Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht [1 ed.] 9783428511907, 9783428111909

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat sich zu der maßgeblichen Schranke staatlicher Grundrechtseingriffe entwickelt.

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht [1 ed.]
 9783428511907, 9783428111909

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ANDREAS HEUSCH

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 936

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht

Von Andreas Heusch

Duncker & Humblot • Berlin

Die Juristische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11190-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Birgitta, Maximilian, C/ara wrcd Maria

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2002/03 von der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Sie war im September 2002 abgeschlossen. Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2002 zu den Voraussetzungen einer Bundeskompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten nach Art. 72 Abs. 2 GG ist jedoch in der veröffentlichten Fassung noch berücksichtigt. Im Übrigen haben später erschienene Rechtsprechung und Literatur nur vereinzelt Berücksichtigung gefunden. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Winfried Kluth, der nicht nur mein Interesse an dem staatsorganisationsrechtlichen Thema geweckt, sondern die Arbeit in ihrem Fortgang stets mit weiterführenden Anregungen begleitet hat. Zu danken habe ich ferner Herrn Prof. Dr. Michael Kilian für die Übernahme und zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Die Arbeit ist während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Jürgen Papier, entstanden. Ihm sei auch an dieser Stelle Dank gesagt für drei lehrreiche und fruchtbare Jahre. Die durch ihn vermittelte Freude an der wissenschaftlichen Forschung wirkte über den dienstlichen Bereich hinaus und gab so die nötige Kraft, auch die privaten Studien voranzubringen. Für die kritische Durchsicht der Arbeit danke ich meinen Freunden Dr. Paul Heinrichsmeier, Richter am LG, Priv. Doz. Dr. Arnd Uhle und Dr. Stefan Magen. Danken möchte ich auch dem Deutschen Landkreistag und der Wissenschaftsförderung der Sparkassenorganisation e.V., die die Drucklegung der Arbeit mit jeweils einem namhaften Druckkostenzuschuss gefördert haben. Mein besonderer Dank gebührt meiner Frau, die mich in den drei Jahren meiner Abordnung in jeder erdenklichen Weise unterstützt hat. Ihr und unseren Kindern ist die Arbeit gewidmet. Neuss, im Juni 2003

Andreas Heusch

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

Erster T e i l

Verfassungsrechtliche Grundlegung Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht Geltungsgrund und Voraussetzungen

25

1. Kapitel Einführung: Aus der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsorganisationsrecht

25

A. Der Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1988 ...

26

B. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2001 zum Naturschutzgesetz des Landes Schleswig-Holstein

29

C. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. April 1989 zu Art. 115 Abs. 1 GG

29

D. Das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1990

31

E. Das Altenpflege-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2002

32

E

Das Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts vom 4. Mai 1993 zur Bürgerschaftswahl von 1991

34

2. Kapitel Begriff und Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

35

A. Die Terminologie

35

B. Der Inhalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

37

nsverzeichnis I. Der Grundsatz der Geeignetheit

38

1. Definition und logische Struktur des Grundsatzes

38

2. Prognoseentscheidung und gerichtliche Kontrolle

39

II. Der Grundsatz der Erforderlichkeit III. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

41 42

1. Die Definition des Grundsatzes

42

2. Der Abwägungsmaßstab

43

C. Der Grundsatzcharakter

44

3. Kapitel Die Voraussetzungen für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht

45

A. Die Bedeutung der Rechtsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für seinen Anwendungsbereich

45

B. Der bisherige Diskussionsstand

47

I. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im gewaltengegliederten Staat

47

1. Die Auffassung von Hans Peters

48

2. Kritik: Gewaltenteilung nach Maßgabe der Verfassung

49

II. Grundrechtsspezifische Begründungen für die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes III. Das Rechtsstaatsprinzip als Geltungsgrundlage 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

51 52 52

a) Darstellung der Judikatur

52

b) Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

54

2. Auffassungen im Schrifttum: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als konkrete Einzelausprägung des Rechtsstaatsprinzips

55

a) Geltung nur im Staat-Bürger-Verhältnis

55

b) Erweiterter Anwendungsbereich

56

nsverzeichnis c) Das Gebot gerechter Abwägung und die so genannte Kompetenzlehre .

11 57

aa) Das umfassende Gebot gerechter Abwägung

57

bb) Die so genannte Kompetenzlehre

58

cc) Kritik

60

IV. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Teil der dirigierenden Verfassung C. Der Vorrang der Verfassung als Geltungsgrund I. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im grundrechtlichen Bereich

61 63 64

1. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip

64

2. Die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im grundrechtlichen Bereich

65

3. Exkurs: Die Inhaltsbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG

66

II. Vergleichbare Konstellationen im Staatsorganisationsrecht

69

1. Die abstrakten Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

69

2. Freiheit und Kompetenz

69

3. Unerheblichkeit einer subjektiv-rechtlichen Position

71

III. Die Geltungsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im staatsorganisationsrechtlichen Bereich

72

1. Historische und dogmatische Grundlagen des Vorrangs der Verfassung ....

74

2. Der grundgesetzliche Vorrang der Verfassung

77

a) Die positivrechtliche Verankerung des Vorrangs der Verfassung

77

b) Allgemeine Folgerungen aus dem Vorrang der Verfassung

78

3. Konsequenzen für die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht

80

a) Wahrung des Vorrangs der Verfassung in Eingriffskonstellationen

80

b) Das Willkürverbot als Eingriffsschranke im Staatsorganisationsrecht ..

83

aa) Geltungsgrund, Inhalt und Reichweite des Willkürverbotes

83

bb) Willkürverbot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

84

12

nsverzeichnis 4. Kapitel Zu den Voraussetzungen und Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht im Einzelnen

86

A. Schutzbereich und Eingriffsakt

86

I. Der Schutzbereich

86

II. Der Eingriffsakt

87

B. Vorrang normspezifischer Eingriffsbeschränkungen

88

C. Wahrung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung

89

D. Die Kontrolle durch die Rechtsprechung

90

Zweiter Teil

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsgefüge des Grundgesetzes Detailanalyse einzelner Normen des Grundgesetzes

93

1. Kapitel Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Bundesstaat

93

A. Das Verhältnis von Bund und Ländern

93

B. Eingriffe des Bundes in den Bestand eines Landes

95

I. Garantie der föderativen Ordnung II. Neugliederung und sonstige Gebietsänderungen nach Art. 29 GG

95 96

1. Das Normprogramm des Art. 29 GG

96

2. Der Eingriffscharakter einer Gebietsänderung

96

3. Das Wohl des Staatsganzen und die Stellung der Länder

97

4. Materielle Vorgaben des Art. 29 GG

98

5. Das verfassungslegitime Ziel einer Gebietsänderung

100

nsverzeichnis

13

6. Die Erforderlichkeit der Gebietsänderung

100

7. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

102

III. Änderungen der Außengrenzen des Bundesgebietes

103

C. Das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG und die Gewährleistungspflicht des Bundes nach Art. 28 Abs. 3 GG 105 I. Verfassungsautonomie der Länder und Homogenitätsgebot II. Die Gewährleistungspflicht des Bundes D. Die Pflicht zur Amtshilfe und verfassungsrechtliche Notstandsregelungen I. Die Pflicht zur Rechts-und Amtshilfe

105 106 109 109

1. Verfassungsunmittelbarkeit der abstrakten Hilfspflicht

110

2. Die Konkretisierung der Hilfspflicht durch Ersuchen

111

3. Schranken der Inpflichtnahme

112

II. Die Notstandsregelungen 1. Anforderungsrechte der Länder

114 115

a) Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung

115

b) Regionaler Katastrophennotstand

116

c) Innerer Notstand

117

2. Weisungs-und Einsatzrechte der Bundesregierung

117

a) Überregionaler Katastrophennotstand

117

b) Innerer Notstand

118

E. Der Bundeszwang I. Die Bedeutung des Bundeszwangs

119 119

II. Maßnahmen des Bundeszwangs

120

III. Die Grenzen des Bundeszwangs

122

1. Spezifische Schranken

123

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke

124

nsverzeichnis IV. Das Weisungsrecht nach Art. 37 Abs. 2 GG V. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Bundeszwangs F. Die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 72 GG I. Die Bedeutung der Vorschrift im bundesstaatlichen Gefüge II. Die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG alter Fassung III. Entstehungsgeschichte und Motive der Novellierung des Art. 72 GG

128 129 129 129 131 134

IV. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke nach Art. 72 GG neuer Fassung 136 1. Der Eingriffscharakter der bundesgesetzlichen Regelung im Verhältnis zu den Ländern 136 2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke bundesgesetzlicher Regelungen 138 a) Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers

138

b) Der Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung

140

c) Eignung und Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung

144

3. Die Rückholklausel des Art. 72 Abs. 3 GG

146

G. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder 147 I. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen unter dem Grundgesetz II. Grenzen der Länderzuständigkeit

147 149

1. Verfassungsunmittelbare Beschränkungen

149

2. Beschränkungen aufgrund der Verfassung

150

III. Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit 151 1. Verfassungsunmittelbare Verwaltungskompetenz und Eingriffsvorbehalt nach Art. 84 Abs. 1 GG

151

2. Eingriffsschranken

153

nsverzeichnis

15

a) Das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates

153

b) Materielle Eingriffsschranken

154

aa) Der Meinungsstand

154

bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Eingriffsschranke

156

3. Weitere Ingerenzrechte des Bundes und ihre Schranken IV. Die Bundesauftragsverwaltung

158 160

1. Der Rechtscharakter der Bundesauftragsverwaltung

161

2. Vergleich zur Regelung des Art. 84 GG

162

3. Die Weisung als Eingriff

164

4. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze des Weisungsrechts

166

a) Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts

166

b) Der Meinungsstand im Schrifttum

168

c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke

168

d) Bundestreue und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

171

H. Der horizontale Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 GG

172

I. Der horizontale Finanzausgleich im Steuerverteilungssystem des Grundgesetzes 172 II. Die Ausgleichspflicht als Eingriff III. Grenzen des Ausgleichs

173 174

1. Vorrang der Feststellung der Finanzkraft der Länder

174

2. Das Verbot der Nivellierung und der Veränderung der Finanzkraftreihenfolge

175

3. Weitere materiellrechtliche Vorgaben

175

a) Ausschluss einer Letztentscheidungskompetenz des Bundesgesetzgebers 176 b) Die Auffassung von Korioth

178

c) Die Auffassung von Paul Kirchhof

179

d) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab

181

IV. Verfassungsauftrag: Das Maßstäbegesetz

183

16

nsverzeichnis 2. Kapitel Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab staatlicher Regelungen im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung

A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts I. Konkret-individuelle Regelungen in Gesetzesform

184 185 186

II. Formellgesetzliche Ermächtigungen der Exekutive sowie die auf dieser Grundlage erlassenen normativen konkret-individuellen Eingriffe 188 III. Die einfachrechtliche Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung

189

B. Überblick über die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte und den Meinungsstand im Schrifttum 193 I. Die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte II. Der Meinungsstand im Schrifttum

193 197

C. Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung - verfassungsunmittelbare Gewährleistung und Notwendigkeit einer Ausgestaltung 201 I. Der verfassungsunmittelbar umhegte Bereich II. Eingriff und Ausgestaltung

201 204

III. Aufgabe der Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich

205

IV. Wandel der tatsächlichen Verhältnisse

206

V. Die gerichtliche Kontrolle

206

VI. Die Notwendigkeit einer Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung ... 207

3. Kapitel Begrenzung der Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 1 GG

208

A. Die Unterscheidung zwischen Normal- und Störungslage

208

B. Die verschiedenen Konzeptionen zur Beschränkung der Kreditaufnahme

210

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts II. Der Meinungsstand im Schrifttum

211 212

nsverzeichnis C. Der Geltungsbereich des Verbots des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG D. Gerichtliche Kontrolle und Darlegungslast des Gesetzgebers

17 214 219

4. Kapitel Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Wahlprüfungsund Parlamentsrecht A. Wahlfehlerfolgen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes I. Relativer Bestandsschutz des gewählten Parlaments II. Die doppelte Funktion der Wahlprüfung

220 220 220 221

III. Rechtsfolgen festgestellter Wahlfehler nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 222 IV. Grenzen des Bestandsschutzes

225

B. Beschränkung der Abgeordnetenrechte nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 226 I. Der verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten II. Begrenzungen des Rederechts des Abgeordneten III. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke Schlussbetrachtung - Ergebnisse der Untersuchung

226 227 229 232

A. Die verfassungsrechtliche Grundlegung

232

B. Die Ergebnisse der Detailanalyse

235

C. Ausblick

237

Literaturverzeichnis

238

SachWortverzeichnis

253

2 Heusch

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

Abs.

Absatz

a. E.

am Ende

a.F.

alter Fassung

AO

Abgabenordnung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

AP

Arbeitsrechtliche Praxis (Ab 1954: Nachschlagewerk des Bundes-

Art.

Artikel

Az.

Aktenzeichen

arbeitsgerichts)

BAG

Bundesarbeitsgericht

BAGE

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVerfGH

Bayerischer Verfassungsgerichtshof

BB

Der Betriebs-Berater

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGH

B undesgerichtshof

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs

BGSG

Gesetz über den Bundesgrenzschutz

BR-Drs.

Bundesratsdrucksache

BT-Drs.

Bundestagsdrucksache

BVB1.

Bundesversorgungsblatt (1955 ff.) im Bundesarbeitsblatt

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

BWahlG

B undes Wahlgesetz

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union

Darst. Teil

Darstellender Teil

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Erl.

Erlass

Abkürzungsverzeichnis

19

ESVGHE

Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg mit Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe beider Länder

f./ff.

folgende

FG

Festgabe

FinArch.

Finanzarchiv

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (1953 ff.)

GG

Grundgesetz

GO BT

Geschäftsodnung des Deutschen Bundestages

GVB1.

Gesetz- und Verordnungsblatt

HChE

Herrenchiemseer Entwurf

HessStGZ

Hessische Städte- und Gemeinde-Zeitung

HGrG

Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder

Hrsg.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

HStR

Handbuch des Staatsrechts

HVerfG

Hamburger Verfassungsgericht

JA

Juristische Arbeitsblätter

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

LV

Landesverfassung

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NdsAGAbfG

Niedersächsisches Ausführungsgesetz zum Abfallgesetz

NdsStGH

Niedersächsischer Staatsgerichtshof

NdsVBl.

Niedersächsische Verwaltungsblätter

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NVwZ NVwZ-RR

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport Verwaltungsrecht

NWVBL

Nordrhein-westfälische Verwaltungsblätter

ÖstZÖffRVÖlkR

Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Volkerrecht

OVG

Oberverwaltungsgericht

OVGE

Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte für das Land Nordrhein-Westfalen sowie für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen und des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs Entscheidungen des Reichsgerichts Randnummer Seite

RGZ Rn. S.

20

Abkürzungsverzeichnis

SaarlVerfGH

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes

SächsVerfGH

Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen

sc.

scilicet

SGB

Sozialgesetzbuch

SOGLSA

Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt

StGH

Staatsgerichtshof

StGHBW

Staatsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg

StR

Staatsrecht

st. Rspr.

ständige Rechtsprechung

TZ

Textzahl

VerfG Bbg

Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

VerfGH NRW

Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen

VerfGH Rh.-Pf.

Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz

VerwArch.

Verwaltungsarchiv

Vf.

Verfahren

VGH

Verwaltungsgerichtshof

vgl.

vergleiche

VVDStRL

Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WRV

Weimarer Reichsverfassung

Zf A

Zeitschrift für Arbeitsrecht

ZKF

Zeitschrift für Kommunalfinanzen

ZParlR

Zeitschrift für Parlamentsrecht

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZSR

Zeitschrift für Sozialreform

Est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere rectum. {Horaz, Sermones 1, 1, 106-107)

Einleitung Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat Karriere gemacht. Ursprünglich nur im Polizei- und allgemeinen Ordnungsrecht als Schranke staatlicher Eingriffe in die Rechtsgüter des Einzelnen verstanden und angewandt, hat er seit Inkrafttreten des Grundgesetzes, zumindest nach der Rechtsprechung und nach der ganz überwiegenden Meinung im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, die Leiter der Normenhierarchie bis zu deren oberster Sprosse erklommen. 1 Sein Verfassungsrang wird ihm nur noch von wenigen bestritten. Freilich hat sich nicht nur die Geltungsgrundlage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit geändert, auch sein Anwendungsbereich ist in zweierlei Hinsicht wesentlich erweitert worden. Dass er nicht mehr nur die Verwaltung in ihre Schranken verweist, sondern auch dem Gesetzgeber Grenzen setzt, hängt unmittelbar mit seiner nunmehr verfassungsrechtlichen Geltungsgrundlage zusammen. Nicht ohne weiteres gilt dies für die zweite, anders geartete Expansion: Ohne seine Bedeutung in seinem genuinen Anwendungsbereich des Polizei- und Ordnungsrechts verloren zu haben, verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heute in jedem Verwaltungsbereich Beachtung, soweit die Verwaltung belastend tätig wird. Darüber hinaus gibt es nicht wenige Stimmen, die seine Anwendbarkeit auch für den Bereich der staatlichen Leistungsverwaltung postulieren.2 Schließlich hat er Eingang in das Privatrecht, insbesondere das Arbeitsrecht gefunden. 3 Daher nimmt es nicht wunder, wenn die Entwicklung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach 1949 mit Superlativen belegt wird. So bescheinigt Grabitz dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eine „bedeutsame, ja überragende Rolle" 4 , und Wahl bezeichnet das Übermaßverbot als „die herausragende Leistung des öffentlichen Rechts nach 1945"5. Entsprechend umfangreich ist nicht nur die einschlägige Rechtsprechung. Auch die Literatur zu diesem Thema ist stetig angewachsen. Den 1

Einen Überblick über die Entwicklung gibt Stern, in FS für Lerche, S. 165 ff. 2 Vgl. Dürig, JZ 1953, S. 193 ; Eppe, S. 140; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 200, 259, 281; Stern, DÖV 1961, S. 325 ; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 89; Becker, VVDStRL 14 (1956), S. 96 ; Haverkate, S. 11 ff., 174 ff. 3 Vgl. BAG AP Nr. 70 zu § 626 BGB, BAGE 33, 1 ; Siehe auch Zitscher, BB 1983, S. 1285 ff.; Löwisch, ZfA 1971, S. 319 ff.; Mayer-Maly, ZfA 1980, S. 473 ff.; Kreuz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampf. Weitere Nachweise bei Hirschberg, S. 32 f. Auch im europäischen Recht wird ihm eine herausragende Bedeutung zugemessen; vgl. hierzu Heinsohn, S. 75 ff.; Emmerich-Fritsche, S. 96 ff. 4 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 . 5 Wahl, Die Verwaltung 1980, S. 273 .

22

Einleitung

grundlegenden Arbeiten von v. Krauss6 und Lerche 7 sind bis heute ungezählte Abhandlungen gefolgt, die sich teilweise mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im allgemeinen, teilweise mit besonderen Aspekten dieses Grundsatzes befassen. 8 Bisher fehlt es jedoch an einer monographischen Erörterung seiner Geltung und Anwendung im Bereich des Staatsorganisationsrechts. 9 Dies ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass seit einiger Zeit das Bemühen in Rechtsprechung und Literatur unverkennbar ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht seinem Geltungsrang nach, wohl aber in seinem Anwendungsbereich bis auf seine Wurzeln zurückzustutzen. Hatte bereits Lerche im Jahre 1961 im Vorwort seiner Habilitationsschrift vor einer „Überdehnung des gesetzesbindenden Übermaßverbots" gewarnt 10 , so mehrte sich die Kritik am „Weichmacher der Rechtsordnung" 11 vor allem in den letzten Jahren. Erinnert sei hier insbesondere an Leisners Mahnung, im „Abwägungsstaat" drohten die klaren Begrifflichkeiten sich in Interessenjurisprudenz aufzulösen, gehe Kontrolle staatlicher Entscheidungen aufgrund fehlender Maßstäbe ins Leere und löse sich Verfassung letztlich in Verhältnismäßigkeit auf. 12 „Das Übermaßverbot führt" - so der Vorwurf Ossenbühls - „im Übermaß angewandt - zu einer Knochenerweichung der Rechtsordnung". 13 Zu den von ihm geforderten Restriktionen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gehört auch dessen Verbannung aus dem Bereich des Staatsorganisationsrechts. 14 Andere, die die Gefahren einer Überdehnung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes ebenfalls klar erkannt haben, befürworten hingegen nicht seinen kategorischen Ausschluss aus dem staatsorganisationsrechtlichen Bereich. 15 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht, nachdem es früher „die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaß Verbotes.. .als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns"16 bezeichnet hatte, in seinem Kalkar-Urteil vom 22. Mai 1990 lapidar festgestellt: „Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar. Dies gilt insbesondere für den Grundsatz der Verhältnis6

V. Krauss, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. 8 Vgl. im Einzelnen die Nachweise im Literaturverzeichnis. 9 So auch die Feststellung von Stettner, S. 397: Der Einbau des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in das kompetentielle System des Grundgesetzes sei noch nicht geleistet. 10 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 7. II Schnapp, JuS 1983, S. 850 unter Berufung auf Isensee. Vgl. auch andere kritische Bezeichnungen etwa von Gentz, NJW 1968, S. 1600 („Einfallstor eines unkontrollierbaren und unkontrollierten Gerechtigkeitsgefühls"), Grunsky, ZRP 1976, S. 129 („spanische Wand für praktisch jedes gewünschte Ergebnis") oder Götz, NVwZ 1984, S. 215 („Alleskleber"). Siehe auch Denninger, JZ 1970, S. 145 . I

12

Leisner, S. 6 ff. 13 Ossenbühl, in FS für Lerche, S. 151 . 14 Ossenbühl, in FS für Lerche, S. 151 ; siehe auch Knorr, S. 155 ff. 15 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118. 16 BVerfGE 23, 127 .

Einleitung

mäßigkeit; ihm kommt eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu. Das damit verbundene Denken in den Kategorien von Freiraum und Eingriff kann weder speziell auf die von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Land bestimmte Sachkompetenz des Landes noch allgemein auf Kompetenzabgrenzungen übertragen werden". 17 Mit dieser recht knappen verfassungsgerichtlichen Feststellung kann die rechts wissenschaftliche Diskussion jedoch nicht als beendet angesehen werden. Zweifel an der dogmatischen Konsistenz der These des Bundesverfassungsgerichts erscheinen angebracht, auch weil das Bundesverfassungsgericht selbst im Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 die Regelung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 3 b Abs. 3 EGV der damaligen Fassung ausdrücklich als „Kompetenzausübungsschranke" im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Einzelstaaten bezeichnet hat. 18 Unklar ist auch, wie sich die jüngsten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Altenpflege-Urteil vom 24. Oktober 2002 betreffend die Voraussetzungen einer Bundesgesetzgebung nach Art. 72 Abs. 2 GG n. F. zu dem früheren kategorischen Ausschluss jedes Eingriffsdenkens im Staatsorganisationsrecht und der Absage an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in diesem Bereich verhalten. Es stellt jedenfalls einen kaum auflösbaren Widerspruch zu der bisher eingenommenen Position dar, wenn das Bundesverfassungsgericht nunmehr, ohne auch nur die eigene gegenläufige Rechtsprechung zu erwähnen, dem Kriterium der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung die Funktion zuweist, den Bund auf den geringstmöglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder zu beschränken.19 Damit ist die Aufgabe, der sich die Untersuchung zu widmen hat, vorgegeben: Es ist zu klären, ob und inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - jenseits des europarechtlichen Verhältnisses von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten - auch in der innerstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes als staatsorganisationsrechtliche Kompetenzausübungsschranke fungiert. Richtet sich das vordringliche Interesse damit auf die konkrete normative Ausgestaltung, die die staatliche Organisation im Grundgesetz erfahren hat, so erweist sich gleichwohl eine vorherige dogmatische Grundlegung als unabdingbar. Diese erfolgt im ersten Teil der Arbeit, bevor im zweiten Teil einzelne Grundgesetzbestimmungen einer Detailanalyse unterzogen werden. In einer Schlussbetrachtung werden die zuvor gewonnenen Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst. Im ersten, allgemeinen Teil wird zunächst am Beispiel einiger Judikate des Bundesverfassungsgerichts und einer Entscheidung des Hamburger Verfassungsgerichts das Thema veranschaulicht. Die angeführten Beispiele betreffen ganz unterschiedliche Bereiche und Konstellationen des Staatsorganisationsrechts und machen so die Reichweite und Relevanz des Themas deutlich. Im anschließenden Kapitel werden die terminologischen Grundlagen für den weiteren Gang der Unter17 BVerfGE 81, 310 unter Bezugnahme auf BVerfGE 79, 311 . is BVerfGE 89, 155 . 19 BVerfG, NJW 2003, S. 41 .

24

Einleitung

suchung gelegt und insbesondere auch der Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bestimmt. Sodann werden die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Bereich des Staatsorganisationsrechts dargelegt. Dies erfordert, die grundgesetzliche Grundlage des Grundsatzes zu benennen. Die verschiedenen in der Rechtsprechung und Literatur vorgefundenen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Begründungsansätze werden ebenso vorgestellt wie die Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem öffentlichen Interesse und der dirigierenden Verfassung. Dies geschieht jedoch stets mit Blick auf die konkrete Bedeutung des jeweiligen Ansatzes für die hier allein interessierende Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts. So wird etwa den Vorstellungen, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als ausschließlich grundrechtlich fundiert ansehen, nicht vertieft nachgegangen, da sie die Geltung dieses Grundsatzes im Staatsorganisationsrecht a priori nicht zu begründen vermögen. Im Anschluss wird die eigene Konzeption entwickelt. Dabei werden zunächst die strukturellen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes untersucht - und zwar im Wege der Abstraktion ausgehend von der anerkannten grundrechtlichen Eingriffskonstellation. Nachdem mögliche Einwände gegen diese strukturelle Vergleichbarkeit der Eingriffe in Grundrechte mit solchen im Bereich des Staatsorganisationsrechts ausgeräumt sind, wird der verfassungsrechtliche Geltungsgrund für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dargestellt. Im zweiten, besonderen Teil werden die zuvor gewonnenen Ergebnisse auf ihre Tragfähigkeit und ihre Bedeutung für die im Grundgesetz konstituierte staatliche Ordnung hin untersucht. Anhand ausgewählter staatsorganisationsrechtlicher Regelungen des Grundgesetzes soll gezeigt werden, ob, gegebenenfalls in welchem Umfang und mit welchem Resultat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jeweils zur Anwendung gelangt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob und inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dem Bund in seinem Handeln gegenüber den Ländern Schranken setzt, sei es bei Eingriffen in deren Bestand, sei es im Bereich der Amtshilfe, des Notstandsrechts, des Bundeszwangs oder auch bei der Wahrnehmung konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeiten sowie dann, wenn die Länder Bundesrecht vollziehen. Hier wie auch beim horizontalen Finanzausgleich wird deutlich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jeweils in unterschiedlicher Intensität und Stringenz Geltung beansprucht. Wie insbesondere das sich anschließende Kapitel zur Grenze staatlicher Ingerenzen gegenüber den Gemeinden zeigt, kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber nicht nur im bundesstaatlichen Gefüge, sondern auch im Verhältnis zur „dritten Ebene" des Gemeinwesens eine herausgehobene Bedeutung zu. Schließlich wird die Relevanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch für das Staatsschuldenrecht sowie für das Parlaments- und Wahlprüfungsrecht aufgezeigt.

Erster T e i l

Verfassungsrechtliche Grundlegung Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht - Geltungsgrund und Voraussetzungen

1. Kapitel

Einführung: Aus der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsorganisationsrecht Das Staatsorganisationsrecht als Recht der staatlichen Organisation umfasst nach herkömmlichem Verständnis das gesamte Staatsrecht mit Ausnahme der Grundrechte. 1 Während durch diese regelmäßig ein materialer Rechtsstatus des Bürgers im weitesten Sinne gesichert wird, bestimmen die staatsorganisationsrechtlichen Regelungen in erster Linie Organisation und Verfahrensweise der staatlichen Herrschaft. 2 Damit sind insbesondere auch die Begründung, Verteilung und Zuweisung näher bestimmter Kompetenzen an Gesamtstaat und Gliedstaaten sowie an einzelne staatliche Organe oder Organteile ein wesentlicher Teilbereich des Staatsorganisationsrechts. Insgesamt unterscheiden sich die Kompetenznormen des Grundgesetzes nach Inhalt und Struktur deutlich voneinander. An dieser Stelle soll nicht der Versuch einer Klassifizierung unternommen werden. Die nachfolgenden Beispiele insbesondere aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollen lediglich verdeutlichen, in welch mannigfaltigen Konstellationen sich die Frage nach der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Kompetenzausübungsschranke im staatlichen Binnenbereich erhebt.

1 Ipsen, Staatsrecht I, § 1 Rn. 13. 2 Stern, StR I, § 4 II 3 f.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

A. Der Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1988 Gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG muss den Gemeinden das Recht der Selbstverwaltung gewährleistet sein. Dieses Recht umfasst alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft sowie die Befugnis zur eigenverantwortlichen Gestaltung in diesem Bereich. Die Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gilt jedoch nicht uneingeschränkt oder vorbehaltlos, sondern nur im Rahmen der Gesetze. Die Gesetze ihrerseits sind - insoweit besteht in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit ebenfalls normativen Bindungen unterworfen, da andernfalls die Garantie der Selbstverwaltung zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stünde.3 Die Einigkeit endet allerdings, wenn es um die Bestimmung dieser Grenzen staatlicher, insbesondere gesetzgeberischer Tätigkeit im Verhältnis zu den Gemeinden geht. Dies gilt zumal für die Frage, ob insoweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung gelangt. Im Rahmen der bis heute fortdauernden Diskussion wird dem Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1988 eine besondere, allerdings wiederum kontroverse Bedeutung beigemessen. Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens waren Regelungen des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum bundesrechtlichen Abfallgesetz vom 7. Juni 1972. Der Bund hatte den Ländern die Auswahl der grundsätzlich beseitigungspflichtigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften überlassen. Der niedersächsische Landesgesetzgeber bestimmte daraufhin die Landkreise und kreisfreien Städte als zuständige Körperschaften (§ 1 Abs. 1 NdsAGAbfG vom 9. April 1973).4 Unter näher bezeichneten Voraussetzungen konnte allerdings der jeweils zuständige Landkreis die Beseitigungspflicht auf eine kreisangehörige Gemeinde übertragen (§ 1 Abs. 2 NdsAGAbfG). Die kreisangehörige Gemeinde Rastede, die bereits seit den 1950er Jahren eine eigene Mülldeponie und seit Anfang der 1970er Jahre eine Hausmülldeponie betrieb, hatte vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde 5 vergeblich die Übertragung der Beseitigungspflicht auf sich beantragt. Auch ihre Klage blieb, zuletzt vor dem Bundesverwaltungsgericht 6, ohne Erfolg. Wie bereits die Berufungsinstanz 7 ging 3

Zur Rechtslage unter der Weimarer Reichs Verfassung: Zunächst war Art. 127 WRV noch als „materiell inhaltlos" bezeichnet worden; vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 334 f. Der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches entnahm in seiner Entscheidung vom 10./11. Dezember 1929 der Verfassungsnorm jedoch eine institutionelle Garantie; StGH, RGZ 126, Anhang 14 (S. 22 f.). 4 GVB1. S. 109. 5 Eine frühere Verfassungsbeschwerde war durch Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. September 1976 (2 BvR 826/74) aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen worden. 6 BVerwGE 67, 321. 7 OVG Lüneburg, DÖV 1980, S. 417 , das im Ergebnis allerdings von einer ermessensfehlerhaften Ablehnung des Übertragungsantrages ausging.

1. Kap.: Einführung

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das Bundesverwaltungsgericht davon aus, die Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG grenze außerhalb des unantastbaren Kernbereichs gegen unzulässige, weil sachlich nicht gerechtfertigte Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung ab. Jede den Kernbereich nicht antastende gesetzliche Zuständigkeitsregelung müsse daher zureichende Gründe in dem Sinne haben, dass sie in Hinblick auf die Funktion der Garantie ausreichend legitimiert und damit verhältnismäßig erscheine.8 Stehen gesetzliche Zuständigkeitsregelungen zwischen Gemeinden und Kreisen in Frage, verkürzt das Bundesverwaltungsgericht allerdings in Hinblick auf Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG das Verhältnismäßigkeitserfordernis auf das Eignungskriterium: Der Gesetzgeber habe im Verhältnis von Kreisen und Gemeinden die Aufgabe jeweils auf der Ebene anzusiedeln, die hierfür die geeignetere sei.9 Unter diesem Gesichtspunkt sei - so befand das Bundesverwaltungsgericht - gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für die Müllabfuhr von den Gemeinden auf die Kreise nichts zu erinnern. 10 Das Bundesverfassungsgericht wies die anschließende Kommunalverfassungsbeschwerde der Gemeinde Rastede gegen die die Zuständigkeit verlagernden Normen des niedersächsischen Ausführungsgesetzes zurück, da diese mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar seien. Ausgangspunkt des dem Rastede-Beschluss zugrundeliegenden bundesverfassungsgerichtlichen Verständnisses der Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist deren institutioneller Charakter: Die Garantie der Einrichtung der gemeindlichen Selbstverwaltung sei auf die gesetzliche Ausgestaltung und Formung angewiesen. Dabei beziehe sich der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ausgesprochene Gesetzesvorbehalt nicht nur auf die Art und Weise der Erledigung der örtlichen Angelegenheiten, sondern ebenso auf die gemeindliche Zuständigkeit für diese Angelegenheiten.11 Das Bundesverfassungsgericht ist sich bewusst, dass die Ausgestaltung und Formung nicht dem Belieben des Gesetzgebers überlassen bleiben darf, wenn die Garantie nicht zur leeren Formel werden soll. 12 Den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nennt das Gericht jedoch nicht - zumindest nicht ausdrücklich - als Schranke gesetzgeberischen Handelns. Stattdessen sieht es den Gesetzgeber - außerhalb des nicht gegenständlich zu bestimmenden, sondern durch die Allzuständigkeit gekennzeichneten Kernbereichs 13 - durch ein in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verankertes Aufgabenverteilungsprinzip zugunsten der Gemeinden gebunden.14 Danach habe der Gesetzgeber, wenn es um die Zuordnung von Aufgaben mit örtlichem Charakter gehe, den Vorrang der Gemeinden auch gegenüber den Kreisen „zu berücksichtigen". 15 Eine Aufgabe mit relevantem örtlichen 8 BVerwGE 67, 321 . 9 BVerwGE 67, 321 . BVerwGE 67, 321 . 11 BVerfGE 79, 127 . 12 BVerfGE 79, 127 . 13 BVerfGE 79, 127 . 14 BVerfGE 79, 127 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Charakter dürfe der Gesetzgeber danach - so das Bundesverfassungsgericht - „den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses, vor allem also dann entziehen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerledigung nicht sicherzustellen wäre". 1 6 Und an späterer Stelle heißt es dann:" Will er (sc.: der Gesetzgeber) die Aufgabe den Gemeinden gleichwohl entziehen, so kann er dies nur, wenn die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG überwiegen.. .". 1 7 Die wissenschaftliche Diskussion um den Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts setzt sich bis heute fort. Dabei divergiert nicht erst die Kritik an dieser Rechtsprechung, vielmehr besteht im Schrifttum bereits über den Inhalt der maßgeblichen Aussagen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung kein Konsens. So war es nach Ossenbühl in der Literatur und Rechtsprechung bis zum RastedeBeschluss des Bundesverfassungsgerichts einhellige Meinung, gesetzgeberische Regelungen der kommunalen Selbstverwaltung müßten den Kriterien des Übermaßverbotes genügen. Seit diesem Beschluss müsse man aber diese Literatur und Rechtsprechung als Makulatur erachten. Das Bundesverfassungsgericht habe eine grundlegend neue dogmatische Linie eingeschlagen; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit habe hier keinen Platz mehr. 18 Ehlers hingegen misst dem Rastede-Beschluss nicht diese einschneidende Bedeutung zu. Der Verzicht auf eine Überprüfung gesetzlicher Regelungen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes habe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Garantie der kommunalen Selbstverwaltung vielmehr von Anfang an geprägt. 19 Ganz anders interpretiert Maurer die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Das Gericht habe, insoweit stimmt Maurers Einschätzung mit der von Ehlers überein, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerade vor dem Rastede-Beschluss als Grenze des Gesetzesvorbehaltes nicht herangezogen. Es habe ihn mithin auch nicht aufgeben können. Im Gegenteil könne man sogar feststellen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nunmehr erstmals eine maßgebliche Rolle bei der Anwendung des Gesetzesvorbehaltes im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zuerkannt worden. 20

15 BVerfGE 79, 127 . 16 BVerfGE 79, 127 . 17 BVerfGE 79, 127 . 18 Ossenbühl, in FS für Lerche, S. 151 ; ähnlich Schoch, VerwArch. 81 (1990), S. 19 : „Neustrukturierung" der Selbstverwaltungsgarantie; Clemens, NVwZ 1990, S. 834 . 19 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 . 20 Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 .

1. Kap.: Einführung

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B. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2001 zum Naturschutzgesetz des Landes Schleswig-Holstein Das Verfahren betraf einen Verfassungsstreit innerhalb des Landes SchleswigHolstein gemäß Art. 99 GG, § 13 Nr. 10 BVerfGG. Die Antragsteller, Abgeordnete des Schleswig-Holsteinischen Landtages, hatten unter anderem geltend gemacht, einige Vorschriften des angegriffenen Gesetzes drängten die gemeindliche Planungshoheit als Bestandteil der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie mehr als erforderlich und unangemessen zu Gunsten des Naturschutzes zurück. 21 Das Bundesverfassungsgericht ist dem nicht gefolgt. Die angegriffenen Regelungen verletzten, soweit sie in die Planungshoheit der Gemeinden eingriffen, nicht die in der Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung gewährleistete Selbstverwaltungsgarantie. In diesem Zusammenhang führt das Bundesverfassungsgericht in allgemeiner, damit auch für die Auslegung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG maßgeblicher Form aus, der Gesetzgeber, der abstrakt-generell in die Planungshoheit eingreife, indem er für alle Gemeinden unmittelbar regelnde Vorgaben für die Art und Weise der Ausübung der Planungshoheit setze, habe außerhalb eines möglicherweise geschützten Kernbereichs den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Einem Klammerzusatz ist zu entnehmen, dass das Gericht die in der Rastede-Entscheidung aufgestellten Anforderungen an das gesetzgeberische Handeln im Falle einer Aufgabenentziehung für strenger erachtet. 22 Eine Begründung dafür, weshalb hier - anders als bei der Aufgabenentziehung - der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Anwendung gelangen soll, enthält die Entscheidung vom 7. Mai 2001 nicht.

C. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. April 1989 zu Art. 115 Abs. 1 GG Gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG dürfen Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Ausnahmen sind - so der zweite Halbsatz der Vorschrift - nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das von den Mitgliedern der CDU-Bundestagsfraktion angestrengte Normenkontrollverfahren betraf die Frage, ob es insbesondere mit dieser verfassungsrechtlichen Bestimmung vereinbar war, dass das Haushaltsgesetz 1981 den Bundesminister der Finanzen zu einer Kreditaufnahme ermächtigte, deren Höhe die im Bundeshaushalt 1981 ausgewiesenen Ausgaben für Investitionen überstieg. Die 21 BVerfGE 103, 332 . 22 BVerfGE 103, 332 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Antragsteller hatten im Verfahren die Auffassung vertreten, von der Ausnahmevorschrift des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG dürfe nur insoweit Gebrauch gemacht werden, als dies zur Wiedergewinnung der Normallage geeignet, erforderlich und im engeren Sinne verhältnismäßig sei. 23 Die an der Haushaltsgesetzgebung beteiligten Staatsorgane treffe die Darlegungspflicht dafür, dass eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gegeben und die beabsichtigte Überschreitung der Kreditobergrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG das zu ihrer Abwehr bestimmte, hierzu geeignete, schonendste und im engeren Sinne verhältnismäßige Mittel sei. 24 Dieser Argumentation ist das Bundesverfassungsgericht nicht gefolgt. Zwar müsse - so das Gericht - die erhöhte Kreditaufnahme nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. 25 Über diese Eignung hinaus sehe Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG aber weitere einschränkende Erfordernisse nicht vor. 26 Insbesondere könne der Vorschrift nicht entnommen werden, eine Kreditfinanzierung konsumtiver Ausgaben dürfe nur unter Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfolgen. Dafür fehle es an einer entsprechenden Konstellation. Denn die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und die Begrenzung der Kreditaufnahme auf Investitionsausgaben stünden sich nicht wie eingreifende Maßnahme und Gesetzesregelung und davon betroffener Rechts- und Freiheitsbereich gegenüber, in den nur verhältnismäßig eingegriffen werden dürfe. Kreditbegrenzung auf die Summe der Investitionsausgaben und Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts stellten vielmehr beide gewichtige öffentliche Interessen und verbindliche Orientierungen im Sinne der Erreichung des Gemeinwohls dar. Habe der Verfassungsgesetzgeber für den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu deren Abwehr Ausnahmen von der Kreditbegrenzungsvorschrift eröffnet, stehe diese Handlungsmöglichkeit neben derjenigen der Einhaltung der Kreditobergrenze. Zu welchen von mehreren geeigneten Mitteln zur Störungsabwehr der Gesetzgeber greife, sei eine Abwägungsfrage. 27 Diese Abwägung vorzunehmen, sei eine politische Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, die er auch politisch zu verantworten habe. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hierauf würde die Befugnis des Haushaltsgesetzgebers insoweit auf die Ermessensausübung einer Verwaltungsbehörde reduzieren. Die Verfassung räume jedoch dem Gesetzgeber, soweit es sich nicht um Eingriffe in Rechts- oder Freiheitsbereiche handele, einen Gestaltungsfreiraum für politisches Handeln ein, dem sie nur einen Rahmen setze. Innerhalb dieses Rahmens sei der Gesetzgeber befugt, politische Entscheidungen zu treffen. 28 Die Quintessenz dieser Überlegungen des 23 24 25 26 27

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

79, 311 . 79, 311 . 79, 311 . 79, 311 79, 311

1. Kap.: Einführung

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Bundesverfassungsgerichts lautet: „Das bedeutet im vorliegenden Zusammenhang, daß die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers, eine bevorstehende oder eingetretene Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch eine Kreditfinanzierung konsumtiver Ausgaben zu bekämpfen, zwar hierzu geeignet sein muß, daß unter mehreren geeigneten Mitteln jedoch keine Abstufung im Sinne einer Erforderlichkeit oder einer Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu treffen

D. Das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1990 Art. 85 GG regelt das Verhältnis von Bund und Ländern, wenn diese Bundesgesetze im Auftrag des Bundes ausführen. In diesem Zusammenhang unterstellt Art. 85 Abs. 3 GG die Landesbehörden, soweit sie auftragsweise Bundesgesetze ausführen, den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden. Das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1990 betraf Voraussetzungen und Schranken einer solchen Weisung nach Art. 85 Abs. 3 GG in Bezug auf ein atomrechtliches Genehmigungsverfahren. 30 Gegenstand des Verfahrens war ein Antrag der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 1 .Variante GG, mit dem diese die gerichtliche Feststellung begehrte, der Bund habe durch Erteilung einer Weisung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Rechte des Landes verletzt. Der Weisung vorausgegangen war ein Streit zwischen Bundes- und Landesminister über die Erteilung einer seit längerem von der Betreiberfirma beantragten Teilgenehmigung für den so genannten Schnellen Brüter in Kalkar. Der Landesminister wollte vor Erlass der Teilgenehmigung im Hinblick auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl das Sicherheitskonzept des Schnellen Brüters erneut überprüfen und bewerten lassen. Als zuständige oberste Bundesbehörde brachte der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dem Landesminister gegenüber mehrfach zum Ausdruck, dass er mit diesem Vorgehen nicht einverstanden sei. Nachdem der Dissens nicht beigelegt werden konnte, wies der Bundesminister den Landesminister schließlich ausdrücklich an, von der Vergabe des beabsichtigten Sachverständigengutachtens Abstand zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht nahm dieses Verfahren zum Anlass einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses von Bund und Ländern im Bereich der Bun28 BVerfGE 79, 311 . 29 BVerfGE 79, 311 . 30 BVerfGE 81, 310. Einem früheren Vorlageverfahren aus dem Jahre 1977 lag auch ein Rechtsstreit um eine Teilgenehmigung für das Kernkraftwerk Kalkar zugrunde (BVerfGE 49, 89). Wenn im Folgenden von dem Kalkar-Urteil die Rede ist, so ist jedoch stets die spätere Entscheidung aus dem Jahre 1990 gemeint.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

desauftragsverwaltung. Nach Art. 85 GG seien - so das Gericht - die Kompetenzen dergestalt verteilt, dass dem Land unentziehbar die Wahrnehmungskompetenz zustehe, die Sachkompetenz hingegen von vornherein nur unter dem Vorbehalt ihrer Inanspruchnahme durch den Bund. 31 So könne der Bund die Sachkompetenz, indem er das ihm zuerkannte Weisungsrecht in Anspruch nehme, nach eigener Entscheidung an sich ziehen, ohne dass die Inanspruchnahme weiter rechtfertigungsbedürftig sei. 32 Grundsätzlich könne das Land dem Bund nur entgegenhalten, er würde die von ihm beanspruchte Weisungsbefugnis - kompetentiell oder in den Modalitäten - nicht rechtmäßig in Anspruch nehmen.33 Allerdings unterliege der Bund bei Ausübung seiner Weisungskompetenz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Er verstoße aber gegen diese Pflicht nicht schon dann, wenn er von einer ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz Gebrauch mache; vielmehr müsse die Inanspruchnahme der Kompetenz missbräuchlich sein oder gegen prozedurale Anforderungen verstoßen, die aus diesem Grundsatz herzuleiten seien. 34 Die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme bedeute auch nicht, dass der Bund sich um ein Einvernehmen mit dem Land bemühen müsse, bevor er zum Mittel der Weisung greife. 35 Bevor das Bundesverfassungsgericht im Anschluss die konkret angegriffene Weisung an dem zuvor skizzierten Maßstab überprüft, stellt es kategorisch fest, weitere Beschränkungen der Weisungsbefugnis seien aus der Verfassung nicht abzuleiten: „Neben der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten gibt es keine Verfassungsgrundsätze, aus denen Schranken für die Kompetenzausübung in dem von Staatlichkeit und Gemeinwohlorientierung bestimmten Bund-Länder-Verhältnis gewonnen werden könnten." 36 Es folgt sodann der bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit zitierte Satz: „Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar." Dies gelte insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem ausschließlich eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zukomme.37

E. Das Altenpflege-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 2002 Ein Normenkontrollantrag der Bayerischen Staatsregierung gab dem Bundesverfassungsgericht Gelegenheit, sich zu den Voraussetzungen einer Bundeszuständig31 32 33 34 35 36 37

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1. Kap.: Einführung

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keit im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nach dem im Jahre 1994 neu gefassten Art. 72 Abs. 2 GG zu äußern. 38 Das angegriffene Altenpflegegesetz vom 17. November 2000 regelt die Ausbildung zu den Berufen in der Altenpflege erstmals bundeseinheitlich. Die Antragstellerin machte in dem Verfahren vorrangig geltend, der Bund könne sich für wesentliche Teile des Gesetzes auf keinen Kompetenztitel im Katalog der konkurrierenden Zuständigkeiten stützen. Im Übrigen seien aber auch die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht erfüllt, da eine bundesgesetzliche Regelung nicht erforderlich sei. Dem ist das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen nicht gefolgt. Dem Bund fehle zwar die Kompetenz zur Regelung der Berufsausbildung der Altenpflegehelferin und des Altenpflegehelfers; aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19, Nr. 12 und Nr. 7 GG ergebe sich aber eine konkurrierende Zuständigkeit, den Beruf der Altenpflegerin und des Altenpflegers zu normieren. In diesem Umfang sei die bundesgesetzliche Regelung auch zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse nach Art. 72 Abs. 2 GG n. F. erforderlich. In bewusster Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung zur so genannten Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. 39 , die - wie das Bundesverfassungsgericht selbstkritisch in Anlehnung an eine Formulierung von Stern anmerkt - zum „Motor der Vereinheitlichung" geworden sei, betont es nunmehr, die Vorschrift in ihrer jetzigen Fassung werde ihrer Stellung im System des Grundgesetzes, ihrem Sinn und dem Willen des Verfassungsgesetzgebers nur gerecht, wenn ihre Voraussetzungen nicht subjektiv von demjenigen bestimmt werden könnten, dessen Kompetenz gerade beschränkt werden solle. 40 Um die Erforderlichkeitsklausel in diesem Sinne justitiabel zu machen, nimmt das Gericht eine inhaltliche Konkretisierung der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Zielvorgaben vor: der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet sowie der Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse.41 Dem Bundesgesetzgeber verbleibe insoweit kein eigener Beurteilungsspielraum. Die gerichtliche Kontrolle der Auslegung dieser Begriffe sei im Einzelfall umfassend; sie gehe über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle hinaus.42 Das Bundesgesetz müsse zudem, um der Vorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG zu genügen, nach seinen tatsächlichen Auswirkungen geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen. 43 Insoweit sei freilich kein Tauglichkeitsoptimum zu verlangen. Es genüge vielmehr, wenn mit Hilfe des Gesetzes der gewünschte Erfolg gefördert werden könne. Das Kriterium der Erforderlichkeit verweise den Bund darüber hinaus auf den geringstmöglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder. Erforderlich sei die bundesgesetzliche Regelung danach nur soweit, als ohne sie die vom Gesetzgeber für sein Tätig werden im konkret zu regelnden Bereich in Anspruch genommene 38 BVerfG, NJW 2003, S. 41 ff. 39 BVerfGE 1, 264 ff; 2, 213 40 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 41 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 42 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 43 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 3 Heusch

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG, also die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder die im gesamtstaatlichen Interesse stehende Wahrung der Rechtsoder Wirtschaftseinheit, nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden könnte. Eine Bundeskompetenz bestehe indes nicht, wenn landesrechtliche Regelungen zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten gesamtstaatlichen Rechtsgüter ausreichten. 44 Erachtet das Bundesverfassungsgericht einen solchen Eingriff als erforderlich, nimmt es keine weiter gehende Prüfung vor, ob das angestrebte Ziel den Zuständigkeitsverlust der Länder rechtfertigt.

F. Das Urteil des Hamburger Verfassungsgerichts vom 4. Mai 1993 zur Bürgerschaftswahl von 1991 Mit Urteil vom 4. Mai 1993 erklärte das Hamburger Verfassungsgericht die Bürgerschaftswahlen des Jahres 1991 für ungültig, da die Aufstellung der Kandidaten der CDU zu diesen Wahlen unter erheblichen Wahl verstoßen erfolgt sei. 45 Nach der Feststellung, die gerügten Wahlfehler wögen sehr schwer und seien auch für den Ausgang der Wahl erheblich gewesen, führt die die Ungültigerklärung tragende Senatsmehrheit aus: „Im vorliegenden Fall waren die dargestellten Mängel der Kandidatenfrndung so gewichtig, daß sie zur Ungültigkeit der Wahlen führen mußten. Dabei hat das Gericht abgewogen zwischen zwei verfassungsrechtlich gleichermaßen bedeutsamen Elementen der demokratischen Grundordnung: nämlich zwischen der richtigen, ohne gewichtige Verstöße gegen die innerparteiliche demokratische Ordnung zustande gekommenen Zusammensetzung von Bürgerschaft und Bezirksversammlungen und andererseits dem ebenfalls hoch einzuschätzenden Gebot, Wahlbestand und kontinuierliche Arbeitsfähigkeit der Parlamente zu sichern." 46 Nach Darlegung einiger Abwägungsgesichtspunkte heißt es dann weiter: „Im Hinblick auf das verfassungsrechtlich hohe Gut des Wahl- und Parlamentsbestandes hat das Gericht auf der Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes alle denkbaren Möglichkeiten erwogen, unterhalb der Schwelle der erfolgreichen Wahlbeschwerden dafür zu sorgen, daß sich künftig derartige Fehler nicht wiederholen. Eine solche Möglichkeit ist aber jedenfalls im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben."47 Ist das Resultat dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung die Notwendigkeit, die Wahlen für ungültig zu erklären, so spricht nach Ansicht der Senatsmehrheit wiederum der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dafür, der Bürgerschaft bis zu den Neuwahlen ihre Kompetenzen zu belassen: „ . . . gebietet die heutige Verfassungslage, insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip, daß die Bürgerschaft bis zu den nach dieser Entscheidung notwendigen baldigen Wahlen ihre Kompeten44 45 46 47

BVerfG, NJW 2003, S. 41 . HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 ff. HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 .

2. Kap.: Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

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zen - wenn auch in dem Bewusstsein mangelhafter demokratischer Legitimation und dem daraus erwachsenden Maß an Zurückhaltung - im Rahmen der Gewaltenteilung weiter (wahrnimmt)." 48 Zwei Verfassungsrichter stimmten der Entscheidung, die Wahlen für ungültig zu erklären, nicht zu. In ihrem Sondervotum bezweifeln sie die Mandatsrelevanz der Wahlfehler und kritisieren dann - nur dieser Aspekt ist hier von Interesse - das Ergebnis der Folgenabwägung der Senatsmehrheit: „Das HVerfG hätte aber unserer Ansicht nach selbst unter seiner Annahme, daß die festgestellten schweren Wahlrechts- und Demokratieverstöße... mandatsrelevant waren, die Wahlbeschwerden unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaß Verbots als unbegründet zurückweisen müssen.. . " 4 9 Die nachfolgende Abwägung „zwischen wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips" hat nach Meinung der beiden dissentierenden Richter zur Folge, dass die Wahlen nicht für ungültig zu erklären seien.50 Diese Entscheidung des Hamburger Verfassungsgerichts macht ein spezifisches Problem deutlich, dessen sich die vorliegende Arbeit annehmen muss. So ist es offensichtlich möglich, unter Berufung auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu gegenteiligen Ergebnissen zu kommen. Dies ist allgemein aus der grundrechtlichen Rechtsprechung und Literatur bekannt und hat nicht selten dem letztlich gewonnenen Ergebnis den Vorwurf der Beliebigkeit eingetragen. Da die Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig Wertungen impliziert, deren Ergebnis nicht - oder zumindest nicht immer - feststeht, kommt der Frage, wer im gewaltengegliederten Staat letztverbindlich zu dieser Wertung berufen ist, ein entscheidendes Gewicht zu.

2. Kapitel

Begriff und Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes A. Die Terminologie Nachdem im vorangegangenen Kapitel anhand einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und eines Urteils eines Landesverfassungsgerichts die Reichweite des Themas und die Relevanz der aufgeworfenen Frage illustriert worden sind, gilt es nun, die begrifflichen und terminologischen Grundlagen für die weitere systematische Untersuchung zu schaffen. Bevor die Rechtsgrundlage und der Anwendungsbereich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bestimmt wer48 HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . 49 HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . so HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . 3*

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

den können, bedarf es zunächst einer klaren und genauen Vorstellung seines Inhalts. 51 Voraussetzung für eine Verständigung über den Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist wiederum eine eindeutige Terminologie. 52 Und hier beginnen - zumindest auf den ersten Blick - bereits die Schwierigkeiten. Vielfach ist beklagt worden, in Rechtsprechung und Literatur habe sich noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt.53 Selbst das Bundesverfassungsgericht lasse in seiner Rechtsprechung einen stringenten Gebrauch der Termini vermissen. 54 Tatsächlich werden in der Diskussion teilweise mit demselben Begriff unterschiedliche Inhalte bezeichnet und - umgekehrt - verschiedene Begriffe zur Beschreibung desselben Inhalts verwendet. Ist das Bundesverfassungsgericht - wie zu Recht bemängelt wird - in terminologischer Hinsicht auch nicht ganz konsequent, so versteht es doch im Allgemeinen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Oberbegriff der Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.55 Lerche hingegen subsumiert die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit unter der Oberbezeichnung „Übermaßverbot". Der Grundsatz der Geeignetheit sei demgegenüber wegen seiner andersartigen logischen Struktur selbständig.56 Stern hält es an sich, um die doppeldeutige Verwendung des Begriffs der Verhältnismäßigkeit zu vermeiden, für vorzugswürdig, das „Übermaßverbot" - insoweit mit Lerche übereinstimmend - als Oberbegriff zu verwenden. Dieser solle allerdings auch den Grundsatz der Geeignetheit umfassen. 57 Da sich aber der Terminus „Verhältnismäßigkeit" als Oberbegriff durchzusetzen beginne, verwendet er ihn parallel zum „Übermaßverbot" und umschreibt die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne mit dem Begriff „Proportionalität". 58 Die Darstellung des unterschiedlichen Sprachgebrauchs in Rechtsprechung und Literatur ließe sich noch beliebig fortsetzen. 59 Es ist gleichwohl fraglich, ob tatsächlich noch von einem „terminologischen Chaos" 60 gesprochen werden kann, da sich die Differenzen zunehmend auf wenige, klar auszumachende Punkte beschränken.61 Zum einen geht es um die Frage, ob der Grundsatz der Geeignetheit als Teilelement des umfassenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bzw. des Übermaßverbotes anzusehen ist. Zum anderen wird diskutiert, ob die doppeldeutige Verwendung des Terminus der Verhält51 Vgl. Jakobs, S. 8. 52 Vgl. Jakobs, S. 8. 53 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ; Jakobs, S. 8. 54 Jakobs, S. 8 f. 55 BVerfGE 7, 377 ; 19, 330 ; 21, 150 ; 26, 215 ; 27, 211 , 344 ; 28, 264 ; 30, 292 . 56 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 21. 57 Stern, StR I I I / 2 , § 841 1. 58 Stern, StR I I I / 2, §841 1. 59 Vgl. insoweit Jakobs, S. 8 - 11. 60 So Jakobs, S. 11, der es daher auch als eine wesentliche Aufgabe seiner Abhandlung angesehen hat, die Begriffe einem Bezugssystem zuzuordnen. 61 Siehe auch Dechsling, S. 5: Das „Wehklagen" sei kaum noch angebracht.

2. Kap.: Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

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nismäßigkeit als Oberbezeichnung bzw. -begriff und zugleich als Teilelement vermieden werden sollte, indem entweder der umfassende Grundsatz als „Übermaßverbot" bezeichnet oder das dritte Teilelement dieses umfassenden Grundsatzes, um Verwechslungen zu vermeiden, nicht mit „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne", sondern mit „Proportionalität" umschrieben wird. Da die Auseinandersetzung um die richtigen Termini ein weitgehend fruchtloser Streit um Worte ist und „nicht die Terminologie.. .das Thema maßvoller Begrenzung staatlichen Eingreifens beherrschen" 62 darf, werden im weiteren Gang der Untersuchung die Begriffe so verwendet, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts üblich geworden ist: Danach umfasst der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne die drei Teilgrundsätze der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.63 Um Missverständnissen vorzubeugen, ist es geboten, soweit letzterer Teilgrundsatz bezeichnet wird, den einschränkenden Zusatz „im engeren Sinne" hinzuzufügen. Schließlich wird nicht verkannt, dass der Grundsatz der Geeignetheit eine im Vergleich zu den beiden anderen Teilgrundsätzen andersartige logische Struktur aufweist. Gleichwohl erscheint es - wie später zu zeigen ist - weder zwingend noch auch nur ratsam, aus diesem Grund den Grundsatz der Geeignetheit gegenüber den beiden anderen Teilgrundsätzen zu isolieren. 64 Im Übrigen wird im Folgenden, soweit auf Rechtsprechung und Literatur Bezug genommen wird, gegebenenfalls eine abweichende Nomenklatur deutlich gemacht.

B. Der Inhalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Teilweise wird bereits bei der Beschreibung des Inhalts der drei oben genannten Teilelemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der Anwendungsbereich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festgelegt. So besagt etwa nach Wittig der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass bei einer hoheitlichen Maßnahme, die die Rechtssphäre des Einzelnen berühre, das Verhältnis von Mittel und Zweck als angemessen erscheinen müsse. Eng verwandt damit sei der Grundsatz der Notwendigkeit oder Erforderlichkeit, nach dem eine Maßnahme nur dann zulässig sei, wenn nicht derselbe Zweck durch ein Mittel er-

62 Stern, StR I I I / 2, §8411. 63 BVerfGE 67, 157 ; vgl. auch BVerfGE 30, 292 ; 37, 1 ; 39, 210 ; 51, 193 ; 81, 156 . Teilweise verwendet das Bundesverfassungsgericht statt des Terminus der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne den Begriff der Zumutbarkeit, ohne hiermit jedoch einen anderen Inhalt zu verbinden. 64 Auch Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 betont diese Verschiedenartigkeit der logischen Struktur, ohne dass sich hieraus jedoch Folgerungen ergäben. Vgl. auch Jakobs, S. 12, Fn. 84.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

reicht werden könne, das die Rechtssphäre des Einzelnen weniger belaste.65 Eine solche Definition verengt den Anwendungsbereich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das Staat-Bürger-Verhältnis, ohne selbst eine Erklärung für diese Begrenzung zu liefern. Ob diese Begrenzung sachlich zutreffend ist, kann jedoch erst beurteilt werden, wenn zuvor die Rechtsgrundlage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bestimmt ist. 66 Um dem Ergebnis dieser Untersuchung nicht vorzugreifen ist daher zunächst eine allgemeinere, vom Staat-Bürger-Verhältnis abstrahierende und damit andere Anwendungsbereiche des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes offenhaltende Definition seiner Teilelemente vorzuziehen. 67

I. Der Grundsatz der Geeignetheit 7. Definition und logische Struktur des Grundsatzes Ein Mittel ist dann geeignet, den erstrebten Zweck zu erreichen, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg näher rückt. Ungeeignet ist es hingegen, wenn es die Erreichung des verfolgten Ziels erschwert oder keinerlei Wirkung im Hinblick auf dieses Ziel entfaltet. So oder ähnlich wird der Grundsatz der Geeignetheit in seiner allgemeinen Fassung regelmäßig in Rechtsprechung68 und Literatur 6 9 formuliert. Stern hebt hervor, im Rahmen der Prüfung der Geeignetheit sei auch zu untersuchen, ob Maßnahme und Ziel als solche verfassungsrechtlich unbedenklich seien. 70 Damit wird indes die Prüfung, ob ein kausales Verhältnis 71 zwischen dem gewählten Mittel und dem verfolgten Zweck in dem Sinne festgestellt werden kann, dass das Mittel die Erreichung des selbst gesetzten Ziels fördert, mit einer inhaltlichen Wertung befrachtet. Es ist nicht Teil der Eignungskontrolle, das gewählte 65 Wittig, DÖV 1968, S. 817. 66 Siehe hierzu Erster Teil 3. Kapitel. 67 Vgl. auch Jakobs, S. 16. 68 Vgl. etwa BVerfGE 30, 292 ; 33, 171 , allerdings jeweils ohne die negative Umschreibung. 69 Vgl. etwa Schnapp, JuS 1983, S. 850 ; Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ; Stern, StR III/ 2, § 84 I I 2; Bleckmann, Grundrechte, § 12 Rn. 125; Jakobs, S. 59 f. Bekannt ist auch die von Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 283, gewählte Umschreibung. Geeignetheit bedeutet danach, dass der Zustand, den der Staat durch den Eingriff schafft, und der Zustand, in dem der verfolgte Zweck als verwirklicht zu betrachten ist, in einem durch bewährte Hypothesen über die Wirklichkeit vermittelten Zusammenhang stehen. Diese Definition erscheint jedoch nicht vorzugswürdig. Denn ihre vergleichsweise komplizierte sprachliche Form wird nicht durch eine Präzisierung in der Sache gerechtfertigt. Im Übrigen ist es nicht zwingend, den Grundsatz der Geeignetheit auf Eingriffskonstellationen zu beschränken. Die Frage der Eignung stellt sich nämlich auch bei eingriffsneutralen staatlichen Maßnahmen. 70 Stern, StR I I I / 2, §84 I I 2 a. 71 Vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19, Fn. 3.

2. Kap.: Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

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Mittel oder den verfolgten Zweck jeweils am Maßstab des höherrangigen Rechts zu bewerten. Richtigerweise hat die Untersuchung, ob Mittel und Zweck nicht bereits für sich genommen rechtswidrig und insbesondere verfassungswidrig sind, vorab zu erfolgen. Ist dies zu bejahen, stellt sich die Frage der Geeignetheit nicht mehr. 72 Da der Staat aber niemals ein per se rechtswidriges oder gar verfassungswidriges Ziel verfolgen oder ein solches Mittel einsetzen darf, ist diese Vorabprüfung kein Spezifikum der Verhältnismäßigkeitskontrolle. Bereits oben war darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Grundsatz der Geeignetheit durch eine andere logische Struktur geprägt ist als die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.73 Die Feststellung der Eignung einer Maßnahme verlangt keine Abwägung, weder zwischen verschiedenen Mitteln mit ihren jeweiligen Folgen noch zwischen dem eingesetzten Mittel und dem verfolgten Zweck. Gefordert ist eine prognostische Einschätzung über den weiteren Geschehensablauf. Auch diejenigen, die aufgrund dieser andersartigen logischen Struktur des Grundsatzes der Geeignetheit seine begriffliche Isolierung befürworten, sehen jedoch zugleich die Frage der Geeignetheit einer staatlichen Maßnahme als präjudiziell für die nachfolgenden Prüfungen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an. 74 Dies ist auch schlüssig, da eine Maßnahme im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel nur dann erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein kann, wenn sie überhaupt als geeignet im oben beschriebenen Sinne zu qualifizieren ist.

2. Prognoseentscheidung und gerichtliche Kontrolle Die Feststellung, ob eine noch zu ergreifende Maßnahme im oben beschriebenen Sinne zur Zielverwirklichung geeignet ist, bedarf einer Prognose. Wenn sich im Nachhinein erweist, dass das gewählte Mittel den erstrebten Erfolg nicht einmal gefördert hat, stellt sich die Frage, ob deshalb bei einer Beurteilung ex post die Maßnahme als ungeeignet zu qualifizieren ist. Allein die Tatsache, dass die zu beurteilende Maßnahme faktisch nicht an das erstrebte Ziel herangeführt hat, sie im naturwissenschaftlichen Sinn daher als ungeeignet bezeichnet werden könnte, kann hier freilich nicht entscheidend sein. Denn dann hinge die Rechtmäßigkeit einer staatlichen Maßnahme von möglicherweise zufälligen oder sogar äußerst unwahrscheinlichen Entwicklungen ab, die das handelnde staatliche Organ auch bei äußerster Sorgfalt nicht hätte voraussehen können. Gerade weil unvorhersehbare 72 Vgl. Maurer, Staatsrecht, § 8 Rn. 56, hinsichtlich des verfolgten Zwecks. Auch Stern, StR III/ 2, § 84 I I 2 a, differenziert letztlich in dieser Weise, wenn er der isolierten Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von verfolgtem Zweck und Maßnahme eine „Filterfunktion" für die Geeignetheitsprüfung zuschreibt. 73 Vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19 f.; Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 . 74

Vgl. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 19 f.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Geschehensabläufe niemals auszuschließen sind, müsste sich das jeweilige staatliche Organ, um den späteren Vorwurf einer rechtswidrigen Handlung auszuschließen, passiv verhalten. Dies ist offenkundig keine ernsthafte Alternative, zumal auch das staatliche Unterlassen bei Bestehen einer rechtlichen Handlungspflicht rechtswidrig sein kann. Im Kern geht es bei der hier aufgeworfenen Frage darum, welcher Prognosespielraum dem handelnden staatlichen Organ von Rechts wegen zuzubilligen ist, mit der Folge, dass bei Beachtung der Grenzen dieses Entscheidungsspielraums die gewählte Maßnahme auch dann nicht als ungeeignet und damit rechtswidrig zu bewerten ist, wenn der wirkliche Geschehensablauf von der Prognose abgewichen ist. Da im Streitfall die rechtliche Bewertung der Eignung einer Maßnahme von den Gerichten - soweit es um förmliche Gesetze geht, letztverbindlich vom Verfassungsgericht - zu treffen ist, ist damit die Frage des gerichtlichen Kontrollumfangs angesprochen. Prognosespielraum und gerichtliche Kontrollkompetenz entsprechen sich insoweit spiegelbildlich. Und nur vordergründig ist die Beschreibung des Inhalts des Geeignetheitsgrundsatzes von der Festlegung des gerichtlichen Kontrollmaßstabes zu trennen. Denn wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insgesamt, so gewinnen auch seine Teilelemente erst durch das jeweilige Ausmaß an Stringenz und Justitiabilität ihre eigentlichen Konturen. 75 Dennoch soll es hier mit diesen kurzen Ausführungen zunächst sein Bewenden haben. Zum einen setzt die Bemessung des Prognosespielraums des handelnden staatlichen Organs bei staatsorganisationsrechtlichen Maßnahmen und entsprechend die Bestimmung des gerichtlichen Kontrollumfangs voraus, dass zuvor die grundsätzliche Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in diesem Bereich bejaht worden ist. Zum anderen lassen sich der Entscheidungsspielraum des handelnden Organs und die gerichtliche Kontrollkompetenz nicht abstrakt festlegen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in allgemeiner Form in seinem Mitbestimmungsurteil vom 1. März 1979 ausgeführt: „Prognosen enthalten stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil, dessen Grundlagen ausgewiesen werden können und müssen; diese sind einer Beurteilung nicht entzogen. Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ... bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle ... über eine Vertretbarkeitskontrolle ... bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.. . " 7 6 Findet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts Anwendung, werden sich daher allenfalls gewisse allgemeine Kriterien zur Konkretisierung des Prognosespielraums der handelnden staatlichen Stelle angeben lassen.

75 Papier, DVB1. 1984, S. 453 . 76 BVerfGE 50, 290 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.

2. Kap.: Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

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Erst im Rahmen der Auslegung einzelner Normen wird eine normspezifische und detailliertere Analyse möglich sein. 77

II. Der Grundsatz der Erforderlichkeit Nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit dürfen nur solche geeignete Maßnahmen oder Mittel zur Verfolgung eines bestimmten Ziels eingesetzt werden, die die geringst einschneidenden Folgen hervorrufen. 78 Neben dieser positiv gefassten Definition wird die Erforderlichkeit auch negativ umschrieben: Sie fehle, wenn derselbe oder ein besserer Erfolg ebenso mit einem weniger schweren Eingriff erzielt werden könnte. 79 Stimmen diese beiden Definitionen insoweit überein, als nach beiden die Folgen des gewählten Mittels mit den hypothetischen Folgen eines oder mehrerer gleichermaßen zur Zielverwirklichung geeigneter Mittel verglichen werden müssen, so sind es doch nicht nur zwei lediglich sprachlich unterschiedlich gefasste Wendungen ein und desselben Inhalts. 80 Die negative Fassung erweitert nämlich den Entscheidungsspielraum des handelnden staatlichen Organs. Das gewählte Mittel ist schon dann erforderlich im Sinne der negativen Definition, wenn nicht feststeht, dass ein gleich wirksames Mittel weniger belastende Folgen zeitigen würde. Es muss von dem handelnden Organ nicht umgekehrt nachgewiesen werden, es gebe kein milderes Mittel. Damit ist zugleich eine Reduktion des gerichtlichen Prüfungsumfangs verbunden, die gerade im Hinblick auf die Ungewissheit künftiger Folgen einer staatlichen Maßnahme erheblich ins Gewicht fallen kann. Der bei der Erforderlichkeitsprüfung anzuwendende Maßstab lässt sich jedoch hier - insoweit gilt dasselbe wie für die gerichtliche Kontrolle der Geeignetheit einer staatlichen Maßnahme - nicht abstrakt bestimmen. Konkretisierende Maßgaben können entsprechend erst an späterer Stelle benannt werden. Die Frage, ob ein bestimmtes Mittel erforderlich im oben beschriebenen Sinne ist, stellt sich - dies ergibt sich aus der wiedergegebenen Definition - nur bei Maßnahmen, die in irgendeiner Weise belastend sind. Zeigt eine Maßnahme keine belastende Wirkung, kann durchaus ihre Eignung im Hinblick auf den angestrebten Zweck angezweifelt werden. Sie auf ihre Erforderlichkeit zu untersuchen, wäre jedoch widersinnig. 81

77

Vgl. insoweit die Ausführungen im Zweiten Teil. Stern, StR I I I / 2, § 84 I I 3 m. w. N. 7 9 Bleckmann, Grundrechte, § 12 Rn. 126; Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ; Stern, StR I I I / 2, §84 II 3 m. w. N. 78

80 Insoweit sind die Ausführungen bei Stern zumindest missverständlich. Allerdings weist er an späterer Stelle, StR I I I / 2, § 84 II 3 b deutlich auf den Unterschied hin. 81 Dem entspricht, dass der Grundsatz der Erforderlichkeit wie auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, soweit es um das Staat-Bürger-Verhältnis geht, seine Wirkung in erster Linie bei staatlichen Grundrechtseingriffen entfaltet. Soweit es um staatliche Leistungen

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Unsicherheit, soweit es um Grundrechtseingriffe geht, kennzeichnet die Diskussion um die Frage, welche Folgen bei dem Vergleich der in Betracht kommenden Mittel zu berücksichtigen sind: So ist fraglich, ob nur die Auswirkungen in den Blick zu nehmen sind, die sich für den von der Maßnahme unmittelbar Betroffenen ergeben, oder auch die jeweiligen Konsequenzen für Dritte und die Allgemeinheit in die Überlegungen einbezogen werden müssen.82 Richtigerweise dürfen grundsätzlich auch die unterschiedlichen Nebenwirkungen der zu vergleichenden Maßnahmen bei der abschließenden Wertung nicht außer Acht gelassen werden. Denn eine isolierte Betrachtung der unmittelbar bezweckten Folgen einer staatlichen Maßnahme wird einer staatlichen Entscheidung, die regelmäßig eine Vielzahl widerstreitender, auch rechtlich verbürgter Interessen zu berücksichtigen hat, nicht gerecht. Ist das handelnde staatliche Organ rechtlich verpflichtet, eine komplexe Interessenlage bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, wäre es inkonsequent, dies im Nachhinein bei der Beurteilung der Maßnahme auszublenden.

III. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 1. Die Definition des Grundsatzes Die Erforderlichkeit eines Mittels lässt sich nach dem soeben Gesagten nur feststellen, indem die Folgen des gewählten Mittels verglichen werden mit den Folgen alternativer, zumindest gleich geeigneter Mittel. Die Feststellung, das erforderliche Mittel sei auch verhältnismäßig im engeren Sinne, verlangt dagegen, eine Relation zwischen diesem und dem verfolgten Zweck herzustellen. 83 Mithin bezeichnet das Gebot, die Maßnahme dürfe nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne sein, keine absolute Grenze der Belastung, die nicht überschritten werden dürfte. Wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung grundrechtlicher Eingriffe fordert, die Grenze der Zumutbarkeit müsse gewahrt bleiben 84 , wird damit auch keine starre Grenze umschrieben. Die Zumutbarkeit wird vielmehr - wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont - als relative Größe verstanden.85 Diese Klarstellung erscheint geboten, da nach einigen Stimmen in der Literatur die Zumutbarkeit einer Maßnahme unabhängig von dem mit ihr verfolgten Ziel zu beurteilen ist, demnach eine absolute Grenze staatlichen Handelns festlegt. 86

geht, kann nur in Bezug auf die eingesetzten staatlichen Ressourcen fraglich sein, ob deren Einsatz und damit die Belastung des Staates bzw. mittelbar der Steuerbürger erforderlich ist. 82 Vgl. zu dieser Frage Stern, StR III/ 2, § 84 I I 3 m. w. N. 83 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ; Stern, StR I I I / 2, § 84 I I 4. 84 BVerfGE 67, 157 ; 68, 193 ;77, 84 ; 81, 70 ; 83, 1 . 85 BVerfGE 83, 1 : „ . . . ist zu fordern, dass bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt,..."

2. Kap.: Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

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Zur Umschreibung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne finden sich in Rechtsprechung und Literatur - insoweit in Parallele zur Erforderlichkeit - positive wie negative Formulierungen: Ein Mittel müsse in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen87 - so die positive Fassung - bzw. dürfe nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen88 - so die negative Fassung. Bereits oben war im Hinblick auf den Grundsatz der Erforderlichkeit darauf hingewiesen worden, dass die positive und die negative Fassung nicht zwei Beschreibungen desselben Inhalts darstellen. Dies gilt entsprechend auch für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Wenn die Gerichte nämlich nur negativ prüfen, ob eine Maßnahme unangemessen ist, bedeutet dies eine wesentliche Rücknahme der gerichtlichen Kontrolle und damit eine Erweiterung des Handlungsspielraums der Legislative bzw. der Exekutive. 89 Insoweit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne auch von dem Prinzip praktischer Konkordanz zu unterscheiden, das gerade - positiv - eine solche Zuordnung zweier Rechtsgüter verlangt, dass beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen.90 Da die Bestimmung des Gestaltungsspielraums des handelnden Staatsorgans maßgeblich von den Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs abhängt, muss es auch hier mit diesen allgemeinen Hinweisen sein Bewenden haben. Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle staatsorganisationsrechtlicher Akte am Maßstab der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kann sinnvoller Weise erst diskutiert werden, wenn vorab die grundsätzliche Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in diesem Bereich bejaht worden ist.

2. Der Abwägungsmaßstab Die zu leistende Bewertung der Relation zwischen Mittel und Zweck erfordert ihrerseits eine Bezugsgröße, an der Maß genommen werden kann. 91 Da die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht Einfallstor subjektiver Wertungen sein darf, kann der Maßstab nur der Rechtsordnung selbst entnommen werden. Jedoch kann nicht die Rechtsordnung insgesamt Maßstab sein, sondern nur die rechtlichen Normen, die im Vergleich zu dem zu beurteilenden staatlichen Akt höherrangig sind. Demgemäß ist ein förmliches Bundesgesetz grundsätzlich nur am Maßstab der Verfassung zu messen. Das verfassungsrechtliche Gewicht des gesetzlich verfolgten 86 So etwa Lücke, DÖV 1974, S. 769 ff.; siehe auch Pesendorfer, ÖstZÖffRVölkR 28 (1977), S. 283 ff. 87 Wittig, DÖV 1968, S. 817; Gentz, NJW 1968, S. 1600 ; Jakobs, S. 16. 88 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ; Bleckmann, Grundrechte, § 12 Rn. 127. 89 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 . 90 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 . Dies verkennt Bleckmann, JuS 1994, S. 177 , wenn er zwischen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Prinzip praktischer Konkordanz nicht differenziert. 91 Jakobs, S. 23 ff.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Zwecks und der Eingriffsfolgen sind in Relation zueinander zu setzen.92 Staatliche Maßnahmen unterhalb der Ebene des förmlichen Gesetzes sind hingegen, soweit die Verfassung selbst keine abschließende Weitung enthält, zusätzlich am Maßstab der Gesetze im formellen Sinne zu bewerten.

C. Der Grundsatzcharakter Das Bundesverfassungsgericht spricht, ohne dies weiter auszuführen, vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 93 In der Literatur wird dieser Begriff aufgenommen.94 Teilweise werden die Begriffe Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip synonym verwendet. 95 Mit der Kennzeichnung als Rechtsgrundsatz oder -prinzip wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine Fundamentalnorm handelt, die der Rechtsordnung zugrunde liegt, ohne bereits rechtssatzförmig ausgebildet zu sein. 96 Als oberster Rechtsgrundsatz sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - so Stern - selbst eine Rechtsquelle, die auf die gesamte Rechtsordnung einwirke. 97 Weitere konkrete Folgerungen lassen sich aus dieser Qualifizierung zunächst nicht gewinnen. Hier sei lediglich angemerkt, dass die Frage der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes klar zu trennen ist von der Frage seines Anwendungsbereiches.98 Zu Recht weisen Jakobs und Stern daher darauf hin, dass die mangelnde Differenzierung zwischen diesen beiden Fragen mit zu der in der Einleitung der Arbeit angedeuteten Diskreditierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beigetragen hat. 99 Dieser Hinweis leitet über zu der nachfolgenden Untersuchung. Nach den bisherigen, eher allgemeinen Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gilt es nunmehr, die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts zu klären.

92 Wendt, AöR 104 (1979), S. 414 ; Jakobs, S. 24 f. 93 BVerfGE 23, 127 m. w. N. 94

Vgl. etwa nur die Titel der Abhandlungen von Hirschberg und Jakobs. 95 Jakobs, S. 47 m. w. N. 96 Vgl. im Einzelnen die Ausführungen bei Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 , der weiter zwischen normativen bzw. rechtssatzförmigen Prinzipien, zu denen er die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit zählt, und informativen oder offenen Prinzipien, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gehöre, differenziert. Siehe auch Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 46 ff. 97 Stern, StR I I I / 2,8415. 98 Jakobs, S. 55; Stern, StR I I I / 2, § 84 I 5 a. 99 Jakobs, S. 55; Stern, StR I I I / 2, § 84 I 5 a.

3. Kap.: AnwendungsVoraussetzungen

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3. Kapitel

Die Voraussetzungen für eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt nur dann Bedeutung für das Staatsorganisationsrecht zu, wenn er eine entsprechende verfassungsrechtliche Fundierung aufweist. Zunächst gilt es, diese Bedeutung der Rechtsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsprinzips für seinen Anwendungsbereich klarzustellen (dazu unter A.). Im Anschluss werden die verschiedenen, in der Diskussion vertretenen Ansichten zur Rechtsgrundlage dieses Prinzips vorgestellt und, soweit dies für die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts relevant ist, auf ihre Tragfähigkeit untersucht (dazu unter B.). Schließlich wird der Versuch unternommen, eine eigenständige Begründung für eine - auf bestimmte Konstellationen beschränkte - Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts zu entwickeln (dazu unter C.).

A. Die Bedeutung der Rechtsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für seinen Anwendungsbereich Um den Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu bestimmen, erweist es sich als unabdingbar, seine Geltungsgrundlage zu ermitteln. Zwei Überlegungen verdeutlichen die Notwendigkeit, den Grundsatz klar zu verorten: Hätte er lediglich den Charakter eines einfachrechtlichen Grundsatzes, käme ihm mithin kein Verfassungsrang zu - dies wird oder wurde zumindest vereinzelt vertreten 100 - , wäre der Gesetzgeber bei Erlass von Gesetzen nicht an ihn gebunden. Und wäre der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausschließlich grundrechtlich fundiert, schiede er als Maßstab für staatsorganisatorische Maßnahmen selbstverständlich aus. Diese Überlegungen machen deutlich, dass der Rückzug auf die bloße Geltung des Grundsatzes unmöglich ist, wenn es darum geht, seinen Geltungsumfang zu bestimmen. Daher kann es nicht befriedigen, wenn Hans Huber die Suche nach der Geltungsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsprinzips unter Hinweis auf dessen Charakter als Rechtsgrundsatz für müßig erachtet: Allgemeine Rechtsgrundsätze hätten eine andere Geltungsweise als Normen. Sie gälten - so Huber - „von Haus aus", ihre Geltung sei der Rechtsordnung eigentümlich und gehe auf ihre geistige Überzeugungskraft zurück. Deshalb sei es auch nicht nötig, den Grundsatz der Verloo Peters, S. 11 ff.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

hältnismäßigkeit auf die Verfassungsebene zu heben und ihn als Verfassungsgrundsatz zu erklären, um ihm überhaupt Geltung, etwa auch gegenüber dem Gesetzgeber, zu verleihen. 101 Hirschberg greift diesen Ansatz auf und beantwortet die Frage nach dem Geltungsgrund tautologisch: „Ein Grundsatz gilt; sonst wär's keiner." 102 Auf diese tautologische Antwort sei auch der zu verweisen, der den Eindruck habe, der Grundsatz werde überdehnt. Er könne keine Begründung für dessen Reichweite erwarten. 103 Diese Argumentation lässt im Unklaren darüber, wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „ohne förmliche Zuordnung zum Verfassungsrecht" in dieses hineinragen und damit „materiell verfassungsrechtliche Bedeutung " 1 0 4 erlangen soll. Im Übrigen dürfte die insbesondere von Huber 105 und Zimmerli 1 0 6 beklagte uferlose Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch darauf zurückzuführen sein, dass dieses ohne Reflexion auf seine Geltungsgrundlage zur Begründung für billig gehaltene Ergebnisse herangezogen wird. Eine klare Verortung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der konkreten Rechtsordnung ist notwendige Bedingung für die Definition seines Anwendungsbereiches. Dies erfordert - wie die eingangs dieses Kapitels angestellten Kontrollüberlegungen bestätigen - , den Rang des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Normenhierarchie der geltenden Rechtsordnung ausfindig zu machen. Die Notwendigkeit einer solchen Verortung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Bestimmung des Anwendungsbereiches wird denn auch weitgehend erkannt. 107 Allerdings wird diese grundsätzlich richtige Erkenntnis teilweise nicht konsequent zu Ende geführt. So hebt etwa Jakobs hervor, die Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgedankens sei im Hinblick auf seinen Anwendungsbereich „mehr als nur eine theoretische Frage" 108 , um dann aber nach Darstellung der verschiedenen in der wissenschaftlichen Diskussion vertretenen Ansichten festzustellen, die Entscheidung des Meinungsstreites sei, wenn nur die verfassungsrechtliche Fundierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bejaht werde, „wesentlich eine wissenschaftstheoretische Frage", die „keine praktischen Auswirkungen" aufweise. 109 Dies mag zutreffen, soweit allein die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

101 Huber, ZSR 96 I (1977), S. 1 ; siehe auch Zimmerli, ZSR 97 I I (1978), S. 1 . 102 Hirschberg, S. 214. 103 Hirschberg, S. 216. 104 So Zimmerli, ZSR 97 II (1978), S. 1 unter Bezugnahme auf Huber, ZSR 96 I (1977), S. 1 . ios Huber, ZSR 961 (1977), S. 1 . 106 Zimmerli, ZSR 97 II (1978), S. 1 . 107 Vgl. etwa Jakobs, S. 28; Kluth, JA 1999, S. 606 ; v. Arnauld, JZ 2000, S. 276; Schlink, in FS 50 Jahre BVerfG, S. 445 . ios Jakobs, S. 28; vgl. auch Kluth, JA 1999, S. 606 . 109 Jakobs, S. 39.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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im grundrechtlichen Bereich in Frage steht und diese Geltung - lediglich mit unterschiedlichen Begründungen - bejaht wird. 1 1 0 Es gilt aber ebenso offensichtlich nicht, wenn die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes außerhalb des grundrechtlichen Bereichs in Rede steht. Die Frage, ob der Grundsatz (nur) grundrechtlich fundiert ist oder seine Grundlage (auch) in anderen Verfassungsbestimmungen findet, erhält hier erhebliche praktische Relevanz.

B. Der bisherige Diskussionsstand Die Frage der Verortung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann auch heute noch nicht als geklärt angesehen werden. Keine der bisher zu dieser Frage vertretenen Auffassungen konnte sich bisher durchsetzen und zu einer herrschenden Meinung herausbilden. Diese Feststellungen von Jakobs111 geben den Stand der Diskussion, obwohl zwischenzeitlich mehr als 15 Jahre vergangen sind, zutreffend wieder. 112 Im wesentlichen sind folgende Begründungsansätze zu unterscheiden: Von einigen wird - darauf ist bereits oben hingewiesen worden - der Verfassungsrang des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gänzlich bestritten (dazu unter I.). Teilweise wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus einzelnen Grundrechten oder deren Wesen abgeleitet (dazu unter II.), häufig wird er auch dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet (dazu unter III.). Lerche versteht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als selbständigen Teil der dirigierenden Verfassung (dazu unter IV.). Bleckmann meint mit der von ihm so genannten „Kompetenzlehre" eine konsistente Begründung für die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts entwickelt zu haben (dazu unter V.).

I. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im gewaltengegliederten Staat Das Grundgesetz enthält weder im Grundrechtsteil noch an anderer Stelle eine ausdrückliche Normierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 113 Ob er trotz dieses Schweigens verfassungsrechtlich fundiert ist, ist umstritten. 114 ho Vgl. Kluth, JA 1999, S. 606 , der der Ableitung des Übermaßverbotes aus dem Rechtsstaatsprinzip angesichts der grundrechtlichen Fundierung und des weiten Verständnisses der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit keine große praktische Bedeutung zumisst, in Jakobs, S. 28, 39. 112 Auch Merten, in FS für Schambeck, S. 349 , konstatiert im Jahre 1994 im Anschluss an ein älteres Zitat von Dürig, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch niemals exakt lokalisiert worden sei. 113

Kunig, S. 352, weist allerdings richtig darauf hin, dass sich im Grundgesetz außerhalb des Grundrechtsteils einige Einzelausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit finden. So spricht Art. 37 Abs. 1 GG von „notwendigen" Maßnahmen im Zusammenhang mit

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

1. Die Auffassung von Hans Peters Insbesondere Hans Peters hat dezidiert die Auffassung vertreten, es sei mit der Stellung des Gesetzgebers im demokratischen und gewaltengegliederten Staat des Grundgesetzes nicht vereinbar, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Verfassungsrang zuzumessen.115 Die aus der verfassungsrechtlichen Fundierung folgende Geltung des Grundsatzes auch gegenüber dem Gesetzgeber würde zu einer dem Grundgesetz widersprechenden Machtverschiebung zugunsten der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, führen. Der Gesetzgeber sei - so Peters unter Berufung auf eine Entscheidung des Reichsgerichts 116 - selbstherrlich und an keine anderen Schranken gebunden als an diejenigen, die er sich selbst in der Verfassung gezogen habe. Ihm obliege auf allen staatlicher Regelung unterworfenen Lebensgebieten die erststufige Konkretisierung der jeweiligen Staatsidee durch die Schaffung generell-abstrakter Normen. Die ihm danach zugewiesene Funktion könne er aber nur dann erfüllen, wenn er unter den zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten zur Lösung einer ihm erwachsenen Aufgabe eine volle Entschließungsfreiheit habe, der nur eine äußerste Grenze in der geltenden Verfassung gesetzt sei. Es widerspräche dem Wesen der Gesetzgebung, wenn durch die Verfassung derart ins Einzelne gehende Beschränkungen vorgenommen würden, dass für eine echte Verwirklichung der Staatsidee durch Aufstellung abstrakter Normen, mithin für eine als optimal angesehene Entscheiden! Bundeszwang. Art. 72 Abs. 2 GG erwähnt allein die Erforderlichkeit. Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG bindet die Errichtung von bundeseigenen Mittel- und Unterbehörden an einen „dringenden Bedarf'. 114 Die Landesverfassungen sind insoweit beredter als das Grundgesetz. Sie haben teilweise die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rezipiert. So enthält etwa die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992 (GVB1. S. 600) in ihrem Art. 20 Abs. 2 Satz 1 die ausdrückliche Maßgabe, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei jeder nach dieser Verfassung zulässigen Einschränkung eines Grundrechts zu beachten ist. Auch Art. 42 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVB1. S. 625) und Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 (GVB1. I S. 298) erwähnen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als zu beachtende Schranke jeder Grundrechtseinschränkung. Diese positivrechtlichen Normierungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beziehen sich freilich nur auf Eingriffe im Staat-Bürger-Verhältnis. Nur insoweit ist die verfassungsrechtliche Fundierung durch die ausdrücklichen Regelungen unstreitig. Für den staatsorganisationsrechtlichen Bereich bedarf er auch auf Landesverfassungsebene einer anderen Grundlage. Vgl. zur innerstaatlichen Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Schranken-Schranke grundrechtlicher Eingriffe in den nationalen Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Emmerich-Fritsche, S. 157 ff. 115 Peters, S. 11 - 15; im Ergebnis ebenso Huber, ZSR 96 I (1977), S. 1 für das Schweizer Recht. Forsthoff, S. 137 ff. lehnt hingegen den Verfassungsrang nicht kategorisch ab, sondern weist lediglich auf die mit diesem Rang verbundenen Schwierigkeiten im Weiteren hin. 116 RGZ 139, S. 177 ff.

3. Kap.: Anwendungsoraussetzungen

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dung, kein Raum mehr bliebe. Denn während die Rechtsanwendung in einer Erkenntnis^ntscheidung bestehe, habe der Gesetzgeber durch eine Wertungsentscheidung unter gleich denkbaren, gleich verfassungsmäßigen, aber unterschiedlich zweckmäßigen Gestaltungen die bestmögliche Lösung zu finden. Werde die Verfassung durch „allzu viele positive Entscheidungen" aufgeladen, werde der Gesetzgeber, der seinem Wesen nach ein Rechtsgestaltungsorgan sei, zu einem Rechtsanwendungsorgan gemacht.117 In diesem Sinne werde versucht, die Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers insbesondere unter Berufung auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip einzuschränken. Auf dem Wege einer angeblich verfassungsrechtlich gebotenen Mittel-Zweck-Relation, die zwischen der beschlossenen gesetzgeberischen Maßnahme und dem angestrebten konkreten Staatszweck nachgewiesen werden müsse, komme man dann - so Peters - im Ergebnis unter dem Vorwand verfassungsrechtlicher Untersuchungen zu einer rein politischen Prüfung, ob die betreffende Maßnahme, vom Standpunkt des nachträglichen Beurteilers aus gesehen, das optimale Mittel zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks darstelle. Derartige Bestrebungen müssten folgerichtig damit enden, dass schließlich der verfassungsrechtliche Beurteiler, vor allem das Verfassungsgericht, die höhere Instanz gegenüber dem Parlament bilde. Dieser Oberinstanz bliebe dann eine letzte Abwägung aller ins Gewicht fallenden politischen Gesichtspunkte und damit eine endgültige Entscheidung über Richtigkeit oder Unrichtigkeit der vom Parlament bereits vorgenommenen Abwägung überlassen. Dass man sich mit solchen Ansichten außerhalb der Vorschriften des Grundgesetzes, ja sogar jeglichen demokratischen Verfassungsrechts bewege, werde an den letzten Konsequenzen deutlich. 118

2. Kritik:

Gewaltenteilung nach Maßgabe der Verfassung

Ist der Prämisse, der Gesetzgeber könne frei gestalten, soweit die Verfassung selbst ihm keine Schranken setze, zuzustimmen, so ergibt sich doch aus ihr keineswegs mit der von Peters suggerierten Zwangsläufigkeit die Konsequenz, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit habe keinen Verfassungsrang. Es bleibt die Frage, ob dieser Grundsatz nicht gerade Teil der durch die Verfassung (auch) dem Gesetzgeber auferlegten und von ihm zu beachtenden Beschränkungen ist. Zu deren Beantwortung trägt die Feststellung, der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers werde allein durch die Verfassung begrenzt, ersichtlich nichts bei. Zwar polemisch überspitzt, aber dennoch im Kern zutreffend ist die Analyse Peters', die Bindung des Gesetzgebers an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenze nicht nur dessen Gestaltungsspielraum, sondern erweitere notwendig zugleich die Kontrollbefugnisse des Verfassungsgerichts, das die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Schranken zu überprüfen habe. Wie das aufgezeigte Spannungs117 Peters, S. 11 f. us Peters, S. 14 f. 4 Heusch

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Verhältnis zwischen agierendem Parlament und kontrollierender Verfassungsgerichtsbarkeit aufzulösen ist, bestimmt jedoch allein die konkrete Zuordnung in der Verfassung. Der schlichte Hinweis auf die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments und den Grundsatz der Gewaltenteilung führt insoweit nicht weiter. Mag auch der Bundestag das einzige unmittelbar gewählte Verfassungsorgan des Bundes sein, so sind gleichwohl auch die anderen Verfassungsorgane demokratisch legitimiert. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen nämlich ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassunggebers. 119 Die Verfahren zur Bestellung der Richter verleihen zudem eine mittelbare personelle demokratische Legitimation. Dies schließt aus, unter Hinweis auf die unmittelbare demokratische Legitimation des Parlaments die konkreten Kompetenzzuordnungen der Verfassung im Sinne einer Allzuständigkeit des Parlaments zu überspielen. 120 Das Grundgesetz hat dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Überprüfung und auch Verwerfung von Parlamentsgesetzen im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit eingeräumt. Diese Kontrolle des Gesetzgebers liegt in der Logik des Verfassungsstaates. 121 Wenn das Gericht auf entsprechenden Antrag hin tätig wird und von dieser Kompetenz Gebrauch macht, maßt es sich also keine ihm nicht zustehenden Machtbefugnisse an, sondern erfüllt gerade die ihm verfassungsrechtlich übertragene Aufgabe. Dies darf freilich nicht dazu führen, dass das Bundesverfassungsgericht sich nunmehr an die Stelle des Gesetzgebers setzt. Es hat den dem Parlament eingeräumten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum zu respektieren. Da es keinen Kontrolleur des Kontrolleurs gibt, obliegt es dem Gericht, diesen Freiraum des Gesetzgebers nicht zu beschneiden. Das Grundgesetz vertraut insoweit dem richterlichen Amtsethos der Bundesverfassungsrichter. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in der Vergangenheit die Grenzen seiner Entscheidungsbefugnisse gegenüber dem Gesetzgeber stets betont. Dies gilt insbesondere auch, soweit das Bundesverfassungsgericht die Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Grundrechtseingriffe zu überprüfen hatte. Bereits oben 122 ist auf die differenzierte Rechtsprechung des Gerichts zum Prognosespielraum des Gesetzgebers bei derartigen Eingriffen hingewiesen worden. Dies zeigt, dass es nicht einer Verbannung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Verfassungsrecht bedarf, um den Gesetzgeber vor einer „Entmachtung" durch das Bundesverfassungsgericht zu schützen. Sind nach alledem die von Peters gegen eine verfassungsrechtliche Fundierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgebrachten Argumente nicht überzeugend, ist damit gleichwohl noch nicht im Umkehrschluss der Verfassungsrang dieses Grundsatzes dargetan. Es ist vielmehr über die Widerlegung der Gegen119 BVerfGE 49, 89 . 120 BVerfGE 49, 89 . 121 Ossenbühl, in FS 50 Jahre BVerfG, S. 33 . 122 Siehe Erster Teil 2. Kapitel B. I. 2.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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argumente hinaus der positive Nachweis seiner Verankerung in der Verfassung erforderlich.

II. Grundrechtsspezifische Begründungen für die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes In der Literatur finden sich verschiedene Ansätze, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus den Grundrechten der Verfassung abzuleiten. Zum Teil wird der Grundsatz in den einzelnen Freiheitsrechten verortet. So folgt etwa nach Auffassung von Baumann aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 GG), Haft dürfe nur normiert und verhängt werden, wenn eine Notwendigkeit dazu bestehe und die Proportionalität des Eingriffs gewahrt sei. 123 Jescheck entnimmt ebenfalls Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, allerdings in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 GG, dass Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft im rechten Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe stehen müssen.124 Auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG rekurriert auch Dürig, um den Standort des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit „wenigstens für den Grundrechtsteü" zu benennen.125 Es sei eine Degradierung des Menschen zum Objekt, wenn man ihn mit härteren Mitteln belege, als sie von dem zu erreichenden Gemeinwohlzweck gefordert würden. Jedes Mehr an staatlichen Mitteln entpersönliche im gleichen Umfang den Menschen zum Mittel staatlicher Zwecke. Dürig führt damit Art. 19 Abs. 2 GG selbst auf die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG zurück. Bereits zuvor hatte der Bundesgerichtshof Art. 19 Abs. 2 GG als sedes materiae ausgemacht: Ein Grundrecht werde durch einen gesetzlichen Eingriff dann in seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensmäßige Geltung und Entfaltung des Grundrechts stärker eingeschränkt werde, als dies der sachliche Anlass und Grund, die zu dem Eingriff geführt hätten, unbedingt zwingend geböten. 126 Wittig meint hingegen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit liege am Schnittpunkt verschiedener Einzelregelungen des Grundgesetzes, sein Standort lasse sich aber am ehesten im Bereich des Willkürverbotes fixieren. 127 Schwab führt die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Wesen der Grundrechte als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers zurück. 128 Merten leitet das Übermaßverbot aus dem freiheitlichen Baugesetz der Verfassung her. Es diene dem Schutz des Prinzips „Freiheit". 129 Alexy 1 3 0 und ihm folgend Borowski 131 gehen schließ123 Baumann, JZ 1962, S. 649 . 124 Jescheck, GA 1962, S. 65 . 125 Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 . Die wörtlich zitierte Einschränkung lässt darauf schließen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Auffassung von Dürig auch außerhalb des Grundrechtsteils - auf einer anderen Rechtsgrundlage - Geltung beansprucht. 126 BGH, DVB1. 1953, S. 471 unter Zitierung eines früheren Gutachtens. 127 Wittig, DÖV 1968, S. 817 . 128 Schwab, JuS 1983, S. 850 unter Bezug auf BVerfGE 19, 342 . 4*

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

lieh davon aus, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folge logisch aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte. Prinzipien als Optimierungsgebote forderten ihre möglichst weitgehende Realisierung. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei Mittel, diese zu gewährleisten. 132 Die verschiedenen, soeben wiedergegebenen Begründungsansätze haben in der Literatur zum Teil Zustimmung, zum Teil aber auch heftige Kritik erfahren. Es ließen sich auch noch weitere Begründungsansätze anführen, die allerdings mit den bisher genannten gemein hätten, dass sie spezifisch auf staatliche Eingriffe in Grundrechte, das heißt auf das Staat-Bürger-Verhältnis bezogen sind. Da sie sich somit von vornherein nicht als tragfähige Rechtsgrundlage für die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts erweisen 133 , können sie hier insoweit außer Acht gelassen werden. 134 Festzuhalten ist jedoch das gemeinsame Anliegen aller grundrechtsbezogenen Begründungsversuche, einen wirksamen Grundrechtsschutz zu statuieren. Auf den Grundgedanken, dass ein effektiver Schutz der Freiheit des Einzelnen verlangt, die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten ihrerseits nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu begrenzen, wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Auch die vornehmlich von Alexy vertretene Ableitung des Grundsatzes aus dem sich aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte ergebenden Optimierungsgebot kann für die Entwicklung eines eigenen Ansatzes fruchtbar gemacht werden, obgleich gegen den Begriff der Optimierung einzuwenden ist, dass es bei der Abwehr von Eingriffen nicht um die Optimierung des zu schützenden Bereichs, sondern um dessen möglichst weitgehende Schonung geht. Im Übrigen fragt sich, ob dieser Gedanke der Schonung gewisser in der Verfassung umschriebener Bereiche notwendig mit deren grundrechtlichem Charakter verbunden ist. 1 3 5

III. Das Rechtsstaatsprinzip als Geltungsgrundlage 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Darstellung der Judikatur Das Bundesverfassungsgericht hat, soweit es in seinen Entscheidungen überhaupt die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begründet hat, sehr 129 Merten, in FS für Schambeck, S. 349 . 130 Alexy, S. 100. 131 Borowski, S. 115. 132 Alexy, S. 100 f.; Borowski, S. 74 f. 133 Vgl. Merten, in FS für Schambeck, S. 349 . 134 Die verschiedenen Ansichten sind bei Langheineken, S. 72 ff. ausführlich referiert. Den Meinungsstand geben auch Jakobs, S. 30 ff. und Dechsling, S. 83 ff. wieder. 135 Dazu in diesem Kapitel unter C.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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früh und immer wieder das Rechtsstaatsprinzip als Geltungsgrundlage genannt. So heißt es in einem Urteil aus dem Jahre 1957, aus den allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, folge für das Strafrecht, dass die angedrohte Strafe in einem gerechten Ausgleich zur Schwere der Tat und zu dem Verschulden des Täters stehen müsse. 136 Zur Frage der Anrechnung einer im Ausland erlittenen Haft hat das Bundesverfassungsgericht bemerkt, es sei insbesondere sorgsam abzuwägen, ob ein an sich zulässiger Eingriff in denjenigen Grenzen verbleibe, die der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ziehe. 137 Zwar ging es in diesen Entscheidungen jeweils um die Grenzen staatlicher Eingriffe in Grundrechte, jedoch könnte der Anschein entstehen, das Bundesverfassungsgericht habe mit dem Rechtsstaatsprinzip eine allgemeinere Rechtsgrundlage für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz benannt, die seinen Anwendungsbereich über den Grundrechtsteil hinaus begründe. Eine solche Deutung könnte sich auch auf eine Entscheidung des Gerichts aus dem Jahre 1968 berufen, nach der sich die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben und deshalb Verfassungsrang haben. 138 Eine solche Interpretation würde sich allerdings an anderen Entscheidungen des Gerichts stoßen. Eine Gesamtschau der bisherigen bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung führt eher zu der Annahme, dass auch die Verortung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rechtsstaatsprinzip nicht seine Geltung außerhalb des Staat-Bürger-Verhältnisses begründen soll. Schon früh hat das Bundesverfassungsgericht, wenn es zur Begründung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Bezug genommen hat, diesen in enge Verbindung zu den Freiheitsrechten gebracht. 139 Wenn das Gericht feststellt, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit " ergebe sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst" 140 , wird trotz der kryptischen Formulierung die Grundrechtsbezogenheit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes deutlich. Jede Unklarheit im dogmatischen Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht dann im bereits zitierten Kalkar-Urteil auszuräumen versucht. Apodiktisch heißt es dort, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen seien im kompetenzrechtlichen Bund-LänderVerhältnis nicht anwendbar. Dies gelte insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem ausschließlich eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zukomme. 141 Hiervon abweichend bezeichnet das Bundes-

136 BVerfGE 6, 389 . 13V BVerfGE 29, 312 . 138 BVerfGE 23, 127 (Hervorhebung durch Verfasser). 139 Siehe etwa BVerfGE 17, 306 : „Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt - namentlich wenn er in Verbindung mit der allgemeinen Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers gesehen wird, wie sie in Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt - , daß der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt..." 140 BVerfGE 19, 342 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Verfassungsgericht freilich in seinem Maastricht-Urteil den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Kompetenzausübungsschranke im Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedstaaten.142 Hieraus kann indes wohl keine grundsätzliche Änderung der Rechtsprechung des Gerichts auch im Hinblick auf die innerstaatlichen Verhältnisse gefolgert werden. Denn eine dem Art. 3 b Abs. 2 EGV a. F. vergleichbare Regelung, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip ausdrücklich für den Bereich des Staatsorganisationsrechts normiert, fehlt im Grundgesetz. Welche Bedeutung den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 7. Mai 2001 zum Schleswig-Holsteinischen Naturschutzgesetz zuzumessen ist, wonach bei abstrakt-generellen Eingriffen in die Planungshoheit der Gemeinden „der allgemeine verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten" sei 1 4 3 , bleibt unklar. Eine Rechtsgrundlage für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird hier nicht genannt. Im Altenpflege-Urteil vom 24. Oktober 2002 schließlich rekurriert das Bundesverfassungsgericht nicht auf allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze, um die Kriterien der Eignung und Erforderlichkeit als Maßstab eines bundesgesetzlichen Eingriffs in die Länderzuständigkeiten zu begründen. Das Gericht leitet deren Geltung vielmehr anknüpfend an den Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG insbesondere aus dem insoweit unmissverständlichen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers her. Es fehlt freilich eine Klarstellung, wie sich die normspezifische Geltung dieser Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu dem in der Kalkar-Entscheidung ausgesprochenen allgemeinen Ausschluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im kompetenzrechtlichen Gefüge von Bund und Ländern verhält.

b) Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint in ihrer Gesamtheit wenig stringent und fundiert. Lässt das Gericht in der Kalkar-Entscheidung für die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Staat-Bürger-Verhältnis jede Begründung vermissen, so gilt dies letztlich auch für die Ableitung dieses Grundsatzes aus dem Rechtsstaatsprinzip. Schon Lerche hat in seiner Habilitationsschrift im Zusammenhang mit den rechtsstaatlichen Begründungsansätzen konstatiert, in die Rechtsstaatsklausel werde vorher hineingelegt, was hinterher aus ihr herausgelesen werden solle. 144 Ungeachtet des Streits, ob das Grundgesetz über die konkreten rechtsstaatlichen Einzelregelungen überhaupt ein allgemeines Rechtsstaatsprinzip, aus dem sich weitergehende Folge141 BVerfGE 81, 310 . 142 BVerfGE 89, 155 . 143 BVerfGE 103, 332 . 144 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 32 - 34. Diese Kritik ist später von mehreren Autoren wiederholt worden, vgl. die Nachweise bei Dechsling, S. 114, Fn. 148.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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rungen ergeben, normiert 145 , kann zumindest der bloße Rekurs auf das Rechtsstaatsprinzip keinesfalls genügen. Dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich keine tragfähige Rechtsgrundlage für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bereich des Staatsorganisationsrechts entnehmen. Dasselbe gilt für das Schrifttum, soweit es ebenfalls lediglich pauschal auf das Rechtsstaatsprinzip 146

verweist. Die punktuelle normspezifische Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bzw. seiner beiden ersten Teilelemente im Altenpflege-Urteil zielt von vornherein nicht auf eine allgemeine Grundlegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für das Staatsorganisationsrecht. 147 Gleichwohl wird sich der dieser Entscheidung offenbar zugrunde liegende Gedanke, Eingriffe in verfassungsunmittelbar zugewiesene Zuständigkeiten seien auch im Staatsorganisationsrecht auf ihre Eignung und Erforderlichkeit zu überprüfen, als weiterführend erweisen.

2. Auffassungen im Schrifttum: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als konkrete Einzelausprägung des Rechtsstaatsprinzips a) Geltung nur im Staat-Bürger-Verhältnis Wittig verknüpft zur Verortung des Verhältnismäßigkeitsprinzips das Rechtsstaatsprinzip mit dem sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebenden Willkürverbot. Übermäßige Akte verstoßen seiner Ansicht nach gerade deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil sie willkürlich sind. So gesehen sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Konkretisierung des Rechtsstaatsgedankens und zwar gerade dort, wo dieser Gedanke mit den Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen des vorverfassungsmäßigen Gesamtbildes zusammenhänge.148 Grabitz leitet den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unmittelbar aus der Gerechtigkeitsidee ab, die er ihrerseits dem Rechtsstaatsprinzip zurechnet. 149 Nach dieser Konzeption ergeben sich jedoch Vorgaben aus der rechtsstaatlich fundierten Gerechtigkeitsidee ausschließlich für das Verhalten des Staates gegenüber den Bürgern. Entsprechend spricht Grabitz dem Übermaßverbot auch nur für die Freiheitsrechte Bedeutung zu. 1 5 0 Eine weitere Diskussion dieser Ansätze erscheint hier nicht angezeigt, da sie, wenn und soweit sie auf das Staat-Bürger-Verhältnis bezogen bleiben, im Ergebnis auch nicht die Relevanz des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Staatsorganisationsrecht zu begründen vermögen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass Wittig mit dem 145 14

Vgl. Kunig, S. 464,481 passim; siehe auch Dechsling, S. 115 ff. 6 Vgl. etwa Degenhan, Staatsrecht I, Rn. 390.

147

Dies ist freilich auch nicht Aufgabe einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung. 148 Wittig, DÖV 1968, S. 817 (Hervorhebung im Text). 149 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 . 150 Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Gedanken des Willkürverbotes einen wesentlichen Aspekt, der auch für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bedeutsam ist, erfasst hat. Sowohl das Willkürverbot als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind darauf gerichtet, jeweils als Maßstab mit rationalen Kriterien beliebige staatliche Entscheidungen auszuschließen. An späterer Stelle ist zu überlegen, ob das Willkürverbot - losgelöst von Art. 3 Abs. 1 GG - über den grundrechtlichen Bereich hinaus Geltung beansprucht und in welchem Verhältnis es zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht. 151 Wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ausprägung des Gedankens des rechten Maßes bezeichnet und letzterer dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet wird 1 5 2 , ist damit eine wesentliche Funktion des Verhältnismäßigkeitsgedankens angesprochen. Unzweifelhaft ist es das Grundanliegen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, staatliche Tätigkeit in die Schranken zu weisen. Jedoch besteht das Gebot des Maßhaltens bzw. das Verbot des Unmäßigen nicht um seiner selbst willen. Es bleibt eine Leerformel, wenn nicht zugleich festgelegt wird, um wessentwillen Maß gehalten werden muss. Soweit dem in die Grundrechte der Bürger eingreifenden Staat Beschränkungen auferlegt werden, geschieht dies, um die Freiheit der Bürger möglichst zu bewahren. Für das Staatsorganisationsrecht lassen sich aus dem rechtsstaatlichen Mäßigungsgebot entsprechend nur dann Konsequenzen ableiten, wenn dargetan wird, dass es auch hier - ähnlich wie bei den Grundrechten - Bereiche gibt, die von unmäßigen innerstaatlichen Eingriffen freizuhalten sind.

b) Erweiterter Anwendungsbereich Ausdrücklich sprechen Herzog und Sachs dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den sie ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankert sehen, Geltung auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts zu. 1 5 3 Nach Herzog wird die Frage der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns besonders bei Eingriffen in den Freiheitsraum der Bürger aktuell. Der Grundgedanke des Prinzips, die staatliche Gewalt grundsätzlich an Begründungen zu binden und damit messbar zu machen, habe aber auch jenseits der Freiheitsrechte seine Berechtigung, wie etwa bei Maßnahmen des Bundes gegenüber den Ländern oder staatlichen Maßnahmen gegenüber Selbstverwaltungsträgern. 154 Sachs bejaht die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Staatsorganisationsrechts, soweit dessen Regelungen Einwirkungen auf geschützte Rechtspositionen nach dem Regel-Ausnahme-Schema

151 Dazu in diesem Kapitel C. III. 3. b). 152 Stern, StR I ,§ 841 5. 153 Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V I I Rn. 72; Sachs, in Sachs, GG, Art. 20 Rn. 146 f. 154 Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 72. So auch Stettner, S. 401; Sommermann, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 308.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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vorsehen. 155 Der Grundsatz passe auf alle Eingriffe in gesicherte Rechtspositionen, solange sie nur als berechenbare Ausnahmen erschienen. 156 Damit benennt Sachs zwar wesentliche strukturelle Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Mit diesem Hinweis kann es jedoch nicht sein Bewenden haben. Denn allein das Vorliegen der rechtslogischen Bedingungen für eine Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit besagt noch nicht, dass der Grundsatz tatsächlich zur Anwendung kommen müsste. Insoweit bedarf es noch einer weiteren Begründung.

c) Das Gebot gerechter Abwägung und die so genannte Kompetenzlehre Bleckmann leitet den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip ab, das nicht mehr subjektiv zu verstehen, sondern in ein objektives Prinzip verwandelt sei. 157 Bleckmanns Konzeption ist durch zwei Begründungsansätze gekennzeichnet. So sei - dies ist der erste Ansatz - die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch im Staatsorganisationsrecht aus dem rechtsstaatlich fundierten Gebot gerechter Abwägung abzuleiten (dazu unter aa). Im Anschluss unternimmt Bleckmann den Versuch, das Verhältnismäßigkeitsprinzip vom Eingriffsdenken vollständig zu lösen und mit der Ausübung staatlicher Kompetenzen zu verbinden (dazu unter bb). 1 5 8 Abgesehen davon, dass das Verhältnis dieser beiden Begründungsansätze nicht geklärt scheint, begegnet die Argumentation Bleckmanns auch im Übrigen Bedenken (dazu unter cc). aa) Das umfassende Gebot gerechter Abwägung Letztes Ziel des Rechtsstaatsprinzips sei die Realisierung der materiellen Gerechtigkeit. Diese verlange eine sachlich-gerechte Abwägung aller durch die jeweilige staatliche Entscheidung betroffenen Interessen. Aus diesem Abwägungsgebot ergäben sich auch die Prinzipien der Geeignetheit und Erforderlichkeit. 159 Das Grundgesetz, das in den Grundrechten private Interessen schütze, erstrecke seinen Schutz daneben auch auf bestimmte öffentliche Interessen. So schütze die Verfassung im übertragenen Sinne die „Grundrechte" der Länder, der Gemeinden, der staatlichen Organe und Mandatsträger. Diese „Grundrechte" dienten dem Schutz von Kompetenzen und Mitwirkungsrechten, die sämtlich auf die Durchsetzung von öffentlichen Interessen gerichtet seien. Insoweit sei dem Grundgesetz zu ent155 156 157 158 159

Sachs, in Sachs, GG, Art. 20 Rn. 147; so auch v. Arnauld, JZ 2000, S. 276 . Sachs, in Sachs, GG, Art. 20 Rn. 146. Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . Bleckmann, JuS 1994, S. 177 ff. Bleckmann, JuS 1994, S. 177 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

nehmen, dass diese Kompetenzen und Mitwirkungsrechte in den durch das Rechtsstaatsprinzip entwickelten Formen geschützt werden müssten. Entscheidend für eine solche Übertragung des Rechtsstaatsprinzips auch auf Eingriffe in diese „Grundrechte" sei dabei in erster Linie, dass sich die Kompetenzen und Befugnisse der Länder und Gemeinden auf alle örtlichen Angelegenheiten erstreckten. Diesen umfassenden und deshalb zu maximierenden Mitwirkungsbefugnissen stünden ebenfalls zum größeren Teil durch die Verfassung geschützte öffentliche Interessen des Bundes bzw. der Länder gegenüber. Da die sich gegenübertretenden Interessen jeweils durch umfassende Generalklauseln geschützt seien, biete sich nur eine Interessenabwägung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an. 1 6 0 Darüber hinaus schütze das Grundgesetz auch gewisse öffentliche Interessen nicht nur gegen Eingriffe der übergeordneten Körperschaften oder Organe, sondern auch gegen Eingriffe desselben, das heißt des zur Entscheidung berufenen Organs. Daher greife der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa auch bei Eingriffen in das verfassungsrechtlich geschützte öffentliche Finanzinteresse ein. 1 6 1 Schließlich werde die Erstreckung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den Schutz von rechtlich relevanten öffentlichen Interessen zusätzlich dadurch gerechtfertigt, dass in den meisten Fällen das Allgemeininteresse nichts anderes sei als die Summe der durch das Grundgesetz geschützten Privatinteressen. So sei etwa das Finanzinteresse des Staates schützenswert, weil die staatlichen Aufgaben durch Steuern finanziert werden müssten, die Erhebung der Steuer aber in die Grundrechte der Steuerzahler eingreife. 162

bb) Die so genannte Kompetenzlehre Die im Verhältnis zu dem soeben dargestellten Begründungsansatz eigenständige so genannte Kompetenztheorie löst den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vollständig aus der Verknüpfung mit den zu schützenden privaten oder öffentlichen Interessen und verbindet ihn mit der staatlichen Kompetenz. Dürig hatte bereits im Jahre 1953 betont, dass das öffentliche Interesse nicht nur Ermächtigung, sondern auch Schranke jeder Staatstätigkeit sei. Jedes Mehr als die zur Zweckerreichung gerade erforderlichen Mittel sei vom öffentlichen Interesse nicht mehr gedeckt und somit rechtswidrig. Was unverhältnismäßig sei, sei rechtslogisch fehlendes öffentliches Interesse am angewendeten Mittel. 1 6 3 Das Charakteristische dieser Position ist der Wechsel der Blickrichtung: Nicht mehr aus Sicht der zu schützenden Rechtsgüter oder Rechtsbereiche wird argumentiert, sondern aus der Perspektive des handelnden Staates. Das Verbot, unver160 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . 161 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . 162 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . 163 Dürig, JZ 1953, S. 193 ; zur Kritik an dieser Ableitung siehe Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 44.

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hältnismäßig zu agieren, ist keine Beschränkung mehr, die gewissermaßen von außen dem staatlichen Handeln auferlegt wird, sondern ist eine jedem staatlichen Handeln bereits immanente Grenze. In diesem Sinne ist nach Bleckmann die Kompetenz des Staates stets auf die Realisierung legitimer öffentlicher Interessen beschränkt. Die Kompetenz des Staates ende schon dann, wenn eine Maßnahme zur Durchsetzung legitimer öffentlicher Interessen nicht geeignet und nicht erforderlich sei. 164 Damit wird der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus seiner Verknüpfung mit Grundrechtseingriffen gelöst. Denn der Staat bedürfe - so Bleckmann - bei seiner gesamten Tätigkeit und nicht nur bei Eingriffen in die Grundrechtssphäre einer besonderen Legitimation durch das Allgemeininte„„^„ „ 165

resse. Die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit gälten auch deshalb für jede Art der Staatstätigkeit, weil die staatlichen Maßnahmen regelmäßig den Einsatz personeller, sachlicher und finanzieller Mittel voraussetzten, die letztlich nur durch Erhebung von Steuern, damit aber durch Eingriff in die Grundrechte der Steuerzahler aufgebracht werden könnten. Dies ist nur scheinbar eine Anknüpfung an den gerade als zu eng angesehenen grundrechtsspezifischen Begründungsansatz. Denn dem staatlichen Handeln werden nicht Grenzen gesetzt mit Rücksicht auf ein möglicherweise gerade durch den staatlichen Akt unmittelbar betroffenes Grundrecht. Vielmehr wird unabhängig davon, ob der staatliche Akt unmittelbar in Grundrechte eingreift, die staatliche Handlungsbefugnis als solche mit Rücksicht auf die Grundrechte der Steuerzahler begrenzt. Die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne auch für den Bereich des Staatsorganisationsrechts leitet Bleckmann ebenfalls aus der Bindung an das öffentliche Interesse ab: Das Staatsorganisationsrecht bemühe sich auf der einen Seite, die einzelnen öffentlichen Interessen so auf die Behörden zu verteilen, dass das jeweilige öffentliche Interesse optimal durchgesetzt werde. Auf der anderen Seite ziele das Organisationsrecht darauf, die Zusammenarbeit zwischen diesen staatlichen Organen so zu bestimmen, dass alle öffentlichen Interessen richtig miteinander abgewogen würden. Deshalb fließe aus der Gesamtheit der Regeln des Staatsorganisationsrechts der Grundsatz des „objektiven" Rechtsstaatsprinzips, der die Staatsorgane zu einer sachgerechten Abwägung auch der öffentlichen Interessen verpflichte. 166 Dass der mit der Kompetenz verbundene Begriff der öffentlichen Aufgabe auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne umfasse, ergebe sich zudem aus der Bindung des Staates an das Gemeinwohl, das gerade die „Resultante" der Abwägung der im Einzelfall betroffenen öffentlichen Interessen darstelle. 167 Die Konsequenzen einer so weitreichenden Verrechtlichung 164 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 ; ders., Grundrechte, § 12 Rn. 129. 165 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 , der sich insoweit auch auf BVerfGE 42, 312 beruft. 166 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . 167 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 .

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

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auch politischer Abwägungsentscheidungen vermeidet Bleckmann, indem er die Abwägung der öffentlichen Interessen dem Parlament in Letztverantwortung überantwortet. Eine richterliche Kontrolle finde insoweit nicht statt. 168 cc) Kritik Bleckmann vertritt zwei Begründungsansätze, die sich nur insoweit decken, als beide dem staatlichen Handeln - auch mit Blick auf die mittelbaren Belastungen des Steuerzahlers, der die notwendigen Finanzmittel für das jeweilige Handeln aufzubringen habe, - Beschränkungen auferlegen. Im Übrigen bleibt jedoch das Verhältnis beider Ansätze zueinander ungeklärt. Auch unabhängig davon begegnen beide Argumentationen jeweils durchgreifenden Einwänden. Ist der Ansatz, das Grundgesetz wolle nicht nur die Freiheiten der Bürger, sondern auch andere Bereiche gegen beliebige Eingriffe schützen, zutreffend, so führt gleichwohl die von Bleckmann befürwortete Ausdehnung der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf alle staatlich zu verantwortenden Abwägungsentscheidungen in die Irre. Der auf eine konkrete Mittel-Zweck-Relation bezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verliert seine Konturen, wenn er von dieser spezifischen Konstellation gelöst wird. Denkbar sind insbesondere auch Abwägungsentscheidungen, die das jeweilige Organ nach politischem Ermessen und lediglich unter Beachtung verfassungsrechtlich festgeschriebener Zielvorgaben oder Leitlinien zu treffen hat. Räumt das nach der Verfassung zur Entscheidung berufene staatliche Organ in einer solchen Konstellation, weil die Zielvorgaben im konkreten Fall in Widerstreit geraten, der einen Vorrang vor der anderen ein, so handelt es sich dabei um eine Abwägungsentscheidung, die bereits ihrer inneren Struktur nach einer Überprüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zugänglich ist. Zur Auflösung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes trägt zudem bei, nicht allein die - beabsichtigten oder unbeabsichtigten - unmittelbar herbeigeführten Folgewirkungen einer staatlichen Handlung in den Blick zu nehmen, sondern auch die bloß mittelbaren Auswirkungen auf die Steuerzahler. Scheinbar wird so aus jeder staatlichen Maßnahme wenigstens ein mittelbarer Eingriff in das Vermögen der Bürger. Nahezu jede Maßnahme ist, allein weil die handelnden Personen regelmäßig staatlich besoldet sind, Steuer- oder abgabenfinanziert. Diese Argumentation ist aber nur auf den ersten Blick plausibel. Tatsächlich ist der staatliche Eingriff in das Vermögen des Steuerzahlers bereits vor der jeweiligen staatlichen Maßnahme erfolgt, die mit den auf diese Weise eingenommenen Mitteln finanziert wird und die es zu beurteilen gilt. Es bedarf daher schon einer weiteren Überlegung, dennoch einen Eingriff zu konstruieren. Dies gelingt nur, wenn man darauf verweist, durch den Einsatz der Mittel stünden diese in Zukunft für andere Maßnahmen nicht mehr zur Verfügung und daher werde eine erneute Abgabenerhebung erforderlich. Diese ließe sich freilich auch durch Einsparungen des Staates vermeiden. Bereits 168 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 .

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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dies zeigt, dass die Bezugnahme auf die Belastungen der Steuerzahler die Ausdehnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Schranke jeder staatlichen Tätigkeit nicht zu tragen vermag. Dasselbe gilt für den zweiten u. a. von Bleckmann vertretenen Ansatz, der auf einem Perspektivenwechsel beruht und das öffentliche Interesse in den Mittelpunkt stellt. Soweit mit dem öffentlichen Interesse nur die Summe der privaten Interessen der Steuerzahler umschrieben wird, ergibt sich die fehlende Plausibilität bereits aus den vorangegangenen Überlegungen. Im Übrigen verkennt dieser Perspektivenwechsel aber auch den Zweck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Dieser besteht im Schutz bestimmter, näher zu umschreibender Rechtsbereiche vor staatlichen Eingriffen. Evident wird dies, wenn der genuine Anwendungsbereich dieses Grundsatzes im Polizeirecht in Erinnerung gerufen wird. Aber auch außerhalb des Polizeirechts ist dieser Schutz die maßgebliche Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Trennung von dieser Funktion würde das Wesen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verkennen. Schließlich hat die von Bleckmann befürwortete Ausdehnung des Anwendungsbereiches des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur dessen scheinbare Aufwertung zur Folge. Der Ausdehnung in der Breite entspricht nämlich ein Bedeutungsverlust in der Tiefe. Offenbar ist sich Bleckmann der uferlosen Ausweitung des Rechtsgrundsatzes mit seinen Folgerungen bewusst geworden. Nur so lässt sich sein Bemühen erklären, die Konsequenz dieses solchermaßen allgegenwärtigen Verhältnismäßigkeitsprinzips, nämlich eine Machtverschiebung zugunsten der dritten Gewalt, dadurch zu vermeiden, dass er die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Gesetzen, die nur öffentliche Interessen berühren, in die Letztverantwortung des Parlaments stellt. 169 Diese eingeschränkte Justitiabilität nimmt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seine disziplinierende Wirkung und führt zugleich zur weiteren Verwässerung seiner Konturen. 170

IV. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Teil der dirigierenden Verfassung Lerches verfassungsrechtliche Ableitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in dem von ihm verstandenen Sinne als Oberbegriff der Grundsätze der Erforderlichkeit und Proportionalität (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) beruht auf einer Analyse der veränderten, durch die Verschränkung von Staat und Gesellschaft gekennzeichneten Situation, der der Rechtsstaat in seiner auf das NormativGrundlegende bezogenen und damit einer differenzierenden Normierung abgeneigten Prägung nicht mehr gerecht werden kann. 171 Die Rechtsstaatsklausel wird sich 169 Bleckmann, JuS 1994, S. 177 . 170 Vgl. Papier, DVB1. 1984, S. 453 . 171 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 53 f.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

- so das petitum Lerches - „als teilweise sinnvariabel erweisen müssen", wenn sie in dieser Situation normative Wirkung entfalten soll. 1 7 2 Um einer derart veränderten Umwelt gegenüber zur Geltung gebracht zu werden, „erscheint ein behutsamer Austausch" eines Teils der bisherigen formalisierten Inhalte des Rechtsstaats gegenüber neuen, nicht minder formalisierten Inhalten als „verfassungskräftiges Gebot". 173 Freilich bedarf eine solchermaßen sinngewendete Rechtsstaatsklausel des Anhalts und der Stützung im Verfassungswerk. 174 Die notwendige Fundierung entwickelt Lerche in zwei Schritten: Zunächst fragt er danach, ob einem allgemeinen Anspruch des Übermaßverbotes durch die Verfassung hinreichend Raum belassen wird. 1 7 5 Diesen Raum sieht er in einem qualitativ neuen Verfassungsbereich der Verfassungsaufträge. Es handele sich insoweit um stetige, kontinuierlich zu vollziehende Aufträge. Den durch solche stetigen Direktiven beschriebenen Verfassungsbezirk bezeichnet Lerche als den „dirigierenden" Teil der Verfassung. 176 Unter diesen Direktiven verwandele sich die souveräne gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zur Ermessensfreiheit, die bestimmte Grenzen zu beachten habe. 177 Zu den dirigierenden Grundsatznormen allgemeineren Charakters und formaler Struktur, deren Nichterfüllung als Ermessensfehler erscheint, zählt neben dem Gleichheitsgebot178 und dem Grundsatz der Bestimmtheit 179 auch der Grundsatz des Übermaßverbotes. 180 Lässt die Verfassung somit Raum für diesen Grundsatz, so bedarf es nach Lerche noch dessen positiver Verankerung. Diese sei den im äußeren Verfassungsgebilde verstreut vorhandenen Einzelausprägungen zu entnehmen. In diesem Zusammenhang wird neben Art. 11 Abs. 2 GG auch Art. 72 Abs. 2 GG a. F. genannt.181 Auch in anderen Vorschriften des Staatsorganisationsrechts erscheine der Erforderlichkeitsgedanke. Lerche führt unter anderem Art. 37 Abs. 1, Art. 87 Abs. 3 Satz 2, Art. 91 Abs. 2 Satz 2 und Art. 115 GG an. Auch Art. 19 Abs. 2 GG sei eine positivrechtliche Fixierung des allgemein geltenden Grundsatzes. Indem diese Norm die Antastung des Wesensgehaltes eines Grundrechts als jedenfalls unverhältnismäßig erkläre, statuiere sie zugleich für die anderen mitgedachten Fälle, die nicht den Wesensgehalt berührten, das Verhältnismäßigkeitsgebot. 1 8 2

172

Lerche, Lerche, 174 Lerche, 175 Lerche, 17 6 Lerche,

Übermaß und Verfassungsrecht, S. 57 f. Übermaß und Verfassungsrecht, S. 58. Übermaß und Verfassungsrecht, S. 59. Übermaß und Verfassungsrecht, S. 61. Übermaß und Verfassungsrecht, S. 63 f.

177

Übermaß und Verfassungsrecht, Übermaß und Verfassungsrecht, Übermaß und Verfassungsrecht, Übermaß und Verfassungsrecht, Übermaß und Verfassungsrecht, Übermaß und Verfassungsrecht,

173

178 179 180 181 182

Lerche, Lerche, Lerche, Lerche, Lerche, Lerche,

S. 65. S. 66 f. S. 67 ff. S. 77 f. S. 78. S. 78 ff.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

63

Lerche macht die Anwendbarkeit des Grundsatzes von einer bestimmten Konstellation abhängig: Das Übermaß verbot entfalte nur dann seine begrenzenden Wirkungen, wenn (gesetzgeberische) Eingriffe in einen verfassungsrechtlich bedeutsamen Rechtsbezirk in Rede stünden.183 Steht dabei auch der Grundrechtseingriff des Gesetzgebers im Mittelpunkt seiner Erörterungen, so weist Lerche gleichwohl darauf hin, dass entsprechende Schrankenstrukturen auch außerhalb des grundrechtlichen Bereichs auftauchen. 184 Damit hat Lerche Wesentliches zu den strukturellen Voraussetzungen, die die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedingen, gesagt. Insoweit kann an diese Ausführungen sogleich bei Darstellung des eigenen Ansatzes angeknüpft werden. Dies gilt indes nicht in gleicher Weise für die Herleitung des Geltungsgrundes des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für das Staatsorganisationsrecht. Dies beruht vor allem darauf, dass Lerches Überlegungen einschließlich des neuen Sinngehalts der Rechtsstaatsklausel auf das Staat-Bürger-Verhältnis zugeschnitten sind. Die Herleitung eignet sich offenkundig nicht in gleichem Maße, die Geltung des Grundsatzes im staatlichen Innenbereich zu tragen. Vollends außerhalb Lerches Betrachtung liegen Maßnahmen der Exekutive, deren Grenzen im Staatsorganisationsrecht ebenfalls zu bestimmen sind.

C. Der Vorrang der Verfassung als Geltungsgrund Die Bestimmung des Anwendungsbereiches des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit setzt - dies war eingangs dieses Kapitels hervorgehoben worden voraus, dass zuvor seine Geltungsgrundlage definiert ist. Damit ist indes nur ein logisches oder dogmatisches Vörrangverhältnis beschrieben, das hier keinesfalls in Frage gestellt werden soll. Es hindert allerdings nicht, sich bei Entwicklung und Darstellung der eigenen Konzeption zunächst der Frage zuzuwenden, ob und gegebenenfalls unter welchen abstrakten Voraussetzungen sich im Bereich des Staatsorganisationsrechts ein Anwendungsbereich für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eröffnen könnte. Ausgehend von der inzwischen unbestrittenen Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei staatlichen Eingriffen in die grundrechtlich geschützten Freiheiten des Einzelnen soll überlegt werden, ob es im staatsorganisatorischen Bereich insoweit vergleichbare Konstellationen gibt. Ein solcher Vergleich erfordert eine Analyse des Staat-Bürger-Verhältnisses unter der Ordnung des Grundgesetzes. Sodann muss aufgezeigt werden, welche Funktion dem Verhältnismäßigkeits183

Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 22 f.; siehe auch S. XIII der Einleitung zur 2. Auflage. •84 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 158 ff. Im Vorwort zur 2. Auflage, S. X f., wird dies nochmals ausdrücklich bestätigt.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

grundsatz in diesem Verhältnis und für dieses zukommt. Schließlich wird zu überlegen sein, welche spezifischen Voraussetzungen sich für die Anwendbarkeit des Grundsatzes aus dieser Funktion ergeben. Es muss geklärt werden, wie das jeweilige Grundrecht auf Verfassungsebene gewährleistet und wie die das Grundrecht berührenden staatlichen Maßnahmen beschaffen sein müssen, damit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranke staatlicher Tätigkeit zur Anwendung gelangen kann (dazu unter I.). Im Anschluss (dazu unter II.) gilt es, die sowohl von ihrem Inhalt als auch von ihrer Normstruktur her recht unterschiedlichen staatsorganisationsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes in den Blick zu nehmen. Es ist zu untersuchen, wie die staatsorganisationsrechtlichen Normen beschaffen sein müssen, damit sie von ihrer Normstruktur her den Grundrechtsbestimmungen vergleichbar sind. Ist dies geschehen, kann der Frage nachgegangen werden, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gleichwohl a priori unanwendbar ist, weil die staatsorganisationsrechtlichen Normen den staatlichen Innenbereich regeln und nicht das Außenverhältnis gegenüber den Bürgern gestalten. Ist danach - dies sei hier bereits vorweggenommen - eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts nicht ausgeschlossen, bedarf es insoweit noch der positiven Verankerung des Grundsatzes in der Verfassung (dazu unter III.). I. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im grundrechtlichen Bereich /. Das rechtsstaatliche

Verteilungsprinzip

Das Grundgesetz hat die Grundrechte gerade nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit bewusst im Sinne klassischer Freiheitsrechte aufgenommen und ausgestaltet. Die individuellen Freiheitsrechte werden in Art. 1 Abs. 1 GG als vorstaatliche Menschenrechte proklamiert. Sie sind unmittelbar geltendes Recht; als solches binden sie auch den Gesetzgeber. Diese Bindung unterliegt gerichtlicher Kontrolle. Ihre Einschränkung ist nur begrenzt möglich und nur soweit sie zugelassen ist. Damit knüpft das Grundgesetz an die liberale, bürgerlich-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie an. Grundrechte sind danach als Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat dazu bestimmt, wichtige Bereiche der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit vor der Bedrohung der Staatsmacht zu sichern. Diese Freiheit ist nicht vom Staat geschaffen, vielmehr liegt sie dem Staat rechtlich voraus. Durch die Aufnahme der Grundrechtsbestimmungen in die Verfassung erkennt der Staat lediglich diese Freiheiten als solche an. Diese Vorstellung der Grundrechte hat ihren Ausgangspunkt in dem für die Staatsidee des bürgerlichen Rechtsstaates grundlegenden Verteilungsprinzip. 185 Nach Carl Schmitt liegt die iss Böckenförde,

NJW 1974, S. 1529 .

3. Kap.: AnwendungsVoraussetzungen

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rechtliche Bedeutung der Anerkennung und „Erklärung" der Grundrechte darin, „dass diese Anerkennung die Anerkennung des fundamentalen Verteilungsprinzips des bürgerlichen Rechtsstaats bedeutet: eine prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des Einzelnen und eine prinzipiell begrenzte, messbare und kontrollierbare Eingriffsmöglichkeit des Staates."186

2. Die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im grundrechtlichen Bereich Nur vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im grundrechtlichen Bereich verständlich. Er hat sich insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als die zentrale Schranke staatlicher Eingriffstätigkeit herausgebildet: Soweit das Grundgesetz einen Eingriff in die grundrechtlichen Freiheiten zulässt, muss dieser Eingriff den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen. Hat das Bundesverfassungsgericht gesetzgeberische oder sonstige staatliche Eingriffe auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, konzentrieren sich die Überlegungen demzufolge in der Regel auf die Frage, ob der jeweilige staatliche Akt verhältnismäßig ist. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber im grundrechtlichen Bereich nicht nur eingreifend tätig wird. Mit Lerche ist zwischen mehreren Arten grundrechtsbezogener Normen zu differenzieren: 187 Eingreifende Normen sind solche, die auf Grund verfassungsgesetzlicher Ermächtigung in den mit Substanz gefüllten, abgegrenzten Wirkungsbereich eines Grundrechts zielgerichtet hineinschneiden.188 Verdeutlichende Normen schneiden nicht in einen Grundrechtsbereich hinein, sondern erhellen nur die schon gezogenen Grenzen, indem sie sie für konkretere Lebenstatbestände aufzeigen. 189 Grundrechtsprägende Normen schneiden gleichfalls nicht in einen schon gestalteten Grundrechtsbereich hinein, interpretieren aber auch nicht nur dessen Grenzen, sondern bauen ihn erst auf. Grundrechtsprägend in diesem Sinne sind insbesondere die gesetzlichen Regelungen, die in Erfüllung des in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Auftrags den Inhalt des Eigentums bestimmen. 190 Missbrauchsabwehrende Normen ermöglichen die Verhängung von Rechtsfolgen wegen missbräuchlicher Ausübung eines Grundrechts. 191 Schließlich gibt es noch die konkurrenzlösenden Normen zur Auf186 Schmitt, S. 164. 187 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 98 ff. 188 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 106. Im Hinblick auf das Übermaßverbot sei es unerheblich, ob das Gesetz unmittelbar in das Grundrecht hineinschneide oder nur hierzu die Exekutive ermächtige. Neben den unmittelbar, weil zielgerichtet grundrechtseingreifenden Normen gebe es solche (eingriffsgleiche) Normen, die dasselbe Ergebnis in nur mittelbarer Weise bewirkten. 189 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 106 f. 190 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 107. 5 Heusch

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

lösung solcher Konflikte, die sich aus dem Nebeneinander mehrerer Verfassungsrechtssätze ergeben. 192 Ob und inwieweit die grundrechtsberührenden Normen der verschiedenen Kategorien den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen müssen, hängt davon ab, ob sie die verfassungsrechtlich gewährte Freiheit beschneiden. Nehmen sie dem Bürger ein Stück dieser Freiheit, sind die Normen entsprechend dem oben dargestellten Verteilungsprinzip rechtfertigungsbedürftig. Gerechtfertigt können sie nur sein, soweit sie die Freiheit lediglich verhältnismäßig beschneiden. Danach unterliegen neben den eingreifenden Normen auch die missbrauchsabwehrenden Normen der Kontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, da auch die Missbrauchsabwehr regelmäßig durch eingriffsgleiche Einwirkung auf einen Grundrechtsbezirk erfolgt. 193 Ähnlich wie bei den missbrauchsabwehrenden Normen schaffen sich die konkurrenzlösenden Normen, wenn auch mit einer anderen Zwecksetzung, durch Einbruch in grundrechtliche Rechtsbezirke Platz. Damit ist das maßgebliche Kriterium für die Anwendung des Übermaßverbotes erfüllt. 194 Soweit Normen nur das auf Verfassungsebene Vorgegebene nachzeichnen und verdeutlichen, erfolgt hingegen kein solcher Einschnitt in einen grundrechtlichen Rechtsbezirk. 195 Eine Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nicht nur entbehrlich, sondern auch logisch ausgeschlossen.196

3. Exkurs: Die Inhaltsbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Eine intensivere Betrachtung lohnen - gerade im Vörausblick auf entsprechende Konstellationen im Bereich des Staatsorganisationsrechts - die sogenannten grundrechtsprägenden Normen. 197 Nach Lerche bricht sich im Gebiet der grundrechtsprägenden Normen grundsätzlich die Macht des Übermaßverbots, wie sich beispielhaft im Zusammenhang mit den eigentumskonkretisierenden Regelungen zeige. 1 9 8 Die Normen, die auf der Grundlage des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmten, seien nicht am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu kontrollieren, da es insoweit an dem spezifischen Eindringen in einen 191

Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 117. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 125 ff. 193 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 134, 137. 194 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 151. 195 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 153. 196 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 153. 197 Zutreffend umschreiben Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn. 213, das besondere Problem der Grundrechte mit rechtsgeprägten Schutzbereichen. Sie seien einerseits auf Ausgestaltung angelegt, andererseits aber sollten sie dem Staat vorausliegen und ihn verpflichten. 198 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 140. 192

3. Kap.: AnwendungsVoraussetzungen

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vorhandenen Rechtsbezirk fehle. Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG selbst umgrenze nämlich nicht einen derartigen Rechtsbezirk, da dieser Vorschrift gerade keine verfassungsvorgegebene gesichelte Eigentumssubstanz zu entnehmen sei. Der dortige Eigentumsbegriff sei vielmehr nur ein Blankettbegriff, der einen Rahmen abstecke und dessen Innenfläche planungsbedürftig bleibe. 199 Allerdings könne - so Lerche - überlegt werden, ob die durch den einfachen Gesetzgeber schon vorgenommene Prägung als eigentumsfähiger Rechtsbezirk in diesem Sinne gewertet werden könne. Begrifflich sei es durchaus möglich, hier von einem „Eindringen" im weitesten Sinne zu sprechen. 200 Jedoch entspreche dieses Eindringen nicht den spezifischen Voraussetzungen für die Anwendung des Übermaßverbotes, da nicht allein aus vorangegangenem Tun des Gesetzgebers eine derartige Verengung seiner künftigen Bewegungsfreiheit folgen könne. 201 Entscheidend ist also nach Lerche, dass kein verfassungsunmittelbar vorgegebener Rechtsbezirk vorhanden ist, in den der Gesetzgeber eindringen könnte. Das Bundesverfassungsgericht misst hingegen auch die Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. So heißt es im Beschluss vom 2. März 1999 zum rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetz: „Der Gesetzgeber muss bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis bringen . . . ; insbesondere ist er an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit... gebunden. Das Wohl der Allgemeinheit ist nicht nur Grund, sondern auch Grenze für die dem Eigentum aufzuerlegenden Belastungen. Einschränkungen der Eigentümerbefugnisse dürfen nicht weitergehen, als der Schutzzweck reicht, dem die Regelung dient. Der Kernbereich der Eigentumsgarantie darf dabei nicht ausgehöhlt werden." 2 0 2 Danach ist der Gesetzgeber auch bei Regelungen, die den Kernbereich nicht berühren, nicht frei von den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.203 Entsprechend existiert jenseits des absolut geschützten Kernbereiches 199

Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 140 f. Fn. 194; vgl. auch Depenheuer, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 14 Rn. 231, der darauf hinweist, dass man eigentumsrelevante Regelungen nicht daran messen könne, ob sie geeignet, erforderlich und verhältnismäßig seien, um zugleich die Position, die sie selbst erst hervorbringen, zu beschränken. Ebenso Wieland, in Dreier, GG, Art. 14 Rn. 118; Jaschinski, S. 138. 200 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 141; vgl. entsprechende Überlegungen bei Bryde, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 14 Rn. 63 a; Wieland, in Dreier, GG, Art. 14 Rn. 118, weist allerdings darauf hin, dass dies voraussetze, dass das verfassungsrechtliche Eigentum im Sinne von § 903 BGB verstanden werden müsse. Dies widerspreche jedoch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der inzwischen allgemeinen Lehre. 201 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 141 f. 2 2 0 BVerfGE 100, 226 ; siehe auch BVerfGE 102, 1 ; vgl. aus der früheren Rechtsprechung BVerfGE 21, 73 ; 25, 112 ; 37, 132 ; 50, 290 ; 52, 1 ; 58, 137 ; 58, 300 ; 55, 249 ; 62, 169 ; 70, 191 ; 72, 66 ; 79, 174 ; 91, 295 . 5!

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

ein relativ geschützter, ebenfalls auf der Verfassungsebene angesiedelter „Randbereich" des Eigentums. Dabei wird dieser Randbereich nicht unmittelbar durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG konstituiert, steht folglich nicht unveränderlich fest. Vielmehr wird er durch die jeweils vorhandenen einfachrechtlichen Regelungen umschrieben: „Aus der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Gesetze, die den Inhalt des Eigentums bestimmen," - so das Bundesverfassungsgericht im Nassauskiesungsbeschluss - „ergeben sich ... Gegenstand und Umfang des durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Bestandsschutzes.. , " . 2 0 4 Mit diesem Hinweis auf die Diskussion, ob bei der einfachrechtlichen Ausgestaltung einer grundrechtlichen Institutsgarantie die Schranke des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten ist, soll es sein Bewenden haben. Eine weitergehende Erörterung am Beispiel des Art. 14 Abs. 1 GG würde eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Eigentumsdogmatik erfordern und nur begrenzt allgemeinere Rückschlüsse für den Bereich des Staatsorganisationsrechts erlauben. Festzuhalten ist allerdings im hier interessierenden Zusammenhang, dass die Entscheidung maßgeblich davon abhängt, ob durch die Verfassung selbst oder vermittelt durch einfachrechtliche Regelungen ein Rechtsbezirk konstituiert worden ist, der dem Gesetzgeber bei Änderungen vorgegeben ist und den dieser deshalb nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Zukunft beschränken darf. Auf die entsprechende Frage im staatsorganisationsrechtlichen Bereich gilt es eine Antwort zu finden, wenn die Bindungen des Gesetzgebers bei der einfachrechtlichen Ausgestaltung institutioneller Garantien, insbesondere der kommunalen Selbstverwaltung, zu bestimmen sind.

203 BVerfGE 79, 174 ; 100, 226 ; 102, 1 in Übereinstimmumg mit der ganz überwiegenden Auffassung im Schrifttum, vgl. Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 38. Nach Papier, in Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 301, erschöpft sich die Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG nicht in einem Eigentumsschutz nach Maßgabe der einfachen Gesetzgebung und damit in einer bloßen grundrechtlichen Absicherung des objektiven Gesetzmäßigkeitsprinzips. Sie konstituiere - teilweise auch im Zusammenwirken mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - auch verfassungsunmittelbare, das heißt nicht allein vom Gesetzgeber konzidierte und zu seiner Disposition gestellte Bastionen zugunsten der Eigentümer. Vgl. etwa auch Eschenbach, S. 677 ff.; Wahl, NVwZ 1984, S. 401 ; Pieroth/ Schlink, Grundrechte Rn. 929; siehe hierzu auch Lepsius, S. 38, 54, der zwischen faktischer Sachherrschaft, die das Schutzgut des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG sei, und normgeprägter tatsächlicher Sachherrschaft unterscheidet. 204 BVerfGE 58, 300 . Der Hinweis von Wieland, in Dreier, GG, Art. 14 Rn. 119, dass das Bundesverfassungsgericht für diese Prüfung stillschweigend den vorherigen Bestand des Eigentumsrechts unterstelle, erscheint insoweit zutreffend. Vgl. auch Bryde, in v. Münch /Kunig, GG, Art. 14 Rn. 63 a.

3. Kap.: AnwendungsVoraussetzungen

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II. Vergleichbare Konstellationen im Staatsorganisationsrecht 1. Die abstrakten Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Abstrahierend von der spezifischen Grundrechtskonstellation lassen sich die strukturellen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes so umschreiben: Auf der Verfassungsebene wird ein Rechts- oder Wirkungsbereich abgegrenzt. Auf derselben Ebene wird die Ermächtigung erteilt zur Beschneidung dieses Bereiches durch einen Rechtsakt, der selbst nicht der Verfassungsebene zuzuordnen, sondern niederen Ranges ist. 2 0 5 Diesem eingreifenden Rechtsakt sind wiederum selbst Grenzen gesetzt. Neben den ausdrücklich in der jeweiligen Verfassungsnorm oder allgemeineren Verfassungsregelungen genannten Grenzen ergeben sich diese aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die mögliche Abstraktion der für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes maßgeblichen Voraussetzungen zeigt, dass dieser nicht denknotwendig ausschließlich auf den grundrechtlichen Bereich bezogen ist. Bereits Lerche hat darauf hingewiesen, dass außerhalb der grundrechtlichen Verfassungssätze „entsprechende Schrankenstrukturen auftauchen und daher die wichtigsten Voraussetzungen für einen Entscheid über vorhandene oder fehlende Einflussmöglichkeiten der Grundsätze gegeben sind." 2 0 6

2. Freiheit und Kompetenz Stehen denklogische Barrieren nicht entgegen, drängt sich gleichwohl die Frage auf, ob nicht die grundlegenden Unterschiede zwischen den grundrechtlichen Gewährleistungen einerseits und den staatsorganisationsrechtlichen Regelungen andererseits einer möglichen Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entgegenstehen. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner schon wiederholt zitierten Kalkar-Entscheidung die Auffassung vertreten, die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen seien im kompetenzrechtlichen Verhältnis - im konkreten Fall zwischen Bund und Ländern - nicht anwendbar. Dies gelte insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ihm komme ausschließlich eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu. Das damit verbundene Denken in den Kate-

205 i m vorliegenden Zusammenhang kann die Differenzierung zwischen den Ermächtigungen danach, ob sie Eingriffe durch oder aufgrund eines Gesetzes gestatten, zunächst außer Betracht bleiben. 0 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 1 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

gorien von Freiraum und Eingriff könne nicht auf Kompetenzabgrenzungen übertragen werden. 207 Nur im Ansatz ähnlich argumentiert etwa Isensee: Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip lasse sich nicht in die staatliche Binnenorganisation verpflanzen. Jenes stelle der ursprunghaft als unbegrenzt zu denkenden Freiheit die notwendig begrenzte, unter Rechtfertigungszwang stehende Staatsgewalt gegenüber. Das Internum der Staatsgewalt sei hingegen auf allen Ebenen rechtlich gebunden und begrenzt. Es fehle das Element subjektiver Willkür, da die äußeren Schranken der Staatsgewalt keinen Raum für Freiheit, sondern nur für rechtlich definierte Kompetenz ließen. Damit fehle etwa im bundesstaatlichen Bereich die reguläre Grundlage für die Anwendung des Übermaß Verbotes. Hier könne es daher „keine generelle, apriorische Geltung" beanspruchen. 208 Da Isensee anders als das Bundesverfassungsgericht in der Kalkar-Entscheidung die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedoch nicht kategorisch ausschließt, sondern nur seine apriorische Geltung verneint, kommt nach seiner Auffassung eine bereichsbegrenzende Anwendung des Übermaßverbotes auch im staatsorganisatorischen Bereich dort in Betracht, wo das Grundgesetz sie anordnet. In diesem Sinne machten etwa Art. 72 Abs. 2 GG oder Art. 84 GG das jeweilige Handeln des Bundes davon abhängig, dass es erforderlich sei. Dies geschehe im Bund-Länder-Verhältnis, um die Eigenständigkeit und den Wirkungskreis der Länder tunlichst zu schonen. Besteht die wesentliche Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im grundrechtlichen Bereich darin, entsprechend dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip den stets nur begrenzt statthaften und rechtfertigungsbedürftigen Eingriffen des Staates in die Freiheit des Einzelnen Schranken zu setzen, steht im Staatsorganisationsrecht der Schutz staatsinterner Bereiche in Rede. Irrelevant ist indes insoweit, dass die im Grundgesetz verankerten Grundrechte als vorstaatliche Rechte vom Verfassunggeber anerkannt worden sind, während im Grundgesetz normierte staatsorganisationsrechtliche Bereiche erst durch den Verfassunggeber kreiert worden sind. Denn in beiden Fällen geht es darum, einen auf derselben, nämlich der Verfassungsebene normierten Bereich vor einer unbegrenzten Schmälerung durch einen staatlichen Akt niederen rechtlichen Ranges zu schützen, indem dieser an bestimmte Rechtfertigungserfordernisse gebunden wird. Dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im staatsorganisatorischen Bereich Anwendung finden kann, hat schließlich auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung anerkannt, indem es den im damaligen Art. 3 b Abs. 3 EGV normierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kompetenzausübungsschranke im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Einzelstaaten bezeichnet hat. 2 0 9 Ebenso hat das Gericht unlängst in dem bereits zitierten Beschluss vom 7. Mai 2001 den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke gesetzlicher Eingriffe in die kom207 BVerfGE 81, 310 . 208 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118. 209 BVerfGE 89, 155 .

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

71

munale Selbstverwaltung erachtet 210 sowie schließlich im Altenpflege-Urteil das Gebrauchmachen von der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit durch den Bund als Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder gewertet, der den Kriterien der Eignung und Erforderlichkeit zu genügen habe. An späterer Stelle ist zu erörtern, ob dies - wie wohl Isensee und nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht annehmen - nur der Fall ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder eines seiner Teilelemente ausdrücklich in einer Verfassungsnorm als Schranke genannt werden, oder aber eine allgemeinere - nach dem oben Gesagten vom rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip losgelöste - Geltungsanordnung auch für den staatsorganisationsrechtlichen Bereich ausfindig zu machen ist.

3. Unerheblichkeit

einer subjektiv-rechtlichen

Position

Von der zuvor diskutierten Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit apriorisch für den staatsinternen Bereich ohne Bedeutung sei, zu unterscheiden ist die zum Teil vertretene Beschränkung des Anwendungsbereiches im Staatsorganisationsrecht auf den Schutz subjektiver Rechte. So kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Jarass im Verhältnis verschiedener Staatsorgane nur dann zum Tragen, wenn und soweit ein Staatsorgan ein subjektives Recht und nicht nur eine Kompetenz besitze.211 Diese Differenzierung begegnet den Bedenken, auf die bereits verschiedentlich von anderer Seite hingewiesen worden ist, dass nämlich die Kategorie des subjektiven Rechts für die Umschreibung der Rechtsverhältnisse im staatsorganisatorischen Bereich ungeeignet sei. 212 Ob und inwieweit dennoch wenigstens im analogen Sinne 213 - von subjektiven Rechten gesprochen werden kann und wie sich diese von „bloßen", dann wohl rein objektivrechtlichen Kompetenzen unterscheiden, muss hier nicht nachgegangen werden. 214 Für die hier 210 BVerfGE 103, 332 . 211 Jarass, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 82; so auch Schulze-Fielitz, in Dreier, GG, Art. 20 Rn. 176; Kenntner, DÖV 1998, S. 701 ; ders., Justitiabler Föderalismus, S. 53. 212 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 120 m. w. N. Nach Kloepfer, Der Staat 13 (1974), S. 457 ist die strikte Trennung zwischen Kompetenz und Grundrecht, Zuständigkeit und subjektivem Recht längst durchlässig geworden. Auch aus diesem Grund sei das Ubermaßverbot im Zuständigkeitsteil der Verfassung „heimisch zu machen". 213 So Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118. 214 Die Frage, ob und inwieweit berechtigter Weise von subjektiven Rechten des Staates gesprochen werden kann, ist weiterhin äußerst umstritten, da ihre Beantwortung zuvörderst von dem jeweiligen Verständnis des subjektiven Rechts abhängt. Wird das subjektive Recht entsprechend seiner zivilrechtlichen Prägung als ein Bereich rechtlich geschützten Interesses oder rechtlich geschützter Willensmacht begriffen, die die Freiheit des Berechtigten impliziert, diese Interessen wahrzunehmen oder nicht wahrzunehmen, so erscheint die Annahme, auch staatliche Kompetenzen seien solche subjektiven Rechte, nicht haltbar. Die Kompetenz ist zunächst und primär eine Handlungspflicht; sie gewährt grundsätzlich nicht eine Handlungsfreiheit; vgl. Böckenförde, in FS für Hans J. Wolff, S. 269 ; Müller/Mayer/

72

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

allein interessierende Frage, unter welchen strukturellen Voraussetzungen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke staatlichen Handelns zur Anwendung gelangen kann, ist - wie sich aus dem oben Gesagten zwanglos ergibt - allein maßgeblich, dass auf der Verfassungsebene ein begrenzter Bereich abgesteckt und umhegt ist. Unerheblich ist, ob dieser Bereich ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet ist oder auch bzw. - wie dies etwa bei den Grundrechten der Fall ist in erster Linie ein subjektives Recht normiert. 2 1 5 Die subjektiv-rechtliche Ausgestaltung erlangt allenfalls insoweit Bedeutung, als es um die gerichtliche Geltendmachung eines möglicherweise unzulässigen Eingriffs geht. Wie bereits die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vorgesehene abstrakte Normenkontrolle zeigt, setzt allerdings auch die gerichtliche Geltendmachung einer Verfassungsverletzung nicht stets voraus, dass eines der antragsberechtigten Organe in einem eigenen Recht betroffen ist. Auch ein Verstoß gegen eine ausschließlich objektiv-rechtliche Norm kann Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung sein.

I I I . Die Geltungsgrundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im staatsorganisationsrechtlichen Bereich Für den grundrechtlichen Bereich war festgestellt worden, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranke staatlichen Handelns die Funktion hat, die Wagner, VerwArch. 93 (2002), S. 585 . Wird das subjektive Recht weiter verstanden in dem Sinne, dass die Freiheit zum Gebrauchmachen der eingeräumten Befugnisse nicht als begriffsnotwendig erachtet wird, stellt sich die weitere, ebenfalls grundsätzliche Frage, ob überhaupt von „Rechten des Staates" gesprochen werden kann. Während Georg Jellinek, S. 193 ff., noch selbstverständlich solche subjektiven Rechte annahm und auch Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in HdbDStR II, S. 612 ff., 623, solche zwischen dem Reich und den Ländern bejahte, waren sie nach der Konzeption Otto Mayer's undenkbar; vgl. Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., S. 104 ff. Weil der Staat als etwas Unbegrenztes, als ein mit rechtlicher Allmacht ausgestattetes Gebilde gedacht wurde, widerstrebte es Mayer, subjektive Rechte des Staates anzunehmen; vgl. zu der Staatsauffassung Mayers und der nachfolgenden Entwicklung Bauer, DVB1. 1986, S. 208 . Dieses Staatsverständnis dürfte zwischenzeitlich überwunden sein. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Rechtsmacht des Staates im demokratischen Rechtsstaat immer nur als rechtlich verfasste und damit begrenzte begriffen werden kann; vgl. Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 236; Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 45 f. Dies hat auch im Verhältnis der verschiedenen Kompetenzträger innerhalb des gegliederten Staates zu gelten. Zumindest soweit es - wie im vorliegenden Zusammenhang - um den Schutz der eingeräumten Kompetenzen vor Eingriffen geht, unterscheiden sich die Kompetenzen strukturell nicht wesentlich von den subjektiven Rechten des Einzelnen. 215 So auch Loschelder, S. 28. Dies verkennen jedoch etwa Müller/Mayer/Wagner, VerwArch. 93 (2002), S. 485 , wenn sie unmittelbar von dem von ihnen angenommenen ausschließlich objektiven Gehalt der Organisationsnormen des Grundgesetzes auf die Unanwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in diesem Bereich schließen.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

73

grundrechtliche Freiheit des Einzelnen möglichst effektiv zu schützen, indem er die Eingriffe bestimmten - oben im Einzelnen dargestellten - Bindungen unterwirft. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt darauf hingewiesen, bei Bestimmung des Schutzbereichs werde nur die weite Auslegung dem Grundsatz gerecht, wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen sei, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfalte. 216 Diese normative Kraft der Grundrechtsbestimmungen hängt aber nicht nur davon ab, dass bei der Definition des Schutzbereichs und der Schutzwirkungen einer Grundrechtsnorm der Auslegung der Vorzug gegeben wird, die das Grundrecht am stärksten entfaltet. Für die effektive Geltungskraft der Grundrechte ist ebenso entscheidend, dass die grundrechtlich gewährte Freiheit nicht durch staatliche Eingriffe ausgehöhlt werden kann. Einer solchen Aushöhlung wird durch die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Grenzen staatlicher Eingriffstätigkeit vorgebeugt. Dem Verbot unverhältnismäßiger Eingriffe kommt auf diese Weise entscheidende Bedeutung für die Wahrung und Festigung der normativen Kraft der Verfassung 217 und damit ihres Vorrangs zu. Indem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor beliebigen, nicht gerechtfertigten Eingriffen in die grundrechtlichen Freiheiten schützt, wahrt er deren Vorrang, der ihnen nach Art. 1 Abs. 3 GG zukommt. Dieser Vorrang gegenüber niederrangigen Rechtsakten ist freilich keine spezifische Eigenheit der Grundrechte, sondern der Verfassung als solcher. Er kommt sämtlichen verfassungsrechtlichen Normen, mithin auch den Bestimmungen des Staatsorganisationsrechts zu. Der Vorrang der Verfassung ist heute eine Selbstverständlichkeit, da die besondere Qualität der Verfassung gegenüber anderen Rechtsakten gerade auf diesem ihrem Vorrang beruht, ohne ihn nicht verstanden werden kann. „Dieser Vorrang ist" - so Hesse - „Voraussetzung der Funktion der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens."218 Er gehört begrifflich zur Verfassung. 219 Die enge gedankliche Verknüpfung ist aus heutiger Sicht selbstverständlich, obgleich es sich bei der Anerkennung dieses Vorrangs tatsächlich um ein Novum in der deutschen Verfassungsentwicklung handelt. Bevor die positivrechtliche Verankerung des Vorrangs der Verfassung im Grundgesetz und die allgemeinen Rechtswirkungen dieses Vorrangs weiter dargestellt werden (dazu unter 2.), soll daher ein kurzer Rückblick, der zugleich die heutigen Rechtsgrundlagen verdeutlicht, das Neuartige des zugrundeliegenden Verfassungsverständnisses nachzeichnen (dazu unter 1.). Zuletzt ist zu überlegen, welche Folgen sich aus der Anerkennung des Vorrangs der Verfassung für die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht ergeben (dazu unter 3.).

216 BVerfGE 6, 55 ; 32, 54 ; 39, 1 . 217 Siehe zu dem Prinzip der normativen Kraft der Verfassung insbesondere Hesse, Ausgewählte Schriften, S. 1 ff. 218 Hesse, in Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 1 Rn. 14.

219 Grimm, S. 14.

74

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

1. Historische und dogmatische Grundlagen des Vorrangs der Verfassung Die späte gedankliche und vor allem positivrechtliche Rezeption des Vorrangs der Verfassung in Deutschland verwundert, weil er sich bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts in der nordamerikanischen Verfassungsentwicklung als Wesensmerkmal staatlicher Verfassungen herausgebildet hatte. 220 Zugleich machen aber gerade die vollkommen anders gearteten politischen und konstitutionellen nordamerikanischen Verhältnisse am Ende des 18. Jahrhunderts deutlich, warum für die Anerkennung eines derartigen Vorrangs der Verfassung in Deutschland noch kein Raum war - weder in der politischen Wirklichkeit noch in der in dieser politischen Ausgangskonstellation verhafteten Staatsrechtslehre. Die Umbildung der ehemaligen nordamerikanischen Kolonien zu selbständigen Verfassungsstaaten erfolgte durch eigene Verfassungskonvente zur Ausübung der konstituierenden Gewalt des Volkes. Diese konstituierenden Konvente waren nicht identisch mit den gesetzgebenden Parlamenten. Damit war bereits institutionell die Differenzierung zwischen der konstituierenden und der konstituierten, gesetzgebenden Gewalt des Volkes vorgegeben. 221 Diese Institutionalisierung der konstituierenden Gewalt wurde ergänzt durch die Herausbildung der „amending power". Die Verfassungsänderung konnte nur in einem besonderen, von der gewöhnlichen Gesetzgebung unterschiedenen Verfahren vorgenommen werden. Damit war der stillschweigenden Aushöhlung der Verfassung durch widersprechendes Gesetzesrecht vorgebeugt. 222 Zugleich war den Gründungsvätern noch im Bewusstsein, auch ein Parlament könne Unrecht tun. Sie hatten selbst solche Unrechtsakte des englischen Parlaments über sich ergehen lassen müssen. Diese historische Erfahrung war Grundlage des Bestrebens, auch den Gesetzgeber an die Verfassung zu binden. 223 Auch ihm gegenüber sollte der Verfassung daher Vorrang zukommen, mit der Implikation, dass verfassungswidrigen Gesetzen kein Bestand beschieden war. Um diesen Vorrang in der Praxis durchzusetzen, bedurfte es einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die befugt war, im konkreten Fall das nachrangige Gesetz an der Verfassung zu messen.224 Gänzlich anders stellt sich die Ausgangslage in Deutschland bis zum Ende des Kaiserreiches dar. Während in Nordamerika die unbeschränkte Macht des Gesetzgebers bekämpft wurde, galt in Deutschland der Kampf zuvörderst der Willkür der 220 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ; Sommermann, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 243. 221 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ; Dreier, JZ 1994, S. 742 ; Schau, S. 15, 17 ff. 222 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ; Schau, S. 18. 223 Vgl. Scheuner, in FS BVerfG und GG, S. 1 ; Schau, S. 17 f. 224 Vgl. zu dieser Entwicklung insbesondere Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ; Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

75

Fürsten. 225 Die in den Einzelstaaten seit 1818 entstandenen Verfassungen sahen gerade in der Mitwirkung des Volkes im Parlament den notwendigen Schutz gegen die Exekutive gewährleistet. Das Parlament galt als Hüter der Verfassung; die Möglichkeit einer Verfassungsverletzung durch das Parlament war hingegen noch nicht in das allgemeine Bewusstsein getreten. 226 Überdies fehlten die konstitutionellen Grundlagen für die Anerkennung des Vorrangs der Verfassung gegenüber anderen Rechtsakten und insbesondere auch gegenüber den Gesetzen. Der die staatliche Ordnung kennzeichnende Dualismus setzte der Möglichkeit des inhaltlichen Vorrangs der Verfassung systembedingte prinzipielle Schranken. 227 Der Monarch war nicht von Verfassungs, sondern von Gottes Gnaden Herrscher. Er leitete seine Herrschaft nicht aus der Verfassung her. Da es damit an einer durchgehenden gemeinsamen Legitimitätsgrundlage für Parlament und Monarch in diesem System fehlte, konnten politische Konflikte nicht unter Bezug auf eine gemeinsame konstituierende Verfassung gelöst werden. Ihr konnte folgerichtig in dieser Konstellation nicht der Vorrang gegenüber anderen Rechtsakten zukommen. Dem entspricht, dass gemeinhin eine spezifische verfassunggebende Gewalt nicht anerkannt war, verfassungsändernde und gesetzgebende Gewalt nicht unterschieden wurden, die Grundrechte, soweit kodifiziert, keinen Vorrang gegenüber dem Gesetzesrecht genossen und schließlich ein richterliches Prüfungsrecht im Hinblick auf Gesetze abgelehnt wurde. 228 Lediglich vereinzelt wurde in der Staatslehre des Vormärz in Anlehnung an die Entwicklung in den Vereinigten Staaten der Vorrang der Verfassung hervorgehoben. Neben Welcker 229 , von Aretin 2 3 0 und Bülau 2 3 1 ist hier insbesondere von Mohl zu nennen 232 Er hat aus dem Vorrang der Verfassung konsequent auch die Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze gefolgert. Erkannte die Paulskirchen Verfassung von 1848 den Vorrang der Verfassung insoweit an, als nach deren § 130 auch die Legislative an die Grundrechte gebunden war und zudem eine reichsgerichtliche Kontrolle widersprechender Gesetze am Maßstab der Verfassung vorgesehen war 2 3 3 , dominierte in der spätkonstitutionellen Staatsrechtlehre dann jedoch klar die Vorstellung, dass der Verfassung gerade keine erhöhte Autorität zukomme. 234 So stellt Laband fest: „Die Verfassung ist keine 225 Scheuner, in FS BVerfG und GG, S. 1 ; Schau, S. 18. 226 Vgl. Peine, Der Staat 22 (1983), S. 521 ; Schau, S. 20 ff. 227 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 . 228 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ; siehe auch Scheuner, in FS BVerfG und GG, S. 1 , der betont, dass auch in der damaligen Staatsrechtswissenschaft gemeinhin der entscheidende Unterschied zu den nordamerikanischen Verhältnissen unausgesprochen blieb. 229 Welcker, Art. „Gesetz", in v. Rotteck/ Welcker, Das Staatslexikon, Band 5, S. 695. 230 Siehe hierzu Schau, S. 21. 231 232 233 234

Siehe hierzu Schau, S. 21. y Mohl, S. 66 ff. Schau, S. 25 ff. m. w. N. Vgl. hierzu Dreier, JZ 1994, S. 741 ; Schau, S. 28 ff.

76

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich." 235 Noch deutlicher formuliert Anschütz: „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben. Insoweit ist die Verfassung in der Tat nur ein Gesetz wie ein anderes." 236 War der das Kaiserreich kennzeichnende Dualismus zwischen Monarchie und Parlament als Grund für den fehlenden Vorrang ausgemacht, so entfiel zwar diese Grundbedingung unter der Weimarer Reichsverfassung. Gleichwohl blieb der Vorrang der Verfassung auch jetzt umstritten. 2 3 7 Carl Schmitts Lehre, nach der die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen auch den Gesetzgeber binden und selbst der Verfassungsgesetzgeber nicht frei über die Verfassung disponieren kann 2 3 8 , ist erst bei Schaffung des Grundgesetzes wirksam geworden. Die vorherrschende Meinung der Weimarer Staatsrechtslehre billigte weiterhin der Verfassung keinen Vorrang zu. 2 3 9 Anders verlief hingegen die Rechtsentwicklung in Österreich nach Ende des dortigen Kaiserreiches. Dies sei deshalb hervorgehoben, weil diese abweichende Entwicklung auf einer auch für das heutige Verständnis wichtigen gedanklichen Prämisse beruht. Es ist dies die insbesondere von Merkl 2 4 0 und Kelsen 241 entwickelte Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung. Diese Vorstellung von einer Rangordnung der Rechtssätze, an deren obersten Stelle die Verfassung angesiedelt ist, ist Voraussetzung für die Annahme eines Vorrangs der Verfassung gegenüber allen anderen staatlichen Rechtsakten, einschließlich der einfachrechtlichen Gesetze. 2 4 2 Die Bejahung eines solchen Rangverhältnisses setzt hingegen nicht notwendig ein Verfassungsverständnis voraus, nach dem der Staat erst durch die Verfassung konstituiert wird. 2 4 3 Auch wenn der Staat als der Verfassung vorausliegend angesehen wird, vermag sich diese gegenüber der übrigen Rechtsordnung Vorrang beizumessen. Die Bindung der übrigen Staatsgewalt hat nicht als logische Prämisse, dass die Staatsgewalt erst durch die Verfassung geschaffen ist.

235

Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 2, S. 39 (Hervorhebung durch

Verf.). 236

Anschütz, in Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 1919, S. 743 f. 7 Vgl. hierzu ausführlich Schau, S. 39 ff. 23 8 Schmitt, Verfassungslehre, S. 20 ff., 178 ff.; siehe hierzu auch Dreier, JZ 1994, S. 741 . 23

239 Vgl. etwa Anschütz, Komm, zur Weimarer Reichsverfassung, Art. 76 Anm. 1; Hatschek, S. 27. 2 40 Merkl, AöR 37 (1918), S. 56 ff. 2

*i Kelsen, S. XV f. Vgl. Badura, Staatsrecht, D 51; Schulze-Fielitz, in Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 74; Isensee, in FS für Leisner, S. 359 , hebt hervor, dass der Vorrang der Verfassung in der Logik der Verfassung als Rechtsgesetz liegt. 242

243 A.A. Schau, S. 13, der den Vorrang der Verfassung als eine Folge des Verfassungsverständnisses bezeichnet, nach dem der Staat der Verfassung nicht voraus liegt.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

77

Der kursorische Rückblick hat die realpolitischen, aber auch die dogmatischen Voraussetzungen des uns selbstverständlich gewordenen Vorrangs der Verfassung aufgezeigt. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich die positivrechtlichen Ausprägungen des Vorrangs der Verfassung im Grundgesetz und ihre Rechtswirkungen verstehen.

2. Der grundgesetzliche

Vorrang der Verfassung

a) Die positivrechtliche Verankerung des Vorrangs der Verfassung Speziell für die nachfolgenden Grundrechte bestimmt Art. 1 Abs. 3 GG, dass sie Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. 244 Die Grundrechte sind danach nicht nur schlichte Programmsätze, die zu ihrer Wirksamkeit des vermittelnden Gesetzes bedürfen, sondern - wie es in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich heißt - unmittelbar zu beachten. Durch die Bindung auch des Gesetzgebers wird zugleich der Vorrang der Grundrechte in der Stufenordnung des Rechts zum Ausdruck gebracht. Gesetze wie auch andere niederrangige Rechtsakte, die mit den Grundrechten nicht zu vereinbaren sind, sind verfassungswidrig. 245 Art. 20 Abs. 3 GG bindet allgemein den Gesetzgeber an die verfassungsmäßige Ordnung sowie die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung weiter gehend an Gesetz und Recht. Damit haben alle drei konstituierten Gewalten die Verfassung als vorrangiges Recht bei ihrem Handeln zu beachten. Steht ihr Verhalten nicht in Übereinstimmung mit der Verfassung, ist es verfassungswidrig. Art. 20 Abs. 3 GG gilt - wie sich bereits aus seiner systematischen Stellung ergibt - auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts. Dabei ist sein Anwendungsbereich nicht auf das Verhältnis von Bund und Ländern beschränkt, auch wenn die Bestimmung zu Beginn dieses Abschnitts Aufnahme gefunden hat. Das Grundgesetz legt sich hier vielmehr insgesamt Vorrang vor jedem anderen niederrangigen nationalen Akt zu. 2 4 6 244 Nach allgemeiner Auffassung bezieht sich Art. 1 Abs. 3 GG nicht nur auf die unmittelbar nachfolgenden Grundrechte, sondern auf alle in der Verfassung normierten subjektivrechtlichen Garantien des Bürgers; vgl. Kunig in v. Münch/Kunig, GG, Art. 1 Rn. 48. 245 Ob hieraus unmittelbar und ipso iure die Nichtigkeit eines grundrechtswidrigen Gesetzes folgt, ist umstritten. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass ein entsprechendes Gesetz grundsätzlich ex tunc und ipso iure nichtig ist; vgl. BVerfGE 61, 149 ; 65, 1 < 3 > ; 67, 299; 68, 384 . Eine begrenzte Fortgeltung kommt nur dann in Betracht, wenn die mit der Nichtigkeitsfolge verbundenen Nachteile schwerer wiegen als die vorübergehende Fortgeltung eines mit der Verfassung nicht vereinbaren Gesetzes; vgl. Sommermann, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 20 Rn. 246. Kritisch zu dieser Lehre von der Ipsoiure-Nichtigkeit etwa Ch. Böckenförde, S. 21 ff. 246 Maurer, Staatsrecht, § 1 Rn. 36; Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rn. 1, 24; Schulze-Fielitz, in Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 75.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

In Art. 20 Abs. 3 GG wird das Selbstverständnis der Verfassung, an der Spitze der nationalen Normenhierarchie zu stehen, positivrechtlich fixiert. 247 Diese Bestimmungen erhalten ihre notwendige Ergänzung durch Art. 79 GG, der die Verfassungsänderung an besondere Voraussetzungen knüpft. Damit wird die Verfassungsänderung von der einfachen Gesetzgebung kategorial unterschieden. 248 Durch das in Art. 79 Abs. 2 GG normierte Erfordernis der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates für eine Verfassungsänderung wird der gegenwärtige Bestand gegen den Zugriff der für ein einfaches Gesetz ausreichenden Mehrheit gesichert. 249 Schließlich ist auf die dem Bundesverfassungsgericht in Art. 93 und Art. 100 GG eingeräumten Zuständigkeiten zur Kontrolle auch förmlicher Gesetze am Maßstab der Verfassung zu verweisen. Der Vorrang der Verfassung bliebe ein folgenloses Postulat, wenn es keine Instanz gäbe, die in verbindlicher Art und Weise über die Wahrung dieses Vorrangs, auch soweit es um förmliche Gesetze geht, entscheiden könnte. 250 Gehört es zum Wesen des Verfassungsstaates, die Politik und damit auch den Gesetzgeber an die Verfassung als Grundnorm zu binden, so muss eine Instanz existieren, die diese Bindung in einem sachgerechten Verfahren der Normauslegung und -anwendung aktualisieren kann. 251 Dieser Zusammenhang war wie oben dargestellt - bereits zu Beginn der nordamerikanischen Verfassungsentwicklung Ende des 18. Jahrhunderts präsent. Er hat an Aktualität nichts eingebüßt.

b) Allgemeine Folgerungen aus dem Vorrang der Verfassung Aus dem Vorrang der Verfassung folgt, dass entgegenstehendes altes Recht derogiert wird, entgegenstehendes neues Gesetzesrecht rechtswidrig ist. 2 5 2 Im Falle der Normenkollision findet insoweit nicht der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori", sondern das Prinzip „lex superior derogat legi inferiori" Anwendung. 253 Allgemein gilt, keine Bestimmung der Rechtsordnung und kein staatlicher Akt darf sich in Widerspruch zur Verfassung setzen.254 247 Zu Unrecht folgert Lecheler, in FS für Ernst Wolf, S. 361 aus der Schwierigkeit, die die Interpretation der oftmals lapidar gefassten Normen der Verfassung bereitet, dass der Vorrang der Verfassung als solcher nicht anzuerkennen sei. Diese Schlussfolgerung widerspricht dem klaren Wortlaut und dem Selbstverständnis der Verfassung. 248 Vgl. Schau, S. 15. 249 Wahl, NVwZ 1984, S. 401 f.; Maurer, Staatsrecht, § 1 Rn. 37. 250 Sommermann, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 20 Rn. 247; Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485; Schau, S. 16. 251 Vgl. Ossenbühl, in FS 50 Jahre BVerfG, S. 33 . 252 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485; Schau, S. 13. 253 Moench, S. 143; Starck, HStR VII, § 164 Rn. 9; Schau, S. 15. 254 Hesse, in Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 1 Rn. 14; ders., Verfassungsrecht, Rn. 199.

3. Kap.: AnwendungsVoraussetzungen

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Aus dem Vorrang der Verfassung folgt hingegen nicht, deren Normen müßten so interpretiert werden, dass deren Gehalt inhaltlich möglichst umfassend und dicht ist. 2 5 5 Mit der Zunahme der inhaltlichen Dichte der jeweiligen Norm wird der Raum für den offenen politischen Prozess verkleinert. Der Vorrang der Verfassung entzieht, soweit die jeweilige Verfassungsnorm eine Entscheidung trifft, notwendig den an die Verfassung gebundenen Gewalten den Gestaltungsspielraum. Es kann jedoch gerade von der Verfassung gewollt sein, dass sie nur einen Rahmen konstituiert, innerhalb dessen die politischen Kräfte dann frei agieren können. 256 Die Verfassung bedarf geradezu in einem gewissen Umfang dieser damit einhergehenden Elastizität, damit sie auch unter veränderten tatsächlichen Bedingungen weiter effektiv bleiben kann. 257 Haben der Verfassunggeber oder der verfassungsändernde Gesetzgeber aber eine Entscheidung bestimmten Inhalts getroffen, so fordert der Vorrang der Verfassung eine solche Auslegung der Verfassung selbst, dass der normative Gehalt der Verfassungsentscheidung nach Möglichkeit zur Entfaltung gebracht wird. Insoweit wendet sich der Vorrang der Verfassung an deren Interpreten. Dies ist bei der Auslegung der Grundrechte zu beachten. Es gilt aber ebenso für die staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes.258 Der Vorrang der Verfassung impliziert damit auch, dass Entscheidungen des Verfassunggebers oder verfassungsändernden Gesetzgebers, soweit sie der Verfassung entnommen werden können, nicht im Wege der Interpretation ausgehöhlt werden dürfen.

255 Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 . 256 Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 geht davon aus, dass das Grundgesetz, soweit es das Verhältnis einzelner, Gesellschaft und Staat betreffe, seiner Struktur nach eine Rahmenordnung sei; deren Prinzipien erst noch der Ausfüllung und Konkretisierung bedürften. Ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 71 f., legt dar, dass die Alternativen - Rahmenordnung oder rechtliche Grundordnung - nicht nur die Grundrechtsdogmatik betreffen, sondern das Verfassungsverständnis als solches. Demgegenüber ist es nach hier vertretener Ansicht eine Frage der jeweiligen Verfassungsnorm, ob und inwieweit sie dem Gesetzgeber einen Rahmen zur freien Gestaltung lässt. Der Begriff der Rahmenordnung darf jedenfalls nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass gesetzgeberische Tätigkeit stets nur Ausfüllung eines in der Verfassung gesetzten Rahmens sei. So auch Starck, JZ 1999, S. 473 , der die Grundgesetznormen jeweils in ihrer Bestimmtheit und in ihrer Offenheit als ein wohlgeordnetes Ganzes bezeichnet. 257 Starck, HStR VII, § 164 Rn. 2. 258 Maurer, Staatsrecht, § 1 Rn. 65.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

3. Konsequenzen für die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht a) Wahrung des Vorrangs der Verfassung in Eingriffskonstellationen Auf dieser Grundlage ist zu klären, welchen Schranken ein Eingriff unterliegt, wenn in der Verfassung ein bestimmter Bereich in dem Sinne definiert ist, dass verfassungsunmittelbar entweder eine Aufgabe, Zuständigkeit oder Kompetenz einem bestimmten Hoheitsträger oder einem bestimmten Organ zugewiesen oder aber eine materiell-inhaltliche Vorgabe normiert ist, zugleich aber eine Ermächtigung zu einem Eingriff in diesen Bereich erteilt ist. Denkbar wäre, dass der zum Eingriff ermächtigten Stelle keine weiteren Schranken gesetzt sind. Dies hätte freilich zur Folge, dass die Verfassung insoweit zur Disposition der jeweils ermächtigten Stelle stünde; diese könnte durch einen niederrangigen Akt die verfassungsunmittelbare Entscheidung im Einzelfall außer Kraft setzen. In diesem Falle käme der verfassungsunmittelbaren Entscheidung nur die Bedeutung einer vorläufigen Regelung zu; die eigentliche verfassungsrechtliche Aussage wäre hingegen gerade die Bestimmung der Stelle, die letztlich verbindlich über die Fortgeltung der verfassungsunmittelbaren Regelung im Einzelfall zu entscheiden hat. Deren Entscheidung kann darin bestehen, dass es bei der verfassungsunmittelbaren Regelung verbleibt. Deren Fortgeltung beruht dann im Einzelfall letztlich auf dem Unterbleiben des Eingriffs. Die ermächtigte Stelle kann aber ebenso die Verfassungsentscheidung im Rahmen der Ermächtigung abändern. So könnte - beispielhaft - die Verfassung unmittelbar die Gesetzgebungskompetenz für bestimmte Sachbereiche den Ländern zuweisen, zugleich aber den Bund ermächtigen, wenn er dies nur wolle, auf diesen Gebieten gesetzgebend tätig zu werden mit der Folge, dass die Länder insoweit ausgeschlossen wären. Die verfassungsunmittelbare Zuweisung der Gesetzgebungskompetenz an die Länder hätte in diesem Fall nur die Bedeutung einer vorläufigen Regelung. Ihr Sinn bestünde ausschließlich darin, eine umfassende Kompetenzzuordnung von Verfassungs wegen, auch ohne Tätigwerden des Bundes, zu gewähren. Von einer derartigen lediglich vorläufigen verfassungsunmittelbaren Regelung, die unter Vorbehalt einer inhaltlich nicht weiter gebundenen, jederzeit möglichen abweichenden Entscheidung der ermächtigten Stelle steht, kann aber nur ausgegangen werden, wenn der Verfassung selbst zu entnehmen ist, dass sie sich selbst insoweit zur Disposition stellen will. Dies ist zumindest dann nicht anzunehmen, wenn der Zuordnung der jeweiligen Kompetenz im Rahmen des Gesamtgefüges eine weitergehende Bedeutung zukommt. So wäre etwa in dem genannten Beispiel darauf hinzuweisen, dass die verfassungsunmittelbare Zuweisung der Gesetzgebungskompetenzen an die Länder im Rahmen der Machtverteilung zwischen Bund und Ländern eine solche Bedeutung hat, dass es nicht im Belieben des Bundes stehen kann, die Kompetenz an sich zu ziehen. Entsprechendes gilt im Falle

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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sachlich-inhaltlicher verfassungsunmittelbarer Entscheidungen. Auch hier muss im Rahmen der Norminterpretation geklärt werden, ob die Entscheidung sich nur einen vorläufigen Charakter beilegt. Zu vermuten ist nicht, dass die Verfassung sich durch die Eingriffsermächtigung selbst zur Disposition stellen will. Dem Vorrang der Verfassung entspricht es nach dem oben Gesagten, dass die Verfassung ihre Entscheidungen gerade nicht der freien Disposition der konstituierten Gewalten überlässt. Wenn der Verfassunggeber oder verfassungsändernde Gesetzgeber einen bestimmten Bereich für derart schützenswert erachtet hat, dass er ihn selbst in der Verfassung definiert und umhegt hat, so bringt er damit nämlich regelmäßig zum Ausdruck, dieser Bereich solle, wenn nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, zumindest nicht dem beliebigen Zugriff - und sei es des einfachen Gesetzgebers - offen stehen. Insoweit kann auch aus dem Umstand, dass der Verfassunggeber selbst die Eingriffsmöglichkeit eröffnet hat, nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber könne frei in diesem Bereich walten. Wie bei den Grundrechten sind der Gestaltungsbefugnis auch des einfachen Gesetzgebers daher von Verfassungs wegen Schranken gesetzt, gerade um die Wirksamkeit der Verfassungsentscheidung zu gewährleisten. 259 Dabei ist es denkbar, dass der Verfassunggeber selbst der von ihm eröffneten Eingriffsmöglichkeit konkrete, gegebenenfalls normspezifische Schranken auf der Verfassungsebene gesetzt hat. Als Parallele im grundrechtlichen Bereich sind die sogenannten qualifizierten Gesetzesvorbehalte wie etwa in Art. 11 GG zu nennen, der in seinem zweiten Absatz nicht nur die gesetzliche Eingriffsmöglichkeit eröffnet, sondern dieser zugleich wiederum detaillierte inhaltliche Schranken zieht. Da - wie oben gezeigt - bei einer Eingriffskonstellation auch im Staatsorganisationsrecht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz von seiner Struktur her anwendbar ist, wäre ebenso theoretisch vorstellbar, dass der Verfassunggeber ausdrücklich Eingriffe in den verfassungsrechtlich geschützten Bereich davon abhängig macht, dass diese verhältnismäßig sind. Ist der Verfassungstext insoweit ebenso unergiebig wie im Grundrechtsteil - auch dort ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seiner Gesamtheit nicht ausdrücklich normiert 260 - , so sind doch Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in einzelnen Vorschriften ausdrücklich als Schranken genannt. Ohne hier dem zweiten, besonderen Teil der Arbeit allzu sehr vorzugreifen, seien hier etwa Art. 35 Abs. 3 GG, Art. 37 Abs. 1 GG und Art. 72 Abs. 2 GG, die das Erforderlichkeitskriterium als Schranke innerstaatlichen Handelns aufgenommen haben, genannt: Gefährdet eine Naturkatastrophe oder ein Unglücksfall mehr als ein Land, so kann die Bundesregierung gemäß Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte den anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist. 259 Vgl. auch Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 53, der von einem Optimierungsgebot spricht. Dies ist freilich insoweit missverständlich, als es nicht um die Optimierung des vom Eingriff betroffenen Bereichs, sondern um dessen Bewahrung vor unverhältnismäßigen Eingriffen geht. 260 Einige Landesverfassungen sind insoweit - wie oben dargestellt - beredter.

6 Heusch

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Art. 37 Abs. 1 GG erlaubt der Bundesregierung, wenn ein Land seine verfassungsoder gesetzmäßigen Bundespflichten nicht erfüllt, ausschließlich die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Nach Art. 72 Abs. 2 GG hat der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nur dann das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich machen. Soweit zwar der Verfassung entsprechend dem ihr immanenten Streben nach effektiver Geltung zu entnehmen ist, dass die Eingriffe der ermächtigten Stelle nicht nach Belieben erfolgen dürfen, der Verfassungstext aber keine ausdrückliche Beschränkung der Eingriffsermächtigung enthält, ist zu klären, wie die Eingriffsschranken zu bestimmen sind. Maßgeblich ist insoweit, dass die aufgegebene Wahrung des Vorrangs der Verfassung grundsätzlich einen möglichst effektiven Schutz verlangt. Jede Absenkung des Schutzniveaus weicht die Normativität der Verfassung auf. Zugleich ist zu beachten, dass die Eingriffsermächtigung selbst ebenfalls Verfassungsrang hat, die Verfassung damit ausdrücklich einen Eingriff in den verfassungsunmittelbar bestimmten Verfassungsbezirk zulässt. Diese widerstreitenden Gesichtspunkte können nur in Übereinstimmung gebracht werden, wenn die Eingriffsmöglichkeit ihrerseits Schranken unterworfen wird, die jeden Eingriff ohne hinreichenden Grund ausschließen. Ein solcher Grund fehlt, wenn in die verfassungsunmittelbare Entscheidung eingegriffen wird, ohne dass das Ziel dieses Eingriffs erreicht oder wenigstens gefördert werden kann. Der durch den Eingriff verursachten Wirkungsminderung der verfassungsunmittelbaren Grundentscheidung steht kein durch den Eingriff vermittelter Ertrag gegenüber, der den Eingriff rechtfertigen könnte. Ein hinreichender Grund für den Eingriff besteht auch dann, wenn das mit dem Eingriff verfolgte Ziel unter weiter gehender Schonung der Verfassung erreicht oder gefördert werden kann. Die Wahrung des Vorrangs der Verfassung verlangt, dass ein Eingriff nicht weiter reicht, als er erforderlich ist. Für den Eingriff und das damit erstrebte Ziel muss schließlich auch ein hinreichender Grund in dem Sinne bestehen, dass der erstrebte Ertrag des Eingriffs die durch den Eingriff bewirkte Wirkungsminderung der verfassungsunmittelbaren Entscheidung rechtfertigt. Diese Feststellung verlangt eine Abwägung, ob der Eingriff verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Der Blick weitet sich, da er nicht nur auf die einzelne Verfassungsbestimmung schaut, die durch den Eingriff betroffen ist. Maßstab ist insoweit vielmehr die Gesamtheit der Verfassung. Indem die Verfassung den Maßstab für diese Abwägung darstellt, wird ihr Vorrang gewahrt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist damit in derartigen Konstellationen das adäquate Mittel zur Wahrung des Vorrangs der Verfassung gegen nicht gerechtfertigte Eingriffe. Gleichwohl sind auch andere Eingriffsschranken denkbar. Zu erwähnen sind hier insbesondere das Willkürverbot und das damit eng verbundene Gebot der Systemgerechtigkeit.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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b) Das Willkürverbot als Eingriffsschranke im Staatsorganisationsrecht aa) Geltungsgrund, Inhalt und Reichweite des Willkürverbotes Art. 3 Abs. 1 GG ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechtsgrundlage des allgemeinen Willkürverbotes. Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, der Gleichheitssatz sei erst dann verletzt, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß." 2 6 1 Auf diese Willkürformel hat das Bundesverfassungsgericht in der Folge bis in die jüngste Zeit zurückgegriffen. 2 6 2 Das Willkürverbot richtet sich gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nicht nur an den Gesetzgeber, sondern in gleicher Weise an die beiden anderen Gewalten. Es ist seit 1980 durch die sogenannte neue Formel des Ersten Senats nicht ersetzt, wohl aber ergänzt worden. Danach ist das Gleichheitsgrundrecht „vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten." 263 Diese neue Formel intendiert einen strengeren Prüfungsmaßstab. Eine Ungleichbehandlung ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der bis dahin im grundrechtlichen Bereich vornehmlich bei Eingriffen in Freiheitsrechte als Schranken-Schranke zur Anwendung gelangte, wird somit bei intensiv wirkenden Ungleichbehandlungen auch als Maßstab im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG aktiviert. „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich" - so das Bundesverfassungsgericht - „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen." 264 Für das Staatsorganisationsrecht kann das Willkürverbot grundsätzlich nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitet werden. 265 Das Bundesverfassungsgericht sieht das 261 BVerfGE 1, 14 . 262 Vgl. BVerfGE 61, 138 ; 68, 237 ; 83, 1 ; 89, 132 . 263 BVerfGE 55, 72 . In der Folgezeit hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts diese neue Formel immer wieder aufgegriffen; vgl. BVerfGE 82, 126 ; 84, 133 ; 84, 197 ; 85, 191 ; 85, 238 ; 87, 1 ; 88, 5 ; 95, 39 . 264 BVerfGE 88, 87 ; 89, 365 . Nach dieser Rechtsprechung unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung, die den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen muss. 265 Für die Träger der funktionalen Selbstverwaltung ist es freilich umstritten, ob diese sich auf Art. 3 Abs. 1 GG berufen können; ablehnend BVerfGE 61, 82 ; 68, 6*

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Willkürverbot jedoch nicht nur in Art. 3 Abs. 1 GG verankert. Es sei nicht nur grundrechtlich im allgemeinen Gleichheitssatz gesichert, sondern zugleich ein Element des das Grundgesetz beherrschenden Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG) und gelte daher auch im Verhältnis von Hoheitsträgern untereinander. 266 Auch im Schrifttum wird die Forderung der Rechtsgleichheit als Element des objektiven Gerechtigkeitsprinzips angesehen, das seinerseits im Rechtsstaatsprinzip verankert ist; das Willkürverbot verlangt damit auch über das StaatBürger-Verhältnis hinaus innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus Geltung. 267 Aus dem Willkürverbot ergibt sich auch das Gebot der Systemgerechtigkeit. 268 Hat sich etwa der Gesetzgeber in einem bestimmten Sachbereich für ein bestimmtes Regelungssystem entschieden, steht es ihm nicht mehr frei, hiervon nach Belieben abzuweichen. Er unterliegt hier insoweit einer Selbstbindung, als eine Behandlung von einzelnen Fällen nach anderen Grundsätzen als denen, die dem gewählten System zu Grunde liegen, danach nur haltbar ist, wenn besondere Gründe sie rechtfertigen. 269 Dieses Gebot der Systemgerechtigkeit gilt als besondere Ausprägung des Willkürverbotes nicht nur im grundrechtlichen Bereich, sondern ebenso für das Staatsorganisationsrecht. Erfolgt die Staatsorganisation nach bestimmten Ordnungsprinzipien, so kann von diesen nur bei Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes abgewichen werden. 270 bb) Willkürverbot

und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Zu überlegen ist nunmehr, in welchem Verhältnis die beiden genannten Schranken-Schranken im Falle staatlicher Eingriffe im Bereich des Staatsorganisationsrechts stehen. Denkbar wäre es, die beiden Schranken staatlicher Tätigkeit als verschiedene Stufen desselben Rechtsgedankens zu begreifen. Gemein ist ihnen, den jeweils handelnden Hoheitsträger bzw. das handelnde Organ in seiner Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Das Stufenverhältnis wäre dadurch charakterisiert, dass das Willkürverbot eine lockerere Bindung erzeugte, während der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine intensivere Begrenzung verursachte. Je nach Intensität und Gewicht des Eingriffs wäre die eine oder andere Schranken-Schranke maßgeblich. 193 ; 75, 192 ; 81, 310 ; so auch Kunig, S. 312; differenzierend Bettermann, NJW 1969, S. 1321 ; Erichsen, Kommunalrecht NW, § 3 C. m. w. N.; im Hinblick auf die rechtsstaatliche Begründung offenlassend Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 522 f. 266 BVerfGE 86, 148 für das Verhältnis von Bund und Ländern; unter Verweis auf BVerfGE 21, 362 ; 23, 353 ; 26, 228 . 267 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 523; Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 167 ; Kirchhof, in FS für Geiger, S. 82 ; Schoch, DVB1. 1988, S. 863 ; Osterloh, in Sachs, GG, Art. 3 Rn. 74; Waechter, Kommunalrecht, Rn. 153 (S. 94). 268 Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung, S. 62. 269 Kluth, Funktionelle Selbstverwaltung, S. 523 f. 270 Kluth, Funktionelle Selbstverwaltung, S. 524.

3. Kap.: Anwendungsvoraussetzungen

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Eine solche Lockerung der Bindung an die Verfassung würde sich indes - vorbehaltlich einer entsprechenden ausdrücklichen Regelung - an dem der Verfassung zukommenden Vorrang stoßen. Im Übrigen bestehen gegen die Vorstellung von einem derartigen Stufenverhältnis auch andere durchgreifende Bedenken. Diese beruhen auf der prinzipiell anders gearteten Schutzwirkung, die der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Willkürverbot jeweils entfalten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke zielt darauf, den jeweils geschützten Bereich vor unnötigen und vor allem ungerechtfertigt tiefen Eingriffen zu bewahren. Das Willkürverbot bezweckt hingegen, eine ungerechtfertigte Gleich- oder Ungleichbehandlung zu verhindern. Es sind durchaus Eingriffe etwa im Bund-Länder-Verhältnis denkbar, die für sich genommen nicht unverhältnismäßig erscheinen, die aber gleichwohl, weil sie ohne rechtfertigenden Grund nur ein Land treffen, als willkürlich anzusehen sind. Umgekehrt kann etwa ein Gesetz alle Länder oder Gemeinden in gleicher Weise treffen, so dass das Verdikt eines Verstoßes gegen das Willkürverbot nicht greift: Ist der alle Adressaten gleichermaßen treffende gesetzliche Eingriff zur Zielerreichung ungeeignet, geht er über das erforderliche Maß hinaus oder ist er unverhältnismäßig im engeren Sinne, so schützt nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Für den grundrechtlichen Bereich ist die divergierende Schutzwirkung eine Selbstverständlichkeit, mit der Folge, dass Freiheitsrechte und der Gleichheitssatz im Falle staatlicher Eingriffe nicht alternativ, sondern kumulativ zu beachten sind. Für das Staatsorganisationsrecht gilt dies entsprechend. So hat etwa auch das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde einer Gemeinde gegen die gesetzlich angeordnete Eingliederung in einen Kreis zunächst geprüft, ob dieser Eingriff dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Im Anschluss hat das Gericht dann zusätzlich untersucht, ob das aus dem rechtsstaatlichen Willkürverbot abzuleitende Gebot der Systemgerechtigkeit durch die angegriffene Regelung verletzt sei, und dies verneint, weil die Beschwerdeführerin statusmäßig ebenso behandelt worden sei wie andere Gemeinden in vergleichbarer Lage. 271 Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen die ausnahmslose Verpflichtung von Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern zur Bestellung einer hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten zunächst an den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemessen. Nach der Feststellung, dass die Regelung zur Verwirklichung des Verfassungsgebots der Gleichstellung von Frau und Mann geeignet, erforderlich und nicht unangemessen sei, wird in den Entscheidungsgründen erneut angesetzt, um die Vereinbarkeit der Vorschrift mit dem Willkürverbot - unter anderem im Hinblick auf die zahlenmäßige Grenzziehung - zu erörtern und im Ergebnis zu bejahen. 272 Gegen die Annahme eines nach Schrankenintensität gestuften Verhältnisses zwischen Willkürverbot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spricht schließlich auch, 271 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NVwZ 1982, S. 95. 272 VerfGH NRW, NWVB1. 2002, S. 101 .

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

dass sich das Maß der durch das Willkürverbot erzeugten Bindung - wie die so genannte neue Formel zeigt - ebenso wie beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach der Schwere und Intensität des jeweiligen Eingriffs richtet. Beide Schranken lassen Abstufungen der gerichtlichen Prüfungsintensität zu.

4. Kapitel

Zu den Voraussetzungen und Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht im Einzelnen A. Schutzbereich und Eingriffsakt Nur wenn ein Eingriff in einen verfassungsunmittelbar definierten Bezirk vorliegt, kann - so war im vorangegangenen Kapitel festgestellt worden - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung gelangen. Fehlt es auf Verfassungsebene an einem solchermaßen definierten Bereich, lässt sich der staatliche Akt, dessen Verfassungsmäßigkeit es zu beurteilen gilt, schon aus diesem Grund nicht als Eingriff qualifizieren. In diesem Fall mögen andere verfassungsrechtliche Grenzen zu beachten sein, nicht jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch an dieser Stelle sind nur begrenzt allgemeine Ausführungen zur Struktur des Schutzbereiches und zum Eingriffscharakter staatlicher Regelungen möglich. Die notwendige Konkretisierung kann nur durch die Analyse einzelner Verfassungsnormen geleistet werden. 273

I. Der Schutzbereich Während im Staat-Bürger-Verhältnis der Staat die Freiheit vorfindet und in den Grundrechtsbestimmungen lediglich anerkennt, ist der geschützte Bereich im Staatsorganisationsrecht grundsätzlich normativ konstruiert. Voraussetzung für seine Existenz ist also regelmäßig, dass der Verfassunggeber ihn durch einen entsprechenden Rechtsetzungsakt geschaffen hat. Ob der Verfassunggeber einen solchen Rechtsbereich jeweils geschaffen hat, bedarf im Einzelfall der Interpretation der einschlägigen Verfassungsnorm. Dabei darf freilich der verfassungsunmittelbar umhegte Bereich nicht in einem räumlich-gegenständlichen Sinne missverstanden werden. Er muss vielmehr als verfassungsunmittelbare Grundentscheidung begriffen werden. Eine solche Grundentscheidung kann im Staatsorganisationsrecht den 273

Vgl. die Ausführungen im Zweiten Teil.

4. Kap.: Voraussetzungen und Grenzen im Einzelnen

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Bestand beziehungsweise die rechtliche Selbständigkeit einer juristischen Person oder eines Organs betreffen; sie kann sich auch auf die Zuweisung bestimmter näher umschriebener Aufgaben und Kompetenzen an eine juristische Person oder ein bestimmtes Organ beziehen. Darüber hinaus kann es sich ebenso um eine inhaltliche Vorgabe für eine im Staatsorganisationsrecht zu treffende Sachentscheidung handeln. Wesentlich ist insoweit, dass der Verfassunggeber oder der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst eine grundsätzlich verbindliche Regelung getroffen haben. Soweit hingegen die Verfassung nur einen Rahmen beschreibt, innerhalb dessen das zur Ausgestaltung berufene Organ frei walten kann, ist für eine Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit kein Raum. Sieht die Verfassung eine bestimmte staatsorganisationsrechtliche Regelung vor, so ist jedoch im Zweifel davon auszugehen, dass sie eine Abweichung von dieser Entscheidung, auch wenn sie eine solche Abweichung durch den Eingriffsvorbehalt ausdrücklich eröffnet, nur unter einschränkenden Voraussetzungen zulassen will. Dabei kommt es darauf an, dass der jeweilige Schutzbereich gerade gegenüber dem Organ, das zur Regelung ermächtigt wird, gesichert ist. Dies ist im Staatsorganisationsrecht insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Träger eigener Rechte geschaffen worden ist. Bei diesen Rechten kann es sich um Außenrechte, aber auch um bloße Innenrechte handeln. Es ist jeweils im Einzelnen festzustellen, ob der verselbständigte Träger von Innen- oder Außenrechten gerade in dieser seiner Eigenschaft betroffen ist. Notwendig ist - worauf oben bereits hingewiesen worden ist - jedoch eine solche subjektiv-rechtliche Position gegenüber dem zur Regelung befugten Organ nicht. Denkbar ist auch ein ausschließlich objektivrechtlich normierter Bereich, der gegen den unbeschränkten Zugriff gesichert sein soll. Von einem Schutzbereich in diesem Sinne zu unterscheiden sind verfassungsrechtlich normierte Zielvorgaben. Sie zeichnen sich durch eine andersgeartete Normstruktur aus. Sie beanspruchen zwar auch Verbindlichkeit; sie definieren jedoch keinen vorgegebenen Schutzbereich, sondern geben bestimmte Handlungsziele vor, an denen das ermächtigte Organ sein Verhalten ausrichten muss. Dabei können auch mehrere Ziele vorgegeben werden, die im Einzelfall konfligieren können und so eine Abwägungsentscheidung verlangen. Diese Abwägungsentscheidung erfolgt nach anderen Kriterien als denen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der mangels Eingriffscharakters der zu treffenden Entscheidung als Maßstab ausscheidet.

II. Der Eingriffsakt Eingriffsqualität hat eine staatliche Maßnahme nur dann, wenn sie den vorgegebenen Rechtsbereich be- oder einschränkt. Im Regelfall wird dies leicht feststellbar sein, insbesondere bei gezieltem Vorgehen der handelnden Stelle. Die in der Grundrechtsdogmatik - auch mit der Weiterung des klassischen Eingriffsbegriffs

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

verbundenen - Definitionsprobleme stellen sich im Bereich des Staatsorganisationsrechts nicht in gleicher Schärfe. Der geschützte Bereich ist hier - anders als die grundrechtliche Freiheitssphäre nach dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip nicht grundsätzlich unbeschränkt gedacht. Der Verfassunggeber nimmt vielmehr, indem er den Rechtsbereich schafft, notwendig zugleich eine - gegebenenfalls durch Interpretation zu ermittelnde - Definition, d. h. Begrenzung dieses Bereichs vor. Beeinträchtigungen bzw. Verkürzungen dieses Bereichs sind daher leichter feststellbar. Denkbar sind abstrakt-generelle wie auch konkret-individuelle Eingriffe. Der Eingriff kann entsprechend in verschiedener Gestalt erfolgen. Die äußere Rechtsform ist insoweit nicht wesentlich. Neben dem Eingriff des Parlaments unmittelbar durch Gesetz kommen auch andere Akte anderer Organe - etwa der Regierung - in Betracht. Maßgeblich ist insoweit allein, dass der jeweilige Akt rechtserhebliche Folgen gerade für den verfassungsunmittelbar geschützten Bereich zeitigt.

B. Vorrang normspezifischer Eingriffsbeschränkungen Soweit das Grundgesetz nicht nur die Ermächtigung zum Eingriff, sondern zugleich auch ausdrücklich bestimmte Grenzen dieser Eingriffsbefugnis normiert, gehen diese dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Dabei ist jedoch zu differenzieren: Nennt das Grundgesetz einzelne Teilelemente des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranken - hier ist insbesondere an das Erforderlichkeitskriterium zu denken - , ist damit die Anwendbarkeit der übrigen Teilelemente nicht ausgeschlossen. Dies ergibt sich für den Grundsatz der Geeignetheit bereits daraus, dass er dem Grundsatz der Erforderlichkeit logisch vorrangig ist. Sinnvoller Weise kann nämlich nach der Notwendigkeit oder Erforderlichkeit eines Eingriffs nur gefragt werden, wenn zuvor seine Eignung festgestellt worden ist. Es spricht aber auch nichts dafür, dass der Verfassunggeber mit der ausdrücklichen Normierung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in jedem Falle die nachrangige Prüfung, ob eine bestimmte staatliche Maßnahme auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist, ausschließen wollte. Die Akzentuierung des Erforderlichkeitsgesichtspunktes kann vielmehr auch bezwecken, das handelnde Organ zu besonderer Zurückhaltung sowie das gegebenenfalls kontrollierende Organ zu strenger Prüfung dieser Schranken-Schranke anzuhalten. Die Normanalyse kann indes auch ergeben, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einzelfall nur eingeschränkt zur Anwendung gelangt. So ist denkbar, dass der Verfassung selbst eine Grundentscheidung in dem Sinne entnommen werden kann, ein Eingriff solle, wenn er zur Erreichung des verfassungslegitimen Zwecks erforderlich sei, auch zulässig sein. In diesem Fall hat die Verfassung selbst bereits im Vorhinein und in genereller Weise die auf der dritten Stufe der Verhältnismäßig-

4. Kap.: Voraussetzungen und Grenzen im Einzelnen

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keitsprüfung angesiedelte Abwägung zugunsten des mit dem Eingriff verfolgten Zwecks getroffen. Die Zulässigkeit eines Eingriffs kann dann ohne Abwägung im Einzelfall beurteilt werden. Dies bedeutet insoweit einen Gewinn an Rechtssicherheit, als hierdurch das zum Eingriff ermächtigte Organ wie auch das gegebenenfalls kontrollierende Gericht die Eingriffsvoraussetzungen leichter feststellen können. Die Entscheidung der Gerichte ist, da sie keine wertende Abwägung vorzunehmen haben, voraussehbarer. Vorstellbar ist auch, dass der Verfassunggeber den auf der Verfassungsebene konstituierten Bereich in anderer Weise gegen den unbeschränkten Zugriff sichern wollte. In Betracht kommen insoweit neben verfassungsrechtlich normierten, konkret-inhaltlichen Vorgaben für das eingreifende Organ auch verfahrensrechtlich ausgestaltete Kontrollmechanismen. Da wegen des dem Grundgesetz eigenen Geltungswillens nicht angenommen werden kann, es wollte von ihm konstituierte Rechtsbereiche der Beliebigkeit preisgeben, können derartige Kontrollmechanismen jedoch nur dann genügen, wenn durch sie eine effektive Schutzgewähr zu erwarten ist. Ist dies nicht der Fall, ist zu überlegen, ob daneben der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als materiell-inhaltliche Schranken-Schranke zur Anwendung kommt. Mit diesen kurzen Hinweisen soll es hier sein Bewenden haben. Weiter gehende Überlegungen hinsichtlich möglicher Schutzvorkehrungen - losgelöst von einzelnen Normen des Grundgesetzes - anzustellen, könnte verfassungstheoretisch äußerst reizvoll sein, entspricht jedoch nicht dem auf die konkrete Ordnung des Grundgesetzes bezogenen Anliegen der Untersuchung.

C. Wahrung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung In einem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 1984 heißt es: „Auch für die Argumentationsfigur des „milderen Mittels" bietet die Kompetenzordnung des Grundgesetzes keine Grundlage. Ein milderes Mittel ist dort denkbar, wo der Staat in die Rechtssphäre der Bürger eingreift, nicht jedoch bei der Anwendung der Kompetenzordnung und -Verteilung zwischen Bund und Ländern, wo es um feste und eindeutige Grenzziehungen geht." 274 Oben ist dargelegt worden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht - wie vom Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung angenommen - auf das StaatBürger-Verhältnis beschränkt ist, sondern auch im Staatsorganisationsrecht seinen legitimen Anwendungsbereich findet. Gerade um einer Aufweichung des Grundsatzes entgegenzuwirken, sind aber auch seine Grenzen aufzuzeigen. Zu Recht stellt Isensee daher nach Wiedergabe der soeben zitierten Ausführungen des Bun274 BVerfGE 67, 256 ; vgl. auch Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118 f.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

desVerfassungsgerichts fest, die Berufung auf das Übermaßverbot sei schlechthin ungeeignet, die verfassungsrechtlich vorgegebene Kompetenzordnung zu verschieben. 275 Dagegen kommt jedoch seine Anwendung in Betracht, wenn es etwa gilt, die Eigenständigkeit und den Wirkungskreis der Länder tunlichst zu schonen.276 Damit ist die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Ordnung des Grundgesetzes umschrieben: nicht Kompetenzbegründung oder -Verschiebung, sondern Kompetenzbegrenzung zur Wahrung verfassungsunmittelbar konstituierter Rechtsbereiche. Gleichwohl ist einzuräumen, dass die Kompetenzordnung und -ausübung durch die begrenzende und für Wertungen offene Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an Schärfe und Klarheit verliert. Dies ist gewissermaßen der Preis für den Schutz der verfassungsunmittelbaren Grundentscheidung vor dem beliebigen Zugriff des zur Regelung berufenen Organs. Dabei ist zu beachten, dass das Grundgesetz mit der Einräumung einer Eingriffskompetenz zum Ausdruck gebracht hat, dass es Eingriffe in die jeweiligen Bereiche zulassen will. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt entsprechend auch nicht die Kompetenz als solche wieder in Frage, sondern normiert nur inhaltliche Vorgaben für ihre Ausübung. Seine Anwendung darf infolgedessen nicht dazu führen, eingeräumte Kompetenzen leer laufen zu lassen.

D. Die Kontrolle durch die Rechtsprechung Jede Verhältnismäßigkeitsprüfung kann nur in Hinsicht auf einen zuvor bestimmten Bezugspunkt erfolgen. 277 Mit anderen Worten: Ob eine bestimmte Maßnahme geeignet, erforderlich und auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist, kann nur auf ein zuvor bestimmtes Ziel hin untersucht werden. Soweit Gegenstand der Untersuchung ein bestimmtes staatliches Handeln ist, ist der Bezugspunkt das vom Staat mit dieser Handlung verfolgte Ziel bzw. deren Zweck. Dieser Zweck kann unmittelbar und exklusiv in der Ermächtigungsgrundlage, auf die sich der Staat für sein Handeln beruft, genannt sein. Denkbar ist auch, dass das handelnde staatliche Organ den Zweck seiner Handlung selbst zu bestimmen hat. Im grundrechtlichen Bereich begegnen beide Arten der Zwecksetzung. So nennt etwa Art. 11 Abs. 2 GG die Zwecke, die der Gesetzgeber verfolgen darf, wenn er das Grundrecht der Freizügigkeit einschränkt oder entsprechende Ermächtigungen für die Exekutive schafft. Im Gegensatz zu diesem qualifizierten Gesetzesvorbehalt stehen die so genannten allgemeinen Gesetzesvorbehalte, wie etwa in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG. Der Vorschrift ist selbst nicht zu entnehmen, zu welchem Zweck der Gesetzgeber Eingriffe in die zuvor in Art. 2 Absatz 2 Satz 1 und 2 GG genannten Grundrechte zu275 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118. 276 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118. 277 Vgl. Kröger/Moos, BayVBl. 1997, S. 705 .

4. Kap.: Voraussetzungen und Grenzen im Einzelnen

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lassen darf. Den jeweiligen Zweck hat der Gesetzgeber selbst zu bestimmen. Dabei darf er jedoch nicht nach Belieben vorgehen. Die Zwecksetzung unterliegt vielmehr zwei Schranken: Zum einen darf der Gesetzgeber nur einen Zweck verfolgen, der als solcher mit der Verfassung zu vereinbaren ist. Zum anderen muss eine Abwägung ergeben, dass der verfolgte Zweck den mit dem staatlichen Handeln einhergehenden Eingriff zu rechtfertigen vermag. Letzteres ist nichts anderes als die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Im Falle eines speziellen Gesetzesvorbehaltes, der die zulässigerweise verfolgten Zwecke staatlichen Handelns selbst (abschließend) benennt, entfällt, wenn der Gesetzgeber innerhalb dieser Vorgaben bleibt, die Überprüfung, ob der Zweck als solcher legitim ist. Dies gilt nicht in gleicher Weise für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Ob eine solche Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne geboten ist, bedarf jeweils einer genaueren Analyse. Indes kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke staatlichen Handelns nur effektiv werden, wenn und soweit er sich als Maßstab einer Kontrolle eignet. Eine solche Kontrolle insbesondere durch die Gerichte ist ausgeschlossen, wenn weder der verfolgte Zweck dem handelnden Organ vorgegeben noch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne vorgesehen ist. Denn dann bestimmt das handelnde Organ autonom, ohne inhaltliche Bindung über die von ihm verfolgten Zwecke. Eine auf Eignung und Erforderlichkeit beschränkte Kontrolle liefe weitgehend leer. Regelmäßig kann nämlich der Zweck so definiert werden, dass sich gerade die gewählte Maßnahme als erforderlich erweist. Im Ergebnis wenig anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn zwar dem handelnden Organ bestimmte Zwecke als legitim vorgegeben werden, diese aber unbestimmt sind und die inhaltliche Konkretisierung dem handelnden Organ letztverantwortlich aufgegeben ist. 2 7 8 Im Übrigen besagt der schlagwortartige Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur sehr wenig über die Eingriffsschranken. Maßgeblich ist, mit welchem Verbindlichkeitsgrad und mit welcher Kontrolldichte bzw. Justitiabilität der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung gelangt. 279 Ist dies evident, so mutet die gegenteilige Vorstellung, die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes könne dem eingreifenden Organ in Letztverantwortung selbst überlassen werden, 280 aus historischer Sicht nahezu naiv an. Die Ausformung, die der Gewaltenteilungsgrundsatz im Grundgesetz erhalten hat, beruht gerade auf der Einsicht, dass die Beachtung materieller Vorgaben bei der Entscheidungsfindung nur dann gewährleistet ist, wenn nicht dem handelnden Organ selbst, sondern einem davon getrennten, eigenständigen Organ diese inhaltliche Kontrolle überantwortet ist. 278 So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 279 Papier, DVB1. 1984, S. 453 , der pointiert feststellt, dass derjenige, der diese Nuancierungen nicht beachtet, gedanklich auf einem Nebenkriegsschauplatz kämpft. 280 So Bleckmann, JuS 1994, S. 177 : Das Parlament habe bei der Abwägung öffentlicher Interessen im Wege der Selbstkontrolle die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu überprüfen.

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1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlegung

Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle bestimmt letztlich die Verbindlichkeit, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz effektiv zukommt. Die Kontrolle der Legislativ- und Exekutivakte auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist grundsätzlich Aufgabe der Gerichte, insbesondere der Verfassungsgerichte, das heißt - soweit es um die Vereinbarkeit mit Bundesverfassungsrecht geht - des Bundesverfassungsgerichts. Die Dichte und Intensität der Kontrolle ist dabei nach dem jeweiligen Sachbereich, nach der Stellung des eingreifenden Organs, der Rechtsnatur des Eingriffsaktes und der Intensität des Eingriffs zu bemessen. Dem unmittelbar demokratisch legitimierten und zur Ausgestaltung der Rechtsordnung berufenen Gesetzgeber kommt regelmäßig ein weiterer Spielraum zu als der gesetzesvollziehenden Exekutive. Der Weite des Entscheidungsspielraums korrespondiert dabei jeweils in umgekehrtem Verhältnis die Kontrolldichte auf Seiten der Judikative. Auch hier muss es zunächst mit diesen eher allgemeinen Hinweisen sein Bewenden haben. Gerade weil der Gestaltungsspielraum des eingreifenden Organs und entsprechend die gebotene Kontrolldichte von mehreren Kriterien abhängen, kann eine Konkretisierung nur mit Blick auf die jeweilige Vorschrift des Grundgesetzes erfolgen. 281

28i Vgl. Ossenbühl, in FS 50 Jahre BVerfG, S. 33 .

Zweiter Teil

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsgefüge des Grundgesetzes Detailanalyse einzelner Normen des Grundgesetzes

1. Kapitel

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Bundesstaat A. Das Verhältnis von Bund und Ländern Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat. So sagt es Art. 20 Abs. 1 GG. In den nachfolgenden Bestimmungen der Verfassung erfährt dieser Bundesstaat seine konkrete Ausgestaltung. Kennzeichnend für diesen Bundesstaat ist, dass neben dem Gesamtstaat Gliedstaaten existieren, die über eine eigene, unabgeleitete Staatsqualität verfügen. 1 Das Grundgesetz hat seinerseits die Länder nicht geschaffen. Es hat sie teilweise im Zeitpunkt seiner eigenen Entstehung vorgefunden. Im Übrigen war es offen für die Erweiterung, die sich zunächst mit der Wiedereingliederung des Saarlandes und später im Jahre 1990 mit dem Beitritt der zuvor wiedergegründeten sogenannten fünf neuen Länder vollzog. Hat das Grundgesetz die Bundesländer auch nicht geschaffen, so erkennt es sie jedoch ausdrücklich an. In seiner Präambel werden die Länder, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands in ihrer Gesamtheit das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausmachen, einzeln aufgeführt. Bund und Länder sind, jeweils für sich, rechtlich und organisatorisch verselbständigte Gebietskörperschaften. 2 Sie erstrecken und beziehen sich indes auf dieselben Menschen in demselben Territorium. Da es kein landesfreies bzw. bundesfreies Gebiet gibt 3 , wirkt sich notwendig jede Maßnahme des Bundes, soweit sie 1 Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Jahre 1961 klargestellt, dass es neben dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten keinen weiteren Zentralstaat gibt (BVerfGE 13, 54 ) und damit seine frühere, im Sinne eines dreigliedrigen Bundesstaatsbegriffs zu deutende Auffassung im Konkordatsurteil (BVerfGE 6, 309 ) korrigiert. 2 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 20.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

im Inland Rechtsfolgen zeitigt, zumindest auch in einem Bundesland aus. Umgekehrt vollzieht sich jede außenwirksame Maßnahme eines Bundeslandes im Staatsgebiet des Bundes und betrifft Bürger und Einwohner, die auch der Staatsgewalt des Bundes unterworfen sind. Es hieße jedoch das Wesen des Bundesstaates und seiner Ausformung im Grundgesetz zu verkennen, hierin immer jeweils einen Eingriff des Glied- oder Gesamtstaates in den Bereich des jeweils anderen zu sehen. Denn nach der Ordnung des Grundgesetzes sind die Kompetenzen des Gesamtstaates und der Gliedstaaten derart aufgeteilt, dass die Kompetenzausstattung einer jeden Seite für sich genommen unvollständig ist und die Zuständigkeiten nur zusammengenommen der dem Staat wesenseigenen Allzuständigkeit entsprechen.4 Ist danach die Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe allein dem Bund als Gesamtstaat oder den Ländern als Gliedstaaten zugewiesen, so stellt sich die Ausübung dieser Kompetenz im Einzelfall nicht als Eingriff in den verfassungsrechtlich determinierten Bereich des jeweils anderen Hoheitsträgers dar, der diesem gegenüber rechtfertigungsbedürftig wäre. Damit scheidet insoweit notwendig der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke und Maßstab verfassungsgemäßen Handelns im bundesstaatlichen Verhältnis a priori aus.5 Grundlegend anders stellt sich die Rechtslage aber dann dar, wenn die Länder selbst durch einen gesamtstaatlichen Akt in ihrer Existenz betroffen sind. Dasselbe gilt, wenn den Ländern durch das Grundgesetz eine Zuständigkeit verfassungsunmittelbar zugewiesen worden ist und der Bund nunmehr auf diesem Gebiet tätig wird und dadurch die Kompetenzen der Länder im konkreten Fall beschneidet. Durch die grundgesetzliche Zuweisung einer bestimmten Kompetenz ist den Ländern ein verfassungsrechtlich definierter und geschützter Zuständigkeitsbereich übertragen. Das Handeln des Bundes stellt sich insoweit als Eingriff in diesen Bereich dar. Dieser Eingriff, der selbst keine verfassungsrechtliche Qualität hat, bedarf gegenüber dem höherrangigen Grundgesetz der Rechtfertigung. Ob in diesem Zusammenhang dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Funktion als Maßstab zukommt, ist nach den im ersten Teil entwickelten Kriterien jeweils gesondert zu bestimmen.

3 Umstritten ist lediglich, ob Art. 79 Abs. 3 GG es zulässt, dass im Wege einer Verfassungsänderung Ausnahmen von der verfassungsrechtlichen Garantie der Gebietsidentität gemacht werden, etwa die Bundeshauptstadt wie in den USA aus der Landeshoheit ausgenommen und damit ein landesfreier Bundesdistrikt geschaffen wird; bejahend etwa Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 22 m. w. N. auch zur ablehnenden Literatur. 4 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 20. 5 Sehr wohl kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke im Verhältnis zu dem von einer außenwirksamen Maßnahme Betroffenen zur Geltung kommen.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

95

B. Eingriffe des Bundes in den Bestand eines Landes Das Grundgesetz garantiert weder den konkreten Zuschnitt eines Landes noch seine Existenz absolut (dazu unter I.). Wird aber der territoriale Bestand eines Bundeslandes durch eine Maßnahme des Gesamtsstaates tangiert, liegt unzweifelhaft ein Eingriff gegenüber diesem Land vor. Dies gilt nicht nur dann, wenn das Land etwa durch Angliederung an ein anderes Land oder zwangsweisen Zusammenschluss - in seiner Existenz getroffen wird, sondern auch im Falle bloßer Schmälerungen seines Gebietsbestandes. Zu differenzieren ist bei den Eingriffen zwischen solchen Gebietsänderungen, die nicht die Außengrenzen der Bundesrepublik berühren (dazu unter II.), und solchen, die zugleich das Territorium des Gesamtstaates tangieren (dazu unter III.). 6

I. Garantie der föderativen Ordnung Art. 79 Abs. 3 GG schließt eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder berührt wird, aus. Damit wird zwar die grundsätzlich föderative Ordnung der Bundesrepublik verfassungskräftig - auch gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber - garantiert, nicht jedoch der Bestand eines jeden konkreten Landes für unantastbar erklärt. 7 Legt dies bereits der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG nahe, so findet dieses Verständnis seine Bestätigung in Art. 29 GG, der ausdrücklich eine Neugliederung zulässt.8 Schlagwortartig wird diese Konzeption als „labiler Bundesstaat"9 oder - präziser - als „stabiler Bundesstaat mit labilen Bundesländern" 10 bezeichnet.

6 Vgl. Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 23. 7 Nach Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 34 müssen jedoch unter allen Umständen mindestens zwei Länder übrig bleiben, da ansonsten keine Gliederung in „Länder" mehr vorliege. Vgl. auch Meyer-Teschendorf, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 29 Rn. 21. 8 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 35, der zutreffend darauf hinweist, dass Art. 29 GG selbst nicht zum änderungsfesten Bestand des Grundgesetzes gehört, so dass im Wege der Verfassungsänderung die Möglichkeiten der Neugliederung noch erweitert werden könnten. 9 So etwa Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 29 Rn. 14, 16.

10 So v. Münch, Staatsrecht I, Rn. 498; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 29 Rn. 8. Greulich, S. 133, ist allerdings der Auffassung, dass Art. 29 GG in seiner revidierten Fassung „faktisch einen territorial statischen Bundesstaat geschaffen" habe.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

II. Neugliederung und sonstige Gebietsänderungen nach Art. 29 GG L Das Normprogramm des Art. 29 GG Art. 29 GG regelt ausschließlich Gebietsänderungen der Länder, die die Außengrenzen des Bundesgebietes nicht berühren. Die Neugliederung ist nur eine, freilich die der Sache nach wichtigste Form einer solchen bundesinternen Gebietsänderung. Der Oberbegriff ist - wie sich aus Art. 29 Abs. 7 GG ergibt - die „Änderung des Gebietsbestandes der Länder". Die Vorschrift differenziert im Weiteren nach zweierlei Kriterien: Zum einen nach dem Umfang der Änderung; zum anderen nach der Form, in der sich diese vollzieht. Eine Gebietsänderung unterhalb der Schwelle einer Neugliederung ist nur dann gegeben, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 50.000 Einwohner hat. Sind mehr als 50.000 Einwohner betroffen, handelt es sich um eine Neugliederung. Neugliederung wie sonstige Gebietsänderung können durch Bundesgesetz oder Staatsvertrag der betroffenen Länder erfolgen. Absätze 1 bis 6 des Art. 29 GG enthalten detaillierte verfahrensrechtliche wie materiellrechtliche Regelungen zur Neugliederung durch Bundesgesetz; Abs. 8 dieser Verfassungsvorschrift sieht die Neugliederung durch Staats vertrag vor. Art. 29 Abs. 7 GG nennt die beiden alternativen Formen im Falle sonstiger Gebietsänderungen, wobei das Rangverhältnis der beiden Alternativen umstritten ist. 2. Der Eingriffscharakter

einer Gebietsänderung

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der vor übermäßigen Eingriffen schützen soll, scheidet naturgemäß von vornherein als Maßstab aus, wenn gar kein Eingriff vorliegt. Einigen sich zwei Länder einverständlich auf vertraglichem Wege über eine bestimmte Gebietsänderung - sei es über eine solche, von der nicht mehr als 50.000 Einwohner betroffen sind, sei es über eine Neugliederung - so fehlt es an einem Eingriff des Bundes gegenüber den jeweiligen Ländern bereits deshalb, weil der Bund an dem Rechtsgeschäft und damit an der Rechtsänderung gar nicht beteiligt ist. Da sich die Länder auf der Ebene der Gleichordnung begegnen und eine einverständliche Regelung treffen, kann auch der einen Gebietsverlust herbeiführende Staatsvertrag nicht als Eingriff des einen Landes gegenüber dem anderen Land qualifiziert werden. Nimmt hingegen der Bund durch ein Bundesgesetz eine Neugliederung vor, so stellt dieser Akt gegenüber dem Land, das in seiner Existenz betroffen ist oder Staatsgebiet an ein anderes Land verliert, einen Eingriff dar. Auch gegenüber dem „gewinnenden" Land ist die Zuweisung von Gebiet als Eingriff zu werten, weil dieses eine Verfügung über sein Gebiet hinnehmen muss.11 Ein rechtfertigungs11 Gerade wenn eher strukturschwache Gebiete zugewiesen werden, wird der Eingriffscharakter der Zuweisung auch gegenüber dem „gewinnenden" Land deutlich.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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bedürftiger Eingriff wäre nur dann zu verneinen, wenn das Bundesgesetz in seiner Wirksamkeit von der Zustimmung seitens der jeweils betroffenen Länder abhinge. Gerade ein solches Zustimmungserfordernis sieht Art. 29 GG jedoch nicht vor. Das Bundesgesetz bedarf nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 GG nur der Bestätigung durch Volksentscheid. Auf die Zustimmung der Länder kommt es nicht an; sie sind nur anzuhören, ohne dass ihren Äußerungen im Anhörungsverfahren im Ergebnis Rechnung getragen werden müsste. Mag das Erfordernis der plebiszitären Zustimmung dem Bundesgesetz auch eine erhöhte demokratische Legitimation verleihen; die Länder als eigenständige Rechtssubjekte werden gleichsam durch Mitwirkung ihres eigenen Souveräns überspielt. 12 Nicht besser aus Sicht der Länder sieht es bei sonstigen Gebietsänderungen unterhalb der Neugliederungsschwelle aus. Hier ist nicht einmal eine Anhörung der Länder vorgesehen; Art. 29 Abs. 7 Satz 3 GG schreibt dem Ausführungsgesetzgeber nur die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise obligatorisch vor.

3. Das Wohl des Staatsganzen und die Stellung der Länder Stellt Art. 29 GG die Länder gegenüber eingreifenden Bundesgesetzen, soweit es um deren verfahrensrechtliche Stellung geht, weitgehend schutzlos, so erheben sich Zweifel, ob sich mit dieser Regelung ein substantieller materieller Schutz der Länder verträgt. Anders gewendet ist zu fragen, ob der verfahrensmäßigen Minderstellung der Länder auch ein geminderter materieller Schutz oder gar die Schutzlosigkeit vor Eingriffen des Bundesgesetzgebers entspricht. In diesem Sinne ließe sich folgende Äußerung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 11. Juli 1961 zu Art. 29 Abs. 1 GG a. F. verstehen: „Die Neugliederung ist nicht im Interesse der bestehenden Länder vorgesehen, sondern nur im Interesse des Ganzen, und sie erfolgt auch nur nach den übergeordneten Gesichtspunkten des Ganzen (Art. 29 Abs. 1 GG)." 1 3 Noch deutlicher heißt es wenig später in demselben Urteil: „Bei der Neugliederung kann der Bund begrifflich Bundestreue im Verhältnis zu den bestehenden Ländern nicht einhalten, da die Wahrung der Interessen der bestehenden Länder bewusst aus dem Vorgang ausgeklammert ist und ein Land sogar beseitigt werden kann." 14 Tatsächlich wird im Schrifttum vereinzelt aus diesen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gefolgert, ein Land, das durch eine Neugliederung aufgelöst würde, sei zwar in einem hiergegen gerichteten Verfassungsrechtsstreit prozeßfähig. Es könnte indes ein subjektives Recht, vor Neugliederung verschont zu bleiben, dabei auch nicht im Sinne eines Rechts auf fehlerfreie Ermessensausübung im Blick auf die Ziele und Kriterien der Neugliederung

12 Meyer-Teschendorf, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 29 Rn. 37, weist zu Recht darauf hin, dass sich für die Länder aus Art. 29 Abs. 2 Satz 2 GG keine Veto-Position ergebe. 13 BVerfGE 13, 54 . 14 BVerfGE 13, 54 ; siehe auch BVerfGE 49, 10 .

7 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

geltend machen, da diese dem Bund ausschließlich zum Wohl des Ganzen aufgegeben sei. 15 Ist außer Streit, dass sich eine bundesgesetzliche Neugliederung am Wohl des Staatsganzen zu orientieren hat, so sind freilich die daraus abgeleiteten, soeben wiedergegeben Konsequenzen keineswegs überzeugend. Denn der vorgegebene Zweck besagt nichts darüber, ob das betroffene Land einen Anspruch auf Schutz vor etwaigen unrechtmäßigen Neugliederungsmaßnahmen hat. 16 Offenkundig wird dieser Fehlschluss, wenn die Argumentation in den grundrechtlichen Bereich übertragen wird. Niemand würde ernsthaft behaupten, dass derjenige, in dessen Freiheit eingegriffen wird, allein deshalb keinen Abwehranspruch haben kann, weil Freiheitsbeschränkungen nur im Interesse des Gemeinwohls oder eines anderen Rechtsgutes erfolgen dürfen. Im Falle eines Grundrechtseingriffs konzentrieren sich die Überlegungen gerade darauf, ob der verfolgte Zweck den Eingriff zu rechtfertigen vermag. Nur wenn dies so ist, muss der betroffene Grundrechtsträger den Eingriff hinnehmen.

4. Materielle Vorgaben des Art. 29 GG Ist damit der sich vermeintlich aus der Zweckbestimmung ergebende Einwand gegen einen materiellen Schutz der betroffenen Länder ausgeräumt, so ist damit ein solcher noch nicht positiv festgestellt. Im Ersten Teil der Untersuchung war darauf hingewiesen worden, dass es dem Verfassunggeber und auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber - letzterem in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG frei steht, eigene Entscheidungen von Verfassungsrang in der Weise zur Disposition des Gesetzgebers zu stellen, dass dieser bei Eingriffen nicht an weitere materielle Vorgaben, wie etwa den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gebunden ist. Fehlt jedoch eine solche ausdrückliche Ermächtigung an den einfachen Gesetzgeber zur freien Gestaltung, so ist Vorsicht bei der vorschnellen Lösung vor möglicherweise missliebigen verfassungsrechtlichen Bindungen angebracht. Im Zweifel entspricht es - wie im Ersten Teil dargestellt - nicht dem Wesen der sich selbst Vorrang zusprechenden Verfassung, ihre Entscheidungen zur freien Disposition zu stellen. Und in der Tat ergeben sich aus Art. 29 Abs. 1 GG Vorgaben materieller Art, die die gesetzgeberische Entscheidung binden.17 Nach dessen Satz 1 kann das Bundesgebiet neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Enthielt Art. 29 Abs. 1 GG in der ursprünglichen Fassung einen Neugliederungs15 So Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 29 Rn. 13 m. w. N. 16 Richtig ist hingegen, dass ein bestehendes Land kein subjektives Recht auf Neugliederung geltend machen kann. 17 Diese materiellen Bindungen des Gesetzgebers bestehen auch im Verfahren nach Art. 29 Abs. 4 und 5 GG.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

99

auftrag an den Bundesgesetzgeber, so ist dieser seit 1976 nur noch ermächtigt, eine Neugliederung durchzuführen. Aus der hier interessierenden Perspektive der bestehenden Länder beinhaltet die Kann-Vorschrift in Verbindung mit der klar umrissenen Ziel vorgäbe aber zugleich eine Beschränkung des Gesetzgebers: Er darf auch nur tätig werden, um diese Ziele zu verwirklichen. Eine Neugliederung zu anderen Zwecken wäre mithin verfassungswidrig. Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG nennt Belange, die bei der Entscheidung über die Neugliederung zu berücksichtigen sind. Zu den dort ausdrücklich genannten Abwägungsgesichtspunkten gehört nicht das Interesse des betroffenen Landes an Erhaltung seines Gebietes oder an seiner eigenen staatsrechtlichen Fortexistenz. 18 Gleichwohl werden hierdurch zumindest mittelbar auch die bestehenden Länder geschützt. Denn je länger diese in ihrer jetzigen Form existieren, um so mehr wird sich die jeweilige Bevölkerung mit „ihrem Land" identifizieren, so dass etwa im Falle der Neugliederung mittelbar für die Länder die „landsmannschaftliche Verbundenheit" der Bevölkerung oder die „geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge" streiten. Die in Art. 29 Abs. 1 GG genannten materiellen Kriterien beanspruchen im Übrigen auch dann Geltung, wenn der Bundesgesetzgeber im vereinfachten Verfahren eine Gebietsänderung unterhalb der Neugliederungsschwelle nach Art. 29 Abs. 7 GG vornimmt. 19 Der Schutz der Länder erschöpft sich demnach nicht in der vorbehaltlosen institutionellen Garantie. Das Grundgesetz enthält vielmehr überdies eine rechtlich zwar bedingte, praktisch aber wirksame Bestandsgarantie für die vorhandenen Länder, da die Existenz des einzelnen Landes und der Umfang seines Gebietes gemäß Art. 29 GG nur unter höchst anspruchsvollen formellen und materiellen Bedingungen angetastet werden darf. 20 Ist damit ein Bereich verfassungsrechtlich definiert, der gegen beliebige Eingriffe seitens des Bundes gesichert ist, erhebt sich die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in diesem Zusammenhang die Funktion einer Schranken-Schranke zukommt. Ausdrücklich wird er oder eines seiner Teilelemente in Art. 29 GG nicht erwähnt. Damit ist seine Anwendung jedoch nicht ausgeschlossen. Als Kann-Bestimmung eröffnet Art. 29 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber vielmehr ein Ermessen, in dessen Rahmen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durchaus als Schranke Geltung erlangen kann.

Nach Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG sind bei der Neugliederung zu berücksichtigen die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung. !9 Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 29 Rn. 35 m. w. N. 20 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 114. Zweifelhaft erscheint es indes, wenn Hinsch, S. 89, aus der in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG bestimmten Reihenfolge der Fragestellung im Falle eines Volksentscheides ableitet, dass das Grundgesetz in erster Linie das Vorhandene bewahren und Veränderungen hintanstellen wolle. T

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefüge des Grundgesetzes

5. Das verfassungslegitime

Ziel einer Gebietsänderung

Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG nennt das einzig verfassungslegitime Ziel einer bundesgesetzlichen Gebietsänderung: Diese ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie darauf zielt, im Ergebnis Länder zu schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.21 Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG bestimmt aber nicht nur das Ziel, das der Gesetzgeber bei einer Neugliederung subjektiv verfolgen muss. Durch ihre passivische Konstruktion macht diese Vorschrift zugleich deutlich, dass die Gebietsänderung auch objektiv geeignet sein muss, dieses Ziel zu erreichen bzw. ihm näher zu kommen.22 Da der Gesetzgeber eine prognostische Entscheidung zu treffen hat, steht ihm insoweit eine Einschätzungsprärogative bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage und der künftigen Entwicklung zu. Steht das Neugliederungs- oder Gebietsänderungsgesetz in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auf dem Prüfstand, kann es nicht Aufgabe des Gerichts sein, diese Einschätzung durch seine eigene, gegebenenfalls abweichende zu ersetzen. Das Bundesverfassungsgericht ist insoweit vielmehr darauf beschränkt zu untersuchen, ob die tatsächlichen Annahmen des Gesetzgebers betreffend die gegenwärtige Sachlage korrekt sind und seine Prognose der künftigen Entwicklung nach einer Neugliederung vertretbar erscheint. Dem Gesetzgeber obliegt in diesem Rahmen jedoch eine entsprechende Argumentationslast. 23

6. Die Erforderlichkeit

der Gebietsänderung

Fraglich ist, ob die Neugliederung auch erforderlich sein muss. Das wird sicherlich in dem Sinne zu bejahen sein, dass eine Neugliederung dann nicht zulässig ist, wenn die Länder auch im gegenwärtigen Zuschnitt in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen. 24 Eine Gebietsänderung, die lediglich gleich wirksame Gliedstaaten hervorbrächte, entspräche dann möglicherweise bereits nicht der verfassungsrechtlichen Zielvorgabe, wäre sicher aber nicht erforderlich. 25 Sieht man von diesem 21

Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 29 Rn. 37. Vgl. auch Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 29 Rn. 37. Im Übrigen ist eine Neugliederung auch in mehreren Schritten zulässig. 23 Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 29 Rn. 37. 24 In diesem Sinne BR-Drs. 96/76, S. 8: „Wenn heute eine Neugliederung die Integrität bestehender Länder soll beeinträchtigen können, so kann sie nur dadurch legitimiert sein, daß sie erforderlich erscheint, um eine anders nicht gegebene Leistungsfähigkeit der in Frage stehenden Regionen zur Erfüllung der ihnen zufallenden Aufgaben in ihrer Gesamtheit zu sichern." 22

25

Meyer-Teschendorf, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 29 Rn. 26 f., interpretiert Art. 29 Abs. 1 GG zwar auch in einem negativ-abwehrenden Sinn, allerdings weniger strikt. Nach seiner Ansicht ist dem Gesetzgeber „jedenfalls" die Bildung solcher Länder untersagt, die nicht oder noch schlechter in der Lage sind, die ihnen nach dem Grundgesetz zukommenden Kompetenzen zu erfüllen.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

101

unproblematischen Fall ab, bleibt die Frage, ob ein bei einem oder mehreren Ländern festgestelltes Defizit an Effizienz und Leistungskraft durch eine Neugliederung oder sonstige Gebietsänderung nur behoben werden darf, wenn nicht auf andere, schonendere Art und Weise dasselbe Ziel erreicht werden kann. Auch diese Frage ließe sich abstrakt bejahen, ohne dass etwa der Normtext des Art. 29 GG dem entgegenstünde. Allerdings kann es mit dieser abstrakten Betrachtung nicht sein Bewenden haben. Vielmehr ist zu überlegen, auf welche andere Art und Weise Größe und Leistungsfähigkeit eines Landes in Übereinstimmung mit den ihm übertragenen Aufgaben gebracht werden können. Dabei bezieht sich die Landesgröße sowohl auf die Ausdehnung des Gebietes als auch auf die Zahl der Einwohner und muss stets in Relation zu den Aufgaben gesehen werden. 26 Der Begriff der Leistungsfähigkeit umfasst die wirtschaftliche, die finanzielle, die politische und die administrative Leistungsfähigkeit. 27 Eine Diskrepanz zwischen Größe und Leistungsfähigkeit eines Landes auf der einen Seite und den ihm obliegenden Aufgaben auf der anderen Seite lässt sich abgesehen von einer Neugliederung - nur durch Minderung der Aufgaben oder durch Erhöhung der Leistungsfähigkeit bzw. durch eine Kombination beider Maßnahmen beheben. Die Aufgaben sind indes zu einem nicht unerheblichen Teil durch das Grundgesetz den Ländern zugewiesen und stehen damit nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Auch im Übrigen kann eine solche Entlastung von Aufgaben nicht stets als milderes Mittel angesehen werden. Sie müsste nämlich generell erfolgen, also auch Länder treffen, die auch in ihrem bisherigen Zuschnitt in der Lage sind, diese Aufgaben zu erfüllen. Die Länder würden infolgedessen in ihrer Gesamtheit durch eine solche Maßnahme nicht nur entlastet, sondern auch in ihrem Aktionsradius beschnitten. Die Leistungsfähigkeit eines Landes könnte ihrerseits insbesondere durch Finanzzuweisungen erhöht werden. Aber auch insoweit besteht im Rahmen des Grundgesetzes nur ein begrenzter Handlungsspielraum des Bundes. Der horizontale Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG kann zumindest nicht auf Dauer das mildere und damit vorrangige Mittel sein, ein nicht „lebensfähiges" Land auf Kosten der leistungsstärkeren Länder „am Leben zu erhalten". 28 Auch den Ergänzungszuweisungen im Sinne von Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG kommt nicht die Aufgabe zu, als vermeintlich milderes Mittel einer ansonsten notwendigen Neugliederung im Wege zu stehen. Anderenfalls würde die Ermächtigung in Art. 29 Abs. 1 GG leer laufen, da sie auf exzeptionelle Ausnahmesituationen beschränkt würde. Sie griffe nämlich nur noch dann, wenn der Bund selbst nicht mehr in der 26

Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 29 Rn. 16; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 29 Rn. 39. 27 Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 29 Rn. 17. 2 « Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 29 Rn. 17 m. w. N; siehe auch BVerfGE 1, 117 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Lage wäre, Ergänzungszuweisungen zu erbringen. Wird auch gemeinhin ein verfassungsrechtlicher Vorrang der Neugliederung nach Art. 29 GG vor dem Finanzausgleich gemäß Art. 107 GG verneint 29, so entspräche es auch nicht dem Grundgesetz, ein umgekehrtes Vorrangverhältnis anzunehmen. Anders ist nur in zeitlich begrenzten Krisensituationen zu entscheiden: Hier wird eine vorübergehende Finanzhilfe für das betroffene Land als milderes Mittel im Vergleich zum Eingriff in seinen Gebietsbestand oder gar zu seiner Aufhebung zu werten sein. Im Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass dem Erforderlichkeitskriterium im Rahmen des Art. 29 GG nur eine begrenzte Wirkung zukommt: Ist ein Land auf Dauer nicht in der Lage, seine Aufgaben wirksam zu erfüllen, darf der Bundesgesetzgeber, ohne damit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstoßen, von permanenten Finanztransfers absehen und geeignete Neugliederungsmaßnahmen ergreifen, um leistungsstarke Länder zu gewährleisten. 30 Kann der Gesetzgeber danach nicht auf andere Mittel verwiesen werden, um die Leistungsunfähigkeit eines Landes zu beheben, so ist er jedoch bei der konkreten Ausgestaltung der Gebietsänderung gehalten, das Land möglichst zu schonen. Erweist sich etwa, dass bereits ein anderer Zuschnitt eines Landes die Leistungsschwäche beheben könnte, darf der Gesetzgeber das Land nicht auflösen. Eine solche Maßnahme wäre nicht mehr erforderlich.

7. Die Verhältnismäßigkeit

im engeren Sinne

Ist eine Neugliederung jedoch erforderlich, ist sie entsprechend der in Art. 29 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenen Grundsatzentscheidung dem Grunde nach auch angemessen: Diese Norm gewichtet nämlich das Interesse eines Landes, das auf Dauer seine ihm obliegenden Aufgaben nicht zu erfüllen in der Lage ist, an seinem ungeschmälerten Fortbestand geringer als das Allgemeininteresse an der Existenz leistungsstarker Länder. Es wäre verfehlt, diese Entscheidung als länderfeindlich anzusehen. Mag sie auch das konkrete Land, das in seinem Zuschnitt oder gar in seiner Existenz betroffen ist, hart treffen, so dient sie doch insgesamt dem Erhalt einer leistungsfähigen föderativen Ordnung. Soweit es nicht mehr um das Ob der Neugliederung, sondern um deren Ausgestaltung geht, sind die in Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG genannten Belange zu berücksichtigen. Diese sind im Rahmen der Abwägung zu gewichten und, soweit sie 29 Erbguth, in Sachs, GG, Art. 29 Rn. 18; Feuchte, DÖV 1974, S. 9 ; Pernice, in Dreier, GG, Art. 29 Rn. 54; Kunig, in v. Münch/Kunig, Art. 29 Rn. 17, der aber einen verfassungspolitischen Vorrang bejaht. Vgl. auch BVerfGE 86, 148 . 30 Im Ergebnis ebenso Arndt, JuS 1993, S. 360 ; Feuchte, DÖV 1974, S. 9 . A.A. Hinsch, S. 91, der eine Neugliederung nur dann für zulässig erachtet, wenn die Leistungsschwäche eines oder mehrerer Länder einen - auch durch permanente Finanztransfers nicht behebbaren Mangel des ganzen föderalen Systems zur Folge hat. Eine derart restriktive Sichtweise findet indes keine Stütze in der Verfassung.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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gegenläufig sind, in einer Weise zum Ausgleich zu bringen, der zur objektiven Gewichtigkeit der jeweiligen Belange nicht außer Verhältnis steht.31 Oben war bereits darauf hingewiesen worden, dass über diese Belange mittelbar auch Interessen der jeweils betroffenen Länder zur Geltung kommen können. Diese Abwägungsentscheidung entspricht ihrer inneren Struktur nach jedoch nicht einer Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

III. Änderungen der Außengrenzen des Bundesgebietes Während Gebietsänderungen, die die Außengrenzen des Bundesgebietes nicht berühren, in Art. 29 GG eine ausführliche Regelung erfahren haben, fehlt im Grundgesetz eine vergleichbare spezielle Vorschrift für solche Änderungen des Gebietes eines Landes, die zugleich den Gebietsbestand des Gesamtstaates tangieren. Außer Streit ist, dass die Kompetenz zum Abschluss des Vertrages, der eine Gebietsabtretung zum Gegenstand hat, allein beim Bund liegt. Dies ergibt sich aus der Zuweisung des Art. 32 Abs. 1 GG. Danach ist die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten Sache des Bundes.32 Bis heute umstritten ist aber, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Vertrag, mit dem ein Gebiet an einen ausländischen Staat abgetreten wird, nach der innerstaatlichen Rechtsordnung Geltung erhält. Diese Frage ist hier deshalb bedeutsam, weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob die Zession überhaupt als Eingriff in die verfassungsrechtlich gesicherte Integrität eines Landes angesehen werden kann. Nur wenn der Vertrag einen solchen Eingriff darstellt, kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke zur Anwendung gelangen. In den 1950er Jahren wurde die Auffassung vertreten, eine Gebietszession bedürfe einer Verfassungsänderung. 33 Wäre dies richtig, wäre ein Eingriff in eine verfassungsrechtlich definierte Rechtsposition ausgeschlossen. Die entsprechende Regelung wäre selbst Bestandteil der Verfassung, griffe daher nicht in einen höherrangig normierten Bereich ein. Es läge dann vielmehr eine Neuregelung des verfassungsrechtlich geschützten Bereichs bezogen auf das konkrete Land vor. Die Ansicht von der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung für derartige Gebietsänderungen hat sich allerdings in der Staatspraxis nicht durchsetzen können.34 31 Erbguth, in Sachs, GG Art. 29 Rn. 16. 32 Dies ist für einen Bundesstaat nicht zwingend. So waren die Gliedstaaten nach der Reichsverfassung von 1871 zu Gebietsabtretungen gegenüber dem Ausland befugt, bedurften allerdings der Zustimmung des Reiches; vgl. Soell, AöR 95 (1970), S. 423 . Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kompetenz des Bundes zum Abschluss derartiger Verträge nach dem Grundgesetz nicht allein damit begründen, dass mit der Änderung der Außengrenzen stets auch der Gebietsbestand des Bundes betroffen ist; so aber Fastenrath, S. 154. 33 Giese, GG, Art. 23 Erl. II a. E.; Kraus, S. 6; Bernhardt, S. 197. 34 Die Verträge mit Nachbarstaaten nach 1949, die Gebietsabtretungen zum Gegenstand hatten, sind stets durch einfaches Bundesgesetz in innerstaatliches Recht transformiert worden; vgl. Beispiele bei Stern, StR I, § 7 IV.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Auch in der wissenschaftlichen Diskussion ist sie, soweit ersichtlich, nicht mehr aufgenommen worden ist. Der Meinungsstreit konzentriert sich heute auf die Frage, ob das einfache Bundesgesetz der Zustimmung des von der Gebietsabtretung betroffenen Landes bedarf, um die Zession in innerstaatliches Recht zu transformieren. Ist ein solcher konstitutiver Mitwirkungsakt des jeweiligen Landes erforderlich, hängt die Abtretung vom Willen des Landes ab. Stimmt es in diesem Fall der Abtretung zu, kann keine Rede mehr von einem Eingriff sein, der am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemessen werden könnte. In der Staatspraxis haben Bund und Länder in dieser Frage bisher kein Einvernehmen erzielen können. Während die Länder bei den bisherigen Gebietsänderungsverträgen jeweils ihren Zustimmungsvorbehalt betont haben, hat der Bund an der Auffassung festgehalten, das Bundesgesetz sei nicht zustimmungspflichtig. 3 5 In der wissenschaftlichen Diskussion wird von der einen Seite argumentiert, es bedürfe keiner Zustimmung des betroffenen Landes, weil ein solches Zustimmungserfordernis in der Verfassung hätte ausdrücklich normiert werden müssen.36 Da dies nicht geschehen sei, komme Art. 32 Abs. 1 GG zur Anwendung. Ein Rückgriff auf Art. 78 Abs. 3 WRV, der die Zustimmung des betroffenen Landes ausdrücklich für notwendig erklärt hat, komme nicht in Betracht. Denn Art. 29 GG zeige, dass der Verfassunggeber die Zustimmung eines Landes zu einer Gebietsänderung nicht für erforderlich erachtet habe.37 Im Übrigen würde die Handlungsfähigkeit des Bundes in äußeren Angelegenheiten, wäre er auf die Zustimmung des jeweils betroffenen Landes angewiesen, unangemessen beschränkt. 38 Schließlich hätten die Länder ohnehin die Möglichkeit, über den Bundesrat an dem Gesetz mitzuwirken und so die auswärtige Vertragspolitik des Bundes zu kontrollieren. 39 Diese Argumentation vermag jedoch nicht zu überzeugen. So trifft es bereits nicht zu, dass das Erfordernis einer Zustimmung des betroffenen Landes durch die Beteiligung des Bundesrates gewissermaßen kompensiert werden könnte. Aus dem Grundgesetz ergibt sich ein solcher Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrates nicht. Im Übrigen wäre ein solcher nicht geeignet, die Einbuße an Selbstbestimmung des vom Gebietsverlust betroffenen Landes wettzumachen. Im Bundesorgan Bundesrat hat das Land über seine Vertreter nur einen begrenzten, jederzeit von einer andersorientierten Bundesratsmehrheit zu nivellierenden Einfluss. 40 Auch der Umstand, dass der Bund durch den Zustimmungsvorbehält zugunsten 35 36 37 38 39 40

Vgl. hierzu Kunth, S. 57 f. Zulegg, in AK-GG, Art. 32 Rn. 11. Kunth, S. 57, 65; Fastenrath, S. 155; Zulegg, in AK-GG, Art. 32 Rn. 11. Kunth, S. 58 f. Kunth, S. 61 f. Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 28.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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des betroffenen Landes in seiner außenpolitischen Handlungsfreiheit beschränkt wird, spricht nicht ohne weiteres gegen dieses Mitwirkungserfordernis. Denn die Handlungsfreiheit des Bundes in diesen Angelegenheiten ist kein absoluter Wert, der a priori von Verfassungs wegen keine Beschränkung zuließe. Da das Land, das einen Gebietsverlust erleidet, in seiner staatlichen Integrität getroffen wird, bedürfte es schon einer eingehenden Begründung, warum die außenpolitische Entscheidungsfreiheit des Bundes von Verfassungs wegen Vorrang haben sollte. Eine konsistente Begründung für einen solchen absoluten Vorrang findet sich nicht. Schließlich kann auch aus dem Fehlen einer speziellen grundgesetzlichen Regelung, die die Mitwirkungsrechte im Falle einer die Außengrenzen des Gesamtstaates berührenden Gebietsabtretung normiert, nicht geschlossen werden, die Rechte des Landes bestimmten sich nach der allgemeinen Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 GG. Da der Verlust auch nur eines Teiles des Staatsgebietes nicht nur - wie es in Art. 32 Abs. 2 GG heißt - die besonderen Verhältnisse des Landes berührt, sondern dieses in einem essentiellen Bestandteil seiner Staatlichkeit trifft, liegen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht vor. Eine bloße Anhörung würde diesem Umstand nicht gerecht werden. 41 Fehlt eine ausdrückliche Regelung im Grundgesetz, so ist doch eines seiner unbestrittenen Grundanliegen gerade nach den historischen Erfahrungen mit einem allzu mächtigen Gesamtstaat, die föderative Ordnung zu stärken. In diesem Sinne kann kaum angenommen werden, die Rechtsstellung der Länder sollte gegenüber deren Status unter der Weimarer Reichsverfassung geschwächt werden. 42 Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Änderung der Außengrenzen der Zustimmung durch das jeweils betroffene Land bedarf. 43 Zu einem Gebiets Verlust kann es daher nur mit ausdrücklicher Zustimmung dieses Landes kommen. Stimmt das Land aber zu, ist der eintretende Gebietsverlust nicht als Eingriff, der den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu genügen hätte, zu qualifizieren.

C. Das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG und die Gewährleistungspflicht des Bundes nach Art. 28 Abs. 3 GG I. Verfassungsautonomie der Länder und Homogenitätsgebot Das eigene Staatsgebiet ist Voraussetzung für die Staatsqualität der Länder. Ein Eingriff des Bundes in den territorialen Bestand eines Landes trifft dieses daher in 41 Soell, AöR 95 (1970), S. 423 ; Stern, StR I, § 7 IV 2. 42 Meyer-Teschendorf, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 29 Rn. 23 m. w. N.; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 27. 43 So Stern, StR I, § 7 IV 2; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 27 ff.; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 32 Rn. 23; Jarass, in Pieroth/ Jarass, GG, Art. 32 Rn. 8 jeweils m. w. N.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

existenzieller Weise. Ebenfalls von besonderem Gewicht sind Eingriffe des Bundes in die Verfassungsordnung eines Landes. Denn es handelt sich um die rechtliche Grundordnung, die sich das Staatsvolk in dem jeweiligen Bundesland gegeben hat. Die Verfassung bringt die Staatlichkeit in ihre maßgebliche rechtliche Form. Sie ist Ausdruck, ist Emanation der Landesstaatlichkeit; in ihr manifestiert sich das Ursprüngliche der landeseigenen Staatsgewalt.44 Das Grundgesetz überlässt es den Ländern, sich eine eigene Verfassung zu geben und diese gegebenenfalls zu ändern. Dies ist eine Konsequenz aus der Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der Länder im Bundesstaat. In dem betont föderativ gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes stehen - dies hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehoben - die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander.45 Das Grundgesetz setzt das Recht der Länder zur Verfassunggebung voraus, wenn es diesem Recht gewisse Grenzen setzt oder Regelungen für den Fall von Kollisionen zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht enthält. Die Verfassungsautonomie der Länder 46 wird insbesondere begrenzt durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG. Verlangt diese Norm auch keine Uniformität oder Konformität, so begrenzt sie gleichwohl den Spielraum, der dem jeweiligen Landesvolk bei Ausgestaltung seiner Verfassung noch bleibt. Diese Bindung der Länder ist verfassungsunmittelbar in dem Sinne, dass sie keiner weiteren Umsetzung bedarf. Die verfassungsunmittelbare Verpflichtung der Länder, die gebotene Homogenität zu wahren, wird ihrerseits nicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingeschränkt. Für diesen ist bereits deshalb kein Raum, weil die in Art. 28 Abs. 1 GG ausgesprochene Verpflichtung nicht eine zuvor eingeräumte Verfassungsautonomie wieder begrenzt, sondern das Grundgesetz von vornherein eine solche nur in dem begrenzten Umfang gewährt. Entsprechendes gilt für solche Normativbestimmungen des Grundgesetzes, die nicht nur - wie Art. 28 Abs. 1 GG - für die Länder, sondern unmittelbar in den Ländern gelten, damit aber auch bei der Verfassunggebung im Land Beachtung verlangen.

II. Die Gewährleistungspflicht des Bundes Nach Art. 28 Abs. 3 GG gewährleistet der Bund, dass die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 des Art. 28 GG entspricht. Dem Bund ist damit die Gewährleistung der verfassungsmäßigen Ordnung als Rechtspflicht auferlegt. Umstritten ist insoweit lediglich, ob diese Rechtspflicht unbedingt ist oder dem Bund Raum für Opportunitäts-

44 Isensee, HStR IV, § 98, Rn. 78 m. w. N. 45 BVerfGE 4, 178 ; 6, 376 ; 22, 267 ; 41, 88 ; 60, 175 ; 64, 301 . 46 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 79.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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Überlegungen bleibt. 47 Der Wortlaut der Norm zeigt jedoch recht eindeutig, dass dem Bund kein derartiges Entschließungsermessen zustehen soll. 48 Er ist demnach verpflichtet, alle geeignet und notwendig erscheinenden Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung der Gewährleistungsinhalte sicherzustellen. 49 Wenn in diesem Zusammenhang auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen rekurriert wird, so geschieht dies zur Bestimmung der verfassungsunmittelbaren Pflicht des Bundes. Zwar wirken auch hier die Grundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit begrenzend, sie stellen aus Sicht des Bundes jedoch keine SchrankenSchranken dar. Insoweit fehlt es an einem Eingriff in eine verfassungsunmittelbar gewährte Position des Bundes. Schranken-Schranken sind die genannten Grundsätze nur aus Sicht des Landes, das einen Eingriff des Bundes zu gewärtigen hat. Es ist allerdings nun gerade fraglich, ob Art. 28 Abs. 3 GG zu einem solchen Eingriff gegenüber einem Land zum Zwecke der Sicherstellung ermächtigt. Insbesondere Frowein bejaht dies, weil er in dieser Verfassungsnorm die Existenz einer selbständigen Bundesaufsicht angelegt sieht. Wenn der Bund nach Art. 28 Abs. 3 GG gewährleiste, dass die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspreche, so folge daraus doch vor allem, dass der Bund die Länder hier in irgendeiner Form beaufsichtige. Zwar ergebe sich aus Art. 28 Abs. 3 GG keine Befugnis zur allgemeinen Überwachung des verfassungsmäßigen Lebens der Länder in der Fülle seiner Regierungs-, Verwaltungs- und richterlichen Handlungen. Indes setze die Übernahme der Gewährleistung begrifflich voraus, dass der Gewährleistende in der Lage sei, den Erfolg auch herbeizuführen, für den er Gewähr zu leisten habe.50 Nach der ganz überwiegenden Auffassung normiert Art. 28 Abs. 3 GG jedoch ausschließlich eine Aufgabe des Bundes.51 Er enthält hingegen keinen Interventionstitel gegenüber dem Land, dessen verfassungsmäßige Ordnung nicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht. 52 Der Bund ist zur Erfüllung seiner Gewährpflicht vielmehr auf die Befugnisse verwiesen, die ihm das Grundgesetz außerhalb des Art. 28 47

Im letzteren Sinne etwa Werner, S. 78 f. Dies entspricht auch der ganz überwiegenden Auffassung im Schrifttum, vgl. Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 125; Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 101 m. w. N. Tettinger, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 28 Rn. 260 weist zutreffend darauf hin, dass die indikativische Verbform die stärkste Art der Inpflichtnahme beinhaltet. 4 9 Tettinger, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 28 Rn. 260; Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 101; Nierhaus, in Sachs, GG, Art. 28 Rn. 81; Dreier, in Dreier, GG, Art. 28 Rn. 170. 50 Frowein, S. 65 f.; in diesem Sinne bereits Zinn, DÖV 1950, S. 522 . 48

51 Stern, StR I, § 19 III 6 a; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 125; ders,in FS für Leisner, S. 359 ; Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 104; Tettinger, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 28 Rn. 262; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 28 Rn. 16; Nierhaus, in Sachs, GG, Art. 28 Rn. 83. 52 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 125; Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 104 f.; Tettinger, in v. Mangoldt /Klein, GG, Art. 28 Rn. 262; Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 28 Rn. 16; Nierhaus, in Sachs, GG, Art. 28 Rn. 83.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Abs. 3 GG zuerkennt. Als solche kommen insbesondere der Bundeszwang (Art. 37 GG) und die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 GG, aber auch die Befugnisse des Bundes gegenüber den Ländern nach Art. 84 und Art. 85 GG in Betracht. 53 Insbesondere ein Vergleich mit diesen soeben genannten grundgesetzlichen Vorschriften, die unzweifelhaft Ermächtigungscharakter haben, zeigt, dass Art. 28 Abs. 3 GG keine derartige Ermächtigungsgrundlage für ein Einschreiten des Bundes darstellt. Während jene Normen ausdrücklich dem Bund die Befugnis zu einem bestimmten, näher umschriebenen Handeln erteilen, bietet der Wortlaut des Art. 28 Abs. 3 GG keinen Anhaltspunkt für eine solche Befugnis. Zwar ist der Gegenauffassung zuzugeben, dass die Begründung einer Pflicht nur dann sinnvoll ist, wenn der Verpflichtete auch mit den notwendigen Handlungsbefugnissen ausgestattet wird, um ebendiese Pflicht zu erfüllen. Dennoch ist begrifflich zwischen Aufgabe und Befugnis klar zu trennen. 54 So ist es etwa in den Polizeigesetzen der Länder üblich, die Aufgabe der Polizei zur Gefahrenabwehr getrennt von der Handlungsermächtigung zu normieren. 55 In eben dieser Weise ist auch der Verfassunggeber vorgegangen. In Art. 28 Abs. 3 GG hat er die Aufgabe des Bundes festgeschrieben, während er den Bund in anderen Vorschriften - wie in Art. 37 GG oder 84 GG mit den notwendigen Handlungsbefugnissen zur Erfüllung der Aufgabe ausgestattet hat. Dieses System der begrenzten Ermächtigungen würde durch eine in Art. 28 Abs. 3 GG statuierte selbständige Bundesaufsicht unterlaufen. Auch das Bundesverfassungsgericht lehnt die Existenz einer selbständigen Bundesaufsicht ab. Ihre Funktion werde - so das Bundesverfassungsgericht - teilweise durch die Möglichkeit ersetzt, dass die Bundesregierung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG das Bundesverfassungsgericht anrufen könne, um eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob ein Land außerhalb der Ausführung von Bundesgesetzen - insoweit gilt Art. 84 GG - sich dem Grundgesetz gemäß verhalten habe.56 Kann der Bund demnach einen Eingriff gegenüber dem Land nicht unmittelbar auf Art. 28 Abs. 3 GG stützen, erübrigen sich an dieser Stelle weitere Überlegungen zur Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere dazu, ob dieser als Schranken-Schranke fungiert. Freilich wird bei Erörterung der oben genannten grundgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen darauf zurückzukommen sein, ob und inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Länder vor übermäßigen Eingriffen des Bundes in ihren verfassungsunmittelbaren Status, damit auch vor solchen Eingriffen in ihre verfassungsmäßige Ordnung schützt.

53 Dreier, in Dreier, GG, Art. 28 Rn. 173. 54 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 125. 55 Siehe etwa § 1 und § 13 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) vom 16. November 2000 (GVB1. S. 594). 56 Vgl. BVerfGE6,309 ;8, 122 .

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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D. Die Pflicht zur Amtshilfe und verfassungsrechtliche Notstandsregelungen Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes weist Bund und Ländern jeweils näher umschriebene Aufgaben und Befugnisse zu. Die Aufteilung der staatlichen Aufgaben erfolgt im Verhältnis zwischen Bund und Ländern nach sachbezogenen Kriterien, im Verhältnis der gleichgeordneten Gliedstaaten ergibt sie sich aus der jeweils räumlich begrenzten Gebietshoheit der einzelnen Länder. Bund und Länder haben diese ihnen durch eine Kompetenznorm zugewiesenen Aufgaben grundsätzlich jeweils durch eigene Einrichtungen, mithin mit eigenen personellen und sächlichen Mitteln wahrzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit vom Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgaben Wahrnehmung.57 Ausnahmen von diesem Grundsatz finden sich in Art. 35 Abs. 1 GG und in den verschiedenen, über das Grundgesetz verteilten spezifischen Notstandsregelungen. Es ist zu überlegen, ob und inwieweit es in den dort geregelten Konstellationen zu Eingriffen in den Bereich des Bundes bzw. eines Landes kommt. Ist dies zu bejahen, stellt sich die weitere Frage, ob die Eingriffe ihrerseits am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind.

I. Die Pflicht zur Rechts- und Amtshilfe Art. 35 Abs. 1 GG bestimmt lapidar: Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe. Art. 35 GG will im Interesse des Staatsganzen das reibungslose Arbeiten aller staatlichen Behörden gewährleisten. 58 Ob Art. 35 Abs. 1 GG nur deklaratorische Bedeutung zukommt 59 oder die Norm - was wohl der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum entspricht 60 konstitutiven Charakter besitzt, ist ein fruchtloser Streit. Jedenfalls kommt nach allgemeiner Auffassung durch die Beistandspflicht die Einheit des Staates bzw. der Staatsgewalt zum Ausdruck. 61 Erscheint der Staat im Interesse einer funktionierenden Verwaltung und Rechtspflege insoweit nach außen als Einheit, so ändert dies freilich nichts an der Entscheidung des Grundgesetzes für ein mehrfach gegliedertes Staatswesen mit klar getrennten Zuständigkeiten. Dies erfordert, die Zulässigkeit der Rechts- und Amtshilfe von klar definierten Voraussetzungen abhängig zu machen und ihren Umfang in gleicher Weise zu begrenzen.

57

BVerfGE 63, 1 unter Berufung auf Grawert, Verwaltungsabkommen, S. 195. 58 Vgl. Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 1 m. w. N. 59 So WesselS. 111. 60 Vgl. Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 1; Bull, in AK-GG, Art. 35 Rn. 9. 61 Vgl. Gubelt, in v. Münch /Kunig, GG, Art. 35 Rn. 1 m. w. N.; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 35 Rn. 2.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

Die Verpflichtung zur Rechts- und Amtshilfe besteht unstreitig zwischen Bundes- und Landesbehörden sowie zwischen den Behörden verschiedener Länder. Die Auffassungen zu der Frage, ob das Gebot des Art. 35 Abs. 1 GG auch innerhalb des Bundes oder eines Landes Geltung beansprucht, gehen hingegen auseinander. 62 Dieser Dissens mag hier jedoch, da Gegenstand der Erörterung allein das bundesstaatliche Verhältnis ist, auf sich beruhen.

1. Verfassungsunmittelbarkeit der abstrakten Hilfspflicht Art. 35 Abs. 1 GG normiert verfassungsunmittelbar die Verpflichtung zur Amtsund Rechtshilfe. 63 Die Vorschrift ist zur Begründung der Hilfspflichten daher nicht auf eine einfachrechtliche Konkretisierung angewiesen, sie schließt freilich eine solche Konkretisierung, wie sie etwa die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder enthalten, auch nicht aus.64 Zumindest missverständlich ist es, wenn Art. 35 Abs. 1 GG zwar als unmittelbar geltendes Recht im Verhältnis der Behörden zueinander, zugleich aber als Rahmenvorschrift bezeichnet wird, weil sich Voraussetzungen, Umfang und Grenzen der Rechts- und Amtshilfe nicht aus der Norm selbst ergäben.65 Der Charakter des Art. 35 Abs. 1 GG als im Behördenverhältnis unmittelbar verbindliche Norm wäre in Frage gestellt, wenn die Vorschrift hinsichtlich ihrer Voraussetzungen ebenso wie hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen auf die Ausfüllung durch einfachrechtliche Regelungen angewiesen wäre. Sie wäre dann eher als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, entsprechende Regelungen über die Amtshilfe zu schaffen. Eine solche Auslegung widerspräche indes nicht nur dem Wortlaut der Norm, die in indikativischer Form unmittelbar die Behörden des Bundes und der Länder anspricht. Auch fehlt ein entsprechender 62 Bejahend: Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 35 Rn. 4, 9; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 35 Rn. 5; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 1; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 232; ablehnend etwa: Schlink, Die Amtshilfe, S. 34, 40; Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 10; Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 35 Rn. 1. 63 BVerfGE 31, 43 ; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 233; Schnapp/Friehe, NJW 1982, S. 1422 ; Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 14. 64 Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 6; Schnapp/Friehe, NJW 1982, S. 1422 . Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, § 11 Rn. 3 stellen insoweit zutreffend fest, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen Amtshilfe gefordert und verweigert werden darf. Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 15, bezeichnet Art. 35 Abs. 1 GG als Rahmenvorschrift bzw. Grundsatzregelung, die bezüglich Voraussetzungen, Verfahren, Umfang und Grenzen der Rechts- und Amtshilfe der verfassungsdirigierten gesetzgeberischen Ausgestaltung zugänglich sei.

65 Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 1, 11. So auch v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 35 Rn. 5, der zwar Art. 35 Abs. 1 GG konstitutive Bedeutung als verfassungsunmittelbare Begründung gegenseitiger Rechts- und Amtshilfeverpflichtungen zumisst, zugleich aber betont, dass Art. 35 Abs. 1 GG als Rahmenvorschrift der Konkretisierung bedürftig sei.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

111

Regelungsauftrag an den Gesetzgeber. Schließlich widerspricht die Annahme einer ausfüllungsbedürftigen Rahmenvorschrift dem Willen des historischen Verfassunggebers. So heißt es in der Begründung zu Art. 39 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs, der im Wesentlichen Art. 35 Abs. 1 GG entspricht: „Es empfiehlt sich, sowohl eine besondere Gesetzgebung wie auch innerdeutsche Vereinbarungen der Länder entbehrlich zu machen, und zwar durch Ausdehnung der Amts- und Rechtshilfe auf alle Gebiete und Behörden. Dementsprechend ist Art. 39 Abs. 1 gefaßt worden." 66 Es ist danach festzustellen, dass die Voraussetzungen und Grenzen des in Art. 35 Abs. 1 GG normierten Amtshilfegebotes unmittelbar der Verfassung zu entnehmen sind. Die einfachrechtlichen Vorschriften sind ihrerseits am Maßstab des Art. 35 Abs. 1 GG zu messen.67

2. Die Konkretisierung

der Hilfspflicht

durch Ersuchen

Begründet somit die Verfassung selbst die Verpflichtung zur Amts- und Rechtshilfe, so bleibt diese Verpflichtung doch so lange abstrakt, bis eine Behörde die andere um Hilfe ersucht. Amts- und Rechtshilfe im Sinne von Art. 35 Abs. 1 GG ist Hilfe auf Ersuchen. 68 Erst das Ersuchen um entsprechende Hilfe aktualisiert und konkretisiert die Verfassungspflicht der angegangenen Behörde. 69 Rechtsgrund für die Pflicht zur Amts- und Rechtshilfe bleiben Art. 35 Abs. 1 GG bzw. die ihn ausgestaltenden einfachrechtlichen Gesetze, konkrete Handlungspflichten ergeben sich jedoch erst aufgrund des Ersuchens. Das an eine Behörde eines (anderen) Landes oder des Bundes gerichtete Ersuchen um Amts- und Rechtshilfe lässt sich als Eingriff der ersuchenden Behörde in den Bereich der fremden Verbandskörperschaft begreifen. 70 Ein Eingriff kann nämlich nicht nur in der Verkürzung einer Rechtsposition bestehen, sondern auch in der Auferlegung oder - wie hier - der Aktualisierung einer Verpflichtung.

66 HChE, Darst. Teil, S. 30. Lediglich der Zusatz „mit Einschluß der Zwangsvollstreckung" ist in der späteren Fassung entfallen. 67 Entsprechend bezeichnet v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 35 Rn. 5, eine die nähere Ausgestaltung von Art. 35 Abs. 1 GG überschreitende sachliche Einschränkung der Amtshilfe durch einfaches Gesetz als nicht zulässig; vgl. auch Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 35 Rn. 9. 68 Meyer-Teschendorf, JuS 1981, S. 187 ; v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 35 Rn. 16; Magen, in Umbach / Clemens GG, Art. 35 Rn. 14. 69 Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 231, der zutreffend betont, dass das Ersuchen auch genügt, um die Verfassungspflicht zu aktualisieren. 70 Dass nicht in den Bereich der ersuchenden Behörde eingegriffen wird, ist offenkundig. Zum einen werden deren Zuständigkeiten nicht verkürzt. Zum anderen wird die ersuchte Behörde ja gerade auf Wunsch der ersuchenden Behörde tätig.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

3. Schranken der Inpflichtnahme Fraglich ist, welche Grenzen die Verfassung der Inpflichtnahme durch Ersuchen um Amts- oder Rechtshilfe setzt. Der Wortlaut des Art. 35 Abs. 1 GG ist insoweit unergiebig. Der Vorschrift lassen sich unmittelbar keine Einschränkungen entnehmen. Dennoch ist klar, dass sich eine Behörde nicht beliebig der Hilfe einer anderen Behörde zur Erledigung ihrer eigenen Geschäfte bedienen darf. Indem die angegangene Behörde nämlich sächliche oder personelle Mittel zur Erbringung der ersuchten Hilfe einsetzen muss, stehen ihr diese Mittel insoweit nicht für die Erledigung ihrer eigenen Aufgaben zur Verfügung. Eine Übernahme der durch die Hilfeleistung entstandenen Kosten durch die ersuchende Behörde ist in Art. 35 Abs. 1 GG selbst nicht vorgesehen; ein Kostenerstattungsanspruch kann allenfalls durch das einfache Recht bestimmt werden. 71 Im Übrigen ist die Erstattung der Kosten jedoch kein vollwertiger Ausgleich für die mit der Amtshilfe verbundenen Einschränkungen. Denn trotz des möglichen Kostenersatzes bleibt es aus Sicht der ersuchenden Behörde bei der Inanspruchnahme fremder Ressourcen, die dann aktuell der angegangenen Behörde zur Erledigung der eigenen Aufgaben nicht zur Verfügung stehen. Die beeinträchtigte Dispositionsfreiheit lässt sich nicht durch Erstattung der Kosten wiederherstellen. Sind vorrangige, spezielle Grenzen des Rechts zur Inanspruchnahme fremder Hilfe nicht ersichtlich, kommt ein Rückgriff auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Betracht. Er gewährt der angegangenen Behörde angemessenen Schutz vor unzulässigen Inpflichtnahmen, ohne das Amtshilfegebot über Gebühr einzuschränken. Entsprechend wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Teil ausdrücklich in Rechtsprechung72 und Literatur 73 als die maßgebliche Schranke bezeichnet. Im übrigen Schrifttum wird er weitgehend jedenfalls der Sache nach als einschlägig angesehen.74 Auch die einfachrechtlichen Vorschriften, die nicht nur das Verfahren der Amtshilfe regeln, sondern zugleich die Voraussetzungen der Amtshilfe konkretisieren, lassen sich, soweit sie materielle Grenzen der Inpflichtnahme enthalten, als Ausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begreifen. 75 71 BVerwGE 31, 328 f.; BVerwG, DÖV 1972, S. 720 ; OVG NRW, ZKF 1992, S. 180 ; Magen, in Umbach/Clemens, GG, Art. 35 Rn. 27. Eine Auslagenerstattungspflicht normiert etwa § 8 Abs. 1 Satz 2 VwVfG des Bundes. 72 HVerfG, NVwZ 1996, S. 1201 . 73 So Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 18. Teilweise wird zwar ausdrücklich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke verwiesen, jedoch bezieht sich dies auf das Verhältnis zum Bürger, so z. B. bei einem Akteneinsichtsersuchen zu personenbezogenen Daten; vgl. etwa v. Danwitz, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 35 Rn. 27. 74 So etwa Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 12 ff. 75 § 5 VwVfG des Bundes regelt die Voraussetzungen und Grenzen der Amtshilfe. Absatz 1 führt - allerdings nicht abschließend - Fälle an, in denen das Ersuchen um Amtshilfe erlaubt ist. Absatz 2 nennt Gründe, die auf Seiten der ersuchten Behörde der geforderten Hilfe entgegenstehen. Aus Absatz 3 ergeben sich die Voraussetzungen, unter denen die

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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So muss die Inanspruchnahme der anderen Behörde das geeignete Mittel zur Erledigung der sich der ersuchenden Behörde stellenden Aufgabe sein. 76 Ungeeignet ist das Ersuchen dann, wenn zwar die ersuchte Behörde die begehrte Hilfeleistung erbringen, diese Hilfeleistung aber nicht zu der Erledigung der Aufgabe beitragen kann, um deren Willen das Ersuchen ausgesprochen worden ist. Ungeeignet ist das Ersuchen ebenso, wenn die ersuchte Behörde die geforderte Hilfeleistung erkennbar nicht erbringen kann. § 5 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG des Bundes nennt als Sonderfall die rechtliche Unmöglichkeit. Danach darf die ersuchte Behörde Hilfe nicht leisten, wenn sie aus rechtlichen Gründen hierzu nicht in der Lage ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Hilfeleistung nach dem für die ersuchte Behörde geltenden Recht nicht zulässig ist. 77 Ungeeignet ist das Ersuchen ferner, wenn die angegangene Behörde aus tatsächlichen Gründen die begehrte Amtshilfe nicht erbringen kann. Dass § 5 Abs. 2 VwVfG des Bundes diesen Unmöglichkeitsgrund nicht anführt, ist auf die Fassung dieser Vorschrift zurückzuführen. § 5 Abs. 2 VwVfG des Bundes ist nämlich als ein Verbot formuliert, das sich an die ersuchte Behörde richtet. Es wäre sinnwidrig, ihr ein tatsächlich unmögliches Verhalten zu verbieten. Wohl aber ist es der ersuchenden Behörde untersagt, eine tatsächlich unmögliche Hilfeleistung zu verlangen. Das Ersuchen muss auch erforderlich sein.78 Dies verlangt ein Zweifaches: Die begehrte Amtshandlung muss tatsächlich zur effektiven Durchführung der Aufgaben der ersuchenden Behörde notwendig sein. 79 Die Erforderlichkeit des Ersuchens ist aber auch nur dann zu bejahen, wenn die ersuchende Behörde die begehrte Amtshandlung nicht selbst vornehmen kann. § 5 Abs. 1 VwVfG des Bundes differenziert insoweit zwischen einer rechtlichen (Nr. 1) und einer tatsächlichen Unmöglichkeit (Nr. 2); spezifische Fälle tatsächlicher Unmöglichkeit regeln Nr. 3 und 4, während Nr. 5 der Unmöglichkeit den Fall gleichstellt, dass die ersuchende Behörde die begehrte Amtshandlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber diese „wirtschaftliche Erschwernis" parallel zu der rechtlichen und tatsächlichen Unmöglichkeit behandelt.80 § 5 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG des Bundes ersuchte Behörde ebenfalls das Ersuchen ablehnen darf. § 12 Abs. 1 und 3 AO; § 4 Abs. 1 und 3 SGB X. enthalten entsprechende Regelungen. 76 Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 19. 77 Insoweit ist zu beachten, dass der Kompetenzbereich der ersuchten Behörde auf Grund des Amtshilfeersuchens keine Erweiterung erfährt. Nach Hoffmann, in Obermayei; VwVfG, § 5 Rn. 25 stehen rechtliche Gründe einer Amtshilfe auch dann entgegen, wenn die Maßnahme der ersuchenden Behörde, zu deren Verwirklichung die Amtshilfe beitragen soll, offensichtlich rechtswidrig ist. Ebenso Bonk/Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 5 Rn. 17. 78 Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 19; Meyer-Teschendorf, JuS 1981, S. 187 ; v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 35 Rn. 20.

™ Vgl. Clausen, in Knack, VwVfG, § 5 Rn. 9 f. zu § 5 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG. 80 Der Vergleich zum Recht der Leistungsstörungen liegt nahe. Das Reichsgericht hatte nach dem ersten Weltkrieg die wirtschaftliche Unmöglichkeit auch unter § 275 BGB sub8 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

nennt einen weiteren Fall, in dem sich das Ersuchen als nicht erforderlich erweist. So braucht die ersuchte Behörde Hilfe nicht zu leisten, wenn eine andere Behörde die Hilfe wesentlich einfacher oder mit wesentlich geringerem Aufwand leisten kann. Schließlich darf das Ersuchen nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne sein.81 § 5 VwVfG des Bundes konkretisiert diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz einfachrechtlich wiederum in differenzierter Art und Weise. Unverhältnismäßig ist das Ersuchen gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG des Bundes immer dann, wenn durch die Hilfeleistung dem Wohl des Bundes oder eines Landes erhebliche Nachteile bereitet würden. Die ersuchte Behörde darf in einem solchen Fall die angeforderte Hilfe nicht leisten. Ihr bleibt insoweit kein Ermessen, da der Gesetzgeber selbst die Wertung abschließend vorgenommen hat. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass der Begriff der Erheblichkeit auf der Tatbestandsseite Raum für Wertungen im Einzelfall eröffnet. Ermessen ist der ersuchten Behörde insoweit eingeräumt, als sie nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 und 3 VwVfG des Bundes Hilfe nicht zu leisten braucht, wenn sie die Hilfe nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand leisten könnte oder durch die Hilfeleistung die Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben ernstlich gefährdet würde. Im letzteren Fall ist aber auch die Bedeutung der Aufgaben, um deretwillen das Hilfeersuchen von der ersuchenden Behörde ausgesprochen ist, bei der Entscheidung über die Gewährung der angeforderten Hilfe zu berücksichtigen.

II. Die Notstandsregelungen Neben der allgemeinen Vorschrift der Rechts- und Amtshilfe in Art. 35 Abs. 1 GG hält das Grundgesetz für einzelne, näher beschriebene innerstaatliche Krisensituationen ein spezifisches Notinstrumentarium bereit, um die Krisen „mit vereinten Kräften", das heißt konkret durch bundesstaatliches Zusammenwirken, bewältigen zu können. Diese Notstandsregelungen im weiteren Sinne sind dadurch gekennzeichnet, dass die auf den Normalfall zugeschnittenen Zuständigkeiten insoweit durchbrochen werden, als teilweise Länder Hilfe anderer Länder oder des Bundes anfordern können, zum Teil aber auch der Bund erweiterte Eingriffsbefugnisse erhält. Üblicherweise werden die Notstandsregelungen entsprechend den verschiedenen Krisensituationen, auf die sie reagieren, systematisiert. So erfasst Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG Gefahren oder Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG regelt den Fall einer nur ein Land betreffenden Naturkatastrophe oder eines schweren Unglücksfalls (regionaler Katastrophenfall), sumiert, vgl. RGZ 94, 47; 102, 273; 107, 157. Nach inzwischen überwiegender Auffassung gelangt man aber mit Hilfe der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage in der Regel zu angemesseneren Ergebnissen; vgl. Heinrichs, in Palandt, BGB, § 275 Rn. 12. 8i Magen, in Umbach/Clemens, GG, Art. 35 Rn. 19.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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Art. 35 Abs. 3 GG betrifft hingegen den landesübergreifenden (überregionalen) Katastrophenfall. Art. 91 GG befasst sich mit Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, mithin dem inneren Notstand im engeren Sinne. Schließlich ist Art. 87 a Abs. 4 GG eine Sondervorschrift, die den Einsatz der Streitkräfte für diesen Fall des inneren Notstandes regelt. Unter dem hier interessierenden Aspekt des Eingriffs in den Bereich des Gesamt- oder eines bzw. mehrerer Gliedstaaten und seiner Grenzen ist eine andere Systematisierung vorzuziehen. Die Notstandsregelungen ermächtigen nämlich entweder das vom Notstand betroffene Land, Hilfe von anderen Ländern oder dem Bund anzufordern, oder erweitern die Rechte der Bundesregierung gegenüber den Ländern.

1. Anforderungsrechte

der Länder

a) Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung Gemäß Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG kann ein Land zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung in Fällen von besonderer Bedeutung Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes zur Unterstützung seiner Polizei anfordern. Dies gilt aber nur dann, wenn die Polizei ohne diese Unterstützung eine Aufgabe nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erfüllen könnte. Rechtsfolge einer Anforderung ist die grundsätzliche Verpflichtung des Bundes, dieser Anforderung zu entsprechen.82 Dem Recht des Landes korreliert somit im Grundsatz eine entsprechende Pflicht des Bundes. Dies erkennt § 11 Abs. 4 Satz 1 BGSG an, indem er bestimmt, dass einer Anforderung des Bundesgrenzschutzes zu entsprechen ist, soweit nicht eine Verwendung des Bundesgrenzschutzes für Bundesaufgaben dringender ist. Diese Pflicht hat - sieht man von ihrer einfachrechtlichen Konkretisierung ab - zwar ihren Rechtsgrund in Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG, sie wird aber erst durch die Anforderung selbst aktualisiert und konkretisiert. Daher lässt sich - insoweit gilt dasselbe wie bei der Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG - die Anforderung als Eingriff in den Bereich des Bundes begreifen. Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt selbst, dass das Anforderungsrecht nur dann besteht, wenn die angeforderte Hilfe geeignet erscheint, die Krisensituation zu beheben oder zumindest zu entschärfen. Zugleich begrenzt die Norm das Recht und die korrespondierende Pflicht auf das erforderliche Maß. Voraussetzung für die Anforderung ist nämlich, dass die Polizei ohne die Unterstützung des Bundes82 BVerwG, DÖV 1973, S. 490 ; Klein, HStR VII, § 169 Rn. 29; Pieroth, in Jarass/ Pieroth, GG, Art. 35 Rn. 6; Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 21, 23; Magen, in Umbach/ Clemens, GG, Art. 35 Rn. 32. 8*

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

grenzschutzes eine Aufgabe nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erfüllen könnte. Im Umkehrschluss verlangt dies zum einen, dass die Landespolizei mit Hilfe des Bundesgrenzschutzes die Aufgabe erfüllen kann; die angeforderte Hilfe mithin zur Behebung oder Entschärfung der Notsituation geeignet erscheint. Zum anderen ist der Einsatz des Bundesgrenzschutzes nicht notwendig und damit die vorausgehende Anforderung nicht erforderlich, wenn die Landespolizei die Krise alleine bewältigen kann. § 11 Abs. 4 Satz 1 BGSG schränkt die Pflicht des Bundes, der Anforderung zu entsprechen, weiter ein, da die entsprechende Pflicht nach dieser einfachrechtlichen Vorschrift nicht besteht, wenn eine Verwendung des Bundesgrenzschutzes für Bundesaufgaben dringender ist als die Unterstützung des Landes. Es handelt sich bei dieser Begrenzung um eine verfassungskonforme Konkretisierung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Ohne dass dies einfachrechtlich normiert wäre, wird sich der Grundgedanke des § 11 Abs. 4 Satz 1 BGSG auch auf den Fall übertragen lassen, dass der Einsatz des Bundes in einem anderen Land dringender erscheint. 83 Wie dem Land bei der Frage, ob ein Fall von besonderer Bedeutung vorliegt und ob er ohne Unterstützung nicht bewältigt werden kann, ein Einschätzungsspielraum zusteht,84 der auch wegen der zu treffenden Prognosen nur begrenzt gerichtlich überprüfbar ist, 85 so gilt das Gleiche für den Bund im Hinblick auf die Frage, ob die Bundesgrenzschutzkräfte an anderer Stelle dringender benötigt werden.

b) Regionaler Katastrophennotstand Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG erweitert das Anforderungsrecht eines Landes im Fall eines regionalen Katastrophennotstandes. Danach können neben dem Bundesgrenzschutz überdies Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie der Streitkräfte angefordert werden. Der Verfassungsgesetzgeber hat darauf verzichtet, die in Satz 1 des Art. 35 Abs. 2 GG normierten Bedingungen für ein solches Anforderungsrecht zu wiederholen. Es versteht sich aber von selbst, dass diese umfangreichere Ermächtigung nicht unter geringeren Kautelen bestehen kann, als dies für das geringere Recht des Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG gilt. 8 6 Insbesondere ist die ersuchte Stelle rechtlich nicht verpflichtet, der An83 Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 32; Hömig, in Seifert/Hömig, GG, Art. 35 Rn. 6. 84 Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 22; Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 31; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 23 ; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 35 Rn. 36 bezüglich der Frage, ob ein Fall besonderer Bedeutung gegeben ist. 85 Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 23 m. w. N. 86 Erbguth, in Sachs, GG, Art. 35 Rn. 38; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 25; Magen, in Umbach / Clemens, GG, Art. 35 Rn. 35, der in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip verweist.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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forderung nachzukommen, wenn sie außerstande gesetzt würde, Aufgaben gleicher oder höherer Bedeutung wahrzunehmen.87 § 11 Abs. 4 Satz 1 BGSG normiert dies einfachrechtlich für den Einsatz des Bundesgrenzschutzes. Es gilt aber in gleicher Weise bei der Anforderung anderer Hilfen.

c) Innerer Notstand Auch in dem in Art. 91 Abs. 1 GG geregelten Falle des inneren Notstandes im engeren Sinne muss die angeforderte Hilfe geeignet und erforderlich sein, um den Notstand abzuwehren.88 Nach § 11 Abs. 4 Satz 1 BGSG, der für alle in Absatz 1 dieser Vorschrift erwähnten Notstandsfälle (im weiteren Sinne) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne konkretisiert, ist der Bund nur dann zur Hilfe verpflichtet, wenn die Kräfte anderswo nicht dringender benötigt werden. Der Bund hat dies nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Da diese Entscheidung wie die des Landes, das sich zur Anforderung entschließt, vielfältige Prognosen voraussetzt, haben sich die Gerichte bei der Kontrolle der Entscheidungen zurückzunehmen, damit sie nicht im Nachhinein ihre eigenen Lagebeurteilungen möglicherweise in Kenntnis der weiteren Entwicklung - an die Stelle der maßgeblichen ex-ante-Einschätzungen der zuständigen exekutiven Organe setzen.

2. Weisungs- und Einsatzrechte der Bundesregierung a) Überregionaler Katastrophennotstand Im Falle des in Art. 35 Abs. 3 GG normierten überregionalen Katastrophennotstandes kann die Bundesregierung den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen. Diese Weisung beinhaltet gegenüber den Ländern, die die Unterstützung durch die fremden Polizeikräfte erhalten sollen, einen Eingriff, soweit die Unterstützung gegen deren Willen erfolgt. In diesem Fall ist die Bundesregierung auch berechtigt, die von der Krisenlage betroffenen Länder zu Annahme und Einsatz der fremden Polizeikräfte anzuweisen.89 Allerdings sind die fremden Polizeikräfte an das Recht des Landes, in dem sie aufgrund der Weisung tätig werden, gebunden. Auch unterstehen sie bei ihrem Einsatz der Weisungsbefugnis der dortigen Behörden.

87 Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 35 Rn. 27. 88 Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 91 Rn. 1 m. w. N.; Hase, in AK-GG, Art. 91, Rn. 22; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 91 Rn. 17; Hernekamp, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 91 Rn. 13 f. 89 Magen, in Umbach/Clemens, GG, Art. 35 Rn. 38; Hömig, in Seifert/Hömig, GG, Art. 35 Rn. 11.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Eine Weisung der Bundesregierung begründet aber insbesondere für die um Unterstützung angegangenen Landesregierungen die Rechtspflicht, der Aufforderung Folge zu leisten. Die Bindung an die Weisung stellt aus Sicht dieser Länder einen Eingriff in das Recht dar, eigenverantwortlich über den Einsatz der eigenen Polizeikräfte zu verfügen. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG macht das Weisungsrecht der Bundesregierung jedoch ausdrücklich davon abhängig, dass ein solcher Einsatz landesfremder Polizeikräfte zur wirksamen Bekämpfung der Katastrophe erforderlich ist. Entsprechend ist die Weisung gemäß Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben. Erforderlich ist der Einsatz der Polizeikräfte anderer Länder nur, wenn er auch zur Bekämpfung der Katastrophe geeignet ist. I m Übrigen wäre die Weisung der Bundesregierung an die Regierung eines Landes, das die Polizeikräfte im eigenen Land ebenso dringend benötigt, unverhältnismäßig. Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt der Bundesregierung auch, Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte einzusetzen. Macht die Bundesregierung - was sie kann - gegen den Willen des von der Katastrophe betroffenen Landes von diesem Einsatzrecht Gebrauch, greift sie in die Zuständigkeit des jeweiligen Landes ein. Auch insoweit ist die Bundesregierung aber an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Umstritten ist insoweit lediglich, ob die Bundesintervention gegenüber der Weisung nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG subsidiär i s t . 9 0 Hierfür wird angeführt, die Bundesintervention bedeute einen Eingriff in die grundsätzliche Zuständigkeit der Länder zur Katastrophenbekämpfung und in ihre Eigenstaatlichkeit. Die Ausübung des Weisungsrechts sei insoweit das mildere M i t t e l . 9 1 Dies mag zwar gegenüber dem von der Katastrophe betroffenen Land richtig sein. Diese Betrachtung lässt aber außer Acht, dass durch die Weisung nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG gerade auch in die Zuständigkeiten dritter Länder, die ihre Polizeikräfte zur Verfügung stellen sollen, eingegriffen wird.

b) Innerer Notstand Art. 91 Abs. 2 GG gibt der Bundesregierung ein differenziertes Instrumentarium an die Hand, um den inneren Notstand i m engeren Sinne in dem betroffenen Land zu bekämpfen. So kann die Bundesregierung die Polizei des betroffenen Landes sowie Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen. Dieser erhebliche Eingriff in die Hoheitsbefugnisse der jeweiligen Länder steht unter dem unausgesprochenen Vorbehalt, dass die Unterstellung der landeseigenen 90 So Magen, in Umbach/Clemens, GG, Art. 35 Rn. 39 m. w. N.; a. A. Bauer, in Dreier, GG, Art. 35 Rn. 27, der den Einsatz von Bundeskräften alternativ oder kumulativ für möglich erachtet. So Magen, in Umbach/Clemens, GG, Art. 35 Rn. 39 m. w. N.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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Kräfte unter die Bundesaufsicht geeignet ist, der Gefahr zu begegnen, und unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass das betroffene Land selbst nicht zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage ist. Unverhältnismäßig wird eine solche Unterstellung im Falle eines echten inneren Notstandes regelmäßig nicht sein, da es den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung zu sichern gilt. Soweit die Gefahr für das betroffene Land selbst besteht, wird die Bundesregierung insoweit gerade im Interesse des Landes tätig. Unverhältnismäßig im engeren Sinne wäre es nur dann, wenn Polizeikräfte eines sich in Notlage befindlichen Landes den Weisungen der Bundesregierung zur Bekämpfung einer Gefahr in einem anderen Land unterstellt würden, so dass sie im eigenen Land nicht zur Verfügung stünden. Schließlich darf die Bundesregierung Einheiten des Bundesgrenzschutzes in einem betroffenen Land einsetzen, die - anders als im Fall des Art. 35 Abs. 3 GG nicht nur unterstützend tätig werden können. Auch dieser Eingriff in die nach der Ordnung des Grundgesetzes genuinen Landeszuständigkeiten darf nur erfolgen, wenn er verhältnismäßig ist. Umstritten ist insoweit lediglich, ob der Einsatz des Bundesgrenzschutzes nachrangig gegenüber der Unterstellung der landeseigenen Polizeikräfte ist. 92 Dem Wortlaut des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG ist eine bestimmte Reihenfolge oder Stufenfolge des Vorgehens nicht zu entnehmen.93 Es lässt sich auch nicht generell feststellen, der Einsatz des Bundesgrenzschutzes sei immer das mildere Mittel. Dies gilt insbesondere auch im Blick auf die Länder, deren Polizeikräfte zur Bekämpfung von Gefahren in anderen Ländern in Anspruch genommen werden. Hier wie im gesamten Notstandsrecht haben die Gerichte, falls sie von der einen oder anderen Seite angerufen werden, die Einschätzungsprärogative der Exekutive zu beachten. Es gilt insbesondere - wie allgemein im Gefahrenabwehrrecht, zu dem das Notstandsrecht im weiteren Sinne gehört, - dass eine ex-ante-Sicht auch bei der nachträglichen Kontrolle der ergriffenen Abwehrmaßnahmen eingenommen werden muss.

E. Der Bundeszwang I. Die Bedeutung des Bundeszwangs Als „schneidigstes Schwert" 94 oder gar als „Knüppel im Sack" 95 wird der Bundeszwang bezeichnet. Mit diesen Bildern wird die in Art. 37 Abs. 1 GG geregelte Möglichkeit des Bundes umschrieben, gegenüber Ländern, die ihre Pflichten im 92 93 94 95

So Hernekamp, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 91 Rn. 29. Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 91 Rn. 2; Klein, HStR VII, § 169 Rn. 24. Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 2. Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 3.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Bundesstaat vernachlässigen, vorzugehen. Auch die weniger bildhaften Ausdrücke wie „stärkstes Eingriffsrecht" 96 oder „ultima ratio" 97 machen deutlich, dass der Regelung des Bundeszwangs herausragende Bedeutung zukommt, wenn Gegenstand der Erörterung die Eingriffsmöglichkeiten des Bundes gegenüber den Ländern sowie Umfang und Grenzen dieser Ingerenzbefugnisse sind. Der Bundeszwang bedeutet einen intensiven Eingriff in die Eigenstaatlichkeit des jeweils betroffenen Landes.98 Er stellt eine Durchbrechung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung dar. 99 Es entspricht der - soweit es das Verhältnis von Bund und Ländern angeht - äußerst harmonischen Entwicklung der Bundesrepublik seit 1949, dass jede Staatspraxis zu Art. 37 Abs. 1 GG fehlt. Bisher musste der Bund nicht zum Mittel des Bundeszwangs greifen, um die Länder zur Erfüllung ihrer bundesstaatlichen Pflichten anzuhalten.100 Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich in zwei frühen Entscheidungen auf die Möglichkeit des Bundeszwangs hingewiesen.101 Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung hatte die Vorläuferregelung des Art. 48 Abs. 1 WRV hingegen auch praktische Relevanz erhalten - so etwa bei den Reichsexekutionen gegen Thüringen und Sachsen-Gotha im Jahre 1920 und nicht zuletzt beim sogenannten Preußenschlag im Jahre 1932. 102 Diese Beispiele zeigen, dass der Bundeszwang in Krisenzeiten ein unverzichtbares, aber zugleich auch ein sehr gefährliches Mittel darstellt. In weniger krisenhaften Zeiten mag die bloße Möglichkeit des Bundes, diese schneidige Waffe einsetzen zu können, Länder davon abhalten, ihre verfassungsrechtlich oder bundesgesetzlich fixierten Pflichten zu vernachlässigen.

II. Maßnahmen des Bundeszwangs Der Tatbestand des Art. 37 Abs. 1 GG ist klar gefasst: Ein Land erfüllt die ihm nach dem Grundgesetz oder einem anderen Bundesgesetz obliegenden Bundes96 Stern, StR I, § 19 III 6 c. 97 Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 2; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 31, der allerdings betont, dass ultima ratio nicht als rechtlicher, sondern als politischer Begriff zu verstehen sei. So auch Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 1; vgl. auch Stern, StR I, § 191116 c. 98 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 31. 99 V. Danwitz, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 37 Rn. 7. 100 Stern, StR I, § 19 III 6 c. 101 In BVerfGE 3, 52 hat das Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung auch deshalb abgelehnt, weil die Bundesregierung, die der Auffassung war, dass die Länder Bayern und Hessen durch die Gewährung von Weihnachtszuwendungen an ihre Staatsbediensteten ihnen nach dem Grundgesetz obliegende Bundespflichten verletzten, nach Art. 37 GG vorgehen könnte. Siehe zudem BVerfGE 7, 367 . 102 Vgl. hierzu und den anderen Anwendungsfällen: v Danwitz, in v. Mangoldt /Klein, GG, Art. 37 Rn. 3; siehe auch Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 1.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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pflichten nicht. 103 Der Nichterfüllung steht die Schlechterfüllung gleich. 104 Grundsätzlich ist auch der Umfang der Pflichtverletzung unbeachtlich. Dies gilt jedoch nur im Hinblick auf den Tatbestand; richtigerweise ist auf der Rechtsfolgenseite die Schwere des Pflichtverstoßes - wie zu zeigen sein wird - unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit des Mittels im engeren Sinne zu berücksichtigen. 105 Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwangs zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Die zulässigen Mittel, die der Bund einsetzen darf, werden nicht enumerativ aufgezählt. Insoweit mag Art. 37 Abs. 1 GG eine „außerordentlich vage" 1 0 6 Regelung sein; angesichts der äußerst verschiedenartigen Situationen, in denen es zum Einsatz des Bundeszwangs kommen kann, erscheint allerdings eine konkretere Normierung spezifischer Mittel kaum möglich. Durch die relative Unbestimmtheit der Mittel kann die Bundesregierung ihr Eingreifen ganz auf den speziellen Fall ausrichten. 1 0 7 Maunz weist zu Recht darauf hin, dass das Grundgesetz insoweit nicht unbestimmter ist als die allgemeinen Polizei- und Sicherheitsgesetze.108 Als zulässige Maßnahmen werden in der Literatur aufgeführt: Ausübung von finanziellem oder wirtschaftlichem Druck (z. B. Sperrung von Geldüberweisungen); 109 die einstweilige Weigerung der Erfüllung sonstiger Bundesaufgaben gegenüber dem Land (Einrede der nicht erfüllten Pflichten); 110 Ersatzvornahme, indem die unterlassene Handlung durch Bundesorgane oder im Bundesauftrag durch Dritte auf Kosten des Landes vorgenommen wird, einschließlich des Erlasses von Gesetzen;111 Ausübung des Weisungsrechts nach Art. 37 Abs. 2 GG, 1 1 2 einschließlich des Einsatzes der Behörden anderer Länder; 113 Einsatz des Bundesgrenzschutzes und von Poli-

w 3 Zu den Pflichten im Einzelnen vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 11 ff. 104 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 23. 105 So auch Gubelt, in v. Münch /Kunig, GG, Art. 37 Rn. 7; a.A. Maunz, in Maunz Dürig, GG, Art. 37 Rn. 23 f. 106 So Stern, StR I, § 19 III 6 c. 107 Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 10. los Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 10, der im Weiteren ausführt, dass die im Polizeirecht erarbeiteten allgemeinen Grundsätze, mithin auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf Art. 37 GG anzuwenden seien. Siehe zum Vergleich mit den polizeirechtlichen Regelungen auch Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 23; v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 37 Rn. 22, der allerdings den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für unanwendbar hält.

109 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Stern, StR I, § 19 III 6 c, allerdings mit Bedenken aufgrund des Gewaltenteilungs- und Bundesstaatsprinzips; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12. ho Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12. in Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12. 112 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55. 113 Stern, StR I, § 19 III 6 c.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

zeikräften anderer Länder, allerdings nur unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 2 GG, der insoweit spezieller ist; 1 1 4 Einsetzung eines Bundeskommissars mit allgemeiner oder spezieller Vollmacht; 115 zeitweilige treuhänderische Übernahme der gesamten oder teilweisen Landesstaatsgewalt durch Bundesorgane (sogenannte Sequestration im engeren Sinne). 116 Der Eingriffscharakter dieser Maßnahmen ist offenkundig, soweit der Bund aktiv gegenüber oder in dem Land tätig wird. Fraglich ist hingegen, ob es auch als Eingriff zu qualifizieren ist, wenn der Bund seinerseits lediglich die Erfüllung von Pflichten gegenüber dem Land verweigert, um so Druck auszuüben. Unzweifelhaft kann ein solches Unterlassen das jeweilige Land wesentlich härter treffen als ein aktiver Eingriff. Dies wird offenkundig, wenn der Bund etwa dem Land an sich zustehende Finanzmittel sperrt. Soweit der Bund damit die Erfüllung einer ihm nach dem Grundgesetz obliegenden Pflicht gegenüber dem Land verweigert, wird auch dieses Vorenthalten zumindest an denselben Kriterien zu messen sein wie ein aktives Eingriffshandeln.

I I I . Die Grenzen des Bundeszwangs Nach Art. 37 Abs. 1 GG kann die Bundesregierung, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind, einschreiten. Grundsätzlich steht es in ihrem Ermessen, ob und wie sie tätig wird. 1 1 7 Zum Teil wird vertreten, das der Bundesregierung eingeräumte Ermessen könne im Hinblick auf Art. 28 Abs. 3 GG schrumpfen. 118 Unzweifelhaft hat die in Art. 28 Abs. 3 GG statuierte Pflicht des Bundes zur Wahrung der dort genannten Verfassungsgrundsätze auch in den Ländern eine spezifische Einengung des Ermessens zur Folge. Eine Ermessensreduzierung auf Null, die die Bundesregierung in jedem Falle zum Eingreifen zwänge, ist jedoch Art. 28 Abs. 3 GG nicht zu entnehmen. Auch hier wird es etwa auf die Schwere des Verstoßes und die Erfolgsaussichten einer hiergegen erwogenen Zwangsmaßnahme ankommen. Freilich wird es auch Konstellationen geben, die jede andere Entscheidung als ein resolutes Eingreifen als ermessensfehlerhaft erscheinen lassen.119

H4 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12; a.A. v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 37 Rn. 9, der den Einsatz von Polizei und Bundesgrenzschutz im Rahmen von Art. 37 GG nicht von den Voraussetzungen nach Art. 91 Abs. 2 GG abhängig machen will. H5 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12. H6 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 12; siehe zu den zulässigen Maßnahmen insgesamt auch Gubelt, in v. Münch / Kunig, GG, Art. 37 Rn. 13. in Stern, StR I, § 19 III 6 c; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 31. H8 So Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 16; Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 125; Bothe, in AK-GG, Art. 37 Rn. 16. H9 So auch Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 46.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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Aus der Perspektive der Länder stellt sich vor allem die Frage, welche Maßnahmen des Bundes sie von Verfassungs wegen hinzunehmen haben oder - anders formuliert - welchen Schutz ihnen die Verfassung vor Maßnahmen des Bundes nach Art. 37 Abs. 1 GG gewährt. Dabei geht es hier nicht in erster Linie um die möglichen prozessualen Rechtsschutzmöglichkeiten, sondern um die materiellrechtlichen Schutzvorkehrungen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu untersuchen, ob Maßnahmen des Bundeszwangs nur im Rahmen und nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angewandt werden dürfen.

1. Spezifische Schranken Art. 37 Abs. 1 GG erlaubt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Hat das Merkmal der Notwendigkeit unzweifelhaft eine begrenzende Funktion, so kann ihm dennoch zugleich eine positive Bedeutung in dem Sinne entnommen werden, dass die Bundesregierung grundsätzlich alle Maßnahmen ergreifen darf, die notwendig sind. 120 Indes gilt auch diese Aussage nur grundsätzlich, da Maßnahmen, die zur Zielerreichung an sich notwendig wären, dann unzulässig sind, wenn sie durch andere Verfassungsbestimmungen ausgeschlossen werden. 121 Ausgeschlossen sind danach, ohne dass es einer weiteren Abwägung bedürfte, folgende Zwangsmaßnahmen: gemäß Art. 20 Abs. 2 GG die Auflösung des jeweiligen Landesparlaments; 122 wohl auch die Amtsenthebung einer Landesregierung oder einzelner Minister; 123 die Liquidation eines Landes, da die Auflösung eines Landes abschließend in Art. 29 GG geregelt ist; 1 2 4 ein Eingriff in die Rechtsprechung, deren Unabhängigkeit durch Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG besonders gesichert ist; 1 2 5 der Einsatz der Bundeswehr, der in Art. 87 a GG insoweit abschließend geregelt ist; 1 2 6 eine Wahrnehmung des Stimmrechts des Landes im Bundesrat, da hierdurch auch die anderen Länder betroffen wären. 127 120 Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 47. 121 Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 47. 122 Stern, StR I, § 19 III 6 c; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 52; Höfling, DÖV 1982, S. 889 ; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 14; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13; a.A. Brockmeyer, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 37 Rn. 5, allerdings lediglich unter Hinweis darauf, dass diese Maßnahme ein adäquates Mittel sein könne. 123 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 52; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 14. Zulässig ist danach hingegen die Enthebung von einzelnen oder allen Amtsbefugnissen. 124 Stern, StR I, § 19 III 6 c; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 50; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13. 125 Stern, StR I, § 19 III 6 c; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 51; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 14; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13. 126 Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 14; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13; so schon für

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

Soweit das Grundgesetz die vorgenannten Zwangsmaßnahmen generell für unzulässig erklärt, ergibt sich deren Verfassungswidrigkeit, ohne dass es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung überhaupt bedarf. Wegen des Vorrangs der spezielleren Schranken wäre es auch dogmatisch verfehlt, auf den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückzugreifen. Die Frage, ob dieser Grundsatz als allgemeine Schranke fungiert, wird erst aktuell, wenn speziellere Schranken nicht eingreifen. Das in Art. 37 Abs. 1 GG normierte Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates beschränkt ebenfalls die Handlungsfreiheit der Bundesregierung. Es handelt sich bei diesem Erfordernis jedoch nicht um eine materielle Schranke. Der Bundesrat hat seinerseits, wenn er um seine Zustimmung ersucht wird, nicht nur zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 37 Abs. 1 GG gegeben sind, sondern auch, ob die von der Bundesregierung erwogene Maßnahme generell unzulässig ist oder aber möglicherweise dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht. 128

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

als Schranke

Ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Befugnisse von Bundesregierung und Bundesrat begrenzt, ist streitig. Dezidiert gegen die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes im Rahmen des Art. 37 Abs. 1 GG hat sich von Danwitz ausgesprochen: Es stehe grundsätzlich im Ermessen der Bundesregierung, ob sie Bundeszwang anordne, wenn ein Bundesland seine Pflichten verletze. 129 Zur Bestimmung der notwendigen Maßnahmen des Bundeszwanges im Einzelnen räume Art. 37 GG der Bundesregierung ebenfalls ein erhebliches, der politischen Opportunität der Entscheidung entsprechendes Auswahlermessen ein, das namentlich durch eine weite Einschätzungsprärogative im Hinblick auf die Notwendigkeit der einzusetzenden Zwangsmittel gekennzeichnet werde. Aus der Formulierung „notwendige Maßnahmen" könne nicht auf eine Bindung des Auswahlermessens an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschlossen werden. Für die Anwendbarkeit des Prinzips fehle es nämlich an einer möglichen Betroffenheit der Bundesländer in der grundrechtlichen Freiheitssphäre. Grenzen ergäben sich vielmehr aus der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer und der Pflicht des Bundes zu bundesfreundlichem Verhalten bei einer Ausübung bestehender Kompetenzen. Rechtliche Schranken für die Auswahl von statthaften Bundeszwangsmaßnahmen seien demnach nicht die Erforderlichkeit und die Angemessenheit der Mittel. Eine Auswahl von die Rechtslage vor Inkrafttreten des Art. 87 a GG Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 49. 127 Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 13; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 13; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 14. 128 Stern, StR I, § 19 III 6 c. 129 V. Danwitz, in v. Mangoldt /Klein, GG, Art. 37 Rn. 29.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Zwangsmaßnahmen sei vielmehr bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs zuläsSig. 130 Diese Auffassung kann bereits im Ansatz nicht überzeugen. Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke staatlichen Handelns denknotwendig oder zumindest dogmatisch zwingend auf Eingriffe in die grundrechtliche Freiheitssphäre beschränkt sei, wird auch hier nur behauptet, ohne für diese These eine Begründung zu liefern. 131 Hat die Verfassung - wie hier - einen bestimmten Bereich definiert und damit nach außen abgeschirmt, zugleich aber zu Eingriffen in diesen Bereich ermächtigt, so ist davon auszugehen, dass solche Eingriffe nicht beliebig möglich sein sollen. Andernfalls würde die Verfassung ihre eigene Entscheidung zugunsten des geschützten Bereichs wieder zur Disposition des ermächtigten Organs stellen. Es sind keine überzeugenden dogmatischen Einwände ersichtlich, die einer Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Kompetenzausübungsschranke entgegenstehen, wenn es um den Schutz der Länder vor Eingriffen des Bundes geht. Es entspräche auch nicht der in der Verfassung vorgenommen Zuordnung von Bund und Ländern, wenn der Bund gegenüber den Ländern - wie v. Danwitz meint - bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs verfahren könnte. Die Länder gerieten auf diese Weise nahezu in eine Paria-Stellung, die nicht ihrer Bedeutung in der föderativen Ordnung des Grundgesetzes entspräche. Überdies bleibt unklar, welche Konsequenzen sich aus den von v. Danwitz ebenfalls angeführten Ermessensgrenzen aufgrund der Eigenstaatlichkeit der Länder und der Pflicht des Bundes zu bundesfreundlichem Verhalten ergeben. So erscheint letztere Pflicht kaum vereinbar mit einer Ermächtigung zu Zwangsmaßnahmen bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs. Schließlich weist bereits der Wortlaut des Art. 37 Abs. 1 GG zumindest auf die Grundsätze der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels als Schranken des Bundeszwangs hin. Einer Verfassungsinterpretation, die über den Verfassungstext hinweggehen muss, um eine dogmatische Position aufrechterhalten zu können, kommt keine Überzeugungskraft zu. Entsprechend nimmt auch das ganz überwiegende Schrifttum an, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke staatlicher Zwangsmaßnahmen nach Art. 37 Abs. 1 GG zu beachten ist. 1 3 2 130 v Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 37 Rn. 30; siehe auch Zinn, AöR 75 (1949), S. 291 ; Bauer, Die Bundestreue, S. 242 Fn. 64. 131 Der Hinweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder Literaturstellen ersetzt nicht die fehlenden Argumente, zumindest wenn die angeführten Nachweise ihrerseits keine überzeugende Begründung enthalten. 132 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 31 f., 44, 53; Stern, StR I, § 19 III 6 c; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 11; Brockmeyer, in Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 37 Rn. 5; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 50, 68; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 11; Rühmann, in Umbach/Clemens, GG, Art. 37 Rn. 35; Nölting, S. 87; Schäfer, AöR 78 (1952/53), S. 1 . Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 12 hebt hervor, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausschließlich Schranke des Auswahl- und nicht des Entschließungsermessens sei. Insoweit ist freilich einzuwenden, dass Verhältnismäßigkeits-

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefüge des Grundgesetzes

Danach muss das Zwangsmittel geeignet sein, das Land zur Einhaltung seiner bundesstaatlichen Pflichten zu veranlassen. Denn nur ein geeignetes Mittel kann auch ein notwendiges sein. 133 Die Eignung fehlt etwa solchen Maßnahmen, die ausschließlich Sanktionscharakter haben. Die Zwangsmaßnahme, die der Bund ergreifen will, muss auch erforderlich sein. 134 Die Bundesregierung hat danach, wenn mehrere Maßnahmen in Betracht kommen, diejenige zu wählen, die das Land am wenigsten beeinträchtigt; der Bundesrat darf nur einer solchen Maßnahme die Zustimmung erteilen. So ist zwar der Bundesregierung keine generelle Pflicht auferlegt, das Einschreiten vorher anzukündigen oder das Land zur Abhilfe aufzufordern - etwa im Sinne einer Mängelrüge, wie sie Art. 84 GG vorsieht. Jedoch ergibt sich aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit, dass die Bundesregierung entsprechend vorzugehen hat, wenn Aussicht besteht, dass das Land bereits aufgrund einer solchen Ankündigung oder Aufforderung seinen bundesstaatlichen Verpflichtungen wieder nachkommt. 135 Verspricht eine solche vorherige Ankündigung oder Aufforderung hingegen im konkreten Einzelfall keinen Erfolg oder würde sie möglicherweise sogar die erwogenen Zwangsmaßnahmen erschweren, so kann die Bundesregierung von ihr absehen. Im Zusammenhang mit der Frage des mildesten Mittels wird auch erörtert, ob nicht vorrangig die obersten Landesorgane gegen etwaige Pflichtverletzungen innerhalb des Landes vorzugehen haben und eine solche landesinterne Lösung einem Eingreifen des Bundes vorzuziehen ist. 1 3 6 Es ist indes zu berücksichtigen, dass es sich insoweit vorrangig um eine Frage der tatbestandlichen Voraussetzungen des Bundeszwangs handelt. Denn eine dem Land zurechenbare Pflichtenverletzung wie sie Art. 37 Abs. 1 GG voraussetzt - liegt nur vor, wenn das Land als ganzes, mithin die zuständigen obersten Landesorgane keine Abhilfe schaffen wollen oder sich gar mit dem rechtswidrigen Handeln etwa einer der Aufsicht des Landes unterstellten juristischen Person des öffentlichen Rechts identifizieren. 137 In der Tat dürfte aber in derartigen Fällen regelmäßig eine entsprechende Aufforderung durch die Bundesregierung zur landeseigenen Abhilfe Vorrang vor direkten Eingriffen des Bundes innerhalb des Landes haben. Auch die vorherige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts durch die Bundesregierung, um das Land im Wege des Richterspruchs zur Einhaltung der ihm oblieerwägungen immer nur bezogen auf ein bestimmtes Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks angestellt werden können. 133 Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 12. 134 Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 15; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 69, der diese Beschränkung allerdings aus dem Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens herleitet. 135 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 35. 136 Stern, StR I, § 19 III 6 c. 137 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 13.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

i m u n e s t a t 1

genden Bundespflichten zu bewegen, könnte als milderes Mittel erscheinen. 138 Dem ist jedoch das Bundesverfassungsgericht bereits sehr früh - mit Zustimmung der ganz überwiegenden Auffassung im Schrifttum 139 - entgegengetreten: Ob die Bundesregierung zur Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung die Mittel des Bundeszwangs anwenden oder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG herbeiführen will, steht - so heißt es im Urteil aus dem Jahre 1958 - in ihrem verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Ermessen. 140 Wäre die Bundesregierung rechtlich verpflichtet, zuvor das Bundesverfassungsgericht anzurufen, wäre Art. 37 Abs. 1 GG eine reine Bestimmung über die Vollstreckung von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts; systematisch müsste sie dann im IX. Abschnitt des Grundgesetzes stehen.141 Schließlich sind die Zwangsmaßnahmen wieder aufzuheben, wenn das Land zu einem rechtmäßigen Verhalten zurückgekehrt ist. Eine ausdrückliche Regelung wie in Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG - enthält Art. 37 GG zwar nicht, diese Maßgabe folgt aber unmittelbar aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt nach Maunz auch hier „ein vernünftiges Verhältnis zwischen Anlaß und Eingreifen". 142 Dem ist beizupflichten, allerdings mit der Einschränkung, dass der Bundeszwang nur dann unverhältnismäßig im engeren Sinne ist, wenn - negativ formuliert - das angewandte Mittel außer Verhältnis zu dem erstrebten Erfolg steht, also ein in diesem Sinne unvernünftiges Verhältnis zwischen Anlass und Eingreifen festzustellen ist. Je schwerer die Verletzung der Bundespflichten durch das Land, um so eher sind auch intensive Eingriffe des Bundes zulässig, um das Land wieder zur Einhaltung der ihm obliegenden Pflichten zu bewegen. Kriterien für die Schwere der Pflichtverletzung sind der Rang der verletzten Bundesnorm und ihre Bedeutung für die bundesstaatliche Ordnung, aber auch die Dauer und Intensität der Pflichtverletzung. In diesem Zusammenhang ist die Diskussion, ob sich für den Bund aus der Gewährpflicht des Art. 28 Abs. 3 GG eine unbedingte Verpflichtung zum Einschreiten ergibt, zu sehen. Eine derartige Bindung wird allerdings - wie oben bereits dargelegt worden ist - nicht in dieser Generalität zu bejahen sein. 143 Aus Sicht des betroffenen Landes, dessen verfassungsmäßige Ordnung nicht den 138 So Pfeiffer, DÖV 1949, S. 263 unter Berufung auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 139 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 30; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 38; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 16; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 10. 140 BVerfGE 7, 367 . 141 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 30; Evers, Art. 37 Rn. 16.

in Bonner Kommentar, GG,

142 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 31, 32; siehe auch Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 70; Stern, StR I, § 19 III 6 c. 143 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 46, der aus Sicht der Bundesregierung betont, dass kein Zwang zum Einschreiten angenommen werden kann.

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Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Grundrechten oder den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 des Art. 28 GG entspricht, bedeutet dies, dass auch dann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen gewährt. Freilich senkt eine derartige Verletzung wesentlicher grundgesetzlicher Verpflichtungen durch das Land die Schwelle für einen zulässigen Eingriff des Bundes.

IV. Das Weisungsrecht nach Art. 37 Abs. 2 GG Gemäß Art. 37 Abs. 2 GG hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter zur Durchführung des Bundeszwangs das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen über das Verhältnis des Weisungsrechts zu den in Art. 37 Abs. 1 GG geregelten Maßnahmen des Bundeszwangs. Ob die Weisung ein zulässiges Mittel des Bundeszwangs im Sinne von Art. 37 Abs. 1 GG ist und damit auch insoweit die vorherige Zustimmung des Bundesrates voraussetzt 144 oder aber das Weisungsrecht erst zur Durchführung bereits beschlossener Bundeszwangsmaßnahmen in Betracht kommt, so dass eine gesonderte Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist 1 4 5 , ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Interesse. Wesentlich ist, dass Art. 37 Abs. 2 GG der Bundesregierung und ihrem Beauftragten ein Weisungsrecht auch gegenüber anderen Ländern, die sich selbst pflichtgemäß verhalten haben, sowie deren Behörden einräumt. Da solche rechtsverbindliche Weisungen einen Eingriff darstellen - dies gilt insbesondere für die damit eröffneten unmittelbaren Durchgriffsmöglichkeiten auf sämtliche Behörden der gliedstaatlichen Verwaltung - 1 4 6 , stellt sich auch insoweit die Frage, welche Schranken für dieses erweiterte Weisungsrecht zu beachten sind. Eingriffe in die Rechtsprechung sind - insoweit gilt das zu Art. 37 Abs. 1 GG Gesagte entsprechend - nach Art. 97 GG unzulässig. Kontrovers wird diskutiert, ob die Ausnahmeregelungen in Art. 91 Abs. 2 und Art. 35 Abs. 3 GG insoweit gegenüber Art. 37 Abs. 2 GG abschließend sind, so dass aufgrund dieser Ermächtigung keine Weisungen gegenüber den Polizeikräften der bundestreuen Länder erteilt werden können. 147 Werden jene Vorschriften hinsichtlich des Einsatzes von Polizeikräften nicht als abschließend angesehen, verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insoweit bei Ausübung des Weisungsrechts auch zugunsten der selbst pflichtgetreuen Länder Beachtung.148 Demnach dürfen sie oder ihre Behör144 So Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 55; Stern, StR I, § 19 III 6 c, Fn. 445. 145 So v. Danwitz, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 37 Rn. 37 unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 77; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 21; Bauer, in Dreier, GG, Art. 37 Rn. 14; Erbguth, in Sachs, GG, Art. 37 Rn. 21. 146 y Danwitz, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 37 Rn. 38. 147 So Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 21; Stern, StR I, § 19 III 6 c; a. A. die wohl vorherrschende Auffassung, vgl. etwa Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 56 allerdings mit Bedenken; Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 79. 148 So ausdrücklich Evers, in Bonner Kommentar, GG, Art. 37 Rn. 80.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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den nur dann Adressat einer Weisung nach Art. 37 Abs. 2 GG sein, wenn diese zur Wiederherstellung der bundesstaatlichen Ordnung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

V. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Bundeszwangs Die Bundesregierung muss - so war oben gesagt worden - nicht vor Anwendung des Bundeszwangs das Bundesverfassungsgericht anrufen; das heißt jedoch nicht, ihr wäre dieser Weg nicht eröffnet. Ebenso kann das betroffene Land, wenn sich die Bundesregierung für die Anwendung des Art. 37 Abs. 1 oder 2 GG entschieden hat, im Bund-Länder-Streit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG vom Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen oder erteilten Weisungen überprüfen lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat dann nicht nur zu untersuchen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 37 Abs. 1 GG gegeben sind. Es hat auch zu kontrollieren, ob nicht die Grenzen der Ermächtigung überschritten sind. Soweit keine speziellen Schranken normiert sind, gilt es, die Maßnahmen auf ihre Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu überprüfen. 149 Die materiellen Maßstäbe werden nur insoweit rechtlich effektiv, als sie im Ernstfall auch Maßstab der gerichtlichen Kontrolle sind. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bei seiner Bewertung - insoweit gilt nichts anderes als bei der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle von polizeilichen Eingriffen zur Gefahrenabwehr - die ex-ante-Sicht der handelnden Organe - hier also primär der Bundesregierung - zugrunde zu legen. Im Übrigen ist der Bundesregierung hinsichtlich der prognostischen Beurteilung der künftigen Entwicklung eine nicht zu knapp bemessene Einschätzungsprärogative zuzubilligen. Keinesfalls darf das Gericht Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die die Bundesregierung im Rahmen des ihr durch Art. 37 Abs. 1 und 2 GG eingeräumten Ermessens legitimer Weise angestellt hat, überprüfen. 150

F. Die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 72 GG I. Die Bedeutung der Vorschrift im bundesstaatlichen Gefüge Konzentrierten sich die bisherigen Ausführungen dieses Kapitels auf Normen im bundesstaatlichen Verhältnis, die seit ihrer Geltung entweder keine praktische 149 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 62; Gubelt, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 37 Rn. 11. 150 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 37 Rn. 62; siehe auch Gubelt, in v. Münch/Kunig, Art. 37 Rn. 11.

9 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Bedeutung erlangt oder aber zumindest in der Staatspraxis keine größeren Probleme aufgeworfen haben, so gerät mit der Verfassungsnorm des Art. 72 GG eine Vorschrift in den Blick, die im Zentrum bundesstaatlicher Kompetenzverteilung steht. 151 Sie bestimmt, unter welchen Voraussetzungen der Bund oder die Länder in wesentlichen Bereichen staatlicher Regelungstätigkeit die Kompetenz zur Gesetzgebung haben. Art. 72 GG selbst nennt die einzelnen Sachmaterien, für die sich die Gesetzgebungszuständigkeit nach den dort normierten Voraussetzungen bemisst, nicht. Sie ergeben sich aus anderen Vorschriften des Grundgesetzes, zuvörderst aus Art. 74 und Art. 74 a GG. Die dort aufgeführten Kompetenztitel machen deutlich, welche Relevanz der Verteilungsregel des Art. 72 GG für das Verhältnis von Bund und Ländern zukommt. Zu Recht ist daher die konkurrierende Gesetzgebung als der Kompetenztypus mit der bei weitem größten praktischen Bedeutung bezeichnet worden. 152 Daneben verweist Art. 115 c Abs. 1 auf die Voraussetzungen des Art. 72 GG, wenn dort dem Bund für den Verteidigungsfall das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung auch auf den Sachgebieten, die an sich zur Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gehören, eingeräumt wird. Art. 105 Abs. 2 GG spricht ebenfalls von „konkurrierender Gesetzgebung", macht die Zuständigkeit des Bundes allerdings alternativ davon abhängig, ob ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Art 72 Abs. 2 GG vorliegen. 153 Schließlich erhält Art. 72 GG dadurch zusätzliche Bedeutung, dass der Bund nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 GG nur unter den Voraussetzungen des Art. 72 GG Rahmenvorschriften für die Gesetzgebung der Länder erlassen darf. 154 Eingedenk der vielzitierten Aussage, unter der Geltung des Grundgesetzes sei Regieren in weiten Teilen gleichbedeutend mit „Gesetze machen" 155 , ist nachvollziehbar, dass Art. 72 GG als ein, wenn nicht sogar als der „neuralgische Punkt" 1 5 6 der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bezeichnet wird. Entspre151 Vgl. BVerfG, NJW 2003, S. 41 ; siehe auch Scholz, in FS BVerfG und GG, S. 252 ; Kröger/Moos, BayVBl. 1997, S. 705. 152 Oeter, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 72 Rn. 4; Stettner, in Dreier, GG, Art. 72 Rn. 9. 153 Insoweit erscheint es gut vertretbar, wenn im Hinblick auf die erstgenannte Alternative von einer ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes ausgegangen wird; vgl. Fischer-Menshausen, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 105 Rn. 19 m. w. N. Allerdings ist streitig, ob diese Auslegung noch mit dem Wortlaut der Vorschrift zu vereinbaren ist; ablehnend Maunz, in Maunz/Dürig, GG,- Art. 72 Rn. 41. 154 Da sich diese Bindung an die Vorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG unmittelbar aus Art. 75 GG ergibt, kann die Frage der dogmatischen Einordnung der Rahmengesetzgebung hier auf sich beruhen; vgl. hierzu nur einerseits Oeter, in v. Mangoldt /Klein, GG, Art. 72 Rn. 5, der die Rahmengesetzgebung als Unterfall der konkurrierenden Gesetzgebung ansieht, und andererseits Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 70 Rn. 10, der diese Einordnung als „gekünstelt" bezeichnet und die Eigenständigkeit der Rahmengesetzgebung betont. 155 Schenke, JuS 1989, S. 698 . 156 So Stern, Sondervotum zu Abschnitt 5.4 „Sicherung der Bedürfnisklausel", EnqueteKommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, S. 138 f.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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chend wird insbesondere Art. 72 GG in seiner alten, bis zum Jahre 1994 geltenden Fassung, in der für die Staatspraxis maßgeblichen Auslegung, die er durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat, für eine Machtverschiebung zugunsten des Bundes und zum Nachteil der Länder verantwortlich gemacht. 157 Mit dem 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes hat der verfassungsändernde Gesetzgeber dem Art. 72 GG seine heutige Gestalt gegeben. Der Bedeutungsgehalt dieser neu gefassten Vorschrift kann jedoch nur vor dem Hintergrund der ursprünglichen Fassung der Norm begriffen werden, da gerade die Kritik an dieser Regelung - zumindest in ihrer verfassungsgerichtlichen Auslegung - Ausgangspunkt der Novellierung war. Dies gilt insbesondere auch für die Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke zugunsten der Länder zur Anwendung gelangt. 158

II. Die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG alter Fassung Art. 72 Abs. 2 GG in seiner früheren Fassung159 war das Ergebnis intensiver Einflussnahme der alliierten Militärgouverneure auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates. Dieser wollte - wie schon der Herrenchiemseer Konvent - in Anlehnung an überkommene Weimarer Vorstellungen die Entscheidung darüber, ob ein Erfordernis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht, allein dem Bundesgesetzgeber überlassen. Das Bestreben war, durch eine nichtjustitiable Formulie157 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 4. So nunmehr auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 , das seine eigene Rechtsprechung rückblickend selbstkritisch unter Bezug auf ein Diktum von Stern als „Motor der Vereinheitlichung" bezeichnet. 158 Im Nachfolgenden soll sich die rückblickende Darstellung aber auf das hier interessierende Problem, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Anwendung gelangt, soweit als möglich konzentrieren. Dies erscheint insbesondere auch deshalb vertretbar, weil Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Art. 72 GG a. F. ebenso wie die Reformüberlegungen und -ansätze im Laufe der Jahre und die Entstehungsgeschichte der Neuregelung vielfach literarisch bearbeitet worden sind; vgl. nur Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel; Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 122 ff.; Sannwald, DÖV 1994, S. 629 ff.; Sommermann, Jura 1995, S. 393 f.; aber insbesondere auch die detaillierte Darstellung sowohl bei Pestalozza, in v. Mangoldt/Klein, GG (3. Aufl.), Art. 72 Rn. 15 ff. als auch bei Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 12 ff. mit den dortigen Nachweisen. 159 Art. 72 Abs. 2 GG hatte bis zur Änderung im Jahre 1994 folgenden Wortlaut: „Der Bund hat in diesem Bereiche das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil 1. eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert." 9*

1 3 2 . Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

rung der Norm eine verfassungsgerichtliche Überprüfung dieses Erfordernisses auszuschließen. Die Alliierten waren hingegen - voll Misstrauen gegen eine Übermacht des Gesamtstaates - erkennbar bemüht, eine möglichst scharfe und justitiable Fassung der Bestimmung im Interesse der Länder herbeizuführen. In diesem Sinne intervenierten sie wiederholt während der Beratungen. 160 Der Parlamentarische Rat ließ sich zwar unter dem Druck der damaligen Machtverhältnisse auf Änderungen seiner ursprünglichen Formulierungsvorschläge ein. Er eröffnete aber zugleich - insbesondere durch den Einschub des Bedürfnisses und die Fassung der Ziffer 3 des Art. 72 Abs. 2 GG - die Möglichkeit der Aufweichung der normierten Voraussetzungen einer Bundesgesetzgebung.161 Das Bundesverfassungsgericht zeigte auch sehr früh, dass es unwillig war, die ihm von den Alliierten zugedachte Kontrollfunktion wahrzunehmen. 162 Blieb es zunächst noch bei dem bloßen Hinweis, dass „gewichtige Gründe dafür geltend gemacht werden (könnten), die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der Bedürfnisfrage ... zu verneinen" 163 , so folgte bereits im Jahr darauf die für diese Frage grundlegende und die Rechtsprechung der nächsten Jahrzehnte im Wesentlichen bestimmende Entscheidung. In apodiktischer Form heißt es dort: „Einer Prüfung der Frage, ob für den Erlaß dieses Gesetzes ein Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG anzuerkennen ist, bedarf es zu dieser Feststellung (der Vereinbarkeit des angegriffenen Gesetzes mit dem bundesstaatlichen Prinzip des Grundgesetzes) nicht. Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, ist eine Frage pflichtgemäßen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen ist. Zwar sind ... die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund ... im einzelnen bezeichnet. Hierdurch wird die Ermessensfreiheit des Bundesgesetzgebers eingeengt, der Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibt jedoch der Charakter einer echten Ermessensentscheidung."164 Im Anschluss deutet das Gericht an, die Entscheidung des Bundesgesetzgebers sei nur darauf zu überprüfen, ob dieser die seinem Ermessen gesetzten Grenzen verkannt oder das ihm eingeräumte Ermessen missbraucht habe. 165 Tatsächlich hat das Gericht jedoch in den

160 Vgl. Darstellung bei Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 12 - 18 und 28 ff. 161 Zwei maßgeblich an den Beratungen beteiligte Mitglieder des Parlamentarischen Rates, Zinn und Strauß, haben bereits kurz darauf deutlich hervorgehoben, dass es gerade die Absicht dieser Formulierungen gewesen sei, den Besatzeroktroi zu umgehen, um so eine verfassungsgerichtliche Kontrolle auszuschließen; vgl. Zinn, in Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 97 f.; Strauß, in Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 176. 162 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 31, weist darauf hin, dass diese Weimarer Tradition auch personell durch die mitwirkenden Richter - hervorzuheben sei der erste Gerichtspräsident Hermann Höpker-Aschoff - bedingt gewesen sei. 163 BVerfGE 1, 264 . 164 BVerfGE 2, 213 (Ergänzung und Auslassung durch Verfasser). 165 BVerfGE 2, 213 .

.Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Folgejahren nicht einmal von dieser eingeschränkten Prüfungskompetenz Gebrauch gemacht. 166 Dieser Hinweis auf eine solche rudimentäre Kontrolle diente lediglich dazu, um den völligen Rückzug des Gerichts von der ihm zumindest von den Alliierten zugedachten Aufgabe zu kaschieren. 167 Teilweise hat das Gericht die Beschränkung der eigenen Prüfungskompetenz auch mit der Unbestimmtheit der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a. F. verwandten Rechtsbegriffe begründet. So heißt es etwa in seinem Urteil zum Ladenschlussgesetz, die Entscheidung darüber, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung vorliege, obliege primär dem Bundesgesetzgeber. Dieser habe zunächst die vom Gericht zu respektierende politische Vorentscheidung, in welchem Maße er die Einheitlichkeit im Sozialleben anstrebe, zu treffen. Sodann habe er sich zu fragen, ob die von ihm angestrebte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sein eigenes Tätigwerden erfordere; nur dann dürfe er die Bedürfnisfrage bejahen. Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse seien zwar Rechtsbegriffe; sie seien jedoch so unbestimmt, dass ihre Konkretisierung weitgehend darüber entscheide, ob zu ihrer Erreichung ein Bundesgesetz erforderlich sei. Das Bundesverfassungsgericht sei deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten habe. 168 Dieser Wechsel in der dogmatischen Begründung 169 änderte nichts an der weiterhin geübten Selbstbeschränkung des Gerichts. 170 So kann es nicht ernsthaft überraschen, dass das Bundesverfassungsgericht trotz der expandierenden Bundesgesetzgebung unter der Geltung des Art. 72 GG a. F. kein einziges dieser Gesetze wegen Überschreitens der aufgezeigten Grenzen für verfassungswidrig erachtet hat. 171 Vom Bundesverfassungsgericht wurde nicht einmal erwogen, ob der Regelungstätigkeit des Bundesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung mit Rücksicht auf die Länder Schranken nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gezogen sein könnten. Eine solche Begrenzung der bundesgesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit hätte notwendig eine entsprechende Korrektur der gerichtlichen Selbstbeschränkung zur Folge haben müssen. Hierzu war das Gericht offensichtlich nicht bereit, obwohl bereits Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a. F. einen Hinweis auf das Erfordernis einer bundesgesetzlichen Regelung enthielt. Dieser

166 Vgl. BVerfGE 4, 115 ; 10, 234 ; 33, 224 ; 65, 1 ; 65, 283 . 167 Vgl. Oeter, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 72 Rn. 34. 168 BVerfGE 13, 230 ; siehe auch aus der späteren Rechtsprechung BVerfGE 26, 338 ; 67, 299 ; 78, 249 . 169

Das Verhältnis beider Begründungsansätze zueinander ist vom Gericht selbst nie geklärt worden; vgl. Pestalozzi in v. Mangoldt/Klein, GG (3. Aufl.), Art. 72 Rn. 117. 170 Die von Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 34, konstatierte Anerkennung der Notwendigkeit einer rudimentären verfassungsgerichtlichen Kontrolle blieb folgenlos. 171 Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 22.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

mögliche Ansatz im Verfassungstext für eine Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle ist vom Gericht nicht aufgegriffen worden.

III. Entstehungsgeschichte und Motive der Novellierung des Art. 72 GG Das Unbehagen in der Literatur an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wuchs, je deutlicher wurde, dass Art. 72 Abs. 2 GG als „föderative Bremse" zugunsten der Länder versagte. 172 Da die Kritik das Bundesverfassungsgericht nicht zu einer Änderung seiner Rechtsprechung zu bewegen vermochte, kam der Gedanke auf, das Gericht durch eine Neufassung des Art. 72 GG zur Wahrnehmung seiner ihm zugedachten Kontrollaufgabe anzuhalten.173 So schlug die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Bundestages im Jahre 1976 vor, den als zu weit empfundenen Begriff des Bedürfnisses zu ersetzen durch das „Erfordernis. .., daß das Ziel ausschließlich durch ein Bundesgesetz gesichert werden kann" 1 7 4 . In der Begründung des Schlussberichts heißt es hierzu, Zielsetzung der vorgeschlagenen Neuformulierung sei, das Erfordernis des Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung einer Materie zu verschärfen und durch eine Konkretisierung justitiabler zu machen. 175 Die Kommission hatte zwar Bedenken gegen eine gerichtliche Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung aufgrund deren „politischen Charakters", stellte diese Bedenken aber im Ergebnis zurück, weil der Verzicht auf jede Kontrolle noch weniger akzeptabel sei. 176 Der verfassungsändernde Gesetzgeber kam der Empfehlung der Enquete-Kommission nicht nach. Art. 72 GG behielt zunächst seine anfängliche Fassung. Aktuell wurde das Bemühen um eine Änderung der Norm wieder im Rahmen der Debatte um eine Verfassungsreform anlässlich der Wiedervereinigung. Die Ministerpräsidenten der Länder forderten in ihrem gemeinsamen Beschluss vom 5. Juli 1990 eine Stärkung der Gesetzgebungskompetenzen der Länder, insbesondere auch durch die Errichtung höherer Schranken für die Inanspruchnahme einer Bundeszuständigkeit im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung.177 In der Folge griff dann die Kommission Verfassungsreform des Bundesrates im Jahre 1992 172

Vgl. zur Kritik die Darstellung bei Oeter, S. 415 ff. mit den dortigen Nachweisen. 173 Zur Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG n. F. auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 1 74 Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924 vom 9. Dezember 1976, S. 131. 1 75 Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924 vom 9. Dezember 1976, S. 131; zur Kritik an dem Entwurf vgl. Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 38 bis 40. 1 76 Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924 vom 9. Dezember 1976, S. 132. 1 77 Vgl. ZParlR 21 (1990), S. 461.

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auf die - von der Enquete-Kommission noch verworfene - so genannte Bundesratslösung zurück, nach der nicht das Bundesverfassungsgericht auf Antrag die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung zu prüfen, sondern der Bundesrat die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung jeweils vorab zu bestätigen hätte. 178 Richtungweisend wurde schließlich aber der Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. 179 Auf diesem Vorschlag beruht letztlich die später in Kraft getretene Neuregelung. 180 Für das Verständnis der Neuregelung und insbesondere für das in ihr angelegte Spannungsverhältnis zwischen politischer Gestaltungsfreiheit des Bundesgesetzgebers einerseits und gerichtlicher Kontrolle zum Schutze der Länder andererseits sind die Begründung der Kommission, aber auch die im späteren Gesetzgebungsverfahren zumal von der Bundesregierung erhobenen Einwände aufschlussreich. So heißt es im Bericht der Kommission: „Die bisherige Fassung der Bedürfnisklausel hat sich als eines der Haupteinfallstore für die Auszehrung der Länderkompetenzen erwiesen ... Die Gemeinsame Verfassungskommission entschied sich letztlich dafür, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zu konzentrieren, zu verschärfen und zu präzisieren mit dem Ziel, die als unzureichend empfundene Justitiabilität der Bedürfnisklausel durch das Bundesverfassungsgericht zu verbessern; ergänzt wird diese Lösung durch die Einführung einer neuen verfassungsgerichtlichen Verfahrensart in Artikel 93 Abs. 1 Nummer 2 a GG." 1 8 1 Die Bundesregierung machte ihrerseits in ihrer Stellungnahme vom 17. März 1994 zum Gesetzentwurf des Bundesrates auf die Schwierigkeiten, die mit der beabsichtigten Neufassung verbunden seien, aufmerksam: Der vorgeschlagene Artikel 72 Abs. 2 GG sei ein Formelkompromiss, der keine objektiv nachprüfbaren Maßstäbe und Kriterien für die Abgrenzung der Gesetzgebungsrechte zwischen Bund und Ländern enthalte. So gebe es keinen objektiven Maßstab dafür, wann gleichwertige Lebensverhältnisse vorlägen. Ebenso fehlten objektivierbare und nachprüfbare Kriterien dafür, wann eine bundesgesetzliche Regelung zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse liege. Ob ein solches Interesse 178

Bericht der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates, BR-Drs. 360/92. Schlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000. 180 In Art. 72 Abs. 2 GG heißt es nunmehr lediglich statt „Rechtseinheit'4 - wie die Kommission vorgeschlagen hatte - „Rechts- oder Wirtschaftseinheit". 181 Schlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 33. In der Begründung seines Gesetzesentwurfs, BR-Drs. 886/93, Anlage S. 16, nahm der Bundesrat auf die Ausführungen der Gemeinsamen Verfassungskommission Bezug, nachdem er zuvor seine Kritik an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich zum Ausdruck gebracht hatte: „Die Bedürfnisklausel des bisherigen Artikels 72 Abs. 2 GG ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einem rein politischen Ermessenstatbestand reduziert worden. Der Schutzzweck der Bedürfnisklausel ist dadurch geschwächt." 179

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

anzunehmen sei, sei letztlich eine „Entscheidung politischen Ermessens. Als solche kann sie nicht gerichtlich überprüft, nicht rechtlich abgeleitet, sondern nur als politische Weitung akzeptiert werden. Mit der zweiten Tatbestandsalternative weist die Neufassung dem Bundesverfassungsgericht damit eine politische Entscheidungsfunktion zu, obwohl im Bund-Länder-Verhältnis die politische Vorentscheidung, ob ein Bedürfnis nach bundesrechtlicher Regelung besteht, dem demokratisch gewählten Bundesgesetzgeber zukommen muss. Die Neufassung des Artikel 72 Abs. 2 GG würde von daher nicht präventiv befriedend und klärend zu einer Kompetenzabschichtung zwischen Bund und Ländern führen, sondern das Bundesverfassungsgericht in eine politische Schiedsrichterrolle drängen. Aus ihr könnte es sich nur - allerdings in Widerspruch zu der mit der neuen Nachprüfungsklausel des Artikels 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG verfolgten Zielrichtung - durch richterliche Selbstbeschränkung befreien." 182 Vor dem Hintergrund dieser gegensätzlichen Positionen erhebt sich die Frage, ob es dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit der am 15. November 1994 in Kraft getretenen Neufassung des Art. 72 GG tatsächlich gelungen ist, eine wirksame Schranke zu Gunsten der Länder zu installieren, insbesondere ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in diesem Zusammenhang zur normativen Geltung gelangt.

IV. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke nach Art. 72 GG neuer Fassung 1. Der Eingriffscharakter der bundesgesetzlichen Regelung im Verhältnis zu den Ländern Art. 72 Abs. 1 GG weist - insoweit wie bisher und in Übereinstimmung mit der generelleren Regelung in Art. 70 GG - unmittelbar den Ländern die Befugnis zur Gesetzgebung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zu (so genannte Residualkompetenz). Die Länder verlieren diese Zuständigkeit, wenn und soweit der Bund von seiner, insoweit konkurrierenden Zuständigkeit in diesem Bereich Gebrauch macht. In Absatz 2 des Art. 72 GG werden sodann die materiellen Voraussetzungen genannt, bei deren Vorliegen der Bund tätig werden darf. Es fragt sich, ob das Tätigwerden des Bundesgesetzgebers einen Eingriff in den Zuständigkeitsbereich der Länder darstellt. Denn nur wenn ein entsprechendes Bundesgesetz als Eingriff qualifiziert werden kann, ist die logische Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeben. Bereits mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass das Bundesverfassungsgericht ein Denken in den Kategorien von Eingriff und Rechtfertigung im kom182 Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf des Bundesrates vom 17. März 1994, BT-Drs. 12/7109, S. 14 f.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i m u n e s t a t

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petentiellen Verhältnis zwischen Bund und Ländern bisher ebenso kategorisch wie apodiktisch abgelehnt hatte. Diese in der Literatur - wie gezeigt - teilweise aufgegriffene Position beruht indes auf einem falschen Verständnis des Eingriffs als eines von der Verfassung an sich ungewollten Akts. Diese Vorstellung gilt es zu überwinden, zumal sie bereits im grundrechtlichen Bereich, in dem das Bundesverfassungsgericht das Eingriffsdenken und in der Folge Verhältnismäßigkeitserwägungen bisher ausschließlich beheimatet sah, verfehlt ist. Denn auch dort ist ein Eingreifen des Staates in grundrechtliche Freiheiten geboten, gerade auch um die Freiheit des einen mit der des anderen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Der Eingriff ist daher nicht grundsätzlich unerwünscht, sondern lediglich rechtfertigungsbedürftig. Ob ein Eingriff vorliegt, ist bei den Grundrechten wie auch im Staatsorganisationsrecht allein danach zu bestimmen, ob ein verfassungsunmittelbar definierter Bereich durch einen Akt niederen Ranges verkürzt oder beschränkt wird. Nach dieser Maßgabe kann kein Zweifel bestehen, dass der Bund, indem er in dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung tätig wird, in die Zuständigkeit der Länder eingreift. 183 Denn verfassungsunmittelbar sind die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zuständig. Dem Bund wird lediglich die Möglichkeit eröffnet, die Länder aus ihrer Zuständigkeit zu verdrängen. Wenn der Bundesgesetzgeber ein Gesetz erlässt, schafft er mithin nicht nur eine bundeseinheitliche Regelung eines bestimmten Inhalts, in demselben Akt verdrängt er vielmehr zugleich in dem Umfang der getroffenen Regelung die Länder. Folglich wird durch ein Bundesgesetz, einen unterverfassungsrechtlichen Rechtsakt, die verfassungsunmittelbar eingeräumte Kompetenz der Länder verkürzt. 184 Dies ist ein Spezifikum des so genannten Systems der unechten Konkurrenz, das nicht nur zu einem Anwendungsvorrang des Bundesgesetzes im konkreten Einzelfall, sondern zu einem echten Verlust der Landeszuständigkeit führt. 185 Ob die verfassungsunmittelbar gewährte Landeszuständigkeit als ein (subjektives) Recht der Länder qualifiziert werden kann, ist insoweit irrelevant. 186 Das Bestehen einer solchen subjek-

183 Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 28, beschreibt die Herbeiführung der Sperrwirkung auch als Eingriff, allerdings setzt er den Begriff in Anführungszeichen, offenbar um die Distanz zu dem zuvor von ihm angesprochenen Eingriff im Staat-Bürger-Verhältnis zu betonen. im Vgl. Oeter, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 72 Rn. 6 f., 52. Der zum Teil übliche Begriff der Vorranggesetzgebung zur Umschreibung des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung - vgl. etwa Sannwald, in SchmidtBleibtreu / Klein, GG, Art. 72 Rn. 12 - macht zwar deutlich, dass im Ergebnis die Kompetenz des Bundesgesetzgebers, wenn er von ihr Gebrauch macht, Vorrang hat. Der Begriff ist allerdings im vorliegenden Zusammenhang insoweit missverständlich, weil zunächst, das heißt bis zu diesem Gebrauchmachen, die Länder unmittelbar nach Art. 72 Abs. 1 GG zuständig sind.

iss Siehe hierzu Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 1. 186

A. A. Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 53.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

tiven Rechtsposition ist nicht Voraussetzung für den Schutz vor beliebigen Eingriffen. Nunmehr qualifiziert auch das Bundesverfassungsgericht in seinem AltenpflegeUrteil die Bundeskompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten als „Eingriffsbefugnis" und das Gebrauchmachen von dieser Kompetenz durch Erlass eines Bundesgesetzes als „Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder". 187 Es verbleibt insoweit jedoch bei dieser lapidaren Feststellung, das Urteil befasst sich im Folgenden allein mit den Grenzen eines solchen Eingriffs. Eine Auseinandersetzung mit der zuvor allgemein propagierten Verbannung der Kategorie des Eingriffs aus dem Bund-Länder-Verhältnis unterbleibt, obgleich dem Gericht kaum das Spannungsverhältnis zu seinen früheren Aussagen verborgen geblieben sein dürfte.

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke bundesgesetzlicher Regelungen a) Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers In der Literatur wird teilweise der Standpunkt vertreten, mit der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahre 1994 habe sich nichts Wesentliches verändert. 188 Soweit diese Annahme auf der allein verfassungspolitischen Wertung beruht, dass eine solche Revision im Sinne einer wesentlichen Erweiterung der Justitiabilität abzulehnen sei 1 8 9 , verdient sie bei der Eruierung des verfassungs rechtlichen Gehalts der Norm keine weitere Beachtung.190 Gewichtiger sind die Einwände aus der Literatur, es sei dem verfassungsändernden Gesetzgeber letztlich nicht die Umsetzung seines verfassungspolitischen Ziels gelungen, da auch die neugefasste Norm wegen ihrer Unbestimmtheit den Bundesgesetzgeber nicht wirksam zu beschränken wisse. 191 Diese Kritik nimmt zumindest die eindeutige verfassungspolitische Intention des Urhebers der Verfassungsänderung zur Kenntnis. Um eine Konterkarierung der Reform und des dahinter stehenden Willens zu vermeiden, wird sich die Auslegung der Norm von den mit ihrer Neufassung beabsichtigten Zielen leiten lassen müssen.192 Diese sind - wie oben bereits dargestellt - während der Beratungen zur Verfassungsänderung unmissverständlich zum AUSIST BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 188 So etwa Knorr, S. 209 ff.; Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, S. 155 ff.; Degenhart, in Sachs, GG, Art. 72 Rn. 11, 15. 189 So etwa Neumeyer, Geschichte eines Irrläufers, S. 570. 190 Zutreffend Kenntner, Justitiabler Föderalismus, S. 163 f., der Neumeyer eine selektive Wahrnehmung des Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers vorhält. 191 So etwa Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 88 ff.; kritisch auch Knorr, S. 209 ff. ™ Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 24; Jarass, NVwZ 2000, S. 1089 .

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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druck gebracht worden: „Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz sollen konzentriert, verschärft und präzisiert werden mit dem Ziel, die als unzureichend empfundene Justitiabilität durch das Bundesverfassungsgericht zu verbessern." 193 Diese Absicht hat auch ihren Niederschlag im geänderten Verfassungstext gefunden. So ist die Bedürfnisklausel, die für die kritisierte Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung bundesgesetzlicher Kompetenzinanspruchnahme in der Vergangenheit verantwortlich gemacht wurde, entfallen und durch den objektiver gefassten Begriff der Erforderlichkeit ersetzt worden. Auch die in der zweiten Alternative des Art. 72 Abs. 2 GG neu aufgenommene Bedingung, dass die bundesgesetzliche Regelung „im gesamtstaatlichen Interesse" erforderlich sein müsse, bringt die Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers, den Bundesgesetzgeber zu beschränken, deutlich zum Ausdruck. Schließlich ergibt sich aus der mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG geschaffenen Verfahrensart, dass Art. 72 Abs. 2 GG in seiner Neufassung die bis dahin von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dem Bundesgesetzgeber eingeräumten „Ermessensspielräume" zumindest in dieser Weite nicht belassen w i l l . 1 9 4 Dem in dieser Form zum Ausdruck gekommenen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers wird nur eine Auslegung gerecht, die das Erforderlichkeitskriterium ernst nimmt. 195 Versuche, diesem Kriterium hier einen anderen Sinngehalt beizumessen, als ihm gemeinhin nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur zukommt 196 , können nicht überzeugen. 197 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in Kenntnis der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der im kompetentiellen Verhältnis zwischen Bund und Ländern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangte, die193 BR-Drs. 886/93, Anlage S. 16. 194 Schmehl, DÖV 1996, S. 724 ; Siehe auch Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 24, 28, der im Ergebnis nicht von einer „grundstürzenden" Veränderung der Rechtslage ausgeht, sondern nur von einer solchen gradueller Art. 195 Pestalozzi in v. Mangoldt / Klein, GG (3. Auflage), Art. 72 Rn. 344 bezeichnet die Erforderlichkeitsklausel zu Recht als eines der „Herzstücke" der Verfassungsreform von 1994. Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 72 Rn. 4, betont, dass seit 1994 ein „strengerer Maßstab" an die Bundesgesetzgebung zu stellen sei. Vgl. auch Umbach/Clemens, in Umbach/ Clemens, GG, Art. 72 Rn. 24. 196 So aber wohl Degenhart, in Sachs, GG, Art. 72 Rn. 10, der grundsätzlich die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht ablehnt. Ebenso Knorr, S. 155 ff. 197

Nicht schlüssig ist es auch, wenn Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 28 f., einerseits den Begriff der Erforderlichkeit nicht mit dem Inhalt, den er im grundrechtlichen Bereich hat, „übertragen" will, andererseits aber hinsichtlich der Kontrolldichte an die dort entwickelten Maßstäbe anknüpft. Wie sehr die bundesverfassungsgerichtliche Verbannung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Staatsorganisationsrecht vom Schrifttum verinnerlicht worden ist, wird deutlich, wenn etwa Jarass, NVwZ 2000, S. 1089 , gewissermaßen entschuldigend einräumt, dass sich „nicht alle Parallelen" zur Verhältnismäßigkeitsprüfung „vermeiden" ließen; ähnlich Kröger/Moos, BayVBl. 1997, S. 705 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgeflige des Grundgesetzes

sen Begriff gewählt. Er hat damit klar und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass die Teilgrundsätze der Eignung und Erforderlichkeit im Bereich des Art. 72 GG Geltung verlangen. 198 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen klaren Willen des Verfassungsgesetzgebers zur Kenntnis genommen und nicht - wie von einigen erwartet 199 - konterkarriert. Die bundesgesetzliche Regelung muss sich an den Kriterien der Eignung und Erforderlichkeit messen lassen: „Im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes gebührt" - so lautet die zentrale Aussage im Altenpflege-Urteil - „bei gleicher Eignung von Regelungen zur Erfüllung der grundgesetzlichen Zielvorgaben grundsätzlich den Ländern der Vorrang (Art. 30 und 70 GG). Art. 72 Abs. 2 GG trägt dem - mit dem Kriterium der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung Rechnung und verweist den Bund damit auf den geringstmöglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder." 200 Damit knüpft das Bundesverfassungsgericht in gewisser Weise an sein Urteil vom 12. Oktober 1993 zum Maastrichter Vertrag über die Europäische Union an, mögen auch die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den einzelnen Mitgliedstaaten anders geartet sein als die zwischen Gesamt- und Gliedstaaten im bundesstaatlichen Gefüge der Bundesrepublik. Dort hatte es anerkannt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch außerhalb des Staat-Bürger-Verhältnisses als Kompetenzausübungsschranke fungieren kann. Wie bei Art. 72 Abs. 2 GG n. F. konnte das Gericht für seine Auslegung des Art. 3 b EGV a. F. sich auf den Wortlaut der Vorschrift stützen, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausdrücklich nannte. Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Formulierung deutet jedoch darauf hin, dass sich der Vorrang der Länder und damit auch die auf das Erforderliche begrenzte Zuständigkeit des Bundes bereits aus Art. 70 GG ergeben. Die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG trägt diesem Vorrangverhältnis nämlich nur Rechnung, sie begründet den Vorrang nicht. b) Der Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung Bevor hierauf weiter eingegangen werden kann, sind die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Zwecke, die eine bundesgesetzliche Regelung zu rechtfertigen vermögen, in den Blick zu nehmen. Art. 72 Abs. 2 GG nennt als verfassungslegitime Zwecke alternativ die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Im Vergleich zu der früheren Fassung der Norm intendiert die jetzige auch insoweit eine Begrenzung bundesgesetzlicher Regelungstätigkeit, als nicht mehr die eher formal-gleiche 198 Sternen in Dreier, GG, Art. 72 Rn. 16; Schmehl, DÖV 1996, S. 724 . 199 Vgl. Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 88. 200 BVerfG, NJW 2003, S. 41 .

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Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse das Ziel ist. 2 0 1 Dass der Bundesgesetzgeber auch zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und nicht mehr nur bewahrend tätig werden darf, führt hingegen nur dem ersten Anschein nach zu einer Erweiterung der Bundeskompetenzen. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war der Bundesgesetzgeber auch schon nach der alten Fassung nicht auf die Bewahrung des status quo festgelegt. 202 Die Neufassung rezipiert insoweit lediglich die bisherige Interpretation des Bundesverfassungsgerichts. 203 Ebenfalls begrenzende Wirkung soll der Zusatz der zweiten Alternative entfalten, nach dem der Bundesgesetzgeber zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit nur tätig werden darf, wenn dies im gesamtstaatlichen Interesse liegt. 2 0 4 Sind danach zwar in der Verfassungsnorm selbst die Zwecke, die eine bundesgesetzliche Regelung legitimieren können, genannt, so stellt sich dennoch die Frage, ob und inwieweit diese verfassungsunmittelbaren Umschreibungen Orientierung auch für eine verfassungsgerichtliche Kontrolle zu vermitteln vermögen. Insbesondere die Begriffe der Gleichwertigkeit in der ersten, aber auch des gesamtstaatlichen Interesses in der zweiten Alternative sind unbestimmte Rechtsbegriffe, zu deren Ausfüllung Wertungen erforderlich sind. Diese Wertungen können nicht der Vorschrift des Art. 72 GG selbst entnommen werden. 205 Dies gilt für die Kriterien, nach denen sich die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bemisst, 206 ebenso wie für die Frage, was das gesamtstaatliche Interesse ausmacht, wenngleich insoweit zumindest eine negative Ausgrenzung vorgenommen werden kann. 207

201 Vgl. Scholz, ZG 1994, S. 1 ; Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 72 Rn. 53; Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 93. So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 202 Vgl. BVerfGE 13, 230 . 203 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 97. 204 Dass sich dieser Zusatz allein auf die zweite Alternative und nicht zugleich - was grammatikalisch möglich wäre - auf die erste Alternative bezieht, ergibt sich unzweideutig aus der Entstehungsgeschichte der Norm; vgl. Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 104. 205 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 95; Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 25. 206 Sannwald, in Schmidt-B leibtreu / Klein, GG, Art. 72 Rn. 53, betont, dass ein objektivierbarer Maßstab fehle. 207 Oeter, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 72 Rn. 106 f., nennt in Anlehnung an die ökonomische Föderalismustheorie drei Konstellationen, in denen positiv von einem gesamtstaatlichen Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung auszugehen sei: Bei erheblichen Effizienzverlusten, bei unzureichender Zuweisung negativer Extemalitäten an die verantwortlichen Akteure und schließlich bei Gefahr eines „Wettbewerbs nach unten" durch Regulierungskonkurrenz jeweils im Falle einer Regelung auf gliedstaatlicher Ebene. Damit zeigt Oeter sicher die wesentlichen Argumente auf, die für eine bundesgesetzliche Regelung im Interesse des Gesamtstaates angeführt werden können. Die Wertung, unter welchen abstrakten Voraussetzungen eine der drei genannten Konstellationen als erfüllt anzusehen ist, erübrigt sich damit aber ebenso wenig, wie die notwendige Einschätzung der Lage im konkreten Einzelfall.

1 4 2 . Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Die Vereinheitlichung der Rechtslage im Bundesgebiet kann danach für sich genommen jedenfalls nicht genügen, um eine bundesgesetzliche Regelung zu rechtfertigen. 208 Ebenso unzureichend sind insoweit etwa ausschließliche Interessen eines Landes bzw. einzelner Länder 2 0 9 oder aber einzelner gesellschaftlicher Gruppen. 210 Können die notwendigen Wertungen nicht oder zumindest nicht abschließend unmittelbar der Verfassung entnommen werden, haftet der Auslegung und Anwendung der Norm notwendig ein dezisionistisches Element an. 2 1 1 Die Materialien zu dem neu gefassten Art. 72 GG zeigen, dass in der Diskussion dieses Dilemma durchaus gesehen wurde. Der verfassungsändernde Gesetzgeber stand vor der Frage, ob die Länder im Verhältnis zum Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung weitgehend schutzlos bleiben sollen oder der Schutz der Länder dem Bundesverfassungsgericht anvertraut werden soll, auch wenn diesem damit eine erhebliche Entscheidungsbefugnis übertragen wird. Zugespitzt heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung vom 17. März 1994 zum Entwurf des Bundesrates, die Neufassung des Artikels 72 Abs. 2 GG dränge das Bundesverfassungsgericht in eine politische Schiedsrichterrolle, aus der es sich nur im Widerspruch zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG durch richterliche Selbstbeschränkung befreien könnte. 212 Diese Kritik verkennt in ihrer Zuspitzung indes, dass es sich insoweit nicht um eine singuläre Eigenheit des Art. 72 Abs. 2 GG handelt. Vielfach verwendet die Verfassung lapidare Formulierungen, deren Unbestimmtheit ein weites Feld der Auslegung und entsprechend oft auch einen Streit um die „richtige" Auslegung eröffnet. Dies gilt insbesondere im grundrechtlichen Bereich, aber auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts. Dem Bundesverfassungsgericht kommt - so ist es in der Verfassung vorgesehen - die Aufgabe zu, im Streitfall die verbindliche Auslegung vorzunehmen. Die dem Bundesverfassungsgericht mit dieser Aufgabe übertragene Entscheidungsgewalt ist auch deshalb hinnehmbar, weil es insoweit an akzeptablen Alternativen fehlt. Zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf Art. 72 Abs. 2 GG festgestellt, dass die Auslegung der Vorschrift, wenn sie effektiv werden soll, nicht dem Bundesgesetzgeber selbst überlassen bleiben darf: „Ihrer Stellung im System des Grundgesetzes, ihrem Sinn und dem Willen des Verfassungsgebers kann die Norm nur dann gerecht werden, wenn ihre Voraussetzungen nicht subjektiv von demjenigen bestimmt werden dürfen, dessen Kompetenz beschränkt werden soll." 2 1 3 Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser ihm übertragenen Aufgabe nicht entzogen. Im Altenpflege-Urteil hat es die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten mögli208 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 105; Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 72 Rn. 57; siehe jetzt auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 209 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 105; Schmehl, DÖV 1996, S. 724 . 210 So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 211 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 96. 212 BT-Drs. 12/7109, S. 15. 213 BVerfG, NJW 2003, S. 41 .

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chen Ziele einer bundesgesetzlichen Regelung konkretisiert. Danach rechtfertigt das Erfordernis der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse eine Gesetzgebung des Bundes erst, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefiige beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet."214 Zur Wahrung der Rechtseinheit dürfe der Bund nur tätig werden, wenn eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstelle, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden könne. Gerade die Unterschiedlichkeit des Gesetzesrechts oder der Umstand, dass die Länder eine regelungsbedürftige Materie nicht regelten, müssten das gesamtsstaatliche Rechtsgut der Rechtseinheit bedrohen. 215 Die Wahrung der Wirtschaftseinheit liege im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtssetzung gehe. Entsprechend stehe der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit dann im gesamtstaatlichen, das heißt im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten. 216 Sind die unbestimmten Rechtsbegriffe in diesem Sinne konkretisiert, erweist sich die Subsumtion im Einzelfall im Hinblick auf die Feststellung und Bewertung der tatsächlichen Lage und ihrer möglichen Entwicklung als besonders schwierig. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts obliegt es dem Bundesgesetzgeber, das für die Einschätzung erforderliche Tatsachenmaterial sorgfältig zu ermitteln. Erst wenn das Material fundierte Einschätzungen der gegenwärtigen Situation und der künftigen Entwicklung zulasse, dürfe der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen. 217 Das Gericht unterliege bei der Kontrolle insoweit keinen Beschränkungen, als es hierzu der Feststellung gegenwärtiger oder vergangener Tatsachen bedürfe, um die vom Gesetzgeber aufgeführten Umstände auf ihre Richtigkeit oder Vollständigkeit zu überprüfen. Auch soweit der Gesetzgeber Prognosen zu treffen habe, sei er nicht, nur weil künftige Entwicklungen stets - mehr oder weniger - ungewiss seien, frei von gerichtlicher Kontrolle. Denn prognostische Urteile gründeten auf Tatsachenfeststellungen, die ihrerseits einer Prüfung und Bewertung zugänglich seien. Soweit Unsicherheiten der Prognose durch gesicherte empirische Daten und verlässliche Erfahrungssätze ausgeräumt werden könnten, schiede ein Prognosespielraum zugunsten des Bundesgesetzgebers aus. 218

214 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 215 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 216 BVerfG, NJW 2003, S. 41 , 217 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 218 BVerfG, NJW 2003, S. 41 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

c) Eignung und Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung Bedarf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse einer Regelung, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die konkrete bundesgesetzliche Norm geeignet und auch erforderlich ist, um den jeweils verfolgten Zweck zu erreichen. 219 Als geeignet ist danach ein Bundesgesetz schon dann anzusehen, wenn es an das angestrebte Ziel heranführt. 220 Gerade die Feststellung der Eignung erfordert eine Gesetzesfolgenabschätzung, die oftmals mit großen Unsicherheiten belastet ist. 2 2 1 Dem Bundesgesetzgeber ist auch insoweit ein Prognosespielraum zuzubilligen: Entwickele sich - so heißt es im Altenpflege-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - ein Geschehensablauf anders als zuvor angenommen, so realisiere sich darin vielfach nur das prognosetypische, jeder Abschätzung komplexer Entwicklungen innewohnende Risiko. Da Fehlprognosen selbst bei größter Prognosesorgfalt letztlich nicht ausgeschlossen werden könnten, müsse auch dem Gesetzgeber zugestanden werden, dass er dieses Risiko eingehe, ohne eine negative verfassungsrechtliche Bewertung befürchten zu müssen.222 Das Bundesverfassungsgericht kann bei offenen Entwicklungen die Einschätzung des Bundesgesetzgebers nicht ohne weiteres durch seine eigene ersetzen. Stattdessen hat es die Grundlage der Prognoseentscheidung zu prüfen. Dies betrifft zunächst die sorgfältige Ermittlung der der Prognose zugrunde liegenden Sachverhaltsannahmen - freilich lässt das Gericht es insoweit genügen, dass sich die Annahmen im gerichtlichen Verfahren bestätigen lassen. Weiterhin muss sich die Prognose methodisch auf ein angemessenes Prognoseverfahren stützen lassen. Dies muss zudem konsequent verfolgt worden sein. 223 Es spricht viel dafür, die Intensität der Kontrolle auch hier an dem Ausmaß des mit der bundesgesetzlichen Regelung einhergehenden Verlustes an Zuständigkeiten der Länder zu bemessen. Erforderlich ist eine bundesgesetzliche Regelung nur dann, wenn das von Art. 72 Abs. 2 GG vorgegebene Ziel durch gliedstaatliche Normierung nicht zu erreichen ist. 2 2 4 Dabei muss nicht nur überhaupt eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich sein, sondern auch der konkrete Umfang der Regelung. 225 Dies ergibt sich be219

Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 108; Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 72 Rn. 68; Kröger/Moos, BayVBl. 1997, S. 705 . So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 220 Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 72 Rn. 62.

221 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 97. 222 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . Diese Ausführungen beziehen sich zwar unmittelbar auf das Kriterium der Erforderlichkeit, gelten aber in gleicher Weise für die vorrangige Prüfung der Eignung der gesetzlichen Maßnahme. 223 BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 224 Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 72 Rn. 67.

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reits aus dem Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG, nach dem ausdrücklich eine bundesgesetzliche Normierung nur zulässig ist, wenn und soweit sie erforderlich ist. Teilweise wird vertreten, die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung sei zu verneinen, wenn die Länder denselben Erfolg durch eine inhaltlich gleiche Landesgesetzgebung erreichen könnten und hierzu auch bereit seien. 226 Für die Länder wäre dies - so die Argumentation - ein milderes Mittel, als aus der Zuständigkeit verdrängt zu werden. In der Tat behielten die Länder auf diese Weise die Möglichkeit, auf den Inhalt der Regelung Einfluss zu nehmen. Allerdings bestünde zugleich der Zwang, sich auf eine zumindest in den wesentlichen Grundzügen gleiche Regelung zu einigen. Föderaler Vielfalt diente eine solche bundeseinheitliche Regelung durch übereinstimmende Landesgesetze kaum. 227 Dem Sinn der föderalen Verfassungssystematik, den Ländern eigenständige Kompetenzräume für partikulardifferenzierte Regelungen zu eröffnen, würde so nicht entsprochen. 228 Überdies böte die Übereinstimmung der Normtexte nicht die Gewähr dafür, dass diese Normen in der Praxis durch die Gerichte der Länder in gleicher Weise ausgelegt würden. 229 In der Folge könnte die dem Gesetzestext nach bundeseinheitliche Rechtslage wieder zerfallen. Nach alledem scheint mit einer solchen dritten Ebene bundeseinheitlicher Landesgesetze keine ernsthafte Alternative aufgezeigt. 230 Soweit die Prüfung der Erforderlichkeit der bundesgesetzlichen Regelung die Bewertung tatsächlicher Verhältnisse, insbesondere Prognosen über zukünftige Entwicklungen verlangt, hat das Bundesverfassungsgericht im Streitfall die Einschätzungsprärogative des Bundesgesetzgebers in den oben aufgezeigten Grenzen zu beachten.231 Die Intensität der Prüfung bemisst sich wesentlich danach, in wel225 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 399; Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 72 Rn. 69. So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . 22 6 Stettner, in Dreier, GG, Art. 72 Rn. 18. Siehe auch BVerfGE 26, 246 zu Art. 72 GG a. F. 227 Oeter, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 72 Rn. 109; Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, S. 230 . 228

BVerfG, NJW 2003, S. 41 . Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 72 Rn. 72. 2 30 Etwas anderes gilt nach Sannwald, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 72 Rn. 72, wenn den Ländern neben dem inhaltsgleichen Regelungsteil noch Raum für länderspezifische Normierungen bleibt. Soweit die Regelung jedoch bundesweit inhaltsgleich ist, dürfte aus den oben genannten Gründen auch eine bundesgesetzliche Regelung zulässig sein; so auch Jarass, NVwZ 2000, S. 1089 . 229

2 31 Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 110 ff.; Schmehl, DÖV 1996, S. 724 ; Kröger/Moos, BayVBl. 1997, S. 705 ; Sannwald, in Schmidt-B leibtreu/Klein, GG, Art. 72 Rn. 78; Sommermann, Jura 1995, S. 393 . Der Einwand, dass diese Einschätzungsprärogative auch den Ländern zustehen könne, überzeugt nicht. Die Prärogative kommt nämlich dem jeweils handelnden Organ zu. Dies ist hier der Bundesgesetzgeber. Die Länder sind insoweit zwar nicht schutzlos, aber doch in der passiven Rolle. So nun auch BVerfG, NJW 2003, S. 41 . Siehe auch Kenntner, ZRP 1995, S. 367 , der dem Bund die Beweislast für die Vertretbarkeit aufbürdet. Dieses Modell der Beweislast-

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

chem Umfang der Bundesgesetzgeber die Länder aus ihrer Zuständigkeit verdrängt. 232 Schließlich entfällt eine Prüfung, ob die bundesgesetzliche Regelung auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist. 2 3 3 Dem Begriff „erforderlich" in Art. 72 Abs. 2 GG kommt insoweit nicht nur die positive Bedeutung zu, dass die Inanspruchnahme der Bundeskompetenz - wie soeben dargestellt - auf Eignung und Erforderlichkeit hin zu untersuchen ist. Negativ wird damit zugleich die Frage ausgegrenzt, ob der Eingriff in die Landeszuständigkeiten in einem angemessenen Verhältnis steht zu den mit der bundesgesetzlichen Regelung verfolgten Zielen. Art. 72 Abs. 2 GG ist die generelle Wertung zu entnehmen, dass im Interesse der Integrität des Bundesstaates, der nur begrenzt Disparitäten auszuhalten vermag, die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse den damit notwendig verbundenen Zuständigkeitsverlust der Länder rechtfertigt. 234

3. Die Rückholklausel des Art. 72 Abs. 3 GG Absatz 3 des Art. 72 GG ist durch den verfassungsändernden Gesetzgeber im Jahre 1994 geschaffen worden. Er ermächtigt den Bundesgesetzgeber zu einem so genannten Freigabegesetz, wenn die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung im Sinne des Absatzes 2 nachträglich entfällt. Das Bundesgesetz bleibt zwar weiterhin in Kraft, die ursprüngliche Zuständigkeit der Länder zur eigenständigen Regelung lebt aber wieder auf. Machen sie von dieser Zuständigkeit Gebrauch, tritt das Bundesgesetz in dem jeweiligen Land außer Kraft. Aus Gründen der Rechtssicherheit lebt mit Wegfall des Erfordernisses einer bundesgesetzlichen Regelung nicht eo ipso die Zuständigkeit der Länder wieder auf. Insoweit ist der Wortlaut der Norm eindeutig. 235 Ebenso klar kann Art. 72 Abs. 3 GG entnommen werden, dass dem Bundesgesetzgeber bei seiner Entscheidung ein Ermessen verbleibt. Der Bundesgesetzgeber ist also nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Wegfall der früher gegebenen Eingriffsumkehr begegnet allerdings, zumindest soweit der Begriff im verfassungsprozessualen Sinne verstanden werden soll, auch wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes im verfassungsgerichtlichen Verfahren Bedenken. Siehe auch Schmehl, DÖV 1996, S. 724 . 232 Jarass, NVwZ 2000, S. 1089 . 233 Schmehl DÖV 1996, S. 724 ; Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 108. 234 Gegenteiliges ergibt sich - entgegen Callies, in DÖV 1997, S. 889 - insoweit auch nicht aus dem oben zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag zur Europäischen Union (BVerfGE 89, 155). Denn Art. 3 b EGVa. F. bezeichnet ausdrücklich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kompetenzausübungsschranke, während Art. 72 Abs. 2 GG nach seinem Wortlaut die Erforderlichkeit der bundesgesetzlichen Regelung verlangt. 235 Vgl. auch Begründung des Gesetzentwurfes des Bundesrates, BT-Drs. 12/7109, S. 10.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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Voraussetzungen in seiner Entscheidung freier als beim erstmaligen Gebrauchmachen von seiner Kompetenz. Es entspricht aber der länderfreundlicheren Tendenz der Neufassung des Art. 72 Abs. 3 GG, wenn der Bundesgesetzgeber bei seiner Entscheidung auch das Interesse der Länder an einer Rückübertragung ihrer Zuständigkeiten berücksichtigen muss. 236

G. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes bei der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder I. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen unter dem Grundgesetz Ohne jeden Zweifel liegt nach der Ordnung des Grundgesetzes das Schwergewicht der Gesetzgebungskompetenzen beim Bund. Auch der neu gefasste Art. 72 Abs. 2 GG kann - wie zuvor gezeigt - den Zugriff des Bundes auf die Materien der konkurrierenden Gesetzgebung nur begrenzt mäßigen. Inkongruent zu der weitreichenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes verhält sich seine deutlich reduzierte Verwaltungszuständigkeit. 237 Die Verwaltung ist zum weitaus größeren Teil den Ländern überantwortet. Dies gilt für die Verwaltung insgesamt, für die gesetzesfreie ebenso wie für die gesetzesausführende Verwaltungstätigkeit. Die Ausführung der Gesetze liegt damit maßgeblich in der Hand der Länder. Landesgesetze führen grundsätzlich nur die Länder aus; es gibt keinen Vollzug von Landesgesetzen durch den Bund. 238 Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 30 GG. Aber auch Bundesgesetze werden - wie Art. 83 GG klar zum Ausdruck bringt grundsätzlich nicht durch den Bund, sondern durch die Länder ausgeführt. Der Verzicht auf eine parallele Bundesverwaltung, die ausschließlich zum Vollzug von Bundesgesetzen zuständig wäre, hat sich bei der Schaffung des Grundgesetzes auch aus Gründen rationeller Verwaltungsorganisation angeboten.239 Dennoch

236 Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 72 Rn. 33; Oeter, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 72 Rn. 121, leitet eine entsprechende Pflicht des Bundes in evidenten Fällen aus dem Grundsatz der Bundestreue ab. 237 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 16; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 83 Rn. 6; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 83 Rn. 2. Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 83 Rn. 8 bezeichnet die nach Materien und Funktionen differenzierende Zuweisung von Kompetenzen an Zentralstaat und Gliedstaaten als Verzahnungssystem im Gegensatz zu dem nur nach Materien zuordnenden Trennungssystem etwa der amerikanischen Bundesverfassung. 238 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 29; Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 83 Rn. 25; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 83 Rn. 2 f. Von der Frage des Vollzuges ist zu unterscheiden, inwieweit der Bund die Gesetze der Länder bei seiner Verwaltungstätigkeit zu beachten hat. 239 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 17. 10*

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

liegt der grundgesetzlichen Entscheidung für die grundsätzliche Länderzuständigkeit im Bereich der Ausführung von Bundesgesetzen nicht in erster Linie dieser verwaltungsökonomische Gesichtspunkt, sondern vor allem ein anderes Anliegen zugrunde. „Die in Rede stehende Kompetenzaufteilung ist" - wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat - „eine wichtige Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips im Grundgesetz und zugleich ein Element zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Sie verteilt politische Macht und setzt ihrer Ausübung einen verfassungsrechtlichen Rahmen, der diese Machtverteilung aufrechterhalten und ein Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte sowie einen Ausgleich widerstreitender Belange ermöglichen soll." 2 4 0 An einer derartigen Machtbalance zwischen den Gliedstaaten und dem Zentralstaat war insbesondere den alliierten Besatzungsmächten gelegen, die - wie bereits im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG a. F. gezeigt - mit der Stärkung der Länderkompetenzen einem neuen Zentralismus in Deutschland vorzubeugen gedachten.241 Grundlegend für die intendierte vertikale oder bundesstaatliche Gewaltenteilung in diesem Bereich ist die Vorschrift des Art. 83 GG. Sie konkretisiert, soweit es um die Ausführung der Bundesgesetze geht, die Grundsatznorm des Art. 30 GG. Art. 83 GG bestimmt nicht nur, dass die Bundesgesetze grundsätzlich durch die Länder ausgeführt werden. Er normiert zugleich, dass die Länder die Bundesgesetze prinzipiell als eigene Angelegenheit ausführen. Ausnahmen von dieser Regel gibt es nur dann und insoweit, als das Grundgesetz etwas anderes bestimmt oder zulässt. Die Bestimmung der Verbandskompetenz der Länder und der Verwaltungsform bzw. des Vollzugstyps der Landeseigenverwaltung steht damit unter dem Vorbehalt einer abweichenden verfassungsrechtlichen Norm. Dieser Vorbehalt bezieht sich auf beide Regelaussagen des Art. 83 GG. 2 4 2 Statt der Länder kann der Bund selbst, wenn dies verfassungsrechtlich bestimmt oder zugelassen ist, unmittelbar oder mittelbar ein Bundesgesetz ausführen (bundeseigene Verwaltung). Ebenso kann statt des in Art. 84 GG im Einzelnen ausgestalteten Regeltyps der Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit die Verwaltungsform der auftragsweisen Ausführung bestimmt oder zugelassen sein. Unter dem hier interessierenden Aspekt bleibt zunächst festzuhalten, dass durch Art. 83 GG den Ländern verfassungsunmittelbar die Kompetenz zur Ausführung der Bundesgesetze in eigener Verantwortung zugewiesen worden ist; das heißt sie dürfen, vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung, von Verfassungs wegen die Bundesgesetze so ausführen wie Landesrecht. Die Ausführung des Bundesrechts folgt damit grundsätzlich den für das Landesrecht geltenden landesverfassungsrechtlichen und landesgesetzlichen Regeln. 243 240 BVerfGE 55, 274 ; siehe auch Isensee, in FS für Leisner, S. 359 . 241 Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 83 Rn. 5; Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 4 bezeichnet diese Vorgabe der Alliierten als Föderalismusauflage. 242 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 19. 243 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 33.

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II. Grenzen der Länderzuständigkeit 1. Verfassungsunmittelbare

Beschränkungen

Soweit dieser verfassungsunmittelbar beschriebene Zuständigkeitsbereich auf derselben normativen Ebene begrenzt wird, stellt sich nicht die Frage nach der Zulässigkeit eines Eingriffs. Eine solche Regelung greift nicht in einen durch höherrangiges Recht vorgegebenen Bereich ein, sondern ist selbst Teil der verfassungsunmittelbaren Definition dieses Bereichs. In diesem Sinne stellen demnach die grundgesetzlichen Anordnungen einer obligatorischen Bundesverwaltung in Art. 87 Abs. 1 Satz 1, Art. 87 Abs. 2 Satz 1, Art. 87 a, Art. 87 b Abs. 1 Satz 1, Art. 87 d Abs. 1, Art. 87 e Abs. 1 Satz 1, Art. 88 Satz 1, Art. 89 Abs. 2 Satz 1 und Art. 108 Abs. 1 Satz 1 GG keinen Eingriff in eine den Ländern verfassungsrechtlich zugewiesene Zuständigkeit dar. Sie bedürfen entsprechend keiner Rechtfertigung, insbesondere kommt keine Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit in Betracht. Dies wird auch für so genannte ungeschriebene Verwaltungszuständigkeiten des Bundes, soweit man solche anerkennt 244, zu gelten haben. Wenn solche Bundesvollzugskompetenzen aus dem Gedanken des Sachzusammenhangs oder des Annexes mit ausdrücklich geregelten Bundeskompetenzen oder aber kraft Natur der Sache konstatiert werden, 245 so werden diese im Wege der Verfassungsinterpretation „gewonnen". Sie sind ungeschriebener, aber mitzudenkender Teil der Verfassung. Diese ungeschriebenen Kompetenzen haben deshalb aber auch den gleichen Rang inne wie eine geschriebene Verfassungsnorm. Dies darf nicht aus dem Blick geraten, wenn es etwa zu den Bundesvollzugskompetenzen kraft Natur der Sache einschränkend heißt, solche könnten nur dann angenommen werden, wenn der Zweck des jeweiligen Bundesgesetzes durch Handeln der Länder überhaupt nicht erreicht werden könnte. 246 Der Schluss auf den Grundsatz der Erforderlichkeit im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips liegt hier nahe 247 , führt aber in die dogmatisch falsche Richtung. Denn es geht bei der Begründung von derartigen ungeschriebenen Bundesvollzugskompetenzen eben nicht um einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in eine verfassungsunmittelbar abschließend vorgegebene Zuständigkeit der Länder, sondern vielmehr um die logisch vorrangige Abgrenzung der von der Verfassung selbst dem Bund bzw. den Ländern unmittelbar zugewiesenen Zuständigkeiten.

244 Die Existenz derartiger ungeschriebener Verwaltungszuständigkeiten des Bundes wird von der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum bejaht. So etwa: Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 83 Rn. 43 ff.; Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 39 ff.; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 83 Rn. 79 ff.; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 83 Rn. 16 f. Anderer Ansicht ist hingegen Broß, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 83 Rn. 11 f., 25. 2 *5 Vgl. hierzu Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 40 ff. 2 46 Hermes, in Dreier, GG, Art. 83 Rn. 43; Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 83 Rn. 80; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 83 Rn. 16 f. 2 47 Vgl. Stettner, S.401.

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Soweit das Grundgesetz selbst anordnet, dass Bundesgesetze statt in der Regelform der Landeseigenverwaltung in der Form der auftragsweisen Erledigung durch die Länder ausgeführt werden sollen, fehlt auch dieser grundgesetzlichen Regelung der Eingriffscharakter. Die unterverfassungsrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf den Vollzug der Bundesgesetze sind zwar im Falle der Bundesauftragsverwaltung wesentlich umfassender und intensiver als bei einer Ausführung der Gesetze durch die Länder als eigener Angelegenheit. Dies zeigt bereits der Blick auf das Weisungsrecht der zuständigen obersten Bundesbehörde nach Art. 85 Abs. 3 GG. Bei genauer Betrachtung ergibt sich aber, dass allein durch die grundgesetzliche Anordnung der Auftragsverwaltung die Länderzuständigkeit nicht unmittelbar geschmälert wird. Macht der Bund bzw. das jeweils in Art. 85 GG genannte Bundesorgan von den dort eingeräumten Einwirkungsmöglichkeiten keinen Gebrauch, unterscheidet sich der Vollzug durch die Länder in diesem Bereich nicht von einer Ausführung der Gesetze als eigener Angelegenheit. Die Einwirkung erfolgt somit nicht auf der Ebene der Verfassung, sondern durch einen unterverfassungsrechtlichen Akt, der seine Grundlage lediglich in der Verfassung findet. Allein Art. 85 Abs. 2 Satz 3 GG, nach dem die Leiter der Mittelbehörden mit Einvernehmen der Bundesregierung zu bestellen sind, enthält eine Regelung, die verfassungsunmittelbar den Zuständigkeitsbereich der Länder über das Maß der Eigenverwaltung im Sinne von Art. 83 f. GG hinaus begrenzt. Diese Regelung lässt sich jedoch wiederum nicht als Eingriff qualifizieren, weil sie auf derselben normativen Ebene wie Art. 30 und Art. 83 GG angesiedelt ist.

2. Beschränkungen aufgrund der Verfassung Hiervon zu unterscheiden sind die Konstellationen, in denen die Verfassung selbst keine Begrenzung der Länderzuständigkeit vornimmt, sondern eine solche lediglich zulässt. Die Beschränkung der Länderzuständigkeit erfolgt in diesen Fällen durch Akte ohne verfassungsrechtlichen Rang, sei es durch einfache Bundesgesetze, Verwaltungsvorschriften oder Einzelweisungen. Sie schränken eine zunächst verfassungsrechtlich gewährte Zuständigkeit der Länder im Nachhinein ein. Das heißt freilich nicht, derartige Einschränkungen wären generell unzulässig; ja nicht einmal, dass sie aus Sicht der Verfassung unerwünscht wären. Sehr wohl müssen sie sich jedoch wegen ihres niederen Ranges an der Verfassung messen lassen. Die Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke zur Anwendung gelangt, hat hier ihren legitimen Platz. Im Wesentlichen sind drei Grundkonstellationen konkret zu nennen, in denen diese Frage relevant wird. Zum einen ist an die fakultative Bundesverwaltung zu denken. Beispielhaft sei hier Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG angeführt, nach dem durch Bundesgesetz Bundesgrenzschutzbehörden, Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen sowie weitere Zentralstellen für im Einzelnen benannte Zwecke gebildet werden können. Wenn der Bund von der ihm verfas-

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sungsrechtlich eingeräumten Kompetenz zur Begründung einer bundeseigenen Verwaltung keinen Gebrauch macht, bleibt es bei der Grundregel des Art. 83 GG, so dass die Länder für den Vollzug etwaiger Bundesgesetze zuständig sind. 248 Entschließt sich der Bund hingegen zum Aufbau einer bundeseigenen Verwaltung, verlieren die Länder durch ein entsprechendes Bundesgesetz ihre verfassungsunmittelbar gewährte, allerdings mit Vorbehalt versehene Zuständigkeit. Auch die gesetzliche Überführung einer von den Ländern bisher als eigene Angelegenheit wahrzunehmenden Vollzugsaufgabe in eine solche der Bundesauftragsverwaltung ist als nachträgliche Beschränkung der verfassungsunmittelbar weiter gefassten Länderzuständigkeit zu begreifen. 249 Dies gilt zumindest im Hinblick auf die damit unmittelbar verbundene Pflicht der Länder zur Herstellung des Einvernehmens bei Bestellung des jeweiligen Leiters einer Mittelbehörde gemäß Art. 85 Abs. 2 Satz 3 GG. Zugleich werden dem Bund weitergehende Eingriffsmöglichkeiten eingeräumt. Schließlich sind die unterverfassungsrechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes im Rahmen der Vollziehung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene Angelegenheit sowie im Rahmen der auftragsweisen Erledigung durch die Länder zu nennen. Auf diese Einwirkungsmöglichkeiten und deren Grenzen werden sich die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren.

III. Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit 1. Verfassungsunmittelbare Verwaltungskompetenz und Eingriffsvorbehalt nach Art. 84 Abs. 1 GG Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. So lautet Art. 84 Abs. 1 GG, der gemeinsam mit den nachfolgenden Absätzen dieser Vorschrift den Wirkungsbereich von Bund und Ländern bei der Ausführung von Bundesgesetzen in dieser Völlzugsform abschließend voneinander abgrenzt. 250 Dennoch ist nicht wie wohl Lerche meint 2 5 1 - Art. 84 Abs. 1 GG die kompetenzbegründende Norm 248 Hermes, in Dreier, GG, Art. 87 Rn. 32 f. 249 Beispielsweise können nach Art. 87 c GG Gesetze, die auf Grund des Art. 74 Nr. 11 a GG ergehen, bestimmen, dass sie von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt werden. Macht der Bund zwar von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Nr. 11 a GG Gebrauch, nicht aber von der ihm in Art. 87 c GG eingeräumten Möglichkeit, bleibt es bei der Ausführung des Bundesgesetzes durch die Länder gemäß Art. 84 GG.

250 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 15. 251 Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 12, wohl auch Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 1.

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Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

zugunsten der Länder. Richtigerweise ist Grundlage der umfassenden, über die Befugnis zur Einrichtung der Behörden und zur Regelung des Verwaltungsverfahrens hinausgehenden Organisationsgewalt der Länder die Grundsatznorm des Art. 83 GG. 2 5 2 Art. 84 Abs. 1 GG greift insoweit nur die beiden wesentlichen Regelungsbereiche heraus, wiederholt aber nicht nur den Regelungsgehalt des Art. 83 GG, sondern stellt die Kompetenz der Länder zugleich unter den Vorbehalt einer anderweitigen bundesgesetzlichen Regelung. Dabei ist der Sinngehalt dieses Vorbehaltes umstritten. Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung ist Art. 84 Abs. 1 GG für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung der Einrichtung von Behörden und des Verwaltungsverfahrens nicht konstitutiv. Diese - so die Argumentation - ergäben sich wegen des untrennbaren Zusammenhangs von materiellem Recht, Organisations- und Verfahrensrecht vielmehr aus den Vorschriften des VII. Abschnitts des Grundgesetzes. Habe daher Art. 84 Abs. 1 GG insoweit nur deklaratorischen Charakter, so begründe er hingegen konstitutiv die Notwendigkeit der Bundesratszustimmung zu einem derartigen Bundesgesetz.253 Hiervon abweichend wird aber auch vertreten, die Verwaltungskompetenzen stünden selbständig neben den Gesetzgebungskompetenzen, mit der Folge, dass die in Art. 83 ff. GG genannten Gesetzgebungskompetenzen des Bundes zur Regelung der Einrichtung und des Verfahrens konstitutiver Natur seien. 254 Auf diese Kontroverse soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da ihr für die hier allein interessierende Frage, ob die von der Verfassung eingeräumten Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes ihrerseits durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden, keine Relevanz zukommt. Zur Klärung dieser Frage ist logisch vorrangig die Feststellung zu treffen, ob die bundesgesetzliche Regelung der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens als Eingriff in eine verfassungsunmittelbar den Ländern zugewiesene Zuständigkeit anzusehen ist. Ein solcher Eingriff, verstanden als Minderung der den Ländern unmittelbar von der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen, ist offensichtlich zu bejahen. Ihre umfassende Organisationsgewalt ist, wenn der Bundesgesetzgeber regelnd tätig geworden ist, gemindert. Entsprechend ist nicht nur im Schrifttum zur Bezeichnung der Ermächtigung des Bundesgesetzgebers vom „Ingerenzrecht" des Bundes 255 oder von der „Ingerenz-" bzw. „Eingriffsmöglichkeit" 252 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84, Rn. 20; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 3; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 83 Rn. 73 f. 253 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 20 f. Nach Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 22, begründet Art. 84 Abs. 1 GG zudem eine von den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen abweichende Gesetzgebungskompetenz der Länder für die Regelung von Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren, wenn der Bund im Bereich der ihm zugewiesenen ausschließlichen Gesetzgebung zwar materiellrechtliche Vorschriften erlässt, von organisations- und verfahrensrechtlichen Regelungen aber absieht. 254 Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 83 Rn. 36 ff.; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 83 Rn. 2; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 83 Rn. 13; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 5; offengelassen in BVerfGE 26, 338 ; 77, 288 .

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des Bundes 256 sowie zur Umschreibung der Wirkung eines entsprechenden Bundesgesetzes in substantivischer Form vom „Eingriff' 2 5 7 oder in verbaler Form von „eingreifen" 258 die Rede; auch das Bundesverfassungsgericht bejaht einen Eingriff. So heißt es in der bereits oben zitierten Entscheidung vom 10. Dezember 1980: „Um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen, macht Art. 84 Abs. 1 GG das Zustandekommen von Bundesgesetzen, die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalten, von der Zustimmung des Bundesrates abhängig." 259 Dieses Zitat leitet zugleich über zu der sich anschließenden zentralen Frage, ob und inwieweit die Länder gegen ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers geschützt sind, aus der Sicht des Bundesgesetzgebers formuliert, ob seine Befugnis durch verfassungsrechtliche Begrenzungen oder Schranken limitiert ist.

2. Eingriffsschranken a) Das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates Dem Wortlaut des Art. 84 Abs. 1 GG lässt sich keine derartige materielle Schranke entnehmen.260 Wohl bedarf ein Bundesgesetz der Zustimmung des Bundesrates, wenn es organisations- oder verfahrensrechtliche Regelungen zur Ausführung durch die Länder beinhaltet. Über den Bundesrat können die Länder ihre Interessen geltend machen; obgleich Bundesorgan, wird der Bundesrat regelmäßig darauf bedacht sein, die Länder vor nicht zu rechtfertigenden Übergriffen des Bundes zu schützen. So sieht es - wie soeben gezeigt - auch das Bundesverfassungsgericht. Im Anschluss an das obige Zitat heißt es dort weiter: „Dieses Zustimmungserfordernis soll die Grundentscheidung der Verfassung zugunsten des föderalistischen Staatsaufbaus mit absichern und verhindern, daß „Systemverschiebungen" im bundesstaatlichen Gefüge im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführt werden." 261 Auch im wissenschaftlichen Schrifttum wird auf die

255 Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 83 Rn. 84; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 1, 2 und passim. 256 Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 84 Rn. 1 zur allgemeinen Bezeichnung der dem Bund im Bereich der Landeseigenverwaltung eingeräumten Befugnisse; siehe auch Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 5. 257 Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 10; Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 84 Rn. 17 spricht von „Einbrüchen in die Landesorganisationsgewalt". 258 Pieroth, in Jarass / Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 2. 259 BVerfGE 55, 274 (Hervorhebung durch Verfasser). 260 Soweit als Ermächtigungsgrundlagen zugunsten des Bundes die Regelungen des VII. Abschnitts des Grundgesetzes angesehen werden, kommt es auf deren Gehalt an. Insoweit sei hier insbesondere auf die obigen Ausführungen zu Art. 72 Abs. 2 GG verwiesen. 261 BVerfGE 55, 274 unter Hinweis auf BVerfGE 37, 363 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Schutzfunktion des Zustimmungserfordernisses verwiesen. 262 Dass die Zustimmungspflichtigkeit eines in die Organisationsgewalt der Länder eingreifenden Gesetzes eine gewisse Barriere für unangemessene Eingriffe des Bundesgesetzgebers darstellt, soll hier keinesfalls bestritten werden. Fraglich ist allein, ob es mit diesem formellen Schutz sein Bewenden hat oder ob das Grundgesetz daneben auch ungeschriebene materielle Schranken konstituiert. Derartige Schranken sind neben dem Zustimmungserfordernis nicht funktionslos. Schon einige Male ist es der Bundesregierung gelungen, durch „Kopplungsgeschäfte" die notwendige Zustimmung einzelner Länder zu einem Gesetz, das die Regierungsfraktionen im Bundestag beschlossen hatten, zu „erkaufen". Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher „Kopplungsgeschäfte" soll hier nicht erörtert werden. Der Vorgang macht aber deutlich, dass außer den ohnehin bestehenden parteipolitischen Implikationen auch andere sachfremde Erwägungen in die Entscheidung der einzelnen Bundesratsmitglieder einfließen. Ein ausreichender Schutz der Länder ist daher nicht in jedem Fall sichergestellt. Der Einwand, im Falle der Zustimmung des Bundesrates hätten die Länder sich ja selbst ihrer Rechte begeben, verfängt bereits deshalb nicht, weil der Eingriff auch die Länder trifft, deren Vertreter im Bundesrat ihre Zustimmung verweigert haben.

b) Materielle Eingriffsschranken aa) Der Meinungsstand Es bleibt daher die Frage, ob die Länder auch durch materielle Vorkehrungen gegen einen Eingriff in ihre Organisationsgewalt geschützt sind oder der Bundesgesetzgeber nach Belieben von seiner Kompetenz gemäß Art. 84 Abs. 1 GG Gebrauch machen kann. Im Schrifttum überwiegt wohl die Auffassung, der Bundesgesetzgeber unterliege keinen weiteren materiellen Bindungen. 263 Derartige Beschränkungen materieller Art fänden im Wortlaut des Art. 84 Abs. 1 GG keine Grundlage. 264 Insbesondere das Übermaß verbot scheide als Schranke aus, da dieses generell im Rahmen der Kompetenzbeziehungen zwischen Bund und Ländern nicht zur Anwendung gelange.265 Lerche misst dem Bundesgesetzgeber einen so weiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zu, ob und welche bundesgesetzliche Regelung einem wirksamen Vollzug dient, dass die Entscheidung des 262 Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 63, erkennt dem formellen Erfordernis eine große politische Tragweite zu. Siehe auch Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 84 Rn. 3; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 14, der einen weiteren Aspekt des Zustimmungserfordernisses anspricht, wenn er ihm auch eine kompensatorische Funktion zuspricht. Kritisch gegenüber diesem Kompensationsgedanken Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 63. 263 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 40; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 6; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 84 Rn. 6. 264 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 40. 265 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 40; Heitsch, S. 104 f.

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Bundesgesetzgebers „ohne eine gewisse Evidenz des Mißbrauchs (Willkür)" verfassungsgerichtlich kaum erfolgreich angegriffen werden könne. 266 Bettermann sieht es hingegen als den Grundgedanken des Art. 84 Abs. 1 GG an, dass im Bereich der landeseigenen Verwaltung die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens durch die Länder die Regel und die Ordnung durch den Bundesgesetzgeber die Ausnahme bilde. 267 Unklar ist indes, welche Schlussfolgerungen sich aus diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis ergeben sollen. Zwar dürfte es nach dieser Konzeption nicht im Belieben des Bundesgesetzgebers stehen, ob er in die Organisationshoheit der Länder eingreift. Welche konkreten Grenzen dem Bundesgesetzgeber damit gesetzt sind, insbesondere nach welchen Kriterien das Vorliegen einer den Eingriff rechtfertigenden Ausnahmesituation zu bestimmen ist, bleibt offen. Nach der - freilich unter der Geltung des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. vertretenen - Auffassung von Hohrmann darf der Bundesgesetzgeber nur tätig werden, wenn ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung der Organisation und des Verwaltungsverfahrens zu bejahen sei. Dabei sei nicht ein Bedürfnis für die konkret getroffene Regelung, sondern allgemein für eine bundeseinheitliche Regelung zu verlangen. Das Erfordernis eines solchen Bedürfnisses ergebe sich aus dem Umstand, dass Art. 84 Abs. 1 GG eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes begründe, für die Art. 72 GG gelte, so dass auch dessen Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers zu beachten seien. 268 Soweit ersichtlich, wird nur vereinzelt ausdrücklich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke bundesgesetzlicher Regelungstätigkeit im Rahmen des Art. 84 Abs. 1 GG genannt. Kowalsky identifiziert im Bund-Länder-Verhältnis das Gebot der Bundestreue mit dem Rechtsstaatsprinzip. Aus der Bundestreue ergebe sich daher, dass Bund und Länder sich in ihrem Verhältnis zueinander in Übereinstimmung mit den rechtsstaatlichen Geboten zu behandeln hätten. Hierzu zählten die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit. 269 Pieroth postuliert bezogen auf die dem Bundesgesetzgeber in Art. 84 Abs. 1 GG eingeräumte Kom266 Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 16. 267 Bettermann, VVDStRL 17 (1959), S. 118 . Broß, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 84 Rn. 11, ist der Ansicht, dass Art. 84 Abs. 1 GG nur „ausnahmsweise" die an sich den Ländern zustehenden Befugnisse auf den Bund übertrage. Deshalb seien die Begriffe „Einrichtung der Behörden" und „Verwaltungsverfahren" eng auszulegen. Dies vermag schon im Ansatz nicht zu überzeugen. Art. 84 Abs. 1 GG überträgt bereits keine Befugnisse, da die Länder, soweit der Bund von seiner Kompetenz keinen Gebrauch macht, selbstverständlich zuständig bleiben. Im Übrigen ist der Schluss von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis auf eine gebotene restriktive Auslegung der die Regelungsmaterie umschreibenden Begriffe nicht nachvollziehbar. Soweit Broß seine Auffassung auf die in dieser Allgemeinheit ohnehin nicht vertretbare Annahme, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen seien, stützen sollte, wäre allein eine strenge Handhabung der zu benennenden Ausnahmekriterien schlüssig gewesen. 268 Hohrmann, S. 102 f., der allerdings die Wirkung dieses Erfordernisses selbst sehr gering einschätzt, da es nur auf das abstrakte Bedürfnis einer bundeseinheitlichen Regelung ankomme. 269 Kowalsky, S. 245. Bayer, S. 91, nimmt ebenfalls für den Bereich der Bundesaufsicht an, dass sich die Bundestreue mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit decke.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

petenz allgemein, der Bund dürfe nicht übermäßig in die Organisationsgewalt der Länder eingreifen, und hebt sodann im Anschluss unter Berufung auf zwei bundesverfassungsgerichtliche Judikate hervor, dies gelte insbesondere für die „Einschaltung" der Gemeinden in den Vollzug der Bundesgesetze.270 In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, eine Einschaltung der Gemeinden in den Vollzug der Bundesgesetze durch den Bundesgesetzgeber sei nur dann zulässig, wenn es sich um eine punktuelle Annexregelung zu einer zur Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers gehörenden materiellen Regelung handele und wenn diese Annexregelung für den wirksamen Vollzug der materiellen Bestimmungen des Gesetzes notwendig sei. 271 Es wäre allerdings verfehlt, aus diesen Ausführungen abzuleiten, das Bundesverfassungsgericht befürworte - abweichend von seiner sonstigen Rechtsprechung zum Bund-Länder-Verhältnis - generell im Bereich des Art. 84 Abs. 1 GG die Anwendung zumindest des Grundsatzes der Erforderlichkeit. Die in den beiden zitierten Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht angenommene Beschränkung der Freiheit des Bundesgesetzgebers beruht ausschließlich auf der gerichtlichen Annahme, dem Bundesgesetzgeber fehle im Bereich des Kommunalrechts grundsätzlich die Gesetzgebungskompetenz, da das Grundgesetz die Regelung dieser Materie ausschließlich den Ländern belasse.272 bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Eingriffs schranke Nach der hier vertretenen Auffassung kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke bundesgesetzlicher Regelungstätigkeit im Bereich des Art. 84 Abs. 1 GG nicht lediglich wegen einer möglicherweise fehlenden spezifischen Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Anwendung, sondern generell und unabhängig von der jeweiligen Materie, weil ihm die Funktion zukommt, den verfassungsunmittelbar gewährten Zuständigkeitsbereich der Länder, hier ihre Organisationsgewalt, zu schützen.273 Soweit das Verbot unverhältnismäßiger Eingriffe in die Landesorganisationsgewalt als Ausprägung des positiven Gebotes der Bundestreue begriffen wird, ist im Ergebnis hiergegen nichts einzuwenden. Allerdings verdeckt diese Herleitung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht nicht auf das Bund-Länder-Verhältnis beschränkt ist. Er 270 Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 2. Nach Isensee, HStR IV, § 98 Rn. 118, darf die Bundesaufsicht unter den Mitteln, die ihr das Grundgesetz in Art. 84 GG zur Verfügung stellt, jeweils nur das wählen, das die Eigenverantwortung der Länder beim Vollzug der Bundesgesetze am wenigsten beeinträchtigt. Da eine bundesgesetzliche Regelung gemäß Art. 84 Abs. 1 GG keine Maßnahme der Bundesaufsicht ist, ist unklar, ob Isensee, der im Übrigen nur für eine bereichsbegrenzende Anwendung des Übermaßverbotes plädiert, auch bundesgesetzliche Regelungen nach Art. 84 Abs. 1 GG an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit binden will. 271 BVerfGE 77, 288 unter Berufung auf BVerfGE 22, 180 . 272 BVerfGE 22, 180 ; 77, 288 . 273 Vgl. auch Stettner, S. 399.

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wahrt vielmehr - wie im ersten Teil dargestellt - generell in derartigen Eingriffssituationen den Vorrang der Verfassung. Im Übrigen hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Gebot der Bundestreue den Vorzug, konturierter und strukturierter zu sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert vom Bundesgesetzgeber, dass er, wenn die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren nur insoweit regelt, als dies erforderlich ist. Die Erforderlichkeit und - logisch vorrangig - die Geeignetheit eines solchen Bundesgesetzes lässt sich jedoch nur beurteilen, wenn zuvor der legitime Zweck der bundesgesetzgeberischen Regelungstätigkeit bestimmt ist. Hierzu werden in Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Standpunkte eingenommen. Das Bundesverfassungsgericht variiert in seiner Judikatur. Zum Teil rekurriert es auf den bundeseinheitlichen Vollzug der Bundesgesetze. Die Übertragung der verwaltungsmäßigen Ausführung von Bundesgesetzen auf die Länder führe so das Gericht in einem Beschluss aus dem Jahre 1960 - nur dann zu sinnvollen Ergebnissen, wenn trotz getrennten Ländervollzugs eine im wesentlichen einheitliche Verwaltungspraxis gewährleistet sei. 274 In dem bereits oben zitierten Urteil aus dem Jahre 1967 führt das Gericht indes aus, die Ermächtigung des Bundesgesetzgebers zu Eingriffen in die Landesorganisationsgewalt diene dem wirksamen Vollzug. 275 In der Literatur werden vornehmlich beide Aspekte nebeneinander hervorgehoben. Die Ingerenzmöglichkeiten des Bundes bestünden sowohl im Interesse einer Vereinheitlichung der Verwaltungspraxis als auch einer wirksamen Ausführung. 276 Hermes und Pieroth sehen den Zweck der Eingriffsmöglichkeiten hingegen ausschließlich in der Gewährleistung eines wirksamen Vollzuges. 277 Ist letztere Auffassung richtig, sind die Eingriffsmöglichkeiten des Bundes reduziert, da durchaus ein wirksamer Vollzug durch die Länder möglich ist, ohne dass deren Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren einheitlich gestaltet wären. Ist hingegen auch die Vollzugseinheitlichkeit als solche ein legitimes Regelungsziel, wäre die Erforderlichkeit eines Bundesgesetzes nur dann zu verneinen, wenn die Länder von sich aus die Gleichförmigkeit herstellten. Richtigerweise darf der Bundesgesetzgeber nur dann und nur in dem Umfang in die Landesorganisationsgewalt der Länder auf der Grundlage des Art. 84 Abs. 1 GG eingreifen, als dies zur Gewährleistung eines wirksamen Vollzugs geeignet und erforderlich ist. Wie Hermes zutreffend feststellt, geriete jeder Versuch, dem Grundgesetz das Ziel einer möglichst einheitlichen Verwaltungspraxis zu entnehmen, in Widerspruch zu der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die Verwaltungskompetenz der Länder im Sinne einer vertikalen Gewaltentei274 BVerfGE 11,6 . 275 BVerfGE 22, 180 . 276 Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 84 Rn. 1; Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 9 und 16; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 32, anders aber Rn. 2 und 8. 277 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 18; Pieroth, in Jarass /Pieroth, GG, Art. 84 Rn. 1.

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lung. 2 7 8 Dabei ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall ein wirksamer Vollzug nur möglich ist, wenn er auch bundeseinheitlich erfolgt. Das Bundesverfassungsgericht wird allerdings auch hier, sollte es eine bundesgesetzliche Regelung im Sinne von Art. 84 Abs. 1 GG auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu untersuchen haben, die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu respektieren haben. Legt er auf der Grundlage einer sorgfältig ermittelten Tatsachenbasis dar, die Wirksamkeit des Vollzugs sei ohne eine bundesgesetzliche Regelung nicht gewährleistet, so wird das Gericht dies regelmäßig nur darauf zu überprüfen haben, ob diese Einschätzung vertretbar ist. Freilich wird auch hier die Intensität der Kontrolle zunehmen, je intensiver der Bund seinerseits in die Organisationsgewalt der Länder eingegriffen hat. Ausgeschlossen ist hingegen eine bundesverfassungsgerichtliche Überprüfung der bundesgesetzlichen Regelung auf ihre Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Es findet mithin dann, wenn der Eingriff im oben beschriebenen Sinne erforderlich ist, keine Abwägung zwischen dem Interesse der Länder an einer autonomen Regelung von Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren einerseits und der Bedeutung eines wirksamen Gesetzesvollzugs andererseits statt. Insoweit ist dem Grundgesetz zu entnehmen, dass die Landesorganisationsgewalt gegenüber dem Interesse an einem effektiven Vollzug der Bundesgesetze zurückzutreten hat. Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Verwaltung mit der Bindung an Recht und Gesetz auch auf einen wirksamen Vollzug. Die Effektivität der Rechtsordnung wäre bedroht, wenn die wirksame Durchsetzung des Rechts hier zurückstehen müsste.

3. Weitere Ingerenzrechte des Bundes und ihre Schranken Art. 84 GG normiert neben der Ermächtigung des Bundesgesetzgebers in seinem Absatz 1 noch weitere Ingerenzrechte des Bundes im Bereich der Landeseigenverwaltung, die hier nach der vorangegangenen grundsätzlichen Klärung lediglich erwähnt werden sollen. Gemäß Art. 84 Abs. 2 GG kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Diese Befugnis ermöglicht dem Bund eine nachhaltige und intensive Einwirkung auf die Verwaltung der Länder bei der Ausführung von Bundesgesetzen.279 Die Steuerung der Landes Verwaltung durch derartige Verwaltungsvorschriften ist als ein Eingriff in die verfassungsunmittelbar garantierte Landesorganisationsgewalt zu qualifizieren. 280 Auch die Vorschrift des Art. 84 Abs. 2 GG trifft formelle Vorkehrungen zum Schutz der 278 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 18; Art. 83 Rn. 18. 279 BVerfGE 11, 6 ; 26, 338 . 280 Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 84 Rn. 26; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 19.

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Eigenständigkeit der Verwaltung der Länder, und zwar in zweifacher Weise: die allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Bundes bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, und ihr Erlass ist seiner Bedeutung wegen der Bundesregierung als Kollegium vorbehalten; insofern wird das Ressortprinzip modifiziert. 281 Entgegen der in der Literatur wohl mehrheitlich vertretenen Auffassung 282 steht es jedoch nicht im Belieben oder freien Ermessen der Bundesregierung, ob und in welchem Umfang sie von der ihr eingeräumten Kompetenz Gebrauch macht. Auch hier wirkt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in dem Sinne, dass er die Regelungsbefugnis der Bundesregierung auf das für einen wirksamen Vollzug der Bundesgesetze erforderliche Maß beschränkt. Art. 84 Abs. 5 GG ermächtigt zum Erlass eines Bundesgesetzes, das seinerseits der Bundesregierung die Kompetenz zur Erteilung von Einzelweisungen für besondere Fälle einräumt. Die Einzelweisung stellt unstreitig einen besonders intensiven Eingriff in die Organisationsgewalt der Länder dar. 283 Aus diesem Grund wird ein solcher Eingriff von besonderen Kautelen abhängig gemacht. Während Art. 85 Abs. 3 GG im Bereich der Bundesauftrags Verwaltung unmittelbar zum Erlass von Weisungen ermächtigt, ist hier ein Bundesgesetz erforderlich, das zudem noch der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Das Bundesgesetz muss seinerseits die Einzelweisungen auf genau umrissene besondere Einzelfälle beschränken. Ermächtigt werden kann nach dem unmissverständlichen Wortlaut des Art. 84 Abs. 5 GG allein die Bundesregierung als Kollegialorgan; auch das ist im Vergleich zu Art. 85 Abs. 3 GG ein den Eingriff hemmendes Moment. Schließlich sind gemäß Satz 2 des Art. 84 Abs. 5 GG die Weisungen grundsätzlich an die obersten Landesbehörden zu richten. Hierin zeigt sich ebenfalls das Bemühen, die Integrität der Landesorganisationsgewalt möglichst zu schonen.284 Darüber hinaus wird aber wie bei den generell-abstrakten Regelungen des Art. 84 Abs. 1 und 2 GG auch die Einzelweisung nur ergehen dürfen, wenn und soweit sie zum Zwecke eines wirksamen Vollzugs erforderlich ist. Normiert das zum Erlass der Weisung ermächtigende Gesetz selbst diese Schranke nicht ausdrücklich, so ist sie im Wege der verfassungskonformen Auslegung der einfachrechtlichen Norm zu ermitteln. Lässt das Gesetz eine derartige Auslegung nicht zu, ist es seinerseits verfassungswidrig. Art. 84 Abs. 3 und 4 GG regeln die Befugnis der Bundesregierung zur Rechtsaufsicht über die Länder, soweit sie die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen. Da von den dort genannten Aufsichtsinstrumenten, soweit ersichtlich, 281 BVerfGE 26, 338 . 282 Vgl. etwa Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 84 Rn. 26; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 21. 283 Dittmann, in Sachs, GG, Art. 84 Rn. 23; Broß, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 84 Rn. 41. 284 Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 84 Rn. 39. Allerdings unterliegt nach der herrschenden Meinung der Durchgriff auf untere Landesbehörden nur der allgemeinen Missbrauchsgrenze; vgl. Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 84 Rn. 121; Broß, in v. Münch/ Kunig, GG, Art. 84 Rn. 20; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 84 Rn. II; Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 71; Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 84 Rn. 40.

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bislang kein Gebrauch gemacht worden ist 2 8 5 , seien diese hier lediglich abschließend erwähnt.

IV. Die Bundesauftragsverwaltung War die Bundesauftragsverwaltung in den ersten vier Jahrzehnten unter Geltung des Grundgesetzes eher ein „unauffälliger Verwaltungstyp" 286 , der in der Staatspraxis zu politischen oder gar rechtlichen Auseinandersetzungen kaum Anlass gab, so hat sich diese Ausgangslage zwischenzeitlich erheblich geändert. Insbesondere seitdem der politische Konsens zwischen den Parteien über die friedliche Nutzung der Kernenergie zerbrochen ist, ist das Verhältnis zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen geworden. 287 Dabei haben sich die Frontstellungen mit dem Wechsel der Verantwortung im Bund im Jahre 1998 verkehrt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren maßgebliche Politiker der Parteien, die nunmehr im Bund die Regierungsverantwortung tragen, bestrebt, die Länderkompetenzen im Atomrecht für einen Ausstieg aus der Kernenergie zu nutzen. Seit dem Machtwechsel im Bund setzen sie nunmehr die dem Bund eröffneten Möglichkeiten gegenüber den Ländern ein, um dasselbe politische Ziel auf diese Weise zu erreichen. Da diese politischen Differenzen teilweise auch gerichtlich ausgetragen wurden, bot sich für das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit, zu den verfassungsrechtlichen Abgrenzungsfragen grundsätzlich Stellung zu nehmen 2 8 8 Im Mittelpunkt nicht nur der politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen, sondern auch der begleitenden wissenschaftlichen Diskussion stand dabei regelmäßig das dem Bund gemäß Art. 85 Abs. 3 GG eingeräumte Weisungsrecht. Dieses Weisungsrecht wird gemeinhin als das zentrale Strukturelement 289 der Bundesauftragsverwaltung beziehungsweise als deren prägendes Merkmal 290 bezeichnet. Das Weisungsrecht soll daher auch hier im Mittelpunkt der weiteren Erörterungen stehen, wenn untersucht wird, ob und inwieweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Bereich der Bundesauftragsverwaltung zur Anwendung gelangt.

285 Hermes, in Dreier, GG, Art. 84 Rn. 73. 286 Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), S. 31. 287 Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), S. 31 ; Steinberg, AöR 110 (1985), S. 419 ; Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 ; v. Danwitz, DVB1. 1992, S. 1005. 288 Siehe insbesondere BVerfGE 81, 310; 84, 25; 102, 167. 289 Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . 290 Blümel, HStR IV, § 101 Rn. 59; Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 36, Fn. 149.

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7. Der Rechtscharakter der Bundesauftragsverwaltung Hierzu sind zuvörderst Missverständnisse, die durch den Begriff „Bundesauftragsverwaltung" hervorgerufen werden könnten, auszuräumen. Der Begriff wird selbst weder in Art. 85 GG noch in anderen Vorschriften des Grundgesetzes verwendet. Stattdessen heißt es in Art. 85 Abs. 1 GG in verbaler Form: „Führen die Länder die Bundesgesetze im Auftrage des Bundes aus, ...". Danach ist für diese Form des Vollzugs von Bundesgesetzen ebenfalls kennzeichnend, dass die Länder ausführend tätig werden, nicht der Bund durch seine Behörden. Spricht der Wortlaut der Norm mithin auf den ersten Blick dafür, dass es sich um eine besondere Form des Landesvollzugs der Bundesgesetze handelt, so werden gleichwohl im wissenschaftlichen Schrifttum teilweise Begriffe zur Qualifizierung dieser Verwaltungsform verwendet, die diese Einordnung in Frage stellen. Mit Blick auf die im Verhältnis zu Art. 84 GG erweiterten Befugnisse des Bundes, insbesondere auch sein Weisungsrecht nach Art. 85 Abs. 3 GG, ist sogar die Rede von „unmittelbarer Bundesverwaltung" 291 oder „mittelbarer Bundesverwaltung" 292. Das Zusammenwirken von Bund und Ländern betonen Definitionen wie „gemeinschaftliche Verwaltung" 293 und „gemeinsame Verwaltung" 294 . Die Bundesauftragsverwaltung wird schließlich im grundgesetzlichen System der Vollzugsformen eingeordnet als „Mittelding" 295 , „Zwischenform" 296 oder „Brücke" 2 9 7 zwischen dem Vollzug durch die Länder als eigene Angelegenheit (Art. 84 GG) und der bundeseigenen Verwaltung. Für die hier interessierende Frage, ob und inwieweit dem Weisungsrecht des Bundes durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Schranken gesetzt sind, ist die grundsätzliche verfassungsrechtliche Stellung der Länder gegenüber dem Bund im Bereich der Bundesauftragsverwaltung von erheblicher Bedeutung. Wenn die Bundesauftrags Verwaltung als eine besondere Form der Bundesverwaltung oder eine gemeinsame Verwaltung von Bund und Ländern anzusehen wäre, stellte sich die Weisung der zuständigen obersten Bundesbehörde an die jeweilige Landesbehörde gleichsam als eine innerdienstliche Weisung der übergeordneten an die untergeordnete Behörde dar. 298 In diesem Fall wäre kaum zu begründen, dass eine solche Weisung als Eingriff in einen verfassungsunmittelbar gewährten Bereich landeseigener Organisationsgewalt zu qualifizieren wäre und deshalb von Verfas-

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Klein, Verfassungsrechtliche Grenzen der Gemeinschaftsaufgaben, S. 125 . Dehmel, S. 74. 29 3 Steinberg, AöR 110 (1985), S. 419 ; Lerche, in Maunz/Dürig, GG, Art. 85 Rn. 17; Wagner, DVB1. 1987, S. 917 . 294 Schäfer, DÖV 1960, S. 641 . 29 5 Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 8. 29 6 Trute, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 85 Rn. 1. 29 ? Dittmann, in Sachs, GG, Art. 85 Rn. 5. 29 8 Steinberg, AöR 110 (1985), S. 419 . 292

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sungs wegen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu entsprechen hätte. Solche generellen Charakterisierungen der Bundesauftrags Verwaltung im oben beschriebenen Sinne besagen jedoch wenig. 299 Sie sind nicht mehr als ein Versuch, diesen Verwaltungstyp in einer Gesamtschau in das System des Grundgesetzes mit Hilfe eines Schlagworts einzuordnen. Ein normativer Gehalt kommt diesen Einordnungsversuchen jedenfalls nicht zu. Daher wäre es auch vom Ansatz her verfehlt, aus dem so ermittelten „Wesen" der Bundesauftrags Verwaltung irgendwelche Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Bund und Ländern in diesem Bereich zu ziehen. Methodisch korrekt ist es allein, wenn die Untersuchung von der in der Verfassung vorgesehenen Aufteilung der Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen Bund und Ländern ihren Ausgang nimmt. 3 0 0

2. Vergleich zur Regelung des Art. 84 GG Der in Art. 85 GG geregelte Vollzug weicht von der zweiten in Art. 83 GG getroffenen Regelaussage insoweit ab, als die Länder die Bundesgesetze nicht als eigene Angelegenheit, sondern im Auftrag des Bundes vollziehen. Dabei bestimmt nicht Art. 85 GG selbst, wann diese Form des Vollzuges maßgeblich ist, sondern setzt, wie sich aus der konditionalen Fassung seines Absatzes 1 ergibt, eine anderweitige grundgesetzliche Anordnung im Einzelfall voraus. Ist andernorts - wie etwa in Art. 90 Abs. 2 GG für die Verwaltung der Bundesautobahnen und sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs - die Vollzugsform der Bundesauftragsverwaltung bestimmt, so ergibt sich aus Art. 85 Abs. 1 GG, dass auch in diesem Fall die Einrichtung der Behörden grundsätzlich Angelegenheit der Länder bleibt. Trotz des insoweit von Art. 84 Abs. 1 GG abweichenden Wortlauts haben die Länder nach allgemeiner Auffassung - vorbehaltlich einer bundesgesetzlichen Regelung auch das Verwaltungsverfahren zu gestalten.301 Damit erweist sich, dass die Organisationsgewalt der Länder im Bereich der Bundesauftragsverwaltung, soweit es um die Einrichtung der Behörden und die Regelung des Verwaltungsverfahrens geht, verfassungsunmittelbar nicht gegenüber der in Art. 84 GG näher ausgestalteten Regelvollzugsform geschmälert ist. Der Grundsatz der eigenverantwortlichen Wahrnehmung der Aufgaben durch die Länder gilt daher auch hier. 302

299 Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), S. 31 ; Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . 300 Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . 301 Da dies im Ergebnis unstrittig ist, soll hier auf die Kontroverse um die dogmatische Begründung, die sich insbesondere auch auf die weitere Frage der Herleitung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Verwaltungsverfahren bezieht, nicht weiter eingegangen werden; vgl. hierzu nur Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 27 f. 3 02 Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 24 f.; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 85 Rn. 7.

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Die Ermächtigung der Bundesregierung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften in Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG ist wortgleich mit der entsprechenden Kompetenzregel in Art. 84 Abs. 2 GG. Art. 85 Abs. 2 Satz 2 GG geht hingegen über die in Art. 84 GG dem Bund eröffneten Befugnisse hinaus, indem er die Bundesregierung ermächtigt, auch die einheitliche Ausbildung der Beamten und Angestellten zu regeln. Enthält Satz 2 des Art. 85 Abs. 2 GG nur eine Ermächtigung, aufgrund deren die Bundesregierung die verfassungsunmittelbar gegebene Zuständigkeit der Länder auch für diesen Bereich verdrängen kann, so enthält Satz 3 dieser Norm eine verfassungsunmittelbare Verpflichtung der Länder, die keiner weiteren Umsetzung bedarf. Die Länder sind vielmehr kraft Verfassung verpflichtet, das Einvernehmen der Bundesregierung bei Bestellung der Leiter von Mittelbehörden herzustellen. 303 Art. 85 Abs. 3 GG unterstellt die Landesbehörden unmittelbar den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden. Insoweit bedarf es nicht - wie nach Art. 84 Abs. 5 GG - einer gesonderten einfachgesetzlichen Ermächtigung. Auch ist das Weisungsrecht nicht auf „besondere Fälle" beschränkt. Schließlich erstreckt sich die Bundesaufsicht im Rahmen der Bundesauftrags Verwaltung nach Art. 85 Abs. 4 GG auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung, während Art. 84 Abs. 3 GG eine reine Rechtsaufsicht statuiert 304 , die überdies in das recht komplizierte Mängelrüge verfahren des Art. 84 Abs. 4 GG eingebunden ist. Bereits dieser kursorische Überblick zeigt, dass die Rechtsstellung des Bundes im Bereich der Bundesauftragsverwaltung erheblich gestärkt, die Rechtsstellung der Länder im Ergebnis entsprechend gemindert ist. 3 0 5 Die Erweiterung der bundesstaatlichen Befugnisse trägt dem Umstand Rechnung, dass die Regelungsbereiche, die in Form der Bundesauftrags Verwaltung vollzogen werden, eine stärkere Geltendmachung gesamtstaatlicher Interessen erfordern. Dies ist etwa der Fall, wenn es um Infrastruktureinrichtungen von überörtlicher Bedeutung geht, wie zum Beispiel bei Einrichtungen des Luftverkehrs (Art. 87 d Abs. 2 GG), bei Bundeswasserstraßen (Art. 89 Abs. 2 Satz 3 GG) und Bundesfernstraßen (Art. 90 Abs. 2 GG). In diesem Zusammenhang ist auch die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken (Art. 87 c GG) zu nennen. 306 Ein weiterer Grund für die erweiterten Befugnisse des Bundes gerade auf dem Gebiet der Kernenergie und des Strahlenschutzes sind die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland, deren Einhaltung gewährleistet sein muss. 307 303

Diese verfassungsunmittelbare Verpflichtung gilt allerdings nur, soweit Leiter von Mittelbehörden, die ausschließlich mit Aufgaben der Bundesauftrags Verwaltung betraut sind, zu bestellen sind; vgl. Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 35; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 85 Rn. 19; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 85 Rn. 5. 304 Diese bezieht sich allerdings auch auf die Einhaltung der auf der Grundlage des Art. 84 Abs. 2 GG erlassenen Verwaltungsvorschriften, so dass auf diese Weise auch Zweckmäßigkeitserwägungen von Belang sein können. Voraussetzung ist insoweit aber, dass sie zuvor in die Rechtsform einer Verwaltungsvorschrift gegossen sind. 3 05 BVerfGE 81, 310 ; Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 18. 3 06 Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 14. Ii

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Die durch die oben beschriebenen Befugnisse erstarkte Stellung des Bundes darf freilich nicht den Blick auf die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern verstellen. Just dies geschieht, wenn die im Grundgesetz dem Bund eingeräumten Befugnisse so verstanden werden, als wenn sie den den Ländern gewährten Zuständigkeitsbereich von vornherein verkürzten. In diesem Sinne heißt es im Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1990 nach Darstellung der Bundesbefugnisse: „Hieraus folgt, daß die Verwaltungskompetenz des Landes schon nach der ursprünglichen Zuweisung eine eingeschränkte ist." 3 0 8 Träfe dies zu, wäre also der Zuständigkeitsbereich des Landes von vornherein verfassungsunmittelbar begrenzt, schiede ebenfalls von vornherein aus, die Weisung als einen Eingriff in die Landesorganisationsgewalt zu qualifizieren, der seinerseits an der Verfassung zu messen wäre. Die weiteren Ausführungen in der Kalkar-Entscheidung lassen allerdings erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst diese Konsequenz nicht zieht. Nach seiner Ansicht liegt nämlich auch die Sachkompetenz zunächst beim Land. Der Bund kann sie lediglich nach eigener Entscheidung an sich ziehen, indem er das ihm zuerkannte Weisungsrecht in Anspruch nimmt. 3 0 9 Demnach bleibt zunächst festzuhalten, dass die Länder auch die Bundesgesetze, die sie im Auftrage des Bundes vollziehen, kraft Verfassung in eigener Verantwortung ausführen. Auch die Bundesauftrags Verwaltung ist Landesverwaltung. 310 Die Länder richten die notwendigen Behörden ein, sie regeln das Verwaltungsverfahren. Wenn der Bund in diesem Bereich nicht tätig wird, unterscheidet sich die Art und Weise der eigenständigen Vollziehung grundsätzlich 311 nicht von der in Art. 84 GG geregelten Vollzugsform. 312

3. Die Weisung als Eingriff Während das Handeln und die Verantwortlichkeit nach außen stets Landesangelegenheit bleiben, die Wahrnehmungskompetenz dem Land mithin unentziehbar zusteht, kann der Bund durch Ausübung seines Weisungsrechts die Sachentschei307 Wagner, DVB1. 1987, S. 917 ; Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), S. 31 ; Steinberg, Bundesaufsicht, S. 9. 308 BVerfGE 81, 310 ; siehe auch BVerfGE 84, 25 . 309 BVerfGE 81, 310 . 310 BVerfGE 81, 310 ; Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 17; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 85 Rn. 4, 7; Lerche, BayVBl. 1987, S. 321; Müller /Mayer /Wagner, VerwArch. 93 (2002), S. 585 . 311 Verfassungsunmittelbar wirkt insoweit, worauf oben bereits hingewiesen worden ist, nur Art. 85 Abs. 2 Satz 3 GG. Im Übrigen müssen die Länder, wenn sie die Erledigung der Vollzugsaufgaben auf selbständige juristische Personen übertragen (mittelbare Staatsverwaltung), die Möglichkeit zur Durchsetzung bundesstaatlicher Weisungen garantieren; vgl. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 532; Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 25. 312 Steinberg, Bundesaufsicht, S. 18; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 85 Rn. 1, 4.

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dung prägen. Er kann die verfassungsunmittelbar auch dem Land zustehende Sachkompetenz an sich ziehen, indem er von seinem Weisungsrecht Gebrauch macht. 313 Nach Art. 85 Abs. 3 GG kann sich die Weisung auf jede Gesetzesmaterie beziehen, die vom Land in Auftragsangelegenheiten auszuführen ist. Die Weisungskompetenz erfasst die gesamte Vollzugstätigkeit des Landes. Gegenstand der Weisung kann demnach sowohl eine nach außen hin zu treffende verfahrensabschließende Entscheidung sein wie auch das ihrer Vorbereitung dienende Verwaltungshandeln. Inhalt einer Weisung kann ebenso die Festlegung auf eine bestimmte Gesetzesauslegung sein. 314 Zieht die zuständige oberste Bundesbehörde in diesem Sinne die Sachkompetenz an sich, entzieht sie diese zugleich dem Land, dem sie „zunächst" 315 , das heißt unmittelbar nach der Verfassung, zustand. Damit greift die Bundesbehörde in die Rechtsstellung des Landes ein. Die Weisung ist daher als Eingriff in einen verfassungsunmittelbar definierten Bereich zu qualifizieren. 316 Dies wird allerdings teilweise in der Literatur verneint. So führt Ossenbühl aus: Mit der Weisung mache der Bund von seiner, verfassungsrechtlich ihm zugeordneten administrativen (Reserve-)Kompetenz Gebrauch. Es sei deshalb unzutreffend, die Erteilung einer solchen Weisung an ein Land als einen Eingriff in den Hoheitsbereich des Landes zu weiten. Soweit sich der Bund mit seiner Weisung innerhalb der verfassungsrechtlich ihm zugeordneten administrativen Sachkompetenz halte, komme er mit etwa konkurrierenden administrativen Völlzugskompetenzen der Länder nicht in Kollision. Demzufolge könne auch prinzipiell nicht von einem Eingriff in hoheitliche Verwaltungskompetenzen der Länder die Rede sein. 317 Ebenfalls in diesem Sinne hat Steinberg ausgeführt, der Bund greife bei Erteilung einer Weisung „scheinbar" in den Rechtsbereich eines anderen Hoheitsträgers ein. Jedoch beruhe dieses Ingerenzrecht auf einer kraft Verfassung dem Bund gegenüber den Landesbehörden eingeräumten Leitungsgewalt, die insoweit eine Überordnung des Bundes über die Landesverwaltung bewirke. 318 Blümel argumentiert ähnlich, wenn er aus dem Umstand, dass die Landesbehörden uneingeschränkt den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden unterstünden, ableitet, dass nicht in den Hoheitsbereich des jeweiligen Landes eingegriffen werde. 319

313 BVerfGE 81, 310 . 314 BVerfGE 81, 310 . 315 BVerfGE 81, 310 . 316 Pauly, S. 223 ff; Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 ; Dieners, DÖV 1991, S. 923 ; Trute, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 85 Rn. 5. 31V Ossenbühl, Der Staat 28 (1989), S. 31 . 318 Steinberg, AöR 110 (1985), S. 419 . Derselbe lässt allerdings später keinen Zweifel an dem Eingriffscharakter der Weisung; vgl. Steinberg, Bundesaufsicht, S. 6, 11. 319 Blümel, HStR IV, § 101 Rn. 64.

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Diese Ausführungen vermögen jedoch nicht zu überzeugen, da sie auf einer Verquickung zweier grundsätzlich voneinander zu trennender Fragen beruhen. Es wird nicht differenziert zwischen der Frage nach der Qualifizierung eines Rechtsaktes und der nach seiner rechtlichen Zulässigkeit. Ossenbühl und Steinberg folgern aus der sich aus Art. 85 Abs. 3 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Weisung auf ihren fehlenden Eingriffscharakter. Dass dieser Schluss fehlsam ist, ist nicht zuletzt aus der Grundrechtslehre bekannt: Auch dort ist zunächst festzustellen, ob in den Schutzbereich eines Grundrechts eingegriffen worden ist, bevor die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs geprüft werden kann. Diese Prüfung kann ergeben, dass der Eingriff zulässig ist; sie kann aber auch zu dem Ergebnis führen, dass der Eingriff unzulässig ist und damit eine Verletzung des Grundrechts bedeutet. In diesem Zusammenhang würde wohl kaum unter Hinweis auf die festgestellte Zulässigkeit der Maßnahme deren Eingriffscharakter bestritten. Gegen den angestellten Vergleich mit der Situation bei Grundrechtseingriffen kann nicht eingewandt werden, Grundrechte seien etwas ganz anderes als Zuständigkeiten der Länder. Dies ist sicher in vielerlei Hinsicht richtig; die hier allein interessierende Frage ist jedoch eine der Rechtslogik, die sich im Staatsorganisationsrecht in der gleichen Weise stellt wie im grundrechtlichen Bereich. Gegen die Argumentation von Blümel ist zudem zu erinnern, dass er selbst das Weisungsrecht als durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt ansieht. 320 Dies setzt rechtslogisch die Charakterisierung der Weisung als Eingriff voraus.

4. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze des Weisungsrechts a) Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht schließt es bislang kategorisch aus, aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Schranken für die oberste Bundesbehörde bei Erteilung von Weisungen herzuleiten: Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Schranken für Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen seien so das Bundesverfassungsgericht in der bereits eingangs der Abhandlung zitierten Passage der Kalkar-Entscheidung - im kompetenzrechtlichen Bund-Länder-Verhältnis nicht anwendbar. Dies gelte insbesondere für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; ihm komme eine die individuelle Rechts- und Freiheitssphäre verteidigende Funktion zu. Das damit verbundene Denken in den Kategorien von Freiraum und Eingriff könne weder speziell auf die von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Bund und Land bestimmte Sachkompetenz des Landes noch allgemein auf Kompetenzabgrenzungen übertragen werden. 321

320 Blümel, HStR IV, § 101 Rn. 65. 321 BVerfGE 81, 310 .

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Freilich ist auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das Weisungsrecht des Bundes nicht unbegrenzt. So müsse die angewiesene Behörde erkennen können, dass ihr gegenüber eine Weisung erteilt worden sei und welche Vorgaben für welches Verwaltungshandeln diese Weisung enthalte. 322 Neben diesem formalen Gebot der Weisungsklarheit unterliege der Bund bei Ausübung seiner Weisungskompetenz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Diese Pflicht verlange vom Bund wie auch von den Ländern, bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen. 323 Der Bund verstoße gegen die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten nicht schon dann, wenn er von einer ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz Gebrauch mache; vielmehr müsse die Inanspruchnahme der Kompetenz missbräuchlich sein. 324 Konkret gebiete die Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme, dass der Bund grundsätzlich, soweit kein Eilfall vorliege, vor Weisungserlass dem Land Gelegenheit zur Stellungnahme gebe und dessen Standpunkt erwäge. Aus dem Rücksichtnahmegebot ergebe sich aber nicht, dass der Bund sich um ein Einverständnis mit dem Land bemühen müsse, bevor er zum Mittel der Weisung greife. 325 Der gebotenen Rücksichtnahme entsprechend habe der Bund dem Land gegenüber im Streitfall grundsätzlich zu erkennen zu geben, ob er den Erlass einer Weisung erwäge, um damit dem Land die Bedeutung des Konflikts vor Augen zu führen. 326 Hingegen gebe es keine Pflicht des Bundes zur Rücksichtnahme auf das Landesinteresse, die Sachentscheidung selbst zu treffen. Insbesondere könne für das Bestehen einer solchen Pflicht nicht angefühlt werden, dass anderenfalls die der Kompetenzverteilung im Bereich der Auftragsverwaltung zugrundeliegende Machtbalance gefährdet sei. Denn die Weisungsbefugnis gefährde nicht die der Auftragsverwaltung zugrundeliegende Machtbalance, sie sei vielmehr deren Bestandteil.327 In zwei späteren Senatsentscheidungen zum Schacht Konrad 328 und zur Abstufung einer Bundesfernstraße 329 hat das Gericht auf die soeben wiedergegebenen Ausführungen lediglich Bezug genommen.330 Es hat in der zuletzt genannten Entscheidung ergänzend auf die äußeren Grenzen des Weisungsrechts hingewiesen, die sich aus der gegenständlichen Reichweite der Auftragsverwaltung als solcher ergeben. 331

322 BVerfGE 81, 310. 323 BVerfGE 81, 310 mit Hinweis auf BVerfGE 32, 199 ; 43, 291 . 324 BVerfGE 81, 310 unter Bezugnahme auf BVerfGE 14, 197 ; 61, 149 . 325 BVerfGE 81, 310 . 326 BVerfGE 81, 310 . 327 BVerfGE 81, 310 . 328 BVerfGE 84, 25. 329 BVerfGE 102, 167. 330 BVerfGE 84, 25 ; 102, 167 . 331 BVerfGE 102, 167 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

b) Der Meinungsstand im Schrifttum Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, die Weisungsbefugnis des Bundes werde, soweit sie jene äußeren gegenständlichen Grenzen beachte, allein durch das sich aus dem Grundsatz der Bundestreue ergebende Rücksichtnahmegebot eingeschränkt und dieses enthalte insoweit im Wesentlichen allein Vorgaben für das Procedere und den Stil des Umgangs, schütze materiell jedoch nur vor missbräuchlichem Gebrauchmachen des Weisungsrechts, hat viel Zustimmung erfahren. 332 Allerdings ist auffällig, dass nicht einmal ansatzweise der Versuch für eine Begründung dieses kategorischen Ausschlusses des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemacht wird. 3 3 3 Im Grunde verbleibt es auch in der Literatur, die sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angeschlossen hat, bei einer schlichten Behauptung. Jedoch gibt es auch Stimmen, die dem kategorischen Ausschluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Verhältnis zwischen Weisung erteilender Bundesbehörde und Landesbehörden widersprechen. Einige Autoren sehen die Weisungsbefugnis sowohl durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch durch das sich aus der Bundestreue ergebende Rücksichtnahmegebot begrenzt, ohne insoweit zwischen den sich jeweils ergebenden Rechtsfolgen zu differenzieren. 334 Andere sind zwar ebenfalls der Auffassung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durchaus als Kompetenzausübungsschranke im Bund-Länder-Verhältnis und insbesondere bei Erteilung einer Weisung in Betracht komme. Er erlange indes neben dem spezielleren Missbrauchstatbestand der Bundestreue im Regelfall keine eigenständige Bedeutung mehr. 335

c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke Ob tatsächlich von einem derartigen Spezialitätsverhältnis ausgegangen werden kann, ist an späterer Stelle zu erörtern. Zuvor ist zu klären, ob der Grundsatz der 332 Ossenbühl, in FS für Lerche, S. 151 ; Heitsch, S. 277 ff.; Broß, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 85 Rn. 18; Hermes, in Dreier, GG, Art. 85 Rn. 48 ff.; Trute, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 85 Rn. 31; Dittmann, in Sachs, GG, Art. 85 Rn. 22; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 85 Rn. 7; Müller/Mayer/Wagner, VerwArch. 93 (2002), S. 585 ; siehe aus der früheren Literatur: Steinberg, AöR 110 (1985), S. 419 ; Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . V Danwitz, DVB1. 1992, S. 1005 überträgt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Weisung auf die Ingerenzrechte des Bundes nach Art. 85 Abs. 4 GG. 333 Der bloße Hinweis auf den ausschließlich objektiv-rechtlichen Charakter der Organisationsnormen des Grundgesetzes - so etwa bei Müller/Mayer/Wagner, VerwArch. 93 (2002), S. 585 - ist nicht tragfähig; siehe Erster Teil, 3. Kapitel II. 334 Wagner, DVB1. 1987, S. 917 ; Blümel, HStR IV, § 101 Rn. 65; Gornig, JZ 1992, S. 308 ; siehe auch Sommermann, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 20 Rn. 39. 335 Tschentscher, S. 177; Lange, S. 83 ff., insbesondere S. 89; wohl auch Steinberg, Bundesaufsicht, S. 36.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Verhältnismäßigkeit als Schranke im Rahmen des Art. 85 Abs. 3 GG an sich in Betracht kommt. Dies ist zu bejahen. Ihm kann auch hier die Funktion zukommen, die verfassungsrechtliche Grundentscheidung, die Sachkompetenz bei der Erledigung von Auftragsangelegenheiten zunächst, das heißt verfassungsunmittelbar den Ländern zuzuweisen, vor beliebigen Eingriffen des Bundes zu schützen. Der Eingriffscharakter einer solchen Weisung war oben gezeigt worden. Ein solcher Eingriff ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein unzulässig oder unerwünscht. Das Grundgesetz eröffnet gerade dem Bund die Möglichkeit, im Einzelfall die von ihm getroffene Sachentscheidung im Bereich der Auftragsangelegenheiten durchzusetzen. Der Bund soll von seinem Weisungsrecht - darin besteht der Sinn des kompetenzbegrenzenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - lediglich nicht beliebig, sondern immer nur im Sinne der Verfassung, hier insbesondere unter Beachtung der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung, Gebrauch machen. Konkret bedeutet dies, dass er nur solche Weisungen erlassen darf, die geeignet sind, eine von ihm im Bereich der Auftragsangelegenheiten getroffene Sachentscheidung durchzusetzen. Die Eignung fehlt einer Weisung, die in Wirklichkeit andere Ziele verfolgt. Ungeeignet ist sie auch, wenn die Sachentscheidung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht mehr umgesetzt werden kann. Allerdings ist unter rechtlicher Unmöglichkeit der Umsetzung nicht die lediglich inhaltliche Rechtswidrigkeit des vom Bund angewiesenen Verwaltungshandelns zu verstehen. Die Weisung wird nämlich dadurch, dass sie insoweit ein nach außen rechtswidriges Handeln des Landes verlangt, nicht ungeeignet, die Entscheidung des Bundes durchzusetzen. Das Land kann sich insoweit nicht auf seine Landesorganisationsgewalt berufen, da das Grundgesetz den Bund ausdrücklich ermächtigt hat, im Einzelfall die Sachentscheidung an sich zu ziehen. 336 Ungeeignet ist allerdings auch eine solche Weisung, die der angewiesenen Landesbehörde nicht klar zu erkennen gibt, welches weitere Vorgehen von ihr verlangt wird. Dies entspricht dem Gebot der Weisungsklarheit, das das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz der Bundestreue abgeleitet hat. Erforderlich ist eine Weisung dann nicht, wenn etwa die Landesbehörde bereits von sich aus im Sinne des Bundes tätig werden wollte, es mithin der Weisung gar nicht bedurfte. Auch wenn es ein milderes Mittel gibt, um die vom Bund getroffene Sachentscheidung durchzusetzen, entspricht die Weisung nicht dem Erforderlichkeitsgrundsatz. Insoweit wird zu erwarten sein, dass die oberste Bundesbehörde zumindest im Regelfall der jeweiligen Landesbehörde die eigene Rechtsauffassung oder tatsächliche Einschätzung der Sachlage mitteilt. Die Bundesbehörde wird auch deutlich machen müssen, dass sie gewillt ist, ihre Sachentscheidung notfalls im Wege der Weisung durchzusetzen. Schließlich darf die Weisung nicht weiter gehen und nicht umfassender sein, als dies zur Durchsetzung der Sachent336 Dies wird zum Teil bestritten. So sind etwa Pauly, S. 222 ff. und Dieners, DÖV 1991, S. 923 der Ansicht, dass die Länder zwar rechtswidrige Weisungen, weil diese verbindlich seien, vollziehen müssten. Sie könnten diese inhaltlich rechtswidrigen Weisungen jedoch anfechten.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Scheidung notwendig ist. Verbleibende Freiräume zur länderbestimmten Ausgestaltung des Vollzugs müssen, wenn sie die Durchsetzung der Sachentscheidung nicht in Frage stellen, erhalten bleiben. Mit anderen Worten: Der Bund hat sich bei der Erteilung von Weisungen so weit zurückzuhalten, dass er den Ländern den Handlungsspielraum belässt, der mit dem Ziel der Weisungserteilung noch vereinbar ist. 3 3 7 Fraglich ist, ob der Ausübung der Weisungskompetenz auch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schranken gesetzt werden. Nach Lange ist eine Weisung mit diesem Grundsatz unvereinbar, wenn sie das Land, an das sie gerichtet ist, in einer Weise belastet, die außer Verhältnis zu dem Gewicht der die Weisung tragenden Gründe steht. Es könne - so Lange - Fälle geben, in denen Gegenstand und Maßstab einer Weisung Landesbelange viel stärker beträfen als die Materie, um deretwillen überhaupt eine Bundesauftragsverwaltung und das damit verbundene Weisungsrecht vorgesehen seien. Art. 85 GG lasse erkennen, dass den Ländern gerade dort eine Freiheit von Weisungen gewährleistet sein solle, wo es um die Modalitäten der administrativen Aufgabenwahrnehmung im Einzelnen gehe. Im Rahmen der Angemessenheit von Weisungen müsse auf die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Verwaltungsverfahrens besonders Bedacht genommen werden. An die Angemessenheit von Weisungen, die in das Verwaltungsverfahren der Länder eingriffen, seien danach besonders strenge Maßstäbe anzulegen.338 Richtigerweise wird jedoch zu differenzieren sein: Soweit es ausschließlich um die verfassungsunmittelbar gewährte Sachzuständigkeit des Landes geht, ist Art. 85 Abs. 3 GG zu entnehmen, dass der Bund seine Sachauffassung im Konfliktfall im Wege der Weisung durchsetzen können soll. Eine Abwägung zwischen der zunächst bestehenden Sachzuständigkeit des Landes im Bereich der Auftragsangelegenheiten einerseits und dem Gewicht des vom Bund mit der Weisung verfolgten Ziels andererseits findet danach nicht statt. Der Bund muss insoweit nicht hinnehmen, dass das Verwaltungsverfahren in einer von ihm nicht zu billigenden Art und Weise gestaltet oder in der Sache eine ihm unerwünschte Entscheidung getroffen wird, nur um die verfassungsunmittelbar gewährte Landeszuständigkeit zu wahren. Wohl aber wird die Bundesbehörde zu berücksichtigen haben, ob die Eigenständigkeit und die Kräfte des Landes im Übrigen nicht durch die Weisung unverhältnismäßig getroffen werden. Dies ist etwa denkbar, wenn die Erfüllung der Weisung den Einsatz von landeseigenen Verwaltungskräften erfordert, die in Folge für die Erledigung anderer wichtigerer Landesaufgaben nicht zur Verfügung stünden. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass insoweit Schutzgut nicht der verfassungsunmittelbar gewährte Zuständigkeitsbereich des Landes im Rahmen der Auftragsverwaltung ist. Die Weisung ist in diesem Fall unzulässig, nicht weil sie die Entscheidungsfreiheit des Landes bei Erfüllung der Auftragsangelegenheiten ein337 Lange, S. 85. 338 Lange, S. 87.

.Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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schränkt, sondern weil sie dem Land die Erfüllung anderer Aufgaben unverhältnismäßig erschwert. Die Bundesbehörde wird auch im Auge zu behalten haben, ob durch die angewiesene Vorgehensweise oder Entscheidung sonstige Interessen des jeweiligen Landes gewahrt bleiben. So wird etwa bei Maßnahmen mit Auswirkungen auf die Infrastruktur eines Landes dessen Raumplanung angemessen zu berücksichtigen sein. Erkennbar geht es aber auch hier nicht um den Schutz der dem Land von Verfassungs wegen unmittelbar eingeräumten Sachzuständigkeit im Bereich der Auftragsangelegenheiten vor Eingriffen des Bundes.

d) Bundestreue und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Abschließend ist auf die oben aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Grundsatz der Bundestreue und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückzukommen. Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass einige Autoren, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im föderalen Bereich nicht kategorisch für unanwendbar erachten, ihn doch durch den Grundsatz der Bundestreue aus Gründen der Spezialität verdrängt sehen.339 Ein derartiges Spezialitätsverhältnis könnte insoweit angenommen werden, als der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen allgemeineren, über das Bund-Länder-Verhältnis hinausreichenden Anwendungsbereich hat. In seiner spezifischen Funktion als Kompetenzausübungsschranke bei Eingriffskonstellationen ist er jedoch spezieller als das allgemeine aus dem Grundsatz der Bundestreue folgende Rücksichtnahmegebot. Dieses Rücksichtnahmegebot, das ohne Zweifel im Verhältnis zwischen Gesamt- und Gliedstaaten zu beachten ist, gibt keine konkreten Maßstäbe her, an denen das jeweilige Verhalten der Verpflichteten gemessen werden könnte. Aufgrund dieses Umstandes ist es ein flexibles Gebot, dessen Folgerungen im Einzelnen schwer vorhersehbar sind und im Zweifel jeweils durch die Rechtsprechung erstmalig bestimmt werden. Zutreffend wird entsprechend konstatiert, dass sich der Bundestreuepflicht unter materiellen Gesichtspunkten kaum konkrete Aussagen entnehmen lassen.340 Wenn diese Feststellung jedoch verbunden wird mit der Aufforderung an Rechtsprechung und Rechtslehre, „soweit wie möglich operationable Handlungs- und Kontrollmaßstäbe für die Arbeit mit dem Grundsatz der Bundestreue zu entwickeln" 341 , ist dem entgegenzuhalten, dass mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im oben beschriebenen Sinne bereits die gesuchten Maßstäbe zur Verfügung stehen.342 Im Ergebnis wird also keineswegs von einer Verdrängung des Verhältnismäßigkeits339 Tschentscher, S. 177; Lange, S. 83 ff., insbesondere S. 89; wohl auch Steinberg, Bundesaufsicht, S. 36. 3 40 Tschentscher, S. 246 ff.; Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . 3

*i Schulte, VerwArch. 81 (1990), S. 415 . Nach Sommermann, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 307, nimmt auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Kalkar-Entscheidung strukturell eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. Dies entspricht den eigenen obigen Feststellungen. 342

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Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

grundsatzes ausgegangen werden können. Vielmehr gibt dieser Grundsatz gerade die Maßstäbe, die der Bund bei Eingriffen in den von der Verfassung unmittelbar zugewiesenen Zuständigkeitsbereich eines Landes zu beachten hat, auch um die vom Grundgesetz geforderte Rücksichtnahme zu wahren.

H. Der horizontale Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 GG I. Der horizontale Finanzausgleich im Steuerverteilungssystem des Grundgesetzes Art. 107 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz GG gebietet, durch ein Gesetz sicherzustellen, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird. Dieser dem Bundesgesetzgeber aufgegebene Länderfinanzausgleich bildet innerhalb des Steuerverteilungssystems des Grundgesetzes die dritte Stufe. In Art. 106 regelt das Grundgesetz zunächst die vertikale Steuerertragsaufteilung, die das Verhältnis des Bundes zur Ländergesamtheit betrifft. Es weist die Erträge bestimmter Steuern entweder dem Bund (Art. 106 Abs. 1 GG) oder den Ländern (Art. 106 Abs. 2 GG) zu. 3 4 3 An diese Aufteilung der Steuererträge zwischen Bund und Ländergesamtheit schließt die horizontale Steuerertragsaufteilung des Art. 107 Abs. 1 GG an. Diese Vorschrift bestimmt, wie der Anteil der Ländergesamtheit auf die einzelnen Länder verteilt wird. Maßgebliches Kriterium ist dabei grundsätzlich die örtliche Vereinnahmung 344, der Länderanteil an der Umsatzsteuer bemisst sich jedoch nach deren Einwohnerzahl (Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG). Im Rahmen dieser zweiten Stufe der Steuerertragsverteilung eröffnet das Grundgesetz schließlich in Art. 107 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz die Möglichkeit, unterdurchschnittliche Erträge einzelner Bundesländer auszugleichen, die sich aus der Steuerverteilung nach dem örtlichen Aufkommen ergeben haben. Macht der Gesetzgeber von dieser Möglichkeit Gebrauch, so steht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erst nach der Zuteilung der Ergänzungsanteile die jeweilige Finanzausstattung der einzelnen Länder fest. 345 Ausgehend von dieser Konzeption des Bundesverfassungsgerichts kann die Zuweisung solcher Ergänzungsanteile, obwohl damit im Ergebnis der auf

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Dabei sind Bund und Länder am Aufkommen der Einkommensteuer (nach Abzug des den Gemeinden zufließenden Anteils) und der Körperschaftsteuer je zur Hälfte beteiligt, während ihre Anteile an der Umsatzsteuer variabel sind und durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates festgelegt werden. Die einfachgesetzliche Aufteilung hat sich an den in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG normierten Grundsätzen zu orientieren. Hierdurch erhält sie bezogen auf die Ländergesamtheit - bereits ausgaben- und bedarfsorientierten Charakter; vgl. BVerfGE 72, 330 . 344 Eine Korrektur erfolgt allerdings durch das Zerlegungsgebot des Art. 107 Abs. 1 Satz 2 GG. 34 5 BVerfGE 72, 330 .

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i m u n e s t a t

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aufkommensstärkere Länder entfallende Steueranteil geringer ausfällt, nicht als Eingriff in deren grundgesetzlich vorgesehene Finanzausstattung begriffen werden. Der horizontale Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG findet statt auf der Grundlage der in den beiden ersten Stufen erfolgten primären Aufteilung des Steueraufkommens, das das Grundgesetz den Ländern insgesamt als die ihnen originär zustehende Finanzausstattung zuweist. 346 Er korrigiert die Ergebnisse der primären, von der Verfassung grundsätzlich gewollten Finanzausstattung unter den Bundesländern. 347

II. Die Ausgleichspflicht als Eingriff Heftig umstritten ist, ob dieser horizontale Finanzausgleich den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu genügen hat. 3 4 8 Dies hängt zunächst davon ab, ob die gesetzliche Begründung einer Ausgleichspflicht zu Lasten der finanzstärkeren Länder als Eingriff in eine verfassungsunmittelbar gewährte Position qualifiziert werden kann. Bestimmen Art. 106 GG und Art. 107 Abs. 1 GG (einschließlich der variablen Umsatzsteuerverteilung nach Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG) die eigene, von der Verfassung grundsätzlich gewollte, Bund und Ländern originär zustehende Finanzausstattung, so bedeutet der Entzug eines Teils der an sich dem betroffenen Land zustehenden Erträge eine Verringerung seiner finanziellen Mittel. Die finanziellen Möglichkeiten des Landes werden eingeschränkt, in seine Finanzautonomie wird eingegriffen. Der Eingriffscharakter der gesetzlichen Begründung einer Ausgleichspflicht zugunsten finanzschwächerer Länder wird etwa auch von Ossenbühl 3 4 9 und Korioth 3 5 0 nicht bestritten, obgleich diese eine Beschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ablehnen. 346 BVerfGE 72, 330 ; 101, 158 ( Hervorhebung durch Verf.). A.A. Hinsch, S. 102, der davon ausgeht, dass es keine originäre Finanzausstattung eines Landes gebe. Erst nach der endgültigen finanzverfassungsrechtlichen Zuteilung - gegebenenfalls nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs - könnten die dem jeweiligen Land zustehenden Mittel bestimmt werden. Der Finanzausgleich sei daher auch nicht als Eingriff in eine Position der Geberländer zu werten. Damit beschränkt Hinsch in seinem Bestreben, den territorialen Bestand eines jeden Landes vor möglichen Neugliederungen zu schützen, die Länder in ihrer (finanziellen) Selbständigkeit umso stärker und schwächt auf diese Weise die föderale Ordnung. 347 BVerfGE 72, 330 ; 101, 158 . 348 Ausdrücklich bejahend: Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 54 ff.; Huber, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 107 Rn. 129; dezidiert ablehnend: Ossenbiihl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 84 ff; Christmann, DÖV 2000, S. 315 . 349 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 87 f. 350 Korioth, S. 617.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefüge des Grundgesetzes

III. Grenzen des Ausgleichs Ist die Statuierung einer gesetzlichen Ausgleichspflicht ein Eingriff, schließt sich die weitere Frage an, ob der Bundesgesetzgeber bei Erlass des die Ausgleichspflicht begründenden Gesetzes den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten hat.

1. Vorrang der Feststellung der Finanzkraft

der Länder

Der Gesetzgeber, dem die Herstellung eines angemessenen Ausgleichs der unterschiedlichen Finanzkraft aufgegeben ist, hat zunächst die Finanzkraft der einzelnen Länder festzustellen. Nach welchen Kriterien dies zu geschehen hat, ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Der Begriff der Finanzkraft ist vielmehr konkretisierungsbedürftig. Seine nähere Ausformung ist Aufgabe des Gesetzgebers, dem insoweit ein gewisser Spielraum zusteht. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts muss die Wahrnehmung der Konkretisierungsbefugnis im Hinblick auf den Sinn und Gehalt des Begriffs vertretbar sein. 351 Die gerichtliche Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung ist entsprechend beschränkt. Überwiegend wird der Begriff der Finanzkraft umfassend verstanden und nicht auf die Steuerkraft reduziert. 352 Dabei sind die Haushaltseinnahmen nicht in ihrer absoluten Höhe Grundlage des Finanzkraftvergleichs, sondern sie sind jeweils in Bezug zur Zahl der Einwohner des einzelnen Landes zu setzen.353 Die verfassungsrechtliche Eingrenzung der Konkretisierungsbefugnis wirft noch weitere Fragen auf, denen hier gleichwohl nicht nachgegangen werden soll. 3 5 4 Dabei wird keinesfalls verkannt, dass sich die Bestimmung der Faktoren zur Berechnung der Finanzkraft im Gesamtergebnis des vorzunehmenden Ausgleichs niederschlagen wird. 3 5 5 Jedoch liegt die Konkretisierung des Begriffs der Finanzkraft noch im Vorfeld der hier interessierenden Thematik. Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Begrenzung der gesetzgeberischen Ausgleichsregelung, insbesondere durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, stellt sich erst, wenn die - einfachgesetzlich konkretisierte Finanzkraft aller Länder im Einzelnen feststeht.

351 BVerfGE 72, 330 ; 101, 158 . 352 Wendt, HStR IV, § 104 Rn. 77 m. w. N.; a. A. Sondervotum des Richters Niebier, BVerfGE 72, 330 . 353 Wendt, HStR IV, § 104 Rn. 78 m. w. N. 354 Vgl. zu den weiteren diskutierten Fragen etwa Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 107 Rn. 49 ff.; Huber, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 107 Rn. 93 ff. 355 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 88; Korioth, S. 611.

1.Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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2. Das Verbot der Nivellierung und der Veränderung der Finanzkraftreihenfolge Ist die Finanzkraft der einzelnen Länder in diesem Sinne ermittelt, so sind die Unterschiede angemessen auszugleichen. Umgekehrt formuliert soll das Ergebnis der primären Steuerzuteilung insoweit korrigiert werden, als es „auch unter Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder aus dem bundesstaatlichen Gedanken der Solidargemeinschaft unangemessen ist." 3 5 6 Der Finanzausgleich soll so fährt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 11. November 1999 im Anschluss an seine frühere Rechtsprechung fort - die Finanzkraftunterschiede unter den Ländern verringern, aber nicht beseitigen. Er habe die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite. Er sei kein Mittel, um das Ergebnis der in Art. 107 Abs. 1 GG geregelten primären Steuerverteilung durch ein neues System zu ersetzen, das etwa allein vom Gedanken der finanziellen Gleichheit der Länder geprägt werde, ihre Eigenstaatlichkeit und Eigen Verantwortung jedoch nicht mehr berücksichtige. Die Ausgleichspflicht des Art. 107 Abs. 2 GG fordere deshalb nicht eine finanzielle Gleichstellung der Länder, sondern eine ihren Aufgaben entsprechende hinreichende Annäherung ihrer Finanzkraft. 357 Aus der vom Gesetzgeber zu beachtenden Balance zwischen Eigenstaatlichkeit der Länder einerseits und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft andererseits ergeben sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zwei konkrete Vorgaben für die Ausgleichsregelung: So darf der horizontale Finanzausgleich nicht zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führen. 358 Das Gebot, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder lediglich angemessen und ohne Nivellierung auszugleichen, verbietet außerdem eine Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge unter den Ländern im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs.359 Diese beiden äußersten Grenzen der Regelungsbefugnis des Bundesgesetzgebers sind gemeinhin anerkannt.

3. Weitere materiellrechtliche

Vorgaben

Fraglich ist, ob und gegebenenfalls welche weiteren konkreten materiell-rechtlichen Vorgaben dem Gebot eines angemessenen Ausgleichs der Finanzkraft der

356 BVerfGE 101, 158 . 357 BVerfGE 101, 158 . 358 BVerfGE 1, 117 ; 72, 330 ; 101, 158 ; ebenso Prokisch, S. 236; Patzig, DÖV 1989, S. 330 ff.; Wendt, HStR IV, § 104 Rn. 84; Siekmann, in Sachs, GG, Art. 107 Rn. 31. 359 BVerfGE 72, 330 ; 86, 148 ; 101, 158 ; vgl. auch Hüde, S. 239.

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. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Länder zu entnehmen sind, deren Einhaltung dann auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterläge.

a) Ausschluss einer Letztentscheidungskompetenz des Bundesgesetzgebers Ossenbühl sieht in dem Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen, die Zuweisung von Letztentscheidungskompetenzen an den Gesetzgeber. Diesem werde die verfassungsrechtliche Befugnis zugeordnet, in den Grenzen evidenter Willkür den Finanzausgleich unter den Ländern letztverbindlich, das heißt ohne gerichtliche Nachkontrolle zu ordnen. 360 Dabei beziehe sich dieses gesetzgeberische Letztentscheidungsrecht auch auf die inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Finanzkraft, da - darauf war oben bereits hingewiesen worden - dessen Definition entscheidendes Gewicht für die Grenzen des angemessenen Ausgleichs habe. 361 Die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, den Finanzausgleichsgesetzgeber an materielle Verfassungsmaßstäbe zu binden, sei - so Ossenbühl - nicht etwa ein behebbarer Mangel an grundgesetzlicher Normdichte. Die Zuweisung der Letztentscheidungskompetenz sei vielmehr verfassungsrechtlich intendiert und auch sachgerecht anders gar nicht möglich. 362 Zwar dürfe der Finanzausgleich keinesfalls zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führen. Wie dicht der Ausgleich jedoch an die Nivellierungsschwelle herangeführt werden könne, lasse sich nicht mehr überprüfbar bestimmen. Der „angemessene Ausgleich" müsse folglich, wenn er im Sinne des Bundesverfassungsgerichts die Leistungsfähigkeit der gebenden Länder nicht entscheidend schwächen dürfe, jedenfalls von der Nivellierungsschwelle einen gewissen Abstand wahren. Dieser Abstand sei selbst jedoch nicht mehr justitiabel, weil nicht mehr konkretisierbar. 363 Dies zeigten auch die verschiedenen Vorschläge einer rechnerischen Fixierung des angemessenen Ausgleichs, die bisher in der Diskussion gemacht worden seien. 364 Diese Vorschläge bemessen in der Tat den Mindestbetrag, bis zu dem die Finanzkraft der finanzschwachen Länder aufzufüllen sei, recht unterschiedlich: Hettlage nennt 85% oder besser 90% des Bundesdurchschnitts als Sollgröße 365 ; der frühere Finanzminister 360 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 80, 82. 361 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 88. 362 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 80 f. Er verweist auch auf entsprechende Ausführungen einer Sachverständigenkommission, die für den Begriff des „billigen Ausgleichs" in Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dieser Terminus keine weiteren Maßstäbe für eine Rationalisierung des Abstimmungsprozesses oder für eine rechtliche Beurteilung des Abstimmungsergebnisses bietet; vgl. Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 30, 1981, TZ 77. 363 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 82 f. 364 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 83. 365 Hettlage, FinArch. 14 (1953/54), S. 406 .

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Franz-Josef Strauß erachtete 95% als Mindestmaß 366 ; im Rahmen der Finanzverfassungsreform 1969 forderten einige Länder schließlich gar eine Anhebung auf 96,1% und ab 1971 auf 97 % 3 6 7 . Dem Standpunkt Ossenbühls ist der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 24. Juni 1986 in seiner Mehrheit zwar nicht gefolgt; wohl aber hat sich das Sondervotum der Ansicht angeschlossen, es handele sich bei der Bestimmung des angemessenen Finanzausgleichs um eine gerichtlich nicht mehr überprüfbare Entscheidung des Gesetzgebers: Dem Charakter der Regelungen über den Finanzausgleich als Rahmen- und Verfahrensordnung entspreche es, wenn sich das Grundgesetz materieller Festlegungen enthalte und die Länder für die Erreichung des Ziels auf Verständigung und Kompromiss verweise. 368 Die Kritik an der Einräumung eines gesetzgeberischen Letztentscheidungsrechts hat Korioth zutreffend auf den Punkt gebracht. Es sei - so Korioth - nicht einzusehen, dass die Verfassung gerade an der konfliktträchtigsten Stelle der Finanzbeziehungen der Länder, die exzeptionelle Solidarität durch Abgabepflichten einfordere, dem Gesetzgeber eine Art Blankoermächtigung mit den äußersten Grenzen der Willkür einräumen sollte. 369 Die Möglichkeit eines Landes, im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung eine eigenständige Politik im eigenen Interesse und zugunsten der eigenen Bevölkerung zu betreiben, steht regelmäßig in tatsächlicher Abhängigkeit von den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten. Eingedenk des Umstandes, dass ein Großteil der finanziellen Ressourcen bereits für die Erfüllung von Pflichtaufgaben verbraucht wird, bleibt nur noch ein verhältnismäßig geringer finanzieller Freiraum zur Finanzierung selbst gewählter Aufgaben. Wird dieser Freiraum durch die Belastung mit Ausgleichspflichten weiter eingeengt, wird das Land im Kern seiner Staatlichkeit getroffen. Angesichts des Verfassungsauftrags, die Finanzkraft der schwächeren Länder aufzubessern, kann es zwar nicht vorrangiges Ziel der gesetzlichen Regelung sein, die finanzstarken Länder zu schonen. Wohl aber fordert der Schutz der Staatlichkeit der Länder, dass der Ausgleich nicht in das Belieben des Bundesgesetzgebers gestellt sein darf. Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG gibt den Finanzausgleich nicht der politischen Dezision preis. 370 Verfehlt scheint in diesem Zusammenhang auch die - im oben genannten Sondervotum vertretene - Meinung, ein ausreichender Schutz ließe sich bereits durch die Ausgestaltung des Verfahrens herstellen. Zwar ist das Ausgleichsgesetz zustimmungsbedürftig, die Notwendigkeit der Bundesratszustimmung erscheint jedoch als wenig tauglicher Schutzmechanismus, da es gerade um den Ausgleich widerstreitender Interessen einzelner Länder geht. Es bedeutete vielmehr, den Nehmerländern, die in den letzten Jahrzehnten regelmäßig 366 Strauß, S. 138. 367 Vgl. Patzig, DVB1. 1969, 889 . 368 Sondervotum des Richters Niebier, BVerfGE 72, 330 . 369 Korioth, S. 610 f.; siehe auch Prokisch, S. 232 ff. 370 Arndt, JZ 1992, S. 971; Prokisch, S. 232 ff. 12 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefige des Grundgesetzes

die Mehrheit im Bundesrat inne hatten, den Schutz der finanzstärkeren Länder anzuvertrauen. Auch der Bundestag ist kein Garant eines ausreichenden Schutzes der ausgleichspflichtigen Länder. So ist zu bedenken, dass der Bund, sollte die Ausgleichspflicht der finanzstärkeren Länder geringer ausfallen, gegebenenfalls politisch in die Pflicht genommen wird, um den Bedarf der schwächeren Länder durch Ergänzungszuweisungen gemäß Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG zu befriedigen. Diese Inpflichtnahme lässt sich für den Bund vermeiden oder in ihrem Umfang vermindern, wenn stattdessen die finanzstärkeren Länder zum Ausgleich einen entsprechend höheren Betrag beisteuern.

b) Die Auffassung von Korioth Korioth ist demnach darin beizupflichten, dass den Gesetzgeber bei Vornahme des Ausgleichs nicht allein das Willkürverbot bindet. Er selbst folgert hieraus freilich nur, dass die grundgesetzliche Finanzverfassung lediglich Maßstäbe für eine Untergrenze aufstelle, die der Gesetzgeber bei Ausgestaltung des Ausgleichs nicht unterschreiten dürfe. Was der Gesetzgeber des horizontalen Finanzausgleichs nach Durchführung der Steuerverteilung an Vereinheitlichung vorfinde, könne er nicht wieder in finanzielle Pluralität auflösen, sondern müsse es weiter angleichen.371 Dabei sei die Finanzkraftabschöpfung nicht die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. Es gelte hier nicht das Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG, Unterschiedliches seiner Verschiedenheit entsprechend ungleich zu behandeln, vielmehr ziele der Auftrag zum Ausgleich gerade darauf, vorhandene Unterschiede zwischen den Ländern abzubauen.372 Die historische und entstehungsgeschichtliche Interpretation des Art. 107 GG belege, dass der Vorschrift das Konzept einer weitgehenden Egalisierung der Länderfinanzen zugrunde liege. 373 Ziel des Ausgleichs sei die Herstellung der Finanzautonomie der finanzschwachen Länder. Die angestrebte Finanzautonomie dieser Länder sei erst dann hergestellt und gesichert, wenn über die Finanzierung von Pflichtaufgaben hinaus Spielraum zu eigenen Entscheidungen bleibe, in allen Ländern also die finanziellen Voraussetzungen für eine selbständige und unabhängige Haushaltsführung im Sinne von Art. 109 Abs. 1 GG vorlägen. 374 Die Frage, ob die „richtige Mitte" zwischen der Eigenständigkeit der Länder und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen allein durch das Nivellierungsverbot und das Verbot, die Finanzkraftreihenfolge zu vertauschen, umschrieben werden kann oder vorgelagerte Grenzen zum Schutze der finanzstärkeren Länder bestehen, beantwortet Korioth eindeutig im ersteren Sinne: Im horizontalen Finanzausgleich müsse auch eine

371 372 373 374

Korioth, Korioth, Korioth, Korioth,

S.613. S. 615. S. 620. S. 625.

1. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bundesstaat

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annähernde Nivellierung der Finanzkraft noch als verfassungskonform angesehen werden. 375

c) Die Auffassung von Paul Kirchhof Den Versuch, auch eine Obergrenze des Ausgleichs zum Schutz der finanzstarken Länder zu bestimmen, unternimmt Paul Kirchhof: Der Tatbestand des „Angemessenen" stelle eine rechtsverbindliche Relation zwischen Mittel und Zweck her. Der Einsatz des Angleichungsmittels dürfe keinen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehe. Diese Forderung entspreche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Besonderheit bestehe hier darin, dass Mittel und Zweck insoweit identisch seien, als Zweck der Angleichung eine angemessene Ausstattung jedes Landes mit Finanzkraft, Mittel des Ausgleichs die partielle Umverteilung vorhandener Finanzkraft sei. 376 Zur Bestimmung des rechten Verhältnisses setzt Kirchhof bei der rechnerischen Proportionalität zwischen dem Entzug von Finanzkraft bei den ausgleichspflichtigen Ländern und der Zuweisung von Finanzkraft an die ausgleichsberechtigten Länder an. Die Finanzkraft der gebenden Länder müsse die durchschnittliche Finanzkraft aller Länder je Einwohner nach Vornahme des Ausgleichs mindestens um soviel übersteigen wie dieser Mittelwert von den nehmenden Ländern unterschritten werde. 377 Kirchhof weicht dann jedoch von dieser rein rechnerischen Ermittlung ab, da das Tatbestandsmerkmal der „Angemessenheit" nach gefestigter Tradition des deutschen öffentlichen Rechts einen Bewertungsauftrag enthalte, der den Gesetzgeber auf die Einzelkriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit verpflichte. 378 Danach sei geeignet jede Maßnahme, die objektiv die jeweilige Finanzkraft der Länder einander lediglich annähere, aber nicht schlechthin nivelliere. 379 Zur Schonung der ausgleichspflichtigen Länder dürfe allerdings nur das erforderliche Mittel eingesetzt werden. Jede Minderung der Finanzkraft bei den gebenden Ländern sei daher verfassungswidrig, sofern sie nicht zur Erreichung des Ausgleichszwecks geboten sei. Aus dem Gedanken der Landesautonomie, deren Herstellung bzw. Bewahrung der Finanzausgleich diene und die einerseits einen finanzwirtschaftlichen Handlungsspielraum voraussetze, andererseits aber auch die Zuweisung der Folgen finanzwirtschaftlicher Entscheidungen an den Entscheidungsträger verlange, ergebe sich, dass nur solche Ausgleichszahlungen im Rechtssinne erforderlich seien, die dem finanzschwachen Land eine Deckung sei-

375 Korioth, S. 627 f. 376 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 54. 377 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 54 f. 378 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 55 f.; zur Abkehr vom rein rechnerischen Ansatz siehe auch S. 57, Fn. 156. 379 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 56. 12*

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

nes unabweisbaren Finanzbedarfs, sein Gemeinschaftsexistenzminimum sicherten. 3 8 0 Schließlich müsse jede Ausgleichsmaßnahme auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Dies sei nicht der Fall, wenn die mit ihr bezweckten Vorteile nicht deutlich die mit ihr verbundenen Nachteile überwögen. Deshalb verstoße ein Ausgleichsgesetz gegen Art. 107 Abs. 2 GG, wenn die erreichte Vervollständigung der Finanzkraft des ausgleichsberechtigten Landes im Vergleich zur entsprechenden Minderung der Finanzkraft des ausgleichspflichtigen Landes nicht deutlich die finanzwirtschaftliche Autonomie insgesamt verbessere. Der Vorteil einer Umverteilung von Finanzmitteln überwiege nur dann deutlich die mit ihr verbundenen Nachteile, wenn der Verlust an realer Finanzautonomie bei dem gebenden Land geringer zu bewerten sei als der Zuwachs an realer Finanzautonomie bei dem nehmenden Land. Diese Voraussetzung sei erfüllt, wenn die Zuweisung dem empfangenden Land erst die Erfüllung der Pflichtaufgaben erlaube, das gebende Land aber gleichwohl einen Finanzspielraum für freiwillige Aufgaben behalte. Dasselbe gelte, wenn dem empfangenden Land ein Mindestspielraum an finanzpolitischer Entscheidung vermittelt werde, dem gebenden Land aber ein deutlich weiterer finanzpolitischer Entscheidungsspielraum verbleibe. 381 Aus diesen Vorgaben ergäben sich - so Kirchhof - eine Unter- und eine Obergrenze des angemessenen Ausgleichs, die den „Vertretbarkeitsspielraum" des Gesetzgebers bei seiner Entscheidung begrenzten. Die Untergrenze sei unterschritten, wenn die Leistungsfähigkeit eines finanzschwachen Landes nicht gesichert sei, obwohl das Geberland auch nach den dafür notwendigen Ausgleichszahlungen seine Leistungsfähigkeit behalte. 3 8 2 Die dem Gesetzgeber gezogene Obergrenze sei überschritten, wenn die Ausgleichsmaßnahme zu einer Nivellierung der Länderfinanzen führe oder ein gebendes Land in seiner Leistungsfähigkeit wesentlich geschwächt sei. Dies dürfte der Fall sein, wenn die Ausgleichszahlungen mehr als die Hälfte des noch ungebundenen Hauhaltsvolumens in Anspruch nähmen. Freilich ließen sich der Verfassung auch insoweit keine zahlenmäßig präzisen Grenzen entnehmen. Jedenfalls müsse aber dem gebenden Land nach Durchführung des Finanzausgleichs ein finanzwirtschaftlicher Spielraum verbleiben, der es erlaube, nach Erfüllung der Pflichtaufgaben eigene finanzwirtschaftliche Initiativen zu entfalten. 383 Die von Kirchhof vertretene Begrenzung der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auf heftige Kritik gestoßen.384 Zwar sei strukturell der Boden für die Anwendung dieses Grundsatzes gegeben, da sich auch beim horizonta380

Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 56 f. Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 57 f. 382 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 58 ff. Kirchhof räumt allerdings ein, dass eine zahlenmäßige Grenze für die unverzichtbare Leistungsfähigkeit bisher nicht gefunden sei. 383 Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich, S. 60 f. 384 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 84 ff.; Korioth, S. 617 ff. 381

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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len Finanzausgleich eine Ziel-Mittel-Relation herstellen lasse und die Umverteilung auch Eingriffe im weiteren Sinne bedinge. 385 Jedoch zeige eine nähere Betrachtung, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht in der Lage sei, dem Finanzausgleich festere rechtliche Strukturen zu verleihen. Seine Anwendung verschaffe keinen zusätzlichen Rationalitätsgewinn bei der Findung des angemessenen Ausgleichs. 386 Bereits der Eignungsprüfung komme kein direktiver Gehalt zu, da jede Ausgleichszahlung - die eine mehr, die andere weniger - geeignet sei, die Finanzkraft der Länder einander anzugleichen.387 Eine Erforderlichkeitsprüfung sei schon aus logischen Gründen ausgeschlossen. Wenn die Erforderlichkeit auf das Ziel eines angemessenen Ausgleichs zu beziehen sei, stelle dieses Ziel nur ein Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung dar. Folglich könne die „Angemessenheit" schon rein logisch nicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Ganzen verweisen. 388 Entscheidend gegen die von Kirchhof präferierte Verhältnismäßigkeitsprüfung streite insbesondere, dass das Ziel, welches im Rahmen dieser Prüfung mit dem eingesetzten Mittel in Beziehung zu setzen sei, nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt werden könne, weil dieser Grundsatz selbst keine Vergleichsmaßstäbe mitliefere, sondern lediglich ein Abwägungsgebot zwischen mehreren gleichsam vorgegebenen Größen enthalte. So folge die Aussage, Ausgleichsziel sei nur die Deckung des unabweisbaren Finanzbedarfs der schwächeren Länder, nicht aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Vor diesem Hintergrund bleibe für eine sinnvolle Erforderlichkeitsprüfung kein Raum, da nicht mehrere gleichwertige Alternativen zur Erreichung des vorgegebenen Ziels zur Verfügung stünden.389 Die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit des Ausgleichs im engeren Sinne, erfordere ebenfalls Maßstäbe, die ihrerseits vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mitgeliefert würden, sondern sich aus weiteren Kriterien in Verbindung mit einer konkreten Abwägung ergäben. Selbst wenn tatsächlich das Ziel des Ausgleichs lediglich die Gewährung des Existenzminimums des nehmenden Landes sei, wäre kaum in justitiabler Weise auszumachen, wo dieses Existenzminimum beginne. 390

d) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab Zutreffend an dieser Kritik ist der Hinweis, dass es einen logischen Bruch darstellt, wenn bereits im Rahmen der Prüfung von Geeignetheit und Erforderlichkeit 385

Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 85, 87 f. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 84 f. 387 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 85; Korioth, S. 617 f. 388 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 86; Korioth, S. 618. Soweit Korioth in diesem Zusammenhang vom Grundsatz der Geeignetheit als zweiter Prüfungsstufe spricht, handelt es sich offenbar um ein Versehen. 389 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 86. 3 90 Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs, S. 87. 386

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Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

des Eingriffs in die Finanzkraft der stärkeren Länder ein „angemessener Ausgleich" als Ziel genannt wird. Jedoch steht und fällt damit keinesfalls die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Stattdessen ist lediglich das Ziel dogmatisch exakter zu bestimmen. Als Ziel der Umverteilung von Finanzkraft ist nicht der angemessene Ausgleich anzusehen, sondern allein der Ausgleich unter den Ländern, mithin ohne den abwägenden Zusatz, der bereits auf die dritte Stufe der Prüfung verweist. Der Umstand, dass jede, auch noch so geringe Umverteilung zugunsten der ärmeren Länder an dieses Ziel heranführt und deshalb als geeignet erscheint, nimmt der Eignungsprüfung - dies ist einzuräumen - die direktive Kraft. Allerdings ist dies kein Spezifikum, das ausschließlich hier anzutreffen wäre. Etwa auch im grundrechtlichen Bereich ist die Eignung einer Maßnahme häufig unumstritten, liegt der Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf den nachfolgenden Stufen. Erforderlich zur Erreichung des angestrebten Ausgleichs ist jede Zahlung bis hin zur vollständigen Angleichung der Finanzkraft. Der Grundsatz der Erforderlichkeit schließt daher auch die Nivellierung nicht aus, das Nivellierungsverbot ergibt sich vielmehr erst aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Nicht mehr erforderlich sind danach nur Zahlungen, die gewissermaßen über das Ziel hinausschießen (Übernivellierung). Soweit die Differenz der Finanzkraft der Länder nach einer solchen Übernivellierung größer ist als vor der Umverteilung, erweist sich diese sogar als ungeeignet, um sich dem gesetzten Ziel zu nähern. Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist deren dritte Stufe. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne selbst nicht die maßgeblichen Wertungskriterien enthält, sondern auf Wertungen außerhalb dieses Begriffes verweist. Nur ist auch dies keine Besonderheit im Rahmen des Art. 107 Abs. 2 GG. Im grundrechtlichen Bereich ist dies strukturell gleichgelagert. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, ein angemessenes Verhältnis herzustellen zwischen dem Gut, um dessentwillen der Eingriff erfolgt, und dem Rechtsverlust, den das Gut erleidet, in das der Eingriff erfolgt. Welche Rechtsgüter dies jeweils sind und welcher Wert diesen zukommt, ist nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot selbst zu entnehmen. Die insoweit notwendigen Wertungen ergeben sich vielmehr aus der Verfassung im Übrigen. Der Gesetzgeber hat bei dem ihm aufgegebenen Ausgleich einerseits die Finanzautonomie der gebenden Länder und andererseits die finanzielle Angewiesenheit der bedürftigen Länder zu gewichten. Dabei ist - und dies spricht für eine entsprechende Mindestausstattung der armen Länder - deren Inanspruchnahme durch Pflichtaufgaben, über deren Erfüllung oder Nichterfüllung sie nicht frei befinden können, zu berücksichtigen. 391 Gegen eine zu weitgehende Annäherung der Finanzkraft spricht, dass grundsätzlich die Folgen finanzwirtschaftlicher Dispositionen oder sonstiger 39i Vgl. Hüde, S. 234.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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Investitionen, soweit diese autonom von den Ländern getroffen worden sind, im positiven wie im negativen Sinn bei den jeweiligen Ländern verbleiben sollen. 392 Selbst zu verantwortende Haushaltslücken sollen ebenso wenig auf andere Länder abgewälzt werden können wie - gegebenenfalls unter Verzicht - aufgebrachte Finanzkraft abgeschöpft werden darf. Wird dies nicht beachtet, wird nicht nur die Haushaltsdisziplin der Länder geschwächt, sondern diesen auch mit der Folgenverantwortlichkeit ein Teil ihrer Eigenständigkeit und Staatlichkeit genommen.393 Aus diesen Erwägungen ergeben sich keine konkreten Zahlen für den vorzunehmenden Ausgleich. Aber nur wenn der Gesetzgeber gehalten ist, auch die Verhältnismäßigkeit des Ausgleichs im engeren Sinne zu wahren, findet ein ausreichender Schutz der Finanzautonomie der ausgleichspflichtigen Länder Eingang in die Überlegungen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erweist sich somit als unverzichtbare Kompetenzausübungsschranke. Im Übrigen ist auch die fehlende Ableitbarkeit konkreter Zahlen kein Spezifikum der verfassungsrechtlichen Regelung des horizontalen Finanzausgleichs. Ähnliche Probleme bestehen im StaatBürger-Verhältnis etwa bei Bemessung der noch zulässigen Steuerlast.

IV. Verfassungsauftrag: Das Maßstäbegesetz Bleibt damit ein Spielraum für den Gesetzgeber, dessen Grenzen durch verfassungsrechtliche Deduktionen nicht weiter konkretisiert werden können, so bleibt auch ein potentieller Streitpunkt, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu politischen Auseinandersetzungen führt. Können die streitenden Parteien den Konflikt nicht selbst lösen, so ist absehbar, dass sich die jeweils unterlegenen Länder an das Bundesverfassungsgericht wenden. Das Bundesverfassungsgericht hätte dann jeweils verbindlich zu entscheiden, ob die Ausgleichszahlungen mit der Verfassung zu vereinbaren sind. Dies dürfte, gerade weil sich aus der Verfassung keine konkreten Zahlen ergeben und die Abwägung die Einbeziehung und Wertung umfangreicher Sachverhalte erfordert, das Gericht vor besondere Schwierigkeiten stellen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht klar erkannt. In seinem Urteil vom 11. November 1999 hat es einen Versuch unternommen, dem Dilemma zu entkommen. Der vom Bundesverfassungsgericht gefundene Ausweg besteht in der Verpflichtung des Bundesgesetzgebers zum Erlass eines zeitlich vorrangigen Maßstäbegesetzes.394 Die Herleitung einer solchen Verpflichtung wie auch die dogmatische Konstruktion des den Gesetzgeber selbst bindenden einfachen Gesetzes sind sicher angreifbar. 395 Ein gewisser Ansatz findet sich zumindest für den horizonta392 Vgl. Prokisch, S. 236. 393 Vgl. Wendt, HStR IV, § 104 Rn. 84. 394 BVerfGE 101, 158 . 395 Vgl. Linck, DÖV 2000, S. 325 , der eine verfassungsrechtliche Ermächtigung des Gesetzgebers für eine normativ vorrangige Grundsatzgesetzgebung mit den grundlegenden Prinzipien einer parlamentarischen Demokratie für unvereinbar hält. Auch Rupp,

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

len Finanzausgleich in Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Skepsis gegenüber der vom Bundesverfassungsgericht gewählten Konstruktion sollte jedoch nicht deren Vorteile verdecken. Denn sie hat zur Folge, dass einerseits dem Gesetzgeber als Erstinterpreten der Verfassung primär die Bestimmung der rechten Mitte zwischen Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen Seite und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen überantwortet wird. Es ist in erster Linie seine Aufgabe, einen verhältnismäßigen Ausgleich zu schaffen. Andererseits wird durch das Erfordernis einer zeitlich vorgängigen, langfristigen und abstrakten Maßstabsgesetzgebung eine Regelung losgelöst von den aktuellen Begehrlichkeiten der Länder möglich. Eine Einigung auf abstrakte und einsehbare Maßstäbe erscheint sehr viel eher möglich als über konkrete Geldbeträge. 396 Mit dieser Lösung werden die materiell-rechtlichen Vorgaben, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, nicht obsolet. Sie sind vom Gesetzgeber auch bei Entwicklung der abstrakten Maßstäbe für einen horizontalen Finanzausgleich zu beachten. Dabei ist das Recht und die Pflicht des Gesetzgebers zur Erstinterpretation der Verfassung keinesfalls mit einer Lei#entscheidungskompetenz zu verwechseln. Ob der Gesetzgeber die Vorgaben der Verfassung und damit auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend beachtet hat, unterliegt der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts.

2. Kapitel

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab staatlicher Regelungen im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln. Diese Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gilt aber nur im Rahmen der Gesetze.397 JZ 2000, S. 269 erachtet die Annahme, dass das Maßstäbegesetz einen höheren Rang als das später erlassene konkrete Ausgleichsgesetz habe, für verfassungsrechtlich unhaltbar. Ebenso Lindner, NJW 2000, S. 3757 ; Schneider, in AK-GG, Art. 107 Rn. 20. Wieland, DVB1. 2000, S. 1310 , sieht den Bundesgesetzgeber trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht gehindert, auch in Zukunft ein einheitliches Finanzausgleichsgesetz zu erlassen.Vgl. im Übrigen zur Diskussion Schuppert, in Umbach/Clemens, GG, Art. 107 Rn. 46 m. w. N. 396 BVerfGE 101, 154 . 397 Nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung wendet sich Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG an die Länder, insbesondere den Landesverfassunggeber und den verfassungsändernden Landesgesetzgeber; vgl. Löwer, in von Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 34; Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 . Die Länder dürfen über die Regelungen des Art. 28 Abs. 2

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 185

Die der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie zugrundeliegende dogmatische Konzeption ist bis heute unverändert umstritten. Die literarischen Äußerungen sind bis in die jüngste Zeit kontrovers. Dies gilt insbesondere auch für die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke staatlicher Regelungen. Bei dieser Diskussion folgt die Literatur weitgehend referierend, interpretierend und kommentierend den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 398 Es scheint daher angezeigt, zunächst das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts darzustellen, bevor dieses - nach einem Überblick über die Rechtsprechung der auf diesem Gebiet sehr „aktiven" Landesverfassungsgerichte und die im Schrifttum vertretenen Meinungen - einer kritischen Würdigung unterzogen wird.

A. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nicht nur vereinzelt wird der Rastede-Beschluss des Zweiten Senats aus dem Jahre 1988 als der Wendepunkt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade im Hinblick auf die Relevanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bezeichnet. Habe vorher dieser Grundsatz als Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle fungiert, sei er nunmehr - so etwa Kenntners Resümee auch „zehn Jahre nach Rastede" 399 - für die Rechtsprechung des Gerichts, soweit es um die kommunale Selbstverwaltung gehe, obsolet. Diese Feststellung gelte unabhängig davon, ob ein konkret-individueller Eingriff gegenüber einer Gemeinde oder eine abstrakt-generelle Regelung der gemeindlichen Rechtsverhältnisse in Rede stehe. 4 0 0 Hiergegen ist einzuwenden, dass jedenfalls diese pauschalisierende BewerGG hinausgehen, nicht aber dahinter zurückbleiben; vgl. Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 59 f. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist aber nicht nur eine Homogenitätsnorm, sondern gilt zugleich unmittelbar, und zwar auch für den Bund, der daher, soweit er sich legislativ oder exekutiv regelnd an die Gemeinden wendet, ebenso die in dieser Vorschrift normierte Selbstverwaltungsgarantie zu beachten hat; vgl. BVerfGE 56, 298 . Das Grundgesetz kann den Ländern nicht aus Gründen der Homogenität im Bundesstaat Vorgaben machen, ohne den Bund zugleich an diese zu binden; so allgemeine Meinung: BVerfGE 1, 167 ; 22, 180 ; stRspr; Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 35 f.; Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 ; Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 60 mit Hinweis auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG, der dieses Ergebnis bestätigt. 398 So auch die übereinstimmende Einschätzung von Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 < 1041 >, und Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 f.; ders., Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 61. 399 So der Titel seines Beitrages in DÖV 1998, S. 701 ff. 400 Kenntner, DÖV 1998, S. 701 . Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 69, zweifelt zwar, ob die Rastede-Entscheidung selbst diese Schlussfolgerung zulässt, erkennt aber in BVerfGE 79, 311 und 81, 310 das Bestreben des Bundesverfassungsgerichts, den Grundsatz der Verhältnismäßig-

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

tung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht gerecht wird, die - wie im Folgenden dargelegt wird - sehr wohl und zwar durchgängig, das heißt sowohl vor als auch nach der Rastede-Entscheidung, zwischen konkret-individuellen und abstrakt-generellen Regelungen differenziert hat.

I. Konkret-individuelle Regelungen in Gesetzesform Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, der Gesetzgeber habe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, soweit er gegenüber einzelnen Gemeinden tätig werde, indem er in deren Bestand eingreife oder ihre - gegebenenfalls einfachrechtlich in abstrakt-genereller Form ausformulierten - Rechte schmälere. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass solche konkret-individuellen Regelungen als Eingriffe in Gesetzesform verfassungsrechtlich nur zulässig sind, wenn sie den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen.401 Diese Begrenzung der Befugnisse des staatlichen Gesetzgebers gegenüber den Gemeinden folgt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus dem Rechtsstaatsprinzip. 402 In Anerkennung eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums erfolgt die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedoch wesentlich zurückhaltender als etwa bei Eingriffen der Exekutive gegenüber Gemeinden. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht (Vorprüfungsausschuss) in seinem Beschluss vom 27. November 1978 betreffend eine kommunale Gebietsneugliederung ausgeführt: Mache eine Gemeinde geltend, ein in ihre Gebietshoheit eingreifendes Gesetz verletze das Recht auf Selbstverwaltung gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, so komme es einerseits darauf an, dem Gesetzgeber die ihm zukommende politische Entscheidungsbefugnis und Gestaltungsfreiheit ungeschmälert zu belassen. Andererseits sei der Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie zu wahren, der sich bei Eingriffen in Bestand und Gebiet von Gemeinden wesentlich in der Bindung des Gesetzgebers an Gründe des öffentlichen Wohls niederschlage. Soweit über Zielvorstellungen, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers zu befinden sei, dürfe sich das Verfassungsgericht nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen. Es habe seine Nachprüfung insoweit darauf zu beschränken, ob die Einschätzungen und Entscheidungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar seien oder der verfassungsrechtlichen Wertung widersprächen. 403 Strikter seien die verfas-

keit gänzlich aus dem Staatsorganisationsrecht zu verbannen. Dagegen etwa Nierhaus, in Sachs, GG, Art. 28 Rn. 56. 401 BVerfGE 50, 50; 50, 195 ; 59, 216 : gesetzliche Änderung eines Namens einer Gemeinde; BVerfG (Vörprüfungsausschuss), NVwZ 1982, S. 95. 402 BVerfGE 50, 50 ; 59, 216 . 403 BVerfGE 50, 50 unter Hinweis auf die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte von Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen; siehe auch BVerfG, NVwZ 1982, S. 95.

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 18

sungsrechtlichen Vorgaben wie auch die gerichtliche Kontrolle der Bindung des Gesetzgebers an die Gründe, soweit es um die Umsetzung eines einmal beschlossenen Neugliederungskonzeptes gehe. Das Gericht habe dann nicht nur zu prüfen, ob der Gesetzgeber den Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt, alle wesentlichen Belange umfassend und nachvollziehbar abgewogen und die Gebote der Sach- und Systemgerechtigkeit beachtet habe, sondern auch, ob der gesetzgeberische Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei. 404 Diese Untersuchung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht, soweit es um die Eignung der Neugliederungsmaßnahme geht, dem Gesetzgeber wiederum einen Prognosespielraum einräumt 405 Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum wird dadurch erweitert, dass die mit der Neugliederung verfolgten (nicht nur geringfügigen) Verbesserungen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts den Eingriff gegenüber der Gemeinde erst dann nicht mehr zu rechtfertigen vermögen, wenn diese dadurch in ihrem Bestand oder in ihrer Funktion bedroht ist. Solange dies nicht der Fall sei, sei der Eingriff nicht als unverhältnismäßig im engeren Sinne zu werten. 406 Weiter verenge sich der Ermessensspielraum des Gesetzgebers, wenn die Gebietsneugliederung vollzogen und etwa eine neue Gemeinde mit eigenem Namen gebildet sei. Für eine Umbenennung dieser Gemeinde gegen ihren Willen müssten sich - was das Gericht auch überprüft - nicht nur übergeordnete Gesichtspunkte des öffentlichen Wohls anführen und plausibel begründen lassen. Die Umbenennung müsse auch ein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel sein. 407 An dieser je nach Sachlage unterschiedlich intensiven Überprüfung konkret-individueller Regelungen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat das Bundesverfassungsgericht auch nach dem Rastede-Beschluss ausdrücklich festgehalten. So heißt es in einem Beschluss aus dem Jahre 1992, die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines Neugliederungsgesetzes erstrecke sich auch darauf, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand einer einzelnen Gemeinde offenbar ungeeignet oder unnötig sei, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis stehe 4 0 8

404 BVerfGE 50, 50 . 405 BVerfGE 50, 50 ; siehe auch BVerfG, NVwZ 1982, S. 95. 406 BVerfGE 50, 50 . 407 BVerfGE 59, 216 . 408 BVerfGE 86, 90 . Dies übersieht Mückl, S. 62, Fn. 52, wenn er meint, dass diese Frage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offen sei. Im Beschluss vom 17. Juli 1996, BVerfGE 95, 1 , hat das Bundesverfassungsgericht offengelassen, ob das Gesetz über den Bau der Südumfahrung Stendal einen Eingriff in die kommunale Planungshoheit der Stadt Stendal darstelle, da dieser jedenfalls „geeignet, erforderlich und auch in Anbetracht der nur geringfügig eingeschränkten Planungshoheit der Gemeinde nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne" sei.

2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

II. Formellgesetzliche Ermächtigungen der Exekutive sowie die auf dieser Grundlage erlassenen normativen konkret-individuellen Eingriffe Wehrt sich eine Gemeinde mit der Verfassungsbeschwerde gegen eine untergesetzliche Rechtsnorm, die in ihr Selbstverwaltungsrecht eingreift, prüft das Bundesverfassungsgericht zweistufig, nämlich zunächst - inzident - die Vereinbarkeit der zugrundeliegenden formellgesetzlichen Ermächtigung mit der Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, bevor es im Anschluss die Exekutivnorm an diesem Maßstab misst. 409 Die gesetzliche Ermächtigung habe, da sie zu Eingriffen ermächtige, ihrerseits dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen. 410 Das Gesetz müsse, soweit es selbst Voraussetzungen und Wirkungen der Exekutivnormen regele, verhältnismäßig sein. 411 Es dürfe selber nur einen legitimen Zweck verfolgen. 412 Die Maßnahme, zu der die Exekutive ermächtigt werde, müsse sich zur Förderung dieses Zwecks eignen. Der Gesetzgeber dürfe die Exekutive zudem nur zu erforderlichen Eingriffen in das Selbstverwaltungsrecht ermächtigen. So gebiete der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe etwa, dass der zwangsweise Zusammenschluss mehrerer Gemeinden zu einem Schulzweckverband durch Rechtsverordnung bereits nach der gesetzlichen Ermächtigung nur zulässig sei, falls es zu einem freiwilligen Zusammenschluss nicht komme. 413 Schließlich habe das Gesetz eine auch im engeren Sinne verhältnismäßige Regelung durch die Exekutive zu ermöglichen. Da die exekutive Norm nur verhältnismäßig im engeren Sinne sein könne, wenn sie auch unter Berücksichtigung ihrer nachteiligen Folgen gerechtfertigt erscheine, müsse der Gesetzgeber der ermächtigten Stelle Raum für eine Abwägung mit den gegenläufigen und widerstreitenden Interessen der jeweils betroffenen Gemeinde lassen. Notfalls sei die gesetzliche Ermächtigung im Sinne einer solchen Öffnung für Abwägungen im Einzelfall verfassungskonform auszulegen.414 Sei die Ermächtigungsnorm verfassungsgemäß, so müsse die untergesetzliche Vorschrift, die konkret in das Selbstverwaltungsrecht der einzelnen Gemeinde eingreife - und ihr damit im Vergleich zu anderen Gemeinden ein Sonderopfer auferlege - 4 1 5 , auf einer zweiten Prüfungsstufe ebenfalls am Maßstab der Verhältnis409 BVerfGE 26, 228; 56, 298; 76, 107. 410 BVerfGE 26, 228 ; 56, 298 . 411 BVerfGE 26, 228 ; 56, 298 . 412 BVerfGE 56, 298 ; 76, 107 . 413 BVerfGE 26, 228 : Hier bringt das Gericht die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insoweit in einen grundrechtlichen Zusammenhang, als es zur Bestätigung seiner Anwendbarkeit ohne jede weitere Kommentierung frühere Entscheidungen zitiert, deren Gegenstand Grundrechtseingriffe waren. Es wäre jedoch verfehlt, hierin eine Wiederbelebung des grundrechtlichen Verständnisses des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden sehen zu wollen. 414 BVerfGE 56, 298 .

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 189

mäßigkeit gemessen werden: Die Vorschrift habe danach den gesetzlich festgelegten Zwecken zu dienen, müsse hierfür geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein. 416 Wie zuvor auf der formellgesetzlichen Ebene sei die untergesetzliche Norm verfassungskonform auszulegen, soweit dies im Sinne des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nötig und nach ihrem Wortlaut möglich sei. 417 Habe die Exekutive ihrerseits den - gegebenenfalls im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu ermittelnden - gesetzlich eingeräumten Abwägungsspielraum verkannt und in Folge die Interessen der Gemeinde nicht angemessen berücksichtigt, sei die untergesetzliche Norm nichtig. 418 Allerdings gewährt das Bundesverfassungsgericht, soweit es sich um Planungsentscheidungen handelt, der Exekutive eine Gestaltungsbefugnis mit der Konsequenz, dass es seine gerichtliche Kontrolle - wie bei der Überprüfung der gesetzlichen Neugliederung - zurücknimmt 4 1 9

III. Die einfachrechtliche Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung Der bundesverfassungsgerichtlichen Vorstellung von der kommunalen Selbstverwaltung liegt das Verständnis des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG als einer institutionellen Garantie zugrunde. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet danach nicht einen verfassungsunmittelbar abschließend definierten Schutzbereich: Der die Garantie einschränkende Zusatz „im Rahmen der Gesetze" beinhalte nicht nur einen Eingriffsvorbehalt zugunsten des Gesetzgebers, er enthalte vielmehr zugleich einen Regelungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber. Denn die Garantie der Einrichtung gemeindlicher Selbstverwaltung bedürfe der gesetzlichen Ausgestaltung und Formung. 420 Der Gesetzesvorbehalt, den Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ausspreche, sei umfassend zu verstehen. Er beziehe sich nicht nur auf die Art und Weise der Erledigung der örtlichen Angelegenheiten421, sondern ebenso auf die gemeindliche Zuständigkeit für diese Angelegenheiten.422 Freilich überlasse das Grundgesetz die notwendige Ausgestaltung und Formung nicht dem Belieben des Gesetzgebers. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sehr wohl materielle Vorgaben. Dies bezieht das Gericht zunächst auf die gegen415 416 417 418 419 420

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

56, 298 26, 228 26, 228 56, 298 76, 107 79, 127

. ; 56, 298 . . . . .

421 Dazu BVerfGE 91, 228 : Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sichert den Gemeinden auch die Befugnis zur eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte. Zu dieser Befugnis gehört die Organisationshoheit. 422 BVerfGE 79, 127 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

ständliche Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Dabei handele es sich um diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzelten oder auf sie einen spezifischen Bezug hätten, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam seien, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der politischen Gemeinde beträfen. 423 Diese verfassungsunmittelbare Umschreibung sei allerdings derart abstrakt, dass es einer weiteren Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedürfe. Soweit der Gesetzgeber einfachrechtlich Zuständigkeiten zuweise, habe er bei der Einschätzung der örtlichen Bezüge einer Aufgabe und ihres Gewichts einen Einschätzungsspielraum. Hieraus folge, dass durch das Gericht im Streitfall lediglich zu prüfen sei, ob die gesetzgeberische Einschätzung von Maß und Gewicht der örtlichen Bezüge einer Aufgabe in Ansehung des unbestimmten Verfassungsbegriffs „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" vertretbar sei. 424 Im Übrigen differenziert das Bundesverfassungsgericht zwischen zwei Bereichen, die vor dem gesetzgeberischen Zugriff in unterschiedlich intensiver Weise gesichert seien. So existiere ein Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie, der einer Aushöhlung des Wesensgehaltes der gemeindlichen Selbstverwaltung entgegenstehe.425 Im Rastede-Beschluss heißt es ausdrücklich, zum Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehöre kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog. Zum Wesensgehalt zu rechnen sei aber die Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises; das sei die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen seien, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen.426 Auf den ersten Blick bleibt zunächst unklar, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang dem Verbot einer „Aushöhlung" zukommt. Denn nicht jeder Eingriff stellt notwendig eine „Aushöhlung" dar. Dann wäre gewissermaßen nur der Kern dieses Wesensgehaltes unantastbar geschützt. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass ein solcher absolut unantastbarer Bereich und ein weniger geschützter Bereich des Wesensgehaltes gerade im Hinblick auf die Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises nicht auszumachen wäre. Dies spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht auch in der RastedeEntscheidung den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie insgesamt für unantastbar gehalten hat. Bestätigt wird diese Interpretation durch den Beschluss vom 7. Mai 2001, in dem das Gericht die Begriffe „Wesensgehalt" und „unantastbarer Kernbereich" synonym verwendet. 427 Zugleich wird die Frage, ob neben dem Uni423 BVerfGE 79, 127 . 424 BVerfGE 79, 127 . 425 BVerfGE 79, 127 . Vgl. auch BVerfGE 91, 228 hinsichtlich der Organisationshoheit. 426 BVerfGE 79, 127 . 427 BVerfGE 103, 332 ; so auch Clemens, NVwZ 1990, S. 834 mit Blick auf den Rastede-Beschluss des Gerichts. Siehe auch BVerfGE 91, 228 betreffend die Organisationshoheit.

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 191

versalitätsprinzip auch bestimmte Gemeindehoheiten - konkret war die Planungshoheit in Streit - zu diesem Kernbereich zu rechnen seien, als weiterhin offen bezeichnet. Sie ist demnach aus Sicht des Gerichts nicht durch den Rastede-Beschluss negativ entschieden. Selbst wenn der Kernbereich der Selbstverwaltung die Planungshoheit umfassen sollte - so heißt es dort weiter - , könne dies wiederum nur für deren Wesensgehalt und nicht für die Planungshoheit in vollem Umfang und in all ihren Erscheinungsformen gelten. 428 Allerdings dürfe die Planungshoheit auch außerhalb des Kernbereichs durch den Gesetzgeber nicht beliebig eingeschränkt werden. 429 Von einem solchen minder geschützten Bereich außerhalb des Kernbereichs war das Bundesverfassungsgericht auch in der Rastede-Entscheidung ausgegangen. Die Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG entfalte aus ihrer normativen Intention, den Gemeinden einen grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Aufgabenbereich zu sichern, Rechtswirkungen auch jenseits dieses engsten Bereichs. 430 Die Vorschrift enthalte insoweit ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden, das der zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber zu berücksichtigen habe. 431 Sei der Gesetzgeber, soweit eine Aufgabe keinen relevanten örtlichen Bezug besitze, bei deren Zuordnung frei, so dürfe er hingegen eine Aufgabe mit einem solchen relevanten örtlichen Bezug den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses entziehen. Ein solches Gemeininteresse sei dann anzunehmen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. 432 Die Entziehung sei zudem nur zulässig, wenn die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG überwögen 4 3 3 So könnten etwa Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung insgesamt einen Entzug solcher Aufgaben mit örtlichem Bezug zu Lasten der Gemeinden nicht schon aus sich heraus rechtfertigen, sondern erst dann, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem „unverhältnismäßigen" Kostenanstieg führte. 434 Wie die Ausfüllung des unbestimmten Verfassungsbegriffs der „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" sei auch die gesetzgeberische Zuweisungsentscheidung im Hinblick auf das in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG normierte Aufgabenverteilungsprinzip vom Gericht nur auf ihre Vertretbarkeit hin zu kontrollieren. 435 428 BVerfGE 103, 332 . 429 BVerfGE 103, 332 . 430 BVerfGE 79, 127 . 431 BVerfGE 79, 127 ; 83, 363 ; Beschluss vom 19. November - 2 BvR 329/97 - , S. 19 des Beschlußabdrucks. 432 BVerfGE 79, 127 . 433 BVerfGE 79, 127 . 434 BVerfGE 79, 127 . 435 BVerfGE 79, 127 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Bei unbefangener Betrachtung enthält der vom Bundesverfassungsgericht in der Rastede-Entscheidung konzipierte Maßstab, an dem ein Aufgabenentzug zu messen sei, die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Voraussetzung sei, dass mit dem Entzug ein verfassungslegitimer Zweck (Grund des Gemeininteresses) verfolgt werde. Die Forderung, dass dieser Zweck nicht anders erreichbar sein dürfe, entspricht dem Erforderlichkeitsgrundsatz, der als logische Prämisse immer auch den Grundsatz der Geeignetheit einschließt. Schließlich verlangt das Gericht vom Gesetzgeber eine Abwägung zwischen den den Entzug tragenden Gründen und dem in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG normierten Aufgabenverteilungsprinzip. In diesem Zusammenhang erwähnt das Gericht sogar ausdrücklich den Begriff der UnVerhältnismäßigkeit. Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch offenkundig in seinem Beschluss vom 7. Mai 2001 selbst davon aus, die im Rastede-Beschluss genannten Kriterien im Falle eines Aufgabenentzuges entsprächen nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern seien strenger. 436 Wie diese Interpretation zu werten ist, mag hier zunächst offenbleiben. Gewichtiger ist, dass das Gericht im Beschluss vom 7. Mai 2001 ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab für abstrakt-generelle Regelungen anerkannt hat. So heißt es dort, der Gesetzgeber habe, wenn er abstrakt-generell in die Planungshoheit eingreife, indem er für alle Gemeinden unmittelbar regelnde Vorgaben für die Art und Weise der Ausübung der Planungshoheit - außerhalb eines eventuell geschützten Kernbereichs setze, den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und eine Güterabwägung vorzunehmen. 437 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 19. November 2002 hinsichtlich der den Gemeinden garantierten, ebenfalls unter Gesetzesvorbehalt stehenden Befugnis der eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum ohne ausdrückliche Erwähnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes definiert. Der Gesetzgeber sei insoweit gebunden, als inhaltliche Vorgaben gegenüber den Gemeinden durch Gründe des gemeinen Wohls gerechtfertigt sein müssten und sie überdies auf dasjenige zu beschränken seien, was der Gesetzgeber zur Wahrung des jeweiligen Gemeinwohlbelangs für geboten halten dürfe. 438

436 BVerfGE 103, 332 . 437 BVerfGE 103, 332 . 438 Beschluss vom 19. November -2 BvR 329/97 - , S. 19 des Beschlussabdrucks.

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 193

B. Überblick über die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte und den Meinungsstand im Schrifttum I. Die Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte Aufgrund der besonderen Gewährleistungen der kommunalen Selbstverwaltung in den Landesverfassungen und der auf Landesebene eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten haben einzelne Landesverfassungsgerichte mit ihrer Rechtsprechung maßgeblich die Diskussion um die Selbstverwaltungsgarantie und ihre Grenzen befördert und geprägt. Es kann hier nicht Aufgabe sein, diese landesverfassungsgerichtliche Judikatur in ihrer Breite und Tiefe umfassend darzustellen. Stattdessen sollen lediglich anhand einiger ausgewählter Beispiele wesentliche Leitlinien dieser ohnehin länderübergreifend nicht vollkommen einheitlichen Rechtsprechung nachgezeichnet werden. Das hiesige Interesse beschränkt sich zudem auf die jeweils dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeräumte Funktion als Schranke staatlicher Regelungstätigkeit. Auch die landesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung kann danach unterteilt werden, ob der staatliche Akt, dessen Verfassungsmäßigkeit es zu beurteilen gilt, ein konkret-individueller Eingriff gegenüber einer einzelnen Gemeinde oder einer abgegrenzten Gruppe von Gemeinden ist oder eine abstrakt-generelle Regelung zur Prüfung ansteht. Im Jahre 1970 hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen auf die Verfassungsbeschwerde einer durch Eingemeindung aufgelösten Gemeinde ausgeführt, der Gesetzgeber sei bei seiner Entscheidung allein an das Vorliegen von Gründen des öffentlichen Wohls gebunden.439 Zwar beinhalte die Verpflichtung auf die Gründe des öffentlichen Wohls ein materielles Verfassungsgebot, dessen Einhaltung grundsätzlich der gerichtlichen Kontrolle unterliege. Soweit jedoch bei der Neugliederungsentscheidung Wertungen und Erwägungen des Gesetzgebers von Bedeutung seien, könne sich das Gericht über sie nur dann hinwegsetzen, wenn sie eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlsam seien. 440 Sei ein gemeinwohlorientierter Wille des Gesetzgebers feststellbar, sei nur noch zu prüfen, ob die wesentlichen Sachannahmen vorlägen, auf die der Gesetzgeber seinen Eingriff stütze, ob das angefochtene Gesetz als geeignetes Mittel erscheine, den gesetzgeberischen Zweck zu erreichen, und ob dieses Mittel nicht außer Verhältnis zu dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck stehe. 441 Auf eine Prüfung am Maßstab des Erforderlichkeitskriteriums wird ausdrücklich verzichtet, da damit eine zu starke Einengung des staatlichen Organisationsrechts einherginge. 442 Zwei Jahre spä439 VerfGH NRW, OVGE 26, 286 ; vgl. auch VerfGH NRW, OVGE 26, 270 bezüglich der Auflösung eines Gemeinde Verbandes. 440 VerfGH NRW, OVGE 26, 286 . 441 VerfGH NRW, OVGE 26, 286 . 13 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

ter hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen seine Rechtsprechung insoweit modifiziert, als er nunmehr nicht nur prüft, ob die beanstandete Neugliederungsmaßnahme offensichtlich ungeeignet ist oder außer Verhältnis zu der durch die gesetzliche Maßnahme eingetretenen Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltung steht, sondern auch der Frage nachgeht, ob die vom Gesetz getroffene Maßnahme im Verhältnis zu den sachlichen Vorzügen einer Alternativlösung oder des bisherigen Zustandes übermäßig ist. 4 4 3 Damit gerät - was für eine Erforderlichkeitsprüfung charakteristisch ist - das alternative Mittel zur Erreichung eines vorgegebenen Zieles in den Blick. In der weiteren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen wird die gerichtliche Überprüfung konkret-individueller Eingriffe auf ihre Erforderlichkeit intensiviert. Solche Regelungen müssten das in Art. 78 LV NW (Art. 28 Abs. 2 GG) begründete Gebot beachten, in das Selbstverwaltungsrecht nur insoweit einzugreifen, als dies zur Erreichung des Gesetzeszwecks erforderlich sei. 444 Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Maßstab konkret-individueller Eingriffe in Verordnungsform hervorgehoben. 445 Derartige Eingriffe aufgrund von Gesetzen dürften den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie nicht antasten und hätten außerhalb des Kernbereichs das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. So seien etwa Gebietsentwicklungspläne, die die planerischen Möglichkeiten einer Gemeinde beschränkten, daraufhin zu überprüfen, ob sie geeignet, erforderlich und zumutbar seien 4 4 6 Im Urteil betreffend den Braunkohleplan Garzweiler II nimmt der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen - wie das Bundesverfassungsgericht in vergleichbarer Konstellation - eine zweifache Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, zunächst bezogen auf die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage und im Anschluss hinsichtlich des auf der Grundlage dieser gesetzlichen Ermächtigung ergangenen, unmittelbar die Planungshoheit der betroffenen Gemeinden beschränkenden Braunkohleplans. 447 Auch andere Landesverfassungsgerichte wie etwa der Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz 448, der Bayerische Verfassungsgerichtshof 449, der

442 VerfGH NRW, OVGE 26, 286 . 443 VerfGH NRW, OVGE 28, 291 . 444 VerfGH NRW, DÖV 1980, S. 691 . Im konkreten Fall war nach Auffassung des Gerichts die zwangsweise Bildung eines Zweckverbandes nicht erforderlich, um die Sparkassenorganisation an die Ergebnisse der kommunalen Neugliederung anzupassen. 445 VerfGH NRW, NWVBL 1990, S. 51 ; NWVBL 1991, S. 371 ; NVwZ 1992, S. 875; NWVBL 1993, S. 170 . 446 VerfGH NRW, NWVBL 1990, S. 51 ; ebenso VerfGH NRW, NWVB1. 2002, S. 376 . 447 VerfGH NRW, NWVB1. 1997, S. 333 . 448 VerfGH Rh.-Pf., DVB1. 1969, S. 799 .

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 195

Staatsgerichtshof Baden-Württemberg 450 sowie der Saarländische Verfassungsgerichtshof 451 messen gesetzliche Neugliederungsmaßnahmen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Landesverfassungsgerichte nehmen die gerichtliche Kontrolle zurück, soweit Ziel Vorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers zu beurteilen sind. Wegen ihres politischen Charakters seien diese Abwägungen nur daraufhin zu überprüfen, ob sie eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlerhaft seien oder in Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Wertordnung stünden. Dieser restriktive Prüfungsmaßstab betrifft insbesondere das Kriterium der Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahme im engeren Sinne. 452 Auch die Landesverfassungsgerichte der neuen Bundesländer haben sich dieser Judikatur angeschlossen. So muss nach Auffassung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs die gesetzlich angeordnete Inanspruchnahme eines Gemeindegebietes für den Braunkohlebau den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen 4 5 3 Auch abstrakt-generelle staatliche Regelungen, die das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden betreffen, seien an diesem Maßstab zu messen. Der Gesetzgeber dürfe - so der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen jüngst in seinem Urteil zur hauptamtlichen Gleichstellungsbeauftragten vom 15. Januar 2002 - den Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts nicht antasten. Außerhalb des Kernbereichs habe er unter anderem das verfassungsrechtliche Aufgabenverteilungsprinzip zugunsten der Gemeinden sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.454 Unklar ist die Bedeutung, die der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zumisst, soweit mittelbare Eingriffe durch Übertragung von zusätzlichen Aufgaben in Rede stehen, die die kommunalen Mittel in erheblichem Maße beanspruchen und dadurch finanzielle, sächliche sowie personelle Kapazitäten zur Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben schmälern. Einerseits heißt es, der Landesgesetzgeber habe bei der Übertragung neuer Aufgaben auf die Gemeinden außerhalb des Kernbereichs das verfassungsrechtliche Aufgabenverteilungsprinzip 455 bzw. zusätzlich das Willkürverbot 456 zu beachten; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird in diesem Zusammenhang nicht als Maßstab genannt. Andererseits hat der Gesetzgeber nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen bei Ausfüllung der Verfassungsdirektive des Art. 78 Abs. 3 LV NRW durch Erlass entspre449 Siehe etwa BayVerfGH, BayVBl. 1981, S. 399 ; vgl. insoweit zur Rechtsprechung des BayVerfGH Lissack, S. 48 ff. 450 StGH BW, NJW 1975, S. 1205 . 451 SaarlVerfGH, NVwZ 1986, S. 1008 . 452 BayVerfGH, BayVBl. 1981, S. 399 ; StGH BW, NJW 1975, S. 1205 . 453 SächsVerfGH, DVB1. 2000, S. 1445 . 454 VerfGH NRW, NWVB1. 2002, S. 101 m. w. N.; siehe auch VerfGH NRW, NWVB1. 1996, S. 426 . 455 VerfGH NRW, NWVBL 1993, S. 7 . 456 VerfGH NRW, NWVB1. 1996, S. 97 . 13=

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chender Kostendeckungsregelungen unter anderem das Verbot zu beachten, unverhältnismäßige und unzumutbare Regelungen zu treffen. 457 Der Niedersächsische Staatsgerichtshof hat die Gemeinden ab einer bestimmten Einwohnerzahl treffende gesetzliche Pflicht zur Bestellung kommunaler Frauenbeauftragter als Eingriff in die gemeindliche Organisationshoheit angesehen, die ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie sei. Ein solcher Eingriff sei nur dann mit der Verfassung zu vereinbaren, wenn er im Hinblick auf die Bedeutung und Eigenart der Aufgabe, deren Erfüllung er sicherstellen soll, geeignet, erforderlich und im engeren Sinne proportional zum angestrebten Zweck sei. 458 Nach Ansicht des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs muss der Gesetzgeber bei Regelungen von Inhalt und Umfang der kommunalen Finanzhoheit nicht nur „Kernbereich und Wesensgehalt" unangetastet lassen. Er habe sich im Übrigen „an den Erfordernissen des im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit" zu orientieren 4 5 9 Der Staatsgerichtshof des Landes BadenWürttemberg hat - insoweit in Parallele zu den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen betreffend die Klage der Stadt Rastede - als Grenze einer gesetzlichen Hochzonung von Aufgaben, die bisher von den Gemeinden wahrgenommen worden waren, auf die Ebene der Gemeindeverbände neben dem unantastbaren Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie (Wesensgehalt) das „verfassungsrechtliche Übermaßverbot" bestimmt. 460 Auch das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg überprüft abstrakt-generelle Regelungen des Gesetzgebers, mit denen er die Art und Weise der Aufgabenerledigung vorschreibt, zumindest dann, wenn diese Regelungen in ihren Auswirkungen einem Aufgabenentzug nahekommen, darauf, ob sie den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung nicht berühren und überdies den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. 461 Schließlich weicht der Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz von dieser Linie der bisher angeführten Landesverfassungsgerichte insoweit ab, als er abstrakt-generelle Eingriffe in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Gemeinden, soweit hierdurch der Kernbereich dieser Garantie nicht berührt werde, lediglich darauf untersucht, „ob die fragliche Regelung von sachgerechten Erwägungen getragen wird, geeignet ist, den mit ihr verfolgten Zweck zu erreichen, und nicht willkürlich ist". 4 6 2 Diesen Maßstab legt er auch im Falle der staatlichen Überbürdung neuer Aufgaben auf die Kommunen an. 4 6 3

457 VerfGH NRW, NWVBL 1993, S. 7 ; NWVB1. 1997, S. 129 . 458 NdsStGH, NVwZ 1997, S. 58 . Der Gerichtshof hat das angegriffene Gesetz in dieser Entscheidung insoweit für unverhältnismäßig im engeren Sinne befunden, als kleinere Kommunen durch die Verpflichtung übermäßig belastet würden. 459 BayVerfGH, DVB1. 1989, S. 308 . 460 StGH BW, ESVGHE 28, 1 . 461 VerfG Bbg, DVB1. 2000, S. 981 . 462 VerfGH Rh.-Pf., DVB1. 2000, S. 992 mit Hinweis auf frühere Rechtsprechung. 463 VerfGH Rh.-Pf., DÖV 2001, S. 601 .

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 197

II. Der Meinungsstand im Schrifttum Es hat sich gezeigt, dass die Landesverfassungsgerichte die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in dessen Rastede-Beschluss in ihre Argumentation aufgenommen haben, die Rechtsprechung aber hierdurch keine radikale Wendung erfahren hat, sondern im Wesentlichen in Kontinuität zur bisherigen Judikatur fortentwickelt worden ist. Für das Schrifttum gilt dies nicht in gleicher Weise. Dabei divergiert, wie eingangs der Untersuchung bereits festgestellt worden ist, nicht erst die Kritik an dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Die Kommentatoren sind vielmehr bereits darüber uneins, welche Bedeutung dieser Entscheidung insbesondere auch in Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke gesetzgeberischer Regelungstätigkeit zukommt. Freilich ist der Streit um die Bindung des die Rechtsverhältnisse der Gemeinden regelnden Gesetzgebers an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht erst mit dem Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aufgekommen. Die Diskussion war bereits zuvor insbesondere durch die ebenfalls von der Gemeinde Rastede initiierten Entscheidungen des OVG Lüneburg aus dem Jahre 1979 und des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1983 zur Übertragung der Abfallbeseitigungspflicht auf die Kreise belebt worden. Die Gemeinde Rastede hatte sich in diesem verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Ergebnis vergeblich um die Verpflichtung des Kreises zu der - nach dem Gesetz grundsätzlich möglichen - Rückübertragung der Aufgabe der Müllbeseitigung bemüht. Das OVG Lüneburg hat in seinem Urteil dargelegt, Art. 28 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete, „daß bei gesetzgeberischen Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen dem Zwang zur wirtschaftlichen Konzentration der Kräfte und der Mittel einerseits und der Wahrung des Kernbereichs gemeindlicher Selbstverwaltung andererseits weitere Aufgabenbereiche aus den gemeindlichen Selbstverwaltungsaufgaben nur herausgelöst werden dürfen, wenn sich das als unerläßlich erweist". 464 Nach dieser Maßgabe sei das Gesetz als solches nicht zu beanstanden, weil es die Rückübertragung der Abfallbeseitigungspflicht auf die Gemeinden vorsehe, wenn diese die Aufgabe in gleicher Weise wie der Kreis erfüllen könnten. 465 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich zwar in seiner Revisionsentscheidung grundsätzlich zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bekannt. Dieser schirme die Gemeinden jenseits des unantastbaren Kernbereichs gegen unzulässige, weil nicht gerechtfertigte Eingriffe in die Selbstverwaltung ab. 4 6 6 Im Verhältnis von Gemeinden zu Kreisen verpflichte das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Gesetzgeber aber nur, die Aufgabe jeweils auf der Ebene anzusiedeln, die hierfür die geeignetere sei. 467 Im zeitlichen Umfeld dieser beiden verwaltungsgerichtlichen Urteile ist im Schrifttum vermehrt im Sinne einer Bindung des Gesetzgebers an den Verhältnis464 OVG Lüneburg, DÖV 1980, S. 417 . 465 OVG Lüneburg, DÖV 1980, S. 417 . 466 BVerwGE 67, 321 . 467 BVerwGE 67, 321 .

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mäßigkeitsgrundsatz auch bei Erlass generell-abstrakter Regelungen Stellung genommen worden. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sei eine verfassungsunmittelbare Aufgaben* bzw. Kompetenzzuweisung zugunsten der Gemeinden. Diese seien damit, ohne dass es einer einfachgesetzlichen Aufgabenzuweisung bedürfte, für alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zuständig, es sei denn der Gesetzgeber habe ihnen bestimmte Aufgaben entzogen.468 Einen solchen Eingriff dürfe der Gesetzgeber aber nur vornehmen, wenn der Kernbereich der Selbstverwaltung nicht tangiert werde und im Übrigen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibe. 4 6 9 Allerdings komme dieser Grundsatz nur in seiner durch legislatorische Beurteilungs- und Prognosespielräume relativierten Geltungskraft zur Anwendung. Habe sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert, so sei seine Prognose im Hinblick auf Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme, aber auch hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne - abgesehen von Fällen evident fehlsamer Einschätzung als inhaltlich vertretbar anzusehen. Der Rechtsschutz gegen derartige Maßnahmen verlagere sich folglich von einer gerichtlichen Inhalts- auf eine richterliche Verfahrens- und Vertretbarkeitskontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung.470 Die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Schranke gesetzgeberischer Maßnahmen wurde allerdings von anderer Seite auch grundsätzlich bestritten. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG normiere eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Diese sei entsprechend der insbesondere von M. Wolff und Carl Schmitt unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung entwickelten Lehre dadurch charakterisiert, dass dem Gesetzgeber bis zur Grenze des Wesensgehaltes die besondere Ausformung überlassen bleibe. 471 Zwar sei das Selbstverwaltungsrecht nicht „gesetzesgeformt", so dass gesetzliche Beschränkungen dieses Rechts als Eingriff zu qualifizieren seien. Derartige Eingriffe fänden ihre Grenze 468 Papier, DVB1. 1984, S. 453, 456; ebenso Knemeyer, DVB1. 1984, S. 23 ; Brohm, DVB1. 1984, S. 293 . 469 Papier, DVB1. 1984, S. 453 ; Kluth, Grenzen kommunaler Wettbewerbsteilnahme, S. 47; Brohm, DVB1. 1984, S. 293 ; Blümel, in FG für von Unruh, S. 265 ; ders., VerwArch. 75 (1984), S. 297 mit deutlicher Kritik am Urteil des Bundesverwaltungsgerichts; Weides, NVwZ 1984, S. 155 ; Schmidt-Jortzig, DÖV 1984, S. 821 ; ders., Kommunalrecht, Rn. 517; Pietzcker, NVwZ 1989, S. 605 ; Hinkel, NVwZ 1985, S. 225 ; ders., HessStGZ 1985, S. 182 , der die vom Bundesverwaltungsgericht befürwortete Reduktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Kriterium der Geeignetheit kritisiert; vgl. Im Übrigen die umfassenden Nachweise aus Rechtsprechung und Literatur bei Schoch, VerwArch. 81 (1990), S. 18 . 470 Papier, DVB1. 1984, S. 453 . 471 Stern, in Bonner Kommentar, GG, Art. 28 Rn. 65; nachfolgend differenziert Stern zwischen drei Garantiegehalten: der institutionellen Rechtssubjektsgarantie, der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie und der subjektiven Rechtsstellungsgarantie der Gemeinden. Diese Aufgliederung ist in Rechtsprechung und Literatur weitgehend ausdrücklich oder stillschweigend rezipiert worden. Soweit der Gesetzgeber allgemein die Rechtsverhältnisse der Gemeinden regelt, ist vorrangig die Rechtsinstitutionsgarantie berührt.

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 199

aber allein im Wesensgehalt der kommunalen Selbstverwaltung. 472 Dieser werde durch die typusbestimmenden Bestandteile, die essentiell die kommunale Selbstverwaltung prägten, definiert 4 7 3 Für den Gesetzgeber bestehe daher kein umfassender Rechtfertigungszwang. Entweder dringe der Gesetzgeber in das zentrale Gefüge der Institution, den Kernbereich, ein, dann legitimierten ihn auch die besten Gründe nicht. Oder er halte sich außerhalb, dann beurteile sich sein Vorgehen ausschließlich nach politischen, nicht nach rechtlichen Maßstäben. Für Verhältnismäßigkeitserwägungen sei hier kein Platz. 474 Aufgrund des Rastede-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erhielt die Diskussion eine neue Richtung. Im Vordergrund stand nunmehr die Analyse dieser Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Grenzen gesetzgeberischer Regelungstätigkeit. Schoch 475 und Schmidt-Assmann476 gehen von einer „Neustrukturierung" der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie durch das Bundesverfassungsgericht aus. Entsprechend dem institutionellen Verständnis des Gerichts bedürfe die Einrichtung der gemeindlichen Selbstverwaltung der gesetzlichen Ausgestaltung. Dem Gesetzgeber würden außerhalb des Kernbereichs nicht mehr, wie früher angenommen, durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Grenzen gesetzt, sondern ausschließlich durch ein so bislang nicht formuliertes Regel-Ausnahme-Aufgabenverteilungsprinzip 4 7 7 Auch Clemens konstatiert - billigend - eine Abkehr vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sieht hierin jedoch eine Stärkung der gemeindlichen Selbstverwaltung gegenüber Zugriffen des Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht habe für die institutionelle Garantie wesentlich prägnantere Schranken formuliert, als sich bei Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergäben. 478 Kenntner wiederum meint zwar gleichfalls zu erkennen, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgegeben habe, und zwar sowohl hinsichtlich generell-abstrakter als auch konkret-individueller Regelungen, obgleich letztere nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Entscheidung waren. 479 In Anlehnung insbesondere an Maurer hält er jedoch das institutionelle Verständnis des Art. 28 Abs. 2 GG bereits im An472 Stern, in Bonner Kommentar, GG, Art. 28 Rn. 120. 4 73 Stern, in Bonner Kommentar, GG, Art. 28 Rn. 123. Allerdings sieht Stern, StR I, § 12 II 4 c, den Gesetzgeber zusätzlich durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. Und zwar gilt dies sowohl bei konkret-individuellen Einzeleingriffen (S. 411) als auch bei abstrakt-generellen Regelungen (S. 415). 474 Loschelder, Die Befugnis des Gesetzgebers, S. 53. 475 Schoch, VerwArch. 81 (1990), S. 18 ; so auch Petz, DÖV 1991, S. 320 . 476 Schmidt-Assmann, in FS für Sendler, S. 121 ; ders., in FS 50 Jahre BVerfG, S. 804 ; siehe auch Rennert, in Umbach/Clemens, GG, Art. 28 II Rn. 76. 477 Schoch, VerwArch. 81 (1990), S. 18 . Er bezeichnet es nachfolgend als ungewöhnlich und unverständlich, dass das Bundesverfassungsgericht keine klare Aussage zur Unanwendbarkeit des Übermaßverbotes getroffen habe und sich gewissermaßen heimlich davon verabschiedet habe. 478 Clemens, NVwZ 1990, S. 834 . So auch Mückl, S. 61 f. 479 Kenntner, DÖV 1998, S. 701 .

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satz für überholt. Art. 28 Abs. 2 GG gewähre - so Maurer - den Gemeinden vielmehr unmittelbar eine subjektive Rechtsposition. Diese verfassungsunmittelbare Gewährung einer subjektiven Rechtsposition sei Voraussetzung dafür, dass der Gesetzgeber gegenüber den Gemeinden nicht beliebig verfahren dürfe, sondern an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden sei. 480 Eine übermäßige und unnötige Beeinträchtigung der Rechtsposition würde die mit der Rechtsgewährung getroffene Grundentscheidung negieren und damit nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen. 481 Maurer sieht in der von ihm verfochtenen Konzeption allerdings keinen Widerspruch zum Rastede-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts; in dieser Entscheidung habe das Gericht vielmehr erstmals dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Funktion eingeräumt. 482 Auch Schink 483 und Manssen 484 meinen, das Gericht habe der Sache nach eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen, freilich in Kontinuität zu seiner bisherigen Rechtsprechung. Dem widerspricht Ehlers, nach dessen Ansicht das Bundesverfassungsgericht weder im Rastede-Beschluss noch zuvor den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab zur Überprüfung generell-abstrakter Regelungen herangezogen habe. 485 Hierdurch habe das Gericht dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt. 486 Ehlers hält selbst hingegen im Falle einer Verkürzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Interesse eines wirksamen Schutzes der Gemeinden für unverzichtbar. 487 Nach Auffassung von Waechter bedarf es nicht des Rückgriffs auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als dogmatische Grundlage, da das Gebot, nicht unnötig in die Selbstverwaltung einzugreifen, sich unmittelbar aus dem Willkürverbot oder aus dem Gebot gemeindefreundlichen Verhaltens ergebe. 488 480 Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 , der im Einzelnen darlegt, dass das institutionelle Verständnis der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung unter der Weimarer Reichsverfassung einen Schutz der Gemeinden bezweckte, die Institutionenlehre sich nunmehr jedoch als Fessel zuungunsten der Gemeinden erweise, wenn und weil sie die Einrichtung als solche nur mit ihren typusbildenenden Strukturen schütze. Dem folgend Kenntner, DÖV 1998, S. 701 . Vgl. zum Funktionsverlust der institutionellen Garantie insbesondere auch Kronisch, S. 89 ff. 481 Kenntner, DÖV 1998, S. 701 . 482 Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 . 483 Schink, Kommunale Selbstverwaltung, S. 102 f. 484 Manssen, S. 33 ; ebenso Schwarz, Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, S. 39; Püttner, HStR IV, § 107 Rn. 24; Kronisch, S. 68 f.; Blanke, DVB1. 1993, S. 819 . 485 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 ; ders., Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 68; so auch Lissack, S. 46 f. 486 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 . Diese Wertung steht im Kontrast zur späteren Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, das die im Rastede-Beschluss aufgezeigten Anforderungen an die Zulässigkeit eines Aufgabenentzuges gegenüber einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als strenger ansieht; vgl. BVerfGE 103, 332 . 487 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 . So auch Ipsen, ZG 1994, S. 194 . 488 Waechter, Kommunalrecht, Rn. 153.

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C. Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung verfassungsunmittelbare Gewährleistung und Notwendigkeit einer Ausgestaltung Die Frage, ob gesetzliche Regelungen, die die kommunale Selbstverwaltung betreffen, am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen sind, harrt weiterhin einer befriedigenden Antwort. Soll eine solche dogmatisch konsistente Antwort gefunden werden, gilt es, sich vorab die strukturellen Voraussetzungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung in Erinnerung zu rufen: Ein staatlicher Akt ist nur dann auf seine Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu untersuchen, wenn höherrangig ein Rechtsbereich definiert ist, in den der jeweilige staatliche Akt eingreift. Weitere Voraussetzung für die Ausrichtung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist die auf derselben Rangstufe getroffene grundsätzliche Ermächtigung zum Eingriff. Ist ein verfassungsunmittelbar begrenzter Schutzbereich absolut geschützt, ist jeder Eingriff unzulässig, so dass sich eine weitere Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit erübrigt. Weitgehend unstreitig ist in Rechtsprechung und Lehre, dass konkret-individuelle Regelungen gegenüber einzelnen Gemeinden, die diese gezielt im Vergleich zu den übrigen Gemeinden belasten, den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügen müssen, um Bestand zu haben. Unerheblich ist insoweit, in welcher Rechtsform diese Einzeleingriffe ergehen. 489 Die weitere Erörterung kann sich daher auf die vom Gesetzgeber erlassenen abstrakt-generellen Regelungen der gemeindlichen Rechtsverhältnisse konzentrieren.

I. Der verfassungsunmittelbar umhegte Bereich Für die Beantwortung der hier aufgeworfenen Frage erweist sich als maßgeblich, ob die gesetzlichen Regelungen einen bereits verfassungsunmittelbar normierten Schutzbereich zugunsten der Gemeinden vorfinden oder ein solcher Bereich erstmals - wenn auch nach gewissen verfassungsrechtlichen Vorgaben durch die einfachgesetzlichen Regelungen geformt wird. Versteht man Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG als institutionelle Garantie, die von ihrem Wesen und ihrer Funktion her darauf angelegt ist, in ihrer Tragweite und Schutzintensität erst vom Gesetzgeber konkretisiert und näher umrissen zu werden, die mithin von vornherein auf eine gesetzliche Ausgestaltung verwiesen ist, so fehlt es an einem vorgegebenen höherrangigen Schutzbereich, in den die erstmals ausgestaltenden gesetzlichen Regelungen eingreifen könnten. 490 Nach diesem Verständnis definiert 4

89 Abweichende Schlussfolgerungen aus dem Rastede-Beschluss, vgl. etwa Kenntner, DÖV 1998, S. 701 und Mückl, S. 62, sind, wie oben bereits angemerkt, insoweit unzutreffend. 490 So etwa Clemens, NVwZ 1990, S. 834 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Schutzbereich, er greift nicht ein. Der hierzu konträre Standpunkt ließe sich so umschreiben, dass die Verfassung abschließend den Schutzbereich der gemeindlichen Selbstverwaltung definiert habe, mit der Folge, dass jede die Autonomie der Gemeinden tangierende Regelung als Eingriff zu qualifizieren wäre. Allerdings wird die weitere Erörterung zeigen, dass gerade dieses Ausschließlichkeitsverhältnis von Ausgestaltung und Eingriff, das die beiden soeben genannten Positionen gleichermaßen kennzeichnet, der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht wird und zu falschen Schlüssen zwingt. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist Teil der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für ein gegliedertes Staatswesen und die Eigenverantwortlichkeit der politischen Gebietskörperschaften. 491 Die Vorschrift weist in diesem Sinne unmittelbar alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft den Gemeinden zur eigenverantwortlichen Regelung zu. Nach dem insoweit klaren Wortlaut bedarf es gerade keiner weiteren konstitutiven einfachgesetzlichen Zuweisung der Aufgaben. 492 Dem einfachen Gesetzgeber wäre im Ergebnis freilich dann ein derartiges Bestimmungsrecht eingeräumt, wenn er zwar die Aufgaben nicht zuzuweisen hätte, ihm aber die - insoweit vorrangige - Definitionsmacht zustünde, den Kreis der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu bestimmen. Insoweit unterscheidet sich aber die Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG von der Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 GG, obgleich diese in der Literatur wiederholt als Parallele bemüht wird. 4 9 3 Das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum setzt begrifflich die einfachrechtliche Zuordnung eines Vermögensgegenstandes (im weitesten Sinne) zu einer Person voraus. Ohne diese inhaltliche Bestimmung, zu der der Gesetzgeber in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich ermächtigt wird, existiert im Rechtssinne kein Eigentum. 494 Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist nicht im gleichen Maße normgeprägt. 495 491 Kluth, in Henneke, Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und Europäischer Union, S. 151 . 492 Vgl. etwa Frenz, Die Verwaltung 1995, S. 33 ; Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 72. Nach Kluth, Grenzen kommunaler Wettbewerbsteilnahme, S. 47 f., weist Art. 28 Abs. 2 GG selbst keine (konkreten) Aufgaben zu. Aus der Garantiefunktion des Art. 28 Abs. 2 GG ließe sich nur entnehmen, dass es jedenfalls einen „vernünftig" bemessenen Aufgabenbereich geben müsse, auf den sich das Selbstverwaltungsrecht beziehen könne, da es ansonsten zu einem nudum ius würde. Die Verfassungsgarantie beziehe sich ausschließlich auf die Verwaltungszuständigkeit für die Aufgabenerfüllung. In dieser Beziehung seien die Gemeinden gegenüber staatlichen Maßnahmen geschützt. Dem ist insoweit zuzustimmen, als Art. 28 Abs. 2 GG den Gemeinden im Verhältnis zum Bürger - in diesem thematischen Zusammenhang stehen die Ausführungen von Kluth - unmittelbar keine Aufgaben und Kompetenzen zuweist. Die Schutzwirkung des Art. 28 Abs. 2 GG ist ausschließlich staatsgerichtet. Siehe auch ders., in Stober, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, S. 23 . 49 3 Vgl. etwa Schoch, VerwArch. 81 (1990), S. 19 ; Schink, S. 81 . 494 Hat der Gesetzgeber aber einmal eine solche Zuordnung vorgenommen, unterliegen spätere gesetzliche Eingriffe in die Eigentumsposition, auch wenn sie diese für die Zukunft

2. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der kommunalen Selbstverwaltung 203

Der Begriff der „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" ist vielmehr ein unbestimmter Verfassungsbegriff, der der Auslegung, nicht aber der einfachrechtlichen Füllung bedarf. Die eingrenzenden Merkmale „örtlich" und „Gemeinschaft" nehmen Bezug auf reale, nicht erst rechtlich zu schaffende Gegebenheiten. Die Auslegung mag sich im Einzelnen als schwierig erweisen, über ihr Ergebnis mag wie in anderen Fällen der Norminterpretation - gestritten werden, sie ist jedenfalls kategorisch von einer konstitutiven Inhaltsbestimmung zu unterscheiden. So hat denn das Bundesverfassungsgericht auch im Rastede-Beschluss in diesem Sinne unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umschrieben als „diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben . . . , die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen". 496 Diese positive Umschreibung wird ergänzt durch das negativ gefasste Merkmal, dass es insoweit auf die Verwaltungskraft der Gemeinde nicht ankommt, und die Feststellung, dass der Kreis der Angelegenheiten je nach Größe der Gemeinde differiert. 497 Auch diese Umschreibung ist noch sehr abstrakt, so dass im Einzelfall durchaus unklar sein mag, ob eine bestimmte Angelegenheit als örtliche anzusehen ist. Diese Frage ist aber mit Hilfe der herkömmlichen Methoden im Wege der Subsumtion zu klären. Es soll hier freilich nicht verkannt werden, dass diese Subsumtion unter den Begriff der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Neben solchen Angelegenheiten, die klar und eindeutig entweder der örtlichen oder der überörtlichen Ebene zugeordnet werden können, gibt es solche, deren Einordnung fraglich bleibt. Die korrekte Zuordnung hat unter Umständen verschiedenste Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die möglicherweise teilweise für die Örtlichkeit, teilweise aber auch für die Überörtlichkeit sprechen mögen. Gegebenenfalls enthält die Entscheidung auch prognostische Elemente, da die weitere Entwicklung zu berücksichtigen ist. Hier entspricht es der Aufgabenverteilung im gewaltengegliederten Staat, dass dem Gesetzgeber insoweit ein Einschätzungsspielraum im Einzelfall zuzusprechen ist, der nicht vollumfänglich der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Gerichte werden sich auf die Prüfung zu beschränken haben, ob der Gesetzgeber von der zutreffenden Definition der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ausgegangen ist, den maßgeblichen Sachverhalt zur Kenntnis genommen und seiner Entscheidung zugrundegelegt hat und im Übrigen seine Einordnung vertretbar erscheint.

gestalten, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes; vgl. BVerfGE 76, 220 . 495 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 ; ders., Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 72 f. 496 BVerfGE 79, 127 . 497 BVerfGE 79, 127 .

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II. Eingriff und Ausgestaltung Ergibt die so skizzierte Auslegung des Begriffs der örtlichen Angelegenheiten und die nachfolgende Subsumtion, dass eine solche Angelegenheit in Rede steht, so hat die Gemeinde sie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in eigener Verantwortung zu regeln. Entzieht der Gesetzgeber diese Angelegenheit den Gemeinden, schränkt er ihre Zuständigkeit ein oder nimmt er den Gemeinden insoweit ein Stück ihrer Eigenverantwortlichkeit 498, so ist dies ein Eingriff in deren verfassungsunmittelbar gewährtes Selbstverwaltungsrecht und keine Ausgestaltung. Einen, wenngleich mittelbaren Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht stellt auch die gesetzliche Übertragung einer zusätzlichen Aufgabe dar, die die kommunalen Mittel beansprucht und dadurch die Kapazitäten zur Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben schmälert. 499 Ein solcher Eingriff ist aufgrund der Ermächtigung in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht a priori unzulässig, er ist allerdings rechtfertigungsbedürftig. Da der Verfassungstext keine spezielleren Schranken erkennen lässt, ist der allgemeine Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke heranzuziehen. Dies gilt auch im Falle eines mittelbaren Eingriffs durch eine gesetzliche Aufgabenüberbürdung. 500 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt in seiner durchgeformten Struktur einen klaren und vorhersehbaren Maßstab, dies im Gegensatz etwa zu der vom Bundesverfassungsgericht im Rastede-Beschluss zum Schutz des sogenannten Randbereichs konstruierten, aber konturenlos bleibenden Pflicht, ein in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG normiertes Aufgabenverteilungsprinzip zu berücksichtigen. Nicht eine solche Berücksichtigungspflicht, sondern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist die wesentlich prägnantere Schranke. 501 Dies zeigt sich letztlich auch daran, dass - wie oben dargelegt - die Berücksichtigungspflicht im Rastede-Beschluss nur unter Rückgriff auf die Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aussagekräftig wird. 5 0 2 498 Siehe hierzu Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 76. 499 Für die Qualifizierung als Eingriff ist irrelevant, ob die kommunalen Mittel „in erheblichem Maße" in Anspruch genommen werden; so aber VerfGH NRW, NWVBL 1993, S. 7 < 9 > ; NWVBL 1996, S. 97 ; NWVB1. 1997, S. 129 . Wie hier indes Rh.-Pf. VerfGH, DÖV 2001, S. 601 ; ebenso Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung, S. 111 ff.; dies., Kommunale Aufgabenträgerschaft, S. 27 f.; Schwarz, NVwZ 1997, S. 237 ; Hufen, DÖV 1998, S. 276 ; Wendt/Elicker, VerwArch. 93 (2002), S. 187 . 500 So auch ausdrücklich Hufen, DÖV 1998, S. 276 .

501 Entgegen Clemens, NVwZ 1990, S. 834 und Mückl, S. 62. 502 Entgegen Waechter, Kommunalrecht, Rn. 153, kann auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranken-Schranke auch nicht verzichtet werden, weil das Willkürverbot und das Gebot gemeindefreundlichen Verhaltens zu denselben Ergebnissen führten. Das Willkürverbot schützt nämlich nicht hinreichend vor unverhältnismäßigen Eingriffen, die alle Gemeinden in gleicher Weise treffen. Das Gebot des gemeindefreundlichen Verhaltens ist gegenüber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits deshalb nicht vorzugswürdig, weil

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Unerheblich ist in diesem Zusammenhang - entgegen anders lautender Auffassung 503 - , ob und inwieweit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG eine subjektive Rechtsposition einräumt. Ein am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messender Eingriff kann auch einen ausschließlich objektiv-rechtlich gewährten Schutzbereich betreffen. Der Rechtfertigungszwang beruht nicht auf der subjektivrechtlichen Ausgestaltung, sondern auf der höherrangigen, weil verfassungsrechtlichen Garantie. 504

III. Aufgabe der Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich Eine weitere Folge des hier vorgestellten Verständnisses der kommunalen Selbstverwaltung ist, dass die Unterscheidung zwischen Kern- und Randbereich, die historisch ihre Berechtigung gehabt haben mag 5 0 5 , aufgegeben werden kann. Sie hat im Verfassungstext keinen Niederschlag gefunden, so dass sie keine zwingende Vorgabe für die Normauslegung darstellt. Es hat sich auch bis in die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 506 erwiesen, dass eine klare Trennlinie zwischen diesen beiden Bereichen nicht auszumachen ist. 5 0 7 Als Kernbereich nur die Allzuständigkeit der Gemeinden zu begreifen 508 , ergibt ebenfalls keinen Erkenntnisgewinn, da dies lediglich die verfassungsunmittelbare Zuständigkeitszuweisung wiederholt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eröffnet hingegen einen flexiblen Lösungsweg, die gegenläufigen Gesichtpunkte jeweils entsprechend zu ihrem Gewicht zum Ausgleich zu bringen: Je mehr ein gesetzlicher Eingriff die Gemeinden in ihrem Wesen, ihrem „Kern" trifft, umso gewichtiger müssen die Beweggründe des Gesetzgebers sein, um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen. 509 Möglicherweise wird sich ein entsprechender Eingriff zur Zweckerreichung bereits nicht als geeignet oder erforderlich erweisen. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne könnte auch die Wertung des Bundesverfassungsgerichts, dass grundsätzlich Gesichtspunkte der Wirtschaftlich-

dieses Gebot weniger strukturiert ist. Insoweit gelten die obigen Ausführungen zum Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens im Verhältnis von Bund und Ländern entsprechend. 503 Vgl. etwa Kenntner, DÖV 1998, S. 701 , der als maßgebliche Prämisse für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die mögliche Beeinträchtigung einer subjektiven Rechtsposition ansieht. So auch Ipsen, ZG 1994, S. 194 . 504 Vgl. Loschelder, S. 28. 505 Vgl. dazu Maurer, DVB1. 1995, S. 1037 ; Kenntner, DÖV 1998, S. 701 . 506 Vgl. BVerfGE 103, 332 hinsichtlich der Planungshoheit. 507 in diesem Sinne auch Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 ; Ipsen, ZG 1994, S. 194 . 508 So BVerfGE 79, 127 . 509 ipsen, ZG 1994, S. 194 .

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keit und der Verwaltungsvereinfachung einen Entzug gemeindlicher Aufgaben nicht rechtfertigen, Berücksichtigung finden. 510

IV. Wandel der tatsächlichen Verhältnisse Freilich kann sich die Zuordnung der Angelegenheiten auf die eine oder andere Ebene im Laufe der Zeit ändern. So können tatsächliche Veränderungen dazu führen, dass eine Angelegenheit aus der örtlichen Ebene gewissermaßen herauswächst, weil sie überörtliche Dimensionen entwickelt hat. 511 Für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung bedeutet das, dass nicht jeder gesetzliche Entzug einer Aufgabe, die einmal eine örtliche Angelegenheit gewesen war, an Art. 28 Abs. 2 GG zu messen ist. Allerdings werden an die Annahme eines solchen Wandels erhöhte Anforderungen zu stellen sein. Bleiben insoweit Zweifel, ob eine solche Angelegenheit ihren spezifischen Bezug zur örtlichen Gemeinschaft durch die tatsächliche Entwicklung verloren hat, so kann in der Praxis diese Frage gegebenenfalls offen bleiben, da wohl regelmäßig die Umstände, die für den Verlust des örtlichen Bezugs sprechen, auch die Hochzonung der örtlichen Angelegenheit am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen vermögen.

V. Die gerichtliche Kontrolle Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist kein starrer Maßstab vorgegeben. Von wesentlicher Bedeutung ist, mit welchem Verbindlichkeitsgrad und vor allem mit welcher Justitiabilität der Grundsatz zur Anwendung gelangt. 512 So kann die Verhältnismäßigkeitsprüfung sowohl hinsichtlich der Einschätzung der tatsächlichen Umstände wie der rechtlichen Bewertung je nach Intensität des zu beurteilenden Eingriffs variieren. Der Gesetzgeber gewinnt durch die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolle bei geringfügigen Eingriffen einen entsprechenden Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum. 513 Je gewichtiger der Eingriff wird, umso intensiver hat das Gericht zu untersuchen, ob dieser den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt.

510 Insoweit ist unverständlich, dass Clemens, NVwZ 1990, S. 834 dies für ausgeschlossen erachtet. 511 Auch insoweit unterscheidet sich die Garantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG von der des Art. 14 Abs. 1 GG, da eine eigentumsrechtliche Position ihren verfassungsrechtlichen Schutz, ebenso wie sie ihn nur durch einen konstitutiven Rechtsakt gewonnen hat, nur durch eine gegenläufige Rechtsänderung verlieren kann. 512 Papier, DVB1. 1984, S. 453 . 513 Vgl. auch Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 ; ders., Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 86.

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VI. Die Notwendigkeit einer Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltung Trotz der verfassungsunmittelbaren Zuweisung eines bestimmten Aufgabenbestandes zur Regelung in eigener Verantwortung stellt sich nicht jede gesetzliche Normierung der gemeindlichen Rechtsverhältnisse als ein Eingriff dar, der am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen wäre. Eine solche Gegenüberstellung von Eingriff und Ausgestaltung in dem Sinne, dass der Gesetzgeber nur das eine oder das andere könne, ist verfehlt. Vielmehr ist der Gesetzgeber auch berufen, die gemeindliche Selbstverwaltung auszugestalten. Diese ist geradezu darauf angewiesen, dass der Gesetzgeber entsprechende Regelungen erlässt. 514 So bedarf die Gemeinde, will sie effektiv handlungsfähig werden, einer organisationsrechtlichen Ausgestaltung. Soweit der Landesgesetzgeber die entsprechenden kommunalverfassungsrechtlichen Normen erlässt, greift er nicht in die kommunale Selbstverwaltung ein, sondern gestaltet sie. 515 Er ist in dieser Tätigkeit frei, soweit er die gemeindeinternen Entscheidungszuständigkeiten regelt und die Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit der Gemeinden nach außen schafft. Auch eine Umstrukturierung der internen Organisation, wie sie etwa die Abschaffung der kommunalen Doppelspitze in Nordrhein-Westfalen und anderen Ländern darstellt, ist nicht als Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung zu qualifizieren. Dienen jedoch organisatorische Vorgaben im Gesetz nicht der Herstellung und Wahrung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Gemeinden, sondern anderen nicht-gemeindlichen Zwecken, und schränken sie zugleich die Eigenverantwortung der Gemeinde, die sich auch auf die interne Organisation im gesetzlichen Rahmen bezieht, ein, so sind sie als Eingriffe rechtfertigungsbedürftig. Dies gilt etwa für die gesetzliche Oktroyierung einer Frauenbeauftragten. Ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt ist, ist dann wiederum am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen.516

514 Ehlers, DVB1. 2000, S. 1301 ; ders., Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, S. 79 ff. 515 Löwer, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rn. 59. 516 Vgl. NdsStGH, NVwZ 1997, S. 58 ; VerfGH NRW, NWVB1. 2002, S. 101 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

3. Kapitel

Begrenzung der Kreditaufnahme nach Art. 115 Abs. 1 G G A. Die Unterscheidung zwischen Normal- und Störungslage Art. 115 Abs. 1 Satz 1 GG macht die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, von einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung des Bundesgesetzgebers abhängig. Dieser Vorbehalt einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung sichert das Budgetrecht des Parlaments. 517 Der Vorbehalt macht deutlich, dass die Entscheidung über die Kreditaufnahme auch wegen der fundamentalen Bedeutung der Kreditpolitik für die Wirtschaftsentwicklung ausschließlich dem Parlament zusteht. Zusätzlich zielt das Erfordernis eines förmlichen Gesetzes auf Publizität. Durch die gesetzliche Ermächtigung soll die öffentliche Aufmerksamkeit gesichert und zugleich wegen der Zukunftsbelastenden Folgewirkungen einer Kreditaufnahme ein Warnsignal gesetzt werden. 518 Neben diesen formellen Anforderungen an eine Kreditaufnahme zieht das Grundgesetz der Staatsverschuldung auch materielle Grenzen. So bestimmt Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG, dass die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfen. 519 Ausnahmen sind nach Halbsatz 2 des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Die Verfassung unterscheidet in diesen beiden Halbsätzen mithin zwischen einer Normallage und einer Störungslage des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Für die Normallage hat der Gesetzgeber neben der in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG normierten Kreditobergrenze die sich aus Art. 109 Abs. 2 GG ergebenden Vorgaben zu beachten.520 Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG soll den 517 Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 1. 518 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 ; ders., DVB1. 1996, S. 173; Wendt, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 115 Rn. 14. 519 Vgl. Friauf, HStR IV, § 91 Rn. 31; Wendt, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 115 Rn. 29; a.A. Brenner/Haury/Lipp, FinArch. 38 (1980), S. 236 , die als Maßstab für die Staatsverschuldung allein Art. 109 Abs. 2 GG ansehen. Dies widerspricht jedoch dem vom Verfassungsgesetzgeber mit der Einfügung von Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG verfolgten Zweck, die Kreditaufnahme zusätzlich zu begrenzen; vgl. BT-Drucks. V/3605; siehe auch v. Arnim/Weinberg, S. 120. 520 Friauf, HStR IV, § 91 Rn. 31; Wendt, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 115 Rn. 28. Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, S. 12, vertritt hingegen die Ansicht, dass Art. 115

3. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Haushaltsverfassungsrecht

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haushaltswirtschaftlichen Vorgriff auf zukünftige Einnahmen dadurch begrenzen, dass der Kredit nur im Umfang der Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter in Anspruch genommen werden darf. 5 2 1 Die sich aus der Kreditaufnahme ergebenden zukünftigen Belastungen der späteren Generationen werden auf diese Weise durch die ebenfalls in die Zukunft wirkenden Begünstigungen zumindest der Intention nach aufgewogen. 522 Nach Art. 109 Abs. 2 GG hat der Bund - dasselbe gilt für die Länder - bei seiner Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Dabei hat es der verfassungsändernde Gesetzgeber bewusst unterlassen, den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verfassungskräftig zu definieren. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 109 Abs. 2 GG geht jedoch hervor, dass der Verfassungsgesetzgeber in der zeitgleich entstandenen Vorschrift des § 1 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 523 eine zutreffende Definition des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gesehen hat. 5 2 4 Danach wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht durch vier Teilziele bestimmt: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht gestört, kann es geboten sein, die Kreditaufnahme auch unterhalb der Obergrenze, die Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG normiert, zu halten. 525 Aus Art. 109 Abs. 2 GG kann sich darüber hinaus sogar die verfassungsrechtliche Verpflichtung ergeben, eine im gesamtwirtschaftlichen Interesse eingegangene erhebliche Verschuldung zurückzuführen, falls die Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein solches Haushaltsgebaren verlangt. 526 In der konjunkturellen Normallage bezeichnen also sowohl die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gemäß Art. 109 Abs. 2 GG als auch die Summe der veranschlagten Investitionsausgaben gemäß Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG die Obergrenze der Kreditaufnahme, Abs. 1 Satz 2 GG als speziell für die Kreditaufnahme geltende Norm die allgemeine Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG verdränge. Diese Auffassung hat keine Zustimmung erfahren. Sie widerspricht der erklärten Absicht des verfassungsändernden Gesetzgebers, der davon ausging, dass Art. 109 Abs. 2 GG auch weiterhin für die Kreditaufnahme gilt; vgl. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. V / 3040, S. 39 (TZ 60); siehe auch v. Arnim/ Weinberg, S. 118 ff. 521

BVerfGE 79, 311 . Das Bundesverfassungsgericht weist an dieser Stelle zutreffend darauf hin, dass die Effektivität dieser Begrenzung maßgeblich von dem Begriff der Investition abhängt, den die Verfassung allerdings nicht definiert. Erkennbar kann durch einen weiten Investitionsbegriff die begrenzende Wirkung der Norm unterlaufen werden. 522 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 , der allerdings zu Recht darauf hinweist, dass die künftigen Lasten allemal sicherer seien als die künftigen Vorzüge; Birk, DVB1. 1984, S. 745 ; Kirchhof, Grenzen der Staatsverschuldung, S. 271 ; Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 28; Friauf, HStR IV, § 91 Rn. 20. 523 BGBl. I S. 582. 524 BVerfGE 79, 311 . 5 25 Wiebel, in Bonner Kommentar, GG, Art. 115 Rn. 113. 526 BVerfGE 79, 311 ; Friauf HStR IV, § 91 Rn. 34. 14 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefige des Grundgesetzes

je nachdem welche Vorschrift nach der jeweiligen Sachlage die engere Grenze setzt. 527 Ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört, lässt der zweite Halbsatz des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG eine Ausnahme von der im ersten Halbsatz dieser Vorschrift normierten Begrenzung der Kreditaufnahme zu. Die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erhält in diesem Zusammenhang eine zweifache Bedeutung. Die Störung ist nicht nur tatbestandliche Voraussetzung für die mögliche Überschreitung der im vorangegangenen Halbsatz normierten Kreditobergrenze, sondern ihre Beseitigung und damit die Wiederherstellung des Gleichgewichts ist zugleich das vorgegebene Ziel für die Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung. 528 Es reicht nicht aus, dass eine erhöhte Kreditaufnahme durch eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts veranlasst ist, sie muss darüber hinaus auch final auf die Abwehr dieser Störung bezogen sein. 529 In diesem Sinne ist Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG störungsfinal konzipiert. 530 Daher muss die erhöhte Kreditaufnahme auch nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Dabei bezieht sich die geforderte Eignung zur Störungsabwehr nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auf die mit der erhöhten Kreditaufnahme finanzierten Zwecke insgesamt, nicht auf verschiedene Einzelposten des Haushalts.531

B. Die verschiedenen Konzeptionen zur Beschränkung der Kreditaufnahme Besteht in der Diskussion um die verfassungsrechtliche Limitierung der Kreditaufnahme im Falle einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, soweit es um die Eignung der investitionsüberschreitenden Kreditaufnahme zur Störungsbeseitigung geht, weithin Einigkeit, so gilt dies nicht mehr für die Frage, welche weiteren, vom Gesetzgeber zu beachtenden Begrenzungen der Verfassung zu entnehmen sind. Insbesondere ist umstritten, welche Bedeutung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in diesem Bereich als Kompetenzausübungsschranke zukommt.

527 Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 29; Wendt, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 115 Rn. 29. Isensee, DVB1. 1996, S. 173 weist zutreffend darauf hin, dass auch die Exekutive beim Haushaltsvollzug an das Investitions-Junktim gebunden ist; siehe hierzu auch Kriszeleit/Meuthen, DÖV 1995, S. 461 ff. 528 BVerfGE 79, 311 . 529 BVerfGE 79, 311 . 530 So die Antragsteller im Verfahren 2 BvF 1/82; vgl. BVerfGE 79, 311 . 531 BVerfGE 79, 311 .

3. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Haushalts verfassungsrecht

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I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht stellt dezidiert fest, über die soeben beschriebene Eignung hinaus sehe Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG keine weiteren Einschränkungen vor. 5 3 2 Der Vorschrift könne nicht entnommen werden, dass eine Kreditfinanzierung konsumtiver Ausgaben nur unter Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfolgen dürfe. Dafür fehle es an einer entsprechenden Konstellation. Die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und die Begrenzung der Kreditaufnahme auf Investitionsausgaben stünden sich nicht wie eingreifende Maßnahme oder Gesetzesregelung und davon betroffener Rechts- oder Freiheitsbereich, in den nur verhältnismäßig eingegriffen werden dürfe, gegenüber. Kreditbegrenzung auf die Summe der Investitionsausgaben und Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts stellten beide gewichtige öffentliche Interessen und verbindliche Orientierungen im Sinne der Erreichung des Gemeinwohls dar. Habe der Verfassungsgesetzgeber für den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu deren Abwehr Ausnahmen von der Kreditbegrenzungsvorschrift eröffnet, stehe diese Handlungsmöglichkeit neben derjenigen der Einhaltung der Kreditobergrenze. Zu welchen von mehreren geeigneten Mitteln zur Störungsabwehr der Gesetzgeber greife, sei eine Abwägungsfrage. Sie sei offen für die Berücksichtigung anderer öffentlicher Interessen, insbesondere jener, die sich aus weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten der Bundesrepublik Deutschland ergäben, sowie für Erwägungen allgemein- oder sozialpolitischer Art. Diese Abwägung vorzunehmen, sei eine politische Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, die er auch politisch zu verantworten habe. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Maßstab würde die Befugnis des Haushaltsgesetzgebers auf die Ermessensausübung einer Verwaltungsbehörde reduzieren. Dies entspreche nicht dem Willen der Verfassung. Denn sie räume dem Gesetzgeber, soweit es sich nicht um Eingriffe in Rechts- oder Freiheitsbereiche handele, gerade einen Gestaltungsfreiraum für politisches Handeln ein, dem sie nur einen Rahmen setze. Innerhalb dieses Rahmens sei der Gesetzgeber befugt, politische Entscheidungen zu treffen. Das bedeute, dass die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers, eine bevorstehende oder eingetretene Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch eine Kreditfinanzierung konsumtiver Ausgaben zu bekämpfen, zwar hierzu geeignet sein müsse, dass unter mehreren geeigneten Mitteln jedoch keine Abstufung im Sinne einer Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu treffen sei. 533 Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Haushaltsgesetzgeber im Hinblick auf die Eignung der Abwehrmaßnahme - wie im Übrigen auch hinsichtlich der vorrangigen Beurteilung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder droht - einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum ein. Den Gesetzgeber treffe im Gesetzgebungsverfahren eine Darlegungslast für die Erfüllung der Voraussetzungen des 532 BVerfGE 79, 311 . 533 BVerfGE 79, 311 . 14*

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG. Dem Bundesverfassungsgericht obliege i m Streitfall allein die Prüfung, ob die Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar s e i . 5 3 4

II. Der Meinungsstand im Schrifttum Im Schrifttum ist die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere auch der Ausschluss einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Teil auf Zustimmung gestoßen. 535 Nach anderer Auffassung sind der Verfassung jedoch weiter gehende normative, die Kreditaufnahme begrenzende Direktiven zu entnehmen. 5 3 6 Isensee benennt neben der tatbestandlichen Voraussetzung einer Störungslage mehrere materielle Kautelen. So müsse die erhöhte Kreditaufnahme zunächst dazu bestimmt sein, die Störung abzuwehren und das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht tunlichst rasch wiederherzustellen (Zweckwidmung). 5 3 7 Die Kreditaufnahme müsse zudem - wie auch vom Bundesverfassungsgericht gefordert - geeignet sein, den vorgegebenen Zweck zu erreichen (Zwecktauglichkeit). 5 3 8 Die kreditpolitische Maßnahme sei zudem situationsgebunden und dürfe nicht länger ausgeübt werden, als die Störungslage andauere. 5 3 9 Freilich lässt sich diese aus der Situationsbegrenztheit ergebende Schranke bereits aus der tatbestandlichen Voraussetzung des Vorliegens einer Störungslage ableiten, da mit deren Wegfall die Kreditaufnahme unter Überschreitung der Obergrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG bereits aus diesem Grund unzulässig ist. Eine weiter gehende wesentliche Einschränkung erfährt der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers indes nach Isensee durch das Prinzip der Erforderlichkeit, dem die erhöhte Kreditaufnahme entsprechen müsse. Die Neuverschuldung zur Deckung konsumtiver Ausgaben sei die ultima ratio der Finanzverfassung. Sie sei verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn eine ebenso zwecktaugliche Alternative nicht verfügbar sei. Als insoweit vorrangige Alternativen kämen neben der Hebung der Investitionsmittel wegen der damit verbundenen Ausweitung des regulären Kreditrahmens die Kürzung der Ausgabensätze und eine Erhöhung der Steuern in Betracht. Entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts liege eine Zweck-Mittel-Relation, die eine Anwendung des 534 BVerfGE 79, 311 . 535 Vgl. etwa Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 290 ff.; Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 10, 43 ff.; Heun, in Dreier, GG, Art. 115 Rn. 26; ders., Die Verwaltung 1985, S. 1 ; Bröcker, S. 86; Patzig, DÖV 1989, S. 1022 ; Janssen, DVB1. 1989, S. 618. 536 Henseler, AöR 108 (1983), S. 489 ; Kirchhof, Grenzen der Staatsverschuldung, S. 271 ; Isensee, in FS für Friauf, S. 705 ; Birk, DVB1. 1984, S. 745 ; v. Arnim/Weinberg, S. 130 f. 537 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 . 538 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 ; so auch v. Arnim/Weinberg, S. 130; Wendt/ Elicker, DVB1. 2001, S. 497 . 539 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 .

3. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Haushaltsverfassungsrecht

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Übermaßverbotes zulasse, vor. Zweck sei die Wiederherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, Mittel der Rückgriff auf ein Ausnahmeinstrument. Ehe der Haushaltsgesetzgeber auf den investitionsunabhängigen Kredit zurückgreifen dürfe, müsse er prüfen, ob er sein Ziel nicht auf normalen haushaltspolitischen Wegen erreichen könne. 540 Auch Isensee billigt dem Gesetzgeber bei Anwendung der Kriterien des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG die Entscheidungsprärogative zu, da sowohl die Diagnose der tatsächlichen Lage als auch die Prognose über die Eignung der erhöhten Kreditaufnahme zur Störungsabwehr eine politische Einschätzung verlange. Dieser Entscheidungsprärogative korrespondiere jedoch - wie auch das Bundesverfassungsgericht deduziert habe - eine besondere, dem Grundgesetz ansonsten fremde Darlegungslast des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren. Nur so könne die Justitiabilität der Entscheidung gewahrt werden, da nur so dem Bundesverfassungsgericht eine Plausibilitätskontrolle ermöglicht werde. 541 Während Isensee dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne „praktisch nur geringe Bedeutung" zumisst 5 4 2 , sehen einige Autoren den Gesetzgeber auch durch diesen Teilgrundsatz in seiner Entscheidungsfreiheit beschränkt. 543 Art. 109 Abs. 2 GG stelle die zulässige Kreditaufnahme unter ein finanzwirtschaftliches Übermaßverbot, aufgrund dessen das Mittel der Kreditaufnahme zu dem angestrebten Zweck, der Erreichung oder Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, in einem angemessenen Verhältnis stehen müsse. Art. 109 Abs. 2 GG schaffe damit eine qualitative Begrenzung der öffentlichen Verschuldung, indem er den Gesetzgeber verpflichte, die Wirkungen der Kreditaufnahme mit den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzustimmen. 544 Aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit ergebe sich, dass Lasten und Nutzen des finanzwirtschaftlichen Handelns des Staates zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen müssten. Es gehe um die Relation zweier Größen, nämlich die der negativen Folgen der Kreditaufnahme auf die zukünftige öffentliche Finanzwirtschaft und der positiven Folgen im Hinblick auf die Erreichung der Zielgröße des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.545 Durch Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG werde eine zusätzliche quantitative Begrenzung eingeführt, welche die Funktion habe, das für die Kreditaufnahme geltende finanzwirtschaftliche Übermaßverbot zu konturieren. Die mit der Investitionssumme bezeichnete Regelgrenze zeige den Betrag an, bei dessen Erreichen die Neuverschuldung spätestens das 540 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 ; vgl. auch Henseler, AöR 108 (1983), S. 489 ; Kirchhof, Grenzen der Staatsverschuldung, S. 271 ; Birk, DVB1. 1984, S. 745 . 541 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 ; vgl. auch Henseler, AöR 108 (1983), S. 489 ; Friauf, HStR IV, § 91 Rn. 56 f. 542 Isensee, in FS für Friauf, S. 705 . 543 Wiebel, in Bonner Kommentar, GG, Art. 115 Rn. 105, 116; Birk, DVB1. 1984, S. 745 ; Woljfgang, DVB1. 1984, S. 1049 ; v. Arnim/Weinberg, S. 131. 544 Birk, DVB1. 1984, S. 745 ; so auch v. Arnim/Weinberg, S. 131. 545 Birk, DVB1. 1984, S. 745 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

finanzwirtschaftliche Übermaßverbot verletze, soweit nicht der Ausnahmefall des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG vorliege. Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG erleichtere damit die Anwendung des finanzwirtschaftlichen Übermaßverbotes, indem er die verfassungsgesetzliche Vermutung aufstelle, dass ein Haushaltsgesetz, welches die Regelgrenze beachte, dem Verbot genüge. Überschreite die Summe der Kreditaufnahme hingegen die Investitionssumme, bestehe von Verfassungs wegen die Vermutung, dass das Haushaltsgesetz das Übermaßverbot verletze und daher verfassungswidrig sei. Unterhalb der Grenze der Investitionssumme habe der Gesetzgeber danach einen weiten Abwägungsspielraum, um Mittel und Zweck ins rechte Verhältnis zu setzen. Je mehr er sich allerdings der Investitionssumme nähere, desto enger werde dieser Spielraum, so dass er mit dem Überschreiten der Investitionssumme schließlich unter eine besondere verfassungsgesetzliche Darlegungspflicht gestellt werde. In diesem Ausnahmefall müssten sich aus dem Inhalt des Haushaltsplans und den Materialien der Haushaltsberatungen die Gründe ergeben, dass gerade das Mittel der erhöhten Kreditaufnahme nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch angemessen sei, um eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. 546 Im Rahmen der gebotenen Abwägung sei als Rechtsgut auf der Schadensseite das für die Bundesrepublik Deutschland schlechthin konstituierende demokratische Prinzip zu beachten. Durch die Aufnahme von Krediten entscheide nämlich das Parlament im Vorgriff über die Inanspruchnahme künftiger Einnahmen und enge damit zwangsläufig den Gestaltungsspielraum späterer Volks Vertretungen ein. 5 4 7

C. Der Geltungsbereich des Verbots des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG Die soeben vorgestellten Grundkonzeptionen unterscheiden sich, ohne dass dies in der Diskussion immer hinreichend klar würde, im Wesentlichen dadurch, dass dem Verbot des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG eine unterschiedliche Reichweite beigemessen wird. Das Bundesverfassungsgericht und die ihm folgende Literatur nehmen an, bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts dispensiere die Verfassung selbst unmittelbar von der Einhaltung der in dieser Norm bezeichneten Kreditobergrenze. Das in dieser Vorschrift enthaltene Verbot, bei der Kreditaufnahme die Grenze der Investitionssumme zu überschreiten, gelte im Falle einer Störungslage von vornherein nicht mehr. 548 Konsequent wird die Zulässigkeit der Kreditaufnahme auch nicht an diesem grundsätzlichen Verbot gemessen. Folgerichtig kann 546 Birk, DVB1. 1984, S. 745 . 547 Birk, DVB1. 1984, S. 745 . 548 So bereits zuvor ausdrücklich Heun, Die Verwaltung 1985, S. 1 ; Wiebel, in Bonner Kommentar, GG, Art. 115 Rn. 95 ff.

3. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Haushaltsverfassungsrecht

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daher bereits aus diesem Grund ein Abweichen von der dort normierten Kreditobergrenze nicht auf seine Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne überprüft werden. Soweit in der Literatur eine über die Eignungskontrolle hinausgehende Verhältnismäßigkeitsprüfung befürwortet wird, setzt dies denknotwendig voraus, dass das in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG enthaltene grundsätzliche Verbot, die dort genannte Kreditobergrenze zu überschreiten, auch in der Störungslage seine Gültigkeit behält. Halbsatz 2 des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG dispensiert danach nicht von vornherein von diesem Verbot, sondern beseitigt nur dessen strikte Geltung, die ihm in der Normallage zukommt. Gilt das Verbot aber auch in der Störungslage fort, müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein, um ausnahmsweise ein Überschreiten der dort normierten Kreditobergrenze zu rechtfertigen. Die Störungslage als solche ist insoweit notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Ist letztere, im Widerstreit mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehende Auffassung richtig, bestehen keine dogmatischen Bedenken, die weiteren Bedingungen für eine die Investitionssumme überschreitende Schuldenaufnahme dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu entnehmen. Denn das in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG normierte Verbot lässt sich als verbindliche Sachentscheidung des Verfassungsgesetzgebers begreifen, mit der er einen inhaltlich fest umrissenen Bereich verfassungsunmittelbar bezeichnet hat. In Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG ermächtigt die Verfassung den Gesetzgeber, von diesem Verbot abzuweichen. Das entsprechende Gesetz lässt sich ohne weiteres als Eingriff qualifizieren, da hier durch einen Rechtsakt niederen Ranges das verfassungsunmittelbare Verbot im konkreten Anwendungsfall verkürzt wird. Liegt demnach ein Eingriff in diesem Sinne vor, so steht einer Verhältnismäßigkeitsprüfung strukturell nichts mehr entgegen. Dass es sich bei dem Verbot des Art. 115 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GG um eine inhaltliche Vorgabe für die handelnden Organe handelt, hindert eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht. Dieser Umstand berührt weder die strukturellen Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Grundsatzes noch dessen Geltungsgrundlage, da es auch hier darum geht, die normative Entscheidung der Verfassung für die Limitierung der Kreditaufnahme möglichst effektiv werden zu lassen. Da keine normspezifischen Schranken ersichtlich sind, ist es angezeigt, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeine Schranke zurückzugreifen. Die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hängt damit maßgeblich von der Beantwortung der Frage ab, ob das Verbot des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG auch bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Geltung beansprucht. Das Bundesverfassungsgericht stützt seine Auffassung, bei einer Störungslage entfalle die in Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG normierte Kreditobergrenze, im Wesentlichen auf die Vorstellungen, die den verfassungsändernden Gesetzgeber bei seiner Finanzreform in den Jahren 1967/1969 geleitet hätten. Dem im Jahre

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1967 eingefügten Art. 109 Abs. 2 GG habe - so das Bundesverfassungsgericht die auf der ökonomischen Theorie von J. M. Keynes beruhende Auffassung zugrunde gelegen, der Ablauf der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden kontinuierlichen Konjunkturzyklen lasse sich durch fiskalpolitische Maßnahmen des Staates beeinflussen. Daher sei es ökonomisch angezeigt und politisch geboten, die staatliche Haushalts- und Finanzpolitik im Interesse der Konjunkturstabilisierung auf eine antizyklische Steuerung des Konjunkturablaufs auszurichten und ihr dazu die notwendigen rechtlichen Instrumentarien zu verschaffen. 549 Der verfassungsändernde Gesetzgeber des Jahres 1969 habe aus diesem Funktionswandel der öffentlichen Haushalte Konsequenzen auch für das Haushaltsrecht gezogen und insbesondere auch Art. 115 Abs. 1 GG entsprechend geändert. Die Verwirklichung der antizyklischen Finanzpolitik erfordere es, Parlament und Regierung im Falle der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts die Möglichkeit zu geben, unabhängig von der Höhe der Investitionen Kredite zu konsumtiven Zwecken aufzunehmen, um so einem Konjunkturabschwung entgegenzuwirken. 550 Zwar sei - wie das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt - die Theorie der antizyklischen Finanzpolitik alsbald in die Kritik geraten, insbesondere auch wegen der zu beobachtenden Funktionsschwäche des fiskalpolitischen Instrumentariums bei der Rückführung zuvor entstandener Verschuldung. 551 Gleichwohl habe der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Kritik nicht zum Anlass genommen, das Grundgesetz erneut entsprechend den neuen Erkenntnissen zu ändern, so dass vorerst von den Vorstellungen auszugehen sei, die für die Verfassungsreform am Ende der 1960er Jahre maßgeblich gewesen seien. Diese strikte Bindung an die Vorstellungen des verfassungsändernden Gesetzgebers begegnet durchgreifenden Bedenken. Das Bundesverfassungsgericht hat selbst ausdrücklich, freilich mit Blick auf ein einfaches Gesetz, festgestellt, maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift sei der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang, in den diese hineingestellt sei, ergebe. Nicht entscheidend sei dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. 552 Folgt man dieser objektiven Auslegungsmethode auch für die Auslegung verfassungsrechtlicher Normen, 553 so kann den Vorstellungen des historischen Verfassungsgesetzgebers im Rahmen der Norminterpretation zumindest nicht das Gewicht zukommen, das das Bundesverfassungsgericht ihnen 549 BVerfGE 79, 311 . 550 BVerfGE 79, 311 . 551 BVerfGE 79, 311 . Das Gericht verweist in diesem Kontext auch auf den in den Wirtschaftswissenschaften vordringenden Monetarismus, dem eine an der Investitionsbereitschaft der Unternehmen ansetzende Angebotspolitik entspricht. 552 BVerfGE 1, 299 . 553 Nach Maurer, Staatsrecht, § 1 Rn. 49, ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die objektive Auslegungsmethode zugrunde zu legen ist. Ebenso v. Münch, Staatsrecht, Rn. 38.

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beimisst, wenn sie nicht ausdrücklich ihren Niederschlag im Verfassungstext gefunden haben. Ist dies so, erscheint es insbesondere dann geboten, sich von den historischen Vorstellungen zu lösen, wenn die nachfolgende Entwicklung gezeigt hat, dass die Erwartungen des Verfassungsgesetzgebers verfehlt waren. Kommt eine Verfassungsinterpretation, die an den Vorstellungen des jeweiligen Normgebers haftet, aufgrund der sich abzeichnenden Fehlentwicklungen in Konflikt mit anderen Wertentscheidungen der Verfassung, ist es sogar zwingend geboten, sich von diesen subjektiven Vorstellungen des Normgebers zu lösen. Offenkundig waren die Erwartungen des verfassungsändernden Gesetzgebers, der Haushaltsgesetzgeber werde die zur Nachfrageausweitung aufgenommenen Schulden innerhalb eines Zyklus wieder abbauen, verfehlt. 554 Es haben sich stattdessen im Laufe der Jahre, und zwar unabhängig von den Sonderlasten, die mit der Wiedervereinigung verbunden waren, immer weitere Schulden angehäuft. 555 Im Interesse einer wirksamen Begrenzung der Verschuldung erscheint es daher notwendig, dem Haushaltsgesetzgeber möglichst strikte Grenzen zu setzen.556 Dabei handelt es sich auch nicht um eine bloß finanz- oder wirtschaftspolitische Forderung. Dieses Gebot ergibt sich vielmehr unmittelbar aus der Verfassung. Es ist dies weniger die Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine demokratische Ordnung. Die damit verbundene Idee der Herrschaft auf Zeit steht zwar in einem grundsätzlichen Konflikt mit jeder Kreditaufnahme, die zu Rückzahlungspflichten auch nach Ablauf der jeweiligen Wahlperiode führt. Eine solche Kreditaufnahme hat notwendig zur Folge, dass der finanzpolitische Spielraum des künftigen Parlaments aufgrund der Tilgungs- und Zinsleistungen, die zur Abtragung der zuvor aufgenommenen Schuld aufgebracht werden müssen, eingeschränkt ist. Dieser Konflikt besteht letztlich aber auch im Falle einer Kreditaufnahme zu investiven Zwecken, die in Folgejahren Nutzen zeitigen. Auch hier wird die Entscheidungsfreiheit des späteren Parlaments eingeengt. Es ist indes offensichtlich, dass ein auf Zeit gewähltes Parlament auch Entscheidungen über seine eigene Wahlperiode hinaus treffen muss. Anders wäre eine geordnete langfristige Planung und Steuerung des Staates schier unmöglich. 557 Dies gilt für finanzpolitische Entscheidungen ebenso wie für andere Sachentscheidungen, etwa im Bereich der Energie- oder Verteidigungspolitik, aber auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Entsprechend hat auch das Grundgesetz derartige vorgreifende Entscheidungen zuge554

Vgl. insbesondere Halstenberg, S. 44. 555 Vgl. Wendt, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 115 Rn. 8 f. Siehe zur Entwicklung der Schulden auch Henneke, NdsVBl. 1997, S. 25 ; Kirchhof, DVB1. 2002, S. 1569. Besondere Beachtung verdient insoweit insbesondere auch die Tendenz, Schulden in Sondervermögen zu organisieren, um so die Kreditlimitierung der Verfassung zu umgehen; vgl. zu den Schulden in Sondervermögen des Bundes BMF, Finanzbericht 2003, S. 51 ff. Siehe zur dogmatischen Einordnung solcher Nebenhaushalte, ihrer Rechtfertigung und den bei ihrer Errichtung zu beachtenden Schranken Kilian, Nebenhaushalte des Bundes. 556 Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 13. 557 Friauf HStR IV, § 91 Rn. 59.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

lassen, wie Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG entnommen werden kann. 558 Die dort normierte Kreditobergrenze dient denn auch nicht so sehr der zeitlichen Limitierung der Folgen von Herrschaft, sondern bezweckt, wie oben dargestellt, künftige Generationen von Lasten freizuhalten, deren Nutzen ausschließlich oder überwiegend ihren „Vorfahren" zugute gekommen ist. 5 5 9 Zugrunde liegt dem die Verpflichtung des Staates, mit den vorhandenen Ressourcen so umzugehen, dass dies gegenüber den kommenden Generationen verantwortet werden kann. 560 Dieser allgemeine Grundsatz ist in Art. 20 a GG im Hinblick auf die natürlichen Lebensgrundlagen ausdrücklich formuliert worden; 561 im Übrigen ist er ungeschriebener Bestandteil des Grundgesetzes. Für den Einzelnen ist die Verpflichtung zur Sorge für die künftige Generation in der Verfassung lediglich in Art. 6 Abs. 2 GG ausdrücklich normiert; darüber hinaus handelt es sich, soweit nicht einfachrechtlich normiert, um eine nicht einforderbare Verfassungserwartung an den Einzelnen, dass er von seiner Freiheit einen generationenverträglichen Gebrauch macht. Für den Staat ist es hingegen eine Rechtspflicht, das Wohl der künftigen Generationen bei seinen Entscheidungen im Blick zu behalten. 562 Diese rechtlich eingeforderte Verantwortung ist der maßgebliche verfassungsrechtliche Gesichtspunkt, der sogar bei einer Störung der aktuellen gesamtwirtschaftlichen Lage die Aufnahme von Krediten zu konsumtiven Zwecken als ultima ratio erscheinen lässt und so grundsätzlich zur Einhaltung der Kreditobergrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG zwingt. Ein Abweichen von diesem Verbot, mithin ein Eingriff in die verfassungsunmittelbare Entscheidung, ist daher nur unter den weiteren Voraussetzungen zulässig, dass die erhöhte Kreditaufnahme erforderlich und auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Diese erhöhten Rechtfertigungsanforderungen stehen keineswegs in Widerspruch zu der Zielvorgabe des Art. 109 Abs. 2 GG. Denn die Wahrung oder Herstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bleibt ein verfassungslegitimes Ziel, dessen Erreichung die erhöhte Kreditaufnahme unter Überschreitung der Grenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG rechtfertigen kann, freilich nur unter den weiteren sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen. Danach hat der Haushaltsgesetzgeber zu prüfen, ob er die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht ohne Überschreitung dieser Kreditobergrenze beseitigen kann. Als mildere Mittel sind möglicherweise neben einer Kürzung anderer Ausgaben und einer Erhöhung von Abgaben insbesondere auch 558 BVerfGE 79, 311 ; Siekmann, in Sachs, GG, Art. 115 Rn. 11. 559 Wendt, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 115 Rn. 3 ff., insbesondere Rn. 11 ff. 560 Vgl. Kirchhof, DVB1. 2002, S. 1569 . 561 Isensee, in FS für Friauf, S 705 ; Wendt, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 115 Rn. 11. 562 Insoweit greift Kirchhof, DVB1. 2002, S. 1569 zu kurz, wenn er die geforderte Gerechtigkeit zwischen den Generationen nur als „die moralische Seite des Staatskredits" bezeichnet. Dem Staat obliegt die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen - auch bei Gestaltung der Finanzpolitik - als Rechtspflicht.

3. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Haushaltsverfassungsrecht

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die Steigerung der investiven Ausgaben anzusehen. Das letztgenannte Mittel hat zur Folge, dass sich die Kreditobergrenze entsprechend verschiebt und in diesem Umfang eine erhöhte Kreditaufnahme erlaubt; die Erhöhung der Einnahmen durch Steuern oder andere Abgaben macht die Schuldenaufnahme insoweit überflüssig. Erweisen sich diese Instrumentarien als ungeeignet zur Beseitigung einer Störungslage, scheiden sie auch als mildere Mittel aus. In diesem Fall bleibt für den Haushaltsgesetzgeber allein die Prüfung, ob die Überschreitung der Kreditobergrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 GG bei Abwägung mit dem erstrebten Ziel, die Störungslage zu beseitigen, zu rechtfertigen ist. Je schwerer die auf die kommenden Generationen überbordeten Lasten wiegen, um so zurückhaltender muss der Gesetzgeber bei der Aufnahme von Krediten zu konsumtiven Zwecken sein.

D. Gerichtliche Kontrolle und Darlegungslast des Gesetzgebers Die Erwägungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind äußerst komplex. Bereits die Einschätzung der tatsächlichen Lage sowie die Prognose über die künftige Entwicklung verlangen vom Haushaltsgesetzgeber umfassende Wertungen. Zwar kann dessen Entscheidung nicht vollkommen von einer gerichtlichen Kontrolle freigestellt werden, da andernfalls nicht auszuschließen wäre, dass sich das Parlament über die Bindungen der Verfassung hinwegsetzte. Diese Gefahr sollte nicht unterschätzt werden, da die Abgeordneten immer auch die nächste Wahl im Auge haben und deshalb der Versuchung erliegen können, um die Wiederwahl zu sichern, Wohltaten an die derzeitigen Wähler zu verteilen, indes die finanziellen Lasten in die Zukunft zu verschieben. 563 Zugleich ist aber auch offenkundig, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Prognose- und Wertungsspielraum belassen muss, der kaum abstrakt präzise beschrieben werden kann. Um dieses Dilemma aufzulösen, erscheint es in der Tat - wie auch vom Bundesverfassungsgericht judiziert - angezeigt, dem Gesetzgeber eine Darlegungspflicht aufzuerlegen, die ihn nicht nur in einem sich möglicherweise anschließenden gerichtlichen Verfahren trifft, sondern ihn bereits bei Erlass des Gesetzes zwingt, sich selbst Rechenschaft in rationaler und formalisierter Form über die beabsichtigte Kreditaufnahme zu geben. Das Bundesverfassungsgericht hat im Streitfall diese Überlegungen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Wenn dagegen eingewandt wird, dass der Gesetzgeber mit einer solchen Darlegung überfordert und kein Gewinn für die gerichtliche Kontrolle erkennbar sei, und statt dessen auf den politischen Widerstand verwiesen wird, der eine erhöhte Verschuldung abwehren könne 5 6 4 , vermag diese Kritik nicht zu überzeugen. Sie überschätzt nicht nur - wie die 563 Göke, NdsVBl. 1996, S. 1 < 6 > ; Kirchhof, DVB1. 2002, S. 1569 . 564 So Heun, in Dreier, GG, Art. 115 Rn. 28 ff.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Vergangenheit gezeigt hat - den entsprechenden politischen Willen zur dauerhaften Begrenzung der Verschuldung. Diese Kritik lässt auch außer Acht, dass der Haushaltsgesetzgeber eine bestimmte Entscheidung ohnehin nicht verantwortlich treffen kann, wenn er sich über deren Gründe nicht in rationaler und intersubjektiv vermittelbarer Form Rechenschaft abzulegen vermag. 565

4. Kapitel

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Wahlprüfungs- und Parlamentsrecht A. Wahlfehlerfolgen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Weder die Verfassung noch das einfache Recht enthalten ausdrückliche Regelungen des materiellen Wahlprüfungsrechts. Art. 41 Abs. 1 Satz 1 GG bestimmt lediglich, dass die Wahlprüfung Sache des Bundestages ist. In Absatz 2 des Art. 41 GG wird die Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundestages eröffnet. Die nähere Ausgestaltung ist dem Bundesgesetzgeber aufgegeben (Art. 41 Abs. 3 GG). Dieser hat davon abgesehen, im Bundes Wahlgesetz den Umfang der Prüfungskompetenz von Bundestag und Bundesverfassungsgericht, die einzelnen Wahlfehler sowie deren Folgen zu regeln. Auch das Wahlprüfungsgesetz gibt hierüber keinen Aufschluss. Ebenso schweigt die im Verordnungswege erlassene Bundeswahlordnung hierzu. Aufgrund dieser Regelungslücke war es Rechtsprechung und Literatur überlassen, die maßgeblichen Grundsätze des materiellen Wahlprüfungsrechts zu entwickeln. 566

I. Relativer Bestandsschutz des gewählten Parlaments In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine starke Tendenz festzustellen, möglichst eine Korrektur der persönlichen Zusammensetzung des Bundestages und zumal dessen vollständige Auflösung mit anschließender Wiederholungswahl zu vermeiden. 567 Diese Rechtsprechung, der im wissenschaftlichen 565 Schwarz, DÖV 1998, S. 721 . 566 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 23; Morlok, in Dreier, GG, Art. 41 Rn. 14; Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 41 Rn. 33. 567 BVerfGE 4, 370 ; seitdem ständige Rechtsprechung, zuletzt BVerfGE 103, 111 . Nach dieser Entscheidung setzt die Ungültigkeitserklärung einer gesamten Wahl einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene.

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitgrundsatz im

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Schrifttum zumindest im Ergebnis weitgehend zugestimmt wird 5 6 8 , entspricht dem Anliegen, die hohen Verfassungsgüter des Wahlbestandes und der parlamentarischen Kontinuität möglichst zu schonen.569 Die restriktive Wahlprüfung zielt darauf, die Legitimation der Staatsgewalt zu erhalten und ein beratungs- und entscheidungsfähiges Parlament sowie in der Folge eine handlungsfähige Regierung sicherzustellen. 570 Dieser Bestandsschutz einer gewählten Volksvertretung findet seine rechtliche Grundlage letztlich im Demokratiegebot des Grundgesetzes.571

II. Die doppelte Funktion der Wahlprüfung Nicht notwendig folgt aus diesem legitimen Bestandssicherungsinteresse die weitergehende Annahme des Bundesverfassungsgerichts, das Wahlprüfungsverfahren sei ausschließlich dazu bestimmt, die richtige Zusammensetzung des Bundestages zu gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht folgert jedoch weiter, nur solche Wahlfehler vermöchten die Beschwerde zu rechtfertigen, die auf die Mandatsverteilung von Einfluss sein könnten. Infolgedessen schieden von vornherein alle Verstöße, die die Ermittlung des Wahlergebnisses nicht berührten, als unerheblich aus. Aber auch Wahlfehler, die die Ermittlung des Wahlergebnisses beträfen, könnten die Beschwerde dann nicht rechtfertigen, wenn sie angesichts des Stimmverhältnisses keinen Einfluss auf die Mandatsverteilung gehabt haben könnten. 572 Es handelt sich freilich insoweit - wie Maunz zutreffend festgestellt hat - um eine unzulässige petitio principii 573 , derer es im Übrigen auch nicht im Interesse des anerkannten Bestandsschutzinteresses bedarf. Denn dieses Interesse am Fortbestand des Parlaments kann bei Zumessung der Wahlfehlerfolgen ausreichend Berücksichtigung erfahren, ohne dass die Wahlprüfung aus diesem Grunde a priori auf derart mandatserhebliche Wahlfehler beschränkt werden müsste. Damit könnte zugleich dem nach Stimmen in der Literatur in der bisherigen Rechtsprechung nur unzureichend verwirklichten Schutz des subjektiven Wahlrechts genüge getan werden. 574

568 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 25; v. Heyl, S. 202; Kretschmer, in Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 13 Rn. 57; Morlok, in Dreier, GG, Art. 41 Rn. 17. 569 Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 ; vgl. auch HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . 570 Morlok, in Dreier, GG, Art. 41 Rn. 17. 571 BVerfGE 103, 111 ; so auch v. Heyl, S. 202. 572 BVerfGE 4, 370 (Hervorhebung durch Verf.); siehe auch BVerfGE 22, 277 ; 35, 300 ; 37, 84 ; 48, 271 ; 58, 175; 59, 119 ; 85, 148 mit dem Zusatz, dass mit dieser Maßgabe das Wahlprüfungsverfahren auch der Verwirklichung des subjektiven aktiven und passiven Wahlrechts diene; st. Rspr. 573 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 28. 574 Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 .

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Entsprechend der Doppelnatur des Wahlrechts besteht - entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - der Zweck der Wahlprüfung nicht nur in der Prüfung, ob das Parlament richtig, das heißt dem Wählerwillen entsprechend zusammengesetzt ist. Der Zweck der Wahlprüfung erstreckt sich vielmehr umfassend auf die Kontrolle der Wahl. Damit erweitert sich der Gegenstand des Wahlprüfungsverfahrens. Es geht nicht mehr von vornherein ausschließlich um die Ermittlung mandatsrelevanter Wahlfehler. 575 In der Praxis dürfte dies insoweit kaum zu einer erhöhten Prüfungslast von Bundestag und Bundesverfassungsgericht führen, da diese auch bisher - entgegen dem eigenen dogmatischen Ansatz - regelmäßig zunächst untersucht haben, ob der Sachverhalt überhaupt einen Wahlfehler begründen kann. 576 Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt in diesem Zusammenhang als Ausübungsschranke bei der Sanktionierung von Wahlfehlern eine zentrale Bedeutung zu. Seine Anwendung erlaubt differenzierte Lösungen, die sowohl das Bestandsschutzinteresse als auch das Interesse an einem ordnungsgemäßen Wahlvorgang berücksichtigen sowie einen angemessen Schutz des subjektiven Wahlrechts ermöglichen. 577

III. Rechtsfolgen festgestellter Wahlfehler nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Ist ein Wahlfehler festgestellt, so ist zu fragen, welche Sanktion an diese Feststellung zu knüpfen ist. Dabei ist davon auszugehen, dass die (teilweise) Auflösung des Parlaments als ein Eingriff der Wahlprüfungsinstanz in die Zusammensetzung der gewählten Volksvertretung zu qualifizieren ist, wie dies auch vom Bundesverfassungsgericht gesehen wird. 5 7 8 Zugleich wird eingegriffen in die verfassungsunmittelbare Entscheidung, das jeweils gewählte Parlament möglichst in seinem Bestand unangetastet zu lassen. Im Interesse eines wirksamen Schutzes dieser verfassungsrechtlichen Entscheidung und des jeweiligen Parlaments bedarf ein solcher Eingriff der Rechtfertigung. Ausgehend von der Eingriffskonstellation kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke möglicher Sanktionen struktu-

575 Vgl. hierzu Lang, Subjektiver Rechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren, der dem Wahlprüfungsverfahren entsprechend der Doppelnatur des Wahlrechts auch eine doppelte Funktion zumisst. Eine Verletzung des subjektiven Wahlrechts ohne Auswirkungen auf das Wahlergebnis oder die Zusammensetzung des Parlaments kann danach vom Bundesverfassungsgericht im Tenor festgestellt werden. 576 Vgl. Versteyl, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 41 Rn. 3 m. w. N.

577 Seifert, DÖV 1967, S. 231 ; Schneider, in AK-GG, Art. 41 Rn. 3; Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 . Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ermöglicht gerade eine Tenorierung, die eine Verletzung des subjektiven Wahlrechts feststellt, ohne mit dem Bestandsschutzinteresse in Konflikt zu geraten. Insoweit a.A. Lang, S. 31. 578 BVerfGE 85, 148 ; 103, 111 .

. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitgrundsatz im

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rell in Betracht. Da die Verfassung keine spezifischen Schranken dieses Eingriffs normiert, stehen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keine Einwände entgegen. Auf diese Weise ist ein abgestuftes Sanktionssystem gewährleistet. 5 7 9 Die jeweilige vom Wahlprüfungsorgan beschlossene Sanktion muss sich an den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes messen lassen.580 Wird ein Wahlfehler durch den Bundestag oder das Bundesverfassungsgericht ermittelt, festgestellt und anschließend geahndet, so geschieht dies im Interesse der Sicherung einer ordnungsgemäßen Wahl. Dieses Ziel ist als solches unstreitig verfassungslegitim. Die jeweilige Sanktion muss aber, wenn sie die Zusammensetzung des Parlaments berührt, auch geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen. Dies wäre etwa zu verneinen, wenn eine angeordnete Wiederholungswahl wahrscheinlich unter den gleichen Wahlfehlern litte. 5 8 1 Ebenso würde sich eine Wiederholungswahl in einem Wahlbezirk als untaugliches Mittel erweisen, wenn die erneute Kandidatur des rechtswidrig benachteiligten Wahlbewerbers wegen zwischenzeitlichen Verlusts der Wählbarkeit ausgeschlossen wäre. 582 Der Eingriff muss sich zudem als erforderlich erweisen. Diesem Erforderlichkeitsgrundsatz wird auch bisher schon in Rechtsprechung und Literatur für die Bestimmung der Wahlfehlerfolgen großes Gewicht beigemessen. Danach darf der Eingriff in den Bestand der Wahl nicht weiter gehen, als es der festgestellte Wahlfehler verlangt. So führen Wahlfehler, die ohne Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Wähler geblieben sind, nicht zur Ungültigkeit der Wahl. 583 Selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass sich der Wahlfehler auf das Wahlergebnis ausgewirkt hat, hat die Berichtigung des Wahlergebnisses, soweit möglich, Vorrang. 584 Dies gilt insbesondere dann, wenn ein Wahlfehler in Frage steht, dessen rechnerische Berichtigung möglich ist. In diesem Fall ist die Wahl nicht zu wiederholen. 585 Dieser Vorrang der Berichtigung wird in der Literatur auch als Verbesserungsprinzip bezeichnet.586 Der Sache nach ist er eine Ausprägung des Erforderlichkeitsgrundsatzes.

579 Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 . 580 Magiera, in Sachs, GG, Art. 41 Rn. 16; Achterberg/Schulte, GG, Art. 41 Rn. 44.

in v. Mangoldt / Klein,

581 Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 . 582 y Heyl S. 224 f.; Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 ; Morlok, in Dreier, GG, Art. 41 Rn. 19. 583 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 27; Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 41 Rn. 45; Magiera, in Sachs, GG, Art. 41 Rn. 17. 584 Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 41 Rn. 45. 585 BVerfGE 34, 81 . 586 Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt / Klein, GG, Art. 41 Rn. 45; Magiera, in Sachs, GG, Art. 41 Rn. 17.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Schließlich gebietet dieser Grundsatz auch dann, wenn ein mandatsrelevanter Wahlfehler vorliegt, der sich also auf die konkrete Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt hat, dessen Folgen, soweit dies möglich ist, zu beschränken. In territorialer Hinsicht bedeutet dies, die Ungültigkeit der Wahl nur für das Wahlgebiet, in dem sich der Wahlfehler ausgewirkt haben kann, festzustellen. 587 § 44 Abs. 1 BWahlG sieht entsprechend auch eine teilweise Wiederholungswahl vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können auch solche Wahlfehler die Beschwerde nicht rechtfertigen, die zwar das Wahlergebnis berühren, aber keinen Einfluss auf die konkrete Mandatsverteilung gehabt haben konnten. 588 Dem ist insoweit zuzustimmen, als ein Eingriff einer Wahlprüfungsinstanz in die Zusammensetzung des Parlaments in einem derartigen Fall nicht zu rechtfertigen wäre. 589 Dieser Grundsatz der Mandatsrelevanz - auch als Auswirkungs- oder Erheblichkeitsgrundsatz oder aber als Effektivitätsprinzip bezeichnet 5 9 0 - wird zum Teil ebenfalls als eine Konkretisierung des allgemeinen Erforderlichkeitsgrundsatzes bezeichnet.591 Dies trifft aber insoweit nicht zu, als aufgrund des ausbleibenden Eingriffs der Wahlprüfungsinstanz der Wahlfehler nicht mehr behoben wird. Es wird mithin nicht ein milderes Mittel mit dem gleichen Erfolg eingesetzt, sondern es wird auf den Einsatz eines Mittels zur nachträglichen Behebung des Wahlfehlers gänzlich verzichtet, weil dies mit dem Interesse am Fortbestand des Parlaments nicht zu vereinbaren wäre. Damit befindet man sich auf der Ebene der Abwägung zwischen zwei gegenläufigen Gütern. 592 Dies ist der Anwendungsbereich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. 593 Die Prüfung der Mandatsrelevanz erfordert jeweils eine Feststellung auf hypothetischer Grundlage, wie das Parlament zusammengesetzt wäre, wenn der Wahlfehler nicht geschehen wäre. Eben weil hier eine Hypothese gefordert ist, kommt dem Maßstab, der bei dem Wahrscheinlichkeitsurteil anzulegen ist, sehr große Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, eine andere Zusammensetzung des Parlaments dürfe nicht nur eine theoretische Möglichkeit sein. Die Möglichkeit müsse vielmehr nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkret und nicht ganz fern liegend sein. 594 Koenig vertritt hingegen die Auffassung, auch der Maßstab zur Mandatsrelevanz eines Wahlfehlers sei vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 587

Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 41 Rn. 45; Morlok, GG, Art. 41 Rn. 19; Magiern, in Sachs, GG, Art. 41 Rn. 17. 588 BVerfGE 4, 370 ; st. Rspr. 589 So auch BVerfGE 85, 148 . 590 Kretschmer, in Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 13 Rn. 57.

in Dreier,

591 So Kretschmer, in Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 13 Rn. 57: Wahl des mildesten Mittels. 592 y Heyl, S. 202 f. 593 Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 41 Rn. 28; Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt/ Klein, GG, Art. 41 Rn. 46. 594 BVerfGE 89, 291 ; siehe auch Achterberg/Schulte, in v. Mangoldt/Klein, GG, Art. 41 Rn. 46 m .w. N.

4. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitgrundsatz im Wahl- und Parlamentsrecht

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im engeren Sinne, nämlich von einer Abwägung zwischen der Schwere des Wahlfehlers und dem Verfassungsgut des Wahlbestandes geprägt. Lägen schwerste Wahlrechtsverstöße vor, so erscheine es gerechtfertigt, keine allzu strengen Maßstäbe an die Möglichkeit einer Mandatsrelevanz der Wahlfehler zu stellen. 595 Hat im Einzelfall auch das Bestandsinteresse Vorrang, so erscheint es gleichwohl unbefriedigend, wenn ein solcher Verstoß ohne jede Rechtsfolge bliebe. Hier bietet sich - wie bereits oben erwähnt - an, entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Tenor der Entscheidung den Wahlrechtsverstoß festzustellen, auch um für die Zukunft einer Wiederholung vorzubeu-

IV. Grenzen des Bestandsschutzes Schließlich gibt die eingangs der Untersuchung wiedergegebene Entscheidung des Hamburger Verfassungsgerichts zur Hamburger Bürgerschaftswähl im Jahre 1991 597 Veranlassung zu der Frage, ob auch dann, wenn die Mandatsrelevanz eines Wahlfehlers festgestellt ist, dem Interesse am Fortbestand des Parlaments aufgrund einer Abwägung der Vorrang eingeräumt werden kann. Immerhin hat die die damalige Ungültigkeitserklärung tragende Senatsmehrheit entsprechende Überlegungen angestellt 598 , und haben die beiden dissentierenden Richter auch im Ergebnis den Fortbestand des einmal gewählten Parlaments höher gewichtet als dessen fehlerfreie Zusammensetzung.599 Wäre dem zuzustimmen, würde das in der Verfassung vorgesehene, wenn auch nicht weiter ausgestaltete Institut der Wahlprüfung ausgehöhlt. Denn die Wahlprüfung hat insbesondere die Funktion, Gewähr dafür zu tragen, dass nicht nur ein wie auch immer gewähltes Parlament die im Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen ausübt, sondern sich das Parlament auch in seiner konkreten Zusammensetzung auf eine ordnungsgemäße Wahl zurückführen lässt. Die demokratische Legitimation des jeweiligen Parlaments hängt wesentlich von einem in diesem Sinne fehlerfreien Wahlakt ab. Kommt die zuständige Wahlprüfungsinstanz zu dem Ergebnis, dass ein Wahlfehler vorliegt, der eine vollständige Neuwahl notwendig macht, ist zu erwägen, ob sich die weitergehenden Fehlerfolgen ebenfalls nach dem Verhältnismäßigkeits595 Koenig, ZParlR 25 (1994), S. 241 . 596 v: Heyl, S. 207; so auch Lang, S. 333 ff. 597 HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 ff. 598 HVerfG, DVB1. 1993, S 1070 . 599 HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 . In diesem Zusammenhang ist auch auf die bereits oben zitierte Aussage des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 103, 111 hinzuweisen, der zufolge die Ungültigkeitserklärung einer gesamten Wahl voraussetze, dass der Fortbestand des Parlaments unerträglich erscheine. Unklar ist insoweit, ob dies gegenüber der bloßen Mandatsrelevanz ein zusätzliches Erfordernis benennt, das eine weitere Abwägung mit dem Bestandsinteresse verlangt. 15 Heusch

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

grundsatz bestimmen. Nach einer Ansicht tritt im Falle der Auflösung einer Völksvertretung an deren Stelle wieder die alte Körperschaft. 600 Das Hamburger Verfassungsgericht hat indes judiziert, der Fortbestand des Parlaments bis zum Ende der regulären Legislaturperiode müsse zwar hinter dem verfassungsrechtlichen Interesse an einer ordnungsgemäßen demokratischen Wahl zurückstehen, das derzeitige Parlament habe aber trotz seiner fehlerbehafteten Legitimation die in der Verfassung übertragenen Aufgaben bis zur Wiederholungswahl weiter wahrzunehmen, da andernfalls ein noch größerer Schaden für den Staat drohe. 601 Für die letztgenannte Auffassung spricht, dass der Rückgriff auf das Vorgängerparlament in der Praxis kaum gelingen dürfte, wenngleich einzuräumen ist, dass ein solcher Rückgriff die dogmatisch konsequentere Lösung darstellt.

B. Beschränkung der Abgeordnetenrechte nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes I. Der verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten Der deutsche Bundestag ist unmittelbares Repräsentationsorgan des Volkes. Er besteht aus den Abgeordneten, die - als Vertreter des ganzen Volkes gewählt - in ihrer Gesamtheit die Völksvertretung bilden. Grundlage für die repräsentative Stellung des Bundestages, der als „besonderes Organ" gemäß Art. 20 Abs. 2 GG die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausübt, ist der durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete repräsentative verfassungsrechtliche Status des einzelnen Abgeordneten. Da der Bundestag die ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse nur durch seine Mitglieder wahrnehmen kann, ist jeder Abgeordnete berufen, an der Arbeit des Bundestages, insbesondere seinen Verhandlungen und Entscheidungen, teilzunehmen.602 Diese gleiche Teilnahme ist dem einzelnen Abgeordneten nicht nur aufgegeben, er hat auch einen aus seinem verfassungsrechtlichen Status folgenden korrespondierenden Anspruch auf Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung im Bundestag.603 Zu den sich aus diesem Status ergebenden Befugnissen des Abgeordneten zählt das Rederecht. 604 Es ist die Befugnis, im Plenum sowie in den Ausschüssen das 600 So BVerfGE 3, 41 für Gemeinde- und Kreisräte; ebenso für den Bundestag Magiera, in Sachs, GG, Art. 41 Rn. 17. 601 HVerfG, DVB1. 1993, S. 1070 mit der Einschränkung, das Parlament müsse sich eingedenk seiner mangelhaften demokratischen Legitimation in besonderer Weise zurückhalten. 602 BVerfGE 80, 188 . 603 BVerfGE 80, 304 ; 84, 304 .; vgl. auch Abmeier, S. 78 ff.; Morlok, in Dreier, GG, Art. 38 Rn. 143; Milinski, NJW 1983, S. 2808. 604 BVerfGE 10, 4 ; 60, 374 ; 80, 188 .; Trute, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 38 Rn. 92; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 63.

4. Kap.: Der Verhältnismäßigkeitgrundsatz im Wahl- und Parlamentsrecht

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Wort zu ergreifen. Dieses Rederecht ergibt sich entgegen einer vereinzelt vertretenen Auffassung 605 nicht aus dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG. 6 0 6 Während Art. 5 Abs. 1 GG ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat normiert, ist dem Abgeordneten gerade in dieser seiner Eigenschaft, mithin als Inhaber eines staatlichen Amtes, die Befugnis zur Rede im Parlament eingeräumt. Indem er sein Rederecht ausübt, wirkt er an der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages mit und genügt gerade so den Pflichten seines Amtes. Neben dem Rederecht sind als weitere Befugnisse zu nennen das Stimmrecht 607 , die Beteiligung an der Ausübung des Frage- und Informationsrechts des Parlaments 608 sowie das Recht, sich an den vom Parlament vorzunehmenden Wahlen zu beteiligen und parlamentarische Initiativen zu ergreifen. 609 Schließlich gehört auch das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen, zu dem Kreis der Befugnisse, die sich aus dem Status des Abgeordneten ergeben. 610

II. Begrenzungen des Rederechts des Abgeordneten Während das Grundgesetz die einzelnen Befugnisse der Abgeordneten nicht ausdrücklich aufzählt, enthält die Geschäftsordnung des Bundestages zum Teil sehr detaillierte Regelungen zu den einzelnen Rechten. Gleichwohl haben die genannten Befugnisse selbst Verfassungsrang. Der Geschäftsordnung kommt, soweit sie die Rechte positiv formuliert, lediglich deklaratorischer Charakter zu. 6 1 1 Dies gilt freilich nicht, wenn die Geschäftsordnung die sich aus der Verfassung ergebenden Rechte der Abgeordneten unmittelbar begrenzt oder aber zu entsprechenden Beschränkungen ermächtigt. Die dort normierten Beschränkungen sind - wie nachfolgend am Beispiel des Rederechts gezeigt wird - zum Teil recht einschneidend. So kann das Parlament durch Mehrheitsbeschluss sowohl den Schluss der Debatte als auch die Gesamtdauer einer Debatte festlegen (§ 25 Abs. 2 GO BT). Die Geschäftsordnung erlaubt zudem die Aufteilung einer festgelegten Gesamtredezeit auf die Fraktionen nach dem Verhältnis ihrer Stärke (§28 Abs. 1 GO BT) sowie 605 Troßmann, § 40 Rn. 6; Achterberg, S. 653. 606 BVerfGE 10,4 ; 60, 374 ; Klein, HStR II, § 41 Rn. 31; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 63; Schreiber, in Berliner Kommentar, GG, Art. 38 Rn. 115.; Abmeier, S. 236. 607 BVerfGE 10, 4 ; 70, 324 ; 80, 188 ; 84, 304 ; Trute, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 38 Rn. 92; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 60. 608 BVerfGE 13, 123 ; 57, 1 < 5 > ; 67, 100 ; 70, 324 ; 80, 188 ; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 60. 609 BVerfGE 80, 188 ; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 60. 610 BVerfGE 43, 142 ; 70, 324 ; 80, 188 ; Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 60; Trute, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 38 Rn. 92. 611 Schreiber, Art. 38 Rn. 60. 15=

in Berliner Kommentar, GG, Art. 38 Rn. 114; Magiera, in Sachs, GG,

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefge des Grundgesetzes

Redezeitbegrenzungen für den einzelnen Redner (§ 35 Abs. 1 GO BT). Zusätzlich sind Maßnahmen geregelt, die der Einhaltung der Redeordnung und der Aufrechterhaltung der parlamentarischen Disziplin dienen und sich an bestimmte einzelne Abgeordnete richten. So kann der Bundestagspräsident den Redner, der vom Verhandlungsgegenstand abschweift, zur Sache verweisen (§ 36 Satz 1 GO BT). Er kann gemäß § 36 Satz 2 GO BT Mitglieder des Bundestages - also nicht nur den jeweiligen Redner - mit Nennung des Namens zur Ordnung rufen, wenn sie die Ordnung verletzen. Ist ein Redner während einer Rede dreimal zur Sache oder dreimal zur Ordnung gerufen worden und beim zweiten Male auf die Folgen eines dritten Rufes zur Sache oder zur Ordnung hingewiesen worden, so muss ihm der Präsident nach § 37 GO BT sogar das Wort entziehen und darf es ihm in derselben Aussprache zum selben Verhandlungsgegenstand nicht wieder erteilen. Als schärfste Sanktion sieht die Geschäftsordnung bei gröblicher Verletzung der Ordnung den Ausschluss eines Mitgliedes des Bundestages von der Sitzung vor. Ein solcher Ausschluss kann bis zu dreißig Sitzungstage dauern (§ 38 GO BT). Es ist unbestreitbar, dass das Rederecht des einzelnen Abgeordneten solcher Beschränkungen bedarf, die im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments und eines geordneten Geschäftsgangs sowie zur Aufrechterhaltung der parlamentarischen Ordnung notwendig sind. 612 Da der Bundestag wegen der Fülle der Verhandlungsgegenstände nicht endlos debattieren kann 6 1 3 , zugleich aber die unterschiedlichen politischen Auffassungen im Parlament in Person verschiedener Abgeordneter zu Wort kommen sollen, erweisen sich begrenzende Regelungen wie die der Festlegung einer Gesamtredezeit, einer Rednerliste nach Stärke der Fraktionen oder einer Beschränkung der Redezeit des einzelnen Abgeordneten als unabdingbar. Zugleich erscheinen solche Regelungen auch geboten, um dem einzelnen Abgeordneten die grundsätzliche Möglichkeit offen zu halten, tatsächlich im Parlament das Wort zu ergreifen. Denn die Zeit, die dem einen Abgeordneten nicht mehr zu weiteren Ausführungen gegeben wird, gibt einem anderen die Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen. Da die oben genannten Befugnisse des einzelnen Abgeordneten sich unmittelbar aus dessen verfassungsrechtlichem Status ergeben, mithin selbst verfassungskräftig garantiert sind, könnten sie nicht durch niederrangiges Geschäftsordnungsrecht eingeschränkt werden, wenn die Verfassung keine entsprechende Ermächtigung enthielte. Nach allgemeiner Auffassung ist verfassungsrechtliche Rechtsgrundlage Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG, der dem Bundestag die autonome Rechtsmacht verleiht, sich eine Geschäftsordnung zu geben. 614 Die Geschäftsordnung dient der Erfüllung 612

Magiera, in Sachs, GG, Art. 38 Rn. 63; Schreiber, in Berliner Kommentar, GG, Art. 38 Rn. 115; Linck, DÖV 1975, S. 689 . 613 BVerfGE 10, 4 . Zutreffend weist das Gericht darauf hin, dass das Parlament ohne eine solche Begrenzung auf die Dauer nicht arbeitsfähig bliebe, weil es der Obstruktion jeder Minderheit und selbst einzelner Abgeordneter ausgeliefert wäre. 614 BVerfGE 80, 188 ; siehe auch Linck, DÖV 1975, S. 389 ; Brandt/Gosewinkel, ZRP 1986, S. 33 .

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der Aufgaben des Bundestages. Das Recht des Parlaments, seine Angelegenheiten zu regeln, umfasst daher auch die Befugnis, sich selbst zu organisieren und sich dadurch erst in den Stand zu setzen, seine durch die Verfassung zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. 615

III. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke Indes dürfen die Beschränkungen und Eingriffe gegenüber dem einzelnen Abgeordneten nicht beliebig erfolgen. Sowohl die abstrakt-generellen Regelungen der Geschäftsordnung als auch die auf der Geschäftsordnung beruhenden Einzelmaßnahmen haben jeweils den Status des Abgeordneten und die sich aus diesem Status ergebenden Rechte zu berücksichtigen. Fraglich ist, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in diesem Zusammenhang als Schranken-Schranke zur Anwendung kommt. Das Bundesverfassungsgericht beruft sich nicht explizit auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung der Geschäftsordnung sei davon auszugehen, dass das Parlament bei der Entscheidung darüber, welcher Regeln es zu seiner Selbstorganisation und zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bedürfe, einen - allgemein weiten - Gestaltungsspielraum habe. Was aus den Grenzen und Bindungen dieser Regelungsmacht im Einzelnen folge, müsse nach dem jeweiligen Gegenstand bestimmt werden. 616 Jedenfalls dürfe aber - gerade um der Repräsentationsfähigkeit und der Funktionstüchtigkeit des Parlaments willen - das Recht des einzelnen Abgeordneten, an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Bundestages mitzuwirken und seine besonderen Erfahrungen und Kenntnisse darin einzubringen, dabei nicht in Frage gestellt werden. Die Rechte des einzelnen Abgeordneten könnten zwar im Einzelnen ausgestaltet und insofern auch eingeschränkt, ihm jedoch grundsätzlich nicht entzogen werden. Richtmaß für die Ausgestaltung der Organisation und des Geschäftsgangs müsse das Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten bleiben. 617 Bezogen auf das Rederecht des Abgeordneten hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, beschränkende Maßnahmen fänden ihre Grenze am Wesen und an der grundsätzlichen Aufgabe des Parlaments, Forum für Rede und Gegenrede zu sein. Es seien daher Fälle denkbar, in denen die Benutzung eines an sich legitimen Mittels, wie es die Redezeitfestsetzung sei, missbräuchlich und verfassungswidrig werde. 618

615 BVerfGE 80, 188 ; Linck, DÖV 1975, S. 389 ; Brandt/Gosewinkel, ZRP 1986, S. 33 .. 616 BVerfGE 84, 304 . 617 BVerfGE 80, 188 . 618 BVerfGE 10,4.

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2. Teil: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Staatsgefiige des Grundgesetzes

Im Hinblick auf eine vom Bundestag beschlossene Verteilung der insgesamt angesetzten Redezeit auf die Fraktionen und die damit einhergehende Bindung des einzelnen Abgeordneten an seine Fraktion hat das Bundesverfassungsgericht es freilich nicht bei allgemeinen Missbrauchserwägungen belassen. Es hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, die quotale Aufteilung der Redezeit sei geeignet, die sachliche Arbeit des Parlaments zu fördern. Durch sie werde sichergestellt, dass Abgeordnete aller Richtungen sprächen und nicht durch Zufälligkeiten des Ablaufs der Debatte die eine oder andere Fraktion nur unverhältnismäßig kurz zu Wort komme. 619 Die Bindung oder Mediatisierung der Abgeordneten dürfe aber nicht über das hinausgehen, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten sei. 620 Die Bindung an die Fraktion sei entsprechend insoweit gelockert, als auch bei festgesetzten Fraktionsredezeiten der Bundestagspräsident einem einzelnen Abgeordneten gegen den Willen seiner Fraktionskollegen das Wort erteilen könne. 621 Mit diesen Maßgaben seien Redezeitbeschränkungen hinzunehmen, da ansonsten das Parlament nicht arbeitsfähig bleibe. 622 Den Grundsatz der Erforderlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht auch in einem späteren Verfahren als Maßstab herangezogen, als es um die Bewertung einer vom amtierenden Präsidenten des Bundestages gegenüber einem Abgeordneten erteilten Rüge wegen einer Äußerung in einer parlamentarischen Debatte ging. Eine solche Rüge sei das mildeste Mittel zur Aufrechterhaltung der parlamentarischen Ordnung gegenüber einem Bundestagsabgeordneten.623 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat ausdrücklich unter Bezugnahme auf das Missbrauchskriterium des Bundesverfassungsgerichts herausgestellt, eine missbräuchliche Redezeitbeschränkung könne nur aufgrund einer Abwägung des Gesichtspunkts der Erhaltung der Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments mit der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Rederechts festgestellt werden. 624 Hier wird deutlich, dass der Sache nach die Missbrauchskontrolle auch eine Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne beinhaltet. Im Schrifttum wird gelegentlich ausdrücklich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bezug genommen, wenn es die Grenzen der parlamentarischen Autonomie für Eingriffe in verfassungsrechtlich verbürgte Rechte der einzelnen Abgeordneten zu bestimmen gilt. 6 2 5 619 BVerfGE 10, 4 (Hervorhebung durch Verf.). 620 BVerfGE 10, 4 (Hervorhebung durch Verf.). 621 BVerfGE 10,4 . 622 BVerfGE 10,4 . 623 BVerfGE 60, 374 (Hervorhebung durch Verf.). 624 BayVerfGH, NVwZ-RR 1998, S. 409 . 625 Achterberg, S. 655 ff.; Schreiber, in Berliner Kommentar, GG, Art. 38 Rn. 115; Bücker, in Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, § 34 Rn. 11; Linck, DÖV 1975, S. 689 ; Bollmann, S. 89 ff.; Schwerin, S. 198 ff.; vgl. auch Franke, S. 47 ff.; Hürth, ZRP 1984, S. 313 , allerdings ohne ausdrückliche Erwähnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

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Da es sich bei den oben genannten Beschränkungen der aus dem Abgeordnetenstatus folgenden Befugnisse um Eingriffe in einen verfassungsunmittelbar gewährten und definierten Rechtskreis handelt, norm- oder bereichsspezifische Schranken-Schranken nicht vorrangig sind, zugleich aber die Abgeordnetenrechte nicht beliebig einschränkbar sein dürfen, sind die Voraussetzungen für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch nach der hier vertretenen Konzeption gegeben. Hiernach dürfen die Regelungen der Geschäftsordnung, soweit sie unmittelbar die Rechte der Abgeordneten beschränken, dies nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes tun. Dies gilt etwa für die Redezeitregelung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GO BT, nach der, wenn nichts anderes vom Ältestenrat vereinbart oder vom Bundestag beschlossen wird, jeder Redner jeweils nicht länger als 15 Minuten sprechen darf. Da diese Regelung nur subsidiär zur Anwendung gelangt, also gerade ein Abweichen in besonderen Fällen ermöglicht, zugleich aber eine Begrenzung der Redezeit im Interesse der Funktionstüchtigkeit des Parlaments sowie der Wahrung des gleichen Rederechts aller Abgeordneter erforderlich ist, bestehen gegen diese Norm unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten keine Bedenken. Aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt sich selbstverständlich nicht, dass die Redezeit gerade 15 Minuten betragen muss. Insoweit ist dem Bundestag aber - freilich in Grenzen - ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Soweit die Geschäftsordnung zu Eingriffen ermächtigt, ist sie nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn auf ihrer Grundlage verhältnismäßige Eingriffe möglich sind. Im Regelfall verlangt dies, dass die Rechtsfolgenseite der Norm die Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ermöglicht. 626 Diesen Anforderungen genügt etwa § 36 GO BT, der den Sach- und Ordnungsruf in das Ermessen des Präsidenten stellt. Dasselbe gilt für § 38 GO BT, nach dem der amtierende Präsident nicht nur in Ausübung seines Ermessens darüber zu befinden hat, ob ein Parlamentarier wegen gröblicher Verletzung der Ordnung ausgeschlossen wird. Er muss auch festlegen, für wie viele Sitzungstage der Abgeordnete ausgeschlossen bleibt. Die Anzahl der Sitzungstage, an denen der Betroffene dem Parlament fernzubleiben hat, muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Ordnungsverletzung stehen. Abweichend von den vorgenannten Vorschriften eröffnet § 37 GO BT kein Ermessen. Der Präsident muss einem Redner das Wort entziehen, wenn dieser während seiner Rede dreimal zur Sache oder zur Ordnung gerufen und bei dem zweiten Ruf auf die Folgen hingewiesen worden ist. Bedenken gegen die Zulässigkeit einer solchen gebundenen Vorschrift bestehen gleichwohl nicht, da der Geschäftsordnungsgeber in typisierender Weise davon ausgehen durfte, dass die Voraussetzungen für eine Wortentziehung bei der geschilderten Sachlage gegeben sind.

626 Franke, S. 49 f.; vgl. auch Hürth, ZRP 1984, S. 313 hinsichtlich des Sitzungsausschlusses eines Abgeordneten.

Schlussbetrachtung Ergebnisse der Untersuchung

A. Die verfassungsrechtliche Grundlegung Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit umfasst die drei Teilgrundsätze der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Ursprünglich nur einfachrechtlich begründete Schranke polizeilicher Eingriffe gegenüber dem Bürger hat sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der maßgeblichen Schranke staatlicher Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen entwickelt. Entgegen einer vereinzelt gebliebenen Ansicht hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, soweit es um den Schutz der Grundrechte geht, Verfassungsrang. Einige Landesverfassungen der neuen Bundesländer haben dies - anders als das Grundgesetz - ausdrücklich normiert. Die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht ist heftig umstritten. Es besteht im Schrifttum eine Tendenz, den Anwendungsbereich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das Staat-Bürger-Verhältnis zu begrenzen. Intention dieser Bestrebungen ist es, den Gestaltungsspielraum der handelnden Hoheitsträger oder Organe im Bereich des Staatsorganisationsrechts möglichst offen zu halten und entsprechend die Intensität einer gerichtlichen Kontrolle zu beschränken. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist keine klare Linie erkennbar. Nach dem so genannten Maastricht-Urteil fungiert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten als Kompetenzausübungsschranke. Zugleich wurde die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für das innerstaatliche Staatsorganisationsrecht, insbesondere im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, kategorisch ausgeschlossen. Hiervon wiederum abweichend hat das Bundesverfassungsgericht jüngst im Altenpflege-Urteil die Wahrnehmung einer Bundeskompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf ihre Eignung und Erforderlichkeit im Hinblick auf die Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG untersucht. Unklar ist schließlich, welche Bedeutung das Gericht dem Grundsatz für den Schutz der kommunalen Selbstverwaltung zumisst. Die Beantwortung der Frage, ob dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht ein Anwendungsfeld eröffnet ist, hängt von dessen Geltungsgrundlage ab. Auch insoweit besteht in Rechtsprechung und Schrifttum Unei-

Schlussbetrachtung

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nigkeit. Teilweise wird der Grundsatz ausschließlich in den Grundrechten verankert. Danach käme ihm im Staatsorganisationsrecht keine Bedeutung zu. Die Verortung im Rechtsstaatsprinzip ließe dagegen aufgrund dessen übergreifender Bedeutung auch für das Staatsorganisationsrecht grundsätzlich eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in diesem Bereich zu. Jedoch fehlt es an einer konkreten und substantiellen Ableitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die bloße Bezugnahme auf dieses Prinzip führt dazu, dass letztlich in die Rechtsstaatsklausel hineingelegt wird, was sodann aus ihr herausgelesen werden soll. Unzureichend ist auch die Feststellung, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz könne immer dann als Maßstab herangezogen werden, wenn das Grundgesetz eine Regel-Ausnahme-Konstellation normiere. Damit wären allenfalls die Anwendungsvoraussetzungen bestimmt, ohne die dogmatisch vorrangige Frage nach dem Geltungsgrund beantwortet zu haben. Der mit der so genannten Kompetenzlehre, die jede staatliche Tätigkeit an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bindet, einhergehende Perspektivenwechsel hat nicht nur zur Folge, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seine Konturen verliert, sondern verkennt zudem, dass es genuiner Zweck dieses Grundsatzes ist, bestimmte Bereiche vor übermäßigen Eingriffen zu schützen, nicht aber - losgelöst von derartigen Eingriffen die staatliche Tätigkeit generell zu begrenzen. Schließlich vermag auch die Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus einer sinngewendeten Rechtsstaatsklausel nicht die Geltung im Staatsorganisationsrecht überzeugend zu begründen, weil sie ihren Ausgang vom geänderten Verhältnis von Staat und Bürger nimmt und primär auf eine Eingrenzung des gesetzgeberischen Ermessens in diesem Verhältnis zielt. Richtigerweise ergibt sich aus dem Vorrang der Verfassung, den sich das Grundgesetz gegenüber allen niederrangigen staatlichen Akten zumisst, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Bereich des Staatsorganisationsrechts als Kompetenzausübungsschranke heranzuziehen ist. Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG haben alle drei konstituierten Gewalten die Verfassung, die an der Spitze der nationalen Normenhierarchie steht, bei den von ihnen zu treffenden Entscheidungen zu beachten. Dieser für die deutsche Verfassungsentwicklung neuartige Vorrang der Verfassung wird gesichert durch Art. 79 GG, der eine Verfassungsänderung von besonderen, von der einfachen Gesetzgebung abgehobenen Voraussetzungen abhängig macht, und durch die in Art. 93 und Art. 100 GG vorgesehenen Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts. Der Vorrang der Verfassung verlangt eine solche Auslegung der Verfassungsbestimmungen, dass deren normativer Gehalt möglichst effektiv wird. Definiert die Verfassung selbst einen bestimmten, freilich nicht notwendig gegenständlich zu verstehenden Bereich, indem sie etwa eine konkrete Zuständigkeit im Rahmen eines ausgewogenen Gesamtgefüges einem bestimmten Hoheitsträger zuweist oder eine sachlich-inhaltliche Entscheidung in einer bestimmten Frage trifft, so steht auch dann, wenn die Verfassung selbst einen Eingriff in diesen Bereich gestattet, dieser grundsätzlich nicht zur beliebigen Disposition des Gesetz-

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Schlussbetrachtung

gebers oder des anderen zum Eingriff ermächtigten Hoheitsträgers oder Organs. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ermöglicht in derartigen Eingriffskonstellationen den zur Wahrung des Vorrangs der Verfassung gebotenen Schutz. Er ist seiner Struktur nach nicht auf Eingriffe in grundrechtliche Freiheiten beschränkt. Es kommt ebenso nicht darauf an, ob der verfassungsunmittelbar umhegte Bereich eine subjektive Rechtsposition beinhaltet, da auch rein objektiv-rechtliche Bestimmungen der Verfassung an deren Vorrang teilhaben und daher vor beliebigen Eingriffen und Verkürzungen zu schützen sind. Ob und inwieweit der Verfassunggeber oder verfassungsändernde Gesetzgeber verfassungsunmittelbar durch Umhegung eines bestimmten Bereichs eine grundsätzlich verbindliche Grundentscheidung getroffen hat, ist eine Frage der Auslegung der einzelnen Verfassungsbestimmung. Dies gilt ebenso für die Bestimmung des Entscheidungsspielraums, der dem zum Eingriff ermächtigten Hoheitsträger oder Organ eingeräumt wird. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bietet insoweit einen flexiblen Maßstab. Wie insbesondere aus der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu den Grundrechten bekannt, variieren seine materiellen Vorgaben und entsprechend die gerichtliche Kontrolle je nach Schwere und Intensität des in Frage stehenden Eingriffs. So kann die gerichtliche Kontrolle bis auf eine bloße Überprüfung, ob die Eingriffsentscheidung als vertretbar zu werten ist, reduziert sein. Zurückhaltung der Gerichte kann insbesondere auch im Hinblick auf Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers geboten sein. Nur im Wege der Interpretation der jeweiligen Verfassungsbestimmung kann auch ermittelt werden, ob möglicherweise der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Falle eines Eingriffs nur in Teilen zur Anwendung gelangt. Diese mögliche Reduktion bezieht sich nicht auf die beiden ersten Teilgrundsätze der Geeignetheit und Erforderlichkeit. Wohl kann aber das Grundgesetz selbst eine generelle, gegebenenfalls im Wege der Interpretation zu ermittelnde Vorentscheidung in dem Sinne getroffen haben, dass ein Eingriff auch verhältnismäßig im engeren Sinne ist, wenn er zur Erreichung des auf Verfassungsebene vorgegebenen Ziels geeignet und erforderlich ist. Soweit die jeweilige Verfassungsbestimmung normspezifische Eingriffsschranken anführt, vermögen diese als speziellere Regelungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke zu verdrängen. Voraussetzung für ein solches Spezialitätsverhältnis ist indes, dass die spezifischen Vorkehrungen dem verfassungsunmittelbar definierten Bereich ausreichenden Schutz gewähren. Sind sie nicht in der Lage, einen solchen ausreichenden Schutz gegen die Gefahren einer Aushöhlung sicherzustellen, kann auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als zusätzliche Schranken-Schranke nicht verzichtet werden. Das gemeinhin als Element des objektiven Gerechtigkeitsprinzips auch rechtsstaatlich begründete Willkürverbot entfaltet seine Wirkungen zwar ebenfalls im Staatsorganisationsrecht, schützt aber insoweit ausschließlich vor nicht gerechtfertigten Gleich- oder Ungleichbehandlungen. Das Willkürverbot kann daher den Ver-

Schlussbetrachtung

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hältnismäßigkeitsgrundsatz, der gerade auch vor solchen Eingriffen schützt, die alle gleichermaßen treffen, gleichwohl aber unverhältnismäßig sind, nicht ersetzen. Es statuiert vielmehr eine zusätzliche Eingriffsschranke.

B. Die Ergebnisse der Detailanalyse Im Bundesstaat kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine bisher insbesondere in der Rechtsprechung nicht hinreichend beachtete Funktion zum Schutz der Länder und ihrer Zuständigkeiten sowie Kompetenzen zu. So stellt eine Neugliederung gemäß Art. 29 GG, die gegen den Willen der betroffenen Länder erfolgt, einen Eingriff in deren verfassungsunmittelbar anerkannten Bestand dar. Dieser Eingriff muss nicht nur den in Art. 29 GG ausdrücklich genannten prozeduralen und formellen Anforderungen genügen. Er muss überdies geeignet und erforderlich sein, um Länder solchen Zuschnitts herzustellen, die ihrer Größe und Leistungsfähigkeit nach die ihnen obliegenden Aufgaben zu erfüllen vermögen. Sind diese Voraussetzungen gegeben, so räumt die Verfassung dem Allgemeininteresse an der Existenz leistungsstarker Länder gerade im Interesse der bundesstaatlichen Ordnung Vorrang gegenüber dem unveränderten Fortbestand der jeweils betroffenen Länder ein. Da Änderungen der Außengrenzen des Bundesgebietes nur mit Zustimmung des jeweils betroffenen Landes erfolgen dürfen, fehlt es insoweit bereits an einem Eingriff, der dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen müsste. Die in Art. 35 Abs. 1 GG abstrakt konstituierte Amtspflicht, die durch das jeweilige Ersuchen konkretisiert wird, besteht nur in den durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gezogenen Grenzen. Der Gesetzgeber hat diese Grenzen in den verschiedenen Verfahrensgesetzen, die die Einzelheiten der Amtshilfe regeln, einfachrechtlich nachgezogen. Auch die in den verfassungsrechtlichen Notstandsregelungen normierten Anforderungsrechte der Länder sowie die erweiterten Weisungsund Einsatzrechte der Bundesregierung ermächtigen nur zu verhältnismäßigen Maßnahmen. Wenn der Bund nach Art. 37 Abs. 1 GG gegen Länder, die ihre Pflichten im Bundesstaat vernachlässigen, vorgeht, darf er die Mittel des Bundeszwangs nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einsetzen. Das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates macht diese materielle Schranke nicht überflüssig. Entsprechend dem ausdrücklichen Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers darf der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 72 GG nur Gebrauch machen, wenn dies zur Erreichung der im Jahre 1994 neu gefassten Ziele des Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich ist. Damit ist schon im Wortlaut der Norm auf das zweite Teilelement des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Bezug genommen und zugleich auf das logisch vorrangige Geeignetheitskriterium verwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Altenpflege-Urteil die durch unbestimmte Rechtsbegriffe (Herstellung gleichwertiger Lebensverhält-

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Schlussbetrachtung

nisse im Bundesgebiet und Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse) umschriebenen Zielvorgaben einer bundesgesetzlichen Gesetzgebung konkretisiert und damit die Möglichkeit für eine effektive Erforderlichkeitsprüfung eröffnet. Nur soweit der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage sorgfältig ermittelter Tatsachen wegen der weiteren tatsächlichen Entwicklung auf Prognosen verwiesen ist, verbleibt ihm ein beschränkter Prognosespielraum. Im Übrigen kontrolliert das Bundesverfassungsgericht im Streitfall, ob sich das Bundesgesetz als geeignet und erforderlich erweist, um die Zielvorgaben des Art. 72 Abs. 2 GG zu erreichen. Ist eine bundesgesetzliche Regelung danach erforderlich, ist sie auch stets im Interesse der Integrität des Bundesstaates verhältnismäßig im engeren Sinne, so dass im Einzelfall eine Prüfung am Maßstab dieses dritten Teilgrundsatzes unterbleiben kann. Soweit die Länder die Bundesgesetze ausführen, darf der Bund beziehungsweise das ermächtigte Bundesorgan von den jeweils eingeräumten Ingerenzrechten nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Gebrauch machen. Die Ausführungskompetenz ist den Ländern verfassungsunmittelbar zugewiesen. Jede abstrakt-generelle oder auch konkret-individuelle Begrenzung der eigenverantwortlichen Erledigung der übertragenen Vollzugsaufgaben ist als Eingriff in diesem Sinne rechtfertigungsbedürftig. Dies gilt nicht nur, soweit die Länder nach Art. 84 GG die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, sondern grundsätzlich auch dann, wenn sie dies im Auftrag des Bundes tun. Entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist auch die Erteilung einer Weisung aufgrund Art. 85 Abs. 3 GG als Eingriff in die verfassungsunmittelbare Länderzuständigkeit zu werten. Dies hindert den Bund nicht, seine Sachauffassung mit Hilfe einer für das Land verbindlichen Weisung durchzusetzen, soweit diese das geeignete und erforderliche Mittel darstellt. Die Finanzmittel, die der Bund den finanzschwächeren Ländern im Rahmen des in Art. 107 Abs. 2 GG vorgesehenen horizontalen Länderfinanzausgleichs durch Gesetz zuweist, sind aus dem den finanzstärkeren Ländern unmittelbar nach der Verfassung zustehenden Aufkommen genommen. Der damit verbundene Eingriff darf nur so weit reichen, als dies zur Herstellung eines Ausgleichs geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Dabei ist insbesondere auf der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch zu berücksichtigen, dass grundsätzlich die Folgen autonom getroffener finanzwirtschaftlicher Dispositionen der Länder im positiven wie im negativen Sinn bei diesen jeweils verbleiben sollen. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert verfassungsunmittelbar den Gemeinden die Zuständigkeit zur eigenverantwortlichen Regelung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Der Schutzbereich wird nicht erst durch den Gesetzgeber definiert. Wird der Gesetzgeber in diesem Bereich regelnd tätig, ist zu unterscheiden zwischen Ausgestaltungen, die nicht in den Schutzbereich eingreifen, und solchen Regelungen, die die verfassungsunmittelbare Selbstverwaltung beschränken. Derartige Ingerenzen müssen wie auch konkret-individuelle Eingriffe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.

Schlussbetrachtung

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Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen auch bei Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nur dann nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG überschreiten, wenn sich die erhöhte Kreditaufnahme als geeignet und erforderlich zur Störungsabwehr erweist. Sie muss überdies auch im Hinblick auf die in die Zukunft verlagerten Lasten der Rück- und Zinszahlung verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Ist bei der Wahl zum Parlament ein Wahlfehler unterlaufen, so ist ein Eingriff in das gewählte Parlament nur insoweit zulässig, als dieser Eingriff geeignet und erforderlich ist, um die nicht korrekte Zusammensetzung des Parlaments zu beheben. Soweit kein milderes Mittel zur Verfügung steht, hat das Interesse am Fortbestand des Parlaments in der bisherigen Zusammensetzung zurückzutreten hinter der Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen demokratischen Legitimation der Völksvertretung. Begrenzungen der verfassungsunmittelbar garantierten Rechte der Abgeordneten, insbesondere auch des Rederechts, sind im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments zulässig, freilich nur soweit sie verhältnismäßig sind.

C. Ausblick Bereits eingangs der vorliegenden Untersuchung ist darauf hingewiesen worden, dass die Vorbehalte gegen eine Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch im Staatsorganisationsrecht wohl auf die Befürchtung zurückgehen, hierdurch würde die Entwicklung zu einem Jurisdiktionsstaat befördert. Der Vorrang der Verfassung, der als Geltungsgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Staatsorganisationsrecht erkannt ist, verlangt indes gerade, dass die Gerichte bei der Kontrolle des zur Überprüfung gestellten Eingriffsakts auch den dem Hoheitsträger in der Verfassung eingeräumten Handlungs- und Prognosespielraum beachten. Damit ist den Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht in der Tat eine schwierige Aufgabe gestellt. Werden diese Grenzen der judikativen Kontrolle insbesondere vom Bundesverfassungsgericht beachtet, ist jedoch keine der Verfassung widersprechende Machtverschiebung zugunsten der Dritten Gewalt zu befürchten. Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht in Zukunft, soweit es um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Kompetenzausübungsschranke im Staatsorganisationsrecht geht, die bisherigen Widersprüchlichkeiten beseitigt und zu einer in sich konsistenten Rechtsprechung findet. Am Ende sei daran erinnert, dass die Gerichte regelmäßig nur kontrollierend tätig werden. Kann auf diese gerichtliche Kontrolle, um die Effektivität der Verfassung zu gewährleisten, nicht verzichtet werden, so wendet sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit indes zunächst an das handelnde Organ selbst, das sich bei seiner Entscheidungsfindung an diesem Maßstab zu orientieren hat.

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arverzeichnis Abgeordneter s. Bundestagsabgeordneter Abtretung s. Gebietsabtretung Abwägung 30, 43 f., 49, 57 ff., 82, 87, 89, 188 Allzuständigkeit des Staates 94 Altenpflege-Urteil 23, 32 ff., 54, 138, 143 ff. amending power 74 Amtshilfe 109 ff. - Behörde 109 ff. - Beistandspflicht 109 - Ersuchen 111, 113 - Grenzen 112 ff. - Kosten 112 - Kostenerstattung 112 - Unmöglichkeit 113 Anforderung 115 ff., s. Notstand Anhörung 97, 105 Annexkompetenz 149, 156 Arbeitsrecht 21 Atomrecht 160, 163 Aufgabenverteilungsprinzip 27 f., 191 ff. Außengrenze 103 ff. Behörde 109 ff. Beurteilungsspielraum 33, 154 Budgetrecht 208 Bund-Länder-Streit 129 Bundesaufsicht 107 f., 119 Bundesauftragsverwaltung 31 f., 160 ff. - Behördeneinrichtung 162 - Bundesbehörde 170 - Bundestreue 171 f. - Gebot bundesfreundlichen Verhaltens 167 - Mängelrüge 163 - Mittelbehörde 163 - Organisationsgewalt 162, 169 - Reservekompetenz 165 - Rücksichtnahmegebot 168, 171 - Sachkompetenz 32, 164 ff. - Verwaltungsverfahren 162, 170

- Wahrnehmungskompetenz 32, 164 ff. - Weisung 31, 150, 160 ff. Bundeseigene Verwaltung 149 ff. - Behördeneinrichtung 152 - Bundesratszustimmung 153 f. - Mittelbehörde 150 f. - Verwaltungsverfahren 152, 155 - VerwaltungsVorschriften 150, 158 f. - Vollzug 157 - Weisung 159 f. Bundesfreundliches Verhalten 32, 124, 167 Bundesgrenzschutz 115 ff., 121, 150 Bundesintervention 118 Bundesland 93 ff. - Anforderungsrechte 115 ff.; s. auch Notstand - Eigenstaatlichkeit 175 - Finanzausstattung 172 f. - Finanzautonomie 178 ff. - Finanzkraft 174 ff. - Gebietsänderung 96 ff. - Gebietshoheit 109 - institutionelle Garantie 99 - landeseigene Verwaltung 148 - Landesorganisationsgewalt 156 ff., 162 - Landesregierung 123 - Landesverfassung 29, 106 - Landesvolk 106 - Leistungsfähigkeit 100 ff., 180 - Pflichtaufgaben 180 - Prozessfähigkeit 97 - Staatsqualität 94, 105 f. - Verfassungsautonomie 105 ff. Bundesminister 31, 165 ff. Bundesrat 104 f., 121, 123, 126, 152 ff. Bundesregierung 108, 117 ff., 126, 129, 158 Bundesstaat 93 f., 95 Bundestag 226 ff. - Fraktionen 227 ff. - Geschäftsordnung 227 ff.

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arverzeichnis

Bundestagsabgeordneter 226 ff. - Fragerecht 227 - Informationsrecht 227 - Rederecht 226 ff. - Sitzungsausschluss 228 - Status 226 f. Bundestagspräsident 228, 231 Bundestreue 97, 155, 156, 168, 171 f. Bundeswehr 123; s. auch Streitkräfte Bundeszwang 108, 119 ff. - Bundeskommissar 122 - Ermessen 122 f. - Ersatzvornahme 121 - Pflichtverletzung 127 - Rechtsschutz 123, 129 - Sequestration 122 - Zustimmung des Bundesrates 121, 126 Demokratie 34, 97, 214, 217, 221, 225 f. dirigierende Verfassung 61 ff. Dualismus 74 ff. Eigentum 65 ff., 202 f. Eingriff 65 ff., 69 f., 80 ff., 87 f., 94 ff. Eingriffsermächtigung 81 f. Eingriffsschranken 88 f., 91 f., s. auch Schranken Einschätzungsprärogative 40, 116, 118, 124, 129, 158, 190,211,213 Einwohner 85, 96, 172 Enquete-Kommission Verfassungsreform 134 Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers 50, 79,91 f., 206,212 Erforderlichkeit 41 f. Ergänzungszuweisung 101 Ermessen 62, 97 ff., 122, 124 f., 139, 211 Ermessensreduzierung 122 Erstinterpretation 184 Ersuchen 111 Europäische Gemeinschaft 23, 54 Evidenzkontrolle 40 Finanzausgleich 101 f., 172 ff. Finanzautonomie 180 Finanzhilfe 102 Finanzkraft 172 ff. Finanzpolitik, antizyklische 216 f. Fraktion 227 ff.

Frauenbeauftragte 85, 196, 207 Freiheit 51 f., 55 f., 64 f., 69 f., 98 Garantie - der Gemeinden 189 ff. - der kommunalen Selbstverwaltung 184 ff. - der Länder 99 Gebietsänderung 96 ff. - Gebietsabtretung 103 f. - Gebietsverlust 104 f. Gebietshoheit 186 Geeignetheit 38 ff. Gefahrenabwehr 119 Gemeinde 26 ff., 156, 184 ff., s. auch Selbstverwaltung - Allzuständigkeit 205 - Gebietshoheit 186 - Neugliederung 186 ff., 193 ff. - Organisation 207 - Umbenennung 187 Gemeindeverband 196, s. auch Kreis Gemeinsame Verfassungskommission 135 Generationengerechtigkeit 208 f., 218 f. Gesamtstaat 25, 93 f., 95, 103, 105, 115, 141, s. auch Zentral Staat Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 29 f., 208 ff. Geschäftsordnung des Bundestages 227 ff. Gesetzesvorbehalt 81, 90, 189 ff. Gesetzgebung, konkurrierende 33, 129 ff. Gesetzgebungsauftrag 110 Gesetzgebungskompetenz 80, 129 ff. Gestaltungsspielraum 187, 200, 214 s. auch Entscheidungsspielraum Gewährleistungspflicht des Bundes 106 ff., 127 Gewaltenteilung 35,47 ff., 91, 148 Gleichheitssatz 83 ff. Gleichstellungsbeauftragte 85, 196, 207 Gliedstaat 25, 93 f., 95, 109, 115, 148 Grundentscheidung 86, 88 Grundrechte 51 f., 57 ff., 64 f., 70, 72 f., 77, 90, 98, 137, 166 Grundsatzcharakter 44, 45 f. Haushalt 29 ff., 183 Haushaltsplan 29, 208, 214

Sachwortverzeichnis Herrenchiemseer Entwurf 111, 131 Homogenitätsgebot 105 f. Innenrecht 87 Institutionelle Garantie 27 f., 99, 189, 198 f. Institutsgarantie 68 Investitionen 30, 208 ff. Justitiablität 61,91, 134 f. Kalkar-Entscheidung 22 f., 31 ff., 164, 166 Katastrophennotstand - regionaler 116 f. - überregionaler 117 f. Kernbereich - der Selbstverwaltungsgarantie 26 f., 189 ff. - des Eigentums 67 Kernenergie 31, 160, 163 Kompetenz 25, 69 ff., 90, 94, 109, 130, 142 Kompetenzausübungsschranke 140, 168, 171, 183, 210, s. auch Schranke Kompetenzlehre 58 Kompetenzordnung 90, 109 Kontrolle, gerichtliche 39 ff., 49 ff., 90 ff. Kopplungsgeschäft 154 Kosten 112, s. Amtshilfe Kredit 29 ff., 129, 132 ff., 208 ff., s. auch Staatsverschuldung - Kreditaufnahme 208 ff. - Kreditobergrenze 30, 210 ff. Kreis 26 ff. Land s. Bundesland Landesverfassung 29, 193 ff. Leistungsfähigkeit 100 ff., s. Bundesland Leistungsverwaltung 21 Letztentscheidungskompetenz 91 f., 176 ff., 184 Maastricht-Urteil 23, 70, 140 Mandatsrelevanz 35, 224 Maßstäbegesetz 183 f. Mitgliedstaat der EU 23, 54, 70 Monarchie 75 ff. Neugliederung 95 ff., 186 f., 193 ff. Nivellierungsverbot 175 Normativbestimmung 106 Normenhierarchie 21,76 ff.

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Normenkollision 78 Normenkontrolle 72, 78 Norminterpretation 79, 138, 203, 216 f. Notstand 114 ff. Osterreich 76 Optimierungsgebot 51 f. Organisationshoheit 155, 196 Parlament 34 f., 50, 60, 74 f., 217 f., 220 ff. Parlamentarischer Rat 131 f. Parlamentsrecht 220 ff. Paulskirchenverfassung 75 Planung 189 Planungshoheit 29, 191 f. Polizei 115, 116, 118, 121 f. Polizeirecht 21, 61, 108, 119, 121 Präambel 93 Praktische Konkordanz 43 Preußenschlag 120 Prinzipiencharakter 52 Privatrecht 21 Prognose 39 f., 50, 100, 143, 186, 198, s. auch Einschätzungsprärogative Proportionalität 36 f., 51, 61 Rahmengesetzgebung 130 Rahmenordnung 79 Rangordnung 76 ff., s. auch Normenhierarchie Rastede-Beschluss 26 ff., 185 f. Recht, subjektives 71 f., 97, 137 Rechtsaufsicht 160 Rechtsbezirk 67 ff. Rechtsgrundsatz 44, 45 f. Rechtshilfe s. Amtshilfe Rechtsmissbrauch 65 f., 124 f. Rechtsordnung 76 Rechtsstaatsprinzip 52 ff., 84, 186 Rechtsverordnung 188 f. Rederecht 226 ff. Regel-Ausnahme-Schema 56 f. Reichsexekution 120 Rückholklausel 146 f. Rücksichtnahmegebot 171 f. Sachkompetenz 23 Sachzusammenhang 149

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arverzeichnis

Schutzbereich 86 f. Schranken 81, 88 f., 94 Selbstverwaltung der Gemeinden 26 ff., 184 ff. - Allzuständigkeit 205 - Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft 191,202 - Aufgabenentziehung 27, 29 - Aufgaben Verteilungsprinzip 27 f., 191 f., 195, 199 - Ausgestaltung 204 ff. - Finanzhoheit 196 - Frauenbeauftragte 85, 196, 207 - Gesetzesvorbehalt 189 ff. - institutionelle Garantie 27, 189 - Kernbereich 27, 29,190 f., 194 f., 196, 199, 205 f. - Planungshoheit 29, 191 f. - Schutzbereich 201 ff. - Universalitätsprinzip 190 f. - Wesensgehalt 190 f., 196, 199 Staatsgebiet 105 Staatsorganisationsrecht 25 Staats Verschuldung 208 ff., s. auch Kredit Staats vertrag 96, 103 f. Steuern 60 f., 130, 172 ff., 212 Streitkräfte 115 f. Systemgerechtigkeit 82, 84, 187 Terminologie 35 ff. Übermaßverbot 22, 36 f., 63, 70 Universalitätsprinzip 190 f. Vereinigte Staaten von Amerika 74 f. Verfassungsänderung 74, 78, 94, 95,98,103, 134 ff. Verfassungsautonomie 106

Verfassungswidrigkeit einer Norm 77 Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn 42 ff. Verteidigungsfall 130 Verteilungsprinzip, rechtsstaatliches 64 f., 70 Vertrag s. Staatsvertrag Vertretbarkeitskontrolle 33,40, 191, 198 Verwaltungsverfahren 151 ff. Volksentscheid 97 Vorrang der Verfassung 73 ff. Wahl 34 f., 220 ff. - Bestandsschutz 222, 225 f. - Hamburger Bürgerschafts wähl 34 f. - Mandatsrelevanz 224 - Mandatsverteilung 221 - Wahlberichtigung 223 - Wahlbestand 34, 221 f., 224 f. - Wahlfehler 34 f., 221 ff. - Wahlprüfung 220 ff. - Wahlrecht, subjektives 221 Wahrnehmungskompetenz 32, 164 ff. Weimarer Reichsverfassung 76, 104 f., 120, 198 Weisung 31 f., 150, 160 ff. Weisungsrecht 117 ff., 128, 150, 160 ff. Wesensgehalt 51, 190 Willkürverbot 51, 55 f., 82 ff. Zentralstaat 148, s. auch Gesamtstaat Zentralstelle 150 Zielvorgabe 87, 100 Zumutbarkeit 42 Zustimmung des Bundesrates 124, 126, 153 f. Zustimmungsvorbehalt eines Landes 104, s. Gebietsänderung Zweckverband 188