Der häretische Imperativ: Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland [Reprint 2019 ed.] 3484651318, 9783484651319

Die Rekonstruktion der neokantianischen Kulturwissenschaft verfolgt die verschiedenen Begriffstransformationen, die von

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Der häretische Imperativ: Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland [Reprint 2019 ed.]
 3484651318, 9783484651319

Table of contents :
Inhalt
I. Vorwort
II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft
III. Politische Theologie
IV. Säkularisation als Kulturschrift
V. Literaturverzeichnis
VI. Personenregister

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Conditio Judaica

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Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von HansBodenheimer, Otto Horch Mark H. Gelber und Jakob Hessing in Verbindung mit Alfred

Christoph Schmidt

Der häretische Imperativ Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2 0 0 0

Veröffentlicht mit Unterstützung des Franz-Rosenzweig-Forschungszentrums für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmidt, Christoph: Der häretische Imperativ : Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwissenschaft in Deutschland / Christoph Schmidt. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Conditio Judaica; 31) ISBN 3-484-65131-8

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

I.

Vorwort

II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft 1. Der Kantianer in Uniform 2. Exkurs: Arche Noah - Hermann Cohens politische Theologie 3. Das Evangelium des fremden Gottes III. Politische Theologie 1. Carl Schmitt 2. Gershom Scholem 2.1 Exkurs: Baruch Boreh Pri Hatobacco Eine historische Miniatur 2.2 Die zwei Paar Tafeln des Gesetzes 2.3 Exkurs: Die Bleistiftskizze der Weltgeschichte 2.4 Das Nichts Gottes oder die Theologie der symbolischen Formen

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IV. Säkularisation als Kulturschrift

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V. Literaturverzeichnis

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VI. Personenregister

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I. Vorwort

Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis einer Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen. Max Weber

Die Epoche der sogenannten Moderne wurde in Deutschland fast durchgehend von einem theologischen Ostinato begleitet. Die imaginierte Harmonie zwischen Theologie und säkularer Kultur sollte dadurch gewährleistet sein, daß Gott als Metapher für die ideale Zukunft der Kultur gedeutet wurde: als deren ethische Substanz bzw. Idee. Philosophie und protestantische Theologie sprechen hier praktisch die gleiche Sprache. Die protestantische Theologie besteht zwar gelegentlich noch auf einer eigenständigen Rolle gegenüber der Philosophie, definiert sich aber praktisch aus dem transzendentalen Ethos von Kultur und Autonomie. Die christliche societas fidei fordere nämlich immer »noch mehr Freiheit, noch mehr Individualität«, um das innere »geistige Reich« der Verkündigung zu verwirklichen und alle dogmatischen Verkrustungen des Evangeliums abzustreifen. 1 »Das Evangelium arbeitet sich seit der Reformation, trotz rückläufiger Bewegungen, die nicht fehlen, doch aus den Formen heraus, die es einst annehmen mußte.« 2 In der Philosophie ist es die im transzendentalen Idealismus vollzogene immanente theo-teleologische Begründung des modernen Kulturbegriffs, die dieses geistige Reich der societas fidei immer schon mit der Realisation des ethischen Gesetzes als kategorischer Imperativ oder als ethische Substanz gleichsetzt. Dieser idealistische Kulturbegriff prägt vor allem die neokantianische Rekonstruktion der Kulturgeschichte zu Beginn dieses Jahrhunderts als diachronisches Kontinuum von jüdischem Prophetismus, lutheranischem Protestantismus und Transzendentalphilosophie im Rahmen einer zu begründenden Kulturwissenschaft, die »das geistige Reich« politisch als ideale Synchronie 1

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. 16 Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten. Leipzig: Hinrichs 1901, S. 172. Adolf von Hamack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Freiburg i. B. u. a.: Mohr u. a. 1931 ['1885] (Sammlung theologischer Lehrbücher, 1), S. 24.

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/. Vorwort

einer deutsch-jüdischen Teloskultur auf aufgeklärt-liberaler Ebene legitimieren soll. In diesem Sinne rekonstruiert Ernst Troeltsch den »weltbürgerlichen Geist« der Moderne als eine »Metaphysik des Personalismus, die unsere Welt mittelbar oder unmittelbar durchdringt und die dem Gedanken der Freiheit, der Persönlichkeit, des autonomen Selbst einen metaphysischen Untergrund gibt« 3 . »Diese Seelenverfassung [hat] das Christentum und der israelitische Prophetismus begründet.« 4 Auch Hermann Cohens Ableitung des modernen Kulturbegriffs setzt die Genealogie von Judentum, Protestantismus und Kantianismus voraus. Leitet er den modernen Messianismus der Kultur aus der alttestamentlichen Prophetie und der Kantischen Ethik ab, so ist für ihn eben diese Ethik »im innigsten Geiste verwandt mit der neuen Religiosität der Reformation« 5 . Typisch ist vielleicht gerade Hermann Cohens Beschwörung dieser historischen Genealogie der transzendentalen Kultur zur Zeit des Ersten Weltkrieges, in dem er mit einiger rhetorischer Akrobatik den Krieg als das historische Ereignis zu begreifen versucht, in dem »über alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität« zur »anerkannte^] Wahrheit der Weltgeschichte« werde 6 . Die synchrone Idealität einer auf Kantischer Grundlage zu verwirklichenden deutsch-jüdischen Interkulturalität wird also auf die diachronische Achse der Kulturgeschichte zurückprojiziert, um einen spezifischen Zeit/Raum der Kultur zu erzeugen, der durch den Überbegriff der Säkularisation gleichsam zusammengehalten werden soll. Denn die konstruierte Identität von israelitischem Prophetismus, Protestantismus und Kantianismus setzt immerhin einen Prozeß voraus, in dem der wörtliche Sinn von Prophetie und Glauben durch das Subjekt verinnerlicht und damit seiner partikular-religiösen Bedeutung entkleidet zum Paradigma eines weltbürgerlichen Geistes avancieren kann. Troeltsch und Cohen fuhren diesen weltbürgerlichen Geist der Humanität eben auf die angezeigte Genealogie zurück. Troeltsch liefert dabei bekanntlich den philosophischen Aspekt desselben Säkularisationsprozesses nach, den Max Weber für den modernen Kapitalismus entworfen hat. Während Weber den »Geist des Kapitalismus« auf den Umschlag der katholischen Askese in das sektiererischprotestantische Berufsethos zurückführt und dabei auch schon die verheerenden Resultate einer restlos säkularisierten und »entzauberten« Welt herausstellt, aus der sich der verinnerlichte Geist des Protestantismus zuletzt zurückzieht, 7 weist 3

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Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München: Oldenbourg 1911 (Historische Bibliothek, 24), S. 21. Ebd. Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Leipzig: Fock 1919, S. 283. Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum. In: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Hg. von Christoph Schulte. Stuttgart: Reclam 1993 (Reclams Universal-Bibliothek, 8899), S. 40-69, hier S. 59. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen: Mohr 1934 (urspr. 1904/05), S. 37: »Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung

I. Vorwort

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die »Kulturologie« von Troeltsch zunächst noch alle Insignien eines Optimismus der Aufklärung auf. Es ist die Transformation des verinnerlichten Christentums in die Transzendentalphilosophie, die bei ihm die glänzende Außenansicht desselben Prozesses der Säkularisation 8 darstellt, den er auch dann noch energisch verteidigt, als er aus der Dialektik der Autonomie eine Krise der Kultur ableitet. Diese Autonomie erhält nämlich ihre reale Dimension auch für Troeltsch erst im Kapitalismus, der zwar die Individualität zu seinem ideologischen Prinzip erhebt, aber zugleich im Produktionsprozeß zu einer austauschbaren Funktion degradiert. 9 Kapitalismus und Transzendentalphilosophie erscheinen in Webers und Troeltschs Rekonstruktionen der säkularen Logik der Kultur als die beiden zentralen Transformationen des (heterodoxen) Protestantismus in die moderne Kultur. Erstellt Troeltschs Rekonstruktion des Phänomens der Moderne als liberale »Kulturologie« dieselbe Genealogie wie Hermann Cohen, Max Weber oder etwa auch Heinrich Rickert, 10 so enthält sie wie Max Webers Konstruktion der Moderne einen Explosivbegriff, der, indem er das Kontinuum eigentlich unter Beweis stellen soll, es zuletzt aufsprengen wird: es ist die These von der zentralen Rolle des häretischen und mystischen Protestantismus, aus dem sich sowohl die individualistisch-skeptische Haltung wie der Uberkonfessionelle Geist der Moderne - als die Bedingungen der Möglichkeit für den Universalismus von Auf-

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ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist.« Neben Max Weber und Ernst Troeltsch wäre hier vor allem noch Emanuel Hirsch: Die Reich-Gottes-Begriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staats- und Gesellschaftsphilosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1921, zu nennen. Er beschreibt seine Rekonstruktion des Säkularisationsprozesses in England, Frankreich und Deutschland jedenfalls als Fortsetzung und Weiterentwicklung von Webers und Troeltschs Genealogie der Moderne aus dem Geist des Protestantismus (S. 29, Anm. 1). Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus (Anm. 3), S. 81: »[...] in der Entwicklung der deutschen Metaphysik von Leibniz und Kant bis Fichte, Schelling, Hegel und Fechner [ist] der lutherische Untergrund erkennbar, der die Spekulation auf Einheit und Zusammenhang der Dinge, auf innere Rationalität und Geschlossenheit des Gottesbegriffs, auf allgemeine Prinzipien, auf ideelle Gesinnungsrichtungen und auf gefühlsmäßige Präsenz des Göttlichen im Gemüte hinlenkt.« Auffallend ist die Parallele in der Beschreibung von Kapitalismus und Idealismus als geschlossen rationale Systeme. Th. W. Adornos Theorie der verwalteten Welt, deren Ausdruck der Idealismus von Hegel sei, erscheint gleichsam wie der Kurzschluß dieser beiden soziologischen Theorien. Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 113), S. 298. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus (Anm. 3), S. 66: »[...] dieser [kapitalistische] Geist [...] macht Arbeit und Erwerb zum Selbstzweck und den Menschen zum Sklaven der Arbeit um ihrer selbst willen, er bringt das ganze Leben und Handeln unter eine absolut rationalistisch-systematische Berechnung, kombiniert alle Mittel.« Heinrich Rickert: Kant als Philosoph der Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch. Tübingen: Mohr 1924, S. 88-89.

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I. Vorwort

klärung und Kultur - entwickelt haben sollen. Die »praxis interioris Christianismi« als intendierte radikale Verinnerlichung des Gottesreiches ohne Glaubenszwang und repressive Hierarchien habe im 18. Jahrhundert ihren letzten spiritualistischen und philosophischen Sinn herausgekehrt." Die Moderne bildet dieser häretischen Auffassung zufolge das letzte Kapitel der trinitären Epochenfolge Joachim di Fioris: das Zeitalter des heiligen Geistes, das a u f die Äonen des Vaters und des Sohnes folgt. S o habe sich der libertinistische Häretiker David Joris »in wunderbaren Visionen zum Träger des Christusgeistes oder zum dritten David beim Anbruch der neuen Weltzeit, des dritten Reiches« 1 2 ernannt. Der letzte B i s c h o f der böhmischen Brüderkirche, Arnos C o menius, habe in diesem Sinne eschatologische Hoffnungen auf eine einstige »Einheit der Menschheit im Geiste und auf das Ende aller Konfessionen« 1 3 gehegt. Auch im jüdischen Kontext entwickelte sich ein zunehmendes Interesse am Häretiker als Vorform des Aufklärers. Spinozas Denken wurde so zunehmend in seinem Zusammenhang mit dem Denken marranischer Häretiker wie Uriel da Costa und Abraham Cardoso und anderen erforscht. 1 4 Für den sog. Marranen »waren Katholizismus und Judentum, unvereint und unvereinbar, und in diesem inneren Kampfe war sein Bewußtsein gespalten« 1 5 . Die M a m m e n , nach außen hin Katholiken, nach innen hin Juden, suchten, nachdem sie der Inquisition entronnen waren, im mosaischen Gesetz das Gesetz der Freiheit und fanden sich oft enttäuscht von der halachischen Politik der Amsterdamer Rabbiner, die die neuen Ketzer - freilich ungleich milder in der Repression als j e d e Inquisition - mit dem Bann ächtete. Ähnlich wie die protestantischen Häretiker sich enttäuscht von der neuen lutheranischen Kirchenpolitik und ihren hierarchischen Strukturen abwandten, um ein rein spirituelles Christentum zu praktizieren, konzipierten diese jüdischen Häretiker eine universale und überkonfessionelle Religion der Toleranz und Aufklärung. Der Häretiker erscheint also bei Troeltsch und Gebhard als Pionier aufgeklärter Kultur, als der »himmlische Verschworene einer besseren Zukunft«, der in den finsteren Zeiten theologischer Herrschaft sein wahres »Gesicht«, seinen 11

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Emst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd 1: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. 3. Neudruck der im Verlag Mohr 1922 erschienenen Ausg., Aalen: Scientia-Verlag 1977, S. 927. Ebd., S. 899. Vgl. auch Gershom Scholem: Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah, 16261676. Princeton/NJ: Princeton University Press 1973 (Bollingen Series, 93), S. 100. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (vorletzte Anm.), S. 898. Die Schriften des Uriel da Costa. Mit Einleitungen, Übertragungen und Regesten hg. von Carl Gebhardt. Amsterdam u. a.: Hertzberger u. a. 1922 (Bibliotheca Spinozana, 2); Carl Gebhardt: Spinoza. Leipzig: Reclam 1932 (Reclams Universal-Bibliothek, 7193/7194). Gershom Scholem: Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos [1928], In: ders., Judaica 1. 9. Tsd, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (Bibliothek Suhrkamp, 106), S. 119-146; ders., Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Berlin 1936. Gebhardt, Uriel da Costa (letzte Anm.), S. XXII.

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wahren Text verbergen und im Zweifelsfalle besondere semiotische Strategien der Ver- und Entschlüsselung entwickeln muß. Ob im tragischen Schicksal des Marranen Uriel da Costa, der sich aus Verzweiflung über die neue jüdische Orthodoxie das Leben nahm, oder in der verborgenen Existenz des protestantischen Häretikers Valentin Weigel, der »alles Äußere so sehr verachtete, daß er sein Leben lang sich für einen orthodox lutherischen Pfarrer gab« und seine »unmittelbar persönlichen Geistesbewegungenen erst in seinem Nachlaß der entsetzten Welt kund tat« 16 , - der Häretiker gilt als Märtyrer für eine neue Ordnung der Dinge. Von dem jüdischen Ketzer Jakob Frank, der seine radikal antinomistischen Intentionen hinter einer katholischen Maske verbarg, 17 bis zu dem Häretiker der Aufklärung selbst: Lessing, 18 dessen vermeintlicher Spinozismus von Jacobi 19 enthüllt und eine ganze Generation von Intellektuellen beschäftigte, führt der Häretiker also ein prekäres Doppelleben, dessen wahre Innenseite er erst, wenn die politischen Restriktionen aufgehoben werden, ganz enthüllen darf. Dann können innen und außen deckungsgleich, oder zumindest - wie im Falle der deutschen Aufklärung - als kontinuierlicher Prozeß der Transformation des innen ins außen imaginiert werden: nämlich als »Bildung«. Kants Gleichsetzung der christlichen Freiheit mit dem Gesetz der Autonomie 2 0 faßt so gesehen schon einen ganzen Prozeß der Säkularisierung des protestantischen Christentums zusammen, der dann in Hegels Konstruktion der Christwerdung des Subjekts, die nichts anderes als ein radikaler Prozeß der Verinnerlichung ist, seinen bestimmtesten Ausdruck findet.21 16 17

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Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Anm. 11), S. 885. Vgl. Gershom Scholem: Die Metamorphose des häretischen Messianismus der Sabbatianer in religiösen Nihilismus. In: ders., Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik. 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973 (Bibliothek Suhrkamp, 333), S. 198-216; ders., Der Nihilismus als religiöses Problem. In: ders., Judaica 4. 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984 (Bibliothek Suhrkamp, 831), S. 129-187; ders., Karriera Schel Frankist. Mosche Dobruschka WeGilgulaw [hebr.]. In: ders., Mechkarim WeMekorot BeToldot HaSchabtaut We Gilguleha Jerusalem 1964, S. 141-216; ders., Sabbatai Sevi (Anm. 12). Gotthold Ephraim Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts. In: ders., Werke, Bd 2: Kritische Schriften: Literaturbriefe. Laokoon. Hamburgische Dramaturgie. Kleine Schriften. Hg. von Paul Stapf. Berlin: Tempel-Verlag 1961 (Tempel-Klassiker), S. 975-997, führt das neue Evangelium der Vernunft in diesem Sinne in These 86-88, S. 995ff. auf die eschatologische Mystik von Joachim di Fiori zurück. Hierzu: Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1987, S. 84-107. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. von Joachim Kopper. Stuttgart: Reclam 1984 (Reclams Universal-Bibliothek, 1111), S. 134-135. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Stuttgart: Reclam 1987 (Reclams Universal-Bibliothek, 8460), S. 548: »Der Tod dieser Vorstellung enthält also zugleich den Tod der Abstraktion des göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist. Er ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewußtseins, daß Gott selbst gestorben ist. Dieser harte Ausdruck ist der Ausdruck des innersten Sich-einfach-Wissens, die Rückkehr des Bewußtseins in die Tiefe der Nacht des Ich=Ich, die nichts außer ihr mehr unterscheidet und weiß.«

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I. Vorwort

Betrachtet man dagegen so divergente Konstruktionen von Moderne und Säkularisation wie die von Carl Schmitt, 22 Leo Strauss, 23 Friedrich Gogarten 24 und Gershom Scholem 2 5 etwa, so fungiert der Häretiker in seiner Haltung zur Aufklärung als überaus ambivalentes Transformationssubjekt zwischen religiösem Bewußtsein und säkularer Vernunft. In der Phänomenologie hatte Hegel von dem religiösen Glauben, der im Konflikt mit der Aufklärung unterliegen müsse, vermutet, daß er als »Sehnen des trüben Geistes, der über den Verlust seiner geistigen Welt trauert«, von nun an »im Hinterhalte« bleibe 26 . Die Krise der Aufklärung und des modernen Kulturbegriffs zu Beginn dieses Jahrhunderts treibt die Theologie gewissermaßen aus diesem »Hinterhalt« und Innenraum der Kultur wieder hervor. Dachte Troeltsch den Umschlag von Glauben in Aufklärung noch gleichsam »enharmonisch«, also als Vermittlung von miteinander 22

Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 6. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1993 [' 1922]; ders., Römischer Katholizismus und politische Form. Stuttgart: Klett-Cotta 1984 [' 1923]; ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 8. Aufl., Nachdruck der 1926 erschienenen 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1996; ders., Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 6. Aufl., 4. Nachdruck der Ausg. von 1963, Berlin: Duncker & Humblot 1996; ders., Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt 1933 (Der deutsche Staat der Gegenwart, 1); ders., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Nachdruck der Erstausg. 1938, Köln: Hohenheim Verlag 1982.

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Leo Strauss: Die Bibelwissenschaft Spinozas und seiner Vorläufer [1926]. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften. Hg. von Heinrich Meier. Stuttgart: Metzler 1996, S. 389-414; ders.. Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft [1930]. In: ebd., S. 1-354; ders., Anmerkungen zum Begriff des Politischen [1932]. In: Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit Leo Strauss' Aufsatz über den »Begriff des Politischen« und drei unveröffentlichten Briefen an Carl Schmitt aus den Jahren 1932/33. Stuttgart: Metzler 1988, S. 97125; ders., Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer. Berlin: Schocken Verlag 1935; ders., On Abravanel's Philosophical Teachings. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd 2: Philosophie und Gesetz - frühe Schriften. Hg. von Heinrich Meier. Stuttgart: Metzler 1997, S. 195-227. Friedrich Gogarten: Die religiöse Entscheidung. 1. und 2. Tsd, Jena: Diederichs 1921; Martin Luther: Vom unfreien Willen. Nach der Übersetzung von Justus Jonas, hg. und mit Nachwort versehen von Friedrich Gogarten. München: Kaiser 1924, S. 346: »Es ist nun freilich eine seltsame Sache mit dieser Kontinuität [zwischen Protestantismus und Moderne], Denn sie gilt bei einer genauen Untersuchung so gut wie in allen Punkten nicht vom eigentlichen Protestantismus, sondern von den Täufern, Sektierern, Mystikern und Humanisten der Reformationszeit.« Friedrich Gogarten: Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus. 1.-3. Tsd, Jena: Diederichs 1926; ders., Glaube und Wirklichkeit. 1. und 2. Tsd, Jena: Diederich 1928; ders., Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung. Jena: Diederich 1932; ders., Gericht oder Skepsis. Eine Streitschrift gegen Karl Barth. Jena: Diederich 1937.

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Vgl. Anm. 14 und 17. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Anm. 21), S. 405-406.

I. Vorwort

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grundsätzlich kompatiblen Bewußtseinsformationen, deren theologische Version durch Allegorisierung und Metaphorisierung in eine aufgeklärte Begriffsstenographie übersetzt werden kann, so erscheint der Häretiker jetzt als eine ausgesprochen zwielichtige Figur, die gegenüber der Übersetzung der spirituellen bzw. mystischen Hieroglyphen in ein rationales ABC einigen Vorbehalt bewahrt. Deutet also Troeltsch die Aufklärung als Erfüllung spiritueller Sehnsucht, als Transformation des inneren Christus in die ethische Substanz der Kultur und damit als Aufhebung der Spaltung des Häretikers in innen und außen, so stellen Schmitt, Strauss, Gogarten und Scholem - die grammatische Konjunktion soll nicht über fundamentale intellektuelle Disjunktionen hinwegtäuschen - mit dem Mechanismus der Übersetzung den Prozeß der Säkularisation zunächst radikal in Frage. Der Häretiker taucht gleichsam in das schillernde Zwielicht seiner Herkunft zurück, da er - nunmehr ganz subversive Gestalt der Moderne - zum Repräsentanten ihrer verborgenen Dialektik wird. Der kategorische Imperativ wird jetzt durch den häretischen Imperativ ersetzt, aus dem er hervorgegangen sein soll. In Analogie zum biblischen Bericht vom Sinai spricht die Metaphorik hier von zwei Paar Gesetzestafeln: wie Gott dem Moses zunächst ein reines Gesetz offenbart, das er erst nach der Sünde mit dem goldenen Kalb durch die bekannten Gesetzestafeln ersetzt, so soll der wahre theologische Sinn der Offenbarung durch das ethische Gesetz ersetzt und damit völlig entstellt worden sein.27 Der Anspruch der Aufklärung auf Universalität und Objektivität wird jetzt selbst als Maske 28 wahrgenommen, nämlich als Maske der neuen bürgerlichen Machthaber der Kultur oder als Maske der Minderheiten, hinter denen sich ein neues Innen verbirgt. Die Letzteren sind gewöhnlich gezwungen, das »Spiel« der Kultur mitzuspielen, da diese ihnen gegenüber gerade die Universalität versagt, an die sie vergebens appellieren. 27

Friedrich Nietzsche: Zarathustra. In: ders., Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlecht e München, Wien: Hanser 1980, Bd 3, S. 443: Von alten und neuen Tafeln; Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (Anm. 5), S. 90fF.; Theodor Herzl (Altneuland, Berlin 1902, S. 106) erzählt von der Möglichkeit im palästinensischen Utopia entweder das Theaterstück »Moses« oder aber die Oper »Sabbatai Zwi« zu hören. Der eine Text berichtet von der Gesetzgebung, der andere von dessen häretischer Suspension. Vgl. ferner A. Schönbergs Oper: Moses und Aron; Gershom Scholem: Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik. In: ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich: Rhein-Verlag 1960, S. 49-116, hier S. 94; ders., Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus. In: ders., Judaica 3 (Anm. 17), S. 152-196, hier S. 183.

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Theodor Lessing: Theaterseele. Studie über Bühnenästhetik und Schauspielkunst. 2., unveränd. Aufl., Berlin: Priber & Lammers 1907, S. 9: »Ein gealteter Heldenspieler entdeckt eines Tages mit schauerndem Entsetzen, daß er kein Ich mehr habe. Er entdeckt, daß er immerfort in fremden Worten redet, mit fremden Augen sieht und mit fremden Ohren hört.« Ebd., S. 12: » S o wird denn Gestus, Maske und Rolle zum natürlichen Schutz des Menschen.« Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros. 3., veränd. Aufl., Jena: Diederichs 1930 ['1918], S. 64. Bei Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. In: ders., Werke. Stuttgart: Klett 1960, Bd 5: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, S. 123-147, hier S. 145 heißt es »die humanitäre Maske [sei] fast abgetragen«.

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/. Vorwort

Im Kontext der liberalen kulturwissenschaftlichen Selbstbesinnung der Jahre vor und nach dem ersten Weltkrieg bricht die Harmonie des Innen/Außen der Kultur wieder auseinander, es ereignet sich eine neue Dichothomie zwischen beiden Hemisphären, die allgemein als Tiefengrund für eine radikale Krise von Aufklärung, Liberalismus und Kultur empfunden wird und die zur Vorgeschichte der Wiederentdeckung des Häretikers gehört. Was zunächst vor allem in der Kunst als ästhetischer Schock bekannt wird, die plötzlich-eruptive Geste der Zerstörung in der expressionistischen Malerei oder der atonalen Musik bezeichnet offenbar eine Grunderfahrung dieser krisenhaften Kultur als plötzliche Dissoziation von »innen/außen«, »Form/Leben«, »Essenz/Existenz«, »Logos/Mythos«, »Sein/Nichts« etc. Die Dissoziation des neokantischen Subjekts in eine ideale kulturelle Funktion und Außenseite einerseits und ein rätselhaftes inneres Dasein bzw. Leben andererseits - führt zu einer schockhaften Selbsterfahrung eben dieses Daseins, das mit der Entfremdung von seinem funktionalen Außen den Prozeß der Aufklärung mit ihrer theo-teleologischen Selbstgewißheit als Inszenierung einer grandiosen Illusion zu enthüllen beginnt. Der »Häretisierung« des Subjekts, die schließlich zu einer erstaunlichen Renaissance der paulinischen Theologie 29 und Häresie gegen das Gesetz der Kultur führt, entspricht »korrelativ« die Dissoziation Gottes: dieser bricht jetzt apokalyptisch aus seiner kulturideellen »Verschalung« hervor, um sich als persönlicher Gott dem in Angst zusammenschauernden Subjekt zu offenbaren und zuzuwenden, das längst seine Autonomie widerrufen hat. 30 Damit aber lassen sich das theologische Ostinato und der Akkord der Kultur nicht länger in einer innergeschichtlich-teleologischen Kadenz auflösen, sie klaffen nunmehr in schockierender Dissonantizität auseinander. Damit bricht auch der immanente Zeit-Raum der Kultur auseinander und mit ihm potentiell die ideale Synchronie der deutsch-jüdischen Interkulturalität: die Chronologie der Kulturgeschichte wird im Kairos 31 der Offenbarung aufgesprengt. 29

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Albert Schweitzer: Die Mystik des Apostels Paulus. Neudruck der 1. Aufl. 1930, Tübingen: Mohr 1981 (Uni-Taschenbücher, 1091) [der Text geht auf 1918 zurück]; Karl Barth: Der Römerbrief. 3. Aufl., München: Kaiser 1923 [' 1918]; Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens [urspr. Vorlesung von 1920/21]. In: ders., Gesamtausgabe. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Klostermann 1995, II. Abt., Bd 60: Vorlesungen 1919-1944. Phänomenologie des religiösen Lebens; R. Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung. In: Theologische Blätter 3 (1924), S. 72-86; Gogarten, Glaube und Wirklichkeit (Anm. 24). Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 17.-22. Aufl., Gotha: Klotz 1929 ['1917]. Paul Tillich: Kairos I [1922], In: ders., Gesammelte Werke. Hg. von Renate Albrecht. Stuttgart: Evangelisches Verlags-Werk 1963, Bd 6: Der Widerstreit von Raum und Zeit, S. 20 bringt die eschatologische Stimmung auf ihren Begriff: »In jedem vollkommenen Glauben an den Kairos liegt als letzte Tiefe die Hinwendung auf das Unbedingte; solche Hinwendung kann in religiösen oder profanen Symbolen Ausdruck finden - als die Erwartung des transzendenten Reiches Gottes oder des tausendjährigen Reiches der Herrschaft Christi oder als das dritte Zeitalter der Weltge-

I. Vorwort

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Sofern die Kulturwissenschaft von der Epistemologie über die Kunsttheorie bis zur Sprachphiiosophie und Theologie auf diese Krise hin reflektiert, entwickelt sie, was man eine »Hermeneutik des Schocks« nennen könnte, ein methodisches Inventar, in dem die Dissoziation und die neue Unverständlichkeit des Seins begriffstenographisch nachgezeichnet werden sollen. Diese Hermeneutik des Schocks als unmittelbares Echo auf die Transformation des Subjekts in ein »innen« und »außen« fuhrt zur Wiederentdeckung jenes vermeintlichen Gründertyps der Moderne - des Häretikers. Von diesem her erhalten »Kultur«, »Aufklärung«, »Liberalismus«, »Bildung« etc. einen neuen theologischen Sinn, wenn sie nicht in einer radikalen »Achsendrehung« überhaupt überwunden werden sollen. Die auf dieser Ebene sich vollziehende Reduktion der Krise auf eine Korrelation zwischen Gott und Mensch bzw. auf eine existenziell-theologische Dialektik fuhrt zu der Konzeption der »politischen Theologie«, die die Aufklärung zunehmend in ihrer Negativität und nicht zuletzt auch Selbstnegation durchschaut haben will. Wenn allerdings dieser neue Typ von Theologie der Aufklärung vorwirft, sie habe ihre theologischen Ursprünge vergessen und sei deswegen zum Scheitern verurteilt, so wird umgekehrt zu fragen sein, inwiefern die verschiedenen Typen von politischer Theologie, dazu bereit sind, sich auf die aufklärerischen Bedingungen zu besinnen, aus denen sie immerhin hervorgegangen sind. schichte oder als das Endstadium der Gerechtigkeit und des Friedens.« Zugleich erkennt Tillich die absolute Gefahr, die in dem Versuch liegt, den Kairos mit einer existierenden endlichen Realität zu identifizieren: »Ihr Symbol ist der Terror, der durch die absoluten Kirchen oder die absoluten Staaten ausgeübt wird.« (S. 23). Friedrich Gogarten: Die Krise der Kultur. In: ders., Die religiöse Entscheidung (Anm. 24), S. 33-34: »In der Perspektive dieses einen Augenblicks [der Krise der Kultur], in der Beziehung auf ihn nimmt es die [...] dynamische Gestalt dieses einen Augenblicks an, wird es in dieser dynamischen Gestalt zu dem Leib dieses Augenblicks, der so den gleichmäßigen Fluß der Zeit, in dem eine Welle der anderen gleicht, in seiner blitzhaften Bewegung verzehrt. Religiös gesprochen bedeutet dies, daß unter dem Aspekt, den wir suchen, der Augenblick, der jetzt gerade da ist, nichts anderes will, als nun gerade gelebt zu werden - es bedeutet, religiös gesprochen, die Begegnung Gottes in diesem Augenblick.« Vgl. auch Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung [1921/22], In: ders., Gesamtausgabe (Anm. 29), II. Abt., Bd 61 (1985): Vorlesungen. Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, S. 137: »Alle Charaktere des Daseins haben ihren bestimmten [...] kairologischen Charakter.« Die Thematik des Augenblicks geht dabei vermutlich für alle genannten Denker zurück auf Seren Kierkegaard: Der Augenblick. In: ders., Gesammelte Werke. Düsseldorf u. a.: Diederichs 1959, Bd 34, vgl. S. 326: »Der Augenblick ist, wenn der Mann da ist, der rechte Mann, der Mann des Augenblicks. [...] Die weltliche Klugheit starrt und starrt auf Begebenheiten und Umstände, rechnet und rechnet, in der Meinung, sie könne den Augenblick aus den Umständen herausdestillieren, könne dann selber eine Macht werden mit Hilfe des Augenblicks, diesem Durchbruch des Ewigen, könne sich verjüngen, wessen sie höchstlichst bedarf, mit Hilfe dieses Neuen.«

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I. Vorwort

Diese Fragestellung soll vor allem am Beispiel Carl Schmitts, der mit seiner These von der politischen Theologie seit den zwanziger Jahren die deutsche Intelligenz beunruhigt, und an Gershom Scholems These von der jüdischen Moderne, die ich hier als eine spezifische Version politischer Theologie interpretiere, konkretisiert werden. Dabei wird sich zeigen müssen, inwiefern diese Gegenüberstellung keineswegs zufallig ist, sondern zu einer Kernproblematik der politischen Theologie hinführt: Scholems Theorie jüdischer Säkularisation erscheint nicht nur wie eine Spiegelschrift zu Schmitts Versuch einer Retheologisierung der liberalen Kultur, sondern als erstaunliche Gegenstrategie: Erkennt Schmitt den Säkularisationsprozeß als Grund für den Verlust politischsouveränen Handelns, konstruiert Scholem einen Säkularisationsprozeß der jüdischen Kultur, der ein souveränes politisches Handeln gerade ermöglichen soll. Markiert Schmitt im jüdischen Häretiker den subversiven Inaugurator der Säkularisation und der liberalen Aufklärung, so erkennt Scholem in dieser Gestalt den Begründer der Moderne sowohl als auch deren Kritiker - aber vor allem die Figur, die das Judentum vor einer antisäkularen Politik, wie sie Schmitt fordert, rettet. Wenn Troeltsch und Weber noch den deutschen und den jüdischen Säkularisationsprozeß in einem letzten Rettungsversuch zu harmonisieren versuchten, und Hermann Cohen mit seiner späten Theologie die deutsch-jüdische Interkulturalität auf eine neue theologische Grundlage stellte, treffen sich die Säkularisationsmodelle bei Schmitt und Scholem im Augenblick der katastrophalen Krise: da, wo alle Gefäße zerbrechen.

II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen. (Max Weber)

Was am Ende des 19. Jahrhunderts als methodologische Besinnung über die transzendentalen Grundlagen der Kulturwissenschaft beginnt, verwandelt sich in eine politische Debatte über die Krise der Kultur. Es ist die Frage nach der Epistemologie der Kultur, ihrer spezifischen Selbsterkenntnis also, über die sich die methodische Kluft von synthetischem Apriori und aposteriorischer Faktizität zur Erfahrung eines existentiell-politischen Notstands ausweitet. Die aus dieser Kluft entstehende Aufsplitterung der einen Kultur in ein relativistisches Pluriversum möglicher Welten und Kulturkonstruktionen versetzt das Subjekt in einen Schock, in dem es seine Orientierung zu verlieren meint. Im Augenblick der Gefahr jedoch könne sich dieses Subjekt, auch ohne die Rationalität seiner Wahl durchschauen zu können, immerhin entscheiden. Die Kategorie der Entscheidung, hinter der - wie Georg Simmel feststellt, - »der ganze Apparat der Kultur versinkt«, erhält damit eine besondere epistemologische Funktion als der irrationale Grund aller Rationalität. In dem Prozeß der Diskursmetamorphosen der Kulturwissenschaft vollzieht sich eine Transformation des Subjekts der Kultur, die schon Bergson als Dissoziation in zwei verschiedene Ichs beschreibt, deren eines eine Art »äußere Projektion des anderen [= inneren], sein räumlicher und sozialer Repräsentant wäre« 1 . Diese Dissoziation greift auf alle Seinsebenen von der Sprache, der Gesellschaft, des Staates bis zur Kunsttheorie und Theologie über, wo jetzt überall eine fundamentale Verdopplung in Oberfläche und Tiefendimension die historische Kontinuität der Kultur als liberaler Fortschritt in einen unüberbrückbaren »erhabenen« Abgrund verwandelt. 1

Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. Jena: Diederichs 1911 [frz. Urfassung 1888], S. 181.

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//. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

Insofern die Kontinuität liberaler Kultur auf einer bestimmten Theologie beruhte, nämlich der Idee einer sich in der bürgerlichen Geschichte vollendenden ethischen Substanz, erfaßt diese Dichothomie des Seins dann Gott selbst, der aus den Tiefen seiner vergessenen Transzendenz hervorbricht und das immanente Idol dieser ethischen Substanz - seine kulturelle Außenseite - zerstört. Dieser umfassende Dissoziationsprozeß ist - so werde ich argumentieren - die diskursive Bedingung der Möglichkeit für die »Häretisierung« der Aufklärungsgeschichte.

1. Der Kantianer in Uniform Die Forderung nach einer Wissenschaftslehre der Kultur 2 am Ende des 19. Jahrhunderts muß man als Doppelstrategie begreifen. Die Abweisung des Begriffs Geisteswissenschaft bzw. seine Ersetzung durch den der Kulturwissenschaft vollzieht sich als bewußte Distanzierung von der Naturalisierung des Geistes als Psyche, die sich wie jedes andere naturwissenschaftliche Objekt hinsichtlich ihrer Gesetzmäßigkeit erforschen lassen soll, und von der metaphysischen Hypostasierung des Geistesbegriffs bei Hegel. Es geht gegenüber der naturwissenschaftlichen Erklärung, in der das Besondere stets Exemplar des Gesetzes ist, um die Einsicht in die dem geschichtlich-kulturellen Seinsbereich spezifische Art des Verstehens, das auf das Besondere als Besonderes gerichtet sei. Dieses verfüge über keine der Naturwissenschaft vergleichbare Gesetzesstruktur, dafür habe es aber ein ihm eigentümliches Apriori vorzuweisen. Im gleichzeitigen Gegenzug gegen den historizistisch-positivistischen Objektivismus, der das Selbst mit seinem möglichen kategorialen Vorverständnis zu eliminieren versucht, betont schon Rickert die Notwendigkeit eines methodischen »Vorurteils«, das erst eine Entscheidung darüber ermöglichen soll, welches kulturelle Ereignis für eine Untersuchung über die Kultur relevant ist.3 Es gilt dabei als ausgemacht, daß Kultur als Sphäre menschlicher Handlung durch die geschichtli2

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Vgl. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Freiburg i. Br. u. a.: Mohr 1899; Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie. 4. Aufl., München u. a.: Duncker & Humblot 1922 ['1892]; Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. In: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. 9., photomechanisch gedruckte Aufl., Tübingen: Mohr 1924 ['1894], Bd 2, S. 136-160; ders., Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus ['1910]. In: ebd., S. 279-294; Jonas Cohn: Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. Ein philosophischer Versuch. Leipzig: Meiner 1914. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (letzte Anm.), S. 30: »[...] so bedarf sie [die Kulturwissenschaft], falls ihr Verfahren nicht willkürlich sein soll, eines Prinzips der Auswahl, eines apriori oder eines Vorurteils, mit Rücksicht auf das sie im gegebenen Stoffe [...] das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet.«

1. Der Kantianer in Uniform

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che Zeit geprägt ist, die durch das apriorische Schema organisiert wird, andernfalls sich die Kulturwissenschaft in »ein Chaos von Existenzialsätzen«4 auflösen müßte. Ist die Sphäre von Geschichte und Kultur schon durch keine nomothetische Struktur präformiert, so darf sie doch keinesfalls sich selbst überlassen werden. Vielmehr bedarf es einer Vorverständigung über Auswahlkriterien, durch die sich das Chaos der faktischen Ereignisse in eine Ordnung zu verwandeln vermag. Während die Naturwissenschaft ein besonderes Ereignis nur als Exemplar eines Gesetzes begreifen kann, suche die »idiographische« Kulturwissenschaft primär das Besondere als Besonderes zu verstehen, 5 bedürfe dazu allerdings einer spezifischen Perspektive des Interesses. Damit rückt sie näher an die Kunst, mit der sie die idiographische Konzentration und das Prinzip der Darstellung verbindet, das Bewußtsein also, daß Rhetorik und Ästhetik die Erscheinungsweise des Besonderen mitbestimmen. 6 Die grundlegende methodische Auskunft erscheint dabei zunächst dürftig und tautologisch: das transzendentale Kriterium für jede Kulturwissenschaft liege nämlich im Begriff der Kultur selbst. Dieser besitze allerdings als ein System von Wertungen einen teleologischen Horizont, aus dem Kultur sich immer schon verstehe, von anderen Kulturen abgrenze und ihnen gegenüber individuiere. 7 Rickert stellt also der Vergangenheitsverlorenheit des Historizismus eine mit dem zu erfüllenden Wert gesetzte Zukünftigkeit der Kulturwissenschaft entgegen, d. h. er fordert im Grunde einen zeitlichen Perspektivenwechsel, der die fundamentale Historizität des Kulturbegriffs allerdings bestätigt. Aus der je schon vollzogenen Wertung entwerfe die Kultur sich selbst einen Horizont der zukünftigen Idealität, dessen Rückprojektion auf die Faktizität in Gegenwart und Vergangenheit dieser ein Sinnrelief aufpräge, in dem das Chaos sich erst zur Ordnung gestalten könne. Aus dem wertstrukturierten Horizont der (Ideal-)Kultur wird so eine selektive Deskription der faktischen Kultur und ihrer Geschichte möglich. Erst jetzt kann - wie schon Kant feststellt, 8 auf dessen verstreute Überlegungen zur historischen Ver4

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Max Weber: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann. 4., erneut durchgesehene Aufl., Tübingen: Mohr 1973 [' 1904], S. 146-214, hier S. 177. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (S. 12, Anm. 2), S. 37: »Sie wollen die Wirklichkeit selbst darstellen, die doch niemals allgemein, sondern stets individuell ist, und die daher, sobald sie in dieser ihrer Individualität in Betracht kommt, die Grenze für jeden naturwissenschaftlichen Begriff bildet, weil dessen Bedeutung gerade darauf beruht, daß das Individuelle durch ihn als unwesentlich ausgeschieden ist.« Ebd., S. 43. Ebd., S. 63: »[...] die Einheit und Objektivität der Kulturwissenschaften ist bedingt von der Einheit und Objektivität unseres Kulturbegriffs und diese wiederum von der Einheit und Objektivität unserer Wertungen.« Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Berlin: de Gruyter 1968, Bd 8: Abhandlungen nach 1781, S. 15-32.

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11. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

nunft sich Rickert ja ständig bezieht 9 - »ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System« 10 erscheinen. Wenn Windelband, der zuerst die Unterscheidung von nomothetischer und idiographischer Wissenschaft geprägt hat, Kultur zunächst eher neutral als »die Gesamtheit dessen, was das menschliche Bewußtsein vermöge seiner vernünftigen Bestimmtheit aus dem Gegebenen herausarbeitet«, definiert, diese Aktivität aber »aus dem kategorischen Imperativ, der Freiheit der Persönlichkeit in der Sphäre ihrer sozialen Betätigung« ableitet", so ist Kultur als ideale Sphäre im Sinne Kants an die Idee der sittlichen Autonomie gebunden. Die methodologische Entfaltung des Begriffs von der Kultur erkennt also zuerst dessen Werthorizont und von hier aus dessen temporale Struktur, die - fundamental »inter-kulturell« (Kultur des Ideals, Kultur der Gegenwart, Kultur des Ursprungs) - die kulturelle Faktizität reliefhaft aus einer idealen Projektion der Kultur begreift. Hermann Cohen nennt diese ideale Zukunft der Kultur deren messianische Dimension. 12 Die Vielfalt kultureller Aktivität wird so von dem werthaften Grundprinzip der Autonomie vereinheitlicht, d. h. die letzte Selbstbegründung des Kulturbegriffs zielt auf einen einheitsstiftenden Grund, der die Totalität der verschiedenen »Vernunftwerte in einer absoluten Einheit zu erleben« 13 gestatten soll. Auch noch, wo etwa Rickert den Kulturbegriff aus einer objektiv-theoretischen Wertsphäre abzuleiten sucht - d. h. die Relevanz bestimmter Werte für eine Kultur oder eine Gesellschaft werden zum Ausgangspunkt einer Darstellung, der gegenüber sich der Kulturwissenschaftler selbst »wertneutral« verhält 14 - stützt sich die Kulturphilosophie auf den obersten 9

Vgl. Heinrich Rickert: Geschichtsphilosophie. In: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer. Unter Mitwirkung von O. Liebmann u. a., hg. von Wilhelm Windelband. 2., verbesserte und um das Kapitel Naturphilosophie erweiterte Aufl., Heidelberg: Winter 1907 ['1904], S. 400-415, wo Rickert im Zusammenhang mit Überlegungen zum »Begriff einer systematischen Kulturwissenschaft« das Verhältnis von Wert und Sein, Sollen und Faktizität bei Kant diskutiert. Vgl. ders., Kant als Philosoph der Kultur (S. 3, Anm. 10). 10 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht (S. 13, Anm. 8), S. 25. " Windelband, Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus (S. 12, Anm. 2), S. 288. 12 Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (S. 2, Anm. 5), S. 24 bestätigt das Apriori der Kultur im Wert: »Die Menschheit ist das Subjekt der allgemeinen Sittlichkeit.« Ebd., S. 25 betont er, daß »der Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit [...] nicht in die Schattenwelt verlegt werden und eine solche Art von [platonischer] Verewigung erhalten« darf. Vielmehr muß der Unterschied zwischen Idealkultur und Realkultur »durch den Messias [begraben]« werden. Messianismus ist also gleich die zukünftige Verwirklichung des Ideals in der Wirklichkeit. 13 Rickert, Geschichtsphilosophie (oben, Anm. 9), S. 415. 14 Ebd., S. 362: »So gewiß die theoretische Wertbeziehung keine praktische Stellungnahme ist, und so gewiß daher der Historiker sich jeder Wertbeurteilung seiner Gegenstände enthalten kann, ebenso gewiß ist es, daß innerhalb des Gebietes der Werte, auf die er seine Objekte bezieht, zugleich selbst, als Historiker irgendwie ein wertender Mensch sein muß.«

I. Der Kantianer in Uniform

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stützt sich die Kulturphilosophie auf den obersten Wert der Autonomie. Nicht nur gründet Rickert die Kulturphilosophie auf die Idee Kants, indem er den Kulturbegriff aus dem, was »sein soll« gegenüber dem, was »ist«, ableitet hier liegt für ihn zugleich immer die Frage nach dem »Sein« des »Sollens«, nach der Metaphysik der Werte 15 - sondern er legt mit dem Wert immer schon die freie Wahl zugrunde, die er an allen dogmatischen Kulturphilosophien vom Marxismus und Biologismus bis zum Rassismus vermißt. 16 Das oberste Prinzip, das der Ethik der Kultur ihren letzten Legitimationsgrund verleihen soll, ist, wie auch immer implizit oder explizit, die Religion: Der geschichtliche Gang der Kultur spricht ohnehin dafür, daß der B e g r i f f des Menschen nicht erschöpft werden kann ohne die Bestimmung seines Verhältnisses zum Gottesbegriff. [...] Diese Komplikation ist vielleicht das schwierigste Problem der Kultur [...] Man glaubt es zu fühlen, daß die Kultur nicht zu Ruhe und Frieden kommen kann ohne die Erledigung dieses Problems. 1 7

Die Legitimation der Werte meinte schon Rickert in einer Art Metawissenschaft vom Sinn des Lebens 18 fordern zu müssen, ohne diese Idee weiterzuentwickeln. Für Hermann Cohen ist mit der letzten Legitimation von Kultur eine besondere Korrelation von Mensch und Gott gegeben, die dem individuellen Leben erst den eigentlichen Sinn verleiht, doch damit den rein immanenten Raum der Kultur schon zu überwinden beginnt. Insofern der »Monotheismus des Judentums« für Hermann Cohen jedoch die Grundlage für Reformation und transzendentale Ethik darstellt, bleibt dieser immerhin »das unerschütterliche Bollwerk für alle Zukunft der sittlichen Kultur« 19 . Analog verlangt Windelband von der Religion der Kultur, daß sie nicht nur die »in sich zerrissene Kultur« auf feste Grundlagen stelle, sondern auch schon, daß das »von demselben Jahrhundert ausgelöste Widerspiel der nationalen Kräfte« auf der Basis von Vernunft, im Sinne also einer vernünftigen Religion der Kultur aufgehoben werden solle 20 . Die Kulturwissenschaft gründet in letzter Instanz in einer impliziten oder expliziten Kulturtheologie, die nicht nur eine Methodeneinheit, sondern vor allem eine Politik verbürgen soll, die die Grundsätze der Kulturreligion in eine liberale Praxis hineintragen soll. Was Zukunft und Faktizität miteinander verbindet, ist also nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit eines methodischen Apriori der Wissenschaft, sondern vor allem die Praxis selbst, die als Garant für die Kontinuität zwischen Jetzt und Zukunft fungiert. Cohen, der den kategorischen Imperativ gelegentlich in die einfache Formel »Handle nicht als Ich im empirischen Sinne, sondern handele als Ich der Menschheit im idealen 15

Ebd., S. 4 1 5 .

16

Ebd., S. 4 0 8 . Cohen, Deutschtum und Judentum (S. 2, Anm. 6), S. 6 2 .

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Rickert, Geschichtsphilosophie ( S . 14, Anm. 9), S. 4 1 8 f f . Cohen, Deutschtum und Judentum (S. 2, Anm. 6), S. 6 1 . Windelband, Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus ( S . 12, Anm. 2), S. 2 8 9 - 2 9 1 .

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

Sinne« 21 - übersetzt, erkennt in der Idee der Menschheit das Prinzip des kulturellen Messianismus, in dessen Namen sich jüdischer Prophetismus, protestantische Reformation und deutscher Idealismus in einer für alle anderen Völker vorbildlichen Weise zusammenschließen. Ähnlich erkennen auch Troeltsch 22 und Max Weber 2 3 den genealogischen Zusammenhang von israelitischem Prophetismus, Protestantismus und kantianischer Kulturtheorie. Wenn die Kulturwissenschaft damit immer schon eine im ethischen Gesetz gründende Theologie besitzt, deren Verwirklichung in der Praxis erst die von ihr gesetzte Kontinuität ermöglicht, so läßt sie sich als eine spezifische jüdisch-protestantische Form von liberaler »politischer Theologie« bestimmen. In dieser neokantianischen Methodologie der Kulturwissenschaft bestehen immer schon zwei Probleme. Es wird nämlich nicht einsichtig, wie das interkulturelle Verhältnis von idealer Kultur und historischer Faktizität näher zu bestimmen ist (1), und wie man sich die Vermittlung von transzendentalem Wertschema und historischer Individualität, dem Gesetz und dem Besonderen vorstellen soll, um dessen Darstellung es der Kulturwissenschaft doch gerade zu tun ist (2). Insofern die Kontinuität von Faktizität und Idealität erst durch die Unterwerfung des Subjekts unter den Nomos der Freiheit eigentlich gegeben ist, erweist sich (1) als Funktion von (2). Mit anderen Worten: die Kulturwissenschaft hat zwar ein ihr eigentümliches Apriori definieren können, aber hat das Problem der Darstellung des Besonderen als Besonderen nicht einmal ansatzweise zu lösen vermocht. War schon bei Kant die Idee der Kultur als ein erst aus weiter Entfernung wahrnehmbarer Prozeß der Kulturierung und Versittlichung in der Geschichte konzipiert, 24 d. h. die Kulturgeschichte wurde auch für ihn nur unter der Vor21

Cohen, Deutschtum und Judentum (S. 2, Anm. 6), S. 51-52. Der kategorische Imperativ wird bei Cohen auch als Befehl gedacht, »jeden Anderen nicht in sinnlicher, rassenhafter, noch auch geschichtlichen Isoliertheit, sondern durchaus nur als Träger der ewigen weltgeschichtlichen Idee der Menschheit« zu betrachten. Da der Mensch niemals »das blosse Mittel der Menschen werden« darf, »so wächst der Sozialismus aus dieser Idee der Menschheit hervor« (ebd., S. 52).

22

Vgl. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (S. 2, Anm. 3), S. 21. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 16, Anm. 4), S. 582-613, hier S. 613; ders.: Das antike Judentum. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen: Mohr 1973 [' 1923], Bd 3. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Hinsicht (S. 13, Anm. 8), S. 25: »Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke. Ich sage: etwas weniges; denn dieser Kreislauf scheint so lange Zeit zu erfordern, bis er sich schließt, daß man aus dem kleinen Theil, den die Menschheit in dieser Absicht zurückgelegt hat, nur eben so unsicher die Gestalt ihrer Bahn und das Verhältnis der Theile zum Ganzen bestimmen kann, als aus allen bisherigen Himmelsbeobachtungen den Lauf, den unsere Sonne sammt dem ganzen Heere ihrer Trabanten im großen Fixsternesystem einnimmt.«

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1. Der Kantianer in Uniform

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aussetzung des Ideals von Kultur als kontinuierlicher Kulturisationsprozeß lesbar, so blieb doch die grundsätzliche Frage nach der Vermittlung von allgemeinem Gesetz (der Freiheit) und Individualität auch bei ihm prinzipiell ungelöst, auch wenn Kant freilich nicht den Versuch einer Grundlegung der Kulturwissenschaften unternimmt. (Immerhin konstruiert Kant implizit immer schon einen Zusammenhang zwischen der transzendentalen Grundlegung der philosophischen Wissenschaft und der Herstellung eines universalen Weltkulturfriedens. 25 ) Nicht nur mußte Individualität also unter der werthaften Voraussetzung der Kulturwissenschaft wieder zum Exemplar eines Gesetzes werden, auch die Applikabilität des Gesetzes selbst blieb zumindest fragwürdig. Keineswegs konnte es als ausgemacht gelten, daß Individualität lediglich aus dem einen Gesetz der Freiheit zu konstruieren sei. So weist Emil Lask 26 mit aller Schärfe auf diese innere Problematik der Kulturwissenschaft hin: Während die Mathematik bei Kant zum Modell transzendentaler Wissenschaft aufrücke, weil sie noch das individuelle Faktum der Anschauung durchgehend apriori bestimmen könne - vom Begriff des Kreises aus gelangt man durch Konstruktion zur mathematischen Individualität des einzelnen Kreises - sei schon der Zusammenhang zwischen synthetischem Begriff und empirischem Faktum in der Naturwissenschaft immerhin anzweifelbar; der Übergang vom Gesetz zum individuellen Verhalten im Seinsbereich von Kultur und Geschichte sei dann allerdings radikal problematisch. Lask verweist vor allem auf den epistemologischen Skeptizismus Salomon Maimons und des mittleren Fichtes, für die der Hiatus zwischen der vernünftigen Konstruktion des Seins und der vernunfttranszendenten Individualität unüberbrückbar bleiben mußte. Fichte spricht in der Tat von einem ungeheuren aufbrechenden Abgrund, einem TohuWabohu gleichsam, aus dem die Vernunft sich selbst zu erschaffen sucht: »[...] es [ist] demnach in der Mitte zwischen [der vernünftigen] Projektion und [dem erscheinenden] Projektum finster und leer.« 27 Eben dieser Skeptizismus wird auch zum Ausgangspunkt für Lasks Überlegungen zur Logik der Kulturwissenschaft. Faktizität und Individualität erscheinen gerade aus der Perspektive der an sie herangetragenen Gesetzlichkeit als »Gesetzlosigkeit«, »Zufälligkeit« und 25

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Ingeborg Heidemann. Stuttgart: Reclam 1982 (Reclams Universal-Bibliothek, 6461), S. 762f. Hier wird die Architektur der Wissenschaft zum Grundplan für eine neue Einheit der Kulturen. Die Metapher vom biblischen Babel ist nicht zufällig. Vgl. Christoph Schmidt: Kant verirrt sich in Babel. Der Bericht vom Turmbau zu Babel als Urtext der säkularen Kultur. In: Zwischen den Kulturen. Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Forschungszentrums für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität hg. von Carola Hilfrich-Kunjappu und Stéphane Mosès. Tübingen: Niemeyer 1997 (Conditio Judaica. Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, 20), S. 93-106.

26

Emil Lask: Fichtes Idealismus der Geschichte. Tübingen: Mohr 1902. Ebd., S. 169.

27

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II. Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

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»Irrationalität«28. Kam die Problematik der Individualität wegen der Konstruktion einer absoluten Metaphysik beim jungen Schelling und dann bei Hegel gar nicht wirklich zum Ausbruch, so manifestiert sie sich jetzt im Kontext der kulturwissenschaftlichen Selbstreflexion gerade deswegen, weil es dieser um die Konstruktion der historischen Individualität zentral zu tun ist. Die Kulturwissenschaft stößt auf den Charakter der transzendentalen Zufälligkeit und Irrationalität, auf die Tatsache also, daß Individualität selbst nicht apriori konstruierbar ist. Gerade im Historischen weicht sie immer als die unergründliche Gegebenheit vor dem Zugriff des Gesetzes zurück. Schon Windelbands früher programmatischer Aufsatz zur Grundlegung der Kulturwissenschaft konstatiert einen fundamentalen Riß zwischen historischer Vernunft und geschichtlichem Ereignis: Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen. Hieran sind alle Versuche gescheitert, das Besondere aus dem Allgemeinen, das Viele aus dem Einen, das Endliche aus dem Unendlichen, das Dasein aus dem Wesen begrifflich abzuleiten. Dies ist ein Riß, welchen die großen Systeme der philosophischen Welterklärung nur zu verdecken, aber nicht auszufüllen vermocht haben. 29

In den späteren Überlegungen Ernst Troeltschs zu diesem logischen Problem der Kulturwissenschaft 30 wird die Frage nach der Möglichkeit einer Vermittlung von Idee und Realität, Apriori und Geschichte zu einem klaren Symptom von Kulturkrise. Diese Krise lasse sich eben an der Aporie der Kulturwissenschaft erkennen: »Gibt man sich hin an die wirkliche Geschichte, so verschwindet die Idee, konstruiert man aus der letzteren, so verschwindet die reale Geschichte.« 31 Troeltsch resümiert in diesen Überlegungen über die Kulturkrise das endgültige »Auseinanderbrechen von Idee und Realität« 32 , womit sich eben das Problem des Individuellen (= Realität) und das der Zukunftsgestaltung (= Idee) um so dringender wieder stellt. Die Phänomenologie von Edmund Husserl versteht sich schon als eine Strategie zur Bewältigung der Kulturkrise. Ähnlich wie der Neokantianismus sucht 28 29 30

31

32

Ebd. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (S. 12, Anm. 2), S. 160. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. In: ders., Gesammelte Schriften. Neudruck der im Verlag Mohr 1922 erschienenen Ausg., Aalen: Scientia-Verlag 1977, Bd 3. Ebd., S. 131: »So ist es Ranke gegangen, dessen historische Ideen oder >Tendenzen< zu individuell begriffen wurden, und der darum jede Epoche unmittelbar zu Gott sein ließ, was die Leugnung jeder Vermittlung durch die in allgemeinen Durchgangsstufen sich auseinanderziehende Idee Hegels ist. Der Widerspruch zwischen der rationalen Idee und der individuell konkreten Geschichte bleibt daher auch bei Hegel trotz der denkbar innigsten Ineinanderziehung bestehen. Gibt man sich hin an die wirkliche Geschichte, so verschwindet die Idee, konstruiert man aus der letzteren, so verschwindet die reale Geschichte.« Ebd., S. 132.

1. Der Kantianer in Uniform

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er nach einem Verständnis des Menschen, das nicht durch Naturalismus und Historizismus entstellt wird. Im Unterschied jedoch zum Neukantianismus sucht Husserl freilich eine neue Wissenschaft vom Bewußtsein zu begründen, in der alle Wissenschaften ihr letztes Fundament finden. Der Naturalismus habe das Sein des Bewußtseins mittels kategorialer Begriffe wie Raum, Zeit, Substanz, Kausalität verdinglicht, d. h. es in Begriffen verzeichnet, die nur dem Sein naturhafter Objekte zukommen können. 3 3 Der Historizismus habe darüberhinaus mit seiner Einsicht in die »Relativität der geschichtlichen Lebensform« 3 4 die Grundlage für eine feste Gültigkeit der für das Leben unentbehrlichen Werte zerstört. In der phänomenologischen Reduktion als der »Infragestellung aller wissenschaftlichen und natürlichen Gegebenheit« 3 3 und der »Epoche« als »Ausschaltung der Transzendenz von Ich und Welt« 36 sucht die phänomenologische Wissenschaft einen unverstellten Zugang zum reinen Wesen der Erkenntnis. Nur eine Neubegründung von Wissenschaft und Leben können »die geistige Not unserer Zeit« überwinden. Wäre es doch nur die theoretische Unklarheit über den Sinn der in Natur- und Geisteswissenschaften erforschten Wirklichkeiten, was unsere Ruhe störte - inwiefern nämlich in ihnen Sein anzusehen und ob dergleichen überhaupt erkennbar sei. Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkt unseres Lebens halt macht. Alles Leben ist Stellungnehmen, alles Stellungnehmen steht unter einem Sollen, einer Rechtsprechung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, nach prätendierten Normen von absoluter Geltung. So lange diese Normen unangefochten, durch keine Skepsis bedroht und verspottet waren, gab es nur eine Lebensfrage, wie ihnen praktisch am besten zu genügen sei. Wie aber jetzt, w o alle und jede Normen bestritten oder empirisch verfälscht und ihrer idealen Geltung beraubt werden? 3 7

Das Nachdenken über die Kultur erhält also schon früh eine neue Dimension im »Leben«. Diese existenzielle Dimension, die im neokantianischen Denken das Problem der Individualität betrifft, bezeichnet nicht nur das »irrationale«, besser eigentlich: »transrationale« Objekt kulturwissenschaftlicher Bemühungen, sondern auch das Subjekt des Kulturwissenschaftlers selbst, der in der Kultur als handelndes Subjekt sich befindet und versteht. Dieses Ich kann gegenüber der Kulturwissenschaft nicht mehr unbeteiligt sein - wie etwa der Philosoph der 33

Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft [1910/11]. 11.-15. Tsd, Frankfurt a. M.: Klostermann 1981 (Quellen der Philosophie, 1), S. 36-37: »Alles Psychische, das so Erfahrenes ist, hat dann, wie wir ebenso mit Evidenz sagen können, Einordnung in einen umfassenden Zusammenhang, in eine monadische Einheit des Bewußtseins, eine Einheit, die in sich gar nichts mit Natur, mit Raum und Zeit, Substanzialität und Kausalität zu tun, sondern ihre ganz einzigen Formen hat.«

34

Ebd., S. 50. Edmund Husserl: Idee der Phänomenologie. In: ders., Husserliana. Gesammelte Werke. Auf Grund des Nachlasses veröffentlicht von H. L. van Breda. Den Haag: Nijhoff 1950, Bd 2, S. 29. Ebd., S. 44. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft (oben, Anm. 33), S. 66.

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II. Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

Naturwissenschaft, der eben nur als letzte Einheitsfunktion ihrer Kategorien auftritt. Die Konstruktion einer Idealkultur als hermeneutischer Horizont betrifft nunmehr unmittelbar den existentiellen Seinshorizont dieses Ichs. Nur in der Kulturwissenschaft, die sich eben methodisch als idiographische Wissenschaft definiert - d. h. als Wissenschaft, der es um die Erkenntnis des Besonderen als des historischen Individuums geht - konnte sich eine solche existentielle »Achsendrehung« 38 der Wissenschaft vollziehen. Die historizistische Selbstlosigkeit und Vergangenheitsverlorenheit verwandelt sich so mit zunehmender Selbstreflexion in eine aus der Zukunft zu begreifende existentielle SelbstbegrUndung als Voraussetzung des Verstehens von Kultur. Es ist nunmehr die in ihrem Sein unverständliche Individualität, die unter der Schicht der Tradition ihres Wesens als der »irrationale« Grund des Kulturverstehens hervorbricht. In dieser existentiellen Achsendrehung der Kulturwissenschaft, ihrer wahrhaft »kopemikanischen« Wende, treten sich jetzt nicht nur »innen« und »außen« der erscheinenden Welt als unvermittelt gegenüber, sondern das Subjekt verstrickt sich zunehmend selbst in die Dichothomie von denkendem und faktisch seiendem Subjekt: es ist sich selbst »außen« und »innen« und damit nicht weniger fremd als die rationale Form dem Ding. »Zunächst sind wir ja ganz eingesponnen in die zeitgeschichtlichen Strukturen unserer eigenen Lebensarten [...]. Selbst zwischen uns und uns steht bereits diese Struktur.«39 Der »Existenzialismus« dieser Jahre ist also keineswegs nur als Aufnahme philosophischer Motive bei Kierkegaard und Nietzsche zu verstehen, er geht hier aus einer wissenschaftstheoretischen Problemsituation hervor, die - wenn »Kultur« den Überrahmen auch noch der Naturwissenschaft bilden soll - die letzten Grundlagen sowohl der transzendentalen wie auch der phänomenologischen Wissenschaft betrifft. Dem unergründlichen »innen« von Ding und Ich entsprechen jetzt grundsätzlich unendlich viele perspektivische Einstellungen, Begriffe und logische Strukturen, in denen das »innen« sich veräußert. Diese Einstellungen bzw. Abschattungen ersetzen - wie Simmel feststellt - das Ding an sich. Von nun an durchquert das Subjekt fortwährend »mannigfache Ebenen, deren jede prinzipiell die Welttotalität nach einer besonderen Formel darstellt« 40 . Schon in der »Soziologie« von 1908 versucht Simmel aus dieser Situation einer Polyperspektivität des Wissens das Subjekt nicht mehr als Substanz, sondern als Funktion komplizierter intersubjektiver und intertextueller Mechanismen zu beschreiben. Das Individuelle verwandelt sich ihm hier zu einem »Ort, an dem sich soziale Fäden verknüpfen« 41 . Zugleich aber erkennt er hinter diesem prin38

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Georg Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München: Duncker & Humblot 1918, S. 51. Max Scheler: Versuche einer Philosophie des Lebens. In: ders., Abhandlungen und Aufsätze. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1915, Bd 2, S. 169-228, S. 187. Simmel, Lebensanschauung (oben, Anm. 38), S. 37. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. In: ders., Gesammelte Werke. 6. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1983, Bd 2, S. 15.

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zipiell »relationellen« Subjekt die Tiefendimension des »Lebens«, das zwar der sozialen Szene ihre eigentümliche Dynamik verleiht, aber sich selbst der rationalen Einsicht entzieht. In jedem Augenblick spinnen sich solche Fäden [zwischen den Menschen], werden fallen gelassen, wieder aufgenommen und durch andere ersetzt, mit anderen verwebt. Hier liegen die nur der psychologischen Mikroskopie zugänglichen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft, die die ganze Zähigkeit und Elastizität [...] dieses so deutlichen und rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen. 42

Max Weber leitet aus dieser veränderten Situation der Kulturwissenschaft, aus der Tatsache also, daß nun »das Leben [...] eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen >in< uns und >außer< uns« 43 anbietet, die Idee einer »konstellativen« Kulturwissenschaft ab, die ihren Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven umkreist 44 und damit immer schon das Phänomen der Gesellschaft als Bedingung für diese Pluralität voraussetzt. Weber verweigert sich also der sich in der Kulturphilosophie anbahnenden existenziellen Achsendrehung bzw. in seiner Sprache: der »anthropologischen Reduktion« 45 . Leben stellt sich für ihn nur in seinen registrierbaren pluriversalen Artikulationen dar, obwohl gerade er die Dialektik der modernen Rationalisierung in ihrer Anfälligkeit für eine erneute Verzauberung des Lebens scharf erkennt. Nach der rationalen Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft bleibe nämlich die Frage nach dem Sinn des Rationalisierungsprozesses so unbeantwortet wie der Sinn der kapitalistischen Rationalisierungen jenseits ihres unmittelbaren Zwecks. »Und ob diese Welt«, die die Wissenschaften beschreiben, »wert ist, zu existieren, ob sie einen Sinn hat, und ob es einen Sinn hat, in ihr zu existieren« 46 , wird von ihnen nicht beantwortet. Gerade deswegen sei eine »Rückkehr« der entzauberten Götter zu befürchten und damit das Ende der modernen Kultur. Webers Vision von einer neuen Irrationalität der Kultur nimmt sich wie eine Umkehrung des berühmten Diktums von Nietzsche aus, demzufolge da, wo die Götter nicht gut genug gedacht würden, Wissenschaft entstehen müsse: Die alten Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. 47

Kulturwissenschaft und Kulturphilosophie stehen jetzt vor zwei möglichen methodischen Entscheidungen: entweder sie konzentrieren sich auf die Vielfalt 42 43

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Ebd., S. 15. Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (S. 13, Anm. 4), S. 171. Ebd., S. 174. Ebd., S. 167. Weber, Wissenschaft als Beruf (S. 16, Anm. 23), S. 599. Ebd., S. 605.

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//. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

möglicher Sinnperspektiven und lassen das j e besondere Seiende konstellativ von diesen einkreisen oder sie suchen den Grund dieser Formenwelt im Leben selbst zu begreifen. Ernst Cassirer hatte in »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« 4 8 versucht, Ich und Gegenstand aus eben dieser starren Gegenüberstellung als autarke Substanzen zu befreien, indem er sie als zwei Glieder derselben Funktion beschreibt. Der Gedanke des Ich ist keineswegs ursprünglicher und logisch unmittelbarer als der Gedanke des Objekts, da beide nur miteinander bestehen, und sich nur in steter Wechselbeziehung aufeinander entwickeln können. 49

Die Geschichte der Vernunft stellt sich aus dieser Perspektive als eine zunehmende Funktionalisierung von Subjekt und Objekt dar, die Cassirer als einen Transformationsprozeß vom »Sein« zur »Repräsentation« beschreibt: »Immer mehr Bestimmungen, die zuvor als dem Sein selbst zugehörig galten, wandeln sich nunmehr in bloße Ausdrücke des Seins.« 50 Hier liegt schon der Ansatzpunkt für eine umfassende Kulturphilosophie, die mit der Idee der Repräsentation sich zum Symbolbegriff erweitert und von diesem aus jetzt nicht mehr nur die mathematisch-naturwissenschaftliche Begriffsbildung zu explizieren sucht, sondern alle Lebensformen der Kultur vom Mythos bis zu Kunst und Sprache als symbolische Formsysteme untersucht. Cassirers großer kulturwissenschaftlicher Entwurf der »Philosophie der symbolischen Formen« 51 aus den zwanziger Jahren erkennt wie Weber die der Kultur eigene »ständige Spannung« zwischen Kultur und Leben 52 . Nichts befürchtet er dabei mehr als eine anthropologische Reduktion, die grundsätzlich auf eine unmittelbare Intuition des Lebens zielen müsse, so daß eine »Negation der symbolischen Formen« zu erwarten sei, in denen sich dieses unbekannte Leben entäußere: Die reine Unmittelbarkeit des Lebens [...] kann [...] nur ganz oder gar nicht geschaut werden: sie tritt in die mittelbaren Darstellungen, die wir von ihr versuchen, nicht ein, sondern bleibt als ein prinzipiell Anderes, ihnen Entgegengesetztes, außerhalb ihrer stehen. Nicht in irgendeiner Form der Repräsentation, sondern nur in der reinen Intuition läßt sich der ursprüngliche Gehalt des Lebens erfassen. Alle Auffassung des Geistigen hat daher, wie es scheint, zwischen diesen beiden Extremen zu wählen. Es gilt die Entscheidung, ob wir das Substantielle des Geistes in seiner reinen Ursprünglichkeit, die allen mitteilbaren Gestaltungen vorausliegt, suchen - oder ob wir uns der Fülle und Vielfältigkeit eben dieser Vermittlungen hingeben wollen. Nur in der ersteren Auffassung scheinen wir an den eigentlichen, den echten Kern des Lebens zu rühren, der aber als ein schlechthin einfacher, in sich selbst verschlossener Kern erscheint - während wir in der zweiten zwar das gesamte Schauspiel der 48

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Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Berlin: Cassirer 1910. Ebd., S. 392. Ebd., S. 402. Emst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde, Berlin: Cassirer 1923-28. Ebd., Bd 1 (1923), S. 50.

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Entwicklungen des Geistes vor uns vorüberziehen lassen, das sich jedoch, je tiefer wir uns in dasselbe versenken, um so deutlicher in ein bloßes Schauspiel, in ein reflektiertes Abbild ohne selbständige Wahrheit und Wesenheit auflöst. Die Kluft zwischen diesen beiden Gegensätzen läßt sich - so scheint es - durch keine Bemühung des vermittelnden Denkens, das selbst ganz auf der einen Seite des Gegensatzes verharrt, jemals überbrücken: je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition. 53

Cassirer erkennt hier in der Tat nur einen wirklich begehbaren Weg zwischen dem, was wie das »Paradies der reinen Unmittelbarkeit« erscheint, und der »Klarheit des diskursiven Denkens«. Wie in Kleists Parabel vom Marionettentheater ist für Cassirer der Stand der errungenen Reflexion unhintergehbar und so bleibe hier - um der Kultur willen - kein anderer Ausweg, »als die Richtung der Bewegung umzukehren. Statt den Weg zurückzutun, muß sie [die Reflexion] versuchen, ihn nach vorwärts zu vollenden« 54 . Das heißt für Cassirer, daß die Kulturwissenschaft »statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der Einheit der [als unmittelbar und intuitiv zugänglich imaginierten] Substanz« nach »einer Regel« fragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht55. Im Prinzip der symbolischen Form erkennt er dieses Einheitsprinzip aller Regeln, das in den verschiedenen »Erzeugnissen der geistigen Kultur [...] einen einzigen Problemzusammenhang« stiftet 56 . Das teleologische Universum der Kultur, das zunächst auf der Grundlage des einen Gesetzes sich als Ordnung formieren sollte, zerfällt für beide alternative Formen der Kulturwissenschaft in ein Pluriversum von kulturellen Welten und Selbstansichten, ein Ensemble ¡dizentrischer Einstellungen, die alle Funktion derselben fundamentalen Dichothomie von innen und außen sind. In der existentiellen Achsendrehung der Kulturwissenschaft jedoch, die ihren radikalen Ausdruck in der »Lebensphilosophie« erhält, ereignet sich damit nicht nur eine pluriversale Dezentralisierung des (neo-)kantischen Universums, sondern sie wird zum Kern einer Erfahrung, die sich mehr und mehr als radikale Kulturkrise versteht. Was - wie bei Weber und Cassirer - als Befreiung der Kultur vom Zwang einer universalen und reduktiven Vernunft hätte begriffen werden können, verwandelt sich eben bei den meisten Kulturwissenschaftlern deswegen in ein Trauma, weil in dieser Dezentralisation der Mensch selbst sein Zentrum verliert und sich selbst damit zum Rätsel wird. Kultur erscheint nicht nur in einer rational unentscheidbaren Beliebigkeit, sondern das Subjekt erfährt diese Beliebigkeit und fundamentale Unbestimmtheit an seinem eigenen Sein in einer Art Angstschock, der die Frage nach dem »Leben«, der »Exis53

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Ebd., S. 48-49. Vgl. dazu auch Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von John Michael Krois. Hamburg: Meiner 1995, Bd 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 30ff. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (S. 22, Anm. 51), Bd 1, S. 49. Ebd., S. 8. Ebd., S. 12.

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Ii. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

tenz« und dem »Wesen« des Menschen so dringlich wie nie erscheinen läßt. 57 Die Beliebigkeit bedroht die Möglichkeit des Lebens selbst, insofern dieses aus den Seins- und Zeitzwängen heraus - um dem Leben die erforderliche Richtung zu geben - sich entscheiden muß, ohne Kriterien für eine solche Entscheidung zu besitzen. Die aus dem »Leben« hervorgegangenen Formen, Institutionen und Kategorien treten dem Leben damit zunächst als fremd gegenüber, da sie dem Bedürfnis nach Selbstverstehen nicht mehr zu entsprechen vermögen. Das Leben gerät sowohl in ein Dissoziationsfeld von innen und außen, als auch in eine Situation, da eine mögliche Integration der Pole aussichtslos erscheint. Simmeis Lebensphilosophie und Max Schelers lebensphilosophische Phänomenologie stoßen also dieser Logik zufolge auf das rätselhafte Faktum des Daseins, dessen philosophische Formbestimmungen qua Substanz, Vernunft, Subjekt oder »Gesetz« zwar als Funktionen bestimmter Weltformen erkannt werden, die aber die Frage nach dem Wesen dieses sich fragmentierenden Seins um so dringlicher machen. »Wir sind«, meint Scheler, »das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos >problematisch< geworden ist, in dem er nicht mehr weiß, was er ist« 58 . Ein Schock fährt durch die Epistemologie der Kultur und läßt das sich fremd gewordene Ich vor sich selbst in Angst zurückschaudern. Dieser Schock läßt alle kulturellen Formen von der referentiellen Oberfläche des sprachlichen Symbols bis zu den Formkategorien in der Kunst und den Konstruktionen Gottes erzittern. Er greift auch auf die gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen Uber, die jetzt dem Leben als starre Formen entgegentreten. Simmel und Scheler sind neben Weber nicht zufällig die Mitbegründer der deutschen Soziologie, die aber gleichsam ex negativo - d. h. aus der Erfahrung von Entfremdung und Formverlust des Ichs das Phänomen Gesellschaft konstruieren. In einem Kommentar zu der für die deutsche Lebensphilosophie neben Dilthey und Nietzsche so wichtigen Orientierungsfigur Henri Bergson stellt Scheler fest: 57

Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens (S. 20, Anm. 39), S. 219: »Der Mensch von heute [...] ist ganz außerhalb seiner. Er weiß nichts von Augustins >Noli foras ire, in te ipsum intrac. Die räumlichen Bilder und Symbole für Seelisches verstecken und verhüllen ihm die intime Einheit seiner Seele.« Lessing, Theaterseele (S. 7, Anm. 28), S. 9: »Ein gealteter Heldenspieler entdeckt eines Tages mit schauerndem Entsetzen, daß er kein Ich mehr habe. Er entdeckt, daß er immerfort in fremden Worten redet, mit fremden Augen sieht, mit fremden Ohren hört.« Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin: Jüdischer Verlag 1930, ist die Anwendung dieser Fremderfahrung auf die jüdische Existenz: »Jedes Gegenständlichwerden von Erlebnissen setzt schon voraus diesen Akt des Selbstentfremdens« (S. 31), der sich beim Juden als das fundamentale Gefühl des »draußen Stehens« darstellt (S. 46). Lessing beschreibt das Phänomen der Selbstentfremdung und Selbstverdopplung hier (S. 29) übrigens mit einem griechischen Ausdruck Goethes als »Heautontimorumenie« (= Neigung sich selber zu quälen).

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Max Scheler: Mensch und Geschichte. In: ders., Philosophische Weltanschauung. Bonn: Cohen 1929, S. 15-46, hier S. 15.

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Die räumlichen Bilder und Symbole für Seelisches verstecken und verhüllen ihm [dem Ich] die intime Einheit seiner Seele. [...] Seine soziale Figur und das soziale Ich, das spricht und handelt, liegt wie eine undurchdringliche Hülle über der individuellen Regsamkeit seines wahren intimen Ich. 59 Die kulturellen Formen erscheinen in den Texten, Partituren und Bildflächen der Epoche vor und während des Ersten Weltkrieges wie die von allem Leben verlassenen Gehäuse, die nur noch auf den letzten Windsturm der Kritik warten, bevor sie zerbersten. Kaum kann man sich des Eindrucks erwehren, der Erste Weltkrieg bereite sich zuerst in der Epistemologie der Kultur vor, bevor er vom Innen ins Außen umschlägt und die wirklichen Heimstätten der Menschen in Schutt und Asche legt. Im Augenblick der Gefahr nämlich, im Notstand, der Grenzsituation und der Suspension aller gewohnten Regeln und Begriffe im Krieg erkennen Simmel 6 0 und Scheler 61 tatsächlich eine erste Möglichkeit, die als tragisch erfahrene Dichothomie von faktischer Existenz und kultureller Essenz zu überwinden. Gerade weil das Leben an sich zunächst als »irrational« gedacht wird, kommt es im Lebenswillen, d. h. dem Willen zu Uberleben, erst eigentlich zu sich. Das Leben will zunächst nichts anderes als sich selbst leben und »erleben«, und d. h. für Simmel und Scheler, daß es immer schon über sich hinaus, nicht nur sich bewahren will. Gefahr, Notstand, Situation und Bombenangriff zwingen allerdings zu einer Entscheidung, die sich ihrer epistemologischen Bedingungen nicht zu versichern braucht, weil sie es ohnehin nicht kann! 62 Mit anderen Worten: das ehemalige kantianische Subjekt und sein Kampfgenosse aus der husserlianischen Phänomenologie rüsten sich für den Ernstfall, in dem das Spiel der Kultur zu Ende kommt: sie ziehen

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Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens (S. 20, Anm. 39), S. 219. Scheler setzt sich hier mit der sowohl für die Lebensphilosophie als auch für die neue Phänomenologie so wichtigen Philosophie Henri Bergsons auseinander, der in Zeit und Freiheit (S. 11, Anm. 1), zwischen Ich und Ich durch die kategoriale Differenz von Dauer und Zeit, Erlebnis- und Meßzeit unterscheidet. Diese kategoriale Differenz setzt eine Differenz von Zeit und Raum, innen und außen, aber vor allem dem Tiefen-Ich und sozusagen institutionell-symbolischen Außen-Ich, die sich hier vollkommen entfremdet gegenübertreten. Das eigentliche freie Handeln bezeichnet damit den Durchbruch aller bisherigen Form des Ichs zugunsten eines spontanen Befreiungsaktes: »Frei handeln« heißt »von sich Besitz ergreifen, sich in die reine Dauer zurückversetzen« (S. 182). Diesen Akt beschreibt Bergson an anderer Stelle als einen »Staatsstreich« (S. 124). Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. München: Duncker & Humblot 1917. Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher 1915. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (vorletzte Anm.), S. 18: »Mit der Härte und Entschiedenheit, zu der der Krieg unser Dasein ausgehämmert hat, verträgt sich dies nicht länger. Er stellt alle und alles vor ein unbarmherziges Entweder - Oder von Wert und Recht und läßt nur noch Raum für das wahrhaft Keimkräftige und Echtgebliebene.«

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Ii Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der

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sich eine Uniform über. Als Soldaten gelingt ihnen für einen Augenblick die Herstellung - wie es jetzt heißt - des »ganzen Menschen« in seiner Identität von Existenz und Essenz. 63 Begeistert resümiert Simmel, daß in der soldatischen Existenz »das Individuellste und das Allgemeinste sich an jeden Punkt zur Lebenseinheit durchschwingen« 64 . Im Erlebnis der soldatischen Entscheidung wird ein epistemologisches Problem gelöst! Lebensphilosophisch verwandelt sich das Entscheidungskriterium, das die neokantianische Kulturwissenschaft mit dem ethischen Nomos erstellte, in die Entscheidung des Lebens für sich selbst. Dieses Leben hat den Nomos hinter sich gelassen und ist nun ganz sich selbst überlassen. In der »absoluten Situation« der Entscheidung (im Krieg) bedarf es keiner »objektiven Rechtfertigung des Willens aus der Kultur« mehr 65 . Gerade hier in der Konfrontation mit der Todesangst meint Simmel den inneren Zusammenhang mit der Philosophie Kants zu erkennen. »Die absolute Entscheidung [des Soldaten] ist jene höchste Instanz unseres Wissens, die Kant >das Vermögen der Ideen< nennt, d. h. das Vermögen, ein Unbedingtes zu erfassen.« 66 Wenn das Subjekt im Angstschock zunächst die Dissoziation von innen und außen erfährt, so dringt es in der Existenzgefahr auf seinen Lebensgrund. Dieser ist jetzt allerdings nicht mehr die erhabene Idee, in der die verborgene Einheit der Vernunft aufleuchtet wie bei Kant, sondern sie ist Anzeichen für die irrationale Einheit des Lebens, als Gefühl, Ekstase und Transzendenz, - als »Anderes« - , in denen die Vernunft und mit ihr Regel, Gewohnheit und Form liquidiert werden. Der Soldat, der die Dissoziation des Subjekts im Frontmanöver überlebt, überwindet also den epistemologischen Zweifel, der sich zur Existenzkrise ausgeweitet hat, gleichsam mit dem Schießgewehr. Anders als in der idealistischen Philosophie, in der die Selbstüberwindung den Weg zu Freiheit und Vernunft eröffnet, findet das Subjekt bei Simmel zu seiner Lebenswurzel, einer einmalig gefühlten Identität von Leben und Erleben, in der die Vernunft gerade transzendiert wird. Lag die Selbsterfüllung für Kant also im Nomos der Freiheit, so erkennt Simmel sie in der Überwindung des Nomos, in einer rein gesetzlosen Seinsweise also, die sich einem existentiellen Notstand verdankt. Der Erste Weltkrieg übernimmt offenbar für die Kulturwissenschaft eine ähnliche Funktion wie die französische Revolution und die napoleonische Ära für die Entwicklung des transzendentalen Idealismus: er zwingt zu einer Klärung ihrer Kategorien vom Gesichtspunkt der veränderten politischen Praxis aus. Diese Praxis hat sich allerdings radikal verwandelt: die idealistische Kon63

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»Hinter dem Soldaten versinkt der ganze Apparat der Kultur« (ebd., S. 48), so daß das »Ideal des neuen Menschen« (ebd., S. 23) erkennbar werden kann. »Das ist nicht ein einzelner in concreto möglicher Mensch - von einem Messias rede ich hier nicht, sondern eben eine übersinguläre Idee.« (Ebd., S. 26) Ebd., S. 10. Simmel erkennt im Kriegserlebnis einen »neu gefühlten Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und der ganzen Nation«. Ebd., S. 21. Ebd., S. 28.

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zeption von Kultur sollte einen ewigen Frieden zwischen den Kulturen praktisch und theoretisch begründen, alle ihre dramatischen Transformationen von der Vernunftkritik zur Ethik, von der Ethik zur Ästhetik, von der Ästhetik zur Mythologie, der Mythologie zur Mystik, von der Mystik zur Dialektik des Geistes lassen sich als transzendentale Korrekturen und Kommentare zur französischen Revolution begreifen. Die Kulturwissenschaft, in vieler Hinsicht eine methodisch orientierte Rekapitulation der verschiedenen Entwicklungsstufen des Transzendentalismus, vollzieht sich unter dem Schatten des Ersten Weltkrieges: in ihm vollstreckt die Geschichte, was in den verschiedenen Seinsgebieten von der Kunst bis zur Theologie theoretisch sich vorbereitete: eine umfassende Destruktion der Uberlieferten Formen. Simmel hofft, daß »dieser Krieg [...] einen anderen Sinn hat als Kriege sonst haben, daß er eine mysteriöse Innenseite besitzt« 67 . Für Scheler besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem Krieg und der phänomenologischen Methode: Wie »die Phänomenologie die adäquate Erkenntnis des Wesens [...] allem die evident erlebte Berührung mit der Sache selbst und ihrer Fülle gibt«, so »fließe« im Krieg »die Lebensquelle mit wachsender Konzentration immer reiner« 68 . Der Weltkrieg stellt sich hier als eine husserlianische »Epoche« auf der historischen Ebene: nämlich als »Weltvernichtung« dar, Uber die sich das Wesen der Geschichte in einem Akt der Ideation schauen lassen soll. Seine Phänomenologie des Krieges verdichtet sich geradezu zu einem heraklitischen Fragment, in dem die Idee vom Frieden als Substanz der Kultur umgekehrt wird: »Der Krieg - sagte ich - hat [...] eine Wurzel im Wesen des Lebens überhaupt.« 69 Mit anderen Worten: das von der Kultur entfremdete Leben gelangt erst in der Todeserfahrung zu sich selbst, da es sich im Augenblick der Gefahr fUr das Leben entscheiden muß. In der zuerst enthusiastisch nationalen Kriegserfahrung gelingt damit weniger eine haltbare Lösung der alten epistemologischen Dichothomie von innen und außen als deren Transformation in die neue Dichothomie zwischen Sein und Nichts, die in einem Akt der Entschlossenheit und Entscheidung zugunsten des Seins überwunden werden soll. Damit das Sein zu sich kommt, bedarf es jedoch eines dramatischen Durchgangs durch Nichts, Angst oder Katastrophe, um die alten Seinsformen zu destruieren. Das in diesem Drama über sich und seine Welt hinausgreifende Dasein transzendiert ins Nichts, um seinen wahren Seinshorizont zu erschließen. 70 Der existentielle Notstand des Lebens beginnt hier schon seine eigene Sprache, und das heißt für die spätere 67 68 69 70

Ebd. Scheler, Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg (S. 25, Anm. 61), S. 65. Ebd., S. 36. Emst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis [1922]. In: ders., Werke (S. 7, Anm. 28), Bd 5, S. 11-108, hier S. 13-14: »Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. Und immer, solange des Lebens schwingendes Rad noch in uns kreist, wird dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt.« Deswegen kann der Krieger und Soldat zum »Grund des Seins« avancieren (ebd., S. 32).

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der

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Phänomenologie des Daseins: ein eigenes kategoriales System zu entwickeln. Jedenfalls ist die von Simmel erarbeitete Daseinsstruktur schon der von der unmittelbaren politischen Erfahrung geläuterte metaphysische Reflex der diskursiven Akzentverschiebungen der Kulturwissenschaft in der Lebensphilosophie. 71 Der Soldat hat seine Uniform abgelegt und setzt sich jetzt mit der historischen Erfahrung des Krieges und der Realität der Weimarer Republik auseinander. Simmeis und Schelers Lebensphilosophien, Karl Barths 72 und Franz Rosenzweigs 7 3 existentialistische Theologien, Lukäcs' 74 und Benjamins ästhetische Konstruktionen bzw. Mythologien der Kultur, 75 Ernst Blochs eschatologischer Utopismus, 7 6 wie Carl Schmitts staatsrechtlicher Dezisionismus 7 7 sind die ersten unmittelbaren und in sich zum Teil stark divergierenden Reflexe auf diese nachsoldatische Existenz. Noch Heideggers Ontologie ist ohne dieses lebensphilosophische Präludium nicht denkbar. Mit Husserls phänomenologischer Devise, die Methode der Wissenschaft müsse »dem Grundcharakter eines bestimmten Gegenstandsgebietes und seiner Problematik« 78 selbst entwachsen und dürfe also keine Begrifflichkeit bzw. kein fertiges kategoriales System von außen an ein Seinsgebiet herantragen, sucht Heidegger die »innerste, lebendige Berufung [...] der Philosophie aus einer neuen Grundsituation heraus zum Leben zu bringen« 79 . Er knüpft dabei nicht nur an Simmeis und Bergsons Lebensphilosophie an, sondern stützt sich unter anderem auf die späteren Texte Emil Lasks, der unter dem Eindruck der Phänomeno71

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Simmel, Lebensanschauung (S. 20, Anm. 38), beschreibt das Leben als »Transzendenz«, die, indem sie den Charakter der Selbstüberschreitung des Lebens bezeichnet, immer schon einen Bezug zum Tod enthält. So ist das Leben »Transzendenz seiner selbst als der einheitliche Akt des Aufbauens und Durchbrechens seiner Schranken, seines Anderen, als der Charakter seiner Absolutheit« (S. 20). Eben deswegen wohnt »der Tod dem Leben von vorneherein ein [...] als ein Hinausschreiten des Lebens über sich selbst« (S. 21). Barth, Der Römerbrief (S. 8, Anm. 29). Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Kauffmann 1930 ['1921], setzt bekanntlich mit der Kriegserfahrung ein, dem Tod des Einzelnen: »Sterben kann nur der Einzelne, und alles Sterbliche ist einsam. Das, daß die Philosophie das Einzelne aus der Welt schaffen muß, diese Abschaffung des Etwas ist auch der Grund weshalb sie idealistisch sein muß.« (S. 8) Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. 5. Aufl., Neuwied: Luchterhand 1979 ['1916]. Walter Benjamin: Über das Programm der kommenden Philosophie. In: ders., Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, Bd 2: Aufsätze, Essays, Vorträge, S. 157-171, hier S. 157ff. Ernst Bloch: Geist der Utopie. München: Duncker & Humblot 1918; ders., Thomas Münzer als Theologe der Revolution. München: Wolff 1921. Vgl. Anm. 22. Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie [1919/20]. In: ders., Gesamtausgabe (S. 8, Anm. 29), II. Abt., Bd 58 (1993): Vorlesungen 1919-1944. Grundprobleme der Phänomenologie, S. 4. Ebd., S. 1-2.

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logie die Kantische Forderung nach einem kategorialen System des spezifischen Seinsbereichs des Bewußtseins als Sphäre der Geltung zu erweitern suchte und damit schon zu einem spezifischen Begriff des Lebens vordrang, in dem diese Kategorien sich - wenn auch dem Leben selbst nicht bewußt - zum Tragen kommen. 80 So sucht auch Heidegger kein neues »Schaltwerk von erdachten Begriffen«, sondern es gilt das durch die Beschränkung auf Theorie und Wissenschaft »irregeleitete Leben [...] durch echtes Leben und seinen radikalen treuen Bezug [zu] erneuem« 81 . Mit anderen Worten: Heidegger versucht den Begriff des Lebens von allen Schlacken der bisherigen Theorie und der sog. Irrationalität der frühen Lebensphilosophie selbst zu reinigen und diese - wie Lask - als Funktion eines falsch verstandenen Seinsbegriffs nachzuweisen. Solange dabei »Leben« als substantielles Sein konzipiert wird, muß es sich selbst »irrational« und unverständlich bleiben. Erst wo das Verständnis zu einem phänomenologisch adäquaten Seinsbegriff und kategorialen System des Lebens durchdringt, das dem alltäglichen Leben nur im Vollzug, nicht reflexiv zu Bewußtsein gelangt, kommt die Urwissenschaft zu sich. Damit aber verliert das Leben zunächst jeden durch die Geschichte verbürgten ontologischen Halt. Es erfährt sich als »besorgt« und »ruinant«! Faktisches ruinantes Leben deckt sich gleichsam in der Besorgnis selbst zu [...]. Das Sich-Einlassen mit der Sorgenswelt ist in der Besorgnis scheinbar ergriffene Aufgabe, was Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen läßt. 82

Das neue, sich hier noch vortastende kategoriale System fixiert gleichsam den Kairos 83 der existenziellen Katastrophe und erhebt diesen zum evidenten Sein des Lebens, das von nun an von dem substantialistischen Seinsgerüst freigehalten werden muß. Im Angstschock und in der darauf folgenden Abhebung von den überlieferten Seins- und Sinnstrukturen wird deren Unhaltbarkeit zum Anstoß für eine Destruktion dieser Strukturen, von der sich Leben und Dasein eine fundamentale Restitution versprechen: »Wir schweben in Angst. Deutlicher: Die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.« 84 In diesem Angstzustand wird die »öffentliche Oberfläche« aller »Ausgelegtheit« zerstört und es zeigt sich »die ursprüngliche Offenbarkeit des Seienden als eines solchen« 85 . Und in der Tat: stand das Dasein historisch unter dem Bann der Substanzialität, die seinsmäßig als unvergängliche Dinglichkeit zu fassen war, so konnte das Dasein sich nur über die Todeserfahrung von solcher 80

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Emil Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen: Mohr 1911, S. 192. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (S. 28, Anm. 78), S. 22-23. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (S. 9, Anm. 31), S. 136-137. Ebd., S. 137: »Alle Charaktere des Daseins haben ihren bestimmten kairologischen Charakter.« Dazu auch Tillich, Kairos (S. 8, Anm. 31). Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? Bonn: Cohen 1929, S. 16. Ebd., S. 18.

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Dinglichkeit emanzipieren. Heideggers spätere Auskunft war so zwingend wie unheimlich: erst wenn das als Substanz vorgestellte leblose Subjekt-Ding sterben konnte, durfte das Dasein aus seinem metaphysischen »Tiefschlaf« zum eigentlichen Sein erwachen bzw. zum eigentlichen Leben auferstehen: Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist. Im vorlaufenden Enthüllen dieses Seinkönnens erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit. Auf eigenstes Seinkönnen sich entwerfen aber besagt, sich selbst verstehen können im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. 86 Aus der neuen phänomenologisch-ontologischen Perspektive sollte sich die Dichothomie von Leben/Form zu der Unterscheidung von Essenz und Existenz läutern. Da aber gerade das Sein des Daseins - Heideggers »Existenz« - grundsätzlich durch keine Essenz vorgeprägt sein durfte, muß diese Essenz vielmehr immer wieder im phänomenologischen Selbstbesinnungsprozeß destruiert werden. Es bedarf nicht allzu großen Scharfsinns, um zu sehen, daß dieses sich aus seinen extremen Möglichkeiten gegen die von der Geschichte überlieferten Seinsweisen entwerfende Dasein gegenüber dem kanonischen Subjekt nicht nur reicher an Möglichkeiten ist, sofern es nicht nur das Wissenschaft betreibende Subjekt ist, sondern zugleich auch ärmer, ein »Torso« jenes ethischen Subjekts ist, das den Zeitraum der Kultur aus dem idealen Horizont der Zukunft gestaltet. Nur ist es eben diese ethische Substanz, die nunmehr als verdinglichtes Sein des Daseins destruiert wird. Mit dem Substanzdenken rebelliert das sich in der Sorge vereinzelnde Dasein jetzt gegen das Gesetz der Kultur überhaupt. 87 86

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Martin Heidegger: Sein und Zeit. 15. Aufl., 2. Druck, Tübingen: Niemeyer 1984 ['1927], S. 262-263. Martin Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung. In: ders., Gesamtausgabe (S. 8, Anm. 29), II. Abt., Bd 17 (1994): Vorlesungen 1919-1944. Einführung in die phänomenologische Forschung (Marburger Vorlesung Wintersemester 1923/24), S. 86) mündet in eine Kritik an Husserls Kritik am Historizismus: »Wir müssen prüfen, inwiefern in dieser Kritik ein spezifisches Versäumnis dieser Sorge festzulegen ist. Dazu müssen wir erst an der Kritik des Naturalismus feststellen, wie hier schon das Versäumnis sichtbar wird. Erst von da aus werden wir sehen, daß das Versäumnis nicht so etwas ist wie ein Vergessen. Wir werden sehen, daß das, was versäumt wird, im Sinne der Sorge versäumt wird. Das Versäumte wird nicht vergessen, sondern geradezu ausgestoßen. Die Sorge wehrt sich gegen das, was sie versäumt. Thema ist das Bewußtsein und zwar die Gesetzlichkeit jedes möglichen Verhaltens. Diese Gesetzlichkeit ist als solche eine ideale und gründet in der Idee: Sie soll als Normgesetzlichkeit gesichert werden, so, daß eine durchgängige und absolut objektive Normierung des ganzen Daseins der Menschheit gewonnen wird. Die Aufgabe der Normwissenschaft ist in der Absicht gestellt, durch ihre Sicherung das menschliche Dasein, und das heißt die Kultur zu regeln und zu festigen. In der bisherigen Betrachtung ist nie davon die Rede gewesen, was normiert werden soll, ist nie das Seiende, das unter der Normierung steht, im gleichen ursprünglichen Sinne zur Untersuchung gestellt. Es ist sogar gesagt, daß solche Phänomene wie das konkrete Ich und die Seele ausgeschaltet werden. Also das, was normiert werden soll, kommt gar nicht in den Be-

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Die Kulturwissenschaft drängt von dem »dialektischen« Ansatz des Daseins als Negation des Negativen nach einer neokantischen und neofichteschen Phase (der Entscheidung) auch gelegentlich zu einer neo-schillerianischen und neohegelianischen Konstruktion der Kulturgeschichte als Rhythmus von Identität und Entfremdung, von Dissoziation und Selbstfindung, die ihren ersten Ausdruck in der auch für Heidegger bestimmenden Idee Simmeis von der Transzendenz des Subjekts findet: indem das von der Form entfremdete Leben und Dasein Uber die ihm fremde Seinsform »hinausgreift«, entdeckt es sich selbst jetzt als »Transzendenz«, d. h. es hat sein je schon bestimmtes Sein auch schon überschritten und damit negiert: es ist, was es nicht ist.88 Allerdings wird diese formaldialektische Struktur des Daseins meist weniger auf eine weltgeschichtliche Dimension hin erweitert, als jetzt meist und zunächst gerade aus der anthropologisch-lebensphilosophischen und zunehmend nationalen Logik entwickelt. Schon Emil Lasks frühe Deduktion des Nationsbegriffs aus dem Problem der Kulturwissenschaft 89 sollte das atomistische Individuum in ein Gesamtindividuum reintegrieren, ohne es in ein Exemplar der Gattung zu verwandeln. Er wollte im Rückgriff auf den Fichte der »Reden an die deutsche Nation« »neben und über das Einzelindividuum eine wirkliche reale Gesamtindividualität, ein wahrhaft konkret Allgemeines« konstruieren, »dem das Individuum nicht wie dem abstrakt Allgemeinen als isoliertes Exemplar, sondern dem es als unvertauschbares Glied gegenübersteht« 90 . Will Lask mit Fichte den Abgrund von Idee und Individualität im Begriff der lebendigen Nation schließen, so versucht er eine logische Synthese, die sich für Simmel und Scheler nur intuitiv im Erlebnis, in dem »das Individuellste und das Allgemeinste sich an jedem Punkt zur Lebenseinheit durchschwingen« 91 , einstellt. Aus der logischen Perspektive erkennt Lask allerdings, daß die »nationale« Lösung des Kulturproblems im Grunde nur die Aporie von Idee und Individualität auf die Ebene von Kosmopolitismus und nationaler Individualität verlagert. Vorsichtig weist er daraufhin, daß »man sich davor hüten [müsse], die Kluft zwischen der metaphysischen Ausgestaltung des Nationalitätenprinzips und der wahrhaft historischen Betrachtungsweise allzu sehr zu erweitern« 92 .

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reich des eigentlichen Themas. Wenn das als ein Versäumnis behauptet werden soll, so liegt darin nicht die Meinung, es müsse das, was unter der Normierung steht, untersucht werden, damit die Norm auf das zu Normierende zugeschnitten werden kann. Vielmehr viel prinzipieller: Der Sinn von Norm und Normgesetzlichkeit ist nicht herausstellbar, solange man sich nicht vergegenwärtigt, welche Art von Sein normiertes Sein und normierbares Sein bedeutet.« Simmel, Lebensanschauung (S. 20, Anm. 38), S. 7; Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens (S. 20, Anm. 39), S. 177, wo das Leben als »so etwas wie ein waghalsiges Unternehmen« definiert wird: »[...] ein metaphysisches Abenteuer, ein kühner Vorstoß in Möglichkeiten des Seins, die sich zuerst in einem Gelingen zu einem Sein gestalten.« Lask, Fichtes Idealismus der Geschichte (S. 17, Anm. 26). Ebd., S. 261. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (S. 25, Anm. 60), S. 10. Lask, Fichtes Idealismus der Geschichte (S. 17, Anm. 26), S. 268.

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Bieten die Begriffe der »lebendigen« Nation und des Volkes eine Vermittlung von Ich und Gesellschaft an, so differenziert sich die Idee vom nationalen und volkhaften Organismus noch einmal in den Möglichkeiten eines Gelingens bzw. Scheiterns der konkret-allgemeinen Integration. Die Integration des Subjekts in Sprache, Volk, Kunst, Religion, Staat und Nation wird jetzt oft im besonderen historischen Status des Mythos gedacht, den der Logos dieser Konstruktion zufolge zerstört hat und den es auf höherer Ebene zu restituieren gilt bzw. zu dem man zurückzukehren oder den man endgültig zu überwinden hat. Der Mythos kehrt damit als die vom Logos besiegte Urform kulturellen Seins in das Gedächtnis der Kultur zurück. Dabei bezeichnet der Mythos zunächst einfach das Erkenntnisprinzip des besonderen Ereignisses gegenüber der allgemeinen Gesetzlichkeit. Der Mythos als das erzählende Wort stellt die Grundlage der Kultur dar, ihre in individuellen Erzählungen geformte diffuse Grundlage, die durch den Logos als Prinzip des Begriffs verallgemeinert und damit aufgelöst wird. In der Dissoziation von Mythos und Logos klingt wieder die kulturwissenschaftliche Aporie von Idee und Individualität an, doch erhält sie hier eine geschichtliche und nationale Dimension, die sich in den verschiedenen Konstruktionen ihrer Dialektik darstellt. Der Mythos bezeichnet darüber hinaus nicht nur das Prinzip der epistemologischen (letzten) Einheit, die vom Logos aufgelöst wird, sondern zugleich das der Einheit im Sinne von einer Totalität von Mensch, Welt, Religion und Kunst, wie sie eben in jeder mythischen Einzelerzählung auch immer schon gegeben ist. Der Mythos stellt die kleinste sowie die größte Einheit des Kulturdenkens dar. In Lukäcs' »Theorie des Romans« 9 1 wird der epische Mythos zum geschichtsphilosophischen Modell einer ursprünglichen kulturellen Homogenität, die - nach der mittelalterlichen Epopöe - in der Moderne auseinanderbricht. 94 Hier dissoziiert die mythische Substanz in Ich versus Gesellschaft, Geist versus Natur, Leben versus Ideal. Krisenhaft stellt der Roman die transzendentale Topographie dieser Epoche als »unüberbrückbare Kluft zwischen seiender Wirklichkeit und seinsollendem Ideal« dar 95 . Transzendentale Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit sind jetzt die Insignien des Romans, der für Lukäcs zentral durch Don Quichote repräsentiert wird. Don Quichote wird zur Chiffre nicht nur für die neokantianische Kulturkrise - die Dissoziation des Subjekts in innen und außen - , sondern für Säkularisation überhaupt: 93 94

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Lukäcs, Die Theorie des Romans (S. 28, Anm. 74). Ebd., S. 22: Hier definiert die für den griechischen Epos charakteristische Lebensform, die sich im Mythos ausspricht: »Sein und Schicksal, Abenteuer und Vollendung, Leben und Wesen sind dann identische Begriffe.« Und: »Es ist eine homogene Welt, und auch die Trennung von Mensch und Welt, von Ich und Du vermag ihre Einstofflgkeit nicht zu stören. Wie jedes andere Glied dieser Rhythmik steht die Seele inmitten der Welt.« (S. 24) »Das Sollen ist für ihn nur eine pädagogische Frage, ein Ausdruck für das Noch nicht Heimgekehrtsein, es drückt noch nicht die einzige und unaufhebbare Beziehung zur Substanz aus.« (S. 25) Ebd., S. 68.

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So steht dieser erste große Roman der Weltliteratur am Anfang der Zeit, wo der Gott des Christentums die Welt zu verlassen beginnt, wo der Mensch einsam wird und nur in seiner nirgends beheimateten Seele den Sinn und die Substanz zu finden vermag, w o die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegenwärtigen Jenseits losgelassen, ihrer immanenten Sinnlosigkeit preisgegeben wird. 96

Wenn Lukäcs dann mit Dostojewskys Romanwerk einen utopischen Horizont der Kultur entziffert und also mit der Idee einer Herstellung einer neuen Mythologie spielt, so ist für ihn der Mythos niemals als Liquidierung der Kultur vorgestellt. Gr befiirchtet im Gegenteil, daß ein »Hinausgehen über die Kultur« nur diese »verbrennt und kein gesichertes wesenhafteres Leben an seine Stelle setzt«97. Emst Cassirer weist im Sinne seiner Philosophie der symbolischen Formen dem Mythos zwar eine irreduzible, d. h. prinzipiell gleichberechtigte Stellung im pluralistischen System des Wissens zu, denn er erkennt an ihm eine spezifische semiotische Weltkonstitution. Zugleich aber - und das liegt im Grunde schon in der semiotischen Dekodierung der mythologischen Grammatik - bildet der Mythos hier nur ein Objekt der transzendentalen Forschung, d. h. er ist schon kulturell reflektiert und in seiner konstitutiven Funktionalität durchleuchtet. Statt dessen wird eine kritische Phänomenologie des mythischen Bewußtseins weder von der Gottheit als einer metaphysischen, noch von der Menschheit als einer empirischen Urtatsache ausgehen können, sondern sie wird das Subjekt des Kulturprozesses, sie wird den »Geist« lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen zu erfassen und die immanente Norm, der jede von ihnen folgt, zu bestimmen suchen. 98

Der Mythos ist damit apriori auch schon als Kulturphänomen neutralisiert. Im Ganzen dieser Tätigkeiten erst konstituiert sich die »Menschheit« ihrem ideellen Begriff und ihrem konkreten geschichtlichen Dasein nach; in ihm ergibt sich erst die fortschreitende Scheidung von »Subjekt« und »Objekt«, von »Ich« und »Welt«, durch die das Bewußtsein aus seiner Dumpfheit, aus der Befangenheit im bloßen Dasein und im sinnlichen Eindruck und Affekt heraustritt und sich zum Kulturbewußtsein formt. 99

Damit gelingt Cassirer das Paradox, dem Mythos einen gleichberechtigten Status zuzuweisen und ihn zugleich zu neutralisieren. Wie in seiner Idee von der Kultur überhaupt, verläuft auch hier der Weg nicht zum mythischen Bewußtsein zurück, zu einem »unmittelbaren Leben« und ursprünglichen Mythos, sondern zu einer symbolischen Selbstreflexion der Kultur über sich selbst. In der Tat macht Cassirer, wenn der Mythos die Einheit von Zeichen und Ding bezeichnet, auf die logische Widersprüchlichkeit der Idee einer Rückkehr zum Mythos aufmerksam, denn in dieser liegt schon die reflektierte Distanz zum Mythos, also gerade die Aufhebung der trüben Identität von Zeichen und Ding. 96 97 98 99

Ebd., S. 89-90. Ebd., S. 136. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (S. 22, Anm. 51), Bd 2 (1925), S. 18. Ebd., S. 18-19.

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Während der junge Lukács auf die Konstruktion einer neuen Mythologie setzt, die den Verlust des transzendentalen Obdachs kompensieren soll, hält Ernst Cassirer an der transzendentalen Fortschrittsidee der Aufklärung fest und verteidigt deren Errungenschaften über eine Modifikation des k a n o n i schen Logos im Pluriversum der verschiedenen symbolischen Formen. Dabei ist - dem Mythos gegenüber - die Position des jungen Lukács, der sich auf die Lebensphilosophie beruft und an der Kunsttheorie geschult hat, gar nicht so verschieden von dem Versuch Cassirers, dessen Kulturologie im Kontext der Wissenschaftstheorie mit dem Begriff der Funktion die klassischen Erkenntisprobleme zu beseitigen und im Rückgriff auf Humboldts Sprachdenken die Dichothomie von Form und Leben in der diese beiden Pole zusammenschließenden symbolischen Form aufzuheben sucht. Beide halten an der Vermittlung von Mythos und Logos, Mythos und ethischer Praxis, Natur und Kultur fest. Lukács stellt kategorisch fest, daß die im Mythos angestrebte »Totalität von Menschen und Begebenheiten [...] nur auf dem Boden der Kultur [...] möglich« sei 100 . Im Rückblick auf die zwanziger Jahre in Weimar, die dem kantianischen Exilphilosophen aus der amerikanischen Perspektive 1945 nur wie ein vorübergehender Waffenstillstand vorkommen sollten, 101 betont Cassirer die entscheidende Funktion des Mythos im virulenten Krieg um die Kultur. Es geht über die Macht der Philosophie hinaus, die politischen Mythen zu zerstören. Ein Mythos ist in gewissem Sinne unverwundbar. Er ist für rationale Argumente undurchdringlich [...]. Aber die Philosophie kann uns einen anderen wichtigen Dienst leisten. Sie kann uns den Gegner verstehen machen. Um einen Feind zu bekämpfen, muß man ihn kennen. [...] [I]hn zu kennen bedeutet nicht nur, seine Fehler und Schwächen zu kennen; es bedeutet, seine Stärke zu kennen. Wir alle sind dafür verantwortlich, seine Stärke unterschätzt zu haben. 1 0 2

Gegen die nationalsozialistische Verwertung und Ideologisierung des Mythos hält Cassirer jedoch an der Möglichkeit einer positiven Einheit von Mythos, Kultur und Ethik fest: »Myth is then a vital ingredient of human civilisation; it is not an intellectual explanation or an artistic imagery, but a pragmatic character of primitive faith and moral wisdom.« 103 Ludwig Klages dagegen beschwört im Mythos die verlorene Einheit und die transrationale und transethische Totalität von Leben und Form, Ich und Gemeinschaft, Geist und Natur. In seinem »Versuch über die psychologischen

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Lukäcs, Die Theorie des Romans (S. 28, Anm. 74), S. 131. Ernst Cassirer: Judaism and the Modem Political Myth [1944]. In: Symbol, Myth and Culture. Essays and Lectures of Emst Cassirer, 1935-1945. Ed. by Donald Phillip Verene. New Haven u. a.: Yale University Press 1979, S. 233-241, hier S. 233. Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Ungekürzte Ausg., 4.-5. Tsd, Frankfurt a. M.: Fischer 1988 (FischerTaschenbücher, 7351), S. 388. Cassirer, Judaism and the Modern Political Myth (vorletzte Anm. 101), S. 237.

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Errungenschaften Nietzsches« 104 verkürzt er Nietzsches Denken ganz auf seine dionysisch - irrationale - Dimension. Der dionysische »Untergrund des Bewußtseins« wird zum Seinsgrund. Überschwang, Trunkenheit und Rausch bilden die »dunkle Hemisphäre des Lebens« 105 , das sich aller erstarrten Formen entschlägt. Klages erkennt in dem, was schon er den »Logozentrismus« nennt, die Katastrophe der abendländischen Kultur, die nur in einer radikalen Rückkehr zum Mythos überwunden werden könne. In einem Akt ritueller Opferung des rationalen (bei ihm andeutungsweise durch die jüdisch-christliche Tradition verbürgten) Ichs erst könne sich das mythisch-ekstatische Ich über sich selbst erheben, indem es alle Schranken der Rationalität durchbricht: »Was reißt uns hin? Das Leben! Und was wird hingerissen? Das Ich!« 106 Opiatische, rituelle und sexuelle Exzesse sollen einen Exorzismus der Vernunft fördern, der immer mehr einem radikalen häretischen Akt der Suspension des kulturellen Nomos gleicht: Als Träger des Lebens sind wir gleich allen Lebensträgern Individuen, als Träger des Geistes sind wir überdies noch Iche oder Selbste. »Person«, von personare = hindurchtönen kommend und ursprünglich die Maske des Mimen bezeichnend, durch welche ein Dämon redet, ist längst zum geistvergewaltigten Leben geworden, zum Leben im Dienste der Rolle, die ihm befohlen wird von der Maske des Geistes. 107

Das autonome Subjekt inszeniert hier also bewußt das eigene Ende als orgiastisches Ritual. Daß das Ich nur äußere Form, nur eine sozial aufgezwungene Rolle, ja nur eine Maske sei, ist ein in diesen Jahren ständig wiederkehrendes Motiv. Selbst Ernst Cassirer stellt einmal fest, daß es »letzten Endes derselbe Mensch [sei], der uns in tausend Offenbarungen und tausend Masken in der Entwicklung der Kultur entgegentritt« 108 . In Heideggers frühem Entwurf zur »Hermeneutik der Faktizität« heißt es dagegen mit deutlicher Akzentverschiebung: »Das Dasein spricht von ihm selbst, es sieht sich so und so, und doch ist es nur eine Maske, die es sich vorhält, um nicht vor sich selbst zu erschrecken.« 109 Diese Maske wird bei Heidegger als kulturelle Strategie aufgefaßt, die es dem Subjekt ermöglicht, sich selbst nicht erkennen zu müssen. Die Maske dient der »Abwehr der Angst. Solche Sichtgabe ist die Maske, in der das faktische Dasein sich sich selbst begegnen läßt, in der es sich vorkommt, als >sei< es; in dieser Maske der öffentlichen Ausgelegtheit präsentiert sich das Dasein als höchste Lebendigkeit [des Betriebes].« 110 104

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Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches. 2. Aufl., Leipzig: Barth 1930 ['1926]. Ebd., S. 237. Klages, V o m kosmogonischen Eros (S. 7, Anm. 28), S. 67. Ebd., S. 64. Emst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. 7., unveränd. Aufl., reprograf. Nachdr. der 1. Aufl., Berlin 1910, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 383. Martin Heidegger: Ontotogie - Hermeneutik der Faktizität. In: ders., Gesamtausgabe (S. 8, Anm. 29), II. Abt., Bd 63 (1988): Vorlesungen Ontologie, S. 32. Heidegger, Was ist Metaphysik? (S. 29, Anm. 84), S. 32.

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Ernst Jünger spricht von der »Maske der Vernunft«, die allerdings schon fast ganz abgetragen sei.111 Wenn Cassirer noch die Regression der Kultur in der Idee der über sich selbst reflektierenden Menschheit zu verhindern sucht, erkennt Jünger hinter dieser Strategie der Kultur nur noch die »humanitäre Maske«, hinter der ein »Urmensch [...] hervorbricht« 112 . An anderer Stelle spricht Jünger von diesem Urmenschen als dem »Krieger«. Klages' Vision einer ekstatischen Selbstaufgabe in der Zerstörung der Kultur findet ihr Pendant in den poetischen Strategien der apokalyptisch-militärischen Einbildungskraft Jüngers. Der antinomistische Gestus von Klages wird bei Jünger mit dem Kriegserlebnis kontrapunktiert. Militärische, ästhetische und sexuelle Entselbstung des Subjekts sollen das »Eis« der Kultur in einem Feuerwerk sprengen, in dem sich eine neue mystische Gemeinschaft emanzipiert: O Leben du! Noch einmal, einmal noch, vielleicht das letzte! Raubbau treiben, prassen, vergeuden, das ganze Feuerwerk in tausend Sonnen und kreisenden Flammenrändern verspritzen, die gespeicherte Kraft verbrennen vorm Gang in die eisige Wüste. Hinein in die Brandung des Fleisches, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schim13 mernde Tempel errichten

Sinnlichkeit, Rausch, Irrationalität, Grenzüberschreitung und Entselbstung als die neuen Charakteristika des Seins des Menschen weisen zurück auf eine traditionelle Bestimmung des modernen Subjekts, nämlich die des Genies, das im Kunstwerk den Nomos der Tradition, des Geschmacks und der gesellschaftlichen Konvention schockhaft suspendiert, um seinem eigenen unergründlichen »naturhaften« Ausdruckswillen ein Monument zu setzen. Die Geschichte der ästhetischen Subjektivität im 19. Jahrhundert ist die Geschichte der radikalen Emanzipation dieses Genies von den traditionellen Verfassungen der verschiedenen Künste. Abstrakte Malerei und atonale Musik sind ebenso Ausdruck dieser radikalen Befreiung vom Nomos der Tradition, in der nun das ästhetische Subjekt die von (aller ästhetischen) Vernunft gesetzten Grenzen überschreitet. Man wird fragen, warum ich ein Lehrbuch der Harmonie schreibe, wenn ich wünsche, daß die Technik Geheimwissenschaft werde. Ich könnte antworten: man will lernen, und ich will unterrichten, verbreiten, was ich für gut halte, also unterrichte ich. Aber ich finde, man sollte lernen. Der Künstler vielleicht nur, damit er Irrtümer aufnimmt, von denen er sich befreien muß. [...] Das Schaffen des Künstlers ist triebhaft. Das Bewußtsein hat wenig Einfluß darauf. 114 111

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Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebnis (S. 27, Anm. 70), S. 17-18: »[...] doch wenn des Lebens Wellenkurve zur roten Linie des Primitiven zurückschwingt, fällt die Maskierung: nackt wie je bricht er hervor, der Urmensch der Höhlensiedler in der ganzen Unbändigkeit seiner Triebe.« Ebd., S. 18. Zit. nach: Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart: Enke 1958 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, 3), S. 44. Arnold Schönberg: Harmonielehre. Leipzig, Wien 1911 (Universal-Edition, 3370), S. 464.

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Die Souveränität solcher Produktion artikuliert sich also in dem Privileg, die alten ästhetischen Verfassungen zu transzendieren, zu suspendieren und neue Ordnungen zu entwerfen. Der Schock wird geradezu zu einer zentralen Kategorie von Kunst und Kunsttheorie. Es handelt sich um das Privileg zur Ausnahme: Der Schaffende sollte kein überliefertes Gesetz [...] hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber als Ausnahme betrachten. Er müßte für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes Gesetz suchen, formen ,.." 5 So beschreibt Busoni 1916 diesen einmaligen Emanzipationsprozeß des ästhetischen Subjekts, doch erkennt er sogleich die innere Dialektik dieses Subjekts, das, weil es seinem Wesen nach antinomistisch ist, d. h. den eigenen Ausdruck nicht unter Logos und Nomos subsumieren will, sich selbst zugrunderichten muß: »Er müßte für seinen eigenen Fall« nicht nur ein »entsprechendes eigenes Gesetz suchen, formen«, sondern es auch »nach der ersten vollkommenen Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen«" 6 . Indem das Genie für sich das Recht auf Ausnahme in Anspruch nimmt, d. h. für sich fordert, daß »jeder Fall [seiner Produktion] ein neuer, eine Ausnahme wäre« 1 1 7 , gerät es an die Grenze seiner eigenen Möglichkeiten, weil die ästhetische Produktion sich zunehmend in einer creatio ex nihilo erschöpft. »Schaffen heißt - aus Nichts erzeugen.«" 8 Das Kunstwerk selbst verwandelt sich damit in ein sich selbst potentiell zerstörendes Kunstwerk, wie es die Metapher von der Kunst als Feuerwerk bei Debussy 1 1 9 , aber auch etwa bei Jünger 1 2 0 treffend bezeichnet: Dieses geht strahlend am Himmel auf, um in der Dunkelheit zu verstrahlen. Reine, unerklärliche Erscheinung ist das Feuerwerk Symbol einer sich in Destruktion und Schöpfung verzehrenden Subjektivität, die weit über das Ästhetische hinaus die Krise der spätmodernen Subjektivität und Kultur überhaupt symbolisiert: ohne festen Nomos ist das Subjekt jetzt gezwungen, seine Formen und sich selbst stets neu zu entwerfen, um dem Anspruch des inneren authentischen Lebens zu genügen. Seine Grenze erfährt die entfesselte ästhetische Subjekti115

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Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Neue Ausg. mit einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt. 34.-43. Tsd, Frankfurt a. M.: Insel 1954 ['1916] (Insel Bücherei, 202), S. 30. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd. Claude Debussy: Letztes Präludium »Feux d'Artifice«. Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis (S. 27, Anm. 70), S. 20: »[...] wenn er [der Soldat] die Flammenwüste der riesigen Schlachten durchirrt: das Grauen, die Angst, die Ahnung der Vernichtung und das Lechzen, sich im Kampfe völlig zu entfesseln.« In Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie (1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973 [Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2], S. 125-126) wird das Feuerwerk zum Symbol der modernen Kunst schlechthin, die sich im Namen von Leiden und Differenz gegen die Strukturen von Macht und Identität verzehrt.

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vität also im Augenblick ihrer absoluten Freiheit, der sie zum Rückzug in ein neues Ordnungsgesetz oder zu einer letzten Negation des ästhetischen Nomos in der Selbstsuspension zwingt. Das Subjekt erscheint hier in seiner radikalsten Polarität zwischen Selbstermächtigung und Selbstsuspension, absoluter Selbsterzeugung und Unterordnung unter ein anonymes Formgesetz. 121 Gerade in der ästhetischen Sphäre, die einer Logik der Ausnahme unterworfen ist und immer schon mit der Intention auf die Schönheit das Besondere zur Darstellung bringt, mußte also die Frage nach der Form bzw. der Sprachform mit besonderer Vehemenz in den Vordergrund treten. Die Dissoziation zwischen Leben und Form wurde hier als Dissoziation von Ausdruck und Sprache zum Insignum der Moderne, weil sich das ästhetische Subjekt gerade dadurch profilierte, daß es sich von allen Formen, Regeln und Begriffen zu emanzipieren suchte. Die zuhandene Grammatik, das konventionelle Vokabular einer jeweiligen Kunstsprache mußte einem reinen Ausdrucksbedürfnis im Wege stehen, das auf eine unmittelbare, absolute Sprache zielt. Ähnlich wollten die Lebensphilosophen sich »unmittelbar aussprechen, nicht in einer Sprache mit gegebenem Wortschatz und vorgeschriebener Syntax« 122 . Hinter die konventionelle Formel zur reinen intuitiven Sprache vorzudringen, diese Illusion verband Lebensphilosophie und ästhetische Avantgarde, galt doch der Künstler bei Simmel und Bergson durchaus als Paradigma formtranszendierenden und formgenerierenden Lebens. »Die Begriffe [...] machen die Dinge, die stets verschieden sind, uniform. Sie verfertigen nur Konfektionskleider, arbeiten nicht nach Maß für die wirkliche Wirklichkeit.« 123 Bergson, dessen Übersetzungen ins Deutsche die Lebensphilosophie entscheidend mitprägten, beschreibt das neue dissoziierende Sprachbewußtsein: Das Wort mit seinen fest bestimmten Umrissen, das brutale Wort, das in sich aufspeichert, was an Stabilität, an Gemeinsamem und folglich Unpersönlichem in den Eindrücken der Menschheit liegt, vernichtet oder verdeckt wenigstens die zarten und flüchtigen Eindrücke unseres individuellen Bewußtseins. 1 2 4

»Wie ein Staatsstreich« 125 sollen das Leben, der Instinkt oder der elan vital aus den Tiefen des Ichs hervorbrechen und die »Kruste der Sprache« zerstören 126 . 121

Vgl. Theodor W. Adornos Analysen zu Arnold Schönbergs Musik in seiner Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 239), S. lOlff. Dazu auch Christoph Schmidt: Die Endzeit des Genies. Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der (Post)Modeme. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 172-195; ders., Logik der Ausnahme. Zum ästhetischen Subtext der politischen Theologie von Carl Schmitt. In: Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft 41/42 (1996), S. 259-279.

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Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Tübingen: Mohr 1920, S. 8. Ebd., S. 23. Bergson, Zeit und Freiheit (S. 11, Anm. 1), S. 102. Ebd., S. 124-125: »Das plötzliche Auftreten des Willens ist wie ein Staatsstreich, den unser Verstand vorausahnt und den er durch eine regelrechte Erwägung im Voraus legitimiert.«

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Es geht dem Künstler um die von allen Konventionen gereinigte absolute Sprache, eine Idealsprache also, die potenziell für jede Nuance des Ausdrucks und des Seins einen eigenen Namen bereitstellt. Soll diese poetische Sprache - sie findet ihr Pendant in der sogenannten absoluten von allen konventionellen Formeln gereinigten Musik 1 2 7 - den paradiesischen Namen der Dinge 1 2 8 restituieren, so entwickelt sich daneben die Idee einer »konstellativen« Sprache, die in der Reihe der Prädikationen, der Pluralität der Bezeichnungen also, sich dem Sein ihres Gegenstandes zu nähern hoffte. Die utopische Sprache absoluter Besonderung (a) korrespondiert so mit der realen Sprache (b) der auf Genauigkeit zielenden Prädikationen. Sprache (a) stellt sich gleichsam als das paradiesische Residuum von Sprache (b) dar. In diesem Sinne kann man, wie Bergson es in seiner Einführung in die Metaphysik vorschlägt, von zwei metaphysischen Einstellungen sprechen, einer Strategie der intuitiven Identifikation (Idealsprache) und einer symbolisch-perspektivischen Einstellung. 129 Es handelt sich hier im Grunde um dieselbe Unterscheidung, die 126

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Ebd., S. 133: »Nun steigt das untere Ich an die Oberfläche empor. Nun bricht die äußere Kruste und weicht einem unwiderstehlichen Drucke. In den Tiefen des Ich und unterhalb jener sehr verständig nebeneinander geweihten Argumente begann es zu sieden.« Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel: Bärenreiter 1978 (dtv, 4310). Der Zusammenhang zwischen Poetik und Musik, die Idee einer vollkommen entsemantisierten »musikalischen« Sprache des Tones begleitet die Moderne seit der Romantik (Novalis, Tieck, Schlegel) bis zur sog. Postmoderne. Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Reinold Werner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (Edition Suhrkamp, 949), S. 79. Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen. In: ders., Gesammelte Schriften (S. 28, Anm. 75), Bd 2/1, S. 140-157. Vor allem S. 152-153: »Die paradiesische Sprache des Menschen muß die vollkommen erkennende gewesen sein; [...] Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namenssprache, der erkennenden [...] heraustrat. [...] Das Wort soll etwas mitteilen [außer sich selbst]. Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes.« Henri Bergson: Einführung in die Metaphysik. Jena: Diederichs 1916, S. 2-3: »Symbole und Gesichtspunkte stellen mich also außerhalb ihrer [einer Person], sie liefern mir von ihr nur etwas, was ihr mit anderen gemein ist und ihr nicht als Eigenstes angehört. Aber was wirklich sie selbst ist, was ihr Wesen ausmacht, läßt sich nicht von außen wahrnehmen [...] Beschreibung, Geschichte und Analyse lassen mich hier im Relativen. Ganz allein das Zusammentreffen mit der Person selbst würde mir das Absolute geben.« Vgl. auch ebd., S. 3: »Alle Übersetzungen eines Gedichtes in alle nur möglichen Sprachen werden vergeblich den Nuancen immer neue Nuancen hinzufügen [...] niemals werden sie den innersten Sinn des Orginals wiedergeben.« Ebd., S. 4: »Hieraus folgt, daß ein Absolutes nur in einer Intuition gegeben werden kann, während alles Übrige von der Analyse abhängig ist. Intuition heißt jene Art von intellektueller Einftihlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt.« Aus diesen Voraussetzungen schließt Bergson, daß die Metaphysik »außerhalb jener Übersetzung oder symbolischen Darstellung [...] ohne Symbole auskommen will« (S. 5).

II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

40

wir oben bei Cassirer und Weber antrafen - zwischen einer intuitiv-mystischen Lebensphilosophie und einer Philosophie symbolischer Formen, die hier auf der Ebene der Sprache selbst ausgetragen wird. Die Lebensphilosophie setzt dabei wie die ästhetische Avantgarde zunächst auf die Intuition, das Unmittelbare. Sie will bewußt »Metaphysik« sein, d. h. in unmittelbarer Wesensschau bzw. einer intellektuellen Anschauung sich des absoluten Seins vergewissern. Bergson, Scheler und Simmel sind sich darin einig, daß ein Absolutes nur in einer Intuition gegeben werden kann, während alles Übrige von der Analyse abhängig ist. Intuition heißt jede Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt. 1 3 0

Im idealsprachlichen Einblick befreit sich das Leben von der gesellschaftlichen Dimension der Sprache, ihrer sozial-verräumlichten, gleichsam babylonischen Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit und verbindet sich mit dem Inneren der Dinge: dem Paradies einer noch unberührten und ungekannten Welt. Hier - in der Metaphysik des absoluten inneren Lebens - soll das unergründliche Leben unmittelbar mit dem Urquell allen Lebens zusammenschießen und alle Dissoziation überwinden. Die Lebensphilosophie entwickelt neben einer Mythologie zuletzt auch eine Mystik des Lebens, die in der Intuition sich selbst erlebt und versteht. Max Scheler entwirft in Anlehnung an Husserls Lehre von der »Epoche« sogar eine sechsstufige Erkenntnishierarchie, 131 in der sich das Leben zuerst a) b) c) d) e) 0

von der zufälligen Raumzeitstelle abkehrt, alles »begierlich triebhafte Verhalten« ausschaltet, vom »realen Dasein der Dinge« absieht, zur Wesenserkenntnis vordringt, schließlich das Seiende als Seiendes aus reiner Vernunft vorkonstruiert und die Weltschöpfung Gottes gleichsam mitvollzieht.

Die geniale Intuition des Lebens ist, indem das Leben sich jetzt seiner individuellen Interessen entschlägt, eine Intuition des Uberindividuellen Lebens und entwirft hier seine ideale volle Gestalt, indem sie das »außen« - Welt, Gesellschaft, Raum und Sprache - vernichtet. In der radikalen Verinnerlichung gerät das Leben an den Grund allen Lebens. Das Subjekt verschwindet hier in einer quasi-mystischen Union des individuellen mit dem absoluten Grund des Lebens. Die Lebensphilosophie schlägt in eine mystische Theologie um. In Schelers spätem Aufsatz über Spinoza bringt er diese mystische Selbstbegegnung 130 131

Ebd., S. 4. Max Scheler: Philosophische Weltanschauung. In: ders., Philosophische Weltanschauung (S. 24, Anm. 58), S. 1-14, hier S. 4-8.

1. Der Kantianer in Uniform

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auf den folgenden Begriff: »die geistige Liebe [des Menschen] zu Gott ist [...] Gottes Liebe selbst, durch welche Gott sich selbst liebt.« 132 Die Dissoziation des Subjekts in ein Innen und Außen führt zu verschiedenen Integrationsstrategien, die sich mit den Kategorien Leben/Form, Sein/Nichts, Existenz/Essenz und später Mythos/Logos versehen. Mit der Intention auf den »totus homo« - den ganzen Menschen kommt es zu der Konzeption von alternativen Subjektformen, in denen sich die Sehnsucht nach der Heilung des ontologischen Bruchs widerspiegelt. Während Klages auf die magische Gewalt des Mythikers setzt, entwerfen Simmel und Scheler neben dem Soldaten als vorläufige Integrationsfigur später vor allem den Typ des Mystikers, der über die Intuition zur göttlichen Lebenswurzel des Seins findet. 133 Die unmittelbare Seinsschau erfüllt die lebensphilosophische Sehnsucht nach dem Unmittelbaren. Auch und vor allem Simmeis Überlegungen zu einer neuen Erotik und Sexualität verfolgen dieselbe Tendenz: der »Logozentrismus« erscheint auch als das Vermächtnis einer männlichen Subjektivität, die den ontologischen Riß zwischen innen und außen im Machtanspruch und der Verdrängung der Weiblichkeit erzeugt haben soll. 134 Martin Bubers Wiederentdeckung des Ostjuden entspricht nicht nur eine Mystifizierung, sondern auch eine Exotisierung ungebrochenen Daseins. 135 Die Exotisierung findet daneben ihren Ausdruck sowohl in der vehementen Rezepti132

133

134

135

Max Scheler: Spinoza. In: Philosophische Weltanschauung (S. 24, Anm. 58), S. 124-139, hier S. 137. Vgl. auch ebd., S. 129: »Von der alten Mystik hat auch Spinoza seinen höchsten Erkenntnisbegriff: die nicht diskursive, sondern intuitiv kontemplativ genießende Bereinigung der Seele mit der Sache selbstDu«< wahr 210 . 206 207 208 209 210

Barth, Römerbrief (S. 8, Anm. 29). Ebd., S. 36. Ebd., S. 356-357. Ebd., S. 4. Gogarten, Glaube und Wirklichkeit (S. 6, Anm. 24), S. 27.

66

II. Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

Die Wiederentdeckung des »Du« spielte in der Tat schon eine entscheidende Rolle in Hermann Cohens Schrift über die Religion des Judentums. Wohl müsse das »Ich des Menschen« zum »Ich der Menschheit« sich erweitern (dies die Cohensche Formel für den kategorischen Imperativ), doch breche in der Erfahrung von sozialem und individuellem Leiden eine ganz andere Dimension auf: »Ist auch das Du nur ein anderes Beispiel für das Ich und bedürfte es nicht einer eigenen Entdeckung des Du?« 2 1 1 Franz Rosenzweigs Denken, 2 1 2 das Cohens Ansatz zu einer dialogischen Theologie ausarbeitet, deutet aus der neuen Perspektive den Autonomismus des transzendentalen Ichs als »metaphysischen Trotz«, in dem das Ich sich vor dem Du verschließt, aber zuletzt sich gegen sich selbst wendet. In einsamer monologischer Souveränität, die immer wieder nur einen aus dem transzendentalen Ich zu konstruierenden Weltbezug herstellt, gräbt es sich die Voraussetzungen seiner eigenen autonomen Existenz ab. Gott und Mensch sind in den [idealistischen] Grenzbegriffeines Subjekts der Erkenntnis verflüchtigt, Welt und Mensch andererseits in den Grenzbegriff eines schlechthinnigen Objekts dieses Subjekts; und die Welt, zu deren Erkenntnis der Idealismus zunächst auszog, ist zur reinen Brücke zwischen jenen Grenzbegriffen geworden.

Ist so die Welt durch das idealistische Denken nahezu »verwüstet«, so sind Gott und Selbst »in den Strudel der Vernichtung« geraten 2 1 3 . Der Versuch der vernünftigen Selbstbegründung erweist sich als ein großangelegter tragischer Versuch, der existentiellen Zeitlichkeit und Todesverfallenheit zu entkommen. Wie der Tod, so das Faktum der Erscheinung: Die Erscheinung war die crux des Idealismus, und also der ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel gewesen, er hatte sie nicht als »spontan« begreifen dürfen, weil er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte. 214

An der irreduziblen Faktizität von Sein und Zeit verzweifelt das einsame Subjekt, das sich in einem Urschrei aus den von ihm sich selbst auferlegten Fesseln der Identität von Sein und Denken zu befreien sucht. Zunächst noch stehen sich der Anspruch des Subjekts und die Macht Gottes unversöhnt gegenüber: »Der Trotz, das stolze Dennoch, ist dem Menschen, was dem Gotte die Macht [...] ist. Gleich souverän ist der Anspruch des Trotzes wie das Recht der Natur.« 2 1 5 Dann wird das Subjekt gerichtet, Gott setzt dem trotzigen Aufstand des Subjekts, seiner babylonischen Rebellion im Namen der autonomen Vernunft ein apokalyptisches Ende. »Wenn Gott [...] innerhalb der Offenbarung [...] sofort offenbar wird, also in die Gestalt seines 211

212 2,3 214 215

Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (S. 2, Anm. 5), S. 15. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (S. 28, Anm. 73). Ebd., Buch II, S. 73. Ebd., Buch I, S. 62. Ebd., S. 80.

3. Das Evangelium des fremden Gottes

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Offenbarwerdens auseinanderfahrt«, ergeht das Gericht über das babylonische Gebäude der Vernunft. Triumphierend erklingt jetzt der Name Gottes über der heillosen Sprachverwirrung der Kultur, deren verschiedene Namen - »Gesetz«, »Leben«, »Mythos«, »Sein« etc. - sich nur noch wie unverständliche Wahrzeichen der untergehenden Metropole der Immanenz anhören sollen. Auf der Suche nach ihrem wahren Namen ist die Kultur dieser Logik zufolge durch eine Art semantischen Inflationsprozeß hindurchgegangen, in dem sich Name auf Name Uberstürzen, nur um durch einen neuen Namen ersetzt zu werden. Die Sprache zerbricht an dem Versuch der Kultur, das Absolute zu nennen, sie explodiert in die verschiedenen Fragmente und begrifflichen Abschattungen des Seins. Walter Benjamin erkannte in dieser semantischen Inflation den Prozeß eines Verfalls, einer Allegorisierung, in der das Sein sich zum leeren Zeichen entwertet. 216 Eben diesen Entwertungsprozeß imaginierte er als den äußeren Aspekt eines Sprachprozesses, dessen Inneres sich als das verborgene göttliche Leben in der Geschichte darstellt. Dabei ist die säkulare Überbenennung zugleich auch die Vorbedingung für die Entsemantisierung des Zeichens, in der dieses in seiner fundamentalen Unverständlichkeit und Unsagbarkeit allerdings schon auf das Absolute zurückzuweisen scheint. Aus den Tiefen der Sprache selbst ersteigt dieser Gott, der jetzt als Stifter der kulturellen Srachverwirrung erkannt und zum Symbol für die Hoffnung auf einen eindeutigen Sinn wird. Lärm und Gerede der Kultur sind so aufdringlich und unerträglich geworden, daß die Sehnsucht nach dem ganz anderen und neuen Logos Gottes alle anderen Bedürfnisse zurückdrängt. Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes. Das Wort als äußerlich mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaffende Gotteswort, und der Verfall des seligen Sprachgeistes, des adamitischen, der zwischen ihnen steht. Es besteht nämlich in der Tat zwischen dem Worte, welches nach der Verheißung der Schlange das Gut und Böse erkennt und zwischen dem äußerlich mitteilenden Worte im Grunde Identität. Die Erkenntnis der Dinge beruht im Namen, die des Guten und Bösen ist aber in dem tiefen Sinne, in dem Kierkegaard dieses Wort faßt, »Geschwätz« und kennt nur eine Reinigung und Erhöhung, unter die denn auch der »geschwätzige« Mensch, der Sündige gestellt wurde: das Gericht. 217

Die Geschichte der Säkularisation ist jetzt nur noch als die Geschichte verbissener Selbstbestimmung, Selbsterhöhung und Selbstverkennung entzifferbar. Gogarten fordert eine Revision der kulturliberalen Konstruktion des säkularen Zeit-Raums und damit des theologisch-transzendentalen Kontinuums, demzufolge »das protestantische Christentum in allgemeine Vernunftwahrheiten« übersetzbar sei 218 . Er will eine Art ontologische Kernspaltung inszenieren, in der die »wertbestimmte Substanz« der Kultur »in ihrem Em216 217 218

Benjamin, Über Sprache überhaupt (S. 39, Anm. 128). Ebd., S. 153. Gogarten, Glaube und Wirklichkeit (S. 6, Anm. 24), S. 27.

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II. Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

porstreben aus der Unbewußtheit in klare bewußte Selbsterfassung ihrer vollen theoretischen, ästhetischen, ethischen und religiösen Gehalte« 219 gesprengt werden soll. Franz Rosenzweig, Paul Tillich und andere versuchen die Epoche der säkularen Selbstermächtigung allerdings noch dadurch zu retten, daß sie in ihr die Voraussetzung für den wahren Glauben zu erfassen sich bemühen. Ohne die Vernunftgründung des Seins konnte auch der Glaube sich nicht emanzipieren. Wie bei dem späten Schelling bildet die säkulare Vernunftphilosophie damit immer die unverzichtbare negative Voraussetzung für eine positive Offenbarungsphilosophie. 220 Die Verzweiflung über die monologische Existenz oder das Ungenügen des ethischen Gesetzes bleiben bei Franz Rosenzweig immerhin Bedingung der Möglichkeit für die unmittelbare dialogische Beziehung zum ganz anderen Gott. Die Inszenierung der göttlichen Offenbarung führt bei Rosenzweig zwar zur Verkündigung des transzendenten Liebesgebots, aber dieses ist nicht gleichbedeutend mit der Aufhebung von Autonomie und Freiheit des Subjekts: Die moralischen Gesetze wollen in der Freiheit nicht bloß wurzeln - das will auch die Liebe zum Nächsten - sondern keine andere Voraussetzung anerkennen als die Freiheit. Das ist die berühmte Forderung der Autonomie. 2 2 1

Wenn Rosenzweig auch an anderen Stellen an die Autorität appelliert, wenn er das Gesetz des Staates in seiner Rigorosität aus der Schöpfung selbst rechtfertigt, so zielt seine Auffassung des Gottesreiches doch auf die Gemeinde der Nächstenliebe, »die den Zusammenhalt des Ganzen [gerade] zu zersprengen droht« 222 . Tillich, der sich wie Rosenzweig mit der späten Philosophie Schellings auseinandersetzt, hat 1922 in einem programmatischen Aufsatz über den »Kairos« als dem »Augenblick, in welchem das Ewige in das Zeitliche einbricht« 223 , den Zusammenhang zwischen Vernunft und Offenbarung gerade an der von Otto eingeführten Kategorie des Heiligen nicht nur kurz zusammengefaßt, sondern der Troeltsch-Schüler Tillich hat hier Offenbarung und Humanismus in ihrer dialektischen Vermittlung zu denken versucht: 219 220

221 222 223

Ebd., S. 24. Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung (S. 61, Anm. 192), S. 681: »Die Wissenschaft, welche diese Elimination des Zufälligen in den ersten Begriffen des Seyenden, und damit diese Ausscheidung des Seyenden selbst vollbringt, ist kritische, ist negativer Art, und sie hat in ihrem Resultat das, was wir das Seyende genannt haben, nur erst im Gedanken. Daß aber dieses nun auch in seiner eigenen Reinheit, mit Ausschließung des bloß zufälligen Seyns, über diesem Seyn existiert, dieses zu erkennen, kann nicht mehr die Sache jener negativen, sondern nur einer anderen, im Gegensatz mit ihr positiv zu nennenden Wissenschaft seyn.« Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (S. 28, Anm. 73), Buch II, S. 198. Ebd. Tillich, Kairos I (S. 8, Anm. 31), S. 19.

3. Das Evangelium des fremden

Gottes

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Die Autonomie ist das dynamische Prinzip in der Geschichte. Theonomie andererseits ist die Substanz und der Sinn der Geschichte. Welche sind nun die Beziehungen der beiden zueinander? Als erstes muß festgestellt werden, daß Autonomie nicht notwendig eine Abwendung vom Absoluten bedeutet. Sie ist vielmehr gehorsame Anerkennung des unbedingten Charakters des Logos, der universalen Vernunft in Welt und Geist. Sie ist die Anerkennung der Normen von Wahrheit und Gerechtigkeit, Ordnung und Schönheit [...]. Sie ist Gehorsam gegenüber den Prinzipien der individuellen und gesellschaftlichen Kultur [...]. Der Unterschied jedoch zwischen Autonomie und Theonomie besteht darin, daß in einer autonomen Kultur die kulturellen Formen nur in ihren endlichen Beziehungen, in einer theonomen Kultur dagegen in ihrer Beziehung zum Unbedingten erscheinen. 224 Das dialektische Konzept der Kairos-Theologie Tillichs verbietet nicht nur die »Ineinssetzung« des Absoluten »mit irgendeiner Wirklichkeit, einer vergangenen oder zukünftigen« 2 2 5 , sondern sie erkennt deutlich die Gefahr, daß eine neue Theonomie versuchen wird, die »Autonomie zu verneinen«. Eine Theologie, die den Kairos einer bestimmten geschichtlichen Situation absolut setzt, »mißachtet« im Sinne Tillichs »die Logos-Struktur des Geistes und der Welt [...]. Ihr Symbol ist der Terror, der durch die absoluten Kirchen oder die absoluten Staaten ausgeübt wird.« 2 2 6 Die Dissoziation in einen ideellen Gott des Gesetzes und der Aufklärung einerseits und einen wirklichen Gott der Offenbarung, die jetzt den Gottesbegriff aufbrechende Dichothomie zwischen dem ihm eigenen »Innen« und dem durch das Subjekt konstruierten »Außen« findet auf der christlichen Seite vor allem ihren Ausdruck in der Rückbesinnung auf die Theologie des Paulus. 227 A u f dem Hintergrund der paulinischen Auseinandersetzung um »Gesetz« und »Glauben«, N o m o s und Pneuma, in welcher Unterscheidung sich der historische Bruch zwischen dem alten Äon und dem neuen eschatologischen Äon der christlichen Offenbarung widerspiegelt, wird die liberale (neokantianische) Kultur zur Epoche des Gesetzes, die sich mit der Krise in eine Epoche der 224 225 226

227

Ebd., S. 22. Ebd., S. 14. Ebd., S. 23. In »Über die Idee einer Theologie der Kultur [1919]«, in: ders., Gesammelte Werke (S. 8, Anm. 31), Bd 9, S. 13-31, hier S. 16 schreibt Tillich: »Meine Behauptung ist nun die: Was in der theologischen Ethik letztlich beabsichtigt war, kann seine Erfüllung nur finden in einer Theologie der Kultur, die sich nicht nur auf die Ethik, sondern auf alle Kulturfunktionen bezieht.« Barth, Römerbrief (S. 8, Anm. 29). Gogarten, Die religiöse Entscheidung (S. 6, Anm. 24); ders., Glaube und Wirklichkeit (S. 6, Anm. 24); ders., Politische Ethik (S. 6, Anm. 24); Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus (S. 8, Anm. 29); Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (S. 8, Anm. 29); Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Geschichte (S. 8, Anm. 29); Emanuel Hirsch: Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube. Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt 1934, S. 18ff. zieht nationalsozialistische Konsequenzen aus dem Paulinismus und vollstreckt damit zugleich das virtuose Kunststück, eben die Theologie des ausdrücklich als Juden definierten Paulus zu befürworten, und ihn zum Helden einer antisemitischen Theologie des deutschen Volkes und dessen Blutgemeinschaft zu erheben.

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

pneumatischen Erfüllung verwandeln kann. Die kulturepistemologische Frage nach der möglichen Vermittlung von individueller Existenz und dem Gesetz der Moral, an der sich die sogenannte Kulturkrise entzündete und die radikale Formen antinomistischer Kulturhäresie hervorbrachte, wird jetzt theologisch durch die paulinische Rechtfertigungslehre bewältigt. Schon Windelbands Bemerkung, die nomothetische Struktur der Naturwissenschaft, die das Besondere als Exemplarfall bearbeitet, sei ohne die griechische »nach der Physis, d. h. nach dem bleibenden Sein im Wechsel der Erscheinungen« fragenden Ontologie so wenig möglich, wie die idiographische Orientierung der Kulturwissenschaft, die das Besondere in seiner Besonderung und Einzigartigkeit zu begreifen suche, ohne das jüdisch-christliche Denken undenkbar sei, ahnt etwas von der theologischen Erbschaft der neuen Wissenschaft, die in den verschiedenen neuen Theologien vollends hervortritt: Im Mittelpunkt ihrer Weltansicht standen von vorneherein der Fall und die Erlösung des Menschengeschlechts als einmalige Tatsache. Das war die erste große starke Empfindung für das unveräußerliche metaphysische Recht der Historik, das Vergangene in dieser seiner einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten. 228 Die paulinische Rechtfertigungslehre konstatiert eben einen Bruch zwischen N o m o s und Leben und ist so in ihrem Wesen eine Theologie der Krise, w e n n sie nicht überhaupt das Paradigma einer antinomistischen Häresie darstellt. Die alttestamentarische Gesetzesgerechtigkeit wird j a bei Paulus zugunsten einer eschatologischen Integrität des Daseins verworfen. 2 2 9 Eben weil Paulus den Krisenbegriff aus der Logik des Gesetzes entwickelt, liefert er eine ideale Grundlage f ü r die theologische Transformation der in der Kulturwissenschaft a u f g e w o r f e n e n Fragestellungen. Zugleich gerät die christliche Theologie in ihrer paulinischen Selbstbesinnung an die Aporien der kirchlichen Existenz selbst. Mit der Hervorhebung des eschatologisch-pneumatischen Aspekts der Existenz stehen alle auf das Gesetz gegründeten Lebensformen und Institutionen von der Kultur bis zur Kirche selbst vor einem Windsturm revolutionärer Kritik. Karl Barth spricht das unmißverständlich aus: 228 229

Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (S. 12, Anm. 2), S. 156. Vgl. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus (S. 8, Anm. 29), S. 189ff.: »In Pauli Vorstellung der durch den Auferstehungsgeist gewirkten Ethik verbinden sich die unmittelbare Ethik und die Tatsache des übernatürlichen Charakters des messianischen Seins miteinander gegen das Gesetz. Paulus ist sich in derselben Weise wie Jesus klar, daß das Gesetz bis zum Ausbruch des messianischen Reiches in Kraft sein kann. Da er nun aber annimmt, daß die Erwählten, soweit sie in Christ sind, nicht mehr der natürlichen, sondern bereits der messianischen Welt angehören, muß er auch behaupten, daß sie schon jetzt nicht mehr unter dem Gesetz stehen. Unaufhaltsam setzt sich die historisch und logisch gegebene Unvereinbarkeit von Gesetz und Eschatologie durch. In Paulus und in dem auf ihn folgenden Generation erfüllt sich das damit gegebene Schicksal: Paulus opfert das Gesetz der Eschatologie: Das Judentum gibt die Eschatologie auf und behält das Gesetz.«

3. Das Evangelium des fremden

Gottes

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Die Krisis der Erkenntnis, die Katastrophe der Religion bricht aus. Die Entblößung und Beschämung, die mit einem undurchführbaren Unternehmen notwendig verbunden ist, tritt unaufhaltsam ein. Die Kirche Esaus ist und bleibt, was sie ist, und muß Christus, der doch ihre einzige Hoffnung ist, ans Kreuz schlagen. 230

Da, wo Ordnung und Gesetz sich etablieren, sei es im Staat oder in der Kirche, ist immer die Gefahr gegeben, daß sie einer Selbstrechtfertigung und Selbsterhöhung vor Gott dienen sollen, d. h. daß diese Institutionen sich zuletzt aus dem Gesetz legitimieren und dadurch Gottes Souveränität anzuzweifeln versucht sind. Was in der Kirche - laut Barth - sich ereignen muß, ist symptomatisch für jede Kulturdichothomie von Leben und Form, nur daß eben die Kirche sich hier ständig selbst widerspricht und im Grunde aufhebt, indem sie sich die eigene Legitimation entzieht: als eine auf Gesetzen gegründete Institution ist es ihr Auftrag, das Ende des Gesetzes zu verkünden. Kultur und Kirche befinden sich also grundsätzlich in einer aporetischen Situation. Sie müssen sich auf Gesetze gründen, sich eine Verfassung schaffen, können aber gerade hier nicht ihren eigentlichen Sinn entdecken. Der Nomos ist bei Paulus die Bedingung der Möglichkeit der Krise, aus der sein Antinomismus den Menschen befreit. Das Bewußtsein von der gegenwärtigen Erlösung als dem Ende des Gesetzes führt nicht nur zu einem gänzlich neuen Verständnis des Alten Testaments, sondern auch zu einem neuen Geschichtsverständnis, das zuletzt auf einer neuen Anthropologie beruht. Die Unmöglichkeit der Rechtfertigung durch den Nomos oder die Tora, der Grundgedanke also, daß der Mensch sub specie legis immer nur wieder als Sünder und scheiternder Mensch erscheinen kann, bildet für Paulus die notwendige Vorstufe einer fundamentalen Existenzkrise, in der sich nicht nur Existenz und Gesetz entfremdet gegenüberstehen, sondern in der der Mensch sich selbst schockhaft zu einem Rätsel wird. Der Konflikt, in den der Mensch durch das Gesetz hineingerät, fuhrt den Menschen vor die fremden, rätselhaften Seiten seiner selbst und konfrontiert ihn schließlich mit der Sinnfrage. 231

Diese Frage nach dem Sinn von Sein stellt sich um so radikaler als - Paulus zufolge - der Mensch sich in der Konfrontation mit dem Gesetz als gespaltenes Ich wahrnehmen muß, als ein »inneres Wollen«, dem die Handlung und das Wirken nie entsprechen können. Eben diese radikale existentiell anthropologische Krise bezeichnet den Augenblick einer möglichen »Achsendrehung« und Umkehr der Situation und das heißt die Möglichkeit der Einsicht in das verborgene Motiv der Werkgerechtigkeit: die Selbstrechtfertigung gründet in dem Willen des Menschen, sich selbst zu erlösen, ist also ein Akt, der in letzter Instanz gegen Gott gerichtet ist. 230 231

Barth, Römerbrief (S. 8, Anm. 29). Vgl. Josef Blank: Paulus. Von Jesus zum Christentum. Aspekte der paulinischen Lehre und Praxis. München: Kösel 1982, S. 87.

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

Die Akzeptanz jedoch der irreparablen ontologischen Grundsituation der Existenz in ihrer Verfallenheit, Zerstreutheit und Endlichkeit bildet die Grundlage für die Transzendenz des Nomos: Christus stellvertretendes Schicksal von Kreuzigung und Auferstehung wird zum Modell einer Rechtfertigung in Gnade und Nächstenliebe. In Krise und Umkehr kündigt sich der neue Äon der Erlösung als Emanzipation von Nomos und Tora an. Das bedeutet: Paulus befreit den Menschen aus seiner Gesetzesverfallenheit, beläßt ihn aber in einer fundamentalen dialektischen Verfassung zwischen dem alten Äon und dem neuen Zeitalter: er bleibt ein gespaltenes Subjekt - simul justus et peccator - ein Ich, das es selbst ist und zugleich nicht mehr ist, das sich schon überwunden hat und doch immer wieder in das alte Ich zurückfällt. Es ist, wie Simmel und Heidegger formuliert hätten: immer schon »Transzendenz«, in Barths Worten: ein Sein, das, was es ist, nicht ist, und das, was es nicht ist, ist. 232 Diese fundamentale Existenzstruktur bei Paulus, beschreibt Gogarten als die Gleichzeitigkeit des alten und neuen Menschen. [...] so ist das Verhältnis beider zueinander nicht so, daß der Alte und der Neue Mensch sich so den Menschen teilen, daß der Neue Mensch der eine Teil und der Alte Mensch ein anderer Teil des Menschen wäre. Sondern sie sind jeder der ganze Mensch. Ich bin je ganz der Alte Mensch und je ganz der Neue Mensch. 233 Der Neue Mensch ist der Mensch, der, indem er um sich als den Neuen Menschen weiß, zugleich um sich als um den Alten Menschen weiß, das heißt der Mensch, der um sich als den Neuen Menschen weiß, der weiß auch, daß er dem Gesetz verschuldet ist.234

Damit die Verkündigung und Verheißung jedoch fassen kann, bedarf es eben einer dialektischen Theologie, die das Gesetz konstruiert, um es aufzuheben, die Krise erfährt, um sich ihr zu stellen. Der Nomos ist zugleich auch immer schon Pneuma, so wie Gott selbst Richter und Erlöser, Gott des Gesetzes und Gott der Freiheit ist. Das hermeneutische Kunststück des Paulus, sein Nachweis, daß die christliche Verheißung schon in der Tora selbst sich befindet, und damit die Tora durch die Tora selbst suspendiert werden kann, 235 dieses Hermeneutikum ist das Konzentrat einer Dialektik, die Gesetz und Gnade, Nomos und Pneuma, den Gott der Tora und den Gott des Christus zuletzt immer in einer dialektischen Identität zusammenhält. Das was der Glaube zu sagen hat, vor allem, wenn es um solche zunächst nicht faßbare Größen wie das Pneuma oder die Freiheit geht, wird konkret immer erst dann, wenn es dialektisch auf das Gegenteil bezogen wird. Der Geist erweist seine Kraft immer nur in der Negation des Gesetzes, in der Überwindung des Gesetzes [...]. 236

232 233 234 235 236

Barth, Römerbrief (S. 8, Anm. 29), S. 481. Gogarten, Politische Ethik (S. 6, Anm. 24), S. 79. Ebd., S. 91. Vgl. Blank, Paulus (S. 71, Anm. 231), S. 212. Ebd., S. 105.

3. Das Evangelium des fremden Gottes

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Der Antinomismus des Paulus stellt in der dialektischen Konstruktion von Gott, Mensch und Geschichte also eine erstaunliche Parallele zu fast allen Fragestellungen der Kulturwissenschaft her, j a die der Kulturwissenschaft eigentümliche Dialektik von Sein und Nichts erhält in der theologischen Reflexion gleichsam ihr authentisches Vorbild zurück: erst im Durchgang durch die Existenzkrise findet das durch das Gesetz von sich entfremdete Subjekt zu seinem eigentlichen Sein. Nicht zufällig ist es gerade Heideggers frühe Auseinandersetzung (1921) mit der paulinischen Theologie 237 , die gleichsam zum Paradigma für seine phänomenologische Darstellung des sich selbst verstehenden Daseins avanciert. Die Gschatologie des sich vom Gesetz emanzipierenden Lebens steht für ein Leben in Not, Sorge und der unmittelbaren Erwartung der Parousia, dem neuen Sein, in dem das alte Leben überwunden wird: Wenn die Parousia davon abhängt, wie ich lebe, dann bin ich außerstande, das von mir geforderte Glauben und Lieben durchzuhalten, dann komme ich in die Nähe der Verzweiflung. Die so denken, ängstigen sich in einem echten Sinn, im Zeichen der wahren Bekümmerung, ob sie die Werke des Glaubens und der Liebe durchführen können und durchhalten werden bis zum entscheidenden Tag. Paulus aber hilft ihnen nicht, sondern macht ihre Not noch größer. 2 3 8

Das traditionelle Verständnis des Menschen aus dem Gesetz soll gesprengt werden, und man mag in Heideggers Hinwendung zu Paulus als Metonymie eines eschatologischen Seins auch den Versuch erkennen, das phänomenologische »Gesetz« Husserls zu überwinden. Wenn Heidegger von Husserl jedenfalls schon früh feststellt, seine Phänomenologie ziele auf den Ursprung aller Wissenschaft im Leben, aber verfehle gerade immer wieder dieses Leben, so steht Paulus bei Heidegger vielleicht auch für eine Negation des »alten Gesetzes« der Phänomenologie des Bewußtseins: In dieser Sorge [Husserls] um absolute Sicherung der Norm und zugleich um Ausbildung einer echten Gesetzlichkeit kommt es gar nicht zur Aufgabe der Betrachtung des menschlichen Daseins selbst. Gerade das, was als solches gesichert werden soll [das menschliche Dasein], das kommt gar nicht in das Thema der Betrachtung. 239

Indem Tradition und Geschichte paulinisch in ihrem negativen Wesen durchschaut werden, wird ihre »Destruktion« möglich, von der her ein neuer Äon vorbereitet werden soll. Dabei bleibt auch hier die Idee dieses neuen Äons relativ vage, solange er nicht in seinem negativen Rückbezug zum alten Äon begriffen wird, - ähnlich wie der ganz andere Gott erst aus der negativen Realität des Gesetzesgottes seine neuen Konturen erhält. Mit der kulturellen Wiederentdeckung des paulinischen Antinomismus und der spätantiken »Häresie« des Pneumas wird nicht nur die vermeintliche Identität dieses Pneumas, das sich - bei Troeltsch - im »inneren« Christenmenschen verwirklichen sollte, mit dem transzendentalen Gesetz der Pflicht 237 238 239

Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (S. 8, Anm. 29). Ebd., S. 107. Heidegger, Einfuhrung in die phänomenologische Forschung (S. 30, Anm. 87), S. 90.

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II. Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

grundsätzlich fragwürdig. Paulus wird jetzt zu der Figur des Kulturhäretikers schlechthin, in dem sich gerade die absolute Unvereinbarkeit von transzendentalem Gesetz und Pneuma unmißverständlich dokumentiert. Wurde der protestantische Häretiker des »inwendigen Menschen« zunächst als Pionier der universalen Aufklärung wiederentdeckt, so erweist sich dieser Häretiker jetzt als höchst ambivalenter Zeuge: so wie er schon im 17. und 18. Jahrhundert für die Freiheit gegen das Gesetz stand, so auch jetzt - in den zwanziger Jahren - wo die Freiheit wieder zum Gesetz erstarrt ist: Paulus wird gerade aus dieser Perspektive als der Häretiker wiedererkannt, der jetzt das Ende des kulturellen Gesetzes verkündet. Konnte die Moderne im Zeitalter der liberalen Aufklärung als die Verwirklichung des wahren inneren Geistes und Pneumas der Freiheit erscheinen, so zeigt sie sich aus der Perspektive ihrer Krise nur als Reprise auf die Epoche des Gesetzes: als Rückfall. Hermann Cohens Bemerkung über das Verhältnis von der paulinischen Freiheit zu dem Gesetz der Autonomie bei Kant ist in diesem Zusammenhang eine wahrhaft zentrale Aussage der Religion der Vernunft: sie weist nicht nur auf die mögliche Bruchstelle, an der die Genealogie von Prophetismus, Protestantismus und Kantianismus aufzureißen droht, sondern bringt die Problematik von Gesetz und Pneuma aus der (neo-)kantischen Perspektive auf ihren Begriff: So sehr bereits Kant bestrebt war, die Idee Christi in Einvernehmen zu setzen mit der Autonomie der Sittlichkeit, so hat er doch es nicht unausgesprochen gelassen, daß der Glaube ebenso statuarisch sein kann wie das Gesetz mit seinen Werken [...]. Während er [im handschriftlichen Nachlaß] daher häufig im Sinne von Paulus gegen das statuarische Gesetz eifert, besinnt er sich doch wiederum auch gegen Paulus auf die gleichgroße Gefahr im statuarischen Glauben. 2 4 0

Barths und Gogartens Theologie ziehen aus dem antinomistischen Paulinismus jedenfalls die Konsequenzen, die zu einer radikalen Revision der Idee von Kultur führen mußten. Barth leitet dabei aus der paulinischen Theologie einen radikalen Skeptizismus gegenüber jeder politischen und kirchlichen Institution ab. Er erkennt in der Konstitution des Gesetzes durch den Menschen nur immer wieder seine Verfallenheit und setzt damit gegen jede vermeintlich theologische Dimension einer bestehenden oder revolutionären Ordnung »eine ehrliche Humanität und Weltlichkeit« 241 : An die Stelle des revolutionären Kampfes mag dann ein ruhiges Bedenken von Recht und Unrecht treten, ruhig weil letzte Behauptungen und Anklagen dabei nicht mehr in Frage kommen, ein besonnenes Rechnen, mit der Wirklichkeit, das die Hybris des Kriegs der Guten mit den Bösen hinter sich hat, eine ehrliche Humanität und Weltlichkeit, die weiß, das es sich nicht um den Gegensatz von Reich Gottes und Antichrist handelt, wo immer Menschen mit Menschen oder auch gegen Menschen in Staat, Kirche und Gesellschaft ihre Experimente wagen, ihr seltsames Schachspiel spielen. 242 240

241 242

Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (S. 2, Anm. 5), S. 406. Barth, Der Römerbrief (S. 8, Anm. 29), S. 472. Ebd.

3. Das Evangelium des fremden

Gottes

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Barth rechnet in seiner Auslegung der berüchtigten Aussage des Paulus über die von Gott gewollte Obrigkeit (Rom. 13,1) gerade mit dem Typus des Revolutionärs ab, der seine Rebellion gegen die bestehende Ordnung aus einer göttlich legitimierten Idee von Gerechtigkeit abzuleiten meint und dabei diese Gerechtigkeit erst recht in eine Tyrannei zu verwandeln droht. So scharf Barth hier mit diesem revolutionären Geist, von dem er übrigens überzeugt ist, daß er am ehesten aus den paulinischen Texten zu entnehmen sei, ins Gericht geht, ohne freilich den »Reaktionär« gegen ihn auszuspielen, so verwirft er im Namen der großen Negation durch Gott »alle Hierarchien, Mittelbarkeiten und Autoritäten« 243 und beschwört zugleich also einen »wahren« Typus von Revolutionär, der im Rahmen der hoffnunglos verfallenen Ordnungen des Menschlichen das Prinzip der Liebe am Anderen verwirklicht: Die große positive Möglichkeit aber nennen wir die Liebe eben darum, weil in ihr der revolutionäre Sinn alles Ethos an den Tag kommt, weil es sich in ihr tatsächlich um das Verneinen und Zerbrechen des Bestehenden handelt. 244

Der Vollzug der Liebe bereitet das Reich Gottes in einem qualitativen Augenblick vor, in dem ein anderer Bezug des Menschen zu sich selbst und zum Anderen sich ereignet und damit der Einbruch der Ewigkeit. 245 Dagegen zieht Gogarten aus dem Paulinismus politische Konsequenzen, die von der Destruktion des alten Gesetzes der Kultur, wie es sich in den Häresiologien Troeltschs und Webers verwirklicht haben soll, zu einer Legitimation gerade des autoritären Staates übergehen. Aus der paulinischen Dialektik von Gesetz und Evangelium, also aus dem Ungenügen des Menschen, das Gesetz zu erfüllen, und seiner Neigung, sich durch das Gesetz selbst erlösen zu wollen, leitet Gogarten ein radikal böses Wesen des Menschen ab. Dieses Wesen verfüge eben keineswegs autonom über sich, sondern stehe ganz unter der Macht eines Anderen. Der Versuch des Subjekts, sich selbst aus dem Gesetz zu begründen, als auch der Versuch der Kultur, sich durch dieses Gesetz von der fundamental bösen Neigung des Menschen zu emanzipieren, dies sind aus der post-paulinischen Perspektive Gogartens gerade Symptome des Bösen selbst, weil der Mensch hier seine ursprüngliche Hörigkeit gegenüber Gott und dem Anderen aufzukündigen versuche. Gogarten kommentiert in diesem Zusammenhang die berühmte Stelle des siebten Römerbriefes (7,18-20): »Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« - Das Böse, von dem Paulus hier spricht, ist nicht nur das im moralischen Sinne Böse, sondern es ist die Auflehnung gegen Gott, das Suchen der eigenen Gerechtigkeit. 246

243 244 245 246

Ebd., S. 480. Ebd., S. 476. Ebd., S. 481. Gogarten, Politische Ethik (S. 6, Anm. 24), S. 86.

II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

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Diese Auslegung des Phänomens des Bösen führt damit nicht nur zu einer radikalen Kritik an der Idee der Kultur, sondern darüber hinaus zu einer Staatstheorie, in der diese Idee liquidiert werden soll. Die Tatsache des Bösen nämlich, also die für Gogarten unwiderrufliche Verfallenheit des Menschen an die eigene böse Gerechtigkeit kann nur im Staat in Schach gehalten werden, Gogarten bezieht sich hier auf die paulinische Rechtfertigung der Obrigkeit und zwar so, »daß dem Haß und dem Gegeneinandersein der Menschen Schranken errichtet werden, so daß es nicht zum Äußersten kommt und die Menschen sich gegenseitig zerstören und verzehren« 247 . Die auf die Rechtfertigung des Einzelnen gegenüber dem Gesetz ausgerichtete paulinische Theologie wird damit im ursprünglich lutherischen Sinne zu einer autoritären Staatstheorie erweitert, die jetzt freilich in einem ganz anderen historischen Kontext steht. Das »Staatswesen ist ein großes Geschenk«, »ein Wunder«, und das heißt vor allem, daß es »ein notwendiges Heilmittel für die verderbte Natur« des Menschen ist 248 . Der Staat leitet seine eigentlich ethische Autorität gerade aus der Tatsache ab, daß er die Macht des Bösen bannt, 249 von der der häretische Protestantismus eben nichts mehr wissen wollte. Damit markiert Gogarten die Fronten jetzt scharf: gegenüber dem häretischen Lutheranismus und seinem radikalen Antinomismus und seiner Spiritualisierung des »inwendigen Menschen« setzt er einen orthodoxen Lutheranismus und Paulinismus, der sich nicht nur jeder Obrigkeit als von Gott verordnet unterwirft, sondern dem Staat eine für das eigene religiöse Bewußtsein unabdingbare pädagogische und didaktische Funktion zuweist. Durch das Staatsgesetz nämlich soll der einzelne Mensch an seine eigene Sündhaftigkeit erinnert und zugleich erzogen, und das heißt von jeder »privatae devotionis affectu«: also dem Drang nach einem individuellen Gottesdienst, kurz: dem häretischen Willen und einer auf diesen gegründeten Ethik der Autonomie geheilt werden. »Ein vom Staat unabhängiges Recht des Gewissens, so wie die Täufer und Spiritualisten der Reformationszeit es verstanden haben« 250 , ist für Gogarten eben der Anfang jenes verheerenden Säkularisationsprozesses, in dem Gott zur Metapher für die befreite Menschheit wird, und der Mensch sich von dem Bösen zu emanzipieren suche. Das aber bedeutet, daß hier der Staat durch die Kultur ersetzt wird: Da alle diese [aus dem häretischen Protestantismus abgeleiteten] Ideale von der Vollkommenheit des an und für sich seienden Individuums abgeleitet werden und es zum Ziel haben, so fordern sie von den politischen Gemeinschaftsgebilden nicht mehr und nicht weniger, als daß sie sich auf dem Wege zu dem sich immer mehr vervollkommnendem An und für sich Sein des Individuums sich selbst überflüssig machen.251 247 248 249 250 251

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

108. 110. 116. 120. 123-124.

3. Das Evangelium des fremden

Gottes

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Ähnlich wie einst der Soldat Simmeis steht der gläubige Protestant bei Gogarten jetzt vor einer Entscheidung: entweder er entscheidet sich ftir einen Staat, der um den »dämonenhaften Untergrund der politischen Ordnungen weiß« und aus der »Nähe zu den Mächten, die das menschliche Leben bedrohen: Tod, Sünde Teufel«252 die absolute Souveränität des Staates ableitet, oder er entscheidet sich gegen den Staat, d. h. für dessen Auflösung durch die in ihrem Wesen häretische und rebellische Kultur, die eben diesen »dämonischen Untergrund« verdrängt. Diese paulinische Staatstheorie setzt mit ihrem ethischen Grundprinzip der Heteronomie des Subjekts, seiner Angewiesenheit auf den Anderen, - Gogarten selbst spricht immer wieder von der »Hörigkeit« gegenüber dem Anderen - auf einen Staatsmann, der »besser und tiefer um die Gefährlichkeit menschlicher Existenz« weiß253. Unter der Hand hat sich die Kritik an dem autonomen Subjekt, seine Reduktion auf den Anderen, in eine Hörigkeit gegenüber dem Anderen verwandelt, die - das setzt die Hörigkeit implizit immer schon voraus - Gehorsam gegenüber diesem Anderen verlangt. Der protestantische Grundsatz »Non operando, sed audiendo« wird bei Gogarten zum Grundsatz einer autoritären Staatstheorie, in der die Moderne, das autonome Subjekt und die Kulturidee liquidiert werden sollen. Es gilt also eine Entscheidung zu fällen zwischen dem orthodoxen oder häretischen Protestantismus, d. h. filr die orthodoxe Lehre des Paulus oder für dessen häretische Fortführung durch die säkulare Moderne. Gogartens Theologie ist aus der Häresie gegen die Theologie hervorgegangen, gegen die sie sich jetzt häretisch verhält, d. h. einen orthodoxen Lutheranismus beschwört, der auch schon unter dem Einfluß Carl Schmitts im Staat das »Wunder der Schöpfung« und im dämonischen Staatsmann den Vollstrecker dieses Wunders erblicken möchte.254 Wenn Gogarten, der sich 1933 den »deutschen Christen« anschließt, »gegen die, die den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, Vernunft und Offenbarung, Welt und Kirche, Kultur und Christentum möglichst mit einer Harmonisierung beider zu überwinden suchten«, sich rechtfertigt255, so leitet er aus der Unversöhnlichkeit dieser Momente ab, »daß das Gesetz Gottes uns in unserem Volkstum gegeben sei«256. Gogarten verteidigt sich hier gegen den Angriff des 252 253 254

255

256

Ebd., S. 113. Ebd., S. 58. Ebd., S. 135 zitiert Gogarten Carl Schmitts Politische Theologie als Bestätigung für die eigene politische Ethik, so wie sich Carl Schmitt in Politische Theologie (S. 6, Anm. 22), im Vorwort von 1934, S. 7 auf Gogarten positiv bezieht. Zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht Gogarten Einheit von Evangelium und Volkstum? (Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt 1933) und Ist Volksgesetz Gottesgesetz? Eine Auseinandersetzung mit meinen Kritikern (ebd., 1934), wo er die nationalsozialistischen Konsequenzen aus seiner Theologie zieht. Friedrich Gogarten: Gericht und Skepsis. Eine Streitschrift gegen Karl Barth. Jena: Diederichs 1937, S. 10. Ebd., S. 8.

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II. Die Dissoziation

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früheren Weggenossen Karl Barth, der im Münchener Aufruf zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus kategorisch festgestellt hatte: Wer heute eine Prüfung des Glaubens durch Ereignisse wie das der nationalsozialistischen Revolution verkündigt, macht den Glauben selbst zu einem vergänglichen Menschenwerk und stellt sich außerhalb der evangelischen Kirche. 257

In der paulinischen Revolution bricht nicht nur die alte Aporie von Nomos und Pneuma der Kultur auf, sondern die interkulturelle Synthese von alttestamentarischem Gesetz, protestantischem Glauben und transzendentaler Philosophie droht jetzt auseinanderzubrechen. Erkannten Troeltsch und Gebhardt in dem Häretiker des 17. und 18. Jahrhunderts die Wegbereiter einer universalen Kultur der jüdisch-protestantischen Aufklärung ohne konfessionellen Zwang, so bedeutet die Rückbesinnung auf den ganz anderen Gott zugleich eine potenzielle Reduktion dieses Gottes auf den katholischen, protestantischen oder jüdischen Gott. Gerade die Iniragestellung des Gesetzes und mit diesem der Epoche des aufgeklärten Gesetzes auf dem Hintergrund der paulinischen Unterscheidung von Gesetz und Gnade konnte von unberufenen Ideologen so radikalisiert werden, daß jetzt diese Epoche als die Epoche des jüdischen Gesetzes, ja des jüdischen Gottes identifiziert wurde. Ist schon bei Paulus die Einheit des Gottes des Gesetzes und des Gottes der Erlösung manchmal so fragwürdig wie die Einheit des Menschen, der dialektisch als gespaltenes Ich Gesetz und Pneuma aufeinander zu beziehen versucht, so drohte diese in der Tat überaus schwer auszutragende dialektische Einheit immer wieder auseinanderbrechen. Indem die Gnosis die Einheit Gottes leugnet, ihn vielmehr in einen niederen Gott der Schöpfung und des Gesetzes einerseits und einen Gott der Erlösung spaltet, leugnet sie die paulinische Logik der Krise, und läßt beide Äonen jetzt gleichsam so nebeneinander verlaufen, daß zwischen beiden keine Beziehung mehr besteht. Die liberale Kultur muß unter dem Zeichen einer solchen möglichen radikalen Gnosis, die die Dichothomie in Gott in einem göttlichen Dualismus hypostasiert, die kantische Aufklärung mit dem bösen Gott von Schöpfung und Gesetz gleichsetzen, und das heißt im Zweifelsfalle mit dem Gott der Juden, aus dessen Herrschaft nur noch ein »wahrhaft anderer Gott« den Christen zu befreien vermag. Indem die radikale Gnosis dem Nomos jegliches Pneuma abspricht, Geschichte, Menschheit und Gottheit in klaren Konturen in Gut und Böse, Freund und Feind einteilt, brechen innerhalb der Kultur furchtbar scharfe metaphysische Fronten auf. Ihren zunächst wissenschaftlichen Ausdruck findet die gnostische Interpretation des Christentums in der bedeutenden Forschung von Adolf von Harnack über die Gnosis des Marcion 258 , der im 2. Jahrhundert n. Chr. das paulinische 257 258

Karl Barth: Theologische Existenz heute. München: Kaiser 1933, S. 18. Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. 2., verb. u. verm. Aufl., Leipzig: Hinrichs 1924 [' 1921] (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 45).

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Vokabular so radikalisierte, daß Glaube und Gesetz - in Marcions Predigt nach Lukas 6,43: der gute und der faule Baum - in der Annahme zweier verschiedener Gottheiten gipfelte. Harnacks Buch muß dabei nicht unbedingt als Ausdruck eben der neuen radikalen Kulturgnosis aufgefaßt werden. Es entspricht durchaus seiner Auffassung einer von jeder Art von Dogma sich befreienden protestantischen Theologie, daß diese auch der alttestamentarischen Grundlagen entbehren kann, ohne daß Harnack dadurch notwendig die Legitimität des Judentums hat bestreiten wollen. Möglich immerhin wäre es, daß seine Forschung Uber Marcion auch auf den radikal häretischen Ursprung der in den zwanziger Jahren kursierenden neupaulinischen Denkformen hinweisen. 259 Hamack fuhrt Marcion jedenfalls als radikalen Vollstrecker der paulinischen Theologie vor und zwar in eben der von Otto neu bereitgestellten Kategorie des Heiligen: Marcion habe nicht nur »die ganze Macht und Gewalt des Numinosen am Evangelium empfunden« 260 , er habe es als wahrhaft »großes mysterium tremendum et fascinosum« verstanden, von dem die »Erlösung nicht nur von der Welt, sondern auch von ihrem Schöpfer und Herrn« ausgehen müsse 261 . Marcion hypostasiert die innergöttliche Differenz in zwei Wesenheiten, den jüdischen Gott von Schöpfung und Gesetz einerseits und den Gott der wahren christlichen Liebe. Hamack betont zwar, um sich auch von den antijudaistischen Konsequenzen dieser Gnosis zu distanzieren, daß der jüdische Gott von Marcion zuletzt nicht mit dem Teufel identifiziert, sondern nur durch den unbekannten Gott überwunden werde. Doch wird die Welt des Kreaturlichen und des Gesetzes - der Herrschaftsbereich des jüdischen Gottes - in der Häresie des Marcion grausam denunziert: In dem Momente [der gnostischen Götterspaltung] aber wurde die Welt vollends unwert, da nicht nur alle Werte, sondern auch alles wahre Sein bei dem Unbekannten zu suchen sind. Sie wurde zum Gefängnis, zum Sinnlosen, zu eklem Schein, ja zum Nichts. 262

Damit gibt es keine historische Verbindung, keine historische Dialektik mehr, in der die Äonen negativ aufeinander bezogen werden könnten. In der Gnosis werden Judentum und Juden zuletzt zu Repräsentanten der schlechtin unerträglichen Welt der Schöpfung und des Gesetzes, deren eklatantester Ausdruck das Prinzip der geschlechtlichen Liebe sei. Während bei Klages das Judentum zum vergeistigten Feind des Naturhaft-Dionysischen und Rauschhaft-Ekstatischen wird, fungiert es aus dieser gnostischen Perspektive zuletzt als der mythischnaturgebundene Feind eben des reinen Geistes. 239

260 261 262

Jedenfalls hat sich Barth im Marcion nicht völlig unerkannt gesehen. Vgl. Barth, Der Römerbrief (S. 8, Anm. 29), S. XVII: »Als ich mitten in der Arbeit war, erschien Harnacks Buch über Marcion. Wer es kennt und in meinem Buch auch nur blättert, wird gleich wissen, warum ich es erwähnen muß. Gewisse frappante Parallelen machten auch mich [...] stutzig. Ich möchte aber bitten, hier und dort genau zuzusehen, und mich nicht zu rasch als Marcioniten zu loben oder zu tadeln. Es stimmt nun einmal gerade in den entscheidenden Punkten nicht.« Harnack, Marcion (S. 78, Anm. 258), S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 3.

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

Der Marcionismus als radikalisierte paulinische Theologie des dem absconditus entfaltet seine eigentliche und von Hamack kaum beabsichtigte Gewalt in einer radikal gnostischen »Kehre« der neuen Theologie, die zuletzt auch ihren politisch legitimen Rahmen findet: in Emanuel Hirschs Schrift über »Das alte Testament und die Predigt des Evangeliums« 263 . Hirsch formuliert hier die paulinische Dialektik von Gesetz und Evangelium mit Hilfe der Existenzphilosophie Kierkegaards als ein »entweder - oder«, d. h. aus der Perspektive des Christentums als Negation des Judentums: Das Christentum hätte keine andere Religion als Vordergrund haben können, denn keine andere macht vermittels der Negation so bestimmt, so entscheidend kund, was Christentum ist, als das Judentum.264

Hirsch berichtet im Vorwort zu seiner Schrift, wie er sich im Laufe seiner Biographie immer mehr dem alten Testament entfremdet habe, das auf diese Weise sein »christusfremdes jüdisches Gesicht gegen mich herauszukehren« begann 265 . Die Dialektik, die sich zum Entweder-Oder verkürzt, erscheint zuletzt als das »mächtigste Widerspiel« zwischen Altem Testament und Evangelium, das darüber hinaus eigentlich rassisch bedingt ist: »[...] wir Christen nichtjüdischen Bluts [haben] kein unmittelbares Verhältnis zum alten Testament.« 266 In dieser Theologie des rassischen Widerspiels kommt es zu einer absoluten Trennung des Christentums vom alttestamentlich-jüdischen Gesetz, die sich aber mit der Trennung selbst nicht begnügt, sondern das Alte Testament zerstören will: »Die Wahrheit des neuen Testaments zerbricht das Alte Testament so, daß sie der darin gefangenen Wahrheit zur Erlösung wird.« 267 Hirschs Theologie des »Widerspiels«, das der Negation bedarf, um sich selbst zu erfassen, muß sich freilich dem dialektischen Zusammenhang verschließen, den sie zugleich immer wieder heraufbeschwört. So wie es des Feindes bedarf, gegen den die Theologie sich hier rüstet, so wird die vermeintliche Ähnlichkeit, die Hirsch immer wieder versehentlich unterläuft, gar nicht erkannt. Das Christentum, das mit dem Judentum »alle anderen Nationalreligio263 264 265 266

267

Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (S. 62, Anm. 193). Ebd., S.III. Ebd., S. 7. Ebd., S. 15-16. Hier spricht Hirsch die Sprache Alfred Rosenbergs: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 7. Aufl., München: Hoheneichen-Verlag 1943 1930], S. 614: »Abgeschafft werden muß danach ein für allemal das sogenannte Alte Testament als Religionsbuch. Damit entfällt der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen.« Vgl. auch Hirsch, Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube (S. 69, Anm. 227), und: ders., Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung (S. 62, Anm. 193), in denen sich diese Haltung anbahnt. Ebd., S. 83. Vgl. S. 68: »Das evangelische Christentum baut sich auf einem Christusverständnis auf, welches die paulinische Entgegesetzung von Evangelium und Gesetz erneuert.«

3. Das Evangelium des fremden Gottes

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nen [...] unter das göttliche Nein gestellt« haben soll 268 , gibt sich ja zuletzt als eben die rassisch bedingte Nationalreligion zu erkennen, gegen die sie angeblich ihr göttliches Nein mobilisieren soll. Damit vollzieht Hirsch, der bis 1933 mit Paul Tillich freundschaftlich verbunden war 269 , in seiner Theologie eben die »Secessio Judaica«, also die vollkommene Loslösung vom Judentum, vor der Tillich in seiner Gedenkrede zu Hegels hundertjährigem Todestag warnte und feststellte, sie könne nur »eine Trennung von uns selbst« bewirken270. Auch in einem anderen Zusammenhang, nämlich in dem berühmten Babel und Bibel Streit, der um die Jahrhundertwende durch Friedrich Delitzsch entfachten aufsehenerregenden Diskussion um die mythischen Ursprünge der alt268

269

270

Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (S. 62, Anm. 193), S. 74. Vgl. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung (S. 62, Anm. 193), S. 121: »Die Meinung, in der großen Krise euroamerikanischer Kultur wagend für eine kommende gegen eine untergehende Welt Stellung genommen zu haben, hat den Begriff des Kairos, der von Gott gegebenen fordernden geschichtlichen Entscheidungsstunde, erzeugt. Mit alledem hatte diese Geschichtsphilosophie des theologischen Marxismus eine Sendung gerade am jungen nationalen Luthertum: sie hat es aus der bürgerlichen Enge, die ihm ursprünglich anhaftete, erlösen helfen [...].« Vgl. hierzu Willy Schottroff: Das Reich Gottes und der Menschen. Studien über das Verhältnis der christlichen Theologie zum Judentum. München: Kaiser 1991 (Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog, 19), S. 141, Anm. 9: »Zu Beginn des dritten Reiches hat Hirsch, der während der 20er Jahre den religiösen Sozialismus und die Kairostheologie entschieden abgelehnt und als religiösen Marxismus« bekämpft hatte, in seiner Schrift: Die gegenwärtige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung [...] entscheidende Grundkategorien der Theologie Tillichs aufgegriffen und sie zur theologischen Legitimierung des Nationalsozialismus benutzt. Aus der Emigration in New York bestritt Tillich Hirsch das Recht dazu: >Du verkehrst die profetisch-eschatologisch gedachte Kairos Lehre in priesterlich sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens«, hielt er ihm entgegen (in: Offener Brief an E. Hirsch, Theologische Blätter 13,1934, S. 305-328). Hirsch hat schon 1923 Karl Barth als Schweitzer!«, >Ausländer!< >Hetzer!< verschrien. Karl Barth hat in: Theologische Existenz Heute Hirschs nationalsozialistisch inspirierte Theologie als den »nun vielleicht schon eingetretenen Fall eines Sieges der deutschen Christen« und als Beginn von einer Art »kirchlich theologischen Schreckenszeit« bezeichnet, »in der im Gottesdienst getrommelt werden und E. Hirsch bestimmen wird, was Theologie ist.«« Vgl. ebd., S. 144. Zit. nach: Martin Buber: Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose. In: Deutschtum und Judentum (S. 2, Anm. 6), S. 150-153, hier S. 153. Die Forderung nach einer Secessio Judaica geht auf Hans Blüher: Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung (Berlin: Der Weiße Ritter-Verlag 1922), zurück. Die Secessio Judaica bezeichnet für Blüher den Krieg zwischen Hakenkreuz und Davidstern, der in einem Weltprogrom enden soll. Blüher bezieht sich S. 57-58 auch ausdrücklich auf den Zionismus und auf Martin Buber: »[...] der Zionismus. Er stammt vom jüdischen Adel und fängt historisch an mit der Schrift Theodor Herzls Der Judenstaat. Er wurde religiös gesichert durch den steigenden Einfluß der Chassidim (Martin Buber). Heute ist er die Schutzmacht der zurückflutenden Judenschaft.«

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testamentarischen Erzählungen in der babylonischen Religion also, tritt ebenso ein immer aggressiveres gnostisches Moment hervor, das dann in den zwanziger Jahren, als Harnack sein Buch über Marcion veröffentlicht, in ungewöhnlich radikaler Vehemenz offen nach außen schlägt. Neben zunächst durchaus seriösen Berichten und Untersuchungen zu den mythischen Parrallelismen zwischen biblischer und babylonischer Kultur bemüht sich Delitzsch bald um den Nachweis, daß der biblische Monotheismus schon in der babylonischen Mythologie sich etabliert habe, macht jedoch, als diese These einen Sturm der Entrüstung auslöst, einen rhetorischen Rückzieher, allerdings nur, um jetzt in seiner Argumentation implizit den jüdischen Monotheismus zu entwerten: Wenn z. B. zugunsten des universellen Charakters der Jahve Religion mit dem Hinweis plädiert wird, daß Jahve doch das Universum, Himmel und Erde geschaffen habe, so kann dies deshalb nichts beweisen, weil Marduk, der Stadtgott von Babylonien, bekanntlich ebenfalls als der Schöpfer des Himmels und der Erde gilt. 271

In einer Art interpretatorischem Salto Mortale will Delitzsch Christus zu einem verborgenen Gerechten der babylonischen Religion umschaffen. Christus habe die »wahrhaft neue Religion« gebracht, »die wenn befreit von all den mannigfachen, der Person und dem Leben Jesu fremden menschlichen Zutaten, berufen bleibt, die Welt zu gewinnen« 272 . Von der Leben-Jesu-Forschung emanzipiert erweist sich Christus als der barmherzige, von allem Judentum gereinigte Erlöser der Menschheit. Indem er so in geschickter Regie das Judentum immer mehr historisiert, erhofft Delitzsch sich eine Enthistorisierung und Reinigung Christi von allem Judentum. In einem anderen hermeneutischen Alleingang lobt Delitzsch die Juden zunächst dafür, den Monotheismus popularisiert zu haben, aber wenig später erbringt er den »Nachweis«, daß dieser Monotheismus eben nur ein Nationaltheismus sei. Dann aber ist es gerade der Nationaltheismus, auf den man einen vorbildlichen Patriotismus gründen könne. Verglichen freilich mit dem deutschen Nationalismus, erkennt Delitzsch im jüdischen Nationaltheismus nur eine schwache Imitation des wahren Nationalismus. 273 Es handelt sich um einen Prozeß, in dem der Bereich, den wir eher vage mit dem Begriff des Jüdischen umschreiben, langsam eingegrenzt, umzäunt und zuletzt als »das Negative« ausgegrenzt wird. Scheinbar wird dem Judentum ein positives Prädikat zugewiesen, durch das man es aber eigentlich schon denunziert. Dieses »positive« Prädikat wird dann durch ein weiteres Prädikat ersetzt, das wieder den Eindruck einer affirmativen Attribution erweckt, aber auch nur filr ein im Grunde negatives Phänomen steht. Christus selbst profiliert sich in diesem zunehmend satanischen Spiel von Zu- und Absprache zuletzt zum »Lichtbringer«, dem Luzifer also, von 271

272

273

Friedrich Delitzsch: Bibel und Babel. Ein Rückblick und ein Ausblick. 4. Tsd, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1904, S. 60-61. Friedrich Delitzsch: Bibel und Babel. Ein Vortrag. 5. Tsd, Leipzig: Hinrichs 1902, S. 48. Delitzsch, Bibel und Babel (vorletzte Anm.), S. 40-60.

3 Das Evangelium

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dem Delitzsch allerdings feststellt, er »solle nach Gottes Gerechtigkeit nicht länger »Luzifer« sein [...] im Sinne des leibhaftigen, gottfeindlichen Satans, sondern wahrhaft ein Lichtbringer, der Künder eines neuen Morgens« 274 . Das Judentum entpuppt sich in diesem Vexierspiel immer mehr als der böse Gott der Welt, während der von allen Spuren des Judentums gereinigte Christus zu dem mit Hilfe der babylonischen Mythologie geretteten gnostischen Heilbringer wird. Im Rückblick auf die Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende stellt Delitzsch 1921 kategorisch fest: Das viel gehörte und sentimentale Wort, daß das Judentum das Heil der Welt hervorgebracht, sollte für immer dem geschichtlich, weil weniger zweifelhaften Worte weichen, daß das Judentum das Heil der Welt getötet hat. 275

Das Judentum vertritt hier das gnostische Prinzip des Negativen schlechthin, es repräsentiert den Feind der Erlösung, den Antichristen, der gegen den unbekannten Gott, das Evangelium vom fremden Gott, der in Christus zur Erscheinung wird, antritt. In der gnostischen Reinterpretation von Christus als dem Lichtbringer der Kultur haben sich freilich schon theologische und mythologische Motive vermischt. Während Ludwig Klages sich das Heil von einem von allen intellektualistischen Zusätzen gereinigten Mythos verspricht, und das heißt für ihn zuletzt von einem Mythos ohne Judentum, so dient die Wiederentdeckung der präbiblischen Mythologie Babyloniens zu einer Fundierung einer ganz reinen und »judenfreien« Christologie. Christus ist der ganz ins Geistige erhobene Mythos, an dem alle Spuren des Judentums so getilgt wurden, wie dem Judentum vorher alle Geistigkeit abgesprochen werden mußte. Die Kultur erreicht in dieser metaphysisch-mythologischen Gnosis den vermeintlich radikalen Ursprung ihrer selbst, in dem sie sich von allen Restbeständen der Kultur zu befreien hofft: hier entdeckt sie zuletzt ein reines unerklärliches, aber deswegen um so wirksameres Prinzip der Negation, das sie, um sich vor einem weiteren Prozeß kultureller Entfremdung zu schützen, liquidieren muß. 274 275

Ebd., S. 65. Friedrich Delitzsch: Die große Täuschung. Stuttgart, Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt 1921, S. 95. Vgl. hierzu: Blüher, Secessio Judaica (S. 81, Anm. 270) konstruiert einen endzeitlichen Kampf zwischen der deutschen, männlichen, nationalen, heroisch-preußischen Substanz und der jüdischen, weiblichen, sozialistischen Antisubstanz und Destruktionsmacht, den Blüher mit seiner Secessio Judaica vorbereiten will. Mythos und Hakenkreuz sind die Symbole für ein kommendes »Weltpogrom« (S. 57). In Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter (Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1931) konstruiert er in diesem Sinne eine politische Theologie des Antisemitismus, derzufolge die Juden den »Antichrist« darstellen, der mit allen Mitteln, auch denen der Säkularisation, den Christen zu beseitigen versuchen. Vgl. auch Hans Blüher / Hans-Joachim Schoeps: Streit um Israel. Ein jüdisch-christliches Gespräch. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1933, das noch als »ein jüdisch-christliches Gespräch« bezeichnet wird, in dem Schoeps Blühers Antisemitismus zu widerlegen versucht.

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II. Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

Rudolf Ottos Text erkannte einen semantischen Bruch im Begriff des Heiligen, der zum Ausgangspunkt einer etymologischen Analyse des Phänomens Religion dienen sollte. Weit über den religionswissenschaftlichen Aspekt hinaus barg diese Analyse in sich das Potential einer in der neokantianischen Kulturphilosophie latenten Umwertung der Kultur aus theologischer Perspektive von der Wiederentdeckung der paulinischen Häresie, der dialogischen und dialektischen Theologie bis zu den gnostischen Ideologien. Negative Anthropologie und negative Theologie bezeichnen also gleichsam die beiden »Wege«, die aus der Kultur hinausführen und sich im Unendlichen schneiden. Der verborgene Gott ist wie der verborgene Mensch im Vergleich mit seiner idealisierten Kultursubstanz zugleich unendlich viel größer als auch unendlich viel kleiner. Einerseits ist er der unergründliche und unaussprechliche Grund des Seins, andererseits beginnt er, da er jetzt sein Schweigen bricht, d. h. aus seiner ideellen Sprachlosigkeit und vernünftigen Stummheit hervorbricht, eine Sprache der Offenbarung zu sprechen: er spricht hebräisch, lateinisch, deutsch oder arabisch. Es ereignet sich in Gott eben das, was sich im Menschen ereignet hat: er stößt das ethische Formgesetz von sich ab, um die absolute Wurzel des Seins freizulegen, diese aber verstrickt sich auch hier sofort in Mythos, Nation, Sprache und die sogenannte konkrete Situation. Gott spricht nicht nur eine Sprache der Offenbarung, er spricht mit dieser Sprache zu einem Volk, seinem Volk, zu einem Menschen, dem in der Angst vor der eigenen Rätselhaftigkeit soeben die universale Sprache der Vernunft vergangen ist und der sich jetzt im Gebet, also einer konkreten Sprache seinem Schöpfer zuwendet. Wohl zeigt sich der neue Gott als das über alle Vernunft und den Logos erhabene Sein, aber er muß in der wieder möglichen Offenbarung auch in einer konkreten Gestalt erscheinen, in der dieses Sein sich selbst gleichsam ein- oder beschränkt. Mit der Idee von der Offenbarung, in der sich ein unendliches Sein praktisch konkretisiert, kommt es zu einer Art ontologischem Kurzschluß: das Absolute und Universale soll im engsten Geschichtsraum der persönlichen Existenz, des Volkes und der Nation vollzogen werden. Jeder Augenblick ist potentiell ein eschatologischer Umbruch, er ist mit einer messianisch-christologischen Energie aufgeladen, die jederzeit sich entladen kann. Der Augenblick der Krise wird zum qualitativen Augenblick und zum Kairos, in dem die Ewigkeit in die geschichtliche Zeit hineinbricht. Kairos, die erfüllte Zeit nach dem neutestamentlichen Gebrauch des Wortes, beschreibt den Augenblick, in welchem das Ewige in das Zeitliche einbricht und das Zeitliche bereitet ist, es zu empfangen. Was in dem einen einzigartigen Kairos geschah, die Erscheinung Jesu als des Christus, das heißt in der Mitte der Geschichte, kann in einer abgeleiteten Form immer wieder im Zeitprozeß geschehen, dabei Zentren von geringerer Bedeutung schaffend, von denen die Periodisierung der Geschichte abhängig ist. Die Gegenwärtigkeit eines solchen abhängigen Kairos wurde nach dem ersten Weltkrieg von vielen Menschen empfunden. 276 276

Paul Tillich: Die protestantische Ära. In: ders., Gesammelte Werke (S. 8, Anm. 31), Bd 7, S. 11-28, hierS. 19.

3. Das Evangelium des fremden Gottes

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Wie immer dieser Einbruch verstanden werden mag, die kairologische Präsenz des Heiligen wird als Unterbrechung der chronologischen Zeit vorgestellt. Mag der Theologe versuchen, diesen Einbruch als existenzialistischen Vorgang einer Metanoia und Bewußtseinsverwandlung zu beschreiben, potentiell schlägt diese existentielle Verwandlung in die politische Sphäre zurück. Bezeichnet der qualitative Augenblick bei Barth zwar ein Ereignis, das jenseits der Politik von Macht und Gegenmacht sich abspielt, aber doch als solches politisch durchaus emanzipatorisch wirksam werden kann, 277 so wird der Augenblick der Krise aller selbstherrlichen Kultur bei dem ehemaligen Weggenossen Friedrich Gogarten zum Augenblick der Restauration einer dämonischen politischen Obrigkeit. 278 Ist der Kairos bei Tillich im Sinne der Dialektik der Moderne über jeden partikularistischen, geschweige denn nationalistischen Mißbrauch erhaben, 279 so wird er 277

Barth, Der Römerbrief (S. 8, Anm. 29), S. 469 stellt kategorisch fest: »Wer sich also gegen die Obrigkeit empört, widersteht der Anordnung Gottes. Die Widersetzlichen aber ziehen sich selbst das Gericht zu. Es besteht ein Präjudiz nicht filr die bestehende Ordnung zwar, aber gegen die Revolution. Das Präjudiz besteht darin, daß die wahre Revolution von Gott kommt und nicht von menschlichen Empörern.« Zugleich bildet die in der Liebe sich vollziehende Selbstverwandlung eine andere Form politischer Handlung: »Es ist der von allem Tun ins Nichttun [zu Gott] zurückgescheuchte Mensch, der hier [aus Gott] wieder hervorbricht ins Tun, der Niedergeworfene, der hier wieder aufsteht.« (S. 480) Diese Verwandlung durch das »Du sollst Deinen Nächsten lieben« ereignet sich aber auch in einem Kairos bzw. Augenblick: »Denn es ist ein Augenblick zwischen den Zeiten, der selber kein Augenblick ist in der Zeit. Jeder Augenblick in der Zeit kann aber die volle Würde dieses Augenblicks empfangen. Es ist dieser Augenblick der ewige Augenblick, das Jetzt, in weichem Vergangenheit und Zukunft stillstehen [...]. Die Zeit verrät ihr Geheimnis: nicht sie geht und kommt, sondern der Mensch ists, der in Gott gewesen ist und sein wird, stirbt und lebt, fällt und steht, ist, der er ist, und ist, der er nicht ist.« (S. 481) Dieses simultane Sein und Nichtsein des Daseins ist hier natürlich der radikalste Ausdruck des Nicht-Gott-Seins, insofern Gott idealistisch und traditionell philosophisch als Identität, biblisch als »Ehie ascher Ehie«, also als Ich werde sein, der ich sein werde, bestimmt wird.

278

Gogarten, Politische Ethik (S. 6, Anm. 24), S. 91: »Der neue Mensch ist der Mensch, der, indem er um sich als den neuen Menschen weiß, zugleich um sich als den alten Menschen weiß; das heißt der Mensch, der um sich als um den neuen Menschen weiß, der weiß auch, daß er dem Gesetz verschuldet ist.« Entspricht diese dialektische Struktur vom alt-neuen Menschen der Struktur von Sein und Nichtsein des Daseins bei Barth, so leitet Gogarten nicht nur eine grundsätzliche Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit, sondern gerade die Notwendigkeit des Gehrorsams gegenüber einer autoritär-totalitären Obrigkeit ab, die eben den alten Adam »in Schach zu halten« versteht. Mit Luther lobt Gogarten den Staat als »ein großes Geschenk [...]. Denn es ist nötig, daß die sündige Begier durch Fesseln der Gesetze und durch Strafen gebunden werde, damit sie nicht in Freiheit ausschweift.« (S. 110) Tillich, Kairos I (S. 8, Anm. 31), S. 15 setzt auf eine »Theologie der Krise, wie sie von Karl Barth [...] vertreten wird. Keine endliche Realität kann Absolutheit filr sich beanspruchen. Alles Bedingte wird vom Unbedingten gerichtet.« Setzt Tillich auf einen religiösen Sozialismus, der sich im Kairos ankündigt, so warnt er ständig vor der Gefahr des aus einer solchen Ineinssetzung resultierenden Terrors: »Ihr

279

86

II Die Dissoziation

des Subjekts im Diskurs der

Kulturwissenschaft

von Hirsch, der Tillichs Kategorie des Kairos zuerst als Ausdruck einer marxistischen Theologie verworfen hat, 1933 fiir die eschatologische Aufladung der nationalsozialistischen Revolution selbst eingesetzt, gegen die sich der nunmehr ehemalige Freund Tillich als erster scharf verwehrt: »Du verkehrst die profetisch-eschatologisch gedachte Kairos Lehre in priesterlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens.« 280 Der neue Herr des Seins, der in die Zeit des Menschen wirklich oder nur metaphorisch, existentiell oder politisch, dialektisch oder unvermittelt hineinbricht, kann die menschlichen Ordnungen wie auch das Gesetz der Kultur jederzeit suspendieren, weil er im unerklärlichen Akt seiner göttlichen Souveränität jede immanente historische Kontinuität zu jeder Zeit durchbrechen kann. Das offenbarte Gesetz Gottes ist jetzt potentiell zu befolgen, weil Gott es offenbart hat, nicht weil es unseren Ansprüchen nach Vernünftigkeit und Moral entspricht. Gott ist damit der Herr des Gesetzes, der aller Gesetzlichkeit erst ihren legitimen Grund verleiht, wie er sie auch wieder auflösen kann. Er mag auch als der Herr des neuen Geistes auftreten, in dem das Gesetz der Welt zu Ende kommt. So konkretisiert sich im mysterium tremendum et fascinans eine ungeheure politische Macht. Als der absolute Herr des Seins erhält Gott eine Souveränität des Handelns und der Gesetzgebung, die - ihren Ausgang vom Leben genommen hat - jetzt auf die Souveränität des Lebens zurückzustrahlen beginnt. Aus dieser Perspektive der Retheologisierung von Kultur und Kulturwissenschaft, vor der Max Weber so sehr gewarnt hatte, stellt sich seine Aufstellung der Typologie der Herrschaftsformen des legalen, traditionellen und charismatischen Typs - wie die Umkehrung der kulturhistorischen Logik der Säkularisation und Rationalisierung des Staates dar - der Logik also, die in der politischen Theologie potentiell in Frage gestellt wird. Stellt der charismatische Herrschaftstyp den sich auf eine »aktuelle Offenbarung« berufenden Typ des »Führers« dar, der das »ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene« repräsentiert 281 und sich so ganz aus dem »Irrationalen« legitimiert, so herrscht der traditionelle Herrschaftstyp »kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher Symbol ist der Terror, der durch die absoluten Kirchen oder die absoluten Staaten ausgeübt wird.« (S. 23) In einem späteren Aufsatz hat Tillich dementsprechend zwischen den Göttern des Raumes und dem Einen Gott der Zeit unterschieden. Vgl. Tillich, Der Widerstreit von Zeit und Raum. In: ders., Gesammelte Werke (S. 8, Anm. 31), S. 142ff.: »Da aber jeder Raum begrenzt ist, muß ein Konflikt entstehen zwischen dem begrenzten Raum einer menschlichen Gemeinschaft, selbst der Menschheit als ganzer, und dem aus der Vergöttlichung dieses begrenzten Raumes entstehenden unbegrenzten Anspruch. Der Gott des einen Landes bekämpft den Gott eines anderen Landes, denn jeder Gott ist durch seinen göttlichen Charakter imperialistisch. [...] Beispiel räumlicher Begriffe sind etwa Blut und Rasse, Klan, Stamm, Familie [...]. Der Gott der Zeit ist der Gott der Geschichte. Das heißt vor allem, daß er der in der Geschichte auf ein End-Ziel hinwirkende Gott ist.« 280 281

Vgl. Anm. 269. Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 13, Anm. 4), S. 475-488, hier S. 481.

3. Das Evangelium des fremden Gottes

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vorhandenen Ordnungen«. Seine Herrschaft zerfällt daher in ein streng traditionsgebundenes Gebiet von Satzungen und Regelungen und ein solches der freien Willkür, »in dem er nach Gefallen, Zuneigung etc. schaltet«282. Der sich auf Gottes Souveränität berufende König wäre etwa Ausdruck einer solchen traditionsgebundenen Herrschaft, die dann in der Moderne durch die Idee des Gesetzes und der legalen Kompetenz ihrer irrationalen Befugnisse zunehmend beraubt wird. »Gehorcht wird [zuletzt] nicht der Person kraft deren Eigenrecht, sondern der gesatzten Regel [...].«283 Mit dem Prozeß der Rationalisierung und Legalisierung wird das ursprünglich irrationale Charisma zunehmend in die legale Kompetenz transformiert und damit die Souveränität vom willkürlichen Herrscher auf eine gewählte parlamentarische Körperschaft übertragen.284 Mit der kulturphilosophischen Dissoziation in ein »Innen« und »Außen«, in Leben und Gesetz, wird die liberale Gesellschaftsordnung also potentiell von einem neuen charismatischen Souveränitätsanspruch bedroht. Wenn der irrationale Grund des Lebens theologisch in den transrationalen Grund Gottes verwandelt wird, dann besteht allerdings die (gefährliche) Möglichkeit einer radikalen Theologisierung von Politik und politischer Souveränität. Mit anderen Worten: die Dissoziation Gottes in den Tiefen- und den Oberflächengott, den deus absconditus und den deus relevatus erhält wie vorher schon seine ethische Idealisierung als Modell liberaler Kultur eine immer stärker hervortretende politische Bedeutung. Es handelt sich um die Einsicht in den inneren Zusammenhang von politischer Macht und Theologie, der aus dem Vergleich zwischen der konstitutionellen Herrschaft des idealistischen Gottes und der souveränen Herrschaft des theistischen Gottes, der im Wunder eben alle Gesetze suspendieren kann. Stand die Idee Gottes für eine universale Emanzipation der Menschen, die im Geiste von Liberalismus und Demokratie praktisch-politisch umgesetzt werden sollte, so der neue Gott für die schlechthinnige Souveränität über dem Gesetz, die alle politischen Ordnungen und Verfassungen erst begründet bzw. in Frage stellt. Die sogenannte politische Theologie rückt jetzt zu einer äußerst wirksamen kulturkritischen Strategie auf, indem sie Grundlagen und Zielsetzungen der Kultur überdem in einer im Grunde einfachen Formel sich zusammenzufassen traut. Retheologisierung und Repolitisierung der Kultur stellen dabei gerade die geläufige These von der Selbsterfüllung der Gottesidee in der liberalen Kultur in Frage, d. h. sie zerstören potentiell die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen den verschiedenen Religionen. Der Fragmentierung des Subjekts, das sich von der neu errungenen Seinswurzel als Existenz, Nation und Volk jetzt zurück in die Geschichte begibt, entspricht die Fragmentierung Gottes in seinen verschiedenen »konfessionellen« Gestalten: mit der Liquidierung der universal-liberalen Religion der Vernunft fällt auch die damit geforderte politische Neutralität zwischen den Religionen. Islam, Judentum und 282 283 284

Ebd., S. 478. Ebd., S. 476. Ebd., S. 477.

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IL Die Dissoziation des Subjekts im Diskurs der Kulturwissenschaft

Christentum sind nicht mehr unbedingt durch die Vernunft auf einen gemeinsamen Nenner friedsamer Koexistenz zu bringen, sondern sind politische Formen, deren Universalisierung jetzt primär als Selbstnegation erfahren wird. Schließt die neue Theologie eine Verständigung zwischen den Religionen auf partikularer Ebene durchaus nicht aus, ist das komödienhafte Ende der Geschichte in der Verbrüderung Nathans mit Sultan und Tempelherr zwar nicht ausgeschlossen, so liegt doch in der neuen Theologie immer schon eine messianisch-christologische Sprengkraft, in der die politischen Gegensätze sich potentiell verschärfen. Der Politiker der neuen Theologie jedoch, insofern er die Kultur der Aufklärung mit ihrer liberalen Praxis kritisiert und in ihrer säkularen Dialektik zu durchschauen sucht, ist der neue Häretiker, dessen Dissoziation in innen und außen nunmehr theologisch legitimiert ist. Die Gleichung und Gleichsetzung von Kultur und Theologie wird von dem Häretiker als bürgerlich-liberale Ideologie enthüllt. Die Kontinuität der Zeiten, die Identität der Sphären und die Harmonie zwischen Theologie und Kultur sind zu Ende. Die Diskrepanz zwischen religiöser Erlösungshoffnung und weltlicher Politik ist so radikal geworden, daß es einer neuen Strategie bedarf, die das Verhältnis von Politik und Theologie bedenkt. Wie einst der prämoderne Häretiker eine Maske tragen mußte, also ein Außen vorgab, das seinem Innen nicht entsprach, bzw. das durch sein Innen widerlegt wurde, so legt der spätmoderne Häretiker jetzt die Maske der Kultur ab und enthüllt sein wahres religiöses Ich. Die Geschichte der Aufklärung erscheint aus der häretischen Perspektive als tragische Geschichte des Selbstverlusts und der Selbstnegation in der Verdrängung der religiösen Identität. Der Häretiker ist die theologische Figur dieser Dissoziation, der aber aufgrund seiner theologischen Legitimation den säkularen Häresien der Kultur, aus denen er hervorgegangen ist, insofern an Konsequenz und Macht überlegen ist, weil er eine Geschichte hat, ja weil er die Entstehung der Moderne auf eine eigene Urgeschichte zurückführen kann und damit auch ihre innere Dialektik zu konstruieren vermag. Während die ästhetischen, phänomenologischen, ontologischen oder mythologischen Häresien und Destruktionen der Kultur zwar ihren logischen Grund hatten, blieb weniger einsichtig, welche Neuordnungen sie einleiten wollten. Da war die Sprache der häretischen Theologie wesentlich artikulierter, konnte sie doch auch die Formen der modernen Kulturgnosis alle auf ihr theologisches Modell zurückführen, die Dissoziation in ein Innen und Außen selbst als genuin theologisches Phänomen, nämlich als das der Häresie entziffern. So endet die Kulturkrise des neokantianischen Subjekts vorläufig in seiner theologischen Häretisierung. Am Beispiel Carl Schmitts und Gershom Scholems sollen nun zwei Versionen politischer Theologie vorgestellt werden, in denen bei gemeinsamen Voraussetzungen die Gestalt des Häretikers jeweils eine diametral entgegengesetzte Rolle übernimmt, in der sich die nunmehr ausbrechende radikale Frontenstellung zwischen Christentum und Judentum in einem eschatologischen Endzeitdrama konkretisiert.

III. Politische Theologie

1.

Carl Schmitt

Die politische Theologie Carl Schmitts konzipiert die Krise von Moderne, Aufklärung und liberaler Kultur aus dem Säkularisationsprozeß als Depotenzierung des Gottesbegriffs, dem ein Prozeß der Entpolitisierung entsprechen soll. Es ist die Transformation des souveränen, unvorhersehbaren und »ganz anderen« Gottes der Transzendenz und Offenbarung in den Gott der allgemein verbindlichen Naturgesetzlichkeit, in der sich die Transformation des modernen Staates von der absoluten Monarchie zum liberal demokratischen Staat widerspiegeln soll: dieser formelhafte Zusammenhang enthüllt bei Schmitt eine für den modernen Staat verhängnisvolle Schwächung seiner vitalen Grundlagen, einen Prozeß der Selbstnegation. Säkularisation ist Selbstnegation lautet also die bekannte conclusio von Carl Schmitts kulturtheologischem Syllogismus. Konkreter handelt es sich bei dieser Depotenzierung des liberalen Staates ftir Schmitt um die Selbstzerstörung des antitheologischen Mythos von der Vernunft. Diese Selbstzerstörung der Vernunft und mit ihr: die Selbstzerstörung des modernen Staates führt Schmitt zuerst vor allem auf den protestantischen Häretiker und zuletzt auf den vollkommen dämonisierten Feind aller staatlichen Grundlagen zurück: das Judentum, das - so die immer deutlicher hervortretende Logik seiner Säkularisationstheorie, des »Leviathan« - das Symbol des starken Staates paralysiert haben soll. Schmitts polemische Energie stürzt sich immer wieder auf den filr die liberale Theorie und Praxis so zentralen Begriff der »Diskussion« 1 als demokratisch1

Schmitt, Politische Theologie (S. 6, Anm. 22), S. 59: »Den deutschen Romantikern ist eine originelle Vorstellung eigentümlich: das ewige Gespräch; Novalis und Adam Müller bewegen sich darin als der eigentlichen Realisierung ihres Geistes. Die katholischen Staatsphilosophen, die man in Deutschland Romantiker nennt, weil sie konservativ oder revolutionär waren und mittelalterliche Zustände idealisierten, de Maistre, Bonald und Donoso Cortes, hätten ein ewiges Gespräch wohl eher für ein Phantasieprodukt von grausiger Komik gehalten. Denn was ihre revolutionäre Staatsphilosophie auszeichnet, ist das Bewußtsein, daß die Zeit eine Entscheidung verlangt.« S. 63: »Es liegt, nach Donoso [Schmitt verzichtet auf den Nachnamen und signalisiert hier seine besondere persönliche Nähe zu Donoso Cortes], im Wesen des

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III. Politische

Theologie

parlamentarischer Entscheidungsprozeß in und für die Öffentlichkeit. Von und in zunehmender polemischer Distanz zu diesem Begriff rekonstruiert Schmitt das, was man eine Dialektik der Aufklärung aus theologischer Perspektive nennen möchte. Zunächst setze der Begriff der Diskussion notwendig die Begriffe »Vernunft« und »Freiheit« voraus: eine Diskussion könne nur dann Sinn haben, wenn sie der Wahrheitssuche diene, d. h. auf rationalen Kriterien beruhe, und wenn die an der Diskussion beteiligten Sprecher ohne Zwang miteinander - in einer »unverzerrten Kommunikation« - reden können. Nur unter dieser Voraussetzung könne Benthams Satz gelten: »Im Parlament treffen sich die Ideen, die Berührung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evidenz.« 2 Für Schmitt verbirgt sich hinter dem Begriff »Diskussion« eine ganze philosophisch-theologische Ideologie, die er in ihrem historischen Kontext zunächst verortet: die liberale Idee von der Diskussion bzw. das ihr zugrundeliegende Konzept der »Menschheit« und ihrer unveräußerlichen Rechte seien polemische Begriffe, die gegen das klerikale Dogma und die kirchlich-höfischen Zwangsmethoden Front beziehen. Die auf Vernunft und Freiheit basierende Diskussion sei ohne die polemische Spitze gegen Dogma und Zwang so wenig verständlich wie die Gründung des Völkerbundes ohne die Existenz eines Fürstenbundes. Insofern der politische Zwang sich auf das theologische Weltbild stützt, d. h. die Macht des Königs aus der Macht Gottes ableitet, setzt die Diskussion laut Schmitt eine historische Neutralisierung voraus. Damit nämlich die Gesprächspartner diskutieren und ihre rationalen Entscheidungen treffen können, muß die Theologie, richtiger: müssen die Theologien, die aufgrund ihres absoluten Wahrheitsanspruchs die Einheit des katholischen Europas in den blutigen Religionskriegen zerstört haben, in einer Theologie der gemeinsamen Vernunft neutralisiert worden sein. Indem diese Gott den von ihm selbst geschaffenen vernünftigen Naturgesetzen unterworfen habe, habe sie einen analogen Prozeß in der politischen Sphäre initiiert, nämlich die Bindung des souveränen Herrschers an die Gesetze des Staates in einer konstitutionellen Monarchie. Auf der Ebene dieser Vernunftreligion verwandelt sich die von Gott nach den Regeln der Vernunft geschaffene Natur nicht nur in den vemünfti-

2

besondere persönliche Nähe zu Donoso Cortes], im Wesen des bürgerlichen Liberalismus, sich in diesem Kampf [zwischen Katholizismus und atheistischem Sozialismus] nicht zu entscheiden, sondern zu versuchen, statt dessen eine Diskussion anzuknüpfen. Die Bourgeoisie definiert er geradezu als eine diskutierende Klasse«, una clasa discutidora. Damit ist sie gerichtet, denn darin liegt, daß sie der Entscheidung ausweichen will.« Die theologische Dimension der Diskussion wird hier als unerträglicher Kompromiß beschrieben, mit dem es möglich sein solle, »[...] auf die Frage: Christus oder Barabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission zu antworten. Eine solche Haltung ist nicht zufällig, sondern in der liberalen Metaphysik begründet.« (S. 66) Vgl. hierzu Hans Kelsen: Das Wesen der Demokratie. 2., umgearb. Aufl., Tübingen: Mohr 1929, S. 103-104, wo Kelsen im Namen des Pilatus eben eine Abstimmung für den Fall Christus oder Barabas gutheißt, da Fragen der absoluten Wahrheit von Menschen nicht beantwortet werden können. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (S. 6, Anm. 22), S. 12.

1. Carl Schmitt

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gen Seinsgrund sondern auch den Ursprung der allen Menschen gemeinsamen und unveräußerlichen Menschheitsrechte. Wird so auch die menschliche Natur als grundsätzlich »gut« vorgestellt, so ist damit mitgesetzt die Idee von der Erziehbarkeit und der Verbesserungsfähigkeit des Menschen, die Möglichkeit also, sich von Dogma, Zwang und Unvernunft zu emanzipieren. Das heißt aber theologisch: der Mensch emanzipiert sich von dem Dogma der Erbsünde, der Annahme also von einer unausweichlichen Neigung des Menschen zum Bösen,3 von der her Zwang, Gewalt und Staat überhaupt ihre eigentliche Legitimität gewinnen: nämlich das mit dem bösen Charakter des Menschen gesetzte fundamentale Chaos der sich einander bekämpfenden Menschen in eine Ordnung zu verwandeln. Der für Aufklärung und Liberalismus gleichermaßen typische »normative Fiktionalismus« und sein »pädagogisch-praktischer Optimismus« setze somit nicht nur eine Enttheologisierung und Depotenzierung göttlicher wie monarchischer Souveränität durch Universalisierung voraus, sondern eine radikale Entpolitisierung. Ist der Mensch nämlich prinzipiell gut, d. h. vernünftig und einsichtig, dann bedarf es auch prinzipiell keiner Zwangsmechanismen, keiner staatlichen Gewalt, polizeilicher Maßregelung oder Gefängnisse. Im Prinzip der Diskussion als idealer Kommunikation, die den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« gegen den politischen Zwang setzt, liegt also auch prinzipiell die Idee einer staatenlosen Menschheit. Autonome Subjekte schließen rationale Verträge miteinander ab und liquidieren schrittweise die Institutionen des bösen Menschen: Staat, Polizei, Gefängnis etc. Gerade hier: im Augenblick ihres Verschwindens zeigt sich für Schmitt die fundamentale Natur des Politischen als das Unterscheidungsvermögen zwischen Freund und Feind, das eben in Aufklärung und Liberalismus grundsätzlich - also zu allererst auf ideologischer Ebene - aufgehoben werde. Die ideale diskutierende Menschheit setze nämlich eine ideale Freundschaft zwischen den Weltbürgern voraus und damit gerade das Verschwinden der Idee von Feindschaft.4 In dem Augenblick jedoch, wo das Prinzip der Diskussion als das Prinzip der liberalen Demokratie sich in der europäischen Geschichte durchsetzt, also seine polemische Funktion in eine substanzielle Organisationskraft verwandelt, werden für Schmitt Aufklärung und Liberalismus in einer verheerenden Dia3

4

Schmitt, Der Begriff des Politischen (S. 6, Anm. 22), S. 59: »Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen >von Natur bösen< oder einen >von Natur guten« Menschen voraussetzen.« Erklärt hier Schmitt, diese Unterscheidung sei »ganz summarisch und nicht in einem spezifisch moralischen Sinne zu nehmen«, so weist er nur implizit auf die theologische Dimension der anthropologischen Axiomatik. S. 64: »Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt - solange sich die Theologie noch nicht zur blaß normativen Moral oder zur Pädagogik, das Dogma noch nicht in bloße Disziplin verflüchtigt hat, [...] zu einer Abstandnahme; dadurch wird der unterschiedlose Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffs möglich.« Ebd., S. 54-55: »Die Menschheit als solche kann keinen Krieg führen, denn sie hat keinen Feind, wenigstens nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der Menschheit schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt.«

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/ / / . Politische

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lektik transparent: mit dem Ideal der Menschheit sei nicht etwa tatsächlich der universale Frieden am Horizont der Geschichte erreichbar geworden, sondern im Gegenteil: es komme jetzt gerade deswegen zu einer neuen ungeahnten, aber verdeckten radikalen Politisierung, weil die Idee der Menschheit entpolitisiert sei. Die liberale Demokratie setze mit dem Ideal von Vernunft, Bildung und Kultur einer feindlosen Menschheit einen neuen impliziten Feind, nämlich das Subjekt, das un-vernünftig, un-gebildet und un-kultiviert etc. sich nicht zu Vernunft, Bildung und Kultur erziehen lassen will, ja möglicherweise diese Werte sabotiert. So wird dieser neue implizite Feind zum »Saboteur« an der Menschheitsidee und das heiße wörtlich: zum Un-menschen.5 Die Position Menschheit bedeutet so für Schmitt, der hinter jeder ideologischen Begriffsapparatur die polemische Adresse entziffert, die Negation des Unmenschen. Die Entpolitisierung des Liberalismus, d. h. seine Nivellierung der Differenz von Freund und Feind führe damit zu einer unvergleichlich brutaleren Politisierung, die den Feind nicht mehr nur hors de loi, sondern jetzt auch hors d'humanité stelle: Die Führung des Namens Menschheit, die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, daß dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen, daß er hors de loi und hors d'humanité erklärt [...] werde.« 6

Da nun gerade »das Politische« nicht sein solle, d. h. unter der fassadenhaften liberalen Terminologie sich zurückziehen müsse, biete vor allem die bürgerliche Kombination von Liberalismus und Kapitalismus eine Möglichkeit subtiler Kriegsführung gegen die neuen Unmenschen, der man gerade das eigentlich Kriegerische und Aggressive kaum ansehen könne. Wenn es schon tatsächlich zum Krieg kommen muß, dann hätten die Kriege der Liberalen, weil der Liberalismus den Krieg abschaffen möchte, oft den Charakter eines letzten Krieges, nämlich gegen das Prinzip Krieg und den letzten Krieger. Die liberale Unterscheidung zwischen »calcul civilisée« und »l'impulsion sauvage«7 demonstriert nicht nur die vermeintliche ökonomische Vorrangstellung des Vemunftmenschen gegenüber dem angeblich kriegerischen Naturmenschen, sondern diese Opposition enthält in ihrer Unscheinbarkeit schon den ganzen subtilen Begriffsmechanismus, der Entrechtung, Ausschließung, Ausbeutung und Wirtschaftboykott legitimiert, wie sie in der Idee von Demokratie für Schmitt schon angelegt sind: 5

Ebd., S. 55: »Wenn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpft, so ist das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegsgegner einen universalen Begriff zu okkupieren sucht, um sich [auf Kosten des Gegners] damit zu identifizieren. Ähnlich kann man Werte wie Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation mißbrauchen, um sie für sich in Anspruch zu nehmen und dem Feinde abzusprechen.«

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Ebd. Ebd., S. 74.

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Jede Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausbildung oder Vernichtung des Heterogenen. 8

Damit - so auch hier die so formelhafte wie schockierende Schlußfolgerung Schmitts - endet die Aufklärung in einer Form von Diktatur und revidiert zuletzt eben die Grundlagen, unter denen sie die Diktatur der Monarchie und die klerikale Herrschaft zu brechen suchte.9 Humanität muß - wie Schmitt höhnisch zusammenfaßt - »inhuman, aufhören [...], nichts als human zu sein« 10 . Die Diskussion als »unverzerrte Kommunikation« findet, so muß man mit Schmitt weiterfolgern, nur noch zwischen den ohnehin »Gleichen« statt, die, da sie grundsätzlich einer Meinung sind, gar nicht diskutieren müssen. Die Ungleichen bleiben von der Diskussion ausgeschlossen. Die Diskussion endet so für Schmitt im Ritual der Selbstbestätigung oder dem Schweigen des Einverständnisses, bei unter Umständen gleichzeitig notwendiger Exklusion der oppositionellen Stimme. So entsteht im Liberalismus eine innere Inkongruenz zwischen der deklarierten Universalität und der praktizierten Partikularität, es dissoziiert das universale Außen vom verborgenen - inneren - partikularen Interesse. Die Vernunft verkehrt sich in Unvernunft. Die Idee von der Menschheit verkommt zum terminologischen Ritual, in dem die herrschenden Bürger zwar ihre Pionierzeit feiern, an dessen Inhalte sie selber kaum mehr zu glauben vermögen. An anderer Stelle demonstriert Schmitt die Schwäche der liberalen Demokratie an der Dialektik des Begriffs der Souveränität. Hier erst zeigt sich die eigentliche Selbstvernichtung des Liberalismus als politische Macht. Während die oben nachgezeichnete Version des liberalen Staates sich zwar in verheerende logische Widersprüche verstricken muß, repräsentiert dieser Staat, obwohl er sich seiner Politik möglicherweise »schämt«, doch eine eindeutig selbstsichere politische Macht. Die zweite Version liberaler Staatlichkeit, die Schmitt kritisch vorstellt, repräsentiert einen Staat der Schwäche und das heißt für Schmitt des »Souveränitätsverlusts«. Wir werden uns noch fragen müssen, in welchem Zusammenhang der oben porträtierte starke Liberalismus zu seinem schwachen Gegentyp stehen könnte. Souveränität sei zunächst definiert als »die höchste universale Entscheidungseinheit in einer bestimmten Herrschaftsordnung« 11 . Wie Krockow betont, ist die moderne Staatstheorie in Deutschland gerade aus dem Gegensatz von zwei Typen der Souveränität hervorgegangen, eine, die mit den Ideen der Restauration zusammengehört, und eine, die in der Konsequenz der bürgerli8

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10 11

Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (S. 6, Anm. 22), S. 13-14. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (S. 6, Anm. 22), S. 70: »Die humanitären Philosophen des 18. Jahrhunderts predigten aufgeklärten Despotismus und Diktatur der Vernunft, das heißt ihrer Vernunft.« Ebd., S. 72-73. Krockow, Die Entscheidung (S. 36, Anm. 113), S. 23.

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chen Revolutionsbewegung liegt - Souveränität von oben oder von unten, Souveränität des Fürsten oder Souveränität des Volkes. Hegel setzt in der Rechtsphilosophie die Staatssouveränität zuerst als dritte und vermittelnde Macht, die später zur Grundlage der Staatstheorie werden sollte, aber aufgrund der eigentümlichen Abstraktheit die Frage aufwerfen mußte, »wer denn der konkrete Träger, das willensbegabte Subjekt dieser Macht sei« 12 . Erschien der Liberalismus in der ersten Version als eine verborgene, aber doch selbstsichere Staatssouveränität, die durch die bürgerliche Klasse Subjektgestalt annahm, so hat der Liberalismus der zweiten Version alle Souveränität eingebüßt, und das heißt für Schmitt: er ist nicht mehr dazu in der Lage, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, bzw. über Maßnahmen gegen den Feind zu entscheiden und sich gegen diesen zu schützen. Die Idee von der Staatssouveränität ist so nur eine weitere Gestalt der Neutralisierung und Entpolitisierung, die im Stadium einer Krise den Staat in den Zustand der Paralyse versetzen muß. Weil die bürgerlichliberale Gesellschaft sich formal und terminologisch an die liberalen Prozeduren von Diskussion und Parlament halte, d. h. aber vor allem die Politik auf legale Prozeduren reduziere, werde der Staat von innen besonders anfällig. Die Voraussetzung der durch Vernunft und Autonomie bestimmten Diskussion müsse zu der Annahme verleiten, daß noch der »innere« Feind durch Argumente zu überzeugen sei. Die Liquidierung der Idee von Feindschaft führte oben zu einer inkonsequenten, wenn auch nicht unwirksamen Strategie gegenüber dem Feind, hier aber bleibt der Feind unerkannt. Hatten wir es oben mit einem »entschlossenen« Liberalen zu tun, der zwar grundsätzlich und terminologisch keinen Feind anerkennt, aber faktisch grausam gegen jeden Feind vorgeht, so haben wir es hier mit einem naiven Liberalen zu tun, einem »Strohmann« gleichsam, der seiner eigenen Terminologie erliegt. Im Notfall und Augenblick der Gefahr, und am verhängnisvollsten: im sich ankündigenden Bürgerkrieg verfügt der liberale Staat nicht Uber die souveräne Entscheidungsinstanz, die der Lage Herr zu werden vermag, und das hieße, die liberale Verfassung für den Zeitraum der Krise zu suspendieren. Da aber der Liberalismus die Vernunft und damit die allgemein verbindliche Regel des Gesetzes zum Grundprinzip aller Politik erhoben habe, könne sie eben den Ausnahmezustand bzw. die Aufhebung des Gesetzes gar nicht in Erwägung ziehen. Hier kann Schmitt den Sinn seines simplen politisch-theologischen Syllogismus wie ein Varietékünstler ausspielen: wenn nämlich alle modernen Staatsbegriffe säkularisierte theologische Begriffe sind,13 so zeigen sich im Augenblick der Krise die verheerenden Spätfolgen der »Theologie der Aufklärung« für den liberalen Staat. Mit der Subordination Gottes unter das Naturgesetz, der die Unterordnung der souveränen politischen Macht unter das Gesetz entspreche, sei eben die Möglichkeit souveränen Handelns verloren gegangen. Nur wo Gottes Macht als uneingeschränkte Souveränität imaginiert wurde, gab es eine politische Macht, die - wie Gott im Wunder die Naturordnung - in der Krise die Rechtsordnung suspendieren 12 13

Ebd. Schmitt, Politische Theologie (S. 6, Anm. 22), S. 43.

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Schmitt

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konnte, um sie vor ihren Feinden zu schützen. Mit der Legalisierung und Rationalisierung der Politik - dem Säkularisierungsprozeß - vollzieht sich im Sinne Schmitts eine für den liberalen Staat lebensgefährliche Schwächung und Selbstnegation. In dem »Syllogismus« der politischen Theologie rekapituliert Schmitt im Grunde Webers idealtypische Reihe der HeiTSchaftsformen, stellt sie allerdings im Sinne seiner negativen Logik der Säkularisation als Logik der Depotenzierung von Souveränität vor. Dem Vordringen von Ratio und Nomos entspricht ihm zufolge ein Prozeß der politischen Schwächung, der mit dem Verschwinden charismatischer Herrschaft Politik qua Herrschaft überhaupt unmöglich macht.14 Nirgends erkennt Schmitt diese Schwächung dabei stärker als in dem für die Moderne typischen ästhetischen Bewußtsein, das er schon in seinen Anfängen scharf kritisiert. Was er über die ästhetische Metaphysik der Romantik feststellt, gilt zwar auch den eigenen ästhetischen Ursprüngen, aber ist eine rigorose Abrechnung mit den für Schmitt charakteristischen bürgerlichen Symptomen von Realitätsverlust, Weltflucht und Unentschiedenheit bzw. Entscheidungsunfähigkeit, in denen er die letzten Konsequenzen von Säkularisation und Subjektivierung erkennt. Die Romantik ist subjektivster Okkasionalismus, weil ihr eine okkasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht [...]. Dadurch, daß die letzte Instanz sich von Gott weg in das geniale Ich verlegt, ändert sich der ganze Vordergrund und tritt das eigentlich Okkasionalistische rein zutage. 15

Dieses Bewußtsein verliert sich laut Schmitt in einem unendlichen Spiel möglicher ästhetischer Bedeutungen von Welt und Ich, die einander ablösen, damit potentiell aufheben und so immer schon einen vorläufigen, »ironischen« Bezug zu Welt und Ich begründen. Ironisch entzieht sich der Romantiker der beengenden Objektivität und schützt sich davor, auf irgendetwas festgelegt zu werden; in der Ironie liegt der Vorbehalt aller unendlichen Möglichkeiten. So wahrt er sich seine innere geniale Freiheit, die darin besteht keine Möglichkeit aufzugeben. [...] [E]r hat eine Realität, die er heute ausspielen kann, er will nicht mit der Aufgabe einer konkreten Realisierung belästigt werden. 16

Da der Ästhetiker sich auf keine Wirklichkeit ernsthaft einlassen kann, muß er wie der spätbürgerliche Parlamentarier jeder Entscheidung aus dem Weg gehen: Politische Aktivität ist so nicht möglich, wohl aber Kritik, die alles diskutieren und ideologisch aufreiben kann, die Revolution so gut wie die Restauration, Krieg und Frieden, Nationalismus und Internationalismus, den Imperialismus und den Verzicht darauf.17 14

15

16 17

Bekanntlich hat Schmitt die ersten drei Kapitel seiner Politischen Theologie in Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe fiir Max Weber, hg. von Melchior Palyi, München: Duncker & Humblot 1923, Bd II, veröffentlicht. Carl Schmitt: Politische Romantik. 2., erw. Aufl., München: Duncker & Humblot 1925 ['1919], S. 24. Ebd., S. 105. Ebd., S. 224.

96

III. Politische

Theologie

So steht das ästhetische Bewußtsein bei Schmitt gleichsam für einen Nullpunkt der Säkularisation, an dem das Prinzip der Diskussion zum ohnmächtigen Gerede wird und sich damit gerade um so mehr »fremder Kraft und fremder Entscheidung« ausliefert 18 . Betrachtet man die beiden Typen der oben skizzierten liberalen Politik, so scheinen sie miteinander unvereinbar. Der Typ A erscheint als ausgesprochen mächtiges System, das durchaus - wenn auch verdeckt - Feinde identifiziert und bekämpft, während der Typ B über diese Stärke nicht verfügt und an der eigenen Ideologie zugrundegeht. Man möchte hinzufügen: weil er sie im Gegensatz zu Typ A wörtlich nimmt! Während der erste Liberalismus seine ganze Kraft aus dem Begriff der Menschheit schöpft, auch wenn er sich in logische Inkonsequenzen verstrickt, besitzt Typ B keine Kraft zur logischen Inkonsequenz. Schmitt portraitiert hier offenbar zwei Phasen liberal-aufgeklärter Politik. Implizit scheint er zu behaupten, daß die Idee der Menschheit, bzw. die Grundlegung der Politik in Vernunft und Freiheit, eine Dialektik in Bewegung bringt, die zuletzt die Grundlagen der Staatlichkeit zerstören muß. Gerade weil sich die Idee der Menschheit aus der Vernunft legitimiert, ist sie zu einer ständigen Selbstkritik gezwungen, die sie in letzter Instanz zerstören muß. Vernunft und Freiheit sind für Schmitt also problematische Gründungsbegriffe, weil es ihre spezifische Eigenschaft ist, ihre Realisierung am Ideal zu messen, und das heißt: Vernunft und Freiheit als Maßstab liberaler Politik anzusetzen. Nur für jemanden, der an die Vernunft glaubt, ist ein logischer Widerspruch unerträglich, und nur für jemanden, der glaubt, daß Politik die praktische Umsetzung einer Ethik darstellt, ist Machtpolitik unerträglich. Schmitts widersprüchliche Darstellung des Liberalismus - einmal als System der Schwäche und einmal als Machtstaat - wird bei ihm selbst nicht explizit aufgelöst. Aus den verschiedenen Schriften ist jedoch einsichtig, daß er offenbar den Logos - die aufklärerische Vernunft - für den Selbstzerstörungsprozeß verantwortlich macht. Zugespitzt: Der Logos erscheint als ein schlechter politischer Mythos, weil er sich der mythischen Qualität seiner Begriffe gerade zu entschlagen sucht und auf deren Übertragung in die Realität bestehen muß. Während die ersten Politiker der Aufklärung sich noch »entschlossen« ihrer Ideologie bedienen, um diese - auch mit gewaltsamen Methoden - durchzusetzen, muß die Ideologie des Liberalismus, die auf die Umsetzung vernünftiger und ethischer Normen in die Sphäre der Realität setzt, eben diese politische Entschlossenheit schwächen. Schmitts implizite Aussage zielt offenbar auf eine Vermittlung von Mythos und Logos, von Leben und Gesetz, die eben im Liberalismus aufgelöst wird, weil die Vernunft das Leben ganz als Nomos begreift. Die Gegenüberstellung der beiden Feinde des Liberalismus - Kommunisten und Faschisten - bestätigt diese implizite Dialektik von Mythos und Logos bei Schmitt. Beide Feinde verbinden die Kritik an der bürgerlich-liberalen Demokratie mit der Absicht ihrer Liquidation. Anarchisten und Kommunisten einerseits und Faschisten andererseits haben wiederholt die inneren Antinomien und Widersprü18

Ebd., S. 228.

I. Carl Schmitt

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che der bürgerlichen Demokratie herausgestellt. Während die erste Gruppe aus der Tradition Proudhons und Bakunins hervorgegangen ist, die den Liberalismus als Idee gegen seine Praxis ernst nimmt und damit im Grunde die liberale Utopie vom Verschwinden des Staates nur radikalisiert, stützt sich die zweite Gruppe auf die Tradition der katholischen Konterrevolution von Bonald, de Maistre und Donoso Cortes, die in Liberalismus und Anarchismus dieselbe staatsfeindliche Energie verurteilen, die zur Destruktion der lebensnotwendigen Ordnung führen müsse. Schmitts Ordnungsinstinkt erkennt mit der katholischen Reaktion im liberalen Mythos von der Menschheit und dessen anarchistischer Fortführung in der Idee von der staatenlosen Gesellschaft den Antimythos schlechthin, also eine illusionäre Subversion der Staatsidee und damit die Gefahr von Chaos und Willkür. Dabei ist bei Schmitt - zumal in den Schriften der zwanziger Jahre - niemals eindeutig, ob die Mobilisierung der politischen Restauration gegen die Schwächen des Liberalismus doch noch den liberalen Parlamentarismus absichern soll, oder ob Schmitt sich schon für den faschistischen Putsch entschieden hat. 19 Die ideologische Nähe Schmitts zu Autoritarismus und Totalitarismus von rechts hängt dabei offenbar mit der spezifischen Mythizität der faschistischen Ideologie zusammen. Er erkennt nämlich im Erscheinen der neuen politischen Mythologien »die stärkste Evidenz dafür, daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat« 20 . Der Mythos vom anarchistischen Generalstreik bei Sorel wie der Mythos von der faschistischen Nation bei Mussolini sind Symptome und Indizien für den Verlust an Legitimität der parlamentarischen Vernunft, aber auch für die Gefahr, daß diese mythischen Kräfte als irrational hervorbrechendes Leben die bestehende Ordnung destruieren, weil Logos und Diskussion gegenüber diesen gar nicht wirksam werden können. Zuletzt erblickt Schmitt die Krise der Moderne in der radikalen Inkommensurabilität zwischen Logos und Mythos. Denn nur im Mythos liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus den Tiefen echter Lebensinstinkte, nicht aus reinem Raisonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung entspringt der große Enthusiasmus, die große moralische Dezision. 21

Was dem Liberalismus also einst eignete und seine Stärke ausmachte, aber spätestens in den zwanziger Jahren verloren ging, ist demzufolge die Kraft zum Mythos und zu einer lebendigen Selbsterschaffung, einem nicht mehr aus der Vernunft zu begründenden Lebenswillen also, worin sich die Macht des Staates bewährt. Aller Logos des Gesetzes beruht für Schmitt auf einem Mythos des Lebens, alle Legalität auf einem »a-legalen« Akt der Staatsgründung. Mit anderen Worten: der Akt der Normengründung ist selbst nicht aus einer 19

20

21

Carl Schmitt: Legalität und Legitimität. 5. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1993 ['1932], S. 113. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (S. 6, Anm. 22), S. 89. Ebd., S. 80.

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III. Politische

Theologie

Norm ableitbar. Alle Regel der politischen Vernunft gründet in einer Ausnahme. 22 Damit sind für Schmitt grundsätzlich jedenfalls Mythos und Logos aufeinander angewiesen: nur wo der Mythos eine Ordnung hervorbringt, nur wo die creatio ex nihilo des Souveräns zu einer gesetzlichen Neuordnung ausreicht, hat der Mythos seine Legitimität. Nur wo der Mythos einen haltbaren Logos erzeugt, ist politische Ordnung gewährleistet. Von hierher also läßt sich der Sinn von Schmitts radikaler Liberalismuskritik und der innere historische Zusammenhang zwischen beiden Typen liberaler Ordnung begreifen, die bei Schmitt in einer widersprüchlichen Konstruktion erscheinen. Der liberale Mythos von der vernünftigen und guten Menschheit als Voraussetzung des liberalen Parlamentarismus mochte in den Anfangs- und Pionierzeiten des Bürgertums noch im emphatischen Sinne eine Politik ermöglicht haben, mußte aber die Mythizität aufgrund der von der Vernunft unduldbaren logischen Widersprüche zunehmend auflösen. War das Bürgertum im Kampf gegen die klerikal-aristokratischen Herrschaftsmechanismen gerade deswegen siegreich gewesen, weil es im Mythos »Menschheit« eine neue Realität zu schaffen den Mut gewann, 23 so wird dieser Mythos später auf die bürgerliche Klasse bzw. den »europäischen« Menschen zusammengestrichen, womit eben eine logische Inkonsequenz den Mythos von innen aufzuzehren beginnt. Die Idee der Menschheit zwingt zu einer ständigen Korrektur der Interessenpolitik, die gegen die Menschheit verstößt. Insofern nun Anarchismus und Kommunismus im Grunde nur den Mythos von der staatenlosen Menschheit radikalisieren, gilt diese innere Dialektik auch für die Mythologie von links. Von allen politischen Mythen erweist sich damit für Schmitt der Mythos vom Volk und der Nation als der stärkere Gründungsmythos, da er Macht und Ordnung - ohne sich praxishinderlicher Grundlagen wie Vernunft und Freiheit zu bedienen - am ehesten garantiere. Mussolinis Rede vor dem Marsch auf Rom demonstriert für Schmitt in diesem Sinne ein souveränes und entschlossenes Handeln, das aus dem Mythos hervorgeht: Wir haben einen Mythos geschaffen, der Mythos ist ein Glaube, ein echter Enthusiasmus, er braucht keine Realität zu sein, er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut. Unser Mythos ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen. 2 4 22

23

24

Schmitt, Politische Theologie (S. 6, Anm. 22), S. 37-38: »Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.« Schmitt, Der Begriff des Politischen (S. 6, Anm. 22), S. 37-38: »Der humanitäre Menschheitsbegriff des 18. Jahrhunderts hatte den politischen Sinn, die damals bestehenden aristokratisch feudalen oder ständischen Ordnungen und Privilegien polemisch zu verneinen.« Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (S. 6, Anm. 22), S. 89: Schmitt fugt in diesem Sinne Mussolinis Äußerung hinzu: »Den Sozialismus nennt er eine inferiore Mythologie.«

1. Carl Schmitt

99

Wenn Schmitt die politische Mythologie von rechts zwar der Mythologie von links vorzieht, eben weil die letztere Ordnung und Entscheidungsinstanz destruiert, so behält er gegenüber der Mythologie überhaupt noch einen Vorbehalt. Vom rein theologischen Standpunkt aus handele es sich nämlich bei der Mythologie um einen polytheistischen Glauben, für den die Gefahr besteht, daß »letzte, wenigstens in einigen Resten noch bestehende Zusammengehörigkeiten [...] in den Pluralismus einer unabsehbaren Zahl von Mythen« aufgehoben werden 25 . Die Mythologie ermangelt also in letzter Instanz eines zentralistischen Organisationsprinzips und ist so grundsätzlich auch wieder nur Symptom für den mit der Säkularisation gesetzten Souveränitätsverlust. Das wahrhaft politische und theologische Ideal liegt für Schmitt in der katholischen Kirche als politische Form, die unter dem Zeichen von Schwert und Gerechtigkeit Zentralismus und Pluralismus in einer »complexio oppositorum« zu vereinigen verstehe. Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie [die katholische Kirche] nicht umfaßt. Seit langem rühmt sie sich, alle Staats- und Regierungsformen in sich zu vereinigen; eine autokratische Monarchie zu sein, deren Haupt von der Aristokratie der Kardinäle gewählt wird, und in der doch soviel Demokratie ist, daß ohne Rücksicht auf Stand und Herkunft der letzte Abbruzzenhirt, wie Dupanloup es formulierte, die Möglichkeit hat, dieser autokratische Souverän zu werden. [...] Es ist kaum faßbar, daß ein rigoroser Philosoph der autoritären Diktatur, der spanische Diplomat Donoso Cortes, und ein in franziskanischer Güte dem armen irischen Volke sich hingebender, mit Syndikalisten sich verbindender Rebell wie Patriae Pearse beide fromme Katholiken waren. Aber auch theologisch herrscht überall die complexio oppositorum. Altes und Neues Testament gelten nebeneinander, Marcions Entweder-Oder ist hier mit einem Sowohl-Als auch beantwortet. 26

Damit - so müßte man jetzt um der inneren Kohärenz willen mit Schmitt argumentieren - steht der römische Katholizismus für eine wahre und ideale Synthese von Mythos und Logos, von Leben und Gesetz, die in der Theologie der Vernunft gerade auseinanderbricht, da der monotheistische Mythos vom lebendigen Wunder aus der Welt des monotheistischen Gesetzes verdrängt werde. Schmitts politische Theologie erinnert die politische Theorie an ihre theologischen Ursprünge, um sie von einem rigiden Legalismus zu emanzipieren, d. h. aber, daß einer jeden Verfassung die Offenbarung ihrer souveränen Macht vorausgehen muß, durch die ein Gesetz erst die notwendige Autorität erhält. Theologisch gesprochen will Schmitt den Gott des kulturliberalen Gesetzes nicht nur durch einen Gott des Lebens und der unerklärlichen creatio ersetzen, sondern es geht ihm - zumindest in diesem Text wie den eigentlichen Theologen der Epoche um die Wiedereroberung der ursprünglichen Transzendenz Gottes als Voraussetzung für alle Gesetzlichkeit und Politik. Wie der Mensch selbst sich nicht in seinen rationalen Entwürfen und Formalisierungen verausgabt, sondern - als Leben - diese aus dem Nichts erschaffen soll, so dissoziiert Gott bei Schmitt in

25 26

Ebd. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (S. 6, Anm. 22), S. 11-12.

100

III. Politische

Theologie

eine unergründliche Transzendenz und eine nomothetische Präsenz: Gott offenbart das Gesetz und dank seiner Macht vermag er es zu hüten. Damit besitzt die politische Theologie von Carl Schmitt, die sich zu allererst als Dezisionismus definiert, jedenfalls grundsätzlich eine ideale Form, in der Gegensatz und Feindschaft dialektisch aufgehoben wären, nämlich in der katholischen Kirche als die politische Form, die eine Integration des Heterogenen, in der Sprache des Nikolaus Cusanus (die Schmitt hier gewiß evoziert): eine coincidentia oppositorum ermöglicht. 27 Das Entweder-Oder wäre zumindest hier im Ideal - durch das Sowohl-Als auch ersetzt. Mag die Nennung des Namens Marcion hier vor allem eine polemische Spitze gegen die neue protestantische Theologie von Hamack und Barth sein, Schmitt hat hier immerhin den idealen Rahmen beschrieben, in dem seine eigene Theorie des Politischen tatsächlich theologisch hätte legitimiert werden können. Da diese ideale Form jedoch durch Protestantismus, Säkularisation und häretische Moderne zerstört worden ist, opfert die politische Theologie eben die Theologie zugunsten der Politik, die nunmehr als reiner Dezisionismus ein absolutes Entweder-Oder definiert, einen absoluten Ausnahmezustand, in dem mit dem Kampf gegen diese Moderne selbst das christliche Liebesgebot suspendiert werden darf. 28 Der Mythos steht also bei Schmitt einmal für eine prälogische Macht und Kraft, zum anderen für einen partikularen Machtkomplex. Schmitt setzt auf den Mythos als das prälogische Machtpotential in Gott, aber als nur nationales oder soziologisches Machtsymbol ist er bei Schmitt prinzipiell jedenfalls problematisch. Die politische Theologie ist dem Mythos in letzter Instanz feindlich gesinnt. Damit rückt sein theologisch-politisches Denken offenbar für einen Augenblick zumindest sehr nah an die liberale Vernunft heran, die ebenso die durch den Mythos bedingte Partikularität und Begrenzung nicht dulden kann. Theologie und Vernunft sind - so könnte man sie charakterisieren - antimythische Kräfte, deren Mythizität gerade in ihrer antimythischen Energie besteht. Doch im entscheidenden Punkt trennen sich die Positionen: Während die atheistische Vernunft mit dem Mythos den Begriff der Macht, der Souveränität, der Aus27

Vgl. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Reprograf. Nachdruck der 1. Aufl. Leipzig, Berlin, 1927, 7., unveränd. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994 (Studien der Bibliothek Warburg, 10), ist eine Exposition der Theologie der Gegensätze des Nikolaus Cusanus, die allerdings in diesem Kontext der Diskussion der Grundlagen der eigentlich modernen Kultur im Prinzip eine politische Theologie der Moderne formuliert, in der die Gegensätze aus einer Einheit gedacht werden können, ohne daß diese Einheit als Substanz, Subjekt, Geist etc. eine totalitäre Gestalt gewinnen müßte. Die Ähnlichkeit von Schmitts »Katholische Kirche und Politische Form« mit Ernst Cassirers Text über Cusanus ist großartig und verblüffend zugleich, aber vor allem: sie weist gleichsam auf die Formel, in der Mittelalter und Moderne, Theologie und Politik der Kultur jedenfalls idealiter hätten vermittelt werden können.

28

Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen (S. 6, Anm. 22), S. 29: »Die viel zitierte Stelle »liebet Eure Feinde« (Math. 5,44, Luk. 6,27) heißt: >diligite inimicos vestros< [...] und nicht >diligite hostes vestrosOr ScheJesch Bo Machschawa* und >Or sehe En Bo Machschawa.«
Vermutung1892]. - Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München: Duncker & Humblot 1918. - Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: ders., Gesammelte Werke. 6. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot 1983, Bd 2. - Weibliche Kultur. In: ders., Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. 1. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 (Edition Suhrkamp; Neue Folge, 333), S. 159-176. Strauss, Leo: Gesammelte Schriften. Hg. von Heinrich Meier. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996ff. - Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. In: Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit Leo Strauss' Aufsatz über den »Begriff des Politischen« und drei un-

V.

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185

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VI. Personenregister

Abravanel, Don Izchak 107 Adorno, Theodor W. 3, 37-38 Baer, Fritz 124 Bakunin, Michail A. 97 Barth, Karl 8, 28,62, 65,69-72, 7475, 78-79,81,85, 100 Bay, Djawid 125 Beiser, Frederick C. 5 Benjamin, Walter 2 8 , 3 9 , 4 3 , 6 7 , 123, 156-157, 172 Bentham, Jeremy 90 Bergmann, Hugo 124 Bergson, Henri 11,24-25,28,38-40,43 Biale, David 139 Blank, Josef 71-72 Bloch, Ernst 2 8 , 4 2 , 4 7 Blüher, Hans 8 1 , 8 3 , 1 0 9 Bonald, Louis Gabriel Ambroise 89,97 Börne, Ludwig 107 Brecht, Bertolt 129 Buber, Martin 4 1 , 6 0 , 8 1 , 1 0 9 Bultmann, Rudolf 8, 69 Burla, Jehuda 139,154 Busoni, Ferruccio 37 Cardoso, Abraham 4,117,120-122 Cassirer, Ernst 22-23, 33-36, 40, 43, 100, 141-143, 146-149, 155-156 Cohen, Hermann 2-3, 7, 10, 14-16, 43,46-61,66, 74, 102, 108-110, 114, 119, 133, 135-136, 147, 153154, 161, 173 Cohn, Jonas 12 Comenius, Arnos 4 Cortes, Donoso 89, 97, 99, 169 Costa, Uriel da 4-5 Cusanus, Nikolaus 100,149 Danton, Georges 130 Dahlhaus, Carl 39

Debussy, Claude 37 Delitzsch, Friedrich 81-83, 108 Dilthey, Wilhelm 24 Dobruschka, Mosche 126, 130-131 Dostojewski, Fjodor M. 33 Dupanloup, Felix 99 Fechner, Gustav Theodor 3 Fichte, Johann Gottlieb 3, 17, 31, 55 Fiori, Joachim di 4-5 Franck, Sebastian 42 Frank, Jakob 5,117,125-132,135-136, 161, 165 Freudenthal, Jacob 116 Gebhardt, Carl 4 , 7 8 , 1 1 6 , 1 6 4 Geiger, Ludwig 115 Ginzberg, Louis 107 Gogarten, Friedrich 6-7,9,62,65,67, 69, 72,74-77, 85, 101-102, 165 Grotius, Hugo 54 Gunkel, Hermann 107 Guttmann, Julius 49 Harnack, Adolf von 1,78-79,82,100, 165 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 3,5-6, 12, 18, 6 6 , 8 1 , 9 4 , 106, 154 Heidegger, Martin 9,28-31,35,69,7273,156 Heine, Heinrich 107 Hcrzl, Theodor 7, 81, 109, 124, 126 Hirsch, Emmanuel 3 , 6 2 , 6 9 , 8 0 - 8 1 , 86 Hobbes, Thomas 106-108, 168-169 Hoffmann, E. T. A. 113 Hölderlin, Friedrich 156 Humboldt, Wilhelm von 3 4 , 1 6 0 Hurwitz, Saul Israel 117 Husserl, Edmund 18-19,28,30,40,43, 73

188 Idei, Moshe

VI. Personenregister 144

Jacobi, Friedrich Heinrich 5 Joris, David 4 Jünger, Ernst 27,36-37 Kafka, Franz 113, 156, 172-173, 175 Kant, Immanuel 3, 5, 13-17, 26, 29, 46, 64, 74, 101, 126, 130-132 Kaplan, Julius 116 Kastein, Josef 124 Kelsen, Hans 90,106,108-109 Kierkegaard, Seren 9, 20, 62, 67, 80 Klages, Ludwig 7, 34-36, 41, 79, 83, 101, 108, 127 Klatzkin, Jakob 116,133,140 Kleist, Heinrich von 23 Klopstock, Friedrich Gottlieb 130 Kristeva, Julia 39 Krockow, Christian Graf von 36, 93 Kurzweil, Baruch 144

Novalis

39,89

Otto, Rudolf 8, 50, 62-64, 68, 79, 84 Parmenides 66 Paulus 58,69-75,77-78,134-135, 141, 165-167 Pearse, Patriae 99 Peterson, Eric 157 Proudhon, Pierre-Joseph 97 Rickert, Heinrich 3, 12-15, 38, 43, 161 Rosenberg, Alfred 80 Rosenzweig, Franz 28, 46, 62, 6566, 68, 114, 121, 134-138, 140, 153-155 Rousseau, Jean-Jacques 130 Russo, Baruchja 117,125-126

Maimón, Salomon 17 Maimonides, Moses 107 Maistre, Joseph M. de 89,97,169-170 Marx, Karl 107 May, Karl 42 Meier, Heinrich 6, 47, 169-170 Mendelssohn, Moses 105, 107, 130, 165 Meyerbeer, Giacomo 107 Mosès, Stéphane 140,172 Müller, Adam 89 Münzer, Thomas 42-43 Mussolini, Benito 97-98

Scheler, Max 2 0 , 2 4 - 2 5 , 2 7 - 2 8 , 3 1 , 40-41, 101, 127, 134 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 3 , 1 8 , 3 9 , 6 1 , 6 8 , 1 2 1 , 1 3 1 Schmidt, Christoph 17, 38, 145 Schmitt, Carl 6-7, 10, 28, 42, 47, 77, 88-112, 123, 157-172, 174-176 Schönberg, Arnold 7, 36 Schoeps, Hans-Joachim 83 Scholem, Gershom 4-7, 10, 88, 107, 113-127, 129-151, 153-168, 171173, 175-176 Schottroff, Willy 81 Schweitzer, Albert 8, 69-70, 135 Seiden, John 54 Shakespeare, William 174-176 Simmel, Georg 11 -12, 20, 24-28, 3 1 , 3 8 , 4 0 - 4 1 , 7 2 , 77, 101, 127, 134 Sorel, Georges 97 Spinoza, Baruch de 4 , 4 0 , 105-107, 116-117, 137, 165 Steinschneider, Moritz 115 Strauss, Leo 6-7, 116, 123-124, 145, 157

Nachmanides, Moses 152 Nathan von Gaza 117, 122 Nietzsche, Friedrich 7, 20-21, 24, 35, 119,138

Terentius Varro 47 Tieck, Ludwig 39 Tillich, Paul 8-9, 29, 43, 62, 64-65, 68-69,81,84-86, 141, 143

Landauer, Gustav 109 Lazarus, Moritz 120 Lask, Emil 17,28-29,31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 3 Lessing, Gotthold Ephraim 5 Lessing, Theodor 7, 24 Locke, John 130 Lukács, Georg 28, 32-34, 43, 101 Luther, Martin 6, 85

V. Literaturverzeichnis Troeltsch, Ernst 2-7, 10, 16, 18, 47, 68, 7 3 , 7 5 , 78, 102-104, 122, 132, 146, 161, 164 Versas, S.

117

Weber, Max 2-3, 10-11, 13, 16, 2124, 40, 43-47, 61, 75, 86, 95, 102104, 146, 148, 156, 161, 164 Weigel, Valentin 5 Werblovsky, Zwi 144 Windelband, Wilhelm 12, 14-15, 18, 70 Yerushalmi, Yosef Hayim Yovel, Yirmiyahu 116

118

Zeitlin, Hillel 116 Zwi, Sabbatai 117-119, 122, 124125, 137, 161, 165-166