Der Künstler als Misanthrop: Zur Genealogie einer Vorstellung 9783110944570, 9783484320512

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Der Künstler als Misanthrop: Zur Genealogie einer Vorstellung
 9783110944570, 9783484320512

Table of contents :
Einleitung
I. William Shakespeare: Timon of Athens
II. Molière: Le Misanthrope
III. Friedrich Schiller: Der versöhnte Menschenfeind
IV. Arno Schmidt: »PHAROS oder von der Macht der Dichter«
V. Thomas Bernhard: Das Kalkwerk
Anstelle eines Nachworts
Literaturhinweise

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 51

Bernhard Sorg

Der Künstler als Misanthrop Zur Genealogie einer Vorstellung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sorg, Bernhard: Der Künstler als Misanthrop : zur Genealogie einer Vorstellung / Bernhard Sorg. — Tübingen : Niemeyer, 1989 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 51) NE: GT ISBN 3-484-32051-6

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Computer Staiger GmbH, Ammerbuch-Pfäffingen Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen

Inhalt

Einleitung

1

I. William Shakespeare: Timon of Athens

7

II. Moliere: Le Misanthrope

34

III. Friedrich Schiller: Der versöhnte Menschenfeind

58

IV. Arno Schmidt:

73

»PHAROS

oder von der Macht der Dichter« .

V. Thomas Bernhard: Das Kalkwerk

95

Anstelle eines Nachworts

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Literaturhinweise

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V

Einleitung

Fünf literarische Darstellungen von Misanthropie, fünf Menschenfeinde, aber nur eine Geschichte: die von seiner allmählichen Verwandlung in eine Künstlergestalt, genauer: eine Vorstellung von Kunst und Künstler, die ihr Zentrum hat in der konstitutiven Opposition von Empirie und Geist. Von Anfang an (und das heißt in diesem Kontext: von Shakespeares Timon an) ist der literarische Misanthrop durch Eigenschaften gekennzeichnet, die ihn, zu Ende gedacht, prädestinieren zum Künstler — durch den Glauben an eine dichotomische Welt, der die Fülle der Erscheinungen abwertet gegenüber einer apriorischen Idee vom Menschen und den Dingen. Die Enttäuschung über das Leben in seiner Schmerzlichkeit und Trivialität, seinen Verletzungen und Zufällen und die Erfahrungen von menschlicher Bosheit und Gleichgültigkeit werden zu Zeichen universaler Depravation, weil für den Misanthropen der Gedanke an eine vollständige Sinn-Losigkeit der Geschehnisse noch unerträglicher wäre als die Idee einer übermächtigen Gewalt des Bösen es für ihn schon ist. Die Sehnsucht nach dem Unbedingten wird innerhalb der Erfahrungswelt stets grausam destruiert; daher gibt es für Shakespeares Timon nur die rasende Wut über eine vernichtungswürdige Schöpfung und die Hoffnung auf den Tod — den eigenen und den aller anderen. In Schillers Menschenfeind-Fragment taucht erstmals die Idee einer von ihm selbst geschaffenen Welt auf, die der empirischen opponiert; nur daß hier der einigermaßen verstiegene Gedanke entworfen wird, seine Tochter könne diese Gegenwelt sein, womit sich der Misanthrop schuldhaft auf die Ebene des von ihm Bekämpften begibt und so die Idee scheitern muß. Erst im 20. Jahrhundert — exemplarisch gezeigt an einer frühen Erzählung Arno Schmidts — gelingt die Verbindung von Menschenfeindschaft und Künstlertum, zumindest programmatisch und im Namen eines nachvollziehbaren theoretischen Konzepts: in der Bestimmung der Kunst als geistgezeugter Opposition zur materiellen Realität, die, ganz in religiösen Traditionen, als zutiefst und irreversibel böse aufgefaßt und verworfen wird. Daß die Geschichte damit nicht zu Ende ist, zeigt 1

Thomas Bernhards Roman Das Kalkwerk: Der Protagonist Konrad und sein tragikomisches Scheitern kann verstanden werden als höhnischer Abgesang auf die spätromantische Inthronisation der Kunst und des Künstlers. Soviel, sehr rasch und vorläufig, zum Gang der Geschichte; Plausibilität und Differenziertheit kann sie nur gewinnen durch die Einzelinterpretationen. Ihnen vorangestellt sei jedoch ein Blick auf die antiken Ursprünge literarischer Misanthropie — aber nicht auf die in diesem Zusammenhang gelegentlich erwähnte Komödie Diskolos des Menander, die ohne Beziehung bleibt zu den hier vorgestellten Texten, sondern auf den Dialog Timon des griechischen Autors Lukian (120 bis 180 n. Chr.): Mit ihm beginnt die Geschichte der literarischen Misanthropie, in ihm finden sich bereits die Kerne des Leidens an der Welt ohne psychologisch zureichende Begründung, der monomanischen Weltverfluchung aus dem Geist eines apriorischen Wissens heraus.1 Dieser Text, dessen satirischer Grundzug Timons Bitterkeiten manches von ihrer Schärfe nimmt, stellt sich dar als eine Abfolge von Monologen und Dialogen um den menschenhassenden, einstmals ungeheuer reichen und jetzt, zu Anfang des Textes, ganz verarmten Timon. Der Eingangsmonolog Timons enthält eine etwas umständliche Beschimpfung des Göttervaters Jupiter — wegen dessen Untätigkeit und Trägheit, denn die Menschheit ist so, daß sie des Zornes und der Züchtigung von oben bedarf, was leider meistens ausbleibt. Dieser Aspekt hat sich über die Jahrhunderte als einer der zentralen jeder literarischen Misanthropie erhalten: Nicht einfach nur Haß auf seine Mitmenschen beseelt und belebt den Misanthropen, in erster Linie ist es ein schier unstillbarer Wunsch nach Strafe und Bestrafung der anderen. Gleichzeitig mit der Götterbeschimpfung entfaltet Timon dem Leser seine Situation: Er lebt in der Einsamkeit, arm und verlassen, er, der einstmals allen geholfen hatte und jedes Mannes Freund war. Er leidet unter dem Undank der Welt: Ich will [...] nur dabey stehen bleiben wie mir mitgespielt worden ist, mir, der ich so vielen Atheniensern aufhalf, so manchen armen Tropf zum reichen Manne machte, allen die meiner Hülfe bedurften unter die Arme griff ja, wie ich wohl sagen kann, unermeßliche Reichthümer bloß durch die Leidenschaft meinen Freunden Gutes zu thun verschwendete. Seitdem ich durch dies alles arm geworden bin, will mich niemand mehr 1

Lukian: Lügengeschichten und Dialoge. Übersetzt von Christoph Martin Wieland. Nach dem Wortlaut des Erstdrucks 1788/89, Nördlingen 1985.

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kennen [...]. (S. 386) Hier ist wenigstens angedeutet, daß Lukians Timon zuerst von den anderen ausgeschlossen wurde, daß seine naive Freigiebigkeit, seine menschenfreundliche Verschwendung ihn arm gemacht hat und er darum gemieden wird. Von der Not in die Einsamkeit getrieben, nicht unbedingt durch einen freiwilligen Entschluß, grollt er nun den Menschen, ist aber noch nicht eigentlich ein Menschenhasser. Jedenfalls wird klar, daß er innerhalb des Textes eine (noch näher zu beschreibende) Entwicklung durchmacht, bevor er gegen Ende ein vollausgereiftes Manifest der Misanthropie formulieren kann (S. 414—417). Wir lernen ihn zwar schon in der Not, der Armut und der Zurückgezogenheit kennen, noch ist dies freilich eher eine philosophische Einsiedelei als eine bewußte und haßerfüllte Distanz zu allem Menschlichen. An dieser Stelle betreten Jupiter und Merkur die Bühne des Spiels. Die beiden Götter, mit großem ironischem Abstand gezeichnet, diskutieren über die Gründe für Timons Verarmung und Verelendung. Ich könnte sagen, seine Güte und Menschenliebe und sein Mitleiden mit allen Dürftigen habe den armen Mann zu Grunde gerichtet: aber die reine Wahrheit ist, daß es seine Thorheit, übermäßige Gefälligkeit und Unvorsichtigkeit in der Wahl seiner Freunde gethan hat. (S. 388 f) So Merkur. Timon ist zu begreifen als abschreckendes Beispiel, als Exempel dafür, was geschieht oder geschehen kann, wenn ein reicher und gütiger Mann zu vertrauensselig und ohne Menschenkenntnis ist. Damit ist der Mangel Timons und vielleicht ein Mangel jedes Misanthropen festgestellt, nämlich die fehlende Kraft zur Entscheidung und Unterscheidung, die Tugend der Skepsis und des Erkennens der Mitte zwischen den Extremen. Jupiter beschließt, Timon wieder reich werden zu lassen; die Gründe sind nicht völlig klar, jedenfalls gewinnt die Aktion den Anschein einer ausgleichenden Gerechtigkeit und nicht etwa den einer erneuten Prüfung. Plutus, der Gott des Reichtums, die Personifikation des Reichtums selbst, erhält den Auftrag, Timon Geld zukommen zu lassen. Plutus ärgert sich wortreich über den vormaligen Verschwender Timon, der in gleicher Weise an ihm, dem Reichtum, gesündigt habe wie, auf der anderen Seite, die vielen Geizigen. Damit verknüpft ist ein Lob des Maßes und der Mitte. Ich kann also weder diese, die mich gar nicht zu gebrauchen wissen, noch jene, die mich immer zwischen den Fingern haben, loben: sondern nur den, der mit Maße zu Werke geht, was denn auch in allen Dingen das Beste ist. (S. 395) Dieser ethischen Maxime, die aufs engste verbunden ist mit dem Grundfehler des Misanthropen, schließt sich ein eher umständlicher Dialog Merkur-Plutus an: wie man Reichtum 3

gewinnt und ihn wieder verliert, ohne direkten Bezug auf Timon. Bevor der geneigte Leser die Geduld verliert ob der Abschweifung, tritt rasch und kurz Penia, die Göttin der Armut, auf, die sich und ihre segensreiche Wirkung herausstellt, was schon Timon getan hatte und was Merkur bestätigt; ihre, der Armut, Gefährten seien: Arbeit, Unverdrossenheit, Weisheit und Tapferkeit (S. 406). Penia bedauert natürlich, daß Plutus den Auftrag bekommen hat, den Timon vom Pfad der Tugend abzulenken; bei Lukian sind die Götter schon ziemlich heruntergekommen und nicht mehr sehr vorausschauend, sonst wüßten sie, daß mit dem Geld die eigentliche Wandlung Timons erst beginnt und sich vollendet. Timon ahnt, was auf ihn zukommt. Er fühlt sich von Merkur und Plutus belästigt, ist er doch von der Nichtswürdigkeit der Menschen und der Götter bereits überzeugt. Die Armut preist er eloquent, hat sie ihn doch restituiert, auf sich selbst zurückgeworfen und damit autark gemacht. Diese Autarkie gehört stets entweder zur Realität oder zum Programm jedes Menschenfeindes, sie ist der gleichsam passive Teil des Götter-, Welt- und Menschenhasses. In den aktiven tritt Timon nun ein, als er, und das mag seltsam erscheinen, doch Lust bekommt, wieder reich zu werden und das angebotete Geld akzeptiert. Er will sich dafür Land kaufen und einen Turm, um so noch besser vor den Menschen geschützt zu sein. Und er deutet die korrumpierende Macht des Geldes zumindest an — ein dann bei Shakespeare wichtiges Motiv —, die Macht des reichen Misanthropen, die Welt zu entlarven und sie in ihrer wahren Bestialität zu zeigen. Dieser aktive Teil konsequenter Misanthropie bleibt bei Lukian unentfaltet oder besser: wird nur zum Teil funktional genutzt, wenn nämlich am Ende die braven Athener Bürger zu Timon kommen und sich durch ihre unverhohlene Gier nach dem Gold demaskieren. Timon artikuliert nun, wieder im Besitz eines immensen Reichtums, sein Credo. Auch die anderen Menschenfeinde, viele Jahrhunderte später, werden so oder ähnlich sprechen. Sein Grundgesetz sei: mit keinem Menschen Umgang zu haben, keinen zu kennen, über alle wegzusehen. (S.414) Und weiter: Die Wörter, Freund, Gast, Camerad, und Altar der Barmherzigkeit sollen ohne Bedeutung in meiner Sprache, und Mitleiden mit einem Weinenden zu tragen oder einem Dürftigen zu helfen, soll Verbrechen und Umsturz der guten Sitten seyn. (S. 414 f) Alle hehren Dinge und Begriffe seien nichts als leere Worte ohne Substanz, ja reale Existenz: Vaterland, Mitbürger, Götter und Menschen; sie alle seien schaale Namen, die nur bey sinnlosen Menschen in Achtung stehen! (S. 415) Der scheinbar oder tatsächlich nihilistische Zug, der den Misanthropen sehr häufig, 4

wenngleich nicht immer (siehe Molieres Alceste und Schillers von Hutten) charakterisiert, ist bereits hier voll ausgebildet und läßt nichts Menschliches aus: Ich will stolz darauf seyn den schönen Nahmen Menschenfeind zu führen, und mürrisches Wesen, Grobheit, Brutalität und Unmenschlichkeit sollen die Kennzeichen meines Charakters seyn. (S.416) Zwar blickt er mit dem Vokabular der Summation gleichsam durch die Brille der verhaßten Mitmenschen — er scheint nicht in der Lage, aus sich heraus eine autonome Weltsicht zu entwerfen, ist unfähig, eine Begründung zu formulieren — aber auch dies mitbedacht: Die Sätze des Timon, diese Seiten des Lukian sind das erste Manifest literarischer Misanthropie. Sie gehen durchaus und charakteristisch über das altbekannte Einsiedlertum, das häufig religiös (soteriologisch) motiviert war, hinaus. Womit nicht gesagt sein soll, daß nicht auch der Menschenfeind eine Ideologie besitzt, die in den konstitutiven Punkten eine religiöse Struktur oder Fundierung besitzt. Lukians Timon jedenfalls ist ein am Zustand der Welt Leidender, und er ist ein sie Verfluchender und sie ansatzweise auch Bekämpfender, wenngleich das hier nur in der komischen Form der Verprügelung habgieriger Athener besteht. Denn der Text endet damit, daß auf die Nachricht von Timons erneutem Reichtum — man weiß zwar nicht recht, wie sie es erfahren haben können, aber wer möchte da so pingelig sein — einige alte Bekannte bei ihm auftauchen und mehr oder minder geschickt um Geld betteln. Timon geht mit allen ganz rabiat um, bewirft sie mit Steinen und verjagt sie. Damit endet der Dialog, etwas abrupt, aber nicht unlogisch oder defizient. Denn was soll noch geschehen, wenn Timon bei seiner misanthropischen Weltsicht bleibt? Eine Frage, die sich bei allen Texten stellt und ein nicht unerhebliches Konstitutionsproblem bildet, was auf ganz unterschiedliche Weise gelöst oder eben nicht gelöst wird. Lukians Text aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert ist die erste kohärente Beschreibung und Verbalisierung misanthropischen Verhaltens. Es ist eigentlich ein kleines Theaterstück mit Monologen, Dialogen, Szenenwechseln und einem Hauch von action am Schluß, wenn Timon die lästigen Athener mit gezielten Steinwürfen vertreibt; natürlich auch eine satirische Spiegelung der Entstehungszeit, ein Diskurs über die korrumpierende Macht des Reichtums. Mit viel Sympathie wird Timon geschildert, vor allem am Schluß, und er ist doch nicht ausgenommen von der Relativierung der großen Worte und hehren Werte. Die literaturhistorische Relevanz des Textes dürfte nun allerdings nicht darin liegen, sondern in der Erschaffung eines neuen Typus als literarische Figur und 5

der ausgiebig genutzten Möglichkeit, den Misanthropen auch funktional einzusetzen, nämlich als Korrektiv einer verderbten Welt. Dabei bleibt die psychologische Wahrscheinlichkeit der Gestalt gering — ein Zug, der sich bis in das 20. Jahrhundert nicht verändert. Weder die erste Entscheidung Timons, der Rückzug, noch die zweite, die Annahme des riesigen Reichtums aus Jupiters Hand, sind nachvollziehbar. Aber es entsteht eine Gestalt, die in radikalen Alternativen denkt und handelt, die konsequent ihre eigene Welt entwirft, weil ihr die erlebte, man könnte auch sagen: die vorgegebene, als unrettbar verdorben erscheint. Ob es den Misanthropen in der Wirklichkeit gab oder gibt — von der Antike bis heute — und wenn ja, wie er in Ätiologie und Ideologie zu bestimmen und zu bewerten wäre: das sind Fragen, die in meiner Untersuchung keine Rolle spielen. Einzig über literarische Figuren wird gesprochen, über Kunstgeschöpfe: Geschöpfe der künstlerischen Phantasie und Geschöpfe, die von der Kunst träumen als dem einzigen Refugium vor der Welt; letzteres allerdings erst von der Wende des 18. zum ^.Jahrhundert. Aber schon der Timon Shakespeares weiß, daß die Welt aus den Fugen ist, nur daß er, unähnlich dem Hamlet, nicht einmal mehr davon erschreckt ist, sie wieder einrenken zu sollen.

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I. William Shakespeare: Timon of Athens

William Shakespeares Drama Timon von Athen ist die erste große Misanthropen-Darstellung in der europäischen Literatur; es hat bis in unsere Gegenwart hinein als Vorbild und Referenztext gedient, war oft die Basis von Anspielungen, Paraphrasen und Neugestaltungen. Gleichzeitig ist es ein eher sprödes Stück, nicht ohne Widersprüchlichkeiten, und von begrenzter Bühnenwirksamkeit. Ein knappes Resüme zur Quellenlage, zur Uberlieferungsgeschichte und zur Frage der Authentizität der Textgestalt muß am Beginn einer jeden, also auch dieser Interpretation stehen, denn es ist untrennbar verknüpft mit den zentralen poetologischen Fragen, die im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen. Uberliefert ist das Stück allein in der First Folio-Ausgabe von 1623.1 Nach dem heutigen Stand des Wissens dürfte kaum zu bestreiten sein, daß der Text ursprünglich gar nicht gedruckt werden sollte und aus teils einsichtigen, teils nicht mehr rekonstruierbaren Gründen in letzter Minute von den Herausgebern eingeschoben wurde. Der dominante Grund für die eher zufällige Rettung dürfte im Charakter des Unfertigen, Unabgeschlossenen, noch nicht für die Bühne Tauglichen liegen — ein Manko, das den Szenen unübersehbar anhaftet und für die Interpretation einige prinzipiell unbeantwortete Fragen aufwirft. Mit Sicherheit ist der Timon zu Lebzeiten Shakespeares nicht aufgeführt worden, was eine exakte Bestimmung des Entstehungsjahrs unmöglich macht. Die opinio communis ist, daß es zu den ganz späten Stücken gehört und wahrscheinlich in den Jahren 1606—1608 geschrieben wurde. Die überlieferte Textgestalt macht in der Tat klar, warum es zu Lebzeiten Shakespeares nicht aufgeführt worden ist: eben weil es so, von ihm als nicht bühnenreif eingeschätzt, beiseite gelegt worden war. Die Quellenlage ist einigermaßen übersichtlich. Die Gestalt des edlen

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Der Text wird zitiert nach der Ausgabe in der Reihe The Arden Shakespeare, ed H. J. Oliver, London 1969. Die deutsche Ubersetzung ist die von Dorothea Tieck. 7

und reichen Atheners Timon, der vom grenzenlos verschwenderischen Menschenfreund zum gnadenlosen Menschenfeind sich wandelt, besser: vom einen in den anderen Zustand geschleudert wird, als wäre es nicht ein und dieselbe Person — diese Figur entnahm Shakespeare zwei Büchern: der englischen Ubersetzung des Sir Thomas North einer französischen Plutarch-Ubersetzung, die unter dem Titel Lives of the Noble Grecians and Romans 1579 in England erschienen ist; und zweitens dem Lukianischen Dialog Timon, von dem es zwar damals noch keine englische Ubersetzung gegeben hat (nicht vor 1637), wohl aber französische, italienische und lateinische, wobei letztere, in Ausschnitten, sogar Schullektüre der damaligen Zeit gewesen ist. Beide Texte transportieren die konstitutiven Charakterzüge und Situationen der Timon-Gestalt: Wie da ein reicher und durch seine Großzügigkeit verarmender Mann, von der Undankbarkeit und Gleichgültigkeit der sogenannten Freunde angewidert, in Ekel und Haß allen und allem den Rücken kehrt und einsam, als unversöhnlicher Misanthrop, in der Wildnis stirbt. Dieses Skelett der Timon-Handlung geht ohne weitere Vermittlung oder Bearbeitung von der Antike in die englische Renaissance; niemals mehr nach Shakespeare, auch nicht in den Texten, die im Zusammenhang meiner Überlegungen keine Rolle spielen, ist die Beziehung zu den alten Quellen so direkt, so änderungsresistent gestaltet. Schon Molieres Alceste hat mit dem antiken Menschenfeind bloß noch die elementare charakterologische Bestimmung des Menschen- und Welt-Hasses gemein und selbst dies in direkter Relation zu einer genau bestimmten und ihn prägenden gesellschaftlichen Situation, die erst in einem zweiten Interpretationsschritt so etwas wie Zeitlosigkeit zu designieren erlaubt. Die späteren Ausformungen nehmen zwar gelegentlich noch mehr oder minder spielerisch auf die alten Vorlagen Bezug, entfalten ihre Konstellationen und Probleme aber ohne direkte Abhängigkeit von ihnen; daß sie gleichwohl im Kern der Genese und intersubjektiven und subjektiven Bedeutung von Misanthropie von großer Homogenität sind: das wird zu zeigen sein. Shakespeares Drama präsentiert zu Beginn einen Menschen, der unermeßlich reich und unermeßlich freigiebig ist, beides in einer Weise, die nichts Gutes ahnen läßt. Eine Figur, der »Dichter«, sagt bereits in der 1. Szene: bis large fortune,/ Upon his good and gracious nature hanging,/ Subdues and properties to his love and tendance/ All sorts of hearts; (1,1) [Sein großer Reichtum,/ Umkleidend seinen adlig, güt'gen Sinn,/ Bezwingt und kauft für seine Lieb' und Herrschaft/ Ein jeglich Herz.] Er kauft sich Zuneigung, sein großer Reichtum wird dazu verwendet, sich 8

die Menschen geneigt zu machen — genau dieses Verhalten wird im weiteren Verlauf des ersten Teils des Dramas, also des Teils vor Timons raschem und radikalem Sinneswandel, exemplifiziert. Timon tritt auf und tut in rascher Folge so viel Gutes, daß der ihm vorauseilende Ruf voll bestätigt wird und der Zuschauer oder Leser das bittere Ende solch maßloser Freigiebigkeit und Menschenunkenntnis antizipieren muß. Menschenunkenntnis: das ist das auffällige und konstitutive Defizit des Timon; wer immer ihn um etwas bittet, erhält Geld, viel Geld; so, als richte Timon zwischen sich und der Welt eine Mauer aus Geld und Gold auf, die eine wirkliche Bekanntschaft verhindern soll, ein Sich-Einlassen auf die Welt und die Menschen in ihrer Unberechenbarkeit. Und damit hat er ja auch zunächst und scheinbar Erfolg. Timon wird geschildert als ein Verblendeter, der nicht weiß, der nicht wissen will, wie er zynisch ausgenutzt wird, wie jeder nur sein Freund sein möchte, um von seinem Reichtum zu profitieren. Er nimmt die Menschen nicht eigentlich wahr, nicht die Welt und nicht seine, Timons, Stellung in ihr und zu ihnen. Er überhört zudem die warnende Stimme seines Verwalters Flavius, des Einzigen, der es ehrlich mit ihm meint. Verblendet steuert er seinem Untergang entgegen, und erst der tiefe Fall öffnet ihm die Augen — zur Erkenntnis der Wahrheit oder auch wieder nur einer illusionären WeltKonstruktion. Nachdem also selbst sein immenser Reichtum aufgezehrt ist und er seinerseits die um Geld bitten muß, die er früher überreich beschenkt hatte, erfährt er die Gleichgültigkeit, ja die hämische Genugtuung seiner Umgebung, der sogenannten Freunde. Und mit dieser Erfahrung beginnt die Wendung des Stückes und die Wandlung im Denken und Leben des Timon. Der erste Teil des strukturell zweiteiligen Stückes zeigt also den reichen und verblendeten Timon, und es deutet mit zwei Parallel- und Kontrastfiguren, dem zynischen Philosophen Apemantus und dem Politiker und Militär Alcibiades, eine andere Art von Weltbetrachtung an, die der des Timon ansatzweise gegenübergestellt wird. Der nur immanent geübten Kritik an der eingeschränkten Sicht des Timon wird ein vorläufiger Versuch zur Seite gerückt, aus der lamentablen Beschaffenheit des Kosmos andere als die Timonschen Konsequenzen zu ziehen. Das bedeutet nicht, daß Timon zu Beginn oder in irgendeiner anderen Szene denunziert wird, daß er einfach als Exempel inadäquaten Verhaltens vorgezeigt würde. Vereinzelte, in diese Richtung zielende Interpretationen, die ihn als Typus sehen wollen, als Beispiel exzentrischen und daher falschen 9

Verhaltens, scheinen wenig überzeugend; allein die ausführlichen, reichen und mit immenser sprachlichen Kraft gestalteten Monologe des zweiten Teils, in der Waldeinsamkeit, geben Timon soviel Intensität und innere Wahrheit, daß auch retrospektiv sein Leben zu Beginn kein pures Exempel sozialen und charakterologischen Fehlverhaltens ist, sondern in gleicher Weise zumindest der Ansatz zum Verständnis seines Charakters vorgezeichnet wird, eines Charakters, der überhaupt nur in radikalen Alternativen denken und agieren kann. Wenn man so Timon nicht als abstrakten Typus, sondern als freilich nur skizzenhaft entworfenen Charakter sieht und deutet, stellt sich natürlich die Frage, wie die Szene der Wandlung vom Menschenfreund zum Menschenfeind zu verstehen ist — von allen fünf hier interpretierten Texten findet sich einzig bei Shakespeares eine solche Umschlagstelle, ein Moment der Enthüllung des wahren oder ihm jetzt wahr erscheinenden Wesens der Welt. Somit wird auch nur hier eine Genese der Motivation gegeben oder zu geben versucht. Die Wandlung wird evident anläßlich des Gastmahls, zu dem Timon geladen hat, nachdem seine Bitten um Geld angesichts der vielen dringenden Schulden von den früheren Freunden ausnahmslos abgelehnt worden sind (111,6). Die Freunde kommen herbei, neugierig und mit leicht schlechtem Gewissen, mit Beklommenheit auch, die verstärkt wird durch den so drängenden Ton der Einladung. Timon tritt auf, und sofort versuchen einige Gäste, sich bei ihm zu entschuldigen, nehmen sie doch offensichtlich an, daß er wieder wohlhabend geworden ist und sie sich folglich taktisch unklug verhalten haben. Timon scheint das heuchlerische Spiel mitzuspielen, er antwortet kurz, zweideutig-unverbindlich und wartet, bis die Diener das Bankett hergerichtet, die zugedeckten Schüsseln hereingetragen haben. Dann jedoch, in einer ungemein kurzen, radikal komprimierten Szene, die eigentlich nur aus einer knappen Rede Timons besteht, wendet sich das Drama, offenbart sich die Wandlung des Timon. In der Form eines Gebets an die Götter schleudert er zum ersten Mal seinen grenzenlosen Abscheu gegenüber allen Menschen den hier Anwesenden gleichsam vor die Füße. Let no assembly of twenty be without a score of villains. If there sit twelve women at the table, let a dozen of them be as they are. [Laßt keine Gesellschaft von zwanzig ohne eine Stiege Bösewichter sein; wenn zwölf Frauen an einem Tisch sitzen, so laßt ein Dutzend von ihnen sein, wie sie sind.] Will sagen: Alle, ohne Ausnahme, sind verflucht, alle sind Abschaum, das Menschengeschlecht böse und rettungslos zum gerechten Untergang 10

verurteilt. Noch ist es nur eine Art Wunsch, die Götter möchten alle verderben und bestrafen, noch fehlt der apokalyptische Pessimismus der späteren Monologe im Wald, die sich an niemanden mehr richten, denen auch keine Erinnerung an eine Götterwelt mehr Licht in die totale Finsternis bringt. Aber in der Kürze und verachtungsvollen Beiläufigkeit dieses Fluchs liegt schon die gesamte Misanthropie in nuce: Die Menschen sind es gar nicht wert, daß der Durchschauende sich länger mit ihnen beschäftigt, sie bessern zu können glaubt durch wohlgesetzte Reden; nein, indem Timon sie am Ende seiner Rede »Hunde« nennt und ihnen als Mahl nur warmes Wasser serviert, verläßt er in Wort und Tat sehr bewußt die Gemeinschaft der Menschen, die er als kalte Monster begreift, eigentlich schlimmer als die Tiere. Er wäscht sich mit dem warmen Wasser gleichsam von seiner eigenen Vergangenheit ab: This is Timon''s last;/ Who, stuck and spangled with your flatteries,/ Washes it o f f , and sprinkles in your faces/ Your reeking villainy. (111,6) [Dies ist Timons Letztes;/ Der euch bis jetzt mit Schmeicheleien schminkte/ Wäscht so sie ab, euch eigne Bosheit rauchend/ Ins Antlitz sprühend.] Unter wüsten Beschimpfungen treibt er sie schließlich aus seinem Haus: Live loathed, and long,/ Most smiling, smooth, detested parasites,/ Courteous destroyers, affable wolves, meek bears,/ You fools of fortune, trencher friends, time's flies,/ Cap-and-knee slaves, vapours,/ and minute-jacks! [Lebt lang und greuelvoll,/ Stets lächelnde, abscheuliche Schmarotzer,/ Höfliche Mörder, sanfte Wölfe, freundliche Bären,/ Ihr Narren des Glücks, Tischfreunde, Tagesfliegen, Scharrfüß'ge Sklaven, Wolken, Wetterhähne.] Die Ubersetzung tut sich da schwer, aber auch die Kommentatoren des englischen Originals haben einige Mühe zu erklären, was »trencher-friend«, »time's flies« oder »cap-and-knee slaves« sind oder sein könnten. Wichtiger als das Verständnis jedes dieser Schimpfwörter ist aber doch, einzusehen, daß hier, in einer Handlung, die ein wenig an die Vertreibung der Händler aus dem Tempel durch Jesus erinnert, der vormals reiche und (scheinbar oder tatsächlich) glückliche Timon alle Brücken zur Welt und den Menschen abbricht. Burn, home! Sink, Athens! Henceforth hated be/ of Timon, man and all humanity! [Verbrenne, Haus; versink, Athen! Verhaßt nun seid/ Dem Timon Mensch und alle Menschlichkeit!] all humanity, also in erster Linie: alle Menschen, die Menschen in ihrer Gesamtheit. Gefordert ist ein Nachdenken über die psychologische Plausibilität des Timon an dieser zentralen Nahtstelle, von der aus der Text erst seine dramaturgische und ideelle Legitimation erfährt. Ist das Handeln Timons 11

nachvollziehbar oder ist die Gestalt eigentlich nur ein mechanisches Konstrukt, so aufgebaut, um das Eremitendasein des zweiten Teils einigermaßen und letztlich bloß äußerlich vorzubereiten? Erst am Ende meiner Untersuchung, vor dem Hintergrund aller Misanthropengestalten, läßt sich so etwas wie eine Charakterstruktur des literarischen Menschenfeindes entwerfen, die auf mehr beruht als auf einer, möglicherweise ganz unrepräsentativen Ausprägung. Aber schon hier ist evident, daß der Entschluß Timons, allen Menschen, allem von ihnen Geschaffenen und endlich der Schöpfung, der Natur selber, irreversibel den Rücken zu kehren, kein Ergebnis langen Nachdenkens und unendlich vieler Erfahrungen mit der Schlechtigkeit der Menschen ist, sondern wie aus einem Schock heraus getroffen wird auf der Basis einiger weniger, freilich gravierender und sein elementares Verhältnis zur Welt treffender, vernichtender Ereignisse — Ereignisse, die von der Undankbarkeit der Mit-Menschen künden und damit den Zusammenbruch seines Weltmodells unausweichlich machen. Die naheliegende Interpretation, die in Timon ein Demonstrationsobjekt, eine vollkommen eindimensionale Figur erblickt, lediglich ein Sprachrohr misanthropischer Anwandlungen des Autors oder einer generellen Altersverdüsterung, hat ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit für sich. Und ein größeres gegen sich. Denn als eine Art interpretatorischer Kontrast ist eine andere These zumindest in gleichem Maß nachvollziehbar und darüber hinaus im Kontext der literarischen Misanthropie angemessener, weil die prinzipielle Misanthropenproblematik antizipierend und auf den Kern, das Zentrum führend. Wird nicht gerade die scheinbare Insuffizienz der Timon-Gestalt — also die zweifelhafte oder löchrige psychologische Motivation der BankettSzene — zum Mittel, um das Entscheidende über die innere Struktur, das Welt-Modell dieser Gestalt auszusagen? Timons Wandel ist charakterisiert durch zweierlei: einmal durch die exzeptionelle Schnelligkeit und dann durch die riesige Amplitude des Pendelausschlages von der keine Grenzen und keine Vorsicht kennenden Menschenliebe bis hin zum abgründigen Menschenhaß. Das Bild, das er sich von den Menschen gemacht hatte, ist zerstört worden; es wird durch eines ersetzt, das alles Menschliche nur in radikaler Negativität zu sehen und zu beurteilen, d. h. zu verurteilen gestattet. Das Verhalten Timons, löst man es einmal aus dem,fiktiven Dramen-Kontext, entspringt einer Disposition und ist Ausdruck eines Menschenbildes, das in Liebe wie Haß nur realitätsferne Gesten, Verhaltensweisen und Urteile gestattet. Diese Realitätsferne ist zunächst einmal natürlich eine Insuffizienz, die Timon die volle Lebens12

welt verschließt und ihn zu sachinadäquatem Handeln und zu falschen Schlüssen treibt. Gleichzeitig jedoch entsteht in der und durch die Kunst-Figur Timon das Modell eines Weltentwurfs, bei dem schließlich nur noch die philosophische Stringenz, ihre immanente Logik zählt und nicht mehr psychologische Wahrscheinlichkeit. Darin liegen in gleicher Weise Größe und Schwäche des Stückes; eine Welt-Anschauung, die so radikal zu Isolation und Schweigen drängt, entzieht sich der Darstellung auf der Bühne, drängt zu anderen Formen des Ausdrucks, in letzter Konsequenz dem Selbstmord. Dennoch ist das Timonsche Handeln nicht ohne nachvollziehbare Logik. Er gibt den Menschen viel — und das heißt in erster Linie: er gibt ihnen die verdinglichte Seite der Gefühle, Geld. Und er erwartet viel von ihnen — und das heißt schließlich auch: Geld. Alle Probleme, die um ihn herum entstehen, versucht er durch Geld zu lösen. Vor dem Hintergrund der späteren Enttäuschung wird retrospektiv klar, daß diese Strategie vor allem eine entlastende Funktion hat: Sie baut eine Wand auf zwischen seiner Person und den anderen Menschen, zwischen sich und den Dingen, eine Wand aus Gold gleichsam, die ihn vor allen Erkenntnissen differenzierterer Art abschirmt. So bleibt sein ganzes Verhalten eigentümlich infantil. Es kennt nur die Extreme, weil er die Menschen nicht kennt, nicht in ihren unendlich vielen Schattierungen und Widersprüchen kennen will. Man könnte auch sagen — und damit antizipiere ich schon etwas von späteren Einsichten und Thesen — daß dieses anfangs präsentierte durch einige wenige enttäuschende Erfahrungen zerstörte Menschenbild Timons nicht nur realitätsfern oder kindlich ist, sondern, inhaltlich bestimmt, idealistisch-verstiegen. Es geht weniger aus von einer Apperzeption der Welt als von einer apriorischen Idee. Timons Unwille, Welt und Existenz in aller Zwiespältigkeit und Ambivalenz an sich herankommen zu lassen und zumindest partiell zu akzeptieren, wird durch sein Geld erst ermöglicht. Aber dies kann ja nur geschehen, weil er, von allem Anfang an, konstitutionell unfähig ist, kontradiktorische Erfahrungen zu machen und zu verarbeiten. Was seinem apriorischen Weltmodell widerspricht, wird nicht zur Kenntnis genommen. Und dieses Weltmodell, erst das philanthropische, dann das misanthropische, entsteht eben nicht aus Erfahrung oder ist durch Erfahrungen korrigierbar, sondern wurzelt in einer seelischen Struktur, die nur Schwarz und Weiß, Gut oder Böse, Liebe oder Haß kennt und die Welt und sich nur in solchen Kategorien ausdrücken, ja erleben kann. Diese quasi-apriorische Apperzeptionsform taugt durchaus nicht zu realitätsgerechtem Handeln — was Shake13

speare in der Kontrastfigur des Alcibiades sehr deutlich macht — wohl aber ist sie vorzüglich geeignet für etwas anderes: nämlich für einen poetischen Welt-Entwurf, der den Menschen bewußt oder unbewußt, das ist irrelevant, aus der empirischen Mittelmäßigkeit herausholt und einerseits grandios erhöht und andererseits abgründig verneint als etwas, das besser nicht wäre. Die vielberedete Maßlosigkeit Timons dürfte der Schlüssel zum Verständnis dieses Menschenfeindes sein — sie bietet auch den Einstieg in die Tiefenstruktur aller literarischen Misanthropie. Der zweite Teil des Dramas zeigt uns den Einsiedler Timon, in vereinzelten Begegnungen mit der verhaßten Menschenwelt, in Monologen und Dialogen oder, besser gesagt, Monologen des Misanthropen vor Zuhörern, Darlegungen seiner Welt- und Menschenanschauung ins Angesicht dieser verabscheuten Menschen hinein, und zwar des Alcibiades, des Apemantus, der zwei Banditen, des treuen Verwalters Flavius und einiger Athener. Zuerst sehen und hören wir ihn kurz nach der Bankett-Szene, auf freiem Feld, nicht weit von Athen, dessen Staub er gerade von den Füßen schüttelt. Let me look back upon thee. Ο thou wall/ That girdles in those wolves, dive in the earth I And fence not Athens! (IV, 1) [Laß mich noch einmal auf dich schaun, du Mauer,/ Die diese Wölf umschließt. Tauch' in die Erde! Schütz' nicht Athen!] So beginnt der erste Monolog des Menschenfeindes, als der er sich nun mit steigendem Ingrimm begreift. Der Satz deutet das alte Motiv vom homo homini lupus mehr an als daß er es entfaltet; immerhin wird es, nicht ganz konsequent, am Ende in geradezu kontradiktorischem Sinn nochmals aufgenommen, wenn Timon sagt: »das wildste Tier/ Zeigt Lieb' ihm mehr, als je die Menschen hier.« Also einerseits werden die Bewohner Athens mit reißenden Wölfen verglichen, andererseits die Gemeinschaft der Menschen unter die der Tiere gestellt, als liebloser und moralisch verkommener bezeichnet. Im englischen Original benutzt Timon allerdings das Futur, was eher den Ausdruck des Menschenh&sses verstärkt als daß er eine ontologische Abstufung Mensch — Tier ernsthaft vornehmen wollte: Timon will to the woods, where he shall find/ Th' unkindest beast more kinder than mankind. (IV, 1) Mit diesen ersten Verfluchungen hat Timon einen Ton angeschlagen, der von nun an nicht mehr verklingt. Die Haßausbrüche steigern sich, werden immer globaler, umgreifen nicht mehr nur die Heimatstadt, sondern schließlich die gesamte Welt, den Kosmos, die Totalität alles Existenten. Zunächst verdammt er die undankbaren Menschen seiner Vaterstadt, indem er das latente oder schon manifeste moralische 14

Chaos mit geradezu wollüstiger Befriedigung konstatiert und seine äußerste Steigerung, das Delirium und den Zusammenbruch, inbrünstig herbeisehnt. Auffällig ist dabei, daß manchmal — und das gilt auch für andere Monologe — zunächst das Bild einer Welt der Ordnung und des Rechts angedeutet wird, die dann vom Chaos überwältigt und vernichtet werden soll: Slaves and fools,/ Pluck the grave wrinkled senate from the bench/ And minister in their steads! To general filths/ Convert, o' th' instant, green virginity!/ Do't in your parents' eyes! (IV,1) [Sklaven, Narren, reißt von dem Sitz die würd'gen Senatoren, und haltet Rat statt ihrer! Jungfrauen-Reinheit/ Verkehre plötzlich sich zu frecher Schande,/ In Gegenwart der Eltern!] Man kann diese wiederkehrende Struktur, dieses an sich zu Timons Weltbild gar nicht passende Modell der Zerstörung einer noch existenten Ordnung für einen gedanklichen Mangel halten, den Shakespeare bei der Schluß-Bearbeitung getilgt hätte oder man kann diese Sätze als blutige Ironie begreifen, die den Anschein einer Welt wiedergeben, die sich jedoch dem Blick des Misanthropen als bereits durch und durch verfault darbietet, ein Schein, der dann von der Wahrheit der extremsten moralischen Depravation abgelöst wird, einer Depravation, die seit je auf dem Grund der Welt und des Menschen gelegen hat. Er hat die große Lüge durchschaut, und nun soll sie für alle offenbar werden. Der Fluch auf die Welt ähnelt dem Zauberwort, das das geheime Wesen der Dinge hervortreten läßt. Die verrottete Welt bedarf nur eines mitleidlos-genauen Blicks, um sich in ihrer ganzen Scheußlichkeit und Verworfenheit zu enthüllen. Er, Timon, hat sie durchschaut, er sieht sie lustvoll so, wie sie eigentlich, unter der trügerischen Oberfläche, ist, er erblickt das Wesen der Dinge und des Menschen: Bound servants, steal!/ Large-handed robbers your grave masters are,/ And pill by law. Maid, to thy master's bed;/ Thy mistress is o' th' brothel! Son of sixteen J Pluck the lin'd crutch from thy old limping sire;/ With it beat out his brains! (IV, 1) [Stehlt, ihr Leibeigenen!/ Langhänd'ge Räuber sind ja eure Herrn/ und plündert durch Gesetz. Magd, in deines Herren Bett!/ Die Frau ist im Bordell. Sohn, sechzehn Jahre alt,/ die Krücke reiß dem lahmen Vater weg,/ Und schlag ihm aus das Hirn!] Diese Verderbtheit und Aggressivität soll sich noch steigern, wird in der destruktiven Sehnsucht des Misanthropen zum allgemeinen Gesetz hypostatiert, das endlich den humanen Idealen die zivilisatorische Maske vom Gesicht reißt und die Herrschaft des Chaos ankündigt, in dem die Menschen so sind, wie sie schon immer auf dem Grund ihrer Seele waren. Piety and fear,/ Religion to the gods, peace, justice, truth,/ Domestic awe, night-rest and 15

neighbourhood.,/ Instruction, manners, mysteries and trades,! Degrees, observances, customs and laws,/ Decline to your confounding contraries;/ And yet confusion live! (IV, 1) [Furcht, Frömmigkeit, Scheu vor den Göttern, Friede, Recht und Wahrheit,/ Zucht, Häuslichkeit, Nachtruh und Nachbartreue,/ Belehrung, Sitte, Religion, Gewerbe/ Achtung und Brauch, Gesetz und Recht der Stände:/ Stürzt euch vernichtend in eur Gegenteil,/ Bis zur Vernichtung lebt!] Der zentrale Schlußgedanke ist nicht ganz leicht zu verstehen: Decline to your confounding contraries;/ And yet confusion live! Möglich scheint diese Auslegung: Alle die aufgezählten Tugenden, die nur schöne Worte sind, sollen in der Realität sich in ihr Gegenteil verkehren, ein Zustand, in dem alle confounded zur chaotischen Konfusion gebracht sind; und dennoch, trotz all der Zerstörung und der Verwirrung, soll das allgemeine Chaos »leben«, d. h. endlos, ohne die Chance eines gnädigen Endes, weitergehen — eine chaotische Hölle, das Chaos als perennierender Zustand. Timons Fluch erstrebt eine Welt der mörderischen Unordnung, aus der die Menschen nie einen Ausweg oder innerhalb deren sie nie eine Besserung finden sollen, sondern immer gemartert sind ohne Hoffnung auf Erlösung. Zweierlei geht da ineinander über: einmal die Deskription einer fundamental verderbten Welt, die vom Misanthropen durchschaut und auf den Begriff gebracht wird, und eine wilde Bestrafungsphantasie, mit der der Menschenfeind sich zum Richter über alle anderen Menschen aufschwingt und so eine Art quasi-religiöser Auserwähltheit recht offen dokumentiert. Dieser Charakterzug von Staatsanwalt und Richter in einem (und mit einer gewissen Logik würde sich auch noch der Beruf des Henkers anschließen; Hinweise und Ansätze gibt es im Gespräch Timons mit Alcibiades und den beiden Huren) ist konstitutiv für alle Misanthropengestalten. Stets weiß der Menschenfeind besser als die anderen, wie die Mitmenschen, wie »der Mensch« eigentlich ist, jenseits seiner Erscheinung und seines Auftretens — was prinzipiell als Heuchelei oder an sich schon als widerwärtig und verächtlich aufgefaßt und gewertet wird. Was immer ein Anderer sagt oder tut, es kann nicht nur, es wird mit Sicherheit beim imaginären Tribunal gegen ihn verwendet. Diese konstitutive Struktur misanthropischer Welt-Aufnahme ist, soviel schon jetzt, nicht zufälligerweise verwandt bestimmten Verhaltensweisen und Ausdrucksformen religiösen Denkens mit einem fundamental dichotomischen Weltbild. Bleiben wir jedoch noch bei dem ersten Timon-Monolog nach seiner Verwandlung, in dem er der Stadt Athen alle nur denkbaren Übel 16

wünscht. Nothing I'll bear from thee/ But nakedness, thou detestable town! (IV, 1) [Nichts nehm' ich von dir mit,/ Als Nacktheit, du, des Abscheus würd'ge Stadt!] Wenn man hier nakedness ganz wörtlich nimmt, würde das sehr drastisch seinen Abscheu vor der Zivilisation, vor der Kleidung als Verkleidung kundtun. Indem er so seinen Weg in die menschenfreie Wildnis antritt, hofft er auf eine Art Befreiung von seinesgleichen, von aller Menschenwelt und allen von Menschen gemachten Dingen. Die sich aufdrängende Frage, ob er sich auch selbst haßt,. kann hier, aus diesem Monolog heraus, noch nicht beantwortet werden. Sie ist freilich prinzipiell von größter Relevanz, denn konsequente Misanthropie müßte die eigene Person einschließen, was zur Idee des Lebens als eines erbarmungslosen Tribunals sehr wohl paßt. Der alles durchschauende Blick kann die eigene Person nicht ausnehmen von dem Ekel und Abscheu, mit dem er die Objekte, gleich ob belebt oder unbelebt, ansieht und verurteilt. Daß damit noch nicht die Frage beantwortet ist, von welcher Position aus eigentlich der Menschenfeind den Menschen und sich selbst feind ist, versteht sich von selbst. Die radikale Weltverfluchung muß einen sehr festen Boden unter den Füßen haben, einen archimedischen Punkt, von dem aus sie den Rest des Universums verdammen kann. Der Zweite der Timonschen Monologe schließt sich, getrennt nur durch eine kurze Szene mit dem Haushofmeister und den Dienern Timons in dessen nun verlassenem Haus, beinahe unmittelbar an den ersten an. Die Szene spielt im Wald, und hier bereits wird der gerade erwähnte Selbsthaß ausgesprochen. Er steht natürlich in direktem Zusammenhang mit dem allgemeinen Destruktionswunsch, den Timon zu Beginn herausschleudert und der sich unmittelbar an die Sonne wendet: Sie, verehrt als Spenderin des Lebens, soll, den Fluch gleichsam exekutierend, alle Existenz zerstören, und zwar durch Infektion, Vergiftung der Luft unter dem Mond: below thy sister's orb! Infect the air! (IV,3) [deiner Schwester Luftbahn sei/ Vergiftet!] Und dies hat zu geschehen, weil alles Irdische unrettbar ungerecht, verschoben, schief und verwirrt ist: all's obliquy. Nur die Bosheit selbst ist gerade: There's nothing level in our cursed natures/ But direct villainy. Und weil so die Welt offensichtlich verkehrt ist, auf den Kopf gestellt und noch entschieden mehr aus den Fugen, als Hamlet sich das je hätte träumen lassen — deshalb kann der Einzelne sie nur verfluchen und sich von ihr abwenden, denn Besserung ist unmöglich, undenkbar. His semblable, yea himself, Timon disdains. (IV, 3) Darum soll untergehen, was so offensichtlich pervertiert und heillos vom 17

Pfad der Wahrheit und Tugend abgewichen ist: Destruction fang mankind! (IV,3) [Zernichtung dem Geschlecht der Menschen!] An dieser Stelle des Monologs läßt Shakespeare den Timon in der Erde zu graben beginnen: Earth, yield me roots. (IV,3) [Erde, gib Wurzeln mir!] Timon treibt die Distanz zu den Menschen bis zur logischen, den Selbsthaß miteinbeziehenden Konsequenz absoluter Regression, einer Regression, die ihn aus der Zivilisation zurücktreibt in die Existenzform archaischen Sammlertums. Damit ist das misanthropische Welt- und Menschenmodell in unüberbietbarer Radikalität in die Praxis umgesetzt, eine Praxis, die bei den meisten anderen Misanthropen-Texten aus den unterschiedlichsten Gründen gemieden oder abgeschwächt oder nur beredet, aber nicht wirklich angestrebt oder gar realisiert wird. Nur der Insel-Mensch in Arno Schmidts Pharos-Erzählung agiert oder re-agiert mit vergleichbarer Konsequenz. Und dies geschieht nicht zufälligerweise aus ähnlichen radikalen Prämissen heraus, die dann noch expliziter als bei Shakespeare die elementar religiöse Dimension einer solchen Entscheidung hervortreten lassen. In allen anderen der hier interpretierten Texte wird diese äußerste Konsequenz nur beredet, nie verwirklicht. Das hat natürlich auch künstlerische Gründe, Gründe der Darstellbarkeit, der Wahrscheinlichkeit. Freilich nicht nur. In der Scheu vor der Verbildlichung einer unwiderruflichen Destruktion seiner Selbst zeigt sich, manifestiert sich die Differenz des Autors zu dem Dargestellten; aus dieser Differenz heraus entsteht das Kunstwerk. Darum dürfte es kein Zufall sein, daß Shakespeare den Timon of Athens unvollendet liegenließ und ebenfalls kein Zufall, daß bei Arno Schmidt dann das Kunstwerk an die Stelle der Empirie tritt, an die Stelle der materiellen Schöpfung, die der Geistesmensch als seine destruktive Antinomie erkannt hat. Timon gräbt nach Wurzeln und findet in der Natur das, was in seinem vorherigen Leben das Konstituens, der Mittelpunkt gewesen war und was er nun mit gänzlich anderen Augen sieht und wertet: Gold. Die dann folgenden Verse sind von schneidender Schärfe und, auch losgelöst von Timons Situation, erkenntnisträchtiger Kraft. Sie versammeln in sich die Essenz von Timons Vorstellungen, die er jetzt, vollständig desillusioniert, in bittere Erkenntnis zu verwandeln in der Lage ist. Gold ist der große Agent der Lüge, ist gleichzeitig die verdinglichte Macht an sich und für alle. Gold kann alles ändern: Es läßt aus Gläubigen Ungläubige werden, aus Alten Junge, aus Häßlichen Schöne. Der Monolog häuft die Beispiele: This yellow slave/ Will knit and break religions, bless th' accurs'd,/ Make the hoar leprosy ador'd, place thieves,! 18

And give them title, knee, and approbation/ With senators on the bench. [...] Come, damn'd earth,! Thou common whore of mankind, that puts odds/ Among the rout of nations, (IV, 3) [Ja dieser rote Sklave löst und bindet Geweihte Bande; segnet den Verfluchten. Er macht den Aussatz lieblich, ehrt den Dieb/ und gibt ihm Rang, gebeugtes Knie und Einfluß/ Im Rat der Senatoren . . . [ . . . ] Verdammt Metall,/ Gemeine Hure du der Menschen, die/ Die Völker tört!] Es ist bald offensichtlich für jeden, der den Gedankengang Timons nachzuvollziehen sucht, daß die Schwierigkeiten des Verständnisses und damit die Schwierigkeiten, dem Fluch gerecht zu werden, hier erst beginnen. Denn zu sagen, das Gold habe »magische Kraft«, ist ja nichts als eine Metapher. Gold macht ja nicht wirklich aus häßlich schön, aus Schwarz Weiß, aus der betagten Witwe das begehrenswerte junge Mädchen, aus dem diebischen Schurken den Ehrenmann. Dies festzustellen mag trivial klingen; aber es ist in diesem Kontext unerläßlich, die eigentliche Funktion von Gold/Geld präziser zu designieren. Reichtum — und das sagt Timons schon zitierter Satz: »dieser rote Sklave löst und bindet geweihte Bande« — vernichtet die auf Erkenntnis, Sinnlichkeit, Unmittelbarkeit und Religiosität gegründete Welt direkter menschlicher Beziehungen und ersetzt sie durch eine allein auf materielle Tauschverhältnisse beruhende, die im Gold / Geld die Potentialität anbetet, die Möglichkeit, alles besitzen und die Möglichkeit, allem einen neuen Namen geben zu können. Mit anderen Worten: Gold/ Geld ist das satanische Abstraktum, das dem Besitzer die grenzenlose Fülle des Konkreten verspricht und so lange hält, wie alle nach Macht und Unterwerfung der anderen streben. Verloren geht dabei, so Timons zivilisationskritische Reflexion, die sinnliche Konkretheit des Lebens, die Achtung des Anderen aufgrund seiner unableitbaren Eigenschaften, die eben nicht in abstrakten Relationen ausdrückbar sind. Jeder Versuch, das zu tun, ersetzt die Wahrheit konstitutiver Einzigartigkeit des Menschen durch die in Zahlen und Ziffern angebbare Abstraktheit unmenschlicher Relationen. Gold/Geld macht Menschen untereinander und Menschen mit Dingen kompatibel, zerstört ihre einmalige Aura, zerstört alle tiefere Religiosität und unterwirft Mensch und Ding dem utilitaristischen Prinzip. Nicht was einer ist, bestimmt sein Verhältnis zu den anderen, sondern was er besitzt. Die magische Kraft des Goldes besteht ja eben darin, daß es realiter die Menschen gar nicht verändert, wohl aber ihre Wertbegriffe und Ideale. Alle immateriellen Werte und Tugenden werden mit größter Folgerichtigkeit abgelöst von der Idee des materiellen Reichtums als Telos und Maßstab des Lebens und von dem 19

Glauben an die gleichsam vernunftgesteuerte Macht des Geldes. Darin liegt die eigentliche Magie des G o l d e s / G e l d e s ; sie ist einerseits Ergebnis säkularer Entwicklung und andererseits ihr prägnantester Ausdruck. Indem alle Dinge und Relationen in Gold bestimmbar sind — zumindest tendenziell — verlieren sie ihren Eigen-Wert. Sie werden seltsam scheinhaft; gleichsam doppelbödig. U n d auf dem Grund findet der durchschauende Desillusionierte die Käuflichkeit von Mensch und Ding. Daher der Ekel und der Haß Timons. Der Monolog ist also die Klage über die Verdinglichung aller Lebensbereiche — eine zivilisatorische Entwicklung, an der der Timon der Anfangsszenen selbst kräftig partizipiert hat. Er spricht und urteilt also auch über seine eigene Vergangenheit, seine eigene Verblendung, seine eigene Gefangenschaft in der Welt des Scheins und des universalen Tausches. Von welcher Position aus spricht und urteilt er jedoch? Desillusion über einen vorgefundenen Weltzustand konstituiert noch keine Position, wenngleich Timon und die Mehrzahl der literarischen Misanthropen diesen naheliegenden Trugschluß zu bestätigen scheinen. Die Timonsche Klage scheint mir — und nicht nur in den Beispielen oder der Anrufung der Götter an einigen Stellen, was pure sinnentleerte Konvention sein könnte — zu verweisen auf eine mythische Vorzeit, die sich einer rückwärtsgewandten Utopie verdankt und nicht einer historisch präziser zu bestimmenden Epoche. Die Welt der universalen Harmonie und Ordnung, der Würde des Einzelnen und der religiösen Heiligung ist keine, von der man sagen könnte, sie habe je existiert. Timon formuliert ein Ideal und projiziert es in die Vergangenheit. So paradiesisch sei einmal das Leben gewesen, bis das verfluchte Gold alles zerstört hat; so paradiesisch könnte das Leben sein ohne Geld und Gold. Deutlich wird, daß die Struktur des Timonschen Denkens und damit, schon hier sei es gesagt, die aller radikalen Misanthropie, eine der Extreme ist, daß ihm eine denkerische und moralische Unbedingtheit zugrundeliegt, die die empirische Faktizität vor dem Tribunal einer idealischen Welt anklagt und verurteilt. Nicht wie es einmal war, interessiert Timon wirklich, sondern wie es sein müßte, um seinem Traum von Wahrheit und Gerechtigkeit zu entsprechen. Die Unerbittlichkeit des Menschenfeindes wird gespeist aus der Quelle eines moralischen Rigorismus, dem die realen Menschen und die realen Verhältnisse nie genügen können. D e m Geldmonolog schließen sich ausgedehnte Dialoge an: und zwar zuerst mit Alcibiades und den zwei Huren, dann mit dem Philosophen Apemantus, beide verbunden durch einen kurzen Monolog, darauf die 20

Auseinandersetzung mit mehreren Banditen und endlich mit dem treuen Haushofmeister Flavius. Auf die Gestalt des Alcibiades als Kontrastfigur zu Timon werde ich am Schluß des Kapitels ausführlicher eingehen. Hier genügt zu sagen, daß Alcibiades mit einem Heer auf dem Weg nach Athen ist, um ihm geschehenes Unrecht zu rächen. So kommt es zum Zusammentreffen beider in der Waldeinsamkeit, zu einer Art Dialog, besser einem Austausch von Standpunkten ohne dramatische Bewegung oder vorwärtstreibender Funktion. Ganz prinzipiell stellt sich für diesen Teil des Dramas (in der gängigen Untergliederung: der IV. Aufzug) die Frage nach der theatralischen Möglichkeit einer Darstellung misanthropischen Verhaltens. Konsequenter Menschenhaß und der daraus folgende Rückzug aus der Menschenwelt in die einzig noch mögliche Einsamkeit sind denkbar un-theatralisch. Wer mit den Menschen schlechterdings nichts mehr zu tun haben will, sie ihm nur noch ekelhaft und abstoßend erscheinen, der taugt nicht zum Bühnenhelden. Die Genese misanthropischen Verhaltens und die philosophischen Grundlagen lassen sich in Handlung und Dialog durchaus adäquat präsentieren und in Rede und Gegenrede vermitteln. Dann jedoch, wenn alles gesagt ist und die Konsequenzen gezogen werden müßten, entstehen in der Natur der Sache liegende schier unüberwindliche Probleme der theatralischen Darstellbarkeit. Der zentrale Grund für die fehlende Stringenz, Abgeschlossenheit, die vielen losen Enden, Inkonsequenzen und auch sprachlichen Mängel des Timon-Dramas ist also wohl nicht ein zufälliges Erlöschen des Interesses Shakespeares an Stoff oder Hauptfigur, sondern diese Mängel resultieren aus der Erkenntnis der grundsätzlichen Unmöglichkeit, einen so konsequenten Menschenfeind wie Timon zum Helden eines kohärenten Bühnengeschehens machen zu können. Nachdem Timon seine Monologe und Scheindialoge beendet und darin seine Weltanschauung samt ihren logischen Konsequenzen ausgesprochen hat, gibt es für ihn keinen Platz mehr auf der Bühne, keinen Platz mehr im theatralischen Geschehen. Wir erfahren zum Schluß von seinem Tod, was niemanden verwundert, aber auch davon, daß er begraben wurde und sich auf dem Grab ein Stein mit zwei bitteren Sätzen findet, was denn doch etwas verwunderlich anmutet. Die Begegnung mit Alcibiades dient, wie alle anderen Begegnungen Timons, im wesentlichen dazu, seine Position zu verdeutlichen und abzugrenzen gegenüber dem man of action, der ihm zugefügtes Unrecht nicht in eine misanthropische Weltsicht umsetzt, sondern aktiv bekämpft, und gegenüber dem Berufs-Misanthropen, dem Zyniker Apemantus, der von je her den Menschen nur das 21

Schlechteste zugetraut hat, den darum nichts erschüttert und der folglich ohne ernsthafte Probleme mit den anderen umgehen kann. Mit Alcibiades beginnt Timon eine, wie stets beim Misanthropen, hoch emotionale Auseinandersetzung. Was Timon von ihm verlangt, das einzige, was er will, ist die vollständige Zerstörung Athens und aller ihrer Bewohner, denn sie alle haben kein Recht mehr zu leben, und der Krieg, wie er von Alcibiades begonnen wurde, ist nur Teil des natürlichen Prozesses, in dem die Menschen sich zufügen, was sie verdienen. Und folgerichtig erwartet Timon von den beiden Huren, die mit Alcibiades ziehen, daß sie möglichst viele Athener anstecken (was eigentlich nur möglich ist, wenn Alcibiades sich etwas Zeit mit der vollständigen Rache nimmt) und so das Werk der Destruktion qualvoll und langwierig sei; man sieht, daß sich Timons Haß bei subtilen Nuancen oder Fragen der praktischen Durchführung gar nicht erst aufhält. Sein rasender Vernichtungswille addiert lustvoll alle nur irgend denkbaren Formen der Zerstörung und der Qual, häuft Unheilsfluch auf Unheilsfluch, daß es selbst den hartgesottenen Kriegern zuviel wird. Alcibiades versucht, aus dem bloßen Befremden ob der Timonschen Raserei herauszukommen und diese Tiraden zu erklären. Er sagt zu einer der beiden Damen: Pardon him, sweet Timandra, for his wits/ Are drown'd and lost in his calamities. (IV,3) [Verzeih ihm, hold Geschöpf, denn sein Verstand / Ertrank und ging in seinem Elend unter.] Er führt also Timons Handlungsmaximen und seine entfesselte Suada über Welt und Mensch auf seine schlechten Erfahrungen zurück, aber nicht direkt, etwa als mögliche oder angemessene Reaktion, sondern indirekt, als Ergebnis geistiger Verwirrung als Folge dieser Erlebnisse. Damit ist den Sätzen des Menschenfeindes die Schärfe und potentielle Erkenntnisweiterung von vornherein genommen, wird Timons Raserei als psychopathologisches Phänomen bestimmt und entwertet. Alcibiades verkörpert in dieser Auseinandersetzung die aufgeklärte Normalität, der jede Abweichung vom Mittelmaß des common sense suspekt und nur als Resultat seelischer Anomalie erklärbar ist. Nachdem Alcibiades und die Damen gegangen sind, spricht sich Timon noch einmal allein aus, während er nach Wurzeln gräbt. Er richtet seine Reflexion auf die Natur, auf ihre unermeßliche Zeugungs- und Zerstörungskraft und wünscht, daß von jetzt an, nachdem er eine Wurzel für sich gefunden hat, die Erde vertrocknen möge — offenbar eine Art Todeswunsch, ein Hinweis auf sein nahendes Ende, das von ihm ersehnte Verlassen der verfluchten Welt. 22

Zuvor tritt Apemantus auf, der Menschenfeind aus nüchtern-zynischer Reflexion, der folglich aus seiner Einstellung keine existentiellen Konsequenzen zieht, eher seine Misanthropie spielerisch gebraucht, sie spielerisch lebt — falls das nicht eine contradictio in adiecto ist — was ihn allerdings befähigt, über Timon einige durchaus zutreffende Gedanken und Urteile zu formulieren. Sie laufen darauf hinaus, daß Timons Misanthropie sich zufälligem Geschehen verdankt, nicht der zwingenden und objektiven Erkenntnis des Weltzustandes. A madman so long, now a fool. (IV,3) Damit meint Apemantus, daß sich bei Timon eigentlich nichts geändert, daß er stets exzentrisch zur Vernunft gestanden habe und folglich nur seine, des Apemantus, Menschenfeindschaft Anspruch auf Verbindlichkeit und Intersubjektivität besitze. Evident ist, daß mit Timon und Apemantus zwei kategorial unterschiedliche Misanthropien kontrastiert werden: die aus Reflexion geborene und die existentiell erlittene. Jene resultiert in einer Hinnahme des deplorablen Weltzustandes, diese muß aus ihren Erfahrungen Konsequenzen ziehen, weil sie Mensch und Kosmos als Emanation religiöser Prinzipien versteht, die mit furchtbarem Ernst eine Antwort, eine Entscheidung fordern. Dem Apemantus folgen mehrere Banditen, die das Gerücht vom Goldfund Timons gehört haben und ihn berauben wollen. Er kommt ihnen sozusagen zuvor und wirft ihnen das Gold vor die Füße, nicht ohne noch einmal den universalen Charakter der Welt als einer monströsen Räuberhöhle zu beschwören: I'll example you with thievery:/ The sun's a thief, and with his great attraction/ Robs the vast sea;/ The moon's an arrant thief/ And her pale fire she snatches from the sun;/ The sea's a thief, whose liquid surge resolves/ The moon into salt tears; the earth's a thief / That feeds and breeds by a composture stol'n/ From gen'ral excrement; each thing's a thief (IV,3) [Alles, hört, treibt Dieberei: Die Sonn ist Dieb, beraubt durch ziehnde Kraft/ Die weite See; ein Erzdieb ist der Mond,/ Da er wegschnappt sein blasses Licht der Sonne;/ Das Meer ist Dieb, des nasse Wogen auflöst/ Der Mond in salz'ge Tränen: Erd ist Dieb,/ Sie zehrt und zeugt aus Schlamm nur, weggestohlen/ Von allgemeinem Auswurf: Dieb ist alles.] Wichtiger als die Frage nach der Richtigkeit der Naturphilosophie Timons ist der unbedingte Wille des Menschenfeindes, die zerstörerische Kraft des Menschen einzubinden in oder zurückzuführen auf kosmische Gesetze, von denen sich der Mensch nicht befreien kann, selbst wenn er es wollte. Alles ist Vernichtung und Raub, das Gesetz des Lebens ein Ritual gegenseitigen Tötens: das ist Timons letztes Wort. Nicht ganz das allerletzte, 23

denn nach den reich beschenkten Banditen tritt noch einmal sein alter, treuer Haushofmeister Flavius auf, der ihn durch reichlich vergossene Tränen von seiner Anhänglichkeit tatsächlich überzeugt. Und Timon nimmt ihn als den einzigen Gerechten ausdrücklich von seinem Fluch aus: I do proclaim/ One honest man. Mistake me not, but one. No more, I pray — and he's a steward.! How fain would I have hated all mankind,/ And thou redeem'st thyself. But all, save thee,/ I fell with curses. (IV, 3) [Ich bekenn es,/ Ein Mensch ist redlich, hört mich recht, nur einer,/ Nicht mehr, versteht! — und der ist Hausverwalter. — / Wie gern möcht ich die ganze Menschheit hassen!/ Du kaufst dich los; außer dir, trifft alle/ Mein wiederholter Fluch.] Es fällt schwer, diese knappe Szene in Einklang zu bringen mit Timons sonstigem Verhalten, auch wenn er dem Flavius gleichsam befiehlt, ihm, Timon, in die Einsamkeit zu folgen und den Stab über die Menschen zu brechen. Wenn es eine Ausnahme vom Vernichtungsfluch gibt, geben kann, müßte es prinzipiell auch mehrere geben; dann wären Timons totale Urteile aber entscheidend relativiert, weil durch Erfahrung veränderbar. Die nur eingeschränkte Erfahrungsmöglichkeit ist aber gerade ein zentrales Konstituens konsequenter Misanthropie. Der eine redliche Flavius bedeutete, nähme Timon sein ideologisches Substrat hinreichend ernst, die Überwindung seiner monotonen Welt-Anschauung, könnte die Einsicht vorbereiten helfen, daß seine Erkenntnis des Universal-Bösen ohne ein vorgängig zu denkendes Kontrastbild gar nicht möglich wäre und er diesen Gegensatz nicht nur in sich finden kann, sondern dieser, in welcher Gestalt und zu welcher Zeit auch immer, in objektiver Form außerhalb seiner selbst existieren muß. Timons Begegnungen sind damit fast beendet; er trifft nur noch den Maler und den Dichter, zwei Athener, die den Timon aus Neugier sehen wollen, eine Sehenswürdigkeit, zu der man einen Ausflug macht. Timon wirft ihnen einiges Geld hin und treibt sie aus seiner Höhle. Ein letzter Versöhnungsversuch Athenischer Senatoren scheitert; aber es geht ihnen eigentlich bloß darum, sich seines Reichtums zu versichern, um das heranziehende Heer des Alcibiades zurückschlagen zu können. Timon verhöhnt sie und bietet ihnen einen Baum in der Nähe der Höhle an, an dem sie sich aufhängen könnten, wenn sie der Wut des Alcibiades entgehen möchten. Dann sagt er noch: Lips, let four words go by and language end:/ 'What is amiss, plague and infection mend!/ Graves only be men's works and death their gain;/ Sun, hide thy beams, Timon hath done his reign. (V,l) [Laßt, Lippen, bittre Wort, und ende, Laut;/ Des 24

Schlimmen Beßrung sei der Pest vertraut!/ Kein Menschenwerk, als Gräber; Tod ihr Lohn!/ Birg, Sonne, dich! Vollbracht hat Timon schon!] Mit diesen biblischen Worten verschwindet Timon. Bevor wir uns ihm wieder zuwenden wollen zu einer zusammenfassenden und abschließenden Bestimmung seiner Misanthropie, sei ein kleiner Umweg gestattet. Der Timon-Handlung parallelisiert ist eine mit und um den athenischen Politiker und Feldherrn Alcibiades. Was hat es damit auf sich, warum will sich Alcibiades an seinen Mitbürgern rächen, welche Rolle spielt er eigentlich in der Geschichte des Timon, in welcher Beziehung steht er zum Menschenfeind? Mit dem historischen Alcibiades hat er nicht viel gemeinsam, mit diesem schillernden, höchst zwielichtig-zweideutigen Charakter, dessen verworren-widersprüchliches Leben zu vielen Deutungen Anlaß gegeben hat. Man muß davon nun freilich wenig oder nichts wissen, um die Gestalt gleichen Namens bei Shakespeare adäquat verstehen zu können. Von aller prinzipiellen Differenz zwischen einer historischen Figur und einer fiktiven Theater-Person ganz abgesehen: Alcibiades erscheint im Text als Kontrastperson zu Timon, existiert auch ästhetisch bloß in bezug auf Timon und dessen radikale Weltsicht. Er konstituiert zwar einen zweiten Handlungsstrang, aber einen, der direkt oder indirekt ständig mit dem des Timon in Beziehung steht. Alcibiades wird ganz unvermittelt in 111,5 eingeführt; die Szene spielt im Haus des Senats von Athen; er tritt auf und bittet gleich im ersten Satz um Mitleid: I am an humble suitor to your virtues;/ For pity is the virtue of the law (111,5) [Vor eure Tugend tret ich als ein Flehender;/ Denn Mitleid ist die Tugend des Gesetzes.] Aber er bittet nicht für sich, sondern für einen Ungenannten, von dem wir auch später weder den Namen noch die genaueren Umstände der Tat — es handelt sich wohl um einen Mord oder Totschlag — erfahren. Das ist auch unwichtig, denn wir sollen der Szene nur zweierlei entnehmen: eine Andeutung vom Charakter des Alcibiades als eines ebenso treuen und aufrechten wie hitzigen und entschlußfreudigen Mannes und einen Grund dafür, warum Alcibiades aus seiner Vaterstadt verbannt wird und mit einem Heer diese Schmach blutig rächen will. Der Grund für die Verbannung erscheint in dieser Szene allerdings nicht ausreichend bestimmt, ergibt sich nach einem heftigen Wortwechsel mit den Senatoren, die des Alcibiades Verteidigung des ungenannten Mannes als persönlichen Angriff richtig verstehen oder bewußt mißverstehen, das ist nicht zu entscheiden. In jedem 25

Fall wirkt das Urteil über Alcibiades unangemessen, nicht bloß ungerecht. Gezeigt werden soll: Ein bei aller Cholerik, allem aggressivem Zorn doch ehrenhafter Mann erleidet eine offensichtliche Ungerechtigkeit in seiner und durch seine Vaterstadt. Ob ihm das lediglich ein Vorwand ist, schon lange gehegte Rachepläne in die Tat umzusetzen oder ob er erst jetzt auf die Idee kommt, Athen zu bestrafen — diese Frage tritt zurück vor dem auch für die Dramaturgie des Stückes entscheidenden Aspekt der Tat. Alcibiades ist der man of action, er handelt, er bekämpft die See von Plagen, anstatt, wie Timon, ohne Widerstand zu enden. Die doppelte Parallelität und der Kontrast zum Titelhelden Timon wird bereits hier evident: Beiden geschieht vermeintlich oder tatsächlich Unrecht, beide erfahren vermeintlich oder tatsächlich Willkür, Undank, die Bosheit und den Neid der Menschen. Aber während der eine voller Erbitterung aus dem singulären Ereignis die radikalsten Konsequenzen, die die Singularität des Geschehens zum Modell grundsätzlichen menschlichen (Fehl-)Verhaltens stilisiert, zieht, bleibt der andere innerhalb dieser Welt, versucht eine wenn auch gewaltsame und disproportionale Korrektur des Unrechts. Es ist die Differenz von weltimmanentem Handeln und ideologischem Raisonnement, dem die Übel des Daseins inkorrigibel erscheinen und wo der Einzelne nur durch konsequenten Rückzug sich dem Bösen entziehen kann. Timon begibt sich folgerichtig in die Einöde — die Bankettszene folgt, um die Parallelität auch ganz deutlich zu machen, unmittelbar auf die Verbannung und den Racheschwur des Alcibiades. Und in dieser Einöde trifft er, wie schon dargelegt, als ersten Menschen auf eben diesen Alcibiades mit seinem Heer. Nun stachelt er ihn an, Greuel über Greuel zu begehen; während Timon jedoch in diesen haßerfüllten Monologen der Menschheit einen möglichst langsamen und qualvollen Untergang wünscht, bleibt der man of action eher schweigsam, wie es sich für einen Tatmenschen gehört, bekundet Timon seinen Respekt und betrachtet ihn als einen seelisch Kranken, dem das Elend den Geist verwirrt hat. Dieses kurze Zusammentreffen akzentuiert nochmals den fundamental anderen Weltzugang der beiden: Hier die pragmatische Nüchternheit, ganz auf ein Ziel gerichtet, voll praktischen Verstandes und funktionaler Intelligenz, dort die unerbittliche Exekution einer zwar erfahrungsgemäß abgesicherten, aber doch in ihrer Absolutheit nur apriorisch zu bezeichnenden Idee. Alcibiades zieht weiter und belagert Athen. Zwei Senatoren versuchen vergebens, sich der Hilfe Timons zu versichern und werden unter wüsten Flüchen fortgeschickt. Während die Timon-Handlung nach 26

dieser schon erwähnten Szene eigentlich zu Ende ist, wir dann nur noch seinen Grabspruch in doppelter Ausführung kennenlernen, führt nicht zufälligerweise Alcibiades das Drama zu seinem Abschluß. Die letzte Szene zeigt ihn und sein Heer vor den Mauern Athens; den Senatoren hält Alcibiades eine kurze und präzise Ansprache: Die Willkür wird enden, die Schuldigen werden bestraft. Die Senatoren geloben Besserung, teilen mit, daß diejenigen, die Alcibiades so ungerecht behandelt haben, inzwischen gestorben sind und ergeben sich. Sie kapitulieren und bitten um Milde: Crimes, like lands,/ Are not inherited.

(V,4) [Sünde erbt

sich nicht wie Land und Gut!] Alcibiades akzeptiert die Kapitulation und die Bitte um Milde. Er verknüpft nun auch expressis verbis sein Schicksal mit dem Timons: Nur die sollen bestraft werden, und zwar von den Athenern selbst, die seine Feinde und die Timons waren. Dann zieht er in die Stadt. Ein Soldat bringt den Grabspruch Timons — offenbar handelt es sich dabei um zwei Entwürfe, von denen Shakespeare in einem letzten Arbeitsgang einen hätte streichen müssen, sie widersprechen einander nämlich nicht unerheblich: Here lies a wretched ched soul bereft:/

corpse, of

wret-

Seek not my name. A plague consume you, wicked

cai-

tiffs left! (V,4) [Hier liegt der trautige Leib, dem der traurige Geist entschwebt./ Forscht meinen Namen nicht: Fluch allem, was da lebt!] So der erste. Here lie I, Timon, who, alive, all living men did hate. / Pass by and curse thy fill, but pass and stay not here thy gait. (V,4) [Hier lieg ich, Timon: da ich lebt', haßt' ich, was Leben hegt;/ Geh', fluch von Herzen, aber mach', daß fort dein Fuß dich trägt!] Aber auch diese Sätze sind nicht das letzte Wort des Dramas, so bewegt Alcibiades sie vorträgt. Er formuliert die Schlußworte, und sie verkünden nicht Menschenhaß und solipsistische Abgeschiedenheit, sondern Versöhnung und das Versprechen eines gerechten Lebens in der Gemeinschaft: Bring me into your city,/ And I will use the olive with my sword,/

Make war breed

make peace stint war, make each/ Prescribe to other, as each other's

peace, leech.

(V,4) [Führt mich in eure Stadt, und mit dem Schwert/ Bring ich den Ölzweig: Krieg erzeuge Frieden,/ Und Frieden hemme Krieg: jeder erteile/ Dem andern Rat, daß eins das andre heile!] So endet die Tragödie von Timon, dem Misanthropen. Ahnlich wie Fortinbras in Hamlet

restituiert Alcibiades die aus den

Fugen geratene Ordnung, deren Trümmer Timon unermüdlich beschrieben, beschimpft und verflucht hatte. Mit Alcibiades zeichnet Shakespeare einen Menschen, der den Zustand der Welt nicht zur Basis eines universellen Modells macht, sondern als Aufforderung zur eingreifenden 27

Veränderung versteht. Dem Timon waren Übel und Schuld Zeichen eines absolut Bösen, dem der Einzelne unterworfen ist und an dem er partizipiert. Alcibiades betrachtet das ihm und anderen widerfahrene Unrecht nicht als Teil eines globalen Verhängnisses, sondern als isolierbare und korrigierbare Abweichung von einer zivilisatorischen Norm, die als pragmatische Handlungsanleitung und nicht als quasi-religiöse Idee das Leben strukturiert. Der man of action versenkt sich nicht in die Abgründe metaphysischer Spekulationen, sondern zerhaut den Gordischen Knoten, den Timon mit heilig-unheiligem Zorn und zielloser Wut so lange in geheimer Faszination angestarrt hatte. Es ist sehr eindrucksvoll zu beobachten, wie jeder der beiden im Drama sein Maß an Recht erhält, Timon durch die großen wortmächtigen Monologe, die Metaphorik des Schmerzes und der existentiellen Verzweiflung, Alcibiades durch die geglückte partielle Veränderung der Welt, was implizit der Timonschen Konstruktion eines unaufhebbaren Weltverhängnisses widerspricht. Timon erscheint zwar als der Maßlose, aber diese Maßlosigkeit ist seltsam produktiv, aus ihr, aus Haß und Verachtung, entsteht die fulminante poetische Rede, entsteht das poetische Wort. Bevor ich diesen zentralen Gedanken weiterverfolge, müssen einige Überlegungen der zweiten Korrektiv- oder Kontrastfigur gewidmet sein, dem zynischen Philosophen Apemantus. Der wird gleich zu Beginn des Stückes einmal eher beiläufig erwähnt, in dem Gespräch zwischen Maler und Dichter (1,1). Im Zusammenhang mit Timons Freigiebigkeit, besser: Verschwendung, wird auch ein Apemantus genannt, that few things loves better/ Than to abhor himself — even he drops down/ The knee before him, and returns in peace! Most rich in Timon's nod. (1,1) [er, der nichts so liebt,/ Als er sich selber haßt: auch er beugt ihm/ Sein Knie, und kehrt in Frieden heim, bereichert/ Vom Nicken Timons.] Der Sinn der Stelle ist nicht ganz klar, vor allem paßt der friedfertige und einzig durch ein Nicken Timons (innerlich?) bereicherte Apemantus nicht recht zu der Gestalt, die wir dann später kennenlernen. In einer anspielungsreichen stichomythischen Rede und Gegenrede treffen da Timon und Apemantus aufeinander, nehmen gleichsam Maß, wobei jetzt Timon noch der Gutgläubige und grenzenlos Freundliche ist, Apemantus aber bereits als fertiger Misanthrop die Szene betritt. Er ist vom Beginn des Stückes bis zum Ende der selbstbewußte und leicht selbstgefällige zynische Philosoph, ein entfernter Verwandter zudem der Shakespeareschen Narren, die in Wortspielen und Sarkasmen die Welt auf den Kopf stellen, damit sie so deutlicher ihr wahres Gesicht zeige. Die bitteren Sätze des Ape28

mantus treffen Timons Lage sehr genau, werden aber von dem als leeres Gerede und neiderfüllte Ignoranz abgetan. Apemantus durchschaut die Menschen, er erwartet von ihnen nichts oder nur Böses und wird folglich nie ge- oder enttäuscht. Seine zynische Welt- und Menschensicht ist damit jedoch, ähnlich der Timons nach seiner Wandlung, eigentümlich statisch: Alles und jedes verfällt dem Verdikt der Dummheit, Bosheit, erscheint als abgründige Gemeinheit. Aber es bleibt beim verbalen Gericht über die Welt, keine existentielle Entscheidung folgt. Eben daraus, aus dem Einsatz seiner Existenz, bezieht Timons Radikalität der universalen Verurteilungen jedoch die beklemmende Authentizität und Würde, wie immer man inhaltlich dazu stehen mag. Apemantus dagegen durchschaut alles und tut nichts; er ist der klassische Raisonneur, dessen Raisonnements freilich gespeist sind von nur wenigen Einsichten, die er in gefälligen Abwandlungen immer wieder vorträgt. So wird er, ähnlich und doch ganz anders als Alcibiades, zur Parallel- und Kontrastfigur des Titelhelden. Er verkörpert gleichsam die intellektuelle Misanthropie, die konsequenzlose Einsicht in die Nichtswürdigkeit von Mensch und Welt. Damit bleibt er um eine entscheidende Dimension gegenüber der Timonschen wie jeder anderen existentiellen Misanthropie reduziert, die zumindest die eigene Person unwiderruflich aus dem Verhängnis zu befreien anstrebt oder dies schon geleistet zu haben glaubt. Die Differenzen zwischen dem Timon des Beginns und Apemantus sind ersichtlich gravierend, die zwischen dem radikal misanthropischen Timon des zweiten Teils und dem unveränderten Apemantus in der philosophischen Apperzeption der Welt eher gering, was die unterschiedlichen persönlichen Konsequenzen dann um so schärfer hervortreten läßt. In IV,3 trifft Apemantus den Timon im Wald; offenbar schließt sich der Philosoph den neugierigen Athenern beim Besichtigen des Timon an. Er begreift Timon als Kopie seines eigenen Wesens: I was directed hither. Men report/ Thou dost affect my manners, and dost use them. (IV,3) [Hieher ward ich gewiesen; man berichtet,/ Daß du mein Leben nachahmst und mein Tun.] Das ist allerdings ein MißVerständnis, auf das Timon, dem der Sinn nicht nach spitzfindigen Diskursen steht, nicht weiter eingeht, sondern dem ungebetenen Gast die Pest an den Hals wünscht. Apemantus beginnt, den ungeduldigen Einsiedler zu belehren: Dessen Misanthropie sei nur eine Art Schwermut, die dem raschen Glückswechsel entsprungen sei, die melancholische Grille eines von jeher irrationalen und wenig erkenntnisfähigen Menschen: A madman so 29

long, now a fool. Beide relativieren die menschenfeindliche Position des anderen, versuchen sie abzuwerten. Apemantus insistiert darauf, daß Timon nur durch sein finanzielles Unglück so geworden sei, ein Schwermütiger, geschlagen vom Schicksal, und daß die freiwillige, gleichsam endogene Misanthropie, also seine eigene, die einzig würdige und philosophisch vertretbare sei. Dagegen hält Timon an seiner Überlegenheit in diesem seltsamen Streit fest: Wer schon immer arm, elend, verachtet, ein gesellschaftlicher Außenseiter war (also Apemantus), kann gar nicht anders als die Menschen verabscheuen. Darin liegt dann kein Verdienst. Er, Timon, trage jedoch schwer an seinem Los und seiner radikalen, kompromißlosen Haltung als Folge einschneidender existentieller Erfahrungen, eines betäubenden Falls aus großer Höhe. Timon weist mit Recht darauf hin, daß Apemantus die Menschen gar nicht haßt und sie auch von seinen Voraussetzungen und seinem Lebensweg her schwerlich hassen kann: Thy nature did commence

in sufferance,

timet Hath

made

thee hard in't. Why shouldst thou hate men f (IV,3) [Dein Leben fing mit Leiden an, gehärtet/ Hat dich die Zeit. Wie solltest du Menschen hassen?] Ganz gleich, ob man diese Folgerung Timons für psychologisch stringent hält oder nicht (also: von Beginn an schweres Leid gleich Verachtung

der Menschen,

Fall aus materieller und sozialer Höhe gleich

Haß), diese Idee berührt den zentralen Unterschied zwischen den beiden Misanthropen: Hier die existentielle Misanthropie, der Haß gegen die anderen und gegen sich selbst; dort der intellektuelle Zynismus, die Verachtung von allem und jedem, verbunden mit einer gehörigen Portion Selbstgerechtigkeit. Timons Weg war ein radikales Ausschreiten extremer Möglichkeiten, der vollständige Gegensatz zu aller Weltklugheit und leichter Nachvollziehbarkeit. Apemantus sagt daher ganz treffend zu ihm: The middle of humanity thou never knewest, but the

extremity

of both ends. (IV, 3) [Den Mittelweg der Menschen kanntest du nie, sondern nur die beiden äußersten Enden.] Darin liegt die spezifische Differenz der misanthropischen Existenzform zu der aller anderen Menschen. Es ist nicht eigentlich die, möglicherweise philosophisch fundierte, Verachtung der Welt, als vielmehr ein elementarer Haß darauf, daß sie nicht so ist wie das apriorische Weltmodell des Menschenfeindes fordert, daß sie sein müßte. Da sich die Realität diesem quasi-religiösen, dichotomischen Modell beharrlich verweigert, wird sie als satanische Verirrung verworfen. Und dieser Haß treibt dann den Timon in den Tod, wobei unklar bleibt, woran er stirbt, vielleicht durch eigene Hand. Jedenfalls besiegelt der Tod die Unwiderruflichkeit und Authentizität seiner Ent30

Scheidung. Apemantus verschwindet nach diesem Streitgespräch aus dem Stück, er hat dem Timon und uns nichts mehr zu sagen. Shakespeares Timon ist die erste Misanthropen-Darstellung der europäischen Literatur von nachwirkender und bis heute anhaltender Bedeutung. In diesem Drama finden sich bereits zahlreiche charakteristische Strukturen und ideelle Konstellationen, die alle Darstellungen des Menschenfeindes von da ab mehr oder minder ausschließlich bestimmen. Von hier aus läßt sich auch retrospektiv die strukturelle Ähnlichkeit von Künstler und Misanthrop in ihren Anfängen definieren; sie konvergiert zwar erst im 20. Jahrhundert in einer Künstler-Imago, zeigt aber schon im Shakespeareschen Helden die ersten rekonstruierbaren Ansätze. Von konstitutiver Bedeutung ist die Zweiteiligkeit des Stückes. So großzügig-verschwenderisch, so menschenfreundlich und selbstlos der Timon des ersten Teils ist, so radikal menschenfeindlich, voller Haß und maßloser Verleumdung ist der des zweiten Teils. Man könnte sagen, daß beide Timons wenig wahrscheinlich im Sinne eines psychologischen Realismus sind, aber das ist im Kontext dieser Überlegungen bestenfalls sekundär. Entscheidender ist dieser unübersehbare Dualismus als Charakteristikum Timons, ist die Tatsache, daß er nur in alternativlosen Kategorien denken und handeln kann. Die Fülle und Vielfalt der Welt und der menschlichen Handlungsweisen wird strikt gefiltert, bis sie zur Bestätigung seines elementaren Modells taugen. Das mag in diesem konkreten Fall besonders unmenschlich anmuten — also im zweiten Teil, wo der Text von Tiermetaphern, Anspielungen auf das Tierreich, tierische Existenzweisen nicht unerheblich geprägt ist —, aber auch der Timon des Beginns ist insofern unmenschlich, als ihm ganz einfache Unterscheidungskriterien und Uberlebensstrategien abgehen und er in wahrhaft und wahnhaft infantiler Naivität dem Schein der menschlichen Heuchelei Glauben schenkt. Das dualistische Weltbild, über das er nie hinauskommt, ist aber gleichzeitig — gleichzeitig zur rationalen, sach- und problemorientierten Betrachtungsweise — auch Ausdruck einer prinzipiell anderen Welt-Sicht, einer, die man religiös oder quasi-religiös nennen kann, wobei hier unter religiös nicht die Inhalte oder Erscheinungsformen der dogmatischen Lehre einer Religion oder Kirche verstanden wird, sondern die gleichsam allen Inhalten vorgängige Strukturierung der Welt, die apriorische Annahme, daß es so etwas wie ein Absolutes, Heiliges, ein Mysterium gibt, dem ein Relatives, Profanes, Funktionales entgegensteht. Eine dualistische Weltsicht kann gar nicht anders, als die 31

Vielfalt und die graduellen Nuancen zu leugnen oder, genauer gesagt, sie aufzulösen in eine Dichotomie von Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Heilig und Profan — wobei die Auflösung identisch ist mit der schlimmsten Erstarrung. So betrachtet, ist die Figur des Shakespeareschen Timon eine Studie des Denkens und Handelns in absoluten Kategorien. Und stets ist solches Denken und Handeln eines der Sehnsucht nach dem Unbedingten. Einsichtig dürfte sein, daß naturgemäß enttäuscht wird, wer dieses Unbedingte bei den Menschen und in den Menschen sucht, wer ihre Endlichkeit und Begrenztheit ignoriert oder gerade dies zu ihrem unverzeihlichen Sündenfall erklärt (— wie von Hutten in Schillers Fragment es tut). Alle literarischen Misanthropen sind nun aber, auf freilich differente Art und Weise, beseelt von der Sehnsucht nach dem Unbedingten im Menschen, das sie dort nicht finden. Und anstatt daraus die Folgerung zu ziehen, daß es dieses Unbedingte, Absolute nicht gibt, verdammen sie den einzelnen Menschen oder das Menschengeschlecht in seiner ausnahmslosen Gesamtheit. Im Menschenbild des Menschenfeindes gibt es keinen Kompromiß. Wenn das idealisch-verstiegene Bild, das sich Timon von seinen Mitmenschen gemacht hat, ja offenbar von Anfang an besitzt, erweislich sich als falsch enthüllt, so wird nicht das alte Bild korrigiert, sondern der Mensch verdammt. So ähnelt die Szene des Umschwungs auch nicht ganz zufälligerweise den Bekehrungsgeschichten vieler Heiliger — wie da durch ein Ereignis, innerhalb weniger Augenblicke, aus dem Saulus ein Paulus wird, aus dem Sünder, dem der Welt Verfallenen, ein auf die wichtigen heiligen Dinge ausgerichteter Büßer und Gläubiger. Von daher gewinnt Apemantus, die zweite Misanthropengestalt im Text, eine neue Relevanz: Er ist eben wirklich ein Philosoph, ein zynischer Relativist, kein Menschenfeind. Ihm ist alles gleichgültig und gleich gültig. Dem wahren Menschenfeind ist aber alles, zumindest potentiell, unendlich wichtig, denn aus allem spricht ein negativer Sinn, spricht die Richtigkeit seiner Idee von der Welt als einer radikal verderbten Schöpfung. In dieser Sehnsucht nach dem Unbedingten sehe ich das zentrale Charakteristikum des modernen literarischen Misanthropen. Daß dies sich in höchst unterschiedlichen Formen ausdrücken kann, ja muß, bedarf keiner längeren Erklärung. Bei Shakespeare wird die Schwärze der Timonschen Welt-Sicht und Welt-Beschreibung durch nichts aufgehellt. Für Timon gibt es weder ein Korrektiv noch irgendeine Form des Trostes. Innerhalb seiner, der Welt ist weder Hoffnung noch Ausweg. Gleichwohl sagt einfaches Nachdenken, daß die Bestimmung von 32

Schwarz nur möglich ist durch Kontrast, des Bösen nur durch etwas, was nicht böse ist, der Zerstörung nur durch eine vorgängig zu bestimmende Schöpfung. Das wird explizit thematisiert bei Schiller und Arno Schmidt. Noch nicht bei Moliere, dessen Bühnenstück in mancher Hinsicht ganz andere Akzente setzt als das Shakespearesche, dessen Protagonist nicht unmittelbar ein Abkömmling Timons ist.

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II. Moliere: Le

Misanthrope

Molieres Menschenfeind, Alceste, ist, anders als Timon, kein bis zum äußersten gehender Radikaler und Exzentriker, sondern ein junger Mann, der sich mit großem Ernst die einigermaßen zeitlose Frage stellt, ob man der Gesellschaft alles geben müsse, was sie verlangt, oder ob es nicht wichtiger und im Interesse der menschlichen Würde notwendiger sei, in unbedingter Aufrichtigkeit die Wahrheit des Herzens und des Verstandes stets offen auszusprechen. Es ist der Konflikt zwischen dem Streben nach individueller Authentizität und den Konventionen zivilisierten Umgangs. In mancherlei Hinsicht ist das Molieresche Stück, das etwa 60 Jahre nach dem Timon of Athens entstanden ist und am 4. 6. 1666 in Paris uraufgeführt wurde, eine, natürlich nicht bewußt angelegte, Kontrafaktur zu Shakespeares Text: Es ist klassizistisch-regelmäßig gebaut, spielt in einer genau bestimmbaren Epoche, erstreckt sich mit der Handlungszeit über wenige Tage, ist sprachlich präzise durchgearbeitet, in Vorausdeutungen, Anspielungen und Rückverweisen exakt aufeinander bezogen, ganz allgemein ein Stück raschen Tempos, stimmiger Motivation und vollendeter Balance, was für die Personenkonstellation ebenso gilt wie für den Aufbau und die handlungskonstitutiven Probleme. Die Zeit ist die Gegenwart, also die 60er Jahre des 17. Jahrhunderts, der Ort Paris, die großbürgerlich-höfische Gesellschaft zur Zeit Ludwigs XIV., des sogenannten Sonnenkönigs. Das Stück spielt aber nicht am Hof, sondern im Haus der jungen Witwe Celimene. Die Protagonisten sind ausgesprochen jung: Celimene zum Beispiel ist zwanzig. Und auch schon Witwe. Da letzteres keine inhaltliche Relevanz für die Handlung besitzt, dürfte der Grund dafür der sein, daß an sich eine Zwanzigjährige, auch eine wohlhabende, kein eigenes Haus, keinen eigenen Salon, mithin kein eigenes Leben führen darf; das fast noch jugendliche Alter der Celimene soll die emotionale Verve erklären, mit der sie agiert (was auch mutatis mutandis für Alceste seine Richtigkeit hat), und es soll verhindern, daß wir in den Handelnden etwa gesetztere Herrschaften und in 34

Alceste einen müden alten Mann erblicken, dem die gängigen Verkehrsformen der Menschen nach vielen schlechten Erfahrungen verhaßt geworden sind. Wenn sich der Vorhang zum ersten Akt öffnet, erblicken wir zwei junge Männer in angeregtem, ja eher aufgeregtem Diskurs. Der eine ist der Menschenfeind Alceste, der andere sein Freund Philinte. Sie artikulieren in ihrem Dialog die zentralen Themen und Konflikte des Stückes, und der intellektuell wie funktional bedeutendste ist der Konflikt zwischen Aufrichtigkeit und einer den herrschenden Sitten angemessenen Höflichkeit. Alceste beginnt seine Tirade ganz konkret, nämlich mit einem Vorwurf an Philinte, einen ihm fast unbekannten Menschen mit überschwenglicher Liebenswürdigkeit begrüßt und damit gegen das Gebot der unbedingten Aufrichtigkeit verstoßen zu haben. Alceste sagt: Je vous vois accabler un homme de caresses,/ Et temoigner pour lui les dernieres tendresses;/ De protestations, d'offres et de sermentsj Vous chargez la fureur de vos embrassementsj Et quand je vous demande apres quel est cet homme,/ A peine pouvez-vous dire comme il se nomme;/ Votre Chaleur pour lui tombe en vous separantj Et vous me le traitez, a moi, d'indifferent (I,l) 1 [Sie überhäufen einen Herrn mit Schmeichelein,/ Liebkosen ihn mit einem Schwall von Zärtlichkeit;/ Mit Angeboten, Schwüren und Beteuerungen/ Verstärken Sie noch der Umarmung Uberschwang./ Und frag' ich nachher, wer der Mann gewesen ist,/ Sind Sie kaum fähig, mir zu sagen, wie er heißt./ Sie trennen sich — und schon erlischt auch Ihre Glut,/ Dann sprechen Sie von ihm, als ging' er Sie nichts an.] Im Grunde also eine alltägliche Szene, die sich mit zeitund milieubedingten Änderungen und Varianten über die Jahrhunderte so abgespielt hat und immer noch abspielt.2 Alceste protestiert gegen dieses Verhalten des Freundes, und er protestiert dagegen prinzipiell und aus einer fundamental entgegengesetzten Position heraus. Er will und sagt es schon gleich zu Beginn, daß jedermann stets vollkommen aufrichtig sei und nur das spreche, was ihm sozusagen direkt aus dem Herzen komme, ohne, wie hinzuzufügen wäre, 1

2

Der französische Text folgt der zweibändigen Moliere-Ausgabe in der Edition Garnier, hrsg. von Robert Jouanny, Paris 1962, Band 1, S. 817—877; die deutsche Ubersetzung ist die v o n Gustav Fabricius. Darauf beruht die Neufassung Enzensbergers; derer es aber eigentlich nicht bedarf, um diese elementare Struktur zu begreifen. Hans Magnus Enzensberger: Der Menschenfeind. Nach dem Französischen des Moliere. Frankfurt am Main 1979.

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Vermittlung und Verfälschung durch den Kopf, die individuellen Interessen und die gesellschaftliche Konvention. Die ist ihm besonders verhaßt, denn sie erwartet, nein: verlangt, den Ausgleich der untereinander inkompatiblen Ansprüche der autonomen Individuen. Diesem Ausgleich aus Einsicht in die Notwendigkeit — weil nur so Zusammenleben überhaupt möglich ist, will es etwas anderes sein als der ununterbrochene Kampf der eigenen Meinungen und Wahrheiten gegen alle anderen — verweigert sich Alceste durchgängig und mit wütender Entschiedenheit. Et je tie bais rien tant que les contorsions/ De tous ces grands faiseurs de protestations,/ Ces affables donneurs d'embrassades frivoles,/ Ces obligeants diseurs d'inutiles paroles,/ Qui de civilites avec tous font combat,/ Et traitent du meme air l'honnete homme et le fat. (1,1) [Nichts ist mir mehr verhaßt, als die Verrenkungen/ Der schalen Komplimentendrechsler anzuschaun,/ Des Packs, das mit leichtfertigen Umarmungen/ Und seichtestem Geschwätz uns zu beglücken wähnt, / Mit einem Schock von Höflichkeiten um sich wirft,/ Ob's einen Ehrenmann, ob's einen Tölpel trifft.] Gegen die gesellschaftliche Konvention vertritt er emphatisch die Wahrheit des Herzens, gegen die zivilisatorische Zähmung der Triebe und Instinkte setzt er die ungezügelte Gewalt der Zu- und Abneigung, die spontan und ohne Rücksicht auf die Gefühle der anderen herausgeschleudert werden soll. Die Lüge, so Alcestes auf den Begriff gebrachte Weltanschauung, ist der entscheidende Beweis für den grundsätzlich verderbten Zustand der Welt und des Menschengeschlechts. Je unvermittelter und offener der eine über den anderen spricht, desto besser: Es würde so deutlich, wie nichtswürdig und erbärmlich alle Menschen sind, und es würden die wenigen Wahrhaftigen, die Menschen lauteren Herzens, einander erkennen und Freunde sein. Schon hier sind die Parallelen und Unterschiede zu Timon evident, vor allem die konstitutive Differenz von Aufrichtigkeit und gesellschaftlicher Konvention bei Moliere, von der Wahrheit des Herzens und der Klugheit alltäglichen Umgangs; Differenzen, die bei Timon schlechterdings nicht existieren angesichts der totalen Depravation des Kosmos. Da ist Alceste viel weniger radikal. Aber doch radikal genug, um den Freund Philinte zum ebenso besorgten wie naheliegenden Widerspruch zu drängen: Mais quand on est du monde, il faut bien que l'on rende/ Quelques dehors civils que l'usage demande. (1,1) [Wer unter Menschen lebt, muß doch im Umgang sich/ Den Bräuchen fügen, die der gute Ton verlangt.] Solche Sätze und Ansichten sind charakteristisch für ihn, machen ihn zum Vertreter des common sense, zum Sprachrohr gelassener 36

Vernünftigkeit. Als solcher verweist er auf das Nächstliegende: die Lächerlichkeit, der sich der unbedingte Wahrheitsfanatiker aussetzt. Wichtiger als sie ist freilich etwas anderes: die prinzipielle Sinnlosigkeit der Position des Alceste. Denn was kann sie bewirken, was verändern? Die Frage ist rhetorisch, wird aber so von dem Misanthropen nicht akzeptiert. Philinte gibt nämlich zu bedenken: Le monde par vos soins ne se changera pas;/ Et puisque la franchise a pour vous tant d'appas,/ Je vous dirai tout franc que cette maladie,/ Partout oü vous allez, donne la comedie [ . . . ] (1,1) [Um Ihretwillen ändert sich die Menschheit nicht./ Doch weil für Sie der Freimut so viel Reize hat,/ So muß ich Ihnen offen sagen: Diese Sucht/ Wirkt, wo Sie auch erscheinen, als Komödienspiel [ . . . ] ] Gerade dieser Logik kann und will Alceste sich nicht unterwerfen, bindet sie doch Wahrheit und Aufrichtigkeit an einen imaginären Erfolg, macht sie also zu pragmatischen Kategorien, die, wie Alceste es sieht, damit die Verderbtheit der Menschen bloß verdoppeln. Stattdessen verlangt sein moralischer Rigorismus von Wahrheit und Aufrichtigkeit, daß sie den, der ihnen gemäß lebt, auszeichnen und das heißt: von den anderen Menschen isolieren. Damit ist der erste zentrale Punkt der Diskussion zwischen Unbedingtheit und Kompromiß erreicht, und Philinte sagt mit nachvollziehbarer Logik: Vous voulez un grand mal a la nature humaine! (1,1) [Verabscheun Sie die menschliche Natur so sehr?] Alceste bestätigt es ihm: Oui, j'ai congu pour eile une e f f r o y a b l e haine. (1,1) [Ja, schrecklich ist der Haß, der mich auf sie erfüllt.] Etwas später erst erwähnt Philinte die vermeintlich oder tatsächlich einzige Ausnahme, nämlich die junge Dame, in deren Haus man sich befindet, Celimene, und die Alceste keineswegs so behandelt, wie er den anderen gegenüber auftritt. Aber noch ist der Dialog bei philosophischen Einsichten und existentiellen Bekenntnissen, wobei offen bleibt, wieweit im folgenden der Menschenfeind sich nach ihnen richten wird. Seine Einsichten und Bekenntnisse ähneln auf den ersten Blick denen Timons, etwa wenn Alceste sagt: Non: eile est genitale, et je hais tout les hommes:/ Les uns, parce qu'ils sont mechants et malfaisants,/ Et les autres, pour etre aux mechants complaisantsj Et n'avoir pas pour eux ces haines vigoureuses/ Que doit donner le vice aux ames verteuses. (1,1) [Nein, alle hass' ich, keiner bleibt davon verschont;/ Den einen, der selbst schlecht ist und voll Bosheit steckt,/ Den andern, der den Schlechten sich gefällig zeigt/ Und nie auf sie den grimmen Haß verspürt, den doch/ Das Laster stets in edlen Seelen wecken muß.] Nur ist bereits hier sehr klar, daß Alcestes Misanthropie einer kosmischen Dimension, einer Letztbegründung wie bei 37

Timon (und dann später bei von Hutten und dem Schmidtschen Inselmenschen) durchgängig entbehrt. Sie ist vielmehr eher das, was man freilich ganz unspezifisch »Gesellschaftskritik« nennen könnte, und was bei Moliere eher als das Verhalten des Einzelnen in der Begegnung mit den anderen bezeichnet werden sollte. Ob die Welt, das Belebte und Unbelebte, ja vielleicht das schöpferische Prinzip selbst, invariabel böse ist, chaotisch und voller Lust an Qual und Zerstörung — diese abgründigen Timonschen Ängste und Zweifel spielen hier keine Rolle. Der Antagonismus zwischen den Figuren, zwischen dem Menschenfeind und seiner Umgebung, wird dadurch einfacher, überschaubarer und dramatischer·, dies vielleicht vor allem. Denn Timons negative Kosmogonie ließ einzig den Rückzug in die Einsamkeit und das Schweigen, und beides ist einem Theaterstück nicht gerade förderlich. Seine Auftritte in der Waldeinsamkeit trugen daher den Charakter eines formalen Kompromisses. Nur in der Perspektive einer dramatischen Bewegung weg von Timon, also in der Gestalt und den Taten des Alcibiades, ließ sich überhaupt so etwas wie Zusammenhang oder Lösung retten, eher notdürftig, wie der zwar zu Ende gebrachte, aber nicht beendete, nicht zureichend überarbeitete Zustand des Dramas demonstriert. Unter solcher mangelnder Dramatik leidet Molieres Stück gewißlich nicht. Primär eben deswegen, weil der Menschenfeind hier von Anfang an zwar ein unversöhnlicher Mensch ist, aber einer voll glühenden Eifers, die Menschen zu bessern und zu bekehren, wiewohl er gelegentlich davon spricht, in entlegene Wüsteneien zu fliehen, was er aber nie tut (— wie das Ende unter diesem Aspekt zu lesen sein könnte, wird an späterer Stelle erörtert). Gleichzeitig wird die dramatische Spannung aufrechterhalten von der Ungewißheit über einen Gerichtsprozeß, in den Alceste verwickelt ist. Wir erfahren nie genau, worum es in diesem (Zivil)Prozeß eigentlich geht, nur trägt der negative Ausgang entscheidend bei zur Zuspitzung und Radikalisierung der Schlußsituation: Alceste sieht durch den Verlust des Prozesses seine schlimmsten Befürchtungen, die Menschen betreffend, bestätigt, betrachtet die Niederlage als Sieg der menschlichen Bosheit und als den Tropfen, der das Faß seiner Geduld mit der Welt nun überlaufen läßt. Die ironische Pointe des Prozesses liegt darin, daß er die Umkehrung der Alcesteschen Position den Menschen und der Gesellschaft gegenüber darstellt, einer Position, die man auch beschreiben könnte als perennierenden Prozeß vor dem Tribunal seiner Aufrichtigkeit — oder dem seiner Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit. Denn wie alle Misanthropen zeichnet sich Alceste durch eine 38

Eigenschaft oder Tugend nicht aus: durch Selbstkritik oder pragmatischen Relativismus. Er ist vollständig überzeugt von sich und der Wahrheit seiner Weltsicht. Misanthropen benslos-relativistischer

sind Ideologen,

Gläubige

in glau-

Zeit. Auch deswegen ist eine wirkliche Diskus-

sion mit Philinte unmöglich; denn dessen zentrales Argument, daß der Mensch schwach und endlich ist, ein Geschöpf, dem eher Mitleid denn Zorn entgegenzubringen wäre, spielt sich auf einer anderen kategorialen Ebene ab als Alcestes rigoroser Moralismus. Zwischen Unbedingtheit und Relativismus gibt es keine Verständigung und logischerweise auch keinen Kompromiß, gehört der doch per definitionem zu einer Weltanschauung, die die Menschen und Dinge in ihren wechselnden Beziehungen und veränderlichen Wahrheiten sieht und versteht und nicht am Maß des Absoluten mißt und dann naturgemäß verurteilen muß. Darum tauschen Alceste und Philinte auch nur ihre Standpunkte aus, damit der Leser oder Theaterbesucher die prägenden Ideen der beiden kennenlernt und die Konflikte antizipieren kann, die auf den Titelhelden zukommen. Spannung entsteht in diesem Meinunsaustausch durch zweierlei: durch die mehrmalige Erwähnung des Prozesses und durch die Erwähnung der von Alceste geliebten Celimene. Hier zeigt der Prozeß die masochistische Seite des Misanthropen, und die Diskussion seiner Liebe zu Celimene die illusionsgläubige des großen Durchschauers und vermeintlich Illusionslosen. Denn der geheime Nebensinn oder der schon gar nicht mehr geheime Sinn des Prozesses ist, ihn zu verlieren.

Es wäre dies

ein erneuter Beweis für die Nichtswürdigkeit der Welt .Je voudrois, coütat-il grand'chose/

Pour la beauti

m'en

du fait avoir perdu ma cause. (1,1)

[Und zahl ich teuer auch dafür,/ Mag meine Sache denn, des seltnen Faktums halb,/ Verloren gehn.] Die psychologische Komponente des Wunsches verweist auf die latente Infantilität einer Position, der die Bestätigung einer apriorischen Idee wichtiger ist als die eigene äußere Selbstbehauptung. Wer so lieber leidet als sich widerlegt sieht, kann in der Tat behaupten, sich von der gesellschaftlichen Rationalität der anderen abgesetzt zu haben. Alceste kommt jedoch in Schwierigkeiten durch ein Gefühl, das den anderen Misanthropen gemeinhin abgeht und nicht recht zu seiner sonstigen Attitude zu passen scheint: Er liebt die junge Celimene. Darüber wundert sich Philinte: Je m'etonne, pour moi, qu'etant,

comme

il le semblej

Malgre

Vous et le genre humain sifort brouilles ensemble,/

tout ce qui peut vous le rendre odieuxj charme vosyeux

Vous ayez pris chez lui ce qui

(1,1) [Ich, meines Teils, bin höchst erstaunt, daß Sie, der

ja/ Mit dem gesamten Menschenvolk zerfallen ist/ Und Haß ihm zuge39

schworen hat, ein Wesen doch/ Entdeckten, das vor Ihren Augen Gnade fand.] Freilich ist auch hier ein Zug von Masochismus nicht zu übersehen: Denn zwei andere Damen, Eliante und Arsinoe, himmeln den Misanthropen an, der seinerseits von ihnen gar nichts wissen will, dafür aber sehr viel von Celimene, die das Werben Alcestes nicht ohne Koketterie und Hochmut mal gnädig erträgt, mal sich ausgiebig darüber lustig macht. Moliere entwirft eine klassische Lustspielsituation, wenn die Damen Α und Β für Herrn C schwärmen, der seinerseits nur Augen für D hat. Alceste hat es sich jedoch sehr ernsthaft in den Kopf gesetzt, diese Celimene, unter deren Verhalten er leidet, nicht nur für sich zu gewinnen, sondern sie vor allem zu seiner Weltanschauung zu bekehren. Sie soll ihn nicht nur lieben, sie soll so werden wie er. J'ai beau voir ses difauts, et j'ai beau l'en blämer,/ En depit qu'on en ait, eile se fait aimer;/ Sa grace est la plus forte; et sans doute ma flamme/ De ces vices du temps pourra purger son äme. (I,l)[Ichsehe ihre Fehler, tadle sie an ihr:/ Trotz meiner bessern Einsicht lieb' ich diese Frau./ Sie siegt durch Anmut — doch wird meine Liebe sie/ Herausziehn, hoff ich, aus dem Lasterpfuhl der Zeit.] Da ist der Freund vorsichtig skeptisch, und mit Recht, wie der weitere Verlauf zeigt. Angesichts von Alcestes prinzipieller Einstellung zur Welt, und konkret zum Prozeß, scheinen manche Sätze des Menschenfeinds über Celimene ein Moment des Einverständnisses mit den zivilisatorischen Notwendigkeiten anzuzeigen; andererseits wird bald sehr klar, daß auch seine Beziehung zu Celimene geprägt ist von einer verzweifelten Hoffnung auf Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Eigentlich erwartet er nichts als eine erneute, diesmal zerstörerische Demütigung. Denn er kann nicht ernsthaft hoffen, Celimene bekehren zu können; hieße das doch, sein eigenes philosophisches Fundament zu untergraben: Wenn ein Mensch gerettet werden kann, dann können auch zwei oder mehr gerettet werden. Wenn Celimene nur von den Anforderungen der Gesellschaft verdorben und korrigierbar, das heißt: im Kern durchaus so edel und gut ist wie er selbst, dann sind vielleicht die Menschen überhaupt nicht so, wie er sie unermüdlich denunziert, nämlich durch und durch, in ihrem tiefsten Wesen, depraviert und rettungslos verloren. Dann aber fehlt seiner misanthropischen Weltanschauung das ideologische Fundament, wird der Menschenhaß zur zufälligen Attitude eines etwas überspannten jungen Mannes, dem es an Weltund Menschenkenntnis noch ein bißchen mangelt. Die Liebe zur koketten Celimene ist für Alceste weit schwieriger und komplikationsträchtiger als für andere, die sich nicht als kompromißlose Wahrheitsfa40

natiker verstehen, und für andere Misanthropen, deren Ablehnung des großen Ganzen nicht geprüft wird durch die Hinwendung zu einem einzelnen geliebten Menschen. Indem es für Alceste noch etwas anderes gibt als die monomanische Weltverfluchung ä la Timon, öffnet er sich dieser Welt in ganz anderer Weise als die eremitischen Menschenfeinde. Schon in diesem 1. Auftritt des 1. Akts sind die wichtigsten Themen und Komplikationen des Stückes zumindest angedeutet, der Charakter des Alceste wird vorläufig skizziert, Gegenpositionen werden aufgebaut. Die Szene ist vorbereitet, die Auseinandersetzung des Menschenfeindes mit den Menschen kann beginnen. Die erste Begegnung ist die mit Oronte. In diesem Aufeinandertreffen wird konkretisiert, was Alceste mit Philinte kontrovers, aber noch gleichsam abstrakt, disputiert hatte: die Forderung nach unbedingter Aufrichtigkeit, Alcestes kategorischer Imperativ. Dieses Postulat wird nun auf die Probe des Alltags gestellt. Herr Oronte erscheint, will Alceste ganz rasch seine Freundschaft aufdrängen, was der empört ablehnt — und wer könnte es ihm verdenken — und liest schließlich ein selbstgedichtetes Sonett vor, mit der Bitte, möglichst ganz ehrlich darüber zu urteilen; und das heißt, wie man heute so gut wie damals weiß: möglichst ganz lobend. Das Gedicht ist natürlich unerträglich schwülstig, leer und voller modischer Floskeln. Philinte, der ebenfalls anwesend ist, äußert sich gemessen enthusiastisch, aber Alceste, getreu seiner Maxime, gibt ein vernichtendes Urteil ab, im einzelnen wie im ganzen. Was er dabei prinzipiell gegen die zügellose Reimerei vorbringt, ist zwar beherzigenswert bis auf den heutigen Tag, selbst wenn nicht mehr gereimt wird, erscheint aber in der Bedeutung sekundär gegenüber der Detailkritik. In ihr und durch sie wird die Grundstruktur des Alcesteschen Weltverständnisses noch ein wenig klarer. Er tadelt vor allem den gerade modischen Stil, das Unechte und Gezierte, die an den Haaren herbeigezogenen Antithesen, den blumigen Leerlauf und die unnatürlichen Fügungen. Mit einem Wort: die Mittel der Rhetorik. Ihr setzt er entgegen das Ideal des Natürlichen, Einfachen und Schlichten, in Bildlichkeit und Aufbau. Denn, und das ist leicht zu übersehen, aber entscheidend: das Gedicht Orontes ist ein Sonett. Mit nur geringer Ubertreibung kann man sagen, daß das Sonett eine Form ist, die sich ihr Gedicht sucht. Dieser Primat einer vorgängigen, ganz präzis zu erfüllenden Norm gewährt zwar dem, der sie mit künstlerischem Leben zu erfüllen weiß, die Befriedigung eines Ausgleichs zwischen objektivem Anspruch und subjektiver Aussprache, stellt aber den mittelmäßigen Poeten vor eine unlösbare Aufgabe. Denn, wie Oronte wider Willen de41

monstriert und worauf Alceste unerbittlich den kritischen Zeigefinger legt: Es ist einigermaßen leicht, überhaupt ein Sonett zu schreiben; Versmaß, Reimschemata, Strophenform, Zahl und Struktur dieser Strophen, alles ist genauestens vorgegeben; aber es ist ungewöhnlich schwer, diese Schemata so zu erfüllen, daß sie nicht wie Schemata klingen. Daran scheitert Oronte. Alcestes Kritik stellt diesen Schematismus des Sonetts in Gegensatz zu einem alten Volkslied, das er selbst vorträgt. Aus der Gegenüberstellung lassen sich einige elementare Oppositionspaare entwickeln, die für Alcestes Denken konstitutiv sind und die er nicht nur in der Kunst, sondern entscheidender noch im Leben als Maßstab und Modell benutzt. Zuerst Sonett gegen Volkslied, und das heißt, schon ganz im Horizont des 18.Jahrhunderts: Rhetorik gegen Natur und Tradition gegen Unmittelbarkeit, Überlieferung gegen Leben. Diese Antinomien bleiben starr und werden ohne jeden Vermittlungsversuch kontrastiert, einander völlig ausschließend. Der Rationalität, d. h. der Konstruierbar keit und Wiederholbarkeit, des Sonetts und seiner tradierten Bildlichkeit wird entgegengestellt die spontane Emotionalität, die Unwiederholbarkeit des lyrischen Moments im Volkslied, die subjektive und darum wahre Darstellung eines singulären emotionalen Erlebnisses. Also, sehr verkürzt: barocker Prunk gegen, cum grano salis, bürgerliche Schlichtheit. Freilich: Molieres Stück ist keines über soziale Gegensätze und historische Konflikte verschiedener und also auch mit unterschiedlichen Idealen und Programmen, nicht zuletzt ästhetischer Art, ausgestatteter Klassen; keine Vertreter sozialer Schichten agieren da, wenngleich natürlich jede Figur einigermaßen genau in ihrer sozialen Zugehörigkeit bestimmbar ist, sondern Individuen von allerdings unterschiedlicher Repräsentativität. Und dennoch kommt man nicht umhin, in Alcestes ästhetischem

Tugendkatalog

die Normen und künstlerischen Werturteile

zu entdecken, die charakteristisch werden für die dann bürgerlich bestimmte Literatur des 18. Jahrhunderts: also die starke Betonung von Gefühl, Echtheit, Natur, Schlichtheit und Unmittelbarkeit. Nur daß dies ironischerweise hier geschieht unter Rekurs auf eine idealisch gesehene Vergangenheit, die noch, so Alceste, wahre Leidenschaft gekannt habe anstelle der leeren Formen und falschen Gefühle in der Gegenwart. Hinter der ästhetischen

Verurteilung

steckt eine ethische

Entscheidung,

die aus der Ablehnung des modischen Sonetts in eine ernstere Sphäre bruchlos überwechselt, weil sie aus tieferen Quellen gespeist wird als aus denen einer veränderlichen Meinung. Es ist eine mit seinem Menschenbild völlig kompatible Auffassung von Kunst, oder anders gesagt: Sein 42

Zentralbegriff der Aufrichtigkeit und unbedingten Ehrlichkeit wäre nur eine beliebige Idee wie viele mögliche andere, würde sie sich nicht auf sein ganzes Leben, auf alle Außerungsformen des Lebens, also auch die Kunst, erstrecken. Damit ist die implizite und immer an einen Misanthropen zu stellende Frage schon beantwortet, ob es zur verderbten Welt der Empirie eine Gegenwelt gibt; bei Moliere jedenfalls erscheint kein unmittelbar sich ergebender Ausweg in das Reich des Ästhetischen, wie dann bei Arno Schmidt, sondern einzig ein Rückzug in die Reinheit und Wahrheit des eigenen Herzens. Kunst an sich wird nicht als ontologische Gegen-Welt verstanden, sondern als direkter Ausdruck des Einzelnen; eine Art Epiphanie des individuellen Innenraums, die besonders klar den ethischen Zustand des Künstlers, vielleicht auch den der Gesellschaft, deren Teil er ist, hervortreten läßt. Aus Orontes Sonett wird nicht einfach nur des Verfassers mangelnde Kompetenz in ästhetischen Fragen, sein lamentables, d. h. völlig fehlendes, Talent gefolgert, sondern, wie der — und er ist ja nicht eigentlich dumm — durchaus spüren muß: seine ethische Aufrichtigkeit, seine Moralität gleichsam, wird bezweifelt. Oronte liest ein Sonett vor, und Alceste rückt seiner Ehre bedrohlich nahe. Man kann es Oronte schwerlich übel nehmen, daß er sich beleidigt fühlt. So mag es gehen, wenn man einem Menschen, der stets auf dem unbedingten Primat der Wahrheit insistiert und gar nichts anderes als ethisch zu legitimierende Entscheidungen kennt, etwas aus dem Reich des schönen oder häßlichen Scheins vorträgt. Er nimmt es ernst. Ihm ist ästhetisches Versagen ethische Schuld. Der Mensch steht in seiner Gesamtheit, mit all seinen Gedanken, Worten und Werken vor dem Tribunal der Misanthropie. Und für die von vornherein unbestreitbare, in den Handlungen sich nur mehr noch enthüllende Schuld gibt es keine Entschuldigung. Die Szene hat ein Nachspiel vor Gericht. Wir erfahren darüber durch Philinte (IV, 1). Es ist nicht recht begreiflich und eigentlich ein Bruch im Charakter Alcestes, wenn wir hören, daß er dem Vergleichsvorschlag des Richters zustimmt und sich bei Oronte entschuldigt, vorher noch zusätzlich die Trennung der Sphären, gegen die sein gesamtes Wesen protestiert, ausdrücklich vornimmt. De quoi s'offense-t-il? et que veut-il me dire?/ Y va-t-il de sa gloire ä ne pas bien ecrire?/ Que lui fait mon avis, qu'il a pris de traversal Ou peut etre honnete homme et faire mal des vers:/ Ce n'est point a l'honneur que touchent ces matteres; (IV, 1) [Wieso ist er gekränkt? Was will er denn von mir?/ Beschimpft es unsern Ruf, wenn man nicht dichten kann?/ Weshalb nimmt er mir meinen guten Rat 43

so krumm?/ Wer schlechte Verse schreibt, kann doch recht wacker sein;/ Denn so etwas berührt ja unsre Ehre nicht.] Genau das hat Alceste, dessen Apologie vor Gericht hier Oronte rekapituliert, aber getan; vielleicht glaubte Moliere, daß eine Verurteilung in einem Prozeß genug sei und der Menschenfeind wenigstens gegenüber Oronte einen Kompromiß eingehen müsse, wenngleich das Prinzip des Ausgleichs durchaus im Widerspruch zu seinen Maximen steht. Mit jeder Begegnung, die Moliere seinem Alceste gönnt oder die er ihm zumutet, wird das Bild dieses anspruchsvollen und anstrengenden, so schwierigen, weil ungewöhnlich konsequenten Menschen deutlicher. Sein eigenes Bild von den anderen Menschen jedoch bleibt eigentümlich beschränkt und flach. Freilich ist dies ein grundlegender Zug bei allen literarischen Misanthropen: Ihnen geht die Fähigkeit zu subtilerer Erfahrung und Verarbeitung dieser Erfahrung beinahe gänzlich ab. Alles dient (nur) zur Bestätigung ihrer restringierten Welt-Sicht. Und weil in dieser Welt-Sicht der Mensch prinzipiell schlecht und rettungslos verdorben ist, spiegeln alle seine Worte und Taten nur diese moralische Verderbtheit, kann der aufmerksame Beobachter — und das ist der Menschenfeind in einer bitteren und selektiven Art durchaus — immer nur die menschlichen Schattenseiten wahrnehmen. Eine Ausnahme ist oder scheint zu sein Alcestes Verhältnis zu Celimene: Er liebt sie und will sie zu seiner Misanthropie bekehren; für sie ist er ein Freund unter vielen, und vollends abstrus erschiene ihr, der Welt und den Menschen einsiedlerisch zu entsagen. Sein ständiges Insistieren auf radikaler Lebensänderung ist ihr bloß lästig, und von ihr zu verlangen, allen anderen Männern die sprichwörtliche kalte Schulter zu zeigen, erscheint der Zwanzigjährigen, durchaus nachvollziehbar, als unerträgliche Zumutung. Außerdem unterscheidet sich Alcestes Haltung in den manifesten Resultaten wenig oder gar nicht von ganz gewöhnlicher Eifersucht, und so ist auch der Dialog der beiden immer eine Mischung aus spezifisch misanthropischen Sottisen und jener eifersüchtigen Gekränktheit, die auf der Bühne immer so sehr viel komischer ist als im wirklichen Leben. Celimene fragt zunächst: Des amants que je fats me rendez-vous coupable?/ Puis-je empecher les gens de me trouver aimable?/ Et lorsque pour me voir ils font de doux efforts,! Dois-je prendre un baton pour les mettre dehors? (11,1) [Sie werfen die Verehrer mir als Sünde vor?/ Kann ich dafür, wenn man für liebenswert mich hält?/ Und kommen diese Leute höflich zu Besuch,/ Jag' ich sie dann vielleicht mit einem Stock hinaus?] Alcestes Antwort verbindet seine prinzipielle Abneigung gegen 44

die oberflächlichen verlogenen Züge des Menschen mit der sehr konkreten Abneigung gegen Celimenes Verhalten: Non, ce n'est pas, Madame, un baton qu'ilfaut prendre,/ Mais un cceur a leurs vceux moins facile et moins tendre. (11,1) [Kein Stock ist nötig, nur ein Herz, das weniger/ Für fremde Huldigungen sich empfänglich zeigt.] Dann gerät er so recht in Schwung und überhäuft die arme Frau mit zahllosen Vorwürfen, die alle darauf hinauslaufen, daß sie, Celimene, zu allen anderen Männern und ganz besonders einem, Herrn Clitandre, viel zu liebenswürdig und entgegenkommend sei. Die sich anspinnende Auseinandersetzung bleibt, wie stets bei solchen Themen, natürlich unergiebig, zumal Alceste seine wenigen Freundlichkeiten mit soviel Bosheit mischt, daß Celimene ein abgeklärter Stoiker aus dem philosophischen Lehrbuch sein müßte, um sich an ihnen delektieren zu können. Sie dagegen insistiert darauf, daß sie ihn liebt, aber nicht, wie er es erwartet, nun so tun kann oder will, als ob es außer ihm keinen anderen Mann mehr auf der Welt gäbe. Genau das fordert Alceste. Für ihn ist Liebe nicht die Nachbarin der Großzügigkeit und der Ausdruck des gesteigerten Verständnisses für einen anderen Menschen, sondern eine Form der potenzierten Aufrichtigkeit, die höchste Verpflichtung zur Aufrichtigkeit. Nur durch diesen radikalen Anspruch kann der Einzelne, so Alcestes Gedankengang, den anderen Menschen in gebührender Weise ernst nehmen, so wie Alceste sich selbst ernst nimmt. Diese Konzeption der Liebe ergibt sich, ganz vergleichbar der Kunst, in strenger Konsequenz aus dem Primat der unbedingten Aufrichtigkeit und bleibt mit ihm unlösbar verknüpft — bis daß der Tod sie scheidet. Sowenig die Kunst eine Gegenwelt zu der empirischen bildet und folglich der ethischen Weltsicht unterworfen bleibt, sowenig erlöst auch die Liebe den Misanthropen aus dem Kerker des Unbedingten; ja, im Gegenteil erscheint sie als höchste und strengste Ausprägung des Willens zur Aufrichtigkeit. In Alcestes Worten: Plus on aime quelqu'un, moins il faut qu'on le flatte;/ A ne rien pardonner le pur amour eclate; (11,4) [Je mehr man jemand liebt, je minder schmeichle man./ Bei wahrer Liebe gibt's kein schwächliches Verzeihn.] Das ist an sich natürlich seltsam, steht aber doch logisch in der Kontinuität des Alcesteschen Denkens und Handelns. Indem der Misanthrop monomanisch ein einziges Prinzip zum handlungsleitenden Imperativ macht, kann er zwar die mannigfaltigen Heucheleien und Lügen, Korruption und moralische Depravation erkennen und aussprechen, beraubt sich jedoch dadurch selbst der Möglichkeit, diese verderbte Welt auf irgendeine Art und Weise zu transzedieren. Er bleibt in Zorn und Verachtung auf 45

sie fixiert, an sie gebannt. Nicht Liebe noch Kunst, überhaupt nichts ist erkennbar oder tatsächlich auch vorhanden, das eine temporäre oder dauernde Lösung von ihr in Aussicht stellen könnte. Nur die Flucht aus ihr heraus, die physische Trennung ist denkbar. Aber sie wäre theatralisch nur unvollkommen darstellbar und zudem psychologisch unwahrscheinlich: Denn nur innerhalb der menschlichen Gesellschaft kann Alceste jene tiefe Befriedigung finden, die aus der ununterbrochenen Bestätigung seinenr düsteren Vor-Bilder und Vor-Erwartungen wächst. Die Liebe zu Celimene ist von Beginn an ein hoffnungsloses Exerzitium in unangemessener Aufrichtigkeit, und sie durchschaut den Freund ganz und gar: Enfin, s'il faut qu'ä vom s'en rapportent les coeursj Ort doit, pour bien aimer, renoncer aux douceurs,/ Et du parfait amour mettre l'honneur supreme/ Α bien injurier lespersonnes qu'on aime. (11,4) [Wofern man sich nach Ihnen richtet, muß ein Herz,/ Das liebt, verzichten auf jedwedes zarte Wort,/ Und echter Neigung höchster Ausdruck ist's demnach,/ Wenn man mit seines Herzens Dame tüchtig zankt.] Der weitere Gang der Auseinandersetzung zwischen Alceste und Celimene ist für die Fragestellung dieser Untersuchung unergiebig, weil sie die von Anfang an feststehende Konstellation und die Struktur der Beziehung nicht ändert, sondern nur bis zu jenem Punkt treibt, an dem sich Celimene schlicht weigert, auf die gemeinsamen Weltfluchtpläne des Menschenfeindes einzugehen. Die zusätzliche Spannung durch die Briefe Celimenes ist ein dramaturgisches Moment zur Beschleunigung einer befriedigenden Lösung des Knotens, keine notwendige Entwicklung der Alceste-Handlung. Die Szenen um die Briefe befördern nur einen Eclat, der in Alcestes Charakter angelegt ist und sich bereits aus dem ersten Auftritt extrapolieren läßt. Daher muß in diesem Kontext nicht darauf eingegangen werden. Wichtiger ist die nochmalige Feststellung: Der Alcestesche Begriff von Liebe impliziert nicht eine mögliche Suspendierung der moralischen Radikalität, sondern ihre höchste denkbare Steigerung. Damit erlöst sie ihn nicht aus seiner selbstgewählten Einsamkeit, sondern verstärkt die nur. Die monolithische Wand des selbsterrichteten ethischen Imperativs versperrt jeden Zugang zur realen Welt. Weil die nicht so ist, wie sie vom Standpunkt dieses Imperativs sein müßte, sondern so ist, wie sie ist, wird sie und werden die Menschen in ihr vom Misanthropen gehaßt. Nachvollziehbar wird Alcestes Misanthropie allerdings angesichts der leeren Gesellschafts- und Meinungsmenschen Acaste und Clitandre. In den von ihnen dominierten Szenen verschwinden auch die intellektu46

eilen und emotionalen Widerhaken; gegenüber diesen Vertretern des modischen Geschwätzes Recht zu behalten und die Lacher der Zuschauer auf seine Seite zu ziehen — das ist nicht schwer. Ihre Auftritte finden nur deshalb hier Erwähnung, um dem sich möglicherweise einstellenden Eindruck zu opponieren, Alceste sei vielleicht doch jene outriert-komische Figur, die man in den Gesprächen mit Philinte, Oronte und Celimene kennengelernt haben könnte, falls man sozial exzentrisches, auf absoluten Grundsätzen ruhendes Verhalten für komisch oder potentiell komisch hält. Sobald Alceste auf Acaste und Clitandre trifft, bekommt seine Wut, seine Menschenverachtung eine für jedermann nachvollziehbare Basis. Die beiden sind Adlige, »marquis«. Sie besuchen Celimene und beginnen, kaum haben sie sich niedergelassen, ihr zwanghaft dummes Geschwätz, Klatsch und Tratsch über alle, die ihnen gerade begegnet sind. Parbleu! je viens du Louvre, oü Cleonte, au levej Madame, a biert paru ridicule acheve./ N'a-t-il point quelque ami qui piit, sur ses manieres,/ D'un charitable avis luipreter les lumieres? (11,4) [Potz Blitz! Da komm ich von der Frühaudienz im Schloß;/ Cleont benahm sich wieder mal höchst abgeschmackt./ Hat er denn keinen Freund, der aus Barmherzigkeit/ Ein Licht ihm aufsteckt, was den guten Ton betrifft?] Und gleich darauf sagt der andere: Parbleu! s'il faut parier de gens extravagante,/ Je viens d'en essuyer un des plus fatigants:/ Damon, le raisonneur, qui m'a, ne vous deplaise,/ Une heure, au grand soleil, tenu hors de ma chaise. (11,4) [Potz Blitz! Wenn man von Leuten spricht, die närrisch sind,/ Nahm vorhin mich der Unerträglichste aufs Korn;/ Der Schwätzer Damon hielt vor meiner Sänfte mich/ Bei praller Sonne, bitt' schön!, eine Stunde auf.] Und so weiter und so weiter und so fort. Alceste hört sich das eine Weile — man kann sich vorstellen: zornbebend — an, dann fährt er auf und greift ein; und zwar mit dem aus dem Dialog mit Philinte bekannten Argument der Heuchelei: In ihrer Abwesenheit werden die Mitmenschen verspottet, aber feige wird ihnen geschmeichelt, sieht man sie direkt vor sich: Allons, ferme, poussez, mes bon amis de caeur;/ Vous n'en epargnez point, et chacun a son tour;/ Cependant aucun d'eux a vos yeux ne se montre,/ Qu'on ne vous voie, en hate, aller a sa rencontre,/ Lui presenter la main, et d'un baiser flatteur/ Appuyer ler serments d'etre son serviteur. (11,4) [Recht so, ihr guten Freunde! Drauf, ihr Herrn vom Hof!/ Ihr lasset niemand aus, bei euch kommt jeder dran./ Gleichwohl erblickt ihr keinen, ohne daß ihr auch/ Sogleich in aller Eile ihm entgegenlauft;/ Ihr drückt ihm warm die Hand und schwört mit Gruß und Kuß/ Ihm eure untertänige Ergebenheit.] So aus der Sphäre der ethischen 47

Absolutheit heruntergeholt in die soziale Welt der universalen Heuchelei, bekommt Alcestes wütender Einspruch gegen Lüge und Gleichgültigkeit, gegen billige Kompromisse und widerstandslose Anpassung, gegen die Unterwerfung unter die gerade herrschenden Moden des Umgangs und des Geschmacks, bekommt also der ganze rigorose Standpunkt des Misanthropen unbestreitbar Plausibilität, ja Dignität. Alcestes Aufrichtigkeit wird plötzlich notwendig und wirkt reinigend. Der bornierten Selbstzufriedenheit der beiden Grafen antwortet ein Mensch, der von der Fehlerhaftigkeit des Menschen überzeugt ist, aber in ihm ein Potential glaubt, spürt, erhofft, ein Potential an Größe, Liebe und Wahrheit — das der konkrete Einzelne freilich schuldhaft ignoriert oder verschleudert. Molieres Alceste ist, ähnlich Schillers von Hutten, ein Menschenhasser aus enttäuschter Menschenliebe·. Sie sind nicht so, wie sie sein könnten; und das heißt: Sie sind nicht so, wie sie sein müßten. Um so größer ist die Verzweiflung und Trauer über ihren aktuellen Zustand, ihre tatsächliche Verlogenheit und Lächerlichkeit. Aber wer die Menschen daran erinnert, sie aus ihrer Mediokrität aufwecken, an ihr Potential erinnern will, der macht sich verhaßt. Oder er wird zur verlachten Figur. Aber nie zu einer lächerlichen. Und er gewinnt eine Würde, durch die er den anderen erst recht zum Ärgernis wird. Wohin eine Anlage vergleichbar der Alcestes führt, wenn ihr die ethische Fundierung fehlt, zeigt die Gestalt der Arsinoe. Sie betritt die Szene in 111,4, wird aber schon in dem vorangehenden Auftritt von Celimene charakterisiert, und dies durchaus nicht unzutreffend: Arsinoes zur Schau getragene Frömmigkeit und Prüderie sei nichts als Heuchelei, die sauren Trauben einer Zu-kurz-Kommenden. Dans l'äme eile est du monde, et ses soins tentent tout/ Pour accrocher quelqu'un, sans en venir a bout.I Elle ne sauroit voir qu'avec un ceil d'envie/ Les amants declares dont une autre est suivie;/ Et son triste merite, abandonne de tousj Contre le siecle aveugle est toujours en courroux./ Elle tache a couvrir d'un faux voile de prude/ Ce que chez eile on voit d'affreuse solitude. (111,3) [Sie ist ein Weltkind, höchst erpicht, sich einen Mann/ Zu angeln, doch sie hat gar wenig Glück dabei./ Mit bitterm Neid nur sieht ihr Auge es mit an,/ Wenn andre Frauen ein Verehrerschwarm umringt./ Da keinen ihr entschwundner Reiz mehr lockt, schimpft sie/ Auch unaufhörlich auf die Blindheit unsrer Zeit;/ Und die erzwungne Einsamkeit, in der sie lebt,/ Hüllt sie in einen falschen Tugendschleier ein.] Unterstellen wir, daß richtig ist, was Celimene hier nicht ohne Bosheit sagt, so ist die Nähe zu manchen Positionen Alcestes evident. Aus 48

menschlicher Vereinsamung, aus fraulichem Neid geht ihr Welt- und Menschenhaß hervor. Freilich setzt der fiktive Charakter einer Bühnenfigur ausgreifenderen Spekulationen ein prinzipielles Ende. Daher geht die naheliegende Frage, ob die Arsinoe, die kurz nach den sie charakterisierenden Sätzen auftritt, »tatsächlich« so ist, an der Sache vorbei. Es genügt, daß sie im weiteren Verlauf des Stückes durch alle ihre Worte und Handlungen die vorauseilende Beurteilung und Aburteilung bestätigt. Alles, was sie sagt und tut, ist geprägt von Haß und Mißgunst, Eigensucht und Hinterhältigkeit, vor allem, wenn es darum geht, die Beziehung zwischen Alceste und Celimene zu stören, beide auseinanderzubringen; was sie durch konstante Verleumdung Celimenes bei Alceste zu erreichen hofft. Celimene hätte folglich guten Grund, Arsinoe ihrerseits alles Böse nachzusagen und könnte als wenig verläßliche Charakterzeugin bezeichnet werden. Im fiktiven Kontext des Dramas jedoch ist vor allem relevant, daß sie schon durch die sie einführenden Sätze deutlich als eine Art Kontrastfigur zu Alceste aufgebaut wird. Auch der »schimpft« ja auf die Welt, aber eben aus hehren ethischen Motiven, aus Verzweiflung über die Diskrepanz von Ideal und Realität. Arsinoes Wut und Haß, das kommt hinzu, hüllt sich in das Mäntelchen überlegener und distanzierter Sittsamkeit; mithin entlarvt sich schon sehr rasch die vermeintliche Nähe als schroffe Differenz. Sie verkörpert gleichsam die Menschenfeindin aus unedlen Motiven, aus Heuchelei und Ehrgeiz, aus Prüderie und Bigotterie. Sich selbst nimmt sie dabei von ihrem Rigorismus aus, mit dem sie die anderen zu entlarven glaubt. Das Aufeinandertreffen von Arsinoe und Alceste in 111,5 enthüllt, falls es dessen überhaupt noch bedarf, den fundamental unterschiedlichen Charakter der beiden. Arsinoe versucht, mit hemmungslosen Schmeicheleien sich Alcestes Aufmerksamkeit und Geneigtheit zu sichern, um ihr eigentliches Ziel, die Trennung der beiden durch eine Mischung von Wahrheit und Unterstellungen zu erreichen. Dabei geht sie zuerst reichlich plump vor, möchte seine Karriere nämlich ausgerechnet am königlichen Hof fördern, wo sie Einfluß zu haben behauptet. Damit kommt sie bei Alceste natürlich nicht an. Et que voudriez-vous, Madame, que j'y fisse?/ L'humeur dont je me sens veut que je m'en bannisse./ Le del ne m'a point fait, en me donnant le jour,! Une ame compatible avec l'air de la cour;/ Je ne me trouve point les vertus necessaires/ Pour y bien reussir et faire mes affaires. (111,5) [Was aber, bitt' ich Sie, sollt' ich am Hof schon tun?/ Wie ich veranlagt bin, flieh' ich ihn wie die Pest. / Der Himmel, der mich schuf, hat keine Seele mir/ Verliehn, die in der Luft des Hofs gedeihen 49

kann./ Mir fehlen all die Eigenschaften, die man braucht,/ Wenn man sein Glück dort machen und sich fördern will.] Sie hat aber noch ein zweites As im Ärmel, nämlich die finstere Andeutung, daß der arme und gutgläubige Alceste von der koketten Celimene schändlich hintergangen werde. Donnez-moi settlement la main jusque chez moi;/ La je vous ferai voir une preuve fidele/ De l'infidelite du coeur de votre belle;/ Et si pour d'autres yeux le vötre peut brüler,/ On pourra vous offrir de quoi vous consoler. (111,5) [Begleiten Sie mich nur nach Hause — Ihren Arm!/ Ich lege Ihnen dort den bündigsten Beweis/ Von Ihrer Schönen ungetreuem Herzen vor;/ Sind Sie für andre Augen dann empfänglich noch,/ So findet sonstwo sich Ersatz als Trost vielleicht.] An sich ist das eine altbekannte Komödienintrige: Die eine Frau will der anderen, mit der sie oberflächlich bekannt ist, den Freund ausspannen und verleumdet sie zu diesem Zweck nicht ohne Geschick, denn sie weiß, daß der umworbene Mann nichts so haßt wie Unwahrheit, Koketterie und Heuchelei, er also eine Frau unmöglich lieben kann, der man gerade diese Untugenden nachzuweisen imstande ist. Und der Plan gelingt auch — jedenfalls ist Alceste im IV. Akt dank des gelesenen Briefes vom hinterhältigen Betrug, der Untreue Celimenes überzeugt. Aber spätestens da wird aus dem Menschenfeind, und sei es nur für einige Szenen, wirklich eine Lustspielfigur. Denn aufgrund eines einzigen mißverständlichen Briefes so grotesk überzureagieren, wie er es tut, läßt die subtile Balance zwischen Tragik und Komik zumindest an dieser Stelle eindeutig kippen. Non, non, Madame, non: l'offense est trop mortelle,/ Ii n'est point de retour, et je romps avec eile;/ Rien ne sauroit changer le dessein que j'en fais,/ Et je me punirois de l'estimer jamais. (IV,2) [Nein, nein, mein Fräulein, der Schimpf ging zu tief, hier gibt's/ Auch keine Rückkehr, brechen muß ich doch mit ihr,/ Denn meinen Vorsatz ändert keine Macht der Welt. / Sie jemals wieder lieben? Fluchen müßt' ich mir!] So konsequent, wie er der eigenen Theorie nach sein müßte, ist er freilich nicht; jedenfalls halten seine ambivalenten Gefühle gegenüber Celimene noch eine Weile einander die Waage, bis er sich am Ende tatsächlich von ihr trennt — für wie lange, bleibt offen. Die intrigante Arsinoe sieht sich freilich von Alceste verhöhnt und am empfindlichsten Punkt getroffen. Mon coeur a beau vous voir prendre ici sa quereile,/ Ii n'est point en etat de payer ce grand zele:/ Et ce n'est pas a vous que je pourrai songer,/ Si par un autre choix je cherche a me venger. (V,4) [So sehr Sie als mein Fürsprech hierbei sich bemühn,/ Vergelten kann ich 50

Ihnen Ihren Eifer nicht./ Sie kämen jedenfalls bestimmt nicht in Betracht,/ Sänn' ich auf Rache je durch eine andre Wahl.] Das ist ihr nun doch zuviel, und so verschwindet sie aus der Handlung. Im Kontext des übergreifenden Misanthropenthemas verkörpert Arsinoe die quasi-alltägliche Menschenverachtung aus Neid und Mißgunst. Wenn sie auf den ersten Blick, sozusagen an der Oberfläche, manche Ubereinstimmungen mit Alceste aufweist, so ist sie, ganz abgesehen vom Intrigantenhaften, was Alceste völlig fehlt, in ihren Motiven und in der moralischen Fundierung radikal von ihm getrennt. Sie agiert innerhalb der Welt, deren Regeln sie sich unterwirft. Ihre verbale Distanz zu den herrschenden Sitten und Gebräuchen ist tatsächlich nur verbal, ist bloßer Schein und nichts als eine Maske, hinter der die absolute Konformität rasch zutage tritt. Man mag sie anfangs als negative Parallelfigur zu Alceste verstehen, so ist sie doch, vom Ende her betrachtet, als sein schärfster Kontrast zu begreifen: Er lebt aus der Aufrichtigkeit heraus, sie aus der Heuchelei. Mit dem Abgang der Arsinoe wurde bereits das Ende des Stückes gestreift, ein Ende, dem sich meine Überlegungen jetzt detaillierter zuwenden. Denn schon die bei Shakespeares Timon gestellte Frage, wie man ein Drama über einen konsequenten Menschenfeind theatralisch befriedigend enden lassen kann, ist auch hier aufzuwerfen und zu beantworten. Theoretisch könnte der Misanthrop seiner Misanthropie abschwören, die Menschen ein wenig freundlicher betrachten und beurteilen. Bemerkenswerterweise gibt es unter allen literarisch bedeutsamen Darstellungen misanthropischen Verhaltens nur eine einzige, die solchen Sinneswandel präsentiert: Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind. Und noch bemerkenswerter ist vielleicht, daß diese Wandlung recht märchenhaft dem Alpenkönig zu verdanken ist, als Heilung eines Verwirrten durch einen guten Geist, der den Rappelkopf gleichsam zwingt, sich selbst, seine Blindheit und apriorische Voreingenommenheit in einem Doppelgänger zu erblicken und so seiner wahnhaften Welt-Anschauung inne zu werden. In den anderen Texten bleibt am Ende eigentlich alles so, wie es war — jedenfalls bleibt der Misanthrop so wie er war, bekräftigt gar wie Timon seinen Fluch auf die Menschen endgültig mit seiner Grabinschrift. Weder Bekehrung noch Tod ist das Schicksal Alcestes. Aber was geschieht eigentlich am Ende? Er stürmt ja von der Bühne mit der emphatisch verkündeten Absicht, fortan in menschenleerer Einsamkeit zu leben und seine Integrität ohne die anderen, fern von allen Belästigungen, zu 51

bewahren. Ist das glaubhaft, oder ist es vielleicht ein schon oft gespieltes Spiel, dem eine Rückkehr in die Gesellschaft unvermeidlich folgt, damit sein Leben die Spannung und Rechtfertigung behält, die es durch seine exzentrischen Ansichten zweifellos für ihn und wahrscheinlich auch die anderen besitzt? Betrachten wir den Beginn des letzten Aktes. Wir erfahren durch Alceste, daß er den Prozeß, von dem bereits im ersten Gespräch mit Philinte in 1,1 die Rede war, tatsächlich verloren hat. J'ai pour moi la justice, et je perds mon proces! (V, 1) [Ich bin im Recht, und doch verlier ich den Prozeß!] Das bestätigt ihm endgültig, daß die Menschheit unrettbar verdorben und jeder Versuch, sie bessern zu wollen, vertane Zeit ist: Et les hommes, morbleu! sont faites de cette sorte!/ C'est a ces actions que la gloire les porte!/ Voila la bonne foi, le zele vertueux,/ La justice et l'honneur que l'on trouve chez euxll Allons, c'est trop souffrir les chagrins qu'on nous forge:! Tirons-nous de ce bois et de ce coupe-gorge./ Puisque entre humains ainsi vous vivez en vrai loupsj Traitres, vous ne m'aurez de ma vie avecvous. (V,l) [So also ist das Volk der Menschen! Element!/ Zu solchem Tun verführt sie ihre Eitelkeit./ Sieht so bei ihnen Redlichkeit und Ehrgefühl/ Und Liebe zu Gerechtigkeit und Tugend aus?/ Nein! Länger trag ich dieses Joches Qual nicht mehr!/ Nur aus dem Sumpfwald, aus der Mörderhöhle fort!/ Und da die Menschen denn als wahre Wölfe sich/ Betragen, sollen sie mich niemals wiedersehn.] Jetzt gibt es für den Misanthropen kein Halten mehr; der gesamte V. Akt treibt die Trennung Alcestes von den Menschen unerbittlich vorwärts; immer leerer wird die Bühne; immer mehr wenden sich von ihm ab oder er sich von ihnen. Der Ausgang des Prozesses war ihm der letzte Beweis für die Ubermacht von Gemeinheit und Niedertracht, von Lüge und Heuchelei. Sie wie er verbaliter der Welt stets den Prozeß gemacht und sie verurteilt hat, so verurteilen die Menschen, jedenfalls eine ihrer dem Recht gewidmeten Institutionen, den unerbittlichen und unermüdlichen Verurteiler. Es ist zwar nur eine Geldstrafe, und der praktische Philinte weist auch auf die Möglichkeit der Berufung hin, aber alles das ist für Alceste irrelevant: entscheidend ist das Prinzip — die Verletzung des Prinzips der Gerechtigkeit, die Verurteilung an sich, das Unrecht an sich, ganz gleich, wie groß oder klein es sein mag oder wie hart es ihn trifft. Und so suhlt er sich viele Verse lang im Unglück; seine Erniedrigung masochistisch auskostend im Gefühl einer auf diese seltsame Weise bestätigten moralischen Superiorität. Ce sont vingt mille francs qu'il m'en pourra coüter;/ Mais, pour vingt mille francs, j'aurai droit de pester/ 52

Contre l'iniquite de la nature humainej Et de nourrir pour eile une immortelle keine. (V,l) [Zwar kostet es mich zwanzigtausend Franken, doch/ Für zwanzigtausend Franken hab' ich auch das Recht,/ Zu fluchen auf die Niedertracht der Menschenbrut/ Und unversöhnlich sie zu hassen bis ins Grab.] Solche Szenen sind stets komisch; diese ist aber mehr, ist die logisch und psychologisch stringente Konsequenz seiner Weltsicht, die in monomanischer Selbstbezogenheit und gnadenloser Selbstgerechtigkeit jedes Maß und jede Relation verloren hat und für die die Welt schon dann unrettbar des Teufels ist, wenn die Menschen nicht ständig den Engeln gleichen. Auch darauf weist ihn Philinte hin; er entfaltet eine Art Philosophie des Quietismus, der gegen die Übel der Welt nicht mit grenzenloser Erbitterung und stets fehlendem Erfolg anrennt, sondern sie hinnimmt und akzeptiert als Schule der Gelassenheit und Weisheit. Weil die Welt und die Menschen unverbesserlich sind, kann der Einzelne nur mit möglichstem Gleichmut die mißratene Schöpfung und die mißratenen Geschöpfe betrachten, will er nicht gleich Alceste unermüdlich gegen das Unabänderliche eifern und seine Kräfte sinnlos vergeuden. Diese Lebensphilosophie allerdings widerspricht so eklatant der des Menschenfeindes, daß er sich die klug-abwägenden Worte des Freundes gar nicht anhören mag. Ganz im Gegenteil radikalisiert er seine Position jetzt dadurch, daß er fest entschlossen ist, eine endgültige Entscheidung von Celimene zu fordern. Laissez-moi, sans dispute, attendre Celimene:! Ii faut qu'elle consente au dessein qui m'amene,7 Je vais voir si son coeur α de I'amour pour moij Et c'est ce moment-ci qui doit m'en faire foi. (V,l) [Doch Schluß jetzt, denn ich wart' auf Celimene hier;/ Zustimmen soll sie meinem neuen Lebensplan;/ Dabei werd' ich ja sehn, ob sie mich wirklich liebt,/ Dies ist die Stunde, die es mit beweisen wird.] Wie bei allen unbedingt, d. h. kompromißlos, ethischen Weltanschauungen liegt auch auf dem Grund der Alcesteschen ein konstitutiver Dualismus, die Idee des Ja oder Nein, die Vorstellung einer stets zu treffenden Wahl, einer existentiellen und moralischen Entscheidung, vor der der Einzelne immer steht und die über seinen wahren Wert das Urteil spricht. Dies spitzt sich nun dramatisch zu. Celimene soll sagen, ob sie ihm ihr Herz exklusiv schenken und — als ob das nicht schon genug wäre — mit ihm in menschenferner Einsamkeit das Glück finden will. Die Szene wird einerseits verworrener, andererseits aber immer klarer durch aufgefundene Briefe der Celimene, in denen sie teils witzig, teils boshaft, aber stets treffend über Acaste und Clitandre, Oronte und Alceste, also die Männer 53

des Stückes, herzieht. Acaste, Clitandre und Oronte verlassen darauf empört ihr Haus; und so stehen, nachdem sich, kurz zuvor, auch Arsinoe von Alceste getrennt hat, nun der Menschenfeind und die so eigenwillig geliebte Celimene, zusammen mit dem letzten Freund Philinte und dessen Freundin Eliante, einander gegenüber. Die damit erreichte Vereinsamung Alcestes, an sich mehr das Ergebnis zufälliger Begebenheiten, entspricht jedoch so sehr seinen manifesten Intentionen, daß der Zustand eigentlich der ideale sein müßte. Er ist es jedoch nicht, denn Alcestes Idee geht auf eine Zweisamkeit in der Einsamkeit, und so drängt er Celimene zur Entscheidung. Eine Entscheidung, die auch dadurch das Gepräge einer ethischen Umkehr bekommen soll, weil Alceste sie ausdrücklich verstanden wissen will als Sühne für das bisherige kokett-extrovertierte Leben der jungen Frau: Oui, je veux biert, perfide, oublier vos forfaits;/ J'en saurai, dans mon äme, excuser tons les traits,! Et me les couvrirai du nom d'un foiblesse/ Oü le vice du temps porte votre jeunessej Pourvu que votre coeur veuille donner les mains/ Au dessein que j'aifait defuir tous les humainsj Et que dans mon desert, ou j'aifait voeu de vivrej Vous soyez, sans tarder, resolue ä me suivre:/ C'est par la seulement que, dans tous les espritsj Vous pouvez reparer le mal de vos ecritsj Et qu'apres cet eclat, qu'un noble cceur abhorrej II peut m'etre permis de vous aimer encore. (V,4) [Treulose, ja, ich will vergessen, was geschehn,/ Von Herzen die mir zugefügte Schmach verzeihn/ Und will all dem den Namen Schwäche leih'n, wozu/ Die lasterhafte Zeit die Jugend leicht verführt,/ Wofern Sie sich entschließen, einzuwilligen/ In meinen Plan, mit mir das Menschenvolk zu fliehn,/ Wenn Sie gesonnen sind, mir in die Einsamkeit/ Sogleich zu folgen, wo ich fortan leben will:/ Sie können so nur sühnen, was Sie vor der Welt/ Mit Ihren Briefen frevelten — nur so kann es/ Geschehn trotz Ihrer Untat, die ein edles Herz/ Verabscheu'n muß, daß ich Sie wieder lieben darf.] Das findet Celimene aus mancherlei Gründen doch etwas abseitig und deutet dies, durchaus höflich, auch an. Worauf Alceste in einem letzten Anfall von Wut ihr seinen persönlichen Abscheu ins Gesicht schleudert und sich von ihr löst: Puisque vous n'etes point, en des liens si douxj Pour trouver tout en moi, comme moi tout en vous,/ Allez, je vous refuse, et ce sensible outrage! De vos indignes fers pour jamais me degage. (V,4) [Wenn Ihnen aber solch ein süßes Band mit mir/ Nicht so wie mir Befriedigung verschaffen kann,/ Dann gehn Sie, ich verwerfe Sie; die schmerzliche/ Beschimpfung löst auf ewig mich aus Ihrem Bann.]. Die knappe Schlußszene lebt aus jener unentscheidbaren Mischung 54

von Tragik und Komik, die schon in der objektiven Situation angelegt ist und durch die Darstellung noch verstärkt wird. Einerseits macht nämlich Alceste der bislang eher übersehenen Eliante, die sich darum dem zuverlässigeren Philinte zugewandt hat, ziemlich deutliche Avancen, was unbestreitbar komisch ist angesichts des emphatischen Anrufs an Celimene, der nur Sekunden zuvor mit immensem Pathos an sie ergangen ist; andererseits ist Alceste jetzt wirklich allein, er hat alle oder sie haben ihn verlassen, und das ist tragisch, denn Alceste ist kein Einsiedler wie Timon, kein Menschen/j^sser im strengen Wortsinn, sondern ein Weltverbesserer, einer, die die Menschen braucht, den Disput, die Auseinandersetzung, er ist ein Prediger in der Wüste der Zivilisation, einer, der gerade dadurch eine Bestätigung seiner moralischen Überlegenheit und der Richtigkeit seines Weltbildes erreicht. Das alles wird ihm nun genommen. Jetzt muß er sich selbst beim Wort nehmen, muß die immer angedrohten Konsequenzen auch wirklich ziehen. So verläßt er den Schauplatz mit großer Gebärde: Trabi de toutes parts, accable d'injustices,/ Je vais sortir d'un gouffre oü triomphent les vices,! Et chercher sur la terre un endroit ecartel Oü d'etre d'honneur on ait la liberte. (V,4) [Verraten und erdrückt von Ungerechtigkeit,/ Aus einem Schlund, wo jedes Laster triumphiert,/ Flücht' ich und such' auf Erden mir ein Winkelchen,/ Wo man die Freiheit hat, ein Ehrenmann zu sein.] Aber er hat nicht, und damit bleibt wieder alles in der Schwebe, das letzte Wort. Das spricht der vernünftige Philinte, der Mann des common sense: Allons, Madame, allons employer toute chose,/ Pour rompre le dessein que son cceur se propose. (V,4) [Mein Fräulein, tun wir, was in unsern Kräften steht,/ Ihm seinen Vorsatz auszureden. — Kommen Sie!] So ist offen, ob wir uns einen endgültigen Rückzug Alcestes vorzustellen haben oder einen dramatischen Höhepunkt erleben, von dem aus nach einer Weile der Menschenfeind wieder in die Niederungen der alltäglichen Gemeinheit hinabsteigt, um sich an seiner Vorzüglichkeit und der Niederträchtigkeit der anderen masochistisch zu delektieren. Moliere entscheidet nicht für Alceste und nicht für uns; und da sollte der Interpret nicht klüger sein wollen als der Protagonist und der Verfasser. Am Schluß der Überlegungen zu Molieres Menschenfeind seien die wichtigsten Aspekte zusammengefaßt und in den Kontext des Misanthropenthemas gestellt. In Alceste lernen wir einen Menschenfeind kennen, der aus ethischem Rigorismus in ständige Konflikte mit seinen Mitmenschen gerät. Aufrichtigkeit ist dabei der zentrale Begriff, die zentrale Tugend seines Lebens. Er haßt die Menschen dafür, daß sie nicht 55

aus der gleichen Sehnsucht nach dem Unbedingten leben wie er. Gleichzeitig ist er, in scharfem Kontrast zu Shakespeares Timon, beflügelt — man könnte auch sagen: besessen — vom Willen, die Mitmenschen an ihre Perfektibilität zu erinnern. Dadurch stößt er immer und immer wieder hart mit den Dingen zusammen — mit den Verhältnissen und den Menschen, die diese Verhältnisse ebenso schaffen wie sie von ihnen geschaffen, geformt, verformt sind. Eine Differenzierung, welcher Art auch immer, lehnt Alceste ab: Was nicht weiß ist, ist schwarz; was nicht gut ist, ist böse; was nicht edel ist, ist schurkisch; wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. So träumt er, wie Iphigenie, von Menschen, zwischen denen Wahrheit sei. Aber er verurteilt sie, anders als Iphigenie, mitleidlos, wenn sie diesem hehren Ziel nicht gänzlich gerecht werden können oder wollen. Alceste denkt in absoluten Kategorien: Schon eine Lüge beschmutzt die Welt und den Menschen, der sie ausspricht; schon eine Hinterhältigkeit und Gemeinheit ist ein Riß im sittlichen Gebäude der Welt. Er weigert sich, der gängigen Trennung der Sphären zuzustimmen; wo die anderen bewußt oder unbewußt ihr Leben scheiden in eines des Alltags, eines der Religion, eines der Kunst — zum Beispiel, auch ganz andere Separierungen sind denkbar — da insistiert er auf der Totalität jedes einzelnen Lebens, der Untrennbarkeit der Person und der gelebten Existenz, auf dem unbedingten Primat der Wahrheit und der Identität mit sich selbst. Das ist, wie er zwar sieht und weiß, aber zu akzeptieren sich weigert, zu viel verlangt, zu viel erwartet. So kommt er, auch darin konsequent und radikal, nicht umhin, die Menschen zu verachten und zu hassen. Was nicht dasselbe ist: Er verachtet sie wegen ihrer Feigheit und Schwäche, er haßt sie wegen ihres dumpfen Egoismus und ihrer Hinterhältigkeit. Er träumt von Menschen, die in Aufrichtigkeit und Freiheit miteinander leben, und er sieht jeden Tag aufs neue, wie dieser Traum zerrinnt. Aber seine Konsequenz ist nicht, den Traum aufzugeben, wie die meisten Menschen, die ihn auch einmal geträumt haben, ihn längst aufgegeben haben, sondern sie liegt darin, ihn unermüdlich der schäbigen Alltäglichkeit entgegenzuhalten. So mag man den Alceste charakterisieren, seine Intentionen und die Konsequenzen der Intentionen. Aber unbestreitbar ist diese Molieresche Bühnenfigur nicht nur, vielleicht nicht einmal überwiegend, der edle Charakter, als der er unter den jetzt skizzierten Aspekten erscheinen muß. Er ist manchmal komisch, versponnen, selbstgerecht. Seine Gegenspieler sind ja nicht immer und ausschließlich die boshaften und modischen Alltagsmenschen, sondern es gehört dazu auch der nüchterne und abwägende, der 56

keineswegs dümmliche oder modische Philinte, der den Typ des vernünftigen und ausgleichenden Mannes mit gesundem Menschenverstand verkörpert. Er vertritt die Position der Ratio, der vorurteilslosen Welt-Betrachtung ohne Zynismus und Illusionen. Er kennt die Menschen, aber verurteilt sie nicht total; er wägt ab, rückt zurecht, entschuldigt da, wo er glaubt, daß Alcestes Rigorismus die menschliche Natur überfordert. So wie Alcibiades im Timon ist hier Philinte eine Gestalt des Ausgleichs und der pragmatischen Lebensgestaltung und Menschenkenntnis. Von da aus betrachtet, ist Alcestes Wille zur Unbedingtheit eben auch komisch. Es ist kein rationales Verhalten, es ist outriert, ungesellig und eigenbrötlerisch; es verabsolutiert eine Tugend, die Aufrichtigkeit, bis sie in ihr Zerrbild umschlägt. Auch Timon kannte kein Maß. Ahnlich und doch ganz anders ist Alceste ein Träumer des Absoluten. Darüber darf bei Moliere, in signifikantem Gegensatz zu Shakespeare, gelacht werden. Goethe hat in der kurzen Besprechung einer französischen Histoire de la Vie et des Ouvrages de Moliere (1828)3 einige Sätze zu Molieres Menschenfeind formuliert, die abschließend in Erinnerung gerufen zu werden verdienen: »Wir möchten gern Inhalt und Behandlung dieses Stücks tragisch nennen; einen solchen Eindruck hat es wenigstens jederzeit bei uns hinterlassen, weil dasjenige vor Blick und Geist gebracht wird, was uns oft selbst zur Verzweiflung bringt und wie ihn aus der Welt jagen möchte.« Dieser Aspekt, den Alceste als identifikatorisches Modell zu begreifen, durch das die Bösartigkeit der Welt entlarvt wird, ist natürlich vollständig legitim. Ein Einzelner mit großen und edlen Absichten trifft auf eine Gesellschaft, die sich nach anderen Gesetzen bewegt; nur daß das der Einzelne nicht innerlich akzeptieren kann. Wenn beide zusammenstoßen, und das müssen sie logischerweise, kollidieren zwei Prinzipien: das der Aufrichtigkeit und das des Kompromisses; letzteres ein Interessenausgleich, der sich rasch zur Herrschaft der Lüge entwickeln kann. Diese Kollision kann der Zuschauer oder Leser unter verschiedenen Aspekten betrachten, als komisches Scheitern eines realitätsfernen Weltverbesserers oder als tragisches Scheitern eines guten und ethisch unbeugsamen Helden, für den auf diesem Planeten kein Platz ist. Das sind die Alternativen. Muß sich auch der Interpret, wie Alceste es ständig fordert, entscheiden? Oder ist vielleicht ein Leben aus konsequentester ethischer Maxime heraus immer beides zugleich?

3

Erschienen in der Zeitschrift Über Kunst ( H a m b u r g e r A u s g a b e , B a n d 12, S. 353 f).

und Altertum,

B d . 6, H e f t 2, 1828

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III. F r i e d r i c h Schiller: Der versöhnte

Menschenfeind

Nach den beiden Dramen Shakespeares und Molieres ist die dritte Station innerhalb der hier aufgebauten Genealogie ein deutscher Text, Schillers Fragment Der versöhnte Menschenfeind,1 Auch dies ist ein Theaterstück, zumindest Ansätze zu einem; ein Anfang, nur wenige Szenen, die, kaum daß sich erste dramatische Konfigurationen abzeichnen, schon wieder abbricht. Schiller hat 1786 mit der Niederschrift begonnen, sich den Text noch einmal 1788 vorgenommen, aber rasch aufgegeben. Im Dezember 1790 veröffentlicht er die vorliegenden Bruchstücke in der Zeitschrift Thalia unter dem Titel »Der versöhnte Menschenfeind. Einige Szenen«. Noch zu Lebzeiten Schillers wird der Text ein zweites Mal gedruckt: 1802 in einer Sammlung kleinerer prosaischer Schriften unter dem Titel »Der Menschenfeind. Ein Fragment«. Uber diesen Text hat sich Schiller nie sehr ausgiebig geäußert; die wichtigste Notiz ist eine Bemerkung in einem Brief an Körner vom 26. November 1790, also kurz nach dem Abbruch der Arbeit und kurz vor der Publikation der wenigen Szenen: Das eilfte Stück der Thalia wird nun wohl in Deinen Händen sein, und die Bogen von dem Menschenfeind. Hätte ich irgend noch den Gedanken gehabt, ihn auszuarbeiten, so wäre er nie in die Thalia eingerückt worden; aber diesen Gedanken habe ich nach der reiftsten kritischen Überlegung und nach wiederholten verunglückten Versuchen aufgeben müssen. Für die tragische Behandlung ist diese Art Menschenhaß viel zu allgemein und philosophisch. Ich würde einen äußerst mühseligen und fruchtlosen Kampf mit dem S t o f f e zu kämpfen haben und bei aller Anstrengung doch verunglücken.2 Dem ist zwar nicht sehr viel, aber doch immerhin zu entnehmen, daß Schiller das Dilemma zwischen den Anforderungen der Bühne, der dramatischen Gestaltung eines gegebenen Stoffes und der vorliegenden Konstellation als unüberwindlich ein-

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Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 5 Bände. München 51974; hier 2. Band, S. 1053-1075. Schiller: Sämtliche Werke, Bd 2, S. 1296.

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schätzt, eine Konstellation, die er als zu »allgemein und philosophisch« begreift. Und in der Tat ist der Text eher ein philosophischer Traktat als etwa die Exposition eines Bühnengeschehens, eher eine freilich sprunghafte Reflexion als der Beginn einer Verwicklung oder Spannung zwischen psychologisch glaubhaften Gestalten. Hier wird das Fragmentarische, das fast alle Misanthropengestaltungen bedroht, oder, wertneutral formuliert: bestimmt, an die Grenze des noch Nachvollziehbaren getrieben, hier sind nun wahrlich einige zentrale Fragen unbeantwortbar. Eine Handlung ist bloß angedeutet, Konflikte bestenfalls erahnbar, die Philosophie eines Misanthropen begrifflich so reduziert, daß sie nur in Ansätzen rekonstruiert werden kann. Dies sei schon hier und jetzt gesagt nicht als Entschuldigung, sondern als Erklärung für manche interpretatorische Unsicherheit, für den hypothetischen Charakter mancher Aussage. Das Fragment besteht aus acht Szenen, in normalem Druck etwas weniger als 25 Seiten. Die entscheidenden Protagonisten sind der Menschenfeind von Hutten und seine Tochter Angelika. Die anderen Figuren spielen nur die Rolle von Stichwortgebern oder sind dazu da, den Auftritt von Huttens durch Charakterisierung und antizipierende Sentenzen vorzubereiten. Denn dieser von Hutten, ein immens reicher Gutsbesitzer, ist ein so eigenwilliger Charakter, daß eine Vorstellung, eine Art Einführung in sein Wesen, durchaus geboten erscheint. Die Szenen spielen ausnahmslos im Park des Huttenschen Anwesens, was zu bemerken nicht überflüssig ist, weil es für die philosophische Ideenwelt des Misanthropen den nicht nur realen, sondern auch und vor allem metaphorischen Hintergrund abgibt: Wie so viele Menschenfeinde mißt auch von Hutten seine Mitmenschen an der Natur, an deren Erscheinung und supponiertem Wesen. Wir befinden uns zu Beginn also im Park, und die Tochter des Hauses spricht mit dem Gärtner, der den Namen Biber trägt; man weiß nicht, ob's ironisch gemeint ist. Dieser Gärtner ist die personifizierte Sorgfalt und Güte: Er arbeitet und müht sich wahrhaft vorbildlich, und sein Herr von Hutten ignoriert den Garten, seine Arbeit, ignoriert die Blumen, die Schönheit und Harmonie der gestalteten und gestaltenden Welt. Ich bin da, wie die Sonne kommt, und freue mich schon im voraus der Herrlichkeit, wenn ich den gnädigen Herrn einmal werde hereinführen. Es wird Abend — und wieder Abend — und der Herr hat sie nicht bemerkt. Sehen Sie mein Fräulein, das schmerzt mich. Ich kanns nicht leugnen. (S. 1053) Was den anderen Menschen Erholung 59

und Gemütsergetzung zu verschaffen in der Lage ist, es zumindest in Topos und Uberlieferung tut oder tun könnte — das wird vom Misanthropen nicht zur Kenntnis genommen. Er geht einer Begegnung mit dem Garten sozusagen aus dem Weg; wir wissen noch nicht warum, ahnen aber bereits jetzt oder sollen ahnen, daß das Naturverständnis von Huttens konstitutiv ist für sein Welt- und Menschenverständnis. Darum diese Exposition, die Klage des Gärtners. Er artikuliert das gängige Verständnis von Natur als Ort der menschlichen Rekreation und als erscheinende Schönheit, als Emanation eines auch den Menschen bestätigenden, einbeziehenden Sinnzusammenhangs. Er formuliert das natürlich etwas anders; es sei jedoch erlaubt, es so auf den Begriff zu bringen. Der Park ist gestaltete Natur und gestaltende, wachsende, ist Ort zivilisatorischer Formung und autonomer Kraft und Schönheit, ist natura naturata und natura naturans. Biber fährt dann fort: Er ist noch nicht in seiner Baumschule gewesen. Bitten Sie ihn, daß er mir erlaube, ihn in seine Baumschule zu führen. Es ist nicht möglich, diesen Dank einzusammlen von der unvernünftigen Kreatur, und Menschen verlorengeben. Wer darf sagen, daß er an der Freude verzweifle, solange noch Arbeiten lohnen und Hoffnungen einschlagen? (S. 1054) Was der redliche Biber hier sagt oder herstellen will, ist die durchaus naheliegende Verbindung von der Einsicht in die Harmonie der Natur und einer Hoffnung auf Güte und potentielle Harmonie im Menschen. Kann man, so seine Idee, die Natur erblicken, sie in ihrer Schönheit und Ordnung wahrnehmen und dann trotzdem den Stab über den Menschen, der ja an dieser Natur und damit an der Schönheit und Ordnung partizipiert, brechen? Für den Gärtner eine rhetorische Frage, und dies in doppelter Hinsicht: Denn er sieht in Angelika, der Tochter des Menschenfeindes, das menschliche Analogon zur Natur, sieht in ihr die menschgewordene Erscheinung von Schönheit und Harmonie, die Vollkommenheit schlechthin. Der gnädige Herr mögen viel erfahren haben von Menschen — der schlecht belohnten Erwartungen viel, der gescheiterten Plane viel — aber (die Hand des Fräuleins mit Lebhaftigkeit ergreifend) eine Hoffnung ist ihm aufgegangen — alles hat er nicht erfahren, was eines Mannes Herz zerreißen kann —. (S. 1054) In seiner Tochter sieht von Hutten unmittelbar die prinzipielle Richtigkeit, sieht er die Perfektion der Natur: Wenn ein solcher Mensch wie Angelika sein kann, wenn es etwas derartig Vollkommenes überhaupt gibt, dann muß die Menschheit Teil der naturhaften Harmonie sein, muß partizipieren an der Schönheit und Richtigkeit der Existenz. Die Bestimmung der Natur rückt also auch hier in den Mittelpunkt der 60

misanthropischen Welt-Sicht — noch unklar und schattenhaft, andeutungsweise freilich sehr different zu Timons Naturverständnis und auch dem später bei Arno Schmidt. Die inhaltliche Bestimmung von Natur samt der Wertung, ja schon die Interpretation einzelner Naturphänomene sind überall deutlich verschieden. Aber überraschenderweise ist die Konsequenz, der Menschenhaß, stets die gleiche. Am Ende der Ersten Szene von Schillers Fragment läßt sich immerhin sagen, daß von Huttens Einstellung zur Natur und zu seiner Tochter die bestimmenden Pfeiler seines ideologischen Systems der Misanthropie bilden werden. Angedeutet ist, daß um ihn herum Harmonie, Güte und Schönheit herrschen, bei den Menschen so wie in der gestalteten Natur, dem geflegten Park. Der sich dabei möglicherweise aufdrängende Einwand, es handle sich eben um die vom Menschen gezähmte, die quasi human veredelte Natur, ist an sich nicht falsch, geht aber dennoch an dem Ideengehalt des Fragments entscheidend vorbei. Denn der Park ist, wie wir bald erfahren werden, auch in von Huttens Vorstellung die zu sich selbst gekommene Natur, nicht etwa ihr durch Menschenwillkür verursachtes Zerrbild. In der Harmonie des Parks wird die grundsätzliche Harmonie der Natur evident, wird ihre immer latent existente Schönheit anschaulich. Und in der Tochter, so ließe sich vorläufig sagen, wird die grundsätzliche Perfektibilität evident und anschaulich. In der Fünften Szene tritt von Hutten zum ersten Mal auf; in den Szenen Zwei bis Vier wird er von seiner Tochter und deren Freund Rosenberg charakterisiert bzw. es versucht der junge Mann, sich ein Bild von ihm zu machen, kennt er ihn doch nur aus Schilderungen Angelikas. Die junge Frau ist in großer Spannung, will sie doch heute ihrem Vater den Freund Rosenberg vorstellen, den sie — und da ist ein gravierender Konflikt angelegt — gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters kennengelernt hat. Denn der hat sie, was der Leser erst später in einem größeren ideellen Kontext sehen kann, von Begegnungen mit Menschen, besonders Männern, quasi per Dekret ausgeschlossen; sie darf nur mit denen innerhalb des väterlichen Anwesens umgehen. Diese befremdliche Verdammung zu ewigem Gefängnis, diese Verbannung in den Kreis der Familie hat Angelika zunächst widerspruchslos hingenommen, weil sie den Vater liebt und dessen misanthropische Distanz zu Welt unbefragt verinnerlicht, obwohl oder weil sie diese Welt gar nicht kennt. Mir zur Lust schuf er diese Gegend zum Paradies, und ließ alle Künste wetteifern, das Herz seiner Angelika zu entzücken und ihren Geist zu veredeln. Ich bin eine Königin in diesem Gebiet. [...] Und für alles dieses, Wilhelmine, legt 61

er mir nur die leichte Bedingung auf, eine Welt zu entbehren,

die ihn von

sich stieß. (S. 1056) In diesen wenigen Sätzen sind einige Motive angedeutet, die teils von Shakespeare oder Moliere her bekannt sind, teils jedoch neu und für die Entwicklung der Misanthropen-Vorstellung bedeutsam sind. Wir haben den Schillerschen Menschenfeind da, wo er erklärtermaßen immer hin will: in die Einsamkeit, in eine Welt außerhalb der Welt, ins Menschenlose, in ein Leben im Verborgenen. Aber dieser Abbruch der Kontakte wird nicht bis zur radikalsten Konsequenz getrieben; denn er hat ja seine Familie und die Bediensteten um sich und vor allem die Tochter. So ähnelt also diese Versuchsanordnung eher einer Idylle

als etwa der mönchischen Abgeschiedenheit Timons oder des

Schmidtschen Ubermenschen in der Pharos-Erzählung. Und nicht nur das: Der Menschenfeind gestaltet seinen Besitz um zu etwas, was seine Tochter ein Paradies nennnt, sein Landgut, das sich der Leser als beträchtlich großen Besitz vorzustellen hat. Die liebevolle Fürsorge, die Angelika zuteil wird von ihrem Vater, entspringt nicht nur selbstverständlicher menschlicher Zuneigung, sie ist auch zweckgerichtet und aufs engste verknüpft mit von Huttens Welt- und Menschenverachtung; was die Monologe von Huttens deutlich machen. Wir sehen schon hier eine interessante Variante der misanthropischen Weltflucht: die einer paradiesischen

Gegenwelt,

Errichtung

die freilich nicht verlassen werden darf

oder nur um den Preis des väterlichen Liebesentzugs. Der Menschenfeind schafft sich eine Idylle, eine Welt der Ordnung und der Harmonie, der Menschenfreundschaft und Güte (spätestens die Sechste Szene, die mit den Bauern, läßt daran keinen Zweifel mehr). In diesem abgeschlossenen Kosmos gelten die Gesetze der Natur, unbeschmutzt von menschlicher Fehlerhaftigkeit; es gelten Gesetze, die von Hutten nicht nur zu kennen glaubt, sondern die er auch in ihrer ganzen Reinheit und Konsequenz zu verwirklichen angetreten ist. Von seiner Tochter, seinem Geschöpf nicht nur in biologischer Hinsicht, verlangt er, daß sie in diesem Paradies bleibe, es nie verlasse, die anderen Menschen meide, also nie aus dem artifiziellen Gegen-Leben heraustrete. Gewisse Anklänge an die biblische Schöpfungsgeschichte, an Paradies und Sündenfall, an den göttlichen Vater und die mögliche Auflehnung der geschaffenen Menschen sind unübersehbar, ohne daß sie über Gebühr strapaziert werden sollten; schließlich bleibt der Text Fragment und folglich die Erörterung müßig, wie sich die Handlung entwickelt hätte. In Umrissen wird immerhin ein von Hutten deutlich, der ein Geschöpf seines Willens und nach seinen Vorstellungen zu erschaffen den Plan hat, diesem Menschen alles ge62

währt, nur eines nicht: die ungefilterte menschliche Erfahrung, die empirische Realität außerhalb der idyllischen Welt, das Verlassen des Paradieses. Genau dieses Sündenfalls hat sich Angelika nun aber schuldig gemacht. Sie hatte einmal das Paradies verlassen, dabei Rosenberg getroffen und sich in ihn verliebt. Und sie versteht das — von den Prämissen her: völlig zu Recht — als Akt des Ungehorsams. Ich bin ihm (dem Vater, B. S.) ungehorsam geworden. Meine "Wünsche sind über diese Mauern geflogen — Ich bereue es, aber ich kann nicht wieder umkehren. (S. 1056) Das Verlassen des Paradieses, das Essen von der Frucht des verbotenen Baumes, ist ein irreversibler Akt, ein Ausbruch aus einer vor-subjektiven Ordnung, in der der Einzelne willenlos die Rolle zu spielen hat, die eine heteronome Macht ihm zuteilt. Einmal diese fremde Bestimmung abgeschüttelt, kann der nun in die Offenheit entlassene Mensch niemals wieder zurück. Ideen und Systementwürfe dieser oder verwandter Art sind in Klassik und Romantik außerordentlich häufig, beinahe schon Gemeingut der Zeit. In Schillers Fragment werden solche Gedanken nicht weiter entfaltet. Angelika formuliert allerdings so präzise — bei aller Bildhaftigkeit — daß der Interpret durchaus legitimiert ist, in der Beziehung von Hutten zu seiner Tochter eine Variante des Schöpfungsmythos zu sehen, ein gleichzeitig aufgeklärtes wie ausschweifend mythisches Bildungsprogramm, prometheisch und didaktisch in einem. In grandiosem Entwurf will da einer, dem die Welt nicht genügt, eine Gegenwelt schaffen, und in ihr einen Menschen, eben seine Tochter, zur Vollkommenheit heranbilden. Sie wird ihm oder soll ihm werden ein Mittel zum Zweck — zu welchem, sagt der Text an dieser Stelle noch nicht. Aber dieses Kunstgeschöpf, dieses Geschöpf einer kreativ-künstlerischen Phantasie, weigert sich, sich dieser Bestimmung zu fügen; oder, besser gesagt: sie weigert sich gar nicht direkt; ihre Sehnsucht, die der Vater objektlos gelassen hatte — sie ist in seine Pläne nicht eingeweiht — treibt sie aus dem Paradies, und sie verliebt sich. Das war nicht vorgesehen. Aber nun kann sie nicht wieder zurück. Ich habe Leben gekostet, kann mich mit der toten Bildsäule nicht mehr zufrieden geben. Ο wie jetzt alles verwandelt ist um mich herum. (S. 1057) Sie beteuert weiter ihre Liebe zum Vater, aber sie ist nicht mehr kindliches Objekt, nicht mehr fremdbestimmter Teil in dem misanthropischen Plan des Vaters. Auf der einfachsten Ebene des Verständnisses ist es der Konflikt zwischen der Anhänglichkeit an den Vater und der Liebe zum jungen Rosenberg. Aber darüberhinaus werden schon hier die Kon63

turen einer viel weitergehenden Spannung deutlich: nämlich der zwischen dem Anspruch des Misanthropen auf eine Position der Auserwähltheit, von der aus er als zweiter Schöpfer (»proprior deus«) Macht über Menschen und Dinge beansprucht, und dem souveränen Recht des Einzelnen, sich dem fremden Willen zu entziehen. Im Konflikt von Hutten — Angelika erscheint dieser Anspruch gleichsam unsublimiert, direkt und daher leicht durchschaubar: als Anspruch an einen Menschen, sich den Zielen des Wissenden bedingungslos unterzuordnen. Alcestes Ultimatum an Celimene, mit ihm die verderbte Welt zu verlassen, war nur eine schwache Antizipation der von Huttenschen Pläne. Angelika wird nicht einfach im Paradies in strikter Isolation gehalten, sie soll auch ein Mensch ganz nach seinen Vorstellungen werden, ein neues Wesen, geschaffen aus seiner enttäuschten und verbitterten, vor allem: rachsüchtigen Phantasie. Aber so perpetuiert der Misanthrop natürlich den Zynismus und die moralische Inferiorität der Menschen, denn ganz unabhängig von den Zielen des Erziehungsexperiments ist allein schon der Vorgang ein Ergebnis jener Menschenverachtung, die der sensible von Hutten überall spürt und auf die er mit gesteigerter Verachtung reagiert. Erst eine Gegen-Welt ohne Menschen wäre eine wirkliche Gegen-Welt, öffnete die Chance einer radikal und kategorial anderen Sphäre, die nicht von der empirischen kontaminiert wäre. Erst eine Welt in der und aus der autonomen Phantasie, eine Welt des Geistes und der intellektuellen Produktivität könnte so etwas wie ein schuldloser Kosmos sein oder an einem partizipieren. Nur in einer solchen Welt setzen sich die Verderbnisse der Welt nicht fort. Indem von Hutten seine Tochter zum Objekt seines Willens, zum Mittel zu seinem Zweck — ganz unabhängig davon, wie der dann inhaltlich designiert wird — macht oder gemacht hat, hat er in Wahrheit die Welt nicht verlassen, sondern ihre Strukturen wiederholt und sie damit schuldhaft weitergeführt. Erst der Sprung in den Tod oder eine Form geistig-künstlerischer Tätigkeit, eine autonome Schöpfung, birgt in sich die Möglichkeit eines neuen Weges, eines Absprungs aus der Empirie. In der Fünften Szene tritt nun endlich von Hutten auf, nachdem so ausgiebig schon von ihm die Rede gewesen war. Es ist sein 50. Geburtstag, wie bald angedeutet und in der Achten Szene mitgeteilt wird. Ein Tag also des Nachdenkens, des Rückblicks und der Vorausschau. Wir lernen ihn zunächst kennen in einem Dialog mit dem Haushofmeister. Es geht um Details der Verwaltung, um Schulden und einzelne Bedienstete des Landguts. Die Szene, so kurz sie ist, enthüllt doch eine ex64

zeptionelle, von komischen Zügen nicht freie Güte und Menschenfreundlichkeit des Misanthropen. Als erstes erläßt er Schuldnern ihre Schulden samt den Zinsen, Geld, das er nach einer Überschwemmung als Hilfe verliehen hatte. Die Begründung gegenüber dem darob konsternierten Verwalter lautet: Der Acker hat sich erholt, der Mensch soll nicht länger leiden, als seine Felder. (S. 1061) Also eine völlige Umkehrung der Timonschen Position, der den Menschen als apriorisch Schuldigen noch stoßen wollte, wenn er schon fiel. Als zweites rettet von Hutten ein Pferd vor dem Verkauf und möglichem Tod, ein Tier, das ihn offenbar einmal abgeworfen hatte: Soll das edle Tier darum vor dem Pfluge altern, weil es in zehen Jahren einmal falsch gegen mich war? So hab ich es mit keinem gehalten, der mir mit Undank lohnte. (S. 1061) Aber diese vermeintliche oder tatsächliche Güte enthüllt schon bald ihre Doppelbödigkeit; und dieser zweite, tiefere Boden ist die Uberzeugung von der gänzlichen Nichtigkeit der Menschen angesichts dessen, was sie eigentlich sein könnten. Damit ist die Philanthropie von Huttens als moralisch und logisch höchst fragwürdiges Tun bereits relativiert; sie ist nämlich durch und durch getränkt mit Verachtung. Aus einer mißverständlichen Begebenheit folgert von Hutten — wir sind immer noch im Gespräch mit dem Haushofmeister — daß einer seiner Bediensteten zum Dieb geworden sei. Darauf reagiert er eher seltsam: Das freut mich, freut mich — daß er doch endlich noch zum Schelm geworden ist, dieser Rentmeister. (S. 1061) Als er erfährt, daß dem ein MißVerständnis zugrundelag, sagt er: Er soll aber ein Betrüger sein [ . . . ] (S. 1062) Zentral ist in dieser Fünften Szene, ist all diesen kurzen Episoden, die Verbindung von evidenter Güte und praktizierter Philanthropie auf der einen Seite und einer dicht unter der Oberfläche von Wort und Tat verborgenen ideellen Menschenverachtung. Je schlechter sich die Menschen geben, je verdorbener sie erscheinen: desto besser, denn dies ist ihr wahres Wesen. Und darum muß man sie doppelt verachten: wegen ihrer moralischen Verdorbenheit und wegen ihrer Heuchelei. Aus diesen Prämissen, die von Timon und Alceste her, mutatis mutandis, durchaus vertraut sind, zieht von Hutten ganz andere Konsequenzen. Er will die Menschen nicht vernichten oder vernichtet sehen, ganz im Gegenteil ist er das Muster eines aufgeklärten Wohltäters, sondern er will ihnen in einer wahrlich verstiegenen idealistischen Konstruktion in der Gestalt seiner Tochter einen vollkommenen Menschen präsentieren und ihnen so ihre eigene Nichtswürdigkeit vor Augen stellen. Auch in der Sechsten Szene ist diese eigentliche Intention von Huttens noch nicht in ihrer gesamten Tragweite und Bedeutung entfaltet. Es 65

ist eine Szene, in der die »Vasallen«, wie es in der Regieanweisung heißt, zu von Hutten kommen, also Bürger und Bauern, die einmal Leibeigene gewesen waren und die der misanthropische Philanthrop »zu Menschen gemacht« hat, wie einer der Alten sagt. Sie gratulieren ihrem Wohltäter zum 50. Geburtstag, in größter Verehrung und Dankbarkeit. Die Szene ist konstituiert durch den Kontrast zwischen der schier überschwenglichen Adoration der »dankbaren Untertanen« und den melancholisch-abschätzigen, weitausgreifenden Sätzen von Huttens. Zwar sagt er zu Beginn: Ich sehe die Gesundheit in euren Augen und Wohlstand auf eueren Kleidern. Es ist nichts mehr zu wünschen übrig. Ich hab euch glücklich gemacht. (S. 1064) — aber selbst das ist eigentlich pejorativ gemeint: Denn glücklich sollen sie ja angesichts ihrer Mediokrität gerade nicht sein, oder anders: glücklich können sie nur angesichts ihrer Mediokrität sein, könnten es unmöglich sein, wären sie so, wie von Hutten sie haben möchte. Denn er liebt sie nicht, die Menschen, er ist nur ihnen gegenüber gnadenlos wohltätig, von jener gleichgültigen Wärme, wie sie die Sonne über Gerechte und Ungerechte ausgießt, gleich unbekümmert um die Fliege, die sich darin sonnt, und um dich, der ihr himmlisches Licht mit seinen Lastern besudelt — Was sollen mir diese Gaben f Von meiner Liebe habt ihr euer Glück nicht empfangen. Mit gebührt nichts von der eurigen. (S. 1065) So freundlich und dankbar sie sich geben, so gemein und verworfen sind sie in der Tiefe ihres Herzens. Nichts als »Verleumdung«, »Wucher«, »Mißgunst«, »Tücke«, »Schuld« wohne in ihnen — und wir wissen nicht, ob sie solche Reden schon gewohnt sind oder das Gewitter sie unvorbereitet überrascht. Wie auch immer: Sie alle sind verdammenswürdig. Die Gerechtigkeit meines Hasses lebt von euren Lastern. (S. 1066) Zumindest die Selbstgerechtigkeit von Huttens kann es mit der Timons und Alcestes durchaus aufnehmen. Seine Güte enthüllt sich so als eine Funktion seiner universalen Verachtung, die nicht die alltäglichen Verfehlungen der Menschen zur Basis ihrer Intensität macht, sondern von deren So-Sein, also ihrer fehlenden Vollkommenheit initiiert wird. Die originäre Schuld liegt in ihrer Selbstgenügsamkeit, ihrem fehlenden Willen, über sich hinauszuwachsen, jener Uber-Mensch werden zu wollen, zu dem von Hutten seine Tochter erziehen will bzw. erzogen zu haben glaubt. Die Bürger und Bauern aber in ihrer dumpfen Beschränktheit erziehen ihre Kinder wieder nur zu Abbildern ihrer selbst. Ο sie alle werden ihren Vätern gleichen, alle diese Unschuldigen werdet ihr nach eurem Bilde verstümmeln, alle dem Zweck ihres Daseins entführen - (S. 1066) 66

Von Hutten, so dürfte jetzt deutlich geworden sein, verzweifelt nicht an dem satanischen Charakter der Schöpfung und nicht an den verlogenen zivilisatorischen Verkehrsformen der Vielzuvielen, sondern an dem Unwillen oder der Unfähigkeit der Menschen, einen Entwurf über sich hinaus zu wagen, die ihnen, seiner Vorstellung zufolge, inhärente Perfektibilität zu aktualisieren und so zu werden, wie sie werden könnten. Woher nimmt nun aber von Hutten die Gewißheit einer solchen den anderen verborgenen Möglichkeit, woher stammt die letztlich so immens optimistische Anschauung vom wahren Wesen des Menschen? In den Szenen 7 und 8, die ein knappes Drittel des Fragments ausmachen, wird das immerhin in den Grundzügen deutlich, wenngleich noch viele Fragen offenbleiben. Schillers eigenwilliger Misanthrop rekurriert in dem langen Monolog, der die Siebente Szene ausfüllt, auf die Natur, auf die Schöpfung als Zentralkategorie seiner Welt-Sicht, übrigens auch auf einen »Schöpfer«, ohne daß der ernsthaft in die philosophischen Reflexionen einbezogen würde. Die Schöpfung, die uns umgebende Natur, sei, so von Hutten, schön und vollkommen. Die Harmonie der Welt ist das Ergebnis der zu sich selbst gekommenen Intention der Schöpfung, die auf Schönheit und Wohlklang abzielt und dieses Ziel auch erreicht, nur nicht im Menschen, beim Menschen. Der Mensch, der schönste Gedanke des Schöpfers, zerstört diese Harmonie und frevelt an seiner Bestimmung. In schärfstem Gegensatz zu Timons Erkenntnis von der absoluten und unrettbaren Verderbnis aller Geschöpfe, Dinge und Relationen, insistiert hier der Menschenfeind auf der Vollkommenheit von Welt und Kosmos. Alles ist an sich gut. Nur der Mensch trübt den reinen Sphärenklang, zerstört, verwirrt, bringt Häßlichkeit und Konfusion in den Garten Eden. Dankbar tragen alle Kinder der Natur der zufriedenen Mutter die gereiften Früchte entgegen, und wo sie gesäet bat, findet sie eine Ernte — Du allein, ihr liebster, ihr beschenktester Sohn, bleibst aus — nur was sie dir gab, findet sie nicht wieder, erkennt sie in seiner entstellten Schönheit nicht mehr. (S. 1067) Und wodurch geschieht das, was bringt den Mißton in die Sphärenmusik? Von Huttens Kosmogonie, seine Geschichte der Vertreibung aus dem Garten Eden bleibt eher dunkel, bildet jedenfalls keinen konsistenten philosophischen Gedankengang. Zentral ist ihm der Begriff der »Leidenschaft«, die das »goldne Spiel« zerstört habe, »die wilde Begierde«, der »Haß«, die »Habsucht«, also die Emotionen, die Welt des Triebs, des Willens, der Gier nach Macht und Lust. So tritt der Mensch aus der harmonischen Stimmung heraus, so wird alles gebrochen und trübe, wird aus Leben 67

Tod. Die Natur sei, so von Hutten, genügsam und gleichmütig — lassen wir beiseite, woher diese anthropomorphe Definition von Natur stammt und ob sie auch nur in Ansätzen haltbar ist, selbst wenn man sich auf die Prämissen einläßt; wichtiger ist der unaufhebbare Gegensatz zwischen der Perfektion der Natur und der schuldhaften Verwirrung und Beschränktheit des Menschen. Dessen »wilde Begierde« verdunkelt alles. Das Chaos der Leidenschaften trennt den Menschen von seiner biologischen Herkunft, von der Natur, macht ihn, der zum Höchsten bestimmt ist, zum tiefsten Geschöpf, das die »wohltätigen Zwecke« der Schöpfung in ihr Gegenteil verkehrt. Von Hutten setzt die menschlichen Leidenschaften jenem bösen Prinzip gleich, das die paradiesische Harmonie der Natur aus dem Gleichgewicht gebracht hat und weiterhin ständig in Unordnung hält. Das dürfte etwas anderes sein als die der Romantik vertraute Idee der Vertreibung aus dem Paradies einer vor-bewußten Einheit durch den Intellekt, also einer Entfremdung des Menschen von seinen elementaren Wurzeln durch das Hinzutreten des Verstandes, der Reflexivität. Schillers Menschenfeind hadert mit den Menschen, weil sie Begierden, Wünsche, Leidenschaften besitzen, weil sie den »ruhigen Spiegel« der Natur ständig aufwühlen. Von der menschlichen Intellektualität ist nicht die Rede; es bleibt — und das mag wieder mit dem Fragmentcharakter zusammenhängen — unklar, inwiefern der Absturz des Menschen aus der Höhe der naturhaften Ruhe in die Tiefen des nie zu befriedigenden Willens bedingt oder »n'tbedingt ist durch die Reflexion, die den Menschen, was man von Hutten wohl entgegenhalten müßte, viel nachhaltiger und irrevokabler vom Rest der Schöpfung trennt als die instinkthaften Triebe, die ja gerade das Leben der Tiere in unterschiedlichem Maß konditionieren. Also: Die Schöpfung ist verdunkelt durch das Wollen des Menschen, wo der Mensch wandelt, verschwindet mir der Schöpfer. (S. 1068) Mit diesem Satz endet der Monolog von Huttens. Nun tritt seine Tochter zu ihm, und es wird langsam klar, welche Rolle ihr in seinen Plänen zugewiesen ist, wie sie in der Welt der Verwirrung eine neue Möglichkeit verkörpern soll und was das genuin Misanthropische an dieser Erziehungsmethode ist. An seinem 50. Geburtstag will er sein Haus bestellen, die Tochter in sein Projekt einweihen und einweisen, sie aus einem Objekt seiner Intentionen in das Subjekt ihres eigenen Lebens verwandeln, in einen Menschen, der die heteronome Bestimmung dadurch freiwillig verinnerlicht und in eine autonome Zielsetzung hypostasiert. So von Huttens formaler 68

Plan; da mit dem Ende des Gesprächs die Szenenfolge abbricht, kann dazu mehr nicht gesagt werden. Was ist aber der Inhalt des langgehegten und umfassenden Plans? Angelika soll, kurz gesagt, als Modell einer neuerrungenen Vollkommenheit vor die Menschen, besonders die Männer, treten, und sie durch ihre Existenz beschämen, durch ihre Anmut bestrafen, weil sie stets nur ein lockendes Bild sein darf, ein Phantom, dem die Menschen nachjagen und das sie nie erreichen und nie besitzen werden. Es ist dies eine eigenartige, um nicht zu sagen: verstiegene oder skurrile, Kombination zweier eigentlich getrennter Ideen; nämlich erstens die Vorstellung von der schönen Seele (S. 1069), von der endlich erreichten Perfektion des Menschen durch Erziehung, was die Griechen mit dem Begriff der Kalokagathia zu beschreiben versucht haben, der Verbindung von Schönheit und sittlicher Perfektion (καλός και αγαθός). Wenn ein Mensch so vollkommen und vorbildlich werden kann, dann spricht nichts dagegen, daß auch andere sich aus ihrer Mediokrität zu befreien vermögen. Aber das ist bloß die eine Seite; die zweite und offenbar noch wichtigere ist der Gedanke der Rache, den von Hutten am Ende der Szene ausspricht. Angelika soll, ein höheres Wesen unter diesem gesunknen Geschlechte (S. 1074), ihnen ständig ihre Überlegenheit zeigen, ihre von ihnen nicht zu erreichende Perfektion, und sich ihnen dann, phantomgleich, entziehen. Naheliegenderweise soll das vor allem bei den Männern versucht werden. Milder strahle durch deine weibliche Seele ihr (sc. von Huttens Tugend! B. S.) verzehrender Glanz, und ihr (der Männer, B. S.) blödes Auge öffne sich endlich ihren siegenden Strahlen. Bis hieher führe sie — bis sie den ganzen Himmel sehen, der an diesem Herzen bereitet liegt, bis sie nach diesem unaussprechlichen Glück ihre glühenden Wünsche ausbreiten — und jetzt fliehe in deine Glorie hinauf — in schwindlichter Ferne sehen sie über sich die himmlische Erscheinung! ewig unerreichbar ihrem Verlangen, wie der Orion unserm sterblichen Arm in den Äthers heiligen Feldern. (S. 1075) O b nun die Menschen ernsthaft getroffen wären, würden sie so behandelt, muß offen bleiben; jedenfalls nimmt es von Hutten an. Wahrscheinlich überschätzt er, er ja auch sonst die anderen idealisch verkennt oder gar nicht kennen will, den Grad der Enttäuschung, den eine sich strafend allen entziehende Angelika zu bereiten in der Lage wäre. Nicht ganz zufällig erfahren wir nie die Genese seiner Misanthropie; über dunkle Andeutungen von Leid und blutigem Gram geht es nie hinaus. Könnt ich dir die Geschichte meiner Mißhandlungen erzählen, Angelika! — Ich kann es nicht. Ich will es nicht. Ich will dir die 69

fröhliche Sicherheit, das säße Vertrauen auf dich selbst nicht entreißen. (S. 1073) Damit muß dieser Punkt im Nebelhaften bleiben. Und ähnlich dunkel bleibt der Ausweg, der Weg der Rache und der praktizierten Verachtung. Kein Zweifel, daß in dieser seltsam abstrakten Konzeption einer der Gründe für den Abbruch des Dramas liegt; es findet sich in der Gestalt des von Hutten kein dramatisches Potential, in seinem Weltmodell kein darstellbarer Konflikt, nichts, das ernstlich aus der Innenwelt seines spekulativen Systems hinausführte in eine tragfähige intersubjektive Auseinandersetzung. Die Welt, in der er sich bewegt, erscheint als leerer Raum, real wie metaphorisch, innerhalb dessen sein philosophisches Konstrukt an die Stelle aller anderen Objekte tritt, er gar nichts anderes mehr wahrnehmen kann. Der im Kontext dieser Untersuchung vielleicht wichtigste Satz von Huttens findet sich in der Szene, in der er der Tochter von seinem Erziehungswerk an ihr berichtet, von seinem Plan, sie jetzt, an seinem 50. Geburtstag, in die Welt zu entlassen als vollendeten Vorwurf für alle anderen. Er sagt da: Meiner Führung bedarfst du nicht mehr. Mein Amt ist geendigt. In verschlossener Werkstätte reifte die Bildsäule still unter dem Meißel des Künstlers heran; die vollendete muß von einem erhabeneren Gestelle strahlen. (S. 1071) Die Bildlichkeit des Satzes ist einigermaßen gewagt — daß da eine Bildsäule still unter einem Meißel heranreift — aber das ist hier irrelevant; von größtem Interesse ist, daß der Begriff des Künstlers und seine Tätigkeit vom Protagonisten selbst ausgesprochen, zur Charakteristik seiner Tätigkeit verwendet wird. Seine Intention geht darauf, tatsächlich mit Angelika ein »Kunstgeschöpf« in des Wortes doppelter Bedeutung zu kreieren, ein Produkt seiner Phantasie. So sieht er sich selbst: als Künstler. Prinzipiell ist ihm der Mensch, zumindest der seiner Bestimmung gerecht werdende, ein zweiter Schöpfer, ein proprior deus, einer der 'die göttliche Natur nachahmt, der ihrer Perfektion seine geistgeschaffene zur Seite stellt. Und das heißt auch: Er entwirft sich als Künstler, der die Schöpfung in einer ihrer Manifestationen korrigiert, im Menschen. Die Idee vom Künstler als dem zweiten Schöpfer, auf den englischen Philosophen Shaftesbury zurückgehend, beherrscht in zahllosen Varianten die Programmatik, das Kunstdenken des 18. Jahrhunderts. Von Huttens eigenwilliges Modell variiert diesen ästhetischen Schöpfungsmythos bis hin zur Selbstnegierung. Denn sein Erziehungsprogramm soll nicht das Glück der Tochter fördern oder ihre Vollkommenheit als Selbstzweck etablieren, also etwa durch das interesselose Wohlgefallen, das sie hervorrufen könnte, sondern es will sie in seine 70

misanthropische Welt noch auswegloser integrieren, als dies durch ihre physische Absonderung in Haus und Park bereits geschehen ist. Am Ende soll sie seine Enttäuschung rächen, in Wahrheit sich aufgeben und niemals etwas anderes als sein Geschöpf sein. In diesem letztlich totalitären Projekt — totalitär, weil es eine apriorische Idee über die konkrete Realität und die menschliche Lebenswirklichkeit der Tochter setzt — wird die Verfehlung der potentiellen Vollkommenheit des Menschen nicht aufgehoben, nicht einmal theoretisch, sondern perpetuiert. So ist dieser singulare Welt-Entwurf aus dem Geist der enttäuschten Menschenliebe schon von den Prämissen her zum Scheitern verurteilt. Gleichwohl bildet Schillers knappes Fragment einen signifikanten Meilenstein in der Entwicklung der Künstler-Gestalt als Misanthrop und des Menschenfeindes als Künstler. Wir beobachten den ersten Versuch eines literarischen Misanthropen, eine Gegen-Welt

zu schaffen, und

zwar in Gestalt seiner Tochter. Eine Gegen-Welt zu den Menschen, die ihre Bestimmung schuldhaft verfehlen. Aber weder in der Programmatik noch in der Praxis erscheint das möglich oder sinnvoll; und, noch bedeutsamer, es transzendiert auch nicht wirklich die schuldbeladene und verworrene Menschensphäre. Das Projekt, in seiner Tochter einen Menschen heranzubilden, der die Perfektion restituiert und so zum Modell werden könnte, ist nicht nur schwer vorstellbar, es ist in entscheidender Weise schuldhaft. Innerhalb der empirischen Welt ist kein schuldloser Ausweg möglich. Die neue Ordnung, die von Hutten anvisiert, und die er in der biologischen Natur präfiguriert sieht, ist im Einzelnen, im Individuum, bloß erahnbar, nicht jedoch realisierbar. Nur in einer anderen ontologischen Sphäre läßt sie sich denken und verwirklichen. Und spätestens seit der Romantik lautet die Antwort auf die Rätselfrage des Misanthropen: Es ist die Kunst. Nur das Kunstwerk kann jene Ordnung buchstäblich verkörpern, sinnlich darstellen, die der Misanthrop ersehnt und die er bei den Menschen, in ihren Verhältnissen, Beziehungen und ideologischen Konstrukten nicht finden kann. Der Menschenfeind ist desillusioniert, weil er ein Absolutes sucht und in den Menschen nicht finden kann. Aber er läßt nicht ab vom Glauben an eine Gegen-Welt, vom Glauben, daß die empirische Unordnung nicht das letzte Wort über die Welt sei. Versagt er sich selbst die Tröstung einer transzendenten Sinngebung, dann bleibt mit zunehmender Verengung seine eigene Welt, bleiben die Produkte seines Geistes, der menschlichen Phantasie. Sie okkupieren die Stelle der sakralen Dinge, nehmen etwas Sakrales und Heiliges an. Schillers Versöhnter

Menschenfeind

— und wie er je versöhnt 71

werden könnte, ist vollends jenseits der Spekulation — antizipiert ansatzweise diese Entwicklung, indem in von Huttens Weltmodell zum ersten Mal die Idee einer geistgeschaffenen Gegen-Welt sich abzeichnet, durch die der Menschenfeind mit strenger Konsequenz zum Künstler wird.

72

IV. Arno Schmidt: » P H A R O S oder von der Macht der Dichter

Mit Arno Schmidts Erzählung nähern wir uns der Gegenwart und der Gegenwart der Misanthropendarstellung. Der Text entstand wahrscheinlich Anfang der 40er Jahre, während der Soldatenzeit Schmidts.1 Zum ersten Mal veröffentlicht wurde die Erzählung in Jahre 1975 innerhalb des Romans Abend mit Goldrand, seines letzten fertiggestellten Werkes. Es ist jedoch eine in sich abgeschlossene Arbeit, die ohne Kenntnis des Roman-Kontextes vollkommen verständlich und angemessen interpretierbar ist — was nicht ausschließt, daß sie für die Figuren des Romans eine gewisse lebensgeschichtliche Relevanz besitzt, worauf aber in diesem Zusammenhang nicht eingegangen zu werden braucht. Der Titel ist zweigeteilt und zumindest zwei-deutig. Pharos ist eine Insel (genauer: war; es ist jetzt eine Halbinsel) in der Nähe der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Auf dieser Insel ließ 279 v. Chr. Ptolemaios II. einen Leuchtturm errichten, der bald zu den sieben Weltwundern gezählt wurde. Im 14. Jahrhundert wurde er durch ein Erdbeben zerstört. Sehr rasch und bis weit über die antike Zeit hinaus wurde er zur Verkörperung der Idee des Leuchtturms — in allen romanischen Sprachen leitet sich das Wort für Leuchtturm von »Pharos« ab. Schmidts Erzählung knüpft sehr deutlich und sehr bewußt an zahlreiche mythische Themen und Motive an, die in engem Zusammenhang mit Insel und

1

Arno Schmidt: » P H A K O S oder von der Macht der Dichter« in: Abend mit Goldrand, 1975, S. 183—190. Das ursprüngliche Typoskript ist abgedruckt in: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Band 1,4: Kleinere Erzählungen. Gedichte. Juvenilia. Zürich 1988, S. 609—632. Die Herausgeber schreiben zur Datierungsfrage: »Stil und Inhalt des PHAROS lassen jedoch eine Niederschrift der Erzählung vor dem letzten datierten Manuskript (also vor Herbst 1943) extrem unwahrscheinlich werden.« (S. 637) Ich zitiere nach dem überarbeiteten Text in AmG, der sich streckenweise deutlich unterscheidet vom Typoskript; ζ. B. war der Gestrandete ursprünglich »Professor für Literatur« (S. 614, 615), was angesichts seiner offenbaren Jugendlichkeit unglaubwürdig bis unsinnig erscheint. Im ganzen wirkt die überarbeitete Fassung durchdachter und sprachlich souveräner; daher die Bevorzugung. Vgl. auch Anmerkung 8.

73

Leuchtturm stehen, von der Figurenkonstellation bis zur allem Geschehen zugrundeliegenden religiösen Weltsicht. Zu Beginn der Interpretation sei der Inhalt der Erzählung kurz zusammengefaßt. Der Schauplatz, schon archetypisch genug, ist eine Insel ohne genauere Lokalisierung; eine sehr kleine Insel mit einem nicht mehr in Funktion befindlichen Leuchtturm. Auf dieser Insel und in diesem Turm lebt ein namenloser Einsiedler, eine Art Ubermensch, umgeben von Büchern und Landkarten; und es lebt seit etwa vier Wochen ein junger Mann, der als Schiffbrüchiger auf die Insel verschlagen wurde. Er ist etwa Anfang Zwanzig und hatte, bevor er hier strandete, Literatur studiert, vornehmlich deutsche Literatur, aber nicht nur sie. Diese beiden Figuren sind die einzigen Menschen auf der Insel und die einzigen Protagonisten der Erzählung. Der Text entfaltet sich aus der Perspektive des jungen Mannes; wir erhalten daher von dessen Denken und Glauben einen wesentlichen umfassenderen Eindruck als vom Innenleben seines Gegenspielers, über dessen Vergangenheit wir so gut wie nichts erfahren, der jedoch — und das ist eine Art Komplementärphänomen dazu — sofort mythische Dimensionen annimmt: als Ubervater

ganz im Sinne der

Psychoanalyse (obwohl der junge Arno Schmidt von Freud nicht allzu viel gewußt haben dürfte), als chthonische

Gottheit,

ein Wesen der Mee-

restiefe, und nicht zuletzt als Lehrer der Weisheit, als Initiator in das Geheimnis der Welt, in die verborgene Wahrheit unter der täuschenden Oberfläche der Empirie. Bei einer solchen Konstellation kann sich wenig an äußerer Handlung entwickeln, wohl aber verfolgt der Leser den zunehmend zwanghafter werdenden Aufstand des Jungen gegen den Alteren, den verzweifelten Versuch, so etwas wie Eigenständigkeit und Eigen-Willen gegenüber dem intellektuell wie physisch überlegenen Insel-Menschen zu bewahren. Denn dessen Welt-Sicht übt einen solchen Einfluß auf ihn aus, daß er seine sowieso schwache, noch ungefestigte Identität akut bedroht sieht. In knappen, aber außerordentlich anspielungsreichen und inhaltlich manchmal eher überladenen Dialogen erleben wir unmittelbar diesen Kampf mit; in den Phantasiewelten, in die der Junge sich mehr und mehr hineinsteigert, können wir einen mittelbaren Eindruck gewinnen von der Übermacht

des Menschenfeindes



denn der Altere ist just dies, ein Misanthrop par excellence, von unüberbietbarer Radikalität und fast unüberbietbarer Konsequenz. Der Ich-Erzähler gerät mehr und mehr in den Sog der immensen Kraft des Kontrahenten; aber die kleinen Revolten, die er beginnt, enden stets mit einem Sieg des Alteren und Überlegenen. Beinahe ein Vater-Sohn-Verhältnis, 74

aber auch eine Relation Herr-Knecht, und, auf der intellektuellen Ebene, die Beziehung Lehrer-Schüler. Die beiden namenlosen Insel-Bewohner fechten nicht nur gezwungenermaßen einen ständigen Kampf gegen die Natur, einen Kampf, in dem sie sich gegenseitig helfen müssen, wollen nicht beide untergehen, sondern in erster Linie einen um die wahre Sicht und Interpretation der Welt. Dabei hat der Jüngere dem Alteren wenig bis nichts entgegenzusetzen, nur ein bisweilen leicht komisch anmutendes Buchwissen — ein Wissen aus Büchern und über Bücher. Schließlich, nach zahlreichen Disputen und Kontroversen, verwirrt sich dem Jüngeren die Realität, verschwimmt die Grenze zwischen Phantasiewelt und empirischer Welt, zwischen den Phantasmagorien, die immer stärker und unabweisbarer in ihm aufsteigen, und einer kontrollierbaren und nachprüfbaren Tatsächlichkeit. Zwischen den Gestalten aus den Büchern, seinen Erinnerungen aus seinem Vorleben und der Figur des mythischen Vaters gibt es immer weniger Differenzen und Konturen, alles verwischt sich, geht ineinander über in einer Art luziden Fiebertraums. Schließlich erschlägt er den Älteren, den »Gott, den ich Larve stach« — aber vielleicht ist dies nur eine letzte Aufstands-Vision, eine Befreiung vom Uber-Vater in den eigenen Tod hinein. In bohrender Eindringlichkeit und mit großer spätexpressionistischer Gebärde (auf die Nähe des frühen Arno Schmidt zum Expressionismus ist oft hingewiesen worden) wird so ein Hinabtauchen in den Wahnsinn geschildert, und es bleibt offen, ob in der Gestalt des jungen Mannes ein Korrektiv zum Misanthropen entworfen werden sollte oder eine Vorstufe, ob also die Sehnsucht des Jungen nach den Menschen, nach menschlicher Nähe, Wärme und Verständnis die notwendige Voraussetzung einer absoluten Desillusionierung und Entgrenzung sein soll oder nur eine von vornherein unterlegene Position zur philosophischen Radikalität des Alteren markiert. Mehr an Handlung ist nicht zu finden. Die entscheidenden Entwicklungen und Prozesse spielen sich schon hier, wie in allen Erzählungen und Romanen Arno Schmidts, im Kopf ab. Es ist das Abenteuer der geistigen Eroberung, der intellektuellen Durchschauung und Unterwerfung der Welt, das einzig zählt. Und wer den radikalen Erkenntnissen nicht gewachsen ist, wer die äußerste Kompromißlosigkeit nicht denken will oder kann, der schließt sich aus der Gemeinde der Wissenden aus. Zentral für das adäquate Verständnis der Erzählung scheint mir zweierlei: erstens die umfassende Bestimmung des Verhältnisses der beiden Protagonisten und zweitens die Diskussion der nur bruchstückhaft vorgetragenen Welt-Anschauung des Alteren, also des Misanthropen. 75

Die eigenwillige Figurenkonstellation sei zuerst genauer betrachtet. Zwei Menschen auf einer kleinen und einsamen Insel: Das ist eine archetypisch einfache Situation, was ihre Brauchbarkeit für philosophische Spekulationen wie für die Gattung des Insel-Witzes evident macht. Hier leben zwei Männer auf dieser Insel, ein junger und ein älterer. Damit ist die Vater-Sohn-Konstellation bereits angelegt mit allen Implikationen seelischer Art, die diese Beziehung in sich trägt. Zentral dürfte in ihr die Ambivalenz der Gefühle sein, die der Sohn dem Vater entgegenbringt, ein oft unvermitteltes Neben- und Gegeneinander von Zu- und Abneigung, Liebe und Haß. Und während wir von den Emotionen des Alteren lediglich indirekt eine Ahnung erhalten und sie letztlich undurchschaubar und unbegreiflich bleiben, gestattet es die Ich-Erzählung, genau diese Ambivalenz in den Gefühlen des Jungen mitzuerleben. Es ist eine Abfolge von Auflehnung und Sehnsucht nach Anpassung, nach Angleichung an den Vater oder besser: Uber-Vater. Bei all dem gibt es kein Entkommen, keine Hoffnung auf Flucht gegen seinen Willen. So wird aus der VaterSohn-Beziehung ein Herr-Knecht-Verhältnis. Der Altere schlägt ihn, er läßt den Jüngeren auch seine physische Überlegenheit schmerzhaft spüren. Gegen seine Urteile — und nicht bloß die ästhetischen — ist keine Berufung möglich, ja auch nur denkbar. Dem Jüngeren widerfährt Unglück durch den Schiffbruch und das karge Leben auf der Insel, aber er erfährt primär dadurch eine fundamentale Ausweglosigkeit, die der Text uns zu begreifen lehren will als Modell einer grundsätzlichen menschlichen Ausweglosigkeit, empirisch wie metaphysisch. Das Ich des Jungen registriert die in ihm vorgehenden Veränderungen, die ihn aus der Bahn der alltäglich-trivialen Prä-Existenz geworfen haben, zuerst mit Widerwillen, dann mit steigender Zustimmung, die gleichwohl nie zu einer spannungsfreien Übernahme der misanthropischen Lebenslehren führt. Eine neue Instanz bestimmt, teils von außen, teils bereits internalisiert, sein Leben, ein monumentales Über-Ich mit einer radikalen Philosophie, und somit ist er der Schüler eines existentiell dominanten Lehrers. Die Oppositionspaare des Textes, soweit bislang betrachtet, ordnen sich in einer stets gleichen Weise: Es entsteht in allen Fällen ein Oben und ein Unten: Herr-Knecht/Sklave, Lehrer-Schüler, Über-Ich—Ich, Vater-Sohn. Der Text selbst, also sozusagen das Bewußtsein des Ich-Erzählers, bringt diese Struktur teils explizit, teils implizit in die Formel Gott gegen Mensch. An einer Stelle sieht der Jüngere im Alteren eine Meeresgottheit: Als er wieder einmal auftauchte und das Wasser aus seinem langen blonden Bart troff, sah der Schuft aus wie Poseidon! 76

(S. 183) Und etwas später heißt es: Er hat ein mächtiges Gesicht, mit blauen tiefen Augen, und einer hohen Zeusstirn unter dem vollen hellblonden Haar. (S. 184) Diese ins Übermenschliche stilisierte Gestalt nimmt im weiteren Verlauf des Textes wechselnde und wandelnde Formen an; in den Fiebervisionen des Jungen geht Individuelles und Mythisches eine schließlich untrennbare Verbindung ein, Göttliches und Teuflisches, Helles und Dunkles, Siegfried und Hagen — auch dies ja ein archetypisches Oppositionspaar. Stets sieht er in dem Alteren einen unerreichbaren Entwurf über alles Menschliche hinaus, wobei dieses Ubermenschliche keineswegs ohne weiteres als Göttliches zu designieren ist, möglicherweise auch in sich ambivalent und oppositionell zu verstehen sein könnte. Diese Figurenkonstellation besitzt natürlich nicht nur die hier ansatzweise skizzierte archetypisch-existentielle Dimension, sondern mindestens noch eine weitere, nämlich eine literarische, literaturhistorische. Denn die paradigmatische Insel-Situation ist in der europäischen Literatur stets auch ein idyllisch-utopischer Entwurf gewesen, eine ästhetische Versuchsanordnung als Gegen-Bild zu gesellschaftlicher Depravation.2 Von Thomas Morus' Utopia über Schnabels Insel Felsenburg bis in die Gegenwart, etwa Goldings The Lord of the Flies reicht die kaum übersehbare Reihe der Gestaltungen abgeschiedenen Lebens fern von den Menschen und fern der Zivilisation mit ihren als Verirrungen interpretierten Entwicklungen. Und zentral in dieser Reihe ist natürlich Daniel Defoes Robinson Crusoe, das klassische Inselbuch. Der junge Mann der Erzählung ist sich dieser Parallele sehr wohl bewußt. Ich war so neugierig, daß ich mich mit darüber beugte [...] [über eine Kiste Strandgut, die beide examinieren, B. S.] und, noch halb keuchend vor Anstrengung, sagte: >Ganz wie Robinson -Was wissen Sie denn von Robin — ?, (machte eine kleine eigentümliche Pause hinter Robin, als sei er gewöhnt, den Namen nur so zu denken; und fügte dann erst hinzu): —son.< Ich antwortete so gleichgültig, als mir möglich war: »Crusoe ist der Typ des Mannes, der, völlig auf sich selbst gestellt, mit einfachsten Mitteln sich einen Lebensraum, eine Welt, schaffte; (albern und doktrinär ausgedrückt; hätt' ich wenigstens das Wort >Typ< vermieden — aber mir fiel auf die unerwartete, und ja auch ein bißchen wunderliche, Frage nicht gleich 2

Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, Stuttgart 1976; Stichwort »Inseldasein«.

77

Geformteres

ein). Er starrte mir ins Gesicht; und lachte so verächtlich

zornig auf, daß ich jedes 'Wort bereute.

und

(S. 184) Also zum einen die Er-

kenntnis von der Parallelität der Lage und zum anderen das verächtliche Lachen des Uber-Vaters, hier Ober-Lehrers, dem die Antworten des Schülers allemal abgeschmackt und clichehaft vorkommen. Zwar sind in der Tat die Differenzen zu Defoes Roman größer als die Ubereinstimmungen, aber es bleibt in beiden Fällen die Konstruktion eines elementar reduzierten, auf wenige archaische Situationen und Konfigurationen beschränkten Kosmos, der, so der implizite Anspruch, Wesentliches aussagen soll über die Welt und den Menschen. Dieses reduktionistische Denken wird noch deutlicher werden bei der Bestimmung der Weltanschauung des Misanthropen, aber schon jetzt kann gesagt werden, daß es inhaltlich ein Analogon bildet zur aufs äußerste verknappten Szenerie. Welt und Mensch werden mit einigen Worten und Sätzen gleichsam skelettiert und auf wenige aber ungemein aussagekräftige Oppositionspaare reduziert. In der Ideenwelt des Herren-Menschen findet sich nämlich die genau gleiche Struktur wie in der Figurenkonstellation oder den mythischen Verweisen, der wahren Welt hinter der sichtbaren, die dem Älteren nichts ist als ein trügender Schein, ein schwankendes Gespenst aus irreführenden Worten und mörderischen Taten. Zwei sehr gegensätzliche Menschen treffen da zufällig aufeinander, ein Alterer und ein Jüngerer, ein Wissender und ein Unwissender, alles gleichsam eine zivilisatorische Stufe höher oder weiter als bei Defoe: nicht mehr Robinson und Freitag, sondern Mensch und Uber-Mensch. Aber ein Uber-Mensch, der, anders als der erträumte bei Nietzsche, gar nicht im ganzen über sich hinaus strebt, weil er zu wissen glaubt, daß jenseits seiner selbst kein menschliches Wesen mehr möglich ist, sondern ein satanisches haust, für das die Welt und der Mensch nur ein nichtiges Spielzeug zu Vergnügen und Quälerei darstellt. Uber-Mensch ist er allerdings in dem Sinn, als er überlegen und wissend ist, ein Eingeweihter in die Rätsel der Welt, im Besitz esoterischer Kenntnisse und Erkenntnisse. Und so kann auch der Turm interpretiert werden als Sinnbild der Überlegenheit, des Rückzugs im Bewußtsein der Auserwähltheit — schon Lukians Timon zog sich am Ende in einen Turm zurück; ähnlich wäre dann das Kalkwerk der Konrads bei Thomas Bernhard zu deuten. Und was im Verlauf der Erzählung geschieht, ist auch ein Initiationsritus, die Einführung des Jungen in die Welt, in das Reich des Geheimnisses und der Wahrheit, und die Unfähigkeit, diese Situation auszuhalten, ohne in den Wahnsinn abzustürzen. 78

Worin nun liegt das Außerordentliche der Weltsicht des Insel-Menschen, wie wäre der Inhalt der Ideologie des Schmidtschen Misanthropen zusammenzufassen? Sie wird nirgendwo ausführlicher entwickelt oder argumentativ entfaltet, nur mit einigen Worten und Begriffen angedeutet, aber doch so, daß sich ein einigermaßen kohärentes Gedankengebäude rekonstruieren läßt. Zentral ist ihm eine zunächst skurril anmutende Leibfeindlichkeit. Für sie ist der junge Ich-Erzähler nun gleichsam prädestiniert, sagt er doch an einer Stelle: Das [sie] man >essen< muß, immer essen — widerlich.

(S. 186) Der Uber-Mensch beginnt nicht lange

nach dieser Bemerkung (was in keinem kausalen Zusammenhang steht) mit der Lehrstunde: Er strich mit der Hand in die Luft, und sagte: >Das Anorganische

ist sauberer als das Organische

— Vorteil des

physikalischen

Weltbildes.< (S. 186) Auffällig ist bereits hier das Denken in antinomischen Kategorien, in einander feindlich und ausschließend gegenüberstehenden Oppositionspaaren. Der Junge versucht zu widersprechen: Aber das Leben? Ist nicht erst durch dies eminent= Organische diese Betrachtungsweise

erst ermöglicht?

überhaupt

— Unerläßliche

auch

Grundlagef

(S. 186) Das scheint logisch und für den Anfang kein schlechter Einwand. Der Altere rekurriert in seiner Antwort aber nicht auf diese genetische Perspektive (also: erst muß Materie sein, bevor im Verlauf einer langen Evolution Geist entstehen kann), sondern hebt sofort ab auf die Trennung der ontologischen Sphären: Leben ist verschieden

vom

Geist:

nicht identisch, zu speziell. (S. 186) Solche Rätselsätze sind eine Freude für alle Interpreten, sind sie doch in sich klar und auslegungsbedürftig genug, um dem deutenden Geist noch einige Arbeit zu lassen. Verschieben wir diese Anstrengung um ein geringes; sehen wir uns die düster herausgeschleuderten Weisheiten des Alteren weiter an. Er fährt gleich fort mit einem der wichtigsten Sätze des Textes, ja, ich wage zu sagen: mit dem der für das Verständnis des Schmidtschen (Euvres zentralen Gedanken: Geistgebilde, Oberste Göttliche schlechthin.

plan gesprochen

>PhantasieDie Reinheit Schmutzes;

sie läuft neben-

bzw. darüberher;

nicht ursächlich an das Chaos gekettet. dann nannte Er Namen:

ist kein Erzeugnis ist nicht bedingt

des durch,

Geist war ehe ...< Er brach

>Platon; Schopenhauer;

— obwohl

die

ab;

Dichter

die Vollendung sind.< (S. 186) Also diese höhere Autonomie ist mit der 79

Erwähnung von Philosophie und Dichtung vorläufig benannt, ohne daß dadurch die Konsequenzen einer so definierten dualistischen Kosmogonie, einer Welterschaffungslehre aus zwei radikal getrennten Quellen, ganz zu bestimmen sind. Jedenfalls nennt er dann nicht nur Piaton und Schopenhauer, sondern auch einige Dichter, nämlich Cervantes, Defoe, ETA Hoffmann, Stifter, Brentano und Wieland. Dabei ist die Erwähnung von Cervantes naheliegend und einsichtig, fällt zu seinem Namen doch jedem das ein, was auch dem Jüngeren einfällt: Ich verstand schon: >Cervantes