliche und berufliche Aspekte, die in der heutige Bildungsdiskussion gerne angeführt werden, sind in dieser Definition nicht enthalten. Betont werden Selbstformung und -entfaltung des einzelnen Menschen und seine Einbettung in eine kulturelle Umwelt. Geprägt ist diese Bildungsdefinition vom Bildungs- und Wissenschaftsverständnis des Staatsministers und Humanisten Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert.54 Die Welt des Griechentums und die Sprache und Dichtung seiner Zeit standen als Bildungsgüter im Vordergrund. Mit von Hum­ boldt verbindet sich ein philosophisch und literarisch-ästhetischer Bildungsbegriff. Das Leitbild der „Freiheit von Forschung und Lehre“ bildet die oberste Maxime menschlichen Lernens, Lehrens und Forschens. Von Humboldt spricht den häufig zitierten Satz: „Wissenschaft hat zu geschehen in Einsamkeit und Freiheit!“ Der 1746 in Zürich geborene Sozialpädagoge Johann Heinrich Pestalozzi propa­ giert ein Bildungssystem, in dem Vernunft, Gefühl und Willen gleichermaßen im Einklang gebildet und gefordert werden. Der Bildungsstoff hat für den Sozial- und Bildungsreformer eine untergeordnete Bedeutung. Pestalozzi wünscht eine „För­ derung geistig-seelischer Anlagen und Fähigkeiten unabhängig von Zwecken.“ Karl Jaspers schreibt 1945 in „Die Idee der Universität“: „Die Universität ist die Stätte, an der Gesellschaft und Staat das hellste Bewußtsein des Zeitalters sich ent­ falten lassen. Dort dürfen als Lehrer und Schüler Menschen zusammenkommen, die hier nur den Beruf haben, Wahrheit zu ergreifen... An der Universität verwirk­ licht sich das ursprüngliche Wissenwollen, das zunächst keinen anderen Zweck hat, als zu erfahren, was zu erkennen möglich ist und was aus uns durch Erkennt­ nis wird.“55

Nach diesen idealen und poetischen Ausführungen folgt nun eine sehr nüchtern formulierte Aussage, die lautet: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieser Satz ist bekannt. Er steht in unserem Grundgesetz unter Artikel 5 im dritten Absatz.56 Dieses grundgesetzliche Freiheitsversprechen ist jedoch nicht bedingungslos. Die staatliche Anerkennung einer Bildungsinstitution wie Schule oder Universität setzt nämlich ein Ausbildungsziel voraus. So überlegt sich bei­ spielsweise die in Gründung befindende Seniorenuniversität in Holzen im Süd­ schwarzwald, welche Fächer sie als Ausbildungsziel anbieten könnte, um die staatliche Anerkennung als Hochschule zu erhalten. Gedacht ist unter anderem an das Berufsfach „Kulturmorphologe“. 54 Wilhelm von Humboldt lebte von 1767 bis 1835. 55 zitiert aus Jörg Wolf: Selbstverpflichtung zum Denken, Forschung & Lehre, 9/1998, S. 478. 56 Im Gründungsgesetz der Kantonsuniversität Zürich von 1832 ist ähnliches zu lesen: „An der Hochschule gilt akademische Lehr- und Lemfreyheit.“ zitiert aus Rainer A. Müller: „Freiheit der Wissenschaft“ in Forschung & Lehre, 12/1998, S. 642-644.

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Gelten also tatsächlich in Reinform diese Postulate der Freiheit von Forschung und Lehre, der Wissenschaft in Freiheit, der Bildungsunabhängigkeit von Zwekken? Klingen diese Forderungen zwar schön, sind aber letztlich naive Wünsche und Vorstellungen? Wenn Bildung unabhängig von Zwecken sein soll, ist sie so­ mit zwecklos - abgesehen vom Selbstzweck selbst? Oder soll Bildung vorrangig bestimmte Zwecke befriedigen, wobei in diesem Fall vor allem wirtschaftliche Zwecke das Bildungsszenario beherrschen? Hat sich Bildung nach den Anforde­ rungen der Wirtschaft zu richten?

Bildung und die Anforderungen der Wirtschaft „Seit die Pathosformel von Einsamkeit und Freiheit nur noch für das Marketing der Geisteswissenschaften taugt, schreibt die Universität denn auch an ganz neuen Mythen: Praxisnähe, also Fremdselektion. Und das heißt im Klartext: Andere (vor allem natürlich aus der Wirtschaft) entscheiden, was wissenswert ist.“ Wer hier Klartext redet, ist Norbert Bolz in seinem Beitrag „Der Professor als Held“.57 Dem Mythos der Praxisnähe fügt er den Wahn des Teamgeist und der Betreuung, sprich Mensch-zu-Mensch-Pädagogik hinzu.

Tatsächlich stehen in der aktuellen Bildungsdiskussion Aspekte im Vordergrund, die stark von wirtschaftspolitischen und beruflichen Erwägungen geleitet werden. Dazu gehören Forderungen wie ein stärkerer Praxisbezug der (Aus-)Bildung, kür­ zere Studienzeiten und die Einführung neuer Ausbildungsgänge. Erwünscht wird desweiteren eine verstärkte Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft, die Förderung von Existenzgründertum und Unternehmertum (entrepreneurship), die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Produkte und deren Ver­ marktung sowie eine stärkere Internationalisierung der Ausbildung. Der globale Sturm der Wirtschaft erschüttert nun also auch den Elfenbeinturm der Wissenschaft und wirbelt kräftig althergebrachte Meinungen und Organisations­ strukturen im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb durcheinander - mit der Gefahr, das Kind mit dem Bad auszuschütten und sinnvolle und erprobte Bestandteile des deutschen Bildungssystems zu negieren und abzuschaffen. Nachdem es sozialen Institutionen, Kultureinrichtungen wie Theater und Oper und Gesundheitseinrich­ tungen wie Krankenhäusern „an den Kragen gegangen“ ist, sind die Repräsentan­ ten von Bildung und Wissenschaft an der Reihe. Das lange Zeit erfolgreiche und von aller Welt bewunderte deutsche Bildungsmodell steht in der Kritik. Die Re­ formwilligen sehen das Bildungssystem nicht mehr den heutigen gesellschaftli­ 57 In Forschung & Lehre, 7/1998, S. 340.

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chen und wirtschaftlichen Anforderungen gewachsen und fordern deshalb eine grundlegende Umstrukturierung. Den sich dem Humanismus und der Freiheit verpflichteten Bildungsidealisten ste­ hen die pragmatischen, berufsorientierten Bildungspraktiker gegenüber. Bildung wird ausschließlich über ihre Funktion als Mittel zum Zweck definiert, das heißt als Dienstleistungsmodell oder treffender als dienende Trägerin für die Belange der Wirtschaft. Bildungseinrichtungen repräsentieren Maschinerien, die Menschen mit dem Ziel „ausspucken“, sie schnell und effizient für bestimmte Aufgabenbe­ reiche in den Unternehmen einsetzen zu können. Nicht mehr die Kultus- und Wis­ senschaftsminister der Länder bestimmen die Lehrpläne an Schulen, Berufsaka­ demien, Fachhochschulen und Universitäten, sondern die Vertreter der Wirtschaft. Bildungsreformer und -träger wären dann Hans Peter Stihl, der Vorsitzende des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), oder Hans-Olaf Henkel, der Vor­ sitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), oder Dieter Murr­ mann, der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes. Sollen dann diese Männer, die den drei mächtigsten Wirtschaftsvereinigungen in Deutschland vorstehen, die Lehrpläne für unsere Bildungseinrichtungen erarbeiten? Oder sollte man als Kom­ promiß im politischen Raum bleiben und die Zuständigkeit für Lehrpläne und Ausbildungsinhalte lediglich von den Kultur- und Wissenschaftsministerien auf die Wirtschafts- und Finanzministerien übertragen?

Die Wirtschaft würde sich selbst jedoch keinen Gefallen tun, wenn nur das gelehrt und gelernt würde, was momentan für die Wirtschaft und das Berufsleben von Nutzen wäre. Denn erstens vermag die Wirtschaft nicht vorherzusagen, ob das, was jetzt in der Schule oder im ersten Semester vermittelt wird, in einigen Jahren noch wissensrelevant ist. Klaus Landfried, der Präsident der Deutschen Hoch­ schulrektorenkonferenz, konstatiert: „Ein auf »Ausbildung* reduziertes Studium kann es schon deshalb nicht geben, weil niemand die Arbeitsmärkte von morgen kennt.“58 Zweitens, und dieser Punkt ist noch entscheidender, kann die Wirtschaft Wissen nicht nur nicht planen, sie sollte es auch nicht tun, auch wenn sie es könn­ te. Gerade Vertreter aus der Wirtschaft selbst fordern den kreativen und nicht al­ lein den angepaßten Mitarbeiter. Wirtschaftlicher Fortschritt basiert auf Ideen, auf Erfindungen und Innovationen. Und diese können wir letztlich nicht operationali­ sieren. Gerade zweckfreies Forschen und Bilden schafft zukünftige wirtschaftliche Innovationen. Würden wir nur das umsetzten, was wir lernen und umgekehrt, gäbe es keine Entwicklung. Wir müssen reflektieren und infrage stellen, wir brauchen Zufälle, wir leben von Eingebungen, wir benötigen ein kreatives Chaos an Men­ schen und Wissenschaftsdisziplinen. Das Gegenüber von Theoretikern und Prakti­ 58 Klaus Landfried: Bildung und Ausbildung - zwei Welten? In: academix 1999.

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kern ermöglicht einen oszillierenden Wettstreit und schafft den Humus für neue Ideengewächse. Das Streben nach Wissen und Erkenntnis ist dem Menschen immanent. Es hat sei­ nen Zweck in sich selbst beziehungsweise verfolgt keine Zwecke und ist somit in diesem Sinne zwecklos. Zum Menschen gehört andererseits aber auch das Arbei­ ten und Wirtschaften59 und insofern nicht allein die allgemeine, „berufslose“ Bil­ dung, sondern auch die zweckgerichtete berufliche Ausbildung.

Erste vorsichtige Annährungsversuche zwischen zweckfreier Wissenschaft und Wirtschaftsinteressen sind im Hochschulsektor zu erkennen. Man öffnet sich dem Gedanken einer Vermarktung von Forschungsideen. Die Umsetzung von Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnissen in verkauffähige Produkte gewinnt an Be­ deutung. In Baden-Württemberg werden durch eine Initiative der Landesregierung Existenzgründung und Entrepreneurship auf dem Campusgelände gefordert. Die­ ses vom Informationszentrum für Existenzgründung betreute Förderprogramm nennt sich „Campus“. Eine Plattform für die Überwindung der gegenseitigen Skepsis und Annährung von Wissenschaft und Praxis bietet der Weiterbildungssektor. Die Hochschule in St. Gallen in der Schweiz beispielsweise bietet für Führungskräfte aus kleinen und mittleren Unternehmen das KMU-Seminar an. Hochschulen und Berufsakademien in Deutschland entdecken ebenfalls den Weiterbildungsmarkt und erweitern ihr Bildungsangebot und ihren Interessentenkreis. Bildungsempfänger werden zu Kunden. Entsprechend resümiert Klaus Haefner: „Die Universität des 21. Jahr­ hunderts wird sich - und dies gilt schon heute für viele amerikanische Einrichtun­ gen - sehr stark als wirtschaftliches Unternehmen verstehen müssen, welches ver­ sucht, über effiziente Lehr- und Forschungsleistung seine Kosten zu decken, selbst wenn der Staat weiterhin eine „Grundfinanzierung“ übernimmt. “60Andererseits moniert der Deutsche Hochschulverband in einer Resolution: „ Wer die Universität nur noch als einen Faktor im Wirtschaftsstandort Deutschland gelten läßt, ver­ kennt ihren gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag und ihre Eigenart. Er fügt damit nicht nur Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur, sondern auch dem geistigen Umfeld schweren Schaden zu, auf das gerade der Wirtschaftsstandort Deutschland angewiesen ist. Nur der in der Persönlichkeit gebildete unternehme­

59 obwohl eine Idealvorstellung des Lebens im Bilde des Schlaraffenlandes Leben ohne Arbeit und Mühen favori­ siert. Doch ein Leben in Muße und Müßiggang wird heutzutage mit dem Hinweis „Müßiggang ist aller Laster An­

fang“ abgelehnt. 60 Klaus Haefner: Ein neues Modell - der Universitätsprofessor des 21. Jahrhunderts. In: Forschung & Lehre, 7/1998, S. 343.

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rische Geist gewährleistet den Erfolg und die Anziehungskraft eines jeden Wirt­ schaftsstandortes im internationalen Wettbewerb. °61 Bildung ist gleichermaßen frei und eingebettet in ökonomische Zwänge. Die Wahrheit liegt auch hier in der Anerkennung des Widerspruchs (Laotse).

61 Resolution des Deutschen Hochschulverbandes, verabschiedet zum 49. Hochschulverbandstag am 17.03.1999 in Bonn. Forschung & Lehre, 6/1999, S. 3O7f.

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3 Duales (Aus-) Bildungssystem oder warum die Berufsakademie die erfolgreichste Innovation in Baden-Württemberg ist Als im März 1998 mein beruflicher Wechsel von Stuttgart an die Berufsakademie Villingen-Schwenningen anstand, gab es interessante und aufschlußreiche Reak­ tionen auf meine Ankündigung, an die „BA“ zu wechseln. Ein Teilnehmer an den damaligen Seminaren für Existenzgründer gratulierte mir zur neuen Stelle bei Bri­ tish Airways. Eine Mitarbeiterin wiederum verbreitete die Nachricht, dass ich beim Bürgermeisteramt in Villingen-Schwenningen meinen Dienst antreten wür­ de. Auf meine Rückfrage, seit wann es Professorenstellen beim Bürgermeisteramt gebe, antwortete die so Gescholtene entwaffnend naiv „Was weiß ich, was Sie da auf dem Bürgermeisteramt so genau machen.“

Die Berufsakademie stellt das Licht auf den Scheffel Informationsdefizite zur Berufsakademie bestehen selbst noch im Herkunftsland Baden-Württemberg. Dies mag erstaunen, aber gleichzeitig auch erklärbar sein.

Erstaunen kann dieses mangelnde Wissen deshalb, weil • die Berufsakademie zwischenzeitlich seit 25 Jahren existiert und im Jahr 1999 in Stuttgart dieses runde Jubiläum gefeiert hat, • inzwischen acht Berufsakademien an zehn Standorten im südwestlichsten Bun­ desland rund 15.000 Studenten ausbilden, • über fünftausend Firmen und Institutionen mit der Berufsakademie kooperieren • die direkte Übemahmequote zum Zeitpunkt des Studienabschlusses der Di­ plom-Betriebswirte, -Ingenieure und Sozialpädagogen über 90% beträgt. In manchen Fachrichtungen ist eine hundertprozentige Übemahmequote zu bele­ gen,62 • in den letzten Jahren auch andere Bundesländer „auf den Geschmack gekom­ men“ sind und Berufsakademien gegründet haben. Berlin und Sachsen haben hier ein Vorreiterrolle gespielt. Niedersachsen, Thüringen und Hessen wollen nachfolgen.

62 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung überschrieb einen Artikel zur Berufsakademie mit dem treffenden Titel „Ohne Praxisschock auf einen sicheren Arbeitsplatz wechseln“, FAZ 07.11.1998.

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Trotz dieser Erfolgsaspekte, die einen hohen Bekanntheitsgrad der Berufsakade­ mie vermuten lassen würden, erstaunt der relativ niedrige Kenntnisstand.63 Doch dieses Phänomen läßt sich leicht mit einem Charakterzug der „Musterländler“ er­ klären. Nach dem Motto „Schaffen und Leistung bringen, statt schwätzen (reden) und loben“ hat sich die Berufsakademie im Stillen, zum Teil unbemerkt aus einem kleinen zarten Pflänzlein zu einem zwischenzeitlich starken Baum entwickelt. Der überaus erfolgreiche Verlauf der „BA-Story“ hat nun jedoch die Berufsakademien ermuntert, ihr Licht auf den Scheffel zu stellen, indem sie für sich die Öffentlich­ keitsarbeit erfanden. In den letzten Jahre kam es zur Einstellung von Presserefe­ renten an den Berufsakademien und die Jubiläen an den einzelnen Akademien werden öffentlichkeitswirksam mit Unterstützung der Landesregierung gefeiert.64 Worin liegt nun aber der Erfolg dieses von der Landesregierung so gehätschelten Bildungsmodells? Um diese Frage zu beantworten gehen wir zeitlich zurück in die Anfänge der siebziger Jahre. Damals machten sich drei renommierte Unterneh­ men, Daimler Benz, Bosch und SEL, und die Landesregierung Baden-Württem­ berg daran, ein neues Ausbildungs- und Studienmodell ins Leben zu rufen, damals noch als Stuttgarter Modell firmierend. Dieses Stuttgarter Modell diente schließ­ lich als Keimzelle für die Gründung der Berufsakademie im Jahre 1974.

Damals Antworten auf Fragen von heute Das Erstaunliche an dieser Gründungsidee ist, dass mit der Initiierung der Be­ rufsakademie vor 25 Jahren bereits Antworten auf Fragen gefunden wurden, die sich heute im Bildungssektor mit aller Macht stellen. Auf einer von der Katholi­ schen Universitätsgemeinde in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt und dem Studentenwerk durchgeführten Tagung im Jahre 1998 an der Universität Konstanz unter dem Titel „Universität - Sprungbrett oder Sackgasse in den Arbeitsmarkt“ hielt der Verantwortliche für Aus- und Weiterbildung der Firma IBM den Eröff­ nungsvortrag. Ich erinnere mich noch genau an folgende Aussage des Referenten, die ich sinngemäß wiedergebe: All die Aspekte, die heutzutage in der bildungspo­ litischen Diskussion gefordert werden, nämlich kürzere Studienzeiten, mehr Pra­ xisbezug und Anwendungsorientierung des Studiums, Internationalisierung des Studiums und der Bildungsabschlüsse, sind bereits von einer Institution par ex­ cellence umgesetzt worden, und diese Institution ist die Berufsakademie! 63 Die Berufsakademien werden aufgrund ihrer unglücklichen Wortwahl immer wieder mit den Berufsschulen verwechselt. M Die Berufsakademie Stuttgart als Erstgründung beging im Jahre 1999 ihr 25jähriges Jubiläum. VillingenSchwenningen kann die Jahreszahl 2000 für das 25-Jahre-Jubiläum nutzen.

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So sahen schon damals in den siebziger Jahre Unternehmen eine Lücke und einen Bedarf für ein neues Bildungsmodell zwischen Schule und Universität. Auch die Fachhochschulen mit ihrem Hang und Drang zur Universität konnten die betriebli­ che Nachfrage nicht optimal befriedigen. Nach dem chinesischen Sprichwort „Es ist besser ein kleines Licht anzuzünden als über die Dunkelheit zu jammern“ wur­ de schließlich die Berufsakademie gegründet. Heute bieten acht Berufsakademien an zehn Standorten in Baden-Württemberg ihre Dienste für die Firmen und Studenten an. Nach Stuttgart und Mannheim folgte 1975 als dritte Gründung die Berufsakademie in Villingen-Schwenningen. Danach folgten die Standorte Heidenheim, Karlsruhe, Lörrach, Mosbach, Ravens­ burg mit der Außenstelle Tettnang sowie die Stuttgarter Außenstelle Horb.

Betriebswirte, Ingenieure und Sozialpädagogen Die Studentenzahlen verzeichnen einen Zuwachs von ursprünglich 18 Studieren­ den auf 18.000 Teilnehmer im Jahr 2001. Parallel stieg der Anteil der Unterneh­ men und Institutionen, die mit der Berufsakademie kooperieren auf rund fünf Tau­ send. Drei Abschlüsse sind in den jeweiligen Ausbildungsbereichen der Be­ rufsakademie zu erwerben:

• Wirtschaft: • Technik: • Sozialwesen:

Diplom-Betriebswirt/in Diplom-Ingenieur/in Diplom-Sozialpädagoge/in

Daneben sind im Zuge der Interdisziplinierung von Fachgebieten neue Studien­ gänge und Abschlüsse eingerichtet worden. An der Berufsakademie Horb kann der Diplom-Wirtschaftsingenieur erworben werden, während sich in VillingenSchwenningen junge Menschen zum Diplom-Sozialwirt qualifizieren lassen kön­ nen.

Die Ausbildungsbereiche Wirtschaft, Technik und Sozialwesen sind ihrerseits in spezielle Fachrichtungen aufgeteilt. So gibt es beispielsweise im Ausbildungs­ bereich Wirtschaft der Berufsakademie Villingen-Schwenningen folgende Fach­ richtungen:

• Banken und Bausparkassen • Industrie • International Business Administration

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• Mittelständische Wirtschaft • Steuern und Prüfungswesen • Wirtschaftsinformatik Das Studium in Fachrichtungen begründet sich in erster Linie aus der Kooperation mit den beteiligten Firmen. Studenten, die zum Beispiel einen Ausbildungsplatz bei einer Bank haben, fuhren ihr Studium in der Fachrichtung Bank durch. Mit diesem branchenbezogenen Fachrichtungsmodell soll eine spezifische an den Be­ langen der Ausbildungsbetriebe ausgerichtete Qualifizierung ermöglicht werden.

Neben diesen branchenbezogenen Fachrichtungen existieren inhaltliche ausge­ richtete Fachbereiche wie International Business Administration und Wirt­ schaftsinformatik. Diese Fachrichtungen rekrutieren ihre Studierenden aus unter­ schiedlichen Branchen, bieten aber einen inhaltlichen Schwerpunkt an.

Abitur und Ausbildungsvertrag Angenommen, jemand habe Interesse an einem Studium an der Berufsakademie. Welche Voraussetzungen müssen erfüllen werden und welche Schritte sind zu unternehmen, um einen Studienplatz zu erhalten? Zwei Bedingungen sind zu er­ füllen. Erstens wird die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife benötigt. Um ein BA-Studium aufnehmen zu können braucht man also das Abitur, entweder das an einem allgemeinen Gymnasium erworbene oder das von einem Wirtschaftsgymna­ sium oder technischen Gymnasium mitgebrachte Reifezeugnis. Die Fachhoch­ schulreife reicht als Zulassungsvoraussetzung für ein Studium an der Berufsaka­ demie nicht aus. Eine Ausnahme besteht darin, dass jemand ein Studium an einer Fachhochschule absolviert und ein entsprechendes Diplom erworben hat. In die­ sem Fall ersetzt das Fachhochschuldiplom das geforderte Abiturzeugnis. Der Zu­ gang zur Berufsakademie ist somit mit einer höheren Hürde verbunden als der Eintritt in ein Fachhochschulstudium. Zweitens wird ein AusbiIdungsvertrag mit einer Firma oder einer Institution, die in einem Kooperationsverhältnis mit der Berufsakademie steht, verlangt. Diesen Ausbildungsvertrag kann man erhalten, indem man auf entsprechende Stellenan­ zeigen von Unternehmen reagiert und sich dort bewirbt. Bei größeren Firmen kann es jedoch vorkommen, dass sich mehrere Duzend Personen auf einige wenige Ausbildungsplätze bewerben. Diese Unternehmen - in unserem BA-Einzugsgebiet

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denke ich an Firmen wie Aesculap oder Marquardt - können aufgrund dieser gro­ ßen Resonanz ein ziemlich rigoroses Bewerbungsverfahren durchfuhren und aus­ sichtsreichen Talenten eine Chance geben. Potentielle BA-Studenten haben jedoch auch die Möglichkeit, durch eigene Initiative Firmen für sich zu gewinnen, die bisher noch keinen Ausbildungsplatz für ein Studium an der Berufsakademie an­ geboten haben.65 Mit dem Abiturzeugnis und dem Ausbildungsvertrag in der Ta­ sche ist schließlich die Anmeldung zum Studium an der Berufsakademie möglich. Eine Ablehnung wegen mangelnder Studienplätze geschieht selten und sollte ein Ausnahmefall sein.

Der bisher beschriebene Vorgang ist in seiner formalen Dimension dargestellt worden. Die BA-Spezifität liegt allerdings darin, dass die Bewerbungsverfahren von persönlichen Kontakten und Gesprächen mit den Firmenvertretern und den Bewerbern beziehungsweise Studenten getragen werden.

Die Entscheidungsträger im BA-Dreiergremium

63 Ein an der Berufsakademie installierter Ausschuß, der Duale Senat, entscheidet dann nach Vorschlag des zustän­ digen Fachleiters über die Neuaufnahme von Firmen. Kriterien hierbei sind die Betreuungs- und Ausbildungsbe­ reitschaft sowie entsprechende Kapazitäten in den Firmen.

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Für diesen persönlichen Bezug zeigt sich an der Berufsakademie der Leiter eines Fachbereiches zuständig und verantwortlich. Der Fachleiter pflegt den Kontakt mit den Firmen und berät die Abiturienten und Studierenden. Der persönliche Bezug zwischen Fachleiter als BA-Vertreter und Personalchef als Firmenvertreter und Student bzw. Auszubildender schafft die Voraussetzung für eine intensive und er­ folgsorientierte Betreuung.

Wie geht es nun weiter, wenn das Abiturzeugnis und der Ausbildungsvertrag an der Berufsakademie eingereicht wurden? Üblicherweise beginnt das Studium im Oktober eines Jahres. Die erste Studienphase dauert drei Monate und schließt mit verschiedenen Klausuren ab. Danach steht ein dreimonatiger Einsatz im Unter­ nehmen an, dem wiederum die dreimonatige Theoriephase folgt. Insgesamt sind im wechselseitigen Rhythmus sechs Studienphasen an der Berufsakademie und sechs Praxisaufenthalte in den Firmen vorgesehen. Mit erfolgreichem Bestehen dieses dreijährigen Studiums wird das Diplom verliehen. Auf den Zwischenab­ schluß, vergleichbar dem Vordiplom an der Universität, sollte noch hingewiesen werden. Nach zwei Jahren kann nämlich nach erfolgreich abgelegten Prüfungen im Bereich Wirtschaft der Wirtschaftsassistent als Bezeichnung geführt werden. Dieser Abschluß hat jedoch keine praktische Bedeutung. Denn kaum jemand wird auf das dritte Jahr verzichten, wenn zwei Jahre erfolgreich absolviert wurden. In den drei Jahren sind eine Vielzahl von Klausuren und mündliche Prüfungen (Assistenten- und Diplomprüfung) abzulegen. Hinzu kommen Praxisberichte, Stu­ dienarbeit und Diplomarbeit.

Anwesenheitspflicht mit Ausbildungsvergütung Der Stundenplan eines BA’lers ist dichtgedrängt. Das Deputat eines Quartals be­ trägt 300 bis 350 Vorlesungsstunden. Wahlfreiheiten sind bis auf wenige Aus­ nahmen nicht möglich. Den Vorlesungsplan haben die Studierenden als vorgeben zu betrachten. Die Teilnahme an den Vorlesungen ist obligatorisch. Die Verschu­ lung des Systems fuhrt schließlich so weit, dass eine Jahrgangsgruppe nicht nur einen fest zugewiesenen Raum besitzt, sondern auch die einzelnen Sitzplätze über ein Quartal hinweg konstant sind. Um sowohl eine persönliche Ansprache zu er­ möglichen, als auch ein Mittel der Kontrolle in Hand zu haben, stehen den Do­ zenten Platznamenslisten zur Verfügung. In seltenen Fällen kann man auf „Foto­ dokumentationen“ zurückgreifen. Die Leistungsorientierung eines BA-Studiums zeigt sich schließlich in einem Fehlen von Semesterferien. Nach der Theoriephase begibt sich der Student in sei­

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nen Betrieb und agiert nun für drei Monate als Auszubildender. Im Rahmen des Ausbildungsvertrages steht dem Studenten beziehungsweise Auszubildenden der tarifliche Jahresurlaub von sechs Wochen zu.

Eine weitere BA-Spezifität, die viele Abiturienten dazu „verfuhrt“, ein BAStudium aufzunehmen, darf nicht unerwähnt bleiben. Die Studenten erhalten nämlich eine Ausbildungsvergütung von ihrem Betrieb, die sich im Wirtschaftsbe­ reich zwischen 1.000 und 1.400 DM pro Monat bewegt. Und diese Ausbildungs­ vergütung wird von den Unternehmen durchgehend, das heißt auch während der Theoriephase, ausbezahlt. Je intensiver an den Universitäten die Einführung von Studiengebühren geplant wird und je höher die Hürden gelegt werden, um Geld nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz zu erhalten, desto attraktiver ist für Studienbewerber ein finanziertes Studium an der Berufsakademie. Doch der ei­ gentliche Erfolg liegt nicht in diesem materiellen Gesichtspunkt, sondern in kon­ zeptionellen Gegebenheiten. Und hierzu gehören in erster Linie das duale Prinzip und das dadurch erfahrene Praxiswissen, die kurze Studienzeit und die überschau­ bare Studentenzahl und damit verbunden die intensive und persönliche Betreuung.66

Duales Prinzip auf Hochschulebene Das duale System der beruflichen Bildung, basiert auf der Überzeugung, „dass Bildung und Beruf zusammengehören. Über die Phase der Ausbildung hinaus ist der Beruf selber Ort der Bildung. “ so die Kultusministerin Annette Schavan in ih­ rem Beitrag in Forschung & Lehre fl Das deutsche Berufsbildungssystem genießt weltweit einen beachtlichen Ruf. Die­ ser gute Ruf der beruflichen Ausbildung ist einer Idee zu verdanken, der die Deut­ schen ihre Urheberschaft zuschreiben können, nämlich das duale Prinzip. Die be­ rufliche Ausbildung wird durch eine parallel beziehungsweise abwechselnd ver­ laufende schulische Bildung begleitet und unterstützt. Der lernende junge Mensch wechselt in seinem Status als Auszubildender in der Firma und als Schüler in der Berufsschule. Der „Witz“ des BA-Modells liegt nun darin, dass dieses duale Aus­ bildungsprinzip von der Ebene der Schule und des Lehrlings auf die Ebene des 66 Trotz intensiver und persönlicher Betreuung belaufen sich die Kosten für einen Studienplatz an der Berufsaka­ demie laut Auskunft aus dem Wissenschaftsministerium auf nur ca. 55% gegenüber den Kosten eines Fachhoch­ schulstudienplatzes und ca. 29 % gegenüber dem eines Universitätsstudienplatzes. 67 Annette Schavan: Verpflichtung und Anspruch - Bildungskanon und lebenslanges Lernen, in: Forschung & Leh­ re, 4/1999, S. 172-174.

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Studiums und des BA-Auszubildenden gehoben wird. Der „unique selling point“ der BA-Philosophie ist eindeutig das duale Prinzip, das heißt Praxis und Theorie. Ein Studium an der Berufsakademie dauert von seltenen Fällen abgesehen drei Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Sowohl der Ausbildungsvertrag mit der Fir­ ma läuft über drei Jahre als auch der Studienplan und der Prüfungsrhythmus. Ent­ weder man schafft die vorgegebenen Prüfungen in diesem Dreijahreszeitraum, oder man schafft sie nicht.68 Dass die meisten Studenten ihr Studium nach drei Jahre erfolgreich abschließen, läßt sich zum einen durch die teilweise strengen Auswahlprozesse in den Firmen für die Ausbildungsplätze erklären. Zum anderen bietet die überschaubare und familiäre Kursgröße eine Gewähr für eine persönli­ che Betreuung und Hilfe im Studium. Manche sagen auch, dass man zu seinem Glück gezwungen werde (im Sinne der Kontrolle). Die Gruppengröße eines Kur­ ses bewegt sich üblicherweise zwischen 20 und 30 Studenten. Diese überschauba­ re Gruppengröße ermöglicht zudem in höherem Maße Projektgruppenarbeit und mündliche Präsentationen seitens der Studenten sowie ein stärker dialogisches Vermitteln des Lehrstoffes. Die Infrastrukturausstattung wie beispielsweise PCund Intemetnutzung ist optimal.

Die Vorteile und Erfolge des BA-Konzeptes sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch mögliche Schwachpunkte im System der Berufsakademie vorhanden und zu beachten sind. Einer der Kritikpunkte, der gerne vorgetragen wird, bezieht sich auf die Perfektion und den Pflichtcharakter des BA-Studiums. Befurchtet wird eine mangelnde Be­ reitschaft und Fähigkeit der Studierenden, Eigenständigkeit und Eigenverantwor­ tung zu lernen und umzusetzen. Spötter behaupten, dass die einzige nicht vom Lehrplan vorgegebene und von den Studenten auf freiwilliger Basis erarbeitete Veranstaltung die am Mittwochabend stattfindende BA-Party ist.

Kritiker monieren schließlich einen weiteren Punkt, nämlich das alleinige Primat des wirtschaftlich Nützlichen. Durch die starke Orientierung an den betrieblichen Wünschen und Belangen werde Anpassertum und mangelnde Fähigkeit zur Refle­ xion des Gelernten befurchtet. Dem Ethos von „Einsamkeit und Freiheit in For­ schung und Lehre“ stelle die BA eine pure an den betrieblichen Belangen ausge­ richtete Ideologie dagegen. Das kurzfristige, wirtschaftliche Nutzendenken werde zum alleinigen Primat erhoben und kulturelle Aspekte wie Allgemeinbildung und ethische Werte würden sträflich vernachlässigt. 68 Selbstverständlich sind innerhalb der Dreijahresspanne durch Nachklausuren und mündliche Prüfungen einige Wiederholungschancen gegeben.

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Böse Kritiker behaupten, BA-Absolventen werden zu fachintensiven, arbeitsplatz­ kompatiblen, nutzenorientierten, anpasserischen, funktionierenden Mitarbeitern erzogen. Doch solche kritischen und harrschen Stimmen sind in der derzeitigen Ausbau- und Erfolgsphase der Berufsakademien kaum mehr zu vernehmen. Aus eigener Erfahrung mit den Studenten kann ich sagen, dass die dreijährige Ausbildung im Unternehmen und das dreijährige Studium an der Berufsakademie eben nicht nur einen großen fachlichen Kompetenzzuwachs mit sich bringt, son­ dern vor allem auch eine Reifung in persönlicher und sozialer Hinsicht. Zum Abschluß des BA-Kapitels sei ein Wort des Ministerpräsidenten von BadenWürttemberg Erwin Teufel erwähnt:

„Die Berufsakademien sind in der dreißig Jahre zurückliegenden Politikgeschichte des Landes die erfolgreichste Innovation in Baden-Württemberg1.“

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4 Weiter mit der Weiterbildung oder warum Mitarbeiter „surfen64 dürfen Bildung, Ausbildung und Weiterbildung bilden das „Triumvirat“ des Lernens. Die Lemorte Schule, Berufsakademie, Fachhochschule und Universität stehen für Bil­ dung. Die Lemorte Betrieb, soziale Institution und öffentlicher Dienst stehen für Ausbildung. Die Lemorte Volkshochschule, private Bildungsträger und Betrieb stehen für Weiterbildung. Während der Lemort Bildung größtenteils in staatlicher Hand liegt, ist Ausbildung eine primär unternehmerische Angelegenheit, jedoch mit staatlicher Einflußnahme und Förderung (duales Prinzip). Die Träger der Weiterbildung finden sich im privaten und betrieblichen Sektor. Private Akademi­ en, oft mit staatlicher Förderung, ausgegliederte und privatwirtschaftlich agierende Universitätsinstitute und vor allem die Betriebe selbst sind die Träger der Weiter­ bildung.

Das Triangulum der Bildung

Während Bildungsinteressierte ihr Augenmerk bisher auf die Bereiche der Bildung und Ausbildung richteten, läßt sich nun im Kontext des lebenslangen Lernens eine Gewichtungsverschiebung zu Gunsten der Weiterbildung beobachten. Das le­ benslange Lernen könnte der Weiterbildung den Status des Primus inter pares der drei „Bildungsherrscher“ verschaffen.

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Weiterbildung wird schließlich als Wirtschaftsfaktor entdeckt. Die Nachfrage nach Weiterbildungsangeboten steigt und die Branche der Freiberufler, freien Träger und Beratungs- und Weiterbildungsuntemehmen verzeichnet hohe Zuwachsraten. Betriebe entdecken ein neues Betätigungsfeld, gründen eigene Weiterbildungsab­ teilungen und realisieren spezifische auf die eigenen Bedürfnisse angepaßte Wei­ terbildungsmaßnahmen.

Firmenalltag Weiterbildung Die Weiterbildungspalette reicht von „Auffrischungsmaßnahmen“ in der Technik und der handwerklichen Gestaltung, über kaufmännische Themen und ITSeminare bis zu fachübergreifenden Themen wie Persönlichkeits- und Verhaltens­ schulung oder Fremdsprachen. Nach einer Umfrage haben in fast 90 Prozent der befragten Unternehmen Mitarbeiter an externen Seminaren und Lehrgängen teil­ genommen; in fast 80 Prozent wurden Kurse intern organisiert. Jeder zweite Mit­ arbeiter in deutschen Unternehmen wird von betrieblichen Weiterbildungsmaß­ nahmen erfaßt, so dass Weiterbildung „längst kein Privileg mehr für einige wenige Fach- und Führungskräfte, sondern Alltag für einen großen Teil der Mitarbeiter“ ist.69 Die Konzentrierung der Weiterbildungsinitiativen auf Betriebe und freie Träger ist nicht unumstritten. Dass die vorherrschenden Formen der Weiterbildung größten­ teils über die Betriebe oder den privaten Markt organisiert werden, bemängeln Bultmann und Weitkamp in ihrem Buch »Hochschule in der Ökonomie*. Sie wei­ sen darauf hin, dass ein bundeseinheitliches Weiterbildungsgesetz oder eine Bun­ desrahmenordnung nicht existiere. Dieses „Gestaltungsdefizit der politisch öffent­ lichen Sphäre“ wirke sich so aus, dass die überwiegenden Formen von Weiterbil­ dung „pure betriebliche (Nach-) Spezialisierungsmaßnahmen sind.“70 Den Vorwurf der „puren betrieblichen (Nach-) Spezialisierungsmaßnahmen“ muß man allerdings für übertrieben halten, wenn man sich moderne Weiterbildungsak­ tivitäten in den Unternehmen anschaut. Hier ist nämlich eine Fülle von fundierten und gut organisierten Weiterbildungsaktivitäten zu beobachten. Das Beispiel von mittelständischen Unternehmen im süddeutschen Raum kann zeigen, wie profes­ sionell und mit Pfiff heutzutage Weiterbildungsangebote und -einrichtungen reali­ siert werden, wo aber auch Probleme betrieblicher Weiterbildung liegen könnten.

69iwd, Nr. 50, 16.12.1999, S. 6f. 70 Bultmann/Weitkamp, Hochschule in der Ökonomie, 1999, S. 120.

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Fallbeispiel Schmalz: Die Schmalz-Akademy Unter dem Namen „Schmalz-Akademy“ hat die Firma J. Schmalz GmbH in Glat­ ten, Herstellerin von Vakuum-Handhabungstechnik, ein eigenes Weiterbildungs­ konzept für die Mitarbeiter der Firma entwickelt. Im Programm sind gewerblich und technische Seminare, Sprachkurse, EDV-Kurse, Produktschulungen, sonstige Fachseminare, Umweltthemen sowie Sport-/Gesundheits- und Freizeitthemen.

Eine Differenzierung der Seminarangebote erfolgt in zweierlei Hinsicht. Zum ei­ nen wird zwischen „Neuen Seminaren“ (N) und „Wiederholten Seminaren“ (W) unterschieden und zum anderen erfolgt eine Unterscheidung in „Kann-Seminare“ und „Soll-Seminare“. Kann-Seminare werden schriftlich angemeldet und finden in der Freizeit statt. Über die Teilnahme an Soll-Seminaren entscheidet der Teamsprecher (eventuell in Absprache mit dem Bereichsverantwortlichen) in Ab­ sprache mit dem Personalleiter. Die Anmeldung erfolgt über den Teamsprecher. Soll-Seminare finden während der Arbeitszeit statt.

Der Kostenanteil am gesamten Seminarprogramm beträgt 1 Stunde pro Monat vom Zeitkonto.

Fallbeispiel Fischerwerke: „fit for future“

Auf eine breite Weiterbildungspalette mit Pflicht- und Wahl veranstaltungen setzen die fischerwerke, Artur Fischer GmbH & Co. KG in Waldachtal. In Zusammenar­ beit mit der Dekra Akademie wurde ein firmenintemes Weiterbildungsprogramm entwickelt, das mit dem Ausbildungszertifikat „fit for future“ abschließt. Das Zertifikat der Untemehmensgruppe Fischer beinhaltet unter anderem Leitbildund Moderationsseminare, einen PC-Pass sowie einen Aufenthalt an einem ande­ ren Standort der Untemehmensgruppe und im Ausland. Weitere Bausteine von „fit for future“ sind Fachvorträge, Projekt- und Produktschulungen, Kreativ- und Sprachkurse und freie Rede.

Die Pflicht- und Wahlveranstaltungen der Weiterbildungsangebote werden übli­ cherweise im Rahmen der dreijährigen Ausbildungsphase absolviert. Mit der be­ standenen internen Abschlußprüfung verleiht die Fischer Untemehmensgruppe das „fit for future“- Ausbildungszertifikat.

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Fallbeispiel Homag: „Fit für die Zukunft“ Die Thematik der lebenslangen Lernens führte auch bei der Baumaschinenfirma Homag in Schopfloch zur Initiierung eines Weiterbildungsprogramms, das unter dem Motto ,Fit für die Zukunft4 steht. Die Bedarfsermittlung erfolgte anhand von bereichsbezogenen Arbeitsgruppen, denen Fachvorgesetzte, Betriebsratsvertreter und betroffene Mitarbeiter angehörten.

Das Weiterbildungsprogramm untergliedert sich in die Bereiche „BasisWeiterbildung“ und „Individuelle Weiterbildung“. Zur Basisweiterbildung gehö­ ren alle Formen der Qualifikation am Arbeitsplatz sowie fachspezifische Schu­ lungsmaßnahmen. Die fachliche und aufgabenbezogenen Weiterbildung aller Mit­ arbeiter steht im Mittelpunkt. Die individuelle Weiterbildung umfasst weitere mitarbeiter- und bedarfsbezogene Weiterbildungsmaßnahmen. Die größtenteils fachübergreifenden Angebote erstrecken sich von der Sprachausbildung über die gesamte EDV-Palette bis hin zur Technik und weiter zu Themen wie Arbeitstech­ niken, Kundenorientierung, Kommunikation und partnerschaftliche Mitarbeiter­ führung. Die Beteiligung der Mitarbeiter an den Weiterbildungsmaßnahmen erfolgt durch das Einbringen von Freizeit. Die Firma übernimmt sämtliche Kosten der Weiter­ bildung.

Fallbeispiel Hansgrohe: Individuelle Förderung Vom „Ausbildungskalender im Hochglanzlayout“ hat die Sanitätsfirma Hansgrohe in Schiltach/Loßburg Abstand genommen. Das für alle Mitarbeiter fest vorgege­ bene Angebot hätte zu Fehlallokationen geführt. Hansgrohe vertritt nun das Leit­ bild einer individuellen Weiterbildung. Im Gespräch mit dem Ausbildungsverant ­ wortlichen wird jeder Einzelfall geprüft und „verhandelt“. Weiterbildung soll si­ tuativ und personenbezogen erfolgen. Die Weiterbildungsaktivitäten in mittelständischen Unternehmen sind keineswegs einheitlich. Unterschiedliche Vorstellungen sind beim Thema finanzielle und zeit­ liche Beteiligung der Mitarbeiter anzutreffen. Im einen Fall werden den Mitarbei­ tern keine Kosten und keine Freizeit für die Weiterbildung abverlangt. Im anderen Fall wird von den Mitarbeitern erwartet, dass sie sich in der Freizeit auf eigene Kosten weiterbilden. Zum Teil existieren Mischkombinationen wie in der Fremd­ sprachenweiterbildung, wo der Mitarbeiter einen Teil der Kosten übernimmt. Die­

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ser Anteil soll dem Vorteil der Nutzung dieser Fremdsprache im Urlaub entspre­ chen. Hinzu kommt, dass das Erlernen einer Fremdsprache auch als Erhöhung des Marktwertes bei einem Arbeitsplatzwechsel betrachtet wird.

Unterschiedliche Meinungen und Handlungsweisen zum Thema Weiterbildung der Mitarbeiter lassen sich vor allem auch im Bereich der IT-Weiterbildung und hier speziell des Intemetwissens verfolgen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, Mitarbeiter auf teuer bezahlte „Intemet-Surf-Kurse“ zu schicken. Zum anderen bietet sich eine Weiterbildung in der Firma durch eigene Experten an. Umstritten ist die Möglichkeit des learning by doing, wenn es also darum geht, dass die Mit­ arbeiter im Selbstversuch am eigenen PC-Arbeitsplatz ihrem „Surfvergnügen“ nachgehen. Manche Firmen verbieten dieses „private“ Surfen mit dem Argument der Kosten- und Zeitvergeudung. Wenige Firmen erlauben ihren Mitarbeitern, das Internet zu nutzen, ja animieren sie sogar dazu. Die geringen Nutzungskosten stünden in keinem Verhältnis zur positiven Wissenserweiterung, die durch das Surfen erreicht wird.

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5 Macht und Ohnmacht der Sekundärtugenden oder warum kreativ unzuverlässig ist Sekundärtugenden sind gefragt, Tendenz steigend. Insbesondere bei Jobs im ge­ ringqualifizierten Bereich sind diese oftmals wichtiger als Fachwissen und sonsti­ ge Qualifikationen. Denn fachliches Wissen ist lernbar. Bringt ein Arbeitnehmer Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen und Zuverlässigkeit mit, kann und möchte er das eventuell mangelnde Fachwissen durch einen erhöhten Lemeinsatz ausgleichen. Umgekehrt gilt, dass ein Mitarbeiter mit einem hohen Potential an Fachkompetenzen nichts nützt, wenn er unmotiviert und unzuverlässig ist.

Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen und Zuverlässigkeit Eine Stellenanzeigenanalyse des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) von über 11.000 angebotenen Stellen im Sommer 1999 kommt zum Ergebnis, dass an

Stellenanzeigen: Die idealen Mitarbeiter Geforderte Qualifikationen (Mehrfachnennungen möglich)

Leistung, Motivation

43% Teamfähigkeit, Kommunikation

32 % , Professionalität ■■■■■■■ 25 % Kognitive Fähigkeiten, Problemlösungskompetenz ■■■■■■■■■ 21 % Mitwirkung, Gestaltung 20 % Kunden-, Dienstleistungsorientierung 15 % Innovation, Lernen ■■■■■ 12% Unternehmerisches Denken ■ 4% Persönlichkeit ■ 3% ’

(Quelle: Globus 6054 BIBB)

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erster Stelle der geforderten Qualifikationen die Kriterien Leistung und Motivati­ on, gefolgt von Teamfähigkeit und Kommunikation sowie Erfahrung und Profes­ sionalität stehen. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt eine Arbeitslosenstu­ die. Für sieben von zehn Betrieben sind Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit wich­ tigste Einstellungskriterien.71

Kreativität und Innovativität Neben Leistungsbereitschaft und Zuverlässigkeit stehen Kreativität und Innovati­ onsbereitschaft hoch im Kurs. Henning Kagermann, Vorstandssprecher der SAP AG appelliert: „Wir brauchen innovative, kreative und eigenverantwortliche Mit­ arbeiter“.72

In bestimmten Branchen und Tätigkeitsfeldern wie Softwareschmieden und Wer­ beagenturen sind Kreativität und Innovativität unersetzlich und werden bei Um­ setzung derselben von der Firmenleitung honoriert. Doch das muß nicht bedeuten, dass Kreativität und Innovativität per se erwünschte Qualifikationen sind. Dazu einige Erfahrungen aus meiner früheren beruflichen Praxis.

Fallbeispiel ALDI

Mein erster beruflichm Einsatz nach dem Universitätsstudium bestand in einem Managementtraineeprogramm bei der Firma Aldi, im Rahmen dessen ich in den Aufgabenbereich eines Bezirksleiters, Filialeiters und Verkäufers bzw. Kassierers eingewiesen wurde. Im Hinblick auf die Durchführung von Bestellungen mittels eines mobilen Eingabegerätes stellte ich eines Tages die Frage, ob es nicht sinn­ voller wäre, Bestellvorgänge und auch andere Verwaltungsarbeiten über Compu­ ter abzuwickeln. Unabhängig davon, ob dieser Vorschlag nun sinnvoll war oder nicht, hat mich die damalige Reaktion und Antwort meines „Unterrichters“ nicht nur verblüfft, sondern auch schockiert. Die Anwort war kurz und bündig: „Das Denken überlassen Sie lieber uns! “

71 Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft zum Mismatch-Phänomen (offene Stellen bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit), iwd, Nr. 11, 16.03.2000, S. 4f. 72 Zeitungsinterview, WIFO Nr.l, 10.03.1999, S. 3.

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Fallbeispiel Lidl In meiner Tätigkeitszeit bei der Industrie- und Handelskammer in Heilbronn stand eines Tages ein Firmenbesuch beim Aldi-Konkurrenten Lidl&Schwarz an. Ein Mitglied des Vorstandes nahm sich damals Zeit für mich und erläuterte bei einem Rundgang durch die Firma seine Firmenphilosophie. Sein Verständnis von Füh­ rung brachte er auf eine kurze, eindringliche, verständliche aber doch auch vielsa­ gende Weise zum Ausdruck: „Bei uns wird nicht g "schwätzt sondern g"schafft. “

Fallbeispiel Hotel- und Gaststättenverband

Beim Hotel- und Gaststättenverband in Stuttgart erging es mir ähnlich. In einem Mitgliederverband ist die Interessenvertretung dieser Mitglieder Sinn und Zweck der Mitgliedschaft im Verband. Mit welcher Dreistigkeit dieses persönliche Inter­ esse von manchen zur Schau getragen wurde, hat mich mehr als erstaunt. Ein Ho­ telier fugte bei unserem ersten Kenneniemen seinem Grüß Gott lediglich folgende Aussage bei: „Ich bezahle Sie, also haben Sie zu tun, was ich sage. ""

Diese drei geschilderten beispielhaften Aussagen stehen diametral zum Gebot der Kreativität und Innovationsfreude, sprechen also auf den ersten Blick nicht für ei­ ne erfolgreiche Mitarbeiter- und damit Untemehmenspolitik. Doch die geschil­ derten Unternehmen, besonders Aldi und Lidl, sind äußerst erfolgreich. Stellt sich Kreativität als Farce heraus? Funktionieren diese Firmen gar deshalb so reibungs­ los, weil und nicht obwohl den Mitarbeitern keine Kreativität zugebilligt wurde und die arbeitsteilige, hierarchische Untemehmensphilosophie im Vordergrund stand? Oder war Kreativität erwünscht, aber nur auf der Entscheidungsebene des Topmanagements? Oder war nur die Kreativität erwünscht, die systemkonform und damit für die Systemerhaltung existentiell von Bedeutung war? Kreativität soll ja nicht so verstanden werden, dass man möglichst kreativ Geld aus der Fir­ menkasse entwendet.

Kreatitvität darf nicht absolut gesehen werden, sondern sie ist in Bezug zum Un­ ternehmen zu sehen und insofern relativ zu den Systemzwecken. Kreativität hat der Erhaltung des Systems zu dienen, das diese Kreativität möglich macht. Kreati­ vität, die ein System in Frage stellt, ohne dieses System kaputt zu machen und Kreativität, die sich allein auf eine anpasserische, systemkonforme Haltung grün­ det, liegen eng beieinander. Grundsätzlich sind manche Branchen, Unternehmen oder Tätigkeiten kreativitätsfördemder als andere. Aber sogar Bereiche wie die

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Wissenschaft und Forschung, wo eine scheinbar große Kreativitätsfreiheit gegeben ist, sind von Zwängen (z.B. Forschungsgelder die dafür gegeben werden, dass be­ stimmte Ergebnisse vorgelegt werden können) beherrscht.

Habitus und Auftreten Je höher die berufliche Stellung ist, die ein Manager, ein Vorstand, ein Repräsen­ tant einnimmt, desto wichtiger erweisen sich Eigenschaften, die durch „Erbe“ oder Bildungserrungenschaft erworben wurden, nämlich die Habitus-Eigenschaften. Michael Hartmann beschreibt in seinem Artikel „Wie international sind Topmana­ ger?“ die vertrauensbildende Funktion des gleichen klassenspezifischen Habitus in Deutschland. So besitzen beispielsweise Kinder des gehobenen Bürgertums „...nicht nur die gewünschten persönlichen Eigenschaften: Souveränität des Auf­ tretens, Beherrschung der in diesen Kreisen üblichen Verhaltens- und Dresscodes, gute Allgemeinbildung, ausgeprägten Optimismus und unternehmerisches Denken, sondern vor allem auch die Selbstverständlichkeit desjenigen, der schon von Kin­ desbeinen an weiß, dass er dazugehört. Dieser gleiche Habitus oder zumindest ein ähnliche soziale Herkunft ermöglichen ein Kommunizieren auf einer „gemein­ samen Wellenlänge“ und stiften somit das Wichtigste bei Absprachen, Abschlüs­ sen und Entscheidungen und das ist Vertrauen.

So beliebt es ist, erfolgreiche Unternehmen ob ihrer Erfolgsvoraussetzungen und -faktoren zu untersuchen, so reizvoll erscheint es analog, erfolgreiche Führungs­ persönlichkeiten zu analysieren. Die Absicht ist in beiden Fällen die gleiche. Die Analyse der Erfolgsfaktoren soll es uns durch Anwendung derselben ermöglichen, ebenfalls erfolgreich zu werden.

In einer von den Amerikanern Thomas Neff und James Citrin durchgeführten Un­ tersuchung, die auf Interviews mit 46 Business Leaders beruht, resümierten die Autoren folgende gemeinsame Charaktereigenschaften und Qualitäten von erfolg­ reichen Führungspersönlichkeiten:

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Leidenschaft Intelligenz und klares Denken Hohe Kommunikationsfähigkeit Hoher Energie-Level Kontrolliertes Ego

13 Michael Hartmann: Wie international sind Topmanager? in Forschung & Lehre 7/2000, S. 358.

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Innerer Friede Frühere Erfahrungen Starke Familienbande Positive Haltung

Ansonsten gilt auch hier der Spruch „do the right things rigth“.74 Glücklicher- oder auch unglücklicherweise läßt sich hier kein Umkehrschluß ziehen. Das Vorhan­ densein dieser Eigenschaften bedeutet nicht automatisch Erfolg. So sind genügend Beispiele erfolgreicher Karrieren mit starkem Familienverband aber auch mit de­ solaten Beziehungsbanden zu finden. Am besten, man geht seinen eigenen Weg.

Wir oder ich - der Mythos vom Team Während Sekundärtugenden wie Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen, Motivation und Kreativität, Arbeitsleidenschaft und Habitus den Menschen als Individuum ansprechen und fordern, soll eine andere Tugend diese hochleistungs­ fähigen, motivierten und kreativen „Einzelkämpfer“ wieder zusammenbringen und vernetzen, nämlich die Teamfähigkeit. Die „Ich-Tugenden“ erfahren ihre Bändi­ gung durch die „Wir-Tugend“. Teams werden gebildet und sind im Einsatz, wenn zum 75jährigen Firmenjubiläum ein Tag der offenen Tür veranstaltet wird, wenn im Rahmen einer Reorganisationsmaßnahme Hierarchieebenen abgebaut werden und wenn ein neues Firmenleitbild erarbeitet wird.

Die massive Beschwörung des Teamgedankens ist deshalb interessant, weil unser Wirtschafts-, Berufs- und Karriereleben genau auf dem Gegenteil dessen aufbaut, was der Teamgedanke beinhaltet. Statt Konkurrenz wird nämlich nun Kooperation gefordert; oder beides gleichzeitig oder auch wechselseitig. Wenn Aufgaben und Projekte von Einzelnen nicht mehr bewältigt werden können, ist das produktive Zusammenwirken dieser Einzelnen gefragt. Zusammenarbeit und Wir-Gefuhl sol­ len individuelle und konkurrierende Einzelleistungen integrieren und positiv ver­ stärken. Damit dieses Zusammenwirken im Team funktionieren kann, sind zwei Voraus­ setzungen notwendig. Zum einen die Fähigkeit, die anderen Teammitglieder zu verstehen und zum anderen die Bereitschaft mit anderen seine Gedanken und Vor­ stellungen und vor allem auch sein Wissen und seine Kompetenzen zu teilen. Die Fähigkeit andere Teammitglieder zu verstehen ist das, was unter dem Kompe­ 74 Artikel im WISU-Magazin 4/2000 S. 399f. Grundlage des Artikels ist das Buch der Autoren Neff und Citrin

„Lessons from the Top“ (Doubleday 1999).

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tenzmodul Interdisziplinarität zu verstehen ist. Der Techniker und Ingenieur be­ herrscht das Grundlagenvokabular des Kaufmanns und Betriebswirts und vice versa. Die fachliche Fähigkeit mit anderen zu kommunizieren, die Interdisziplina­ rität ist eine erwerb- und lernbare Kompetenz. Die Bereitschaft mit anderen zu kommunizieren und zu teilen - die Betonung liegt auf Bereitschaft - setzt Persön­ lichkeit und Charakter voraus. Spielregeln müssen eingehalten werden, Ansichten und Meinungen anderer sind anzuhören, Kompromisse müssen gegebenenfalls akzeptiert werden und man selbst ist dazu angehalten, eigene Erfahrungen und Kompetenzen weiterzugeben. Trotz Teambeschwörung erfolgt die eigentliche Aufgabenerledigung letztlich doch wieder in Einzelaktionen. Aufgaben werden verteilt - auf kleinere Gruppeneinheiten und einzelne Personen. Die Kunst eines guten Teams besteht dann darin, diese Einzelinteressen, -kompetenzen und -aktivitäten zusammenzufuhren und ein gemeinsames Ergebnis zu erreichen und zu legitimieren.

„ Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründ* ich einen Arbeitskreis. “ Teamarbeit ist aktuell und modern, doch nicht unumstritten. Was lästerhafte Zeit­ genossen der Bildung eines Arbeitskreises zuschreiben „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründ‘ ich einen Arbeitskreis“, könnte auch auf die Teambildung be­ zogen werden. Bekannte Wirtschaftswissenschaftler äußeren sich skeptisch zum Team. Peter Drucker stellt das Funktionieren von Teams in Frage und Friedmund Malik kritisiert die Ideologisierung von Teams als naiv und romantisch und stellt fest, dass wir fast alle großen Leistungen kreativen Einzelmenschen verdanken.75 Diese Kritik ist mutig. Denn der Wirtschaftswoche-Autor Christian Deysson schreibt zu Recht über den Kult mit dem Teamwork: „Gerade in der von Konfor­ mismus und Konfliktvermeidung durchdrungenen deutschen Gesellschaft ist Teamarbeit zum Dogma geworden.“76 Dabei wird kaum eine andere Eigenschaft in Personalanzeigen so nachdrücklich gefordert wie Teamfähigkeit. Deysson fuhrt aus, dass in einem einzigen Stellenteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 469 Mal der Begriff Team zu lesen war. Dass Teams oft nicht die erwarteten Ergebnisse bringen, hat viele Ursachen. Ein Grund liegt nach Deysson in der „gewollt antihierarchischen, pseudodemokrati­ schen Struktur, ... die sicherstellt, dass jeder einmal moderieren, aber keiner be­ stimmen, jeder einmal Teamleiter spielen, aber keiner wirklich Chef sein darf.“ 73 Artikel in WISU „Team without Steam - Powergruppe oder Kaffeekränzchen“, 1/1999, S. 45f. 76 Artikel in der Wirtschaftswoche, Nr. 11 / 11.03.1999, S. 166-171.

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Hinzu kommt das Mißverhältnis von Aufgabenerfullung und Teamaufwand. Der im Artikel der Wirtschaftswoche zitierte amerikanische Soziologe Richard Sennett spricht von „erniedrigender Oberflächlichkeit“ der Teamarbeit. Und Deysson schreibt dazu: „Wer läßt sich schon gern in eine alpine Seilschaft einbinden, um einen Sandhaufen auf dem Kinderspielplatz zu besteigen.“ Der Versuch, in einem zehnköpfigen Team einen Brief zu formulieren, wie schon selbst erlebt, verdeut­ licht hier den Unsinn von Teams. Und dieser Unsinn kommt dann zustande, wenn Teams ihrer selbst willen für alle möglichen und unmöglichen Aufgaben ins Le­ ben gerufen werden. Wenn ein Team notwendig und sinnvoll ist, dann ist eine Crew vorzuziehen, zum Beispiel die Gruppe, die ein Flugzeug in die Luft bringt oder ein Orchester. Denn sowohl die Crew als auch das Orchester funktionieren im Gegensatz zum Team aufgrund klarer Aufgabenverteilung, persönlicher Verantwortung, sauber abge­ grenzter Kompetenzen und unumstößlicher Weisungsbefugnisse.“

„ There are four people named Everybody, Somebody, Anybody and Nobody. The­ re was an important job to be done and Everybody was asked to do it. Everybody was sure Somebody would do it. Anybody could have done it, but Nobody did it. Somebody got angry about that, because it was Everybody's job. Everybody thought Anybody could do it but Nobody realized that Everybody wouldn *t do it. It ended up that Everybody blamed Somebody when Nobody did what Anybody could have done. TEAMWORK“ (Urheber unbekannt)

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6 Der Schatz des Wissens oder warum Wissen Ganzwertzeit ist Bildung und Wissen sind wertvoll. Sie sind ein großes Kapital. Sie sind ein reicher Schatz.

Welche Einstellung und Haltung des Menschen, welches wertende Weltbild ge­ genüber Wissen und Bildung treffen wir an? Zu den Tabuthemen in unserer an­ geblich säkularisierten, toleranten, freizügigen Zeit - manche Themen sind so tabu, dass man sie nicht einmal als Tabuthemen nennen darf - zählt auch das Nichtin­ fragestellen der Wichtigkeit von Bildung.77 Niemand wird einem Politiker wider­ sprechen, der Bildung als das höchste und wichtigste Gut unserer Zeit bezeichnet. Die Zukunftschancen unserer Kinder, die uns das Wichtigste sind, beruhen nun mal auf Bildung!?

Interessant ist die linguistische Ummantelung von Tabuthemen. Die Zukunft unse­ rer Kinder und unserer Welt wird mit dem Begriff der Bildung assoziiert, wobei dieser Begriff diffus, aussagelos und somit harmlos ist. „Bildung ist wichtig“, ja wer wollte das bestreiten. Doch die Definition des Begriffes Bildung als Festle­ gung von Bildungsinhalten wird unterlassen. Einige wenige wagen das Vorhaben, eine Selektion von Bildungsinhalten vorzunehmen und zu bestimmen, welche Bil­ dungsinhalte wichtig sind und vermittelt werden sollten. Einer dieser Protagoni­ sten ist Dieter Schwanitz.78 Der Inhalt seines Buches „Bildung“ besteht aus einer Selektion von allgemeinbildungsrelevantem Wissen. Unabhängig von einer Beur­ teilung des Buches ist der Versuch lobenswert, gegen eine Relativierung und Ni­ vellierung des Wissens anzugehen und einen gemeinsamen Bildungsnenner unse­ rer europäischen Geschichte zu definieren. Solche Definierungs- und vor allem Wertungsbemühungen sind heikel, denn die Definition von Wissensinhalten scheint willkürlich und intolerant. Sowohl angeblich willkürlich definierte Wis­ sensinhalte als auch der Erwerb von Wissen als Wissensvorratshaltung gilt als nicht zeitgemäß. Lernen zu lernen ist trotz mancherlei Warnungen, das Lernen selbst nicht zu vergessen, immer noch schick. Bildung kann seinen unverfängli­ chen und oberflächlichen Charakter bewahren. Die Schatztruhe der Bildungs- und Wissensinhalte bleibt geschlossen und leer.

77 Tabu ist quasi das Verbot der Verneinung einer wichtigen Sache (Modethema). 78 Dieter Schwanitz: Bildung - Alles was man wissen muß, erschienen im Eichbom Verlag 1999.

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„Ich habe viel gelernt und alles vergessen, aber trotzdem ist es irgendwie da.“ Bildungsinhalte sucht man in der Schatztruhe des Wissens vergeblich und das hat einen weiteren Grund. Denn Bildungs- und Wissensinhalte werden auch dadurch entwertet, dass man eine stetig und drastisch abnehmende Halbwertszeit des Wis­ sens unterstellt. Wissen soll also veralten und das in immer kürzeren Abständen. Es verbraucht sich und gilt als überholt. Wissen, das ich mir beispielsweise vor fünf Jahren angeeignet habe, soll heute zu 50 Prozent falsch oder zumindest nicht mehr relevant und nützlich sein. Bei einer Halbwertszeit von fünf Jahren ist es nur (oder immer) noch die Hälfte wert. Halbwertszeit!? Der Jargon und die dahinterstehende Einstellung bereiten mir Un­ behagen. Wissen hat keine Halbwertszeit. Wissen verfällt nicht. Wissen ist keine statische Größe, sondern in Entwicklung und in einem dynamischen Aufbaupro­ zeß. Es wird weitergetragen von Generation zu Generation, es sozialisiert, maxi­ miert und optimiert sich. Aber es ist niemals überholt. Wenn ich ein Wissensge­ bäude errichte und Wissen auf Wissen baue, ist der darunterliegende Stein in keinster Weise unwichtig, im Gegenteil alles Wissen baut auf voriges Wissen. Und wenn ich die Steuergesetzgebung gelernt habe, die nun nicht mehr gilt, und die Programmiersprache, die keine Anwendung mehr findet, und ein mathematisches Modell entwickelt habe, das in der Praxis nie umgesetzt wird, ist es nicht so, dass dieses Wissen keinen Wert mehr hätte. Das Wissen ist da, es hilft und wirkt wei­ ter, es kombiniert und reflektiert. Je mehr ich lerne, desto mehr weiß ich und je mehr ich weiß, desto mehr lerne ich. Wissen ist ein Schatz, auch das Wissen der Menschen vor tausenden Jahren und auch das „falsche“ überholte Wissen, das die Erde als Scheibe verstand und die Sterne als Lampen. Die Anmaßung Wissen als Verfallsprodukt zu betrachten, resultiert aus einer aus­ schließlich ökonomischen Perspektive von Wissenserwerb und Wissens Verwer­ tung - Wissen als Ware. Wissen habe sich am ökonomischen Nutzen messen zu lassen. Sprich was nicht direkt beruflich und wirtschaftlich verwertbar erscheint, ist somit nutzlos und überholt.

Dies ist eine gefährliche Denkweise - sogar für die Wirtschaft. Wenn es denn tat­ sächlich so wäre, dass Wissen nur nach dem Nutzen für die Wirtschaft beurteilt wird, ist es höchst riskant bestimmte Wissensinhalte vorschnell als nützlich oder unnütz einzustufen (vgl. Grundlagenforschung). Eine solche Festlegung ist nicht machbar und sie ist unmöglich. Unmöglich meint sowohl nicht durchführbar als auch ungut und unsinnig im Sinne einer moralischen Entrüstung „Aber das ist ja

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unmöglich“. Jedes Wissen und sei es noch so nützlich oder nutzlos ist wertvoll. Ja sogar das Wissen, das nicht mehr vorhanden ist, weil es vergessen oder überholt ist, hat seinen Sinn. Denn hier gilt der schöne Spruch: „Ich habe viel gelernt und alles vergessen, aber trotzdem ist es irgendwie da.“ (Urheber unbekannt).

Wissen ist Ganzwertzeit.

Bildung im Überfluß Mit der angeblichen Abnahme der Halbwertszeit von Wissen geht ein weiteres Bildungsmanko mit einher, nämlich der Überfluß an Bildung. Damit meine ich nicht einen Überfluß an Bildungsangeboten im Sinne von Bildungseinrichtungen wie Schulen, Universitäten und privaten Weiterbildungsinstituten. Gemeint ist damit das inflationäre Zurschautragen von Bildung. An Bildung darf es nicht mangeln. Genügend Lehrer müssen vorhanden sein, lieber zuviel als zu wenig. An der Bildung darf nicht gespart werden. Bildung ist das Wichtigste. Jeder muß ko­ stenlosen Zugang zu einem PC mit Intemetanschluß haben. Diese Postulate sind nicht falsch. Doch sie bergen die Gefahr, dass der Überfluß an Möglichkeiten zum Überdruß wird (vgl. Informationszunahme wird zur Informationsüberflutung und -Überreizung) und dass durch dieses Überangebot der Wert der „Ware“ Bildung sinkt. Der Inflationsmechanismus gilt nicht nur für den Konsumgütermarkt, son­ dern auch für den Bildungsmarkt. Was bedeutet das? Bildung und Lernen sind nicht selbstverständlich. Viele junge Menschen sehen sich einem nicht überschaubaren Bildungsangebot gegenüber. Bildung kann so zu einem selbstverständlichen billigen Konsumgut degenerieren. Bildung wird als Selbstverständlichkeit, vielleicht sogar als Pflicht betrachtet.

Aber Bildung und Lernen sind eine große Chance. Sich bilden und lernen ist eine conditio humana, ist Mühe und Erfüllung zugleich. Und Bildung ist in der heuti­ gen Zeit alles andere als langweilig. Seien es die Entwicklungen im Intemetbereich, in der Gen- und Biotechnologie, in der Europa- und Weltpolitik, Lernen ist spannend und faszinierend und bedeutet Teilhabe und Mitwirkung an unserem Weltgeschehen.

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Lassen wir dazu Hermann Hesse zu Wort kommen: Echte Bildung ist nicht Bildung zu irgendeinem Zwecke, sondern sie hat, wie jedes Streben nach dem Vollkommenen, ihren Sinn in sich selbst. So wie das Streben nach körperlicher Kraft, Gewandt­ heit und Schönheit nicht irgendeinen Endzweck hat, etwa den, uns reich, berühmt und mächtig zu machen, sondern seinen in sich selbst trägt, indem es unser Lebensgefühl und unser Selbstvertrau­ en steigert, indem es uns froher und glücklicher macht und uns ein höheres Gefühl von Sicherheit und Gesundheit gibt, ebenso ist auch das Streben nach „Bildung“, das heißt nach geistiger und seelischer Vervollkommnung, nicht ein mühsamer Weg zu irgend­ welchen begrenzten Zielen, sondern ein beglückendes und stärken­ des Erweitern unseres Bewußtseins, eine Bereicherung unsrer Le­ bens- und Glücksmöglichkeiten. Darum ist echte Bildung, ebenso wie echte Körperkultur, Erfüllung und Antrieb zugleich, ist überall am Ziele und bleibt doch nirgends rasten, ist ein Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Universum, ein Mitleben im Zeitlosen. Ihr Ziel ist nicht Steigerung einzelner Fähigkeiten und Leistungen, sondern sie hilft uns, unsrem Leben einen Sinn zu ge­ ben, die Vergangenheit zu deuten, der Zukunft in furchtloser Be­ reitschaft offenzustehen. Hermann Hesse „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“

Mobilität - Flexibilität - Globalität Hesses Worte vom „Unterwegssein im Unendlichen, ein Mitschwingen im Uni­ versum, ein Mitleben im Zeitlosen“ mit dem Ziel, dem Leben einen Sinn zu geben und nicht einzelne Fähigkeiten und Leistungen zu steigern, stehen in einem eigen­ artigen Zusammenhang und Kontrast zur modernen, offenen, grenzenlosen und globalen Welt.

Teilhabe und Mitwirkung an und in der Welt setzten geistige und - leider oder glücklicherweise - auch physische Mobilität und Flexibilität voraus. „Höchste Beweglichkeit ist gefragt. Mobilität wird zum Schlüsselbegriff für die Zukunft der Arbeit“ (Daniel Goeudevert). Eine globale Welt scheint ohne Mobilität und Flexi­ bilität nicht denkbar. Grenzenlos sei die Welt und grenzenlos der Mensch. Der Mensch ist der allerorten und zu aller Zeit verfügbare Produktionsfaktor. Begriffe

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wie Heimat, Heim, Bindung und Verwurzelung widersprechen dem grenzenlosen Globalkonzept. Die modernen Techniken verstärken diesen Mobilitäts- und Flexi­ bilitätswahn. Aus der Freiheit und dem Recht, überall erreichbar zu sein, zum Bei­ spiel per Handy, wird die Pflicht, sich verfügbar zu machen. Mit der heutigen Te­ lefontechnik kann ich nicht mehr nicht wissen, dass jemand angerufen hat, denn die mailbox oder das Anrufdisplay zeigt die Nummer und den Namen des Ge­ sprächspartners an. Ich kenne Leute, die ihren Arbeitsplatz gewechselt haben, da sie dieses ständige Erreichbar sein und zur Verfügung stehen und damit verbunden eine hetzige Fahrerei und Fliegerei nicht mehr verkraftet haben oder nicht mehr mitmachen wollten.

Entsprechend der Maßgabe einer Firma ihren Standort allein nach ökonomischen Gesichtspunkten zu bestimmen und gegebenenfalls zu verlegen, soll auch der Fir­ menmensch und Mitarbeiter verleg- und verpflanzbar sein. Der belastbare und dy­ namische Single entspricht diesem Mobilmenschen, nicht beeinträchtigt durch fa­ miliäre Bindungen und Kindergartenzeiten. Die deutschen Bischöfe sehen diese Entwicklung mit Sorge. Im Wort „Ehe und Familie - in guter Gesellschaft“ weisen sie daraufhin, dass die Gesellschaft und hier besonders im Bereich der Wirtschaft, Mobilität und Durchsetzungsvermögen belohne. Ehe und Familie dagegen bauen auf die Prinzipien Entschiedenheit für den Partner und für die Kinder, Unkündbar­ keit und Rücksichtnahme.

Die Anforderungen an die Flexibilität und Mobilität der Menschen nehmen zu und werden in einem ebenso zunehmendem Maße als belastend empfunden. Reaktio­ nen und Gegenbewegungen, die diese Postulate der Menschenflexibilisierung, der übersteigerten Mobilitätsanforderungen und der schrankenlosen Globalisierung in Frage stellen, werden „lauter“. In Ansätzen ist eine Renaissance der Heimat und des Regionalen festzustellen. Gepflegte Dialekte, Heimat- und Fasnachtsfeste, Brauchtum und altes Liedgut werden wieder mehr geschätzt. In den USA macht eine Gruppe von sich aufmerksam, die sich „simply life“ nennt. Diese Gruppe schwört dem puren Action-Berufsleben (Termine, Hotels, Handy, Staus) ab und besinnt sich auf die wahren Dinge des Lebens wie Einfachheit, Familie, Ruhe, Natur und Einsamkeit.79

79 Da sich diese simply-life-Anhänger zum großen Teil aus dem Topmanagement rekrutieren, verstehe ich sie als „Edel-Outcasts“. Mit einem beruhigend großen finanziellen Polster den Lebensabend schon zu „Mittag“ verbrin­ gen. In Deutschland existiert übrigens schon seit längerem eine ähnliche Gruppierung, nämlich die „Edel-Ökos.

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7 Ausstieg ohne Ende in das lebenslange Lernen oder warum wir nicht für das Leben lernen „Die Bildung eines Menschen wächst immer auch aus dem Beruf. Der Beruf ist die ursprüngliche Form dessen, was heute »lebenslanges Lernen* heißt. Es bringt die Menschen von selbst dazu, sich neue Kenntnisse, Fähigkeiten anzueignen, sich mit der fortschreitenden Praxis zu erweitern und zu verändern.“80

Der Regelkreislauf des lebenslangen Lernens

80 Hans Maier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.11.1996.

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„Lebenslanges Lernen“ hat sich zu einem Leitwort und Bildungsmotto entwickelt. Mal wird es mahnend und (an-)klagend vorgetragen, mal freudig und motiviert. Lebenslanges Lernen kann somit Drohung aber auch Verheißung bedeuten.

Warum wir für die Prüfung und nicht für das Leben lernen Lernen hört nicht auf mit der Schule, dem Studium und der Ausbildung. Lernen geht weiter - im Beruf, im Alltag, ein Leben lang. In abgewandelter Form ist das Postulat des lebenslangen Lernens auch so zu hören, dass man nicht für die Prü­ fung, sondern für das Leben lerne. Dieser Spruch ist gut gemeint aber Unsinn. Denn Prüfungen gehören zum Leben und insofern lerne ich für das Leben, wenn ich auf Prüfungen lerne. Zudem unter­ stellt die Aussage des Lernens für das Leben, dass wir immer dann nicht leben, wenn wir lernen. Das Ergebnis ist eine Dichotomie zwischen Lernen und Leben, die auf einer historisch vielleicht falschen aber folgenreichen Trennung von Ler­ nen und Leben beruht. Lernen wird gleichgesetzt mit der Jugendzeit und der Her­ anbildung von Erwachsenwerden. Als zeitlich befristeter Prozeß findet dieses Ler­ nen schließlich mit dem Lehr-, Schul- oder Studienabschluß ein Ende und berech­ tigt zum Einstieg in das eigentliche Leben. Das erwachsene, richtige Leben be­ ginnt. Diese Sichtweise erklärt diesen oft geäußerten Spruch: „Man lernt nicht für die Prüfung (die in der Phase des Erwachsenwerdens angesiedelt ist), sondern für das Leben (danach im Erwachsensein).

Wenn dieser Spruch Gültigkeit hätte, wäre es um die heutigen Menschen im Zeit­ alter lebenslangen Lernens schlecht bestellt. Denn dann kämen wir vor lauter Ler­ nen nicht mehr zum Leben. Wir wären nur noch Lernende und keine Lebenden mehr. Wir sind aber Lernende und Lebende. Deshalb lautet das Lösungswort: „Lernen ist Leben“ und nicht „Lernen für das Leben“! Lernen ist Leben und Le­ ben ist Lernen. Der Mensch definiert sich nicht mehr allein als homo sapiens, als wissender Mensch, sondern als homo discens als lernender Mensch.

Lebenslanges Lernen - Drohung oder Verheißung? Ob wir „lebenslange Lernen“ als Bedrohung oder Verheißung auffassen - wobei der Begriff „lebenslang“ an sich schon einen bedrohlichen Unterton aufweist; man denke an das Gefängnisurteil »lebenslang* oder in manchen Fällen auch an die

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Tragödie einer lebenslangen Ehe unterliegt der jeweiligen Einstellung eines Menschen und ändert sich im Lebenslauf. Starten wir im jungen Menschenalter. Im Kindesalter bedeutet Lernen Spielen, Erforschen und Entdecken. Eine unbändige Neugierde und Freude am Leben be­ dingt ein unablässiges Lernen und Probieren. Mit einer unglaublichen Ausdauer entwickelt sich der Mensch von einem liegenden und hilfsbedürftigen Baby, das nicht einmal selbst den Kopf anheben kann, über die Krabbelphase und die Zeit der unzähligen Gehversuche und damit natürlich auch vieler Stürze zu einem springenden, hüpfenden, tanzenden Menschen. Aus einem undurchdringlichen Dickicht von Lauten und Worten, die von den betreuenden Erwachsenen wie Mutter und Vater nicht einmal „richtig“ gesprochen werden, man denke an Worte wie „dududud“ oder „heiaheia“, lernt das Baby eine Sprache zu entwickeln. Das Kind lernt „heiß“ im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen, wenn es eine heiße Herdplatte berührt. Es lernt Beziehungen herzustellen, wenn ihm erklärt wird, dass eine „halbe Stunde“ etwa so lange dauert wie die Sesamstraße. Das Kind lernt spielerisch (den Begriff »instinktiv* zu benutzen scheue ich mich). Es lernt im Spiel und es erfreut sich am Ergebnis seines Lernens.

Mit fortschreitendem Alter verliert Lernen seinen spielerischen Charakter. Lehr­ pläne werden erfunden und Lehrende treten auf die Bühne des Lebens. Die Sozia­ lisierung des Lernens nimmt im Kindergarten seinen Lauf und erfährt in der Schule seine Perfektion. Dem Lernen geht der Charakter der Unschuld und des Spieles verloren und es entwickelt sich zu einer ernsten Angelegenheit. Lernen wird zunehmend mit Pflicht und Zwang sowie mit Konkurrenz und Bewertung in Verbindung gebracht. An die Stelle von Spiel und Freiwilligkeit tritt im extremen Fall Disziplin, Drill und Zucht. Lernen wird zur Mühsal, Anstrengung und Arbeit. Kinder werden mit dieser Unterscheidung konfrontiert, indem sie im Hause drin­ nen unter Aufsicht der Erwachsenen ihre Hausaufgaben zu erledigen haben (Pflicht), bevor sie dann im Freien unbeaufsichtigt und in Freiheit spielen dürfen (Kür). Die letzten Zeilen könnten den Eindruck erwecken, dass dieser Abschied vom kindlichen Spiel bedauerlich und falsch und der Weg in die Pflicht und Ordnung fatal wäre. Dem ist nicht so. Verschiedene pädagogische Konzepte, die aus­ schließlich auf Freiheit, Spiel und Toleranz setzen - man denke an die Summerhill-Schule in England - haben sich als Irrweg erwiesen. Der Ablehnung von Hier­ archie und Ordnung folgten Unordnung und Chaos. Unbedingte Freiheit des Ein­ zelnen fuhrt zu Egoismus und Verachtung des Mitmenschen. Es handelt sich um einen Denkfehler, Kinder ohne Grenzen, Forderungen und Ordnungen zu erziehen.

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Ich erinnere mich an die Sportwettbewerbsteilnahme unserer Tochter, die ent­ täuscht und traurig reagierte, als alle Kinder die gleiche Belobigung erhielten, un­ abhängig davon, ob sie am Wettkampf teilgenommen, geschweige denn ein gutes Ergebnis erzielt hatten. Es war also egal, ob und was die Kinder geleistet hatten. Die Kinder waren den Erwachsenen gleich gültig und somit gleichgültig!

Lernen ändert im Lebenslauf seinen Charakter. In welchem Maße wir Lernen als Chance und Recht oder als Zwang und Pflicht erfahren, hängt in erster Linie von unserer inneren Einstellung ab. Entsprechend empfinden wir lebenslanges Lernen als Verheißung oder Bedrohung. Herrscht das Letztere vor, wird man das Problem des lebenslangen Lernens allerdings nicht durch Ignorieren desselben lösen kön­ nen. Wissen und Qualifikation müssen ständig erweitert und erneuert werden und können nicht ausschließlich in die biografische Phase der Erstausbildung gepackt werden. Nachqualifizierung und Weiterbildung folgen den ersten Bildungs- und Ausbildungsphasen.81

Mit welchem Gewicht dieses Thema des lebenslangen Lernens belegt wird, zeigt die Entscheidung der Europäischen Union, als sie das Jahr 1996 zum „Europäi­ schen Jahr des Lebenslangen Lernens“ ausrief.

Lernen wir also, lebenslang zu lernen! Denn, Lernen ist Leben und Leben ist Lernen!

81 Vgl. Bultmann/Weitkamp (1999) Hochschule in der Ökonomie, S. 119. Bultmann und Weitkamp fordern eine Verkürzung der beruflichen Ausbildungs- und Studienzeiten, um später vermehrt Zeit für Nachqualifikationen bieten zu können.