Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration: Eine Darstellung anhand seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen des Einigungsprozesses [1 ed.] 9783428493357, 9783428093359

Der Europäische Gerichtshof hat durch seine Urteile nachhaltige Integrationsfortschritte erzielt. Mit seinen Entscheidun

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Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration: Eine Darstellung anhand seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen des Einigungsprozesses [1 ed.]
 9783428493357, 9783428093359

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GERALD G. SANDER

Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen

Band44

Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration Eine Darstellung anband seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen des Einigungsprozesses

Von

Gerald G. Sander

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sander, Gerald G.: Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration : eine Darstellung anhand seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen des Einigungsprozesses I von Gerald G. Sander.- Berlin: Duncker und Humblot, 1998 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht; Bd. 44) ISBN 3-428-09335-6

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Satz: G. Sander, Tübingen Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-09335-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Studie geht auf die Magisterarbeit "Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als 'Garant' der europäischen Integration" aus dem Jahre 1994 an der Universität Tübingen im Fach Politikwissenschaft zurück. Die Arbeit wurde fiir die Veröffentlichung stark überarbeitet und wesentlich erweitert. Herrn Prof. Dr. RudolfHrbek verdanke ich die Anregung zu diesem Thema und freundliche Unterstützung bei der Bearbeitung. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Roland Sturm fiir die Erstellung des Zweitgutachtens. Durch die Erweiterung mehrerer Kapitel und die Präzisierung und Vertiefung juristischer Überlegungen möchte die vorliegende Arbeit nun interdisziplinären Ansprüchen genügen. Sie unternimmt einen Brückenschlag zwischen Jurisprudenz und Politikwissenschaft bei der untersuchten Fragestellung. Dieser wird dem Thema sicherlich am gerechtesten, denn die Aufgabe des Gerichtshofs ist eingebettet in ein Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand von Oktober 1997. Teilweise konnten die Ergebnisse des Gipfels von Amsterdam schon eingearbeitet werden. Hilfreich fiir die Suche und Auswertung der Quellen und des Schrifttums war mir die Tätigkeit am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Thomas Oppermann. Ihm und den anderen Herausgebern der "Tübinger Schriftenreihe zum internationalen und europäischen Recht" danke ich fiir die Aufnahme meiner Arbeit in diese Schriftenreihe. Freundliche Hilfe erhielt ich außerdem von Herrn Prof. Dr. Manfred Zuleeg bei einem Gespräch "vor Ort" am EuGH. Tübingen, im Oktober 1997

Gerald G. Sander

Inhalt A Einleitung ... ........................ .. ............................... ........................... .... ........ ..

15

I.

Problemlage........... .. ..... ................................ ........................... .... ...... ....

15

ll.

Gang der Darstelhmg.................................... .........................................

17

B. Der Gerichtshof- ein rein europäisches Organ . ........................... .. .. ..........

20

I.

Einleitung..............................................................................................

20

ll.

Zusammensetzung des Gerichtshofs .............. ............. ..... .... ......... ........ ..

21

Ill.

Arbeitsweise und Willensbildung................ .. .............. . ....... .. ... .... .. ........

23

IV. Urteile als Abschluß der Willensbildung .......... .. ........ ............ ... ... .. ........

25

C. Integration als Prozeß ..... .. . ................................. ............. ....... .. . .. ...... ...... ....

26

Begriff der "Integration"............................................................... ..........

26

Überblick über die Integrationstheorien ..........................................

27

a) Föderalistische Theorie........................................................... ..

28

b) Funktionalistische Theorie........................................................

28

c) Soziokausale Theorie ....................... ......................... ..... ...........

29

Dimensionen eines Integrationsprozesses.......... ...................... .... .. ..

30

Einflußmöglichkeiten auf die Dimensionen ................... .................... .....

31

1.

Integration als gemeinsame politische Entscheidungsfmdung . .. .......

31

a) Anzahl und Bedeutung der einbezogenen Politikbereiche ... .......

31

b) Allgewandter Entscheidungsmodus .. .. .. . .. ... .... .. .. .. .. ... .. .. .. .. . ... .. ..

33

c) Verbindlichkeit der Beschlüsse ........ .............................. .... .......

34

2.

Integration als gemeinsames Bewußtsein .................................... ....

35

3.

Integration als gesellschaftliche Verflechtung..................................

36

I.

1.

2. ll.

Inhaltsverzeichnis

10

Ergebnis ................................................................................................

37

D. Richterliche Interpretation als Einwirkungsmöglichkeit ................ ...........

39

I.

Einleitung................................................. .............................................

39

II.

Auslegung durch den Gerichtshofs....... ................................................ ..

39

1.

Auslegungsmethoden ... ... .. ..............................................................

39

2.

Grundsatz des "effet utile" .................................................... ..........

41

3.

Lehre von den "implied powers" ............ .........................................

42

E. Der Gerichtshof als "Gesetzgeber" ................. ... ........................ ...... .......... .

44

ill.

I.

Einleitung..............................................................................................

44

II.

Rechtsfortbildungsbefugnis ...... .......... ..... ... ............................. ..... ..........

45

1.

Kontrollfunktion .............................................................................

46

2.

Integrationsauftrag................................................................ ..........

46

Lückenschließung als Vorgehensweise.......... .................. .......................

47

IV. Rechtsverweigerungsverbot als Rechtfertigung.......................................

49

Ergebnis .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. ..

50

F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

52

m. V.

I.

Verfahrensarten und -Voraussetzungen...................................................

53

1.

Vertragsverletzungsverfahren.................................................. .. ... ...

53

2.

Nichtigkeitsklage..... .......................................................................

54

3.

Untätigkeitsklage................................................................ .......... ..

55

4.

Vorabentscheidungsverfahren ................................................... ......

55

5.

Verfahrensvoraussetzungen................................................. .... ........

56

II.

Enge Auslegung der Gemeinschaftsverträge .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

57

m.

Rechtssicherheit und -klarheit....................... .... .. .. .. .. .. ...... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .

59

IV. Aufgabenverteilung auf horizontaler Ebene.............................. ..............

59

I.

Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. ..

59

2.

Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts................ .. .........

61

lnhaJtsverzeic~s

11

Richterliche Selbstbeschränkung.............................. ...... ............. ....

61

a) Zurückhaltung bei politischen Fragen............. ...... ................ .....

62

b) Verminderte Kontrolldichte ................... ......... .. ........ .. ... ....... .. ..

63

Kompetenzverteilung auf vertikaler Ebene .................... ....... .. ........ ........

64

1.

Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.. ...... .... .... .. .. .... .. .... . ......

64

2.

Folgen einer weiten Kompetenzauslegung.... ... ...................... ..... .....

65

3.

Grenze der vorweggenommenen Vertragsänderung .........................

66

4.

Ergebnis .... .............................. .... ... .......... .. ... .... .... ....... ..................

67

Vl. Beschränkungen durch Vertragsrevisionen..... ........ ... .............................

68

VII. Akzeptanz der Urteile .................................................. ...... .. ............... ...

70

1.

Politische Akzeptanz bei den Organen der Mitgliedstaaten......... .....

71

2.

Akzeptanz bei den Unionsbürgern.. .. .......... .. ........ ....... ................ ....

73

3. Akzeptanz der Urteile bei nationalen Gerichten .................... ..........

74

a) Bundesverfassungsgericht................ .... .... ............................ .....

75

b) Conseil d'Etat.......... .............. ............ ... .... ........ ........... .......... ....

76

c) Italienischer Verfassungsgerichtshof. .... ....................................

78

d) Bundesfinanzhof.................................................... .............. .....

78

Reaktionen des Europäischen Gerichtshofs... .... .............. ......... ... ....

79

G. Analyse von Entscheidungen mit grundsätzlicher Bedeutung..... ..... ..........

81

Das Recht als Integrationsinstrument .....................................................

81

1.

Vorrang des Gemeinschaftsrechts ...................................... .............

82

2.

Unmittelbare Wirkung des primären Gerneinschaftsrechts.... .......... .

83

Urteile im Bereich der politische Entscheidungsfmdung........... ..............

84

1.

Urteile im Bereich der Verlagerung von Kompetenzen. .... .......... .....

85

2.

Urteile im Bereich des anzuwendenden Entscheidungsmodus. ... .. ....

87

3.

Unmittelbare Wirkung von Richtlinien............ ............ ....... ... ..........

89

Urteile im Bereich der gemeinsamen Willensbildung ......... ..... ..... ........ ..

90

Grundrechte als Stärkung der Stellung des Gemeinschaftsbürgers.. .

91

3.

V.

4.

I.

II.

ill.

1.

12

Inhaltsverzeichnis 2.

Staatshaftung bei nichtumgesetzten Richtlinien..................... ..........

93

3.

Institutionelle Weiterentwicklung als Stärkung des Demokratieprinzips.................................................................................................

94

IV. Urteile im Bereich der gesellschaftlichen Verflechtung ..........................

97

I.

Förderung der wirtschaftlichen Verflechtung...................................

97

2.

Förderung des Personenverkehrs und des gemeinsamen Bewußtseins............................................................................................. ..

99

a) Durchsetzung des Diskriminierungsverbots............................... 100 b) Durchsetzung der Freizügigkeitsgarantie ................................... I 02 c) Soziale Sicherung der Wanderarbeitnehmer .............................. 103

V.

Schlußfolgerungen aus den Entscheidungsanalysen ........................ .. ...... 105

H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor......................... ... ... ...

I.

I 07

Integrationsfunktionen des Gerichtshofs........................................ ......... I 07 I.

Allgemeine Integrationsfunktion der Rechtsprechung ....... ... .... ........ I 07

2.

Besonderer Integrationsauftrag in einer dynamischen Rechtsordnung .......................................... ......... ............................................ 108

II.

Integrationspolitische Rolle des Gerichtshofs .............................. ........ ... 110

ill.

Die neue Aufgabe des Gerichtshofs............................................ ......... ... 113

Schlußwort ............. ..... .. . ... ... ............................. ......... .................. ... .... .. .. .....

116

Literaturverzeichnis........................ .............................. ... .................... ... ...........

119

Sachverzeichnis.......... .................. ... ... .............. ........ ..... ... ..................... ... ... .......

129

L

Abkürzungsverzeichnis ABL

Abs. a.F. AJDA AKP

Anm. AöR Art.

Aufl. AWD

Bd. BFH BVerfG bzw.

CMLRev. ders./dies. DIT DVBL E EAG EAGV ebd. ECJ Ed(s). EG EGKS EGKSV EGV ehern.

EJIL EU EuGH EuGRZ EuR

EUV

Amtsblatt der EG Absatz alte Fassung Annuaire Juridique de Droit Administratif Afrikanische/Karibische/Pazifische Anmerkung(en) Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Artikel Auflage Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift) Band Bundesfmanzhof Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Common Market Law Review derselbe/dieselben Deutscher Juristentag Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Entscheidungen (Band, Seite) Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der EAG vom 25. März 1957 ebenda European Court of Justice Editor(s) Europäische Gemeinschaft(en) Europäische Gemeinschaft ftlr Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der EGKS vom 18. April 1951 Vertrag zur Gründung der EG vom 7. Februar 1992 ehemaliger European Journal oflntemational Law Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die EU vom 7. Februar 1992

14 EuZW EWG EWGV EWS f./ff. Fn. FS GJ\SP GJ\TI GJ\IS gern. GS Hrsg. hrsgg. jur. JuS JZ lit. m.E. NJW

Nr. RabelsZ RevMC Rdnr. Rec. RlW Rs. S. Slg. sog. StiGH st. Rspr. TRIPS u./u.a. Univ. V.

verb. vgl.

WTO

z.B. zugl.

J\b~gsverzeichrris

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der EWG vom 25. März 1957 Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) folgende Seite/Seiten Fußnote Festschrift Gemeinsame J\ußen- und Sicherheitspolitik General J\greement on Iariffs and Irade General J\greement on Irade in Services gemäß Gedächrrisschrift Herausgeber herausgegeben juristische Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung Iitera meines Erachtens Neue Juristische Wochenschrift Nummer Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue du Marche Commun Randnummer Receuil des arrets du Conseil d'Etat Recht der Internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Rechtssache Seite(n) Sammlung sogenannte(r) Ständiger Internationaler Gerichtshof ständige Rechtsprechung Irade-Related J\spects of Intellectual Property Rights und/und andere Universität vom/n verbundene vergleiche World Irade Organization zum Beispiel zugleich

We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is. (Char/es H. Hughes, ehem. Supreme Court-Präsident)

A. Einleitung I. Problemlage Bei der Bewertung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, kurz Europäischer Gerichtshof oder in der vorliegenden Arbeit auch lediglich Gerichtshof genannt, gehen die Ansichten teilweise weit auseinander. Die einen sprechen vom ihm in einem positiven Sinne als einem "Integrationsfaktor erster Ordnung" (Walter Hallstein) 1, dem "Motor der Integration" (Carl-Christoph Schweitzer)2 oder sehen in ihm das "einzige wirklich funktionierende Gemeinschaftsorgan" (Ulrich Everling). Sie bringen damit zum Ausdruck, daß es ihm zu verdanken ist, daß sich die Gemeinschaft nicht nur zu einem politischen und wirtschaftlichen System, sondern auch zu einer Rechtsgemeinschaft entwickelt hat, die der Gerichtshof selbst zu den Grundlagen der europäischen Integration zählt. 3 Außerdem seien der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs entscheidende Impulse für das Zusammenwachsen Europas zu verdanken.

I Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, S. 9; vgl. auch

Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, in: ders./von Caemmerer, FS-Hallstein, S. 431 ff.

2 Vgl. auch Oppermann!Hiermaier, Zur Einfilhnmg: Das Rechtsschutzsystem des EWG-Vertrags, in: JuS 1980, S. 783.

3 Vgl. EuGH Slg. 1982, 1575 ff. - Rs. 155/79 "AM & S".

16

A. Einleitung

Kritiker, insbesondere Politiker und Journalisten aus den Nationalstaaten, nehmen Anstoß an einzelnen Entscheidungen, die ihrer Ansicht nach aufgrundeiner starren Dogmatik keine Rücksicht auf die sozialen und ökonomischen Folgen des Urteilsspruches nehmen. Sie üben generelle Urteilsschelte4 oder bezi~htigen den Gerichtshof unzulässige Rechtsfortbildung zu betreiben5 und reden deshalb pointiert von einem "gouvernement desjuges". 6 Gerade hinsichtlich der Entscheidungen zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien, wurde dem Gerichtshof "revolting judicial behavior"7 vorgeworfen und der deutsche Bundessozialminister Norbert Blüm kritisierte das Urteil zur Staatshaftung bei nicht fristgerechter Umsetzung von Richtlinien als einen "Pyrrhus-Sieg" 8 und machte keinen Hehl aus seiner Ablehung dieser Rechtsprechung. Dabei scheint es, daß oft nicht nur rationale Überlegungen ftir diese Haltung eine Rolle spielen, sondern vielmehr eine allgemeine Skepsis hinsichtlich der Vertiefung der europäischen Integration oder sogar eine generelle Ablehnung gegenüber der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union bzw. ihrer ordnungspolitischen Ausrichtung zum Ausdruck kommt. Wer eine betont nationalstaatliche Grundhaltung hat, dem scheint es leicht zu fallen, dem Gerichtshof vorzuwerfen, daß er im Zweifel zugunsten der Gemeinschaft und gegen die Interessen ihrer Mitgliedstaaten entscheidet. Tatsächlich ist diese Gemeinschaft durch ein Spannungsverhältnis zwischen ihren Organen und den Regierungen der Mitgliedstaaten geprägt. In der praktischen Politik kommt es darum meistens zu einem Kompromiß zwischen der Kommission und dem Ministerrat, der aus den Vertretern der nationalen Regierungen gebildet wird und deshalb die nationalen Interessen vertritt. Nur

4 Le Monde v. 27. April1971, S. 19 f. : "La Cour de Justice de Luxembourg a-t-elle outre passe ses competences?".

5 So z.B. Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH, in: v. Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, S. 31 ff., insbesondere auf S. 46 spricht er von "vertragswidriger Kompetenzanmaßung" durch den Europäischen Gerichtshof. 6 Vgl. den Titel von Co/in, Le gouvernement des juges dans 1es Communautes Europeennes. 7 Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, S. 12. 8 DER SPIEGEL Nr. 49 v. 30. November 1992, S. 107.

II. Gang der DarstellWlg

17

der Europäische Gerichtshof ist diesem Konsensprinzip nicht unterworfen. 9 Er ist ein rein europäisches, überregionales Organ und hat aufgrund der an ihn herangetragenen Einzelfalle seine Entscheidungen unabhängig, allein nach rechtlichen Gesichtspunkten, zu treffen. Durch seine Rechtsprechung sind aber nicht nur die Organe der Gemeinschaft, sondern auch die der Mitgliedstaaten betroffen. Das grundsätzliche Gewaltenteilungsproblem zwischen Legislative und Judikative, also pointiert gesprochen, zwischen Rechtsetzung und Richterrecht, tritt hier in stärkerem Maße auf. Zum einen gilt dies im Verhältnis zwischen Gerichtshof und Rat, wenn sekundäres Gemeinschaftsrecht betroffen ist, zum anderen können die Kompetenzen der Organe der Mitgliedstaaten durch seine Judikatur betroffen sein. Eine Rechtsprechung, die der Gemeinschaft Kompetenzen zuwachsen läßt, entzieht diese zugleich den nationalen Gesetzgebern. Deshalb ist der Gerichtshof auch einer größeren Kritik ausgesetzt, als dies nationale Gerichte auch Verfassungsgerichte- üblicherweise sind. Ob diese Kritik aus rechtlicher und vor allem integrationspolitischer Sicht berechtigt ist, möchte die vorliegende Arbeit untersuchen. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit der Gerichtshof überhaupt in der Lage ist, durch seine Rechtsprechung die europäische Integration zu beeinflussen. Dafür ist es notwendig darzustellen, in welche speziellen Dimensionen des Einigungsprozesses der Gerichtshof steuernd eingreifen kann. Außerdem ist zu untersuchen, ob er sich bei seiner Rechtsprechungstätigkeit noch im Rahmen seiner juristischen Befugnisse und politischen Möglichkeiten hält, da es sich hier um einen normativ-politisch geprägten Bereich handelt und er im Falle der Überschreitung seiner Kompetenzen Schaden an seinem Ansehen nehmen kann. Zudem ist der Frage nachzugehen, welche Anforderungen an ihn in bezug auf eine integrationsfördernde Tätigkeit zu stellen sind.

II. Gang der Darstellung Die Arbeit untersucht in einem ersten Schritt, ob die Zusammensetzung und die Willensbildung im Europäischen Gerichtshof zumindest formell die Ge-

9 So auch Everling, Die BedeutWlg des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften für die EntwicklWlg Wld DurchsetzWlg des Gemeinschaftsrechts, in: Der Beitrag des Rechts zum europäischen EinigWlgsprozeß, S. 118. 2 G. Sander

18

A. Einleittmg

währ dafür bietet, daß Entscheidungen getroffen werden, die in allen Rechtsordnungen der Gemeinschaft und damit auch von allen - insbesondere den nationalen - Akteuren akzeptiert werden können. Danach wird eine Analyse des Begriffs "Integration" vorgenommen, um festzustellen, in welchen verschiedenen Dimensionen des Integrationsprozesses und auch in welchem Umfang der Gerichtshof mit seinen Entscheidungen Einfluß auf die europäische Einigung nehmen kann. Anschließend werden die rechtstechnischen Möglichkeiten der Richter aufgezeigt, mit denen sie die Ausweitung der Gemeinschaftsbefugnisse und die integrationsfördernde Interpretation der Vorschriften der Verträge in ihren Urteilen begründen. Neben den Auslegungsmethoden wird außerdem gefragt, ob der Gerichtshof über die Interpretation hinaus befugt ist Recht zu setzen, oder ob er durch eine Rechtsfortbildungen in unzulässiger Weise zum "Ersatz- oder Nebengesetzgeber" der Gemeinschaft wird. Für den Fall der Bejahung einer Rechtstindungskompetenz ist darzulegen, wie er die in der europäischen Rechtsordnung vorhandenen Lücken schließt, um eine Entscheidung in den einzelnen Verfahren treffen zu können. Dieser Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs sind jedoch vielfaltige politische und juristische Grenzen gesetzt. Eine Beschränkung ergibt sich aus dem Prinzip des "institutionellen Gleichgewichts" und der vertikalen Gewaltenteilung, die es untersagen, daß der Gerichtshof in die Befugnisse und Aufgaben der anderen Gemeinschaftsorgane und der Organe der Mitgliedstaaten eingreift. Dies könnte z.B. durch eine unzulässige Rechtsschöpfung geschehen, die die Befugnisse der nationalen Gesetzgeber beschneidet. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Grenzziehung der "vorweggenommenen Vertragsänderung" des Bundesverfassungsgerichts einzugehen sein. Aber auch die Verfahrensarten und -Voraussetzungen stellen eine Begrenzung seiner Machtfülle dar. Zum Teil haben die Mitgliedstaaten bei den Vertragsrevisionen auch mittels Protokollen die Wirkungen von Urteilen eingeschränkt. Eine weitere bedeutende Grenze besteht in dem Grad der Akzeptanz der Entscheidungen durch die nationalen Akteure. Exemplarisch werden anschließend "klassischen" Entscheidungen auf dem Gebiet der Integrationsförderung durch den Gerichtshof analysiert und bewertet. Diese Urteile werden, nach kurzer Vorstellung des ihnen zugrunde liegenden Sachverhaltes, sowohl hinsichtlich ihrer Begründung, als auch auf ihre

II. Gang der Darstellung

19

politischen Wirkungen in den einzelnen Bereichen des Integrationsprozesses untersucht. Zum Schluß soll die Bedeutung des Gerichtshofs als Integrationsfaktor aufgezeigt werden. Dabei kommt es sowohl auf seine allgemeine Integrationsfunktion als ein Organ der rechtsprechenden Gewalt, als auch auf seine besondere Rolle in einer auf Dynamik angelegten Rechtsordnung an. Letztlich ist auch seine Funktion als politischer Akteur im Integrationsprozeß zu bewerten. Als ein Organ der Gemeinschaft hat er dafiir Sorge zu tragen, daß sich der Einigungsprozeß dynamisch fortentwickelt, aber auch keine Gefahren für das Fortschreiten der Integration entstehen. Dabei ist zu untersuchen, ob er seiner Rolle als Hüter der europäischen Einigung auch gerecht wird oder die Akzeptanz durch die einzelnen nationalen Akteuren auf eine so harte Probe stellt, daß es zu einer Schieflage der Integration kommt.

B. Der Gerichtshof- ein rein europäisches Organ

I. Einleitung Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat in Luxemburg, man kann sagen, fast im geographischen Herzen der Europäischen Union, seinen Sitz. 10 Von der Stadt, die im Laufe ihrer wechselhaften Geschichte unter der Herrschaft unterschiedlicher Staaten stand, wie Frankreich, dem Deutschen Reich, Spanien, den Niederlanden und Belgien, 11 die heute alle Mitglieder der Europäischen Union sind, geht jetzt ein Teil der Impulse aus, die zur Integration der Europäischen Gemeinschaften beigetragen haben und die künftig auch zur Entwicklung der Europäischen Union beitragen sollen. Diese Gerneinschaft definiert sich selbst als Rechtsgerneinschaft 12 und mißt der Wahrung des Rechts eine grundlegende Bedeutung ftir den Integrationsprozeß bei, weil ihr elementare staatliche Eigenschaften fehlen. 13 Sie stützt sich ftir die Verwirklichung ihrer Ziele allein auf die Macht des Rechts, durch die Gestaltung und Anwendung einer neuen Rechtsordnung. Deshalb muß sie notwendigerweise auch ihrem Gerichtshof, der als Hüter des europäischen Gemeinschaftsrechts ein bindendes Element der Gerneinschaft ist, eine bedeutende Rolle zuweisen. 14

10 Vgl. jetzt das Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe sowie bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaft, das dem Vertrag von Arnsterdam beigefügt wurde. 11 Vgl. Stichwort: Luxemburg, in: Brackhaus Enzyklopädie, Bd. 13, 19. Aufl. (1990), S. 640 f. 12 Hallstein, Die EWG- Eine Rechtsgemeinschaft, in: ders., Europäische Reden, (hrsgg. von Oppermann), S. 341 ff. und ders., Die Europäische Gemeinschaft, S. 51 ff. Aufgegriffen wurde der Begriff in EuGH Slg. 1986, 1339 (1365) - Rs. 294/83 "Les Verts". 13 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 392.

14 Kutscher, Über den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1981 , S. 393.

II. Zusammensetzung des Gerichtshofs

21

Der Europäische Gerichtshof hat nach Art. 164 = 220 neu 15 EGV, Art. 31 EGKSV und Art. 138 EAGV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Darüber hinaus ist er allerdings auch für die Prüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts, wie z.B. den Verordnungen und Richtlinien und der ungeschriebenen Bestandteile dieser Rechtsordnung zuständig, mithin also des gesamten Gemeinschaftsrechts. 16 Er ist demzufolge Verfassungs-, aber auch Verwaltungs-, Zivil-, Dienstund Disziplinargericht in einem. 17 Die ihm dabei zur Verfügung stehenden Verfahrensarten sind gesetzlich geregelt worden. Vorrangig für die Untersuchung seiner Rolle in der europäischen Integration ist seine Funktion als Verfassungs-, mitunter auch als Verwaltungsgericht der Gemeinschaft. Mit dem Inkrafttreten des EG-Vertrages und des EU-Vertrages am 1. November 1993 wurde die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" in "Europäische Gemeinschaft" umbenannt, als ein Teil einer neugegrtindeten "Europäischen Union". Die Befugnisse des Gerichtshofs bestehen aber auch künftig vorwiegend im Ralunen der drei bereits existierenden Gemeinschaften fort, wie sich aus Art. L = 46 neu EUV ergibt. 18 Außen vor bleibt er zumeist im Bereich "Inneres und Justiz" und in der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik".

II. Zusammensetzung des Gerichtshofs Entscheidend für die Integrationskraft des Europäischen Gerichtshofs ist seine personelle Zusammensetzung, bei der möglichst Vertreter aller in der Europäischen Union vorhandenen Rechtsordnungen berücksichtigt sein soll15 Neue Nwnerienmg der Artikel des EG-Vertrages und EU-Vertrages nach Art. 11 des Vertrags von Amsterdam. 16 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 338. 17 Schwarze, Gnmdzüge und neuere Entwicklung des Rechtsschutzes im Recht der Europäischen Gemeinschaft, in: NJW 1992, S. 1065.

18 Es wird deswegen im Text der Begriff "Gemeinschaft" beibehalten, da die Urteile vor allem im ursprünglichen EWG-, nun EG-Bereich, für die Untersuchung relevant sind. Auch bei einem speziellen Handeln auf Gnmdlage konkreter Rechtsgrundlagen wird auf die Bezeichnung "Europäische Gemeinschaft" zurückgegriffen. Vgl. auch die Mitteilungen in: NJW 1994, Heft 4, S. XLI. Der Begriff der "Europäischen Union" wird hingegen dort verwendet, wo die Gemeinschaft im politischen Sinne als Teil der Union gemeint ist.

22

B. Der Gerichtshof- das rein europäische Organ

ten, der innere Zusammenhalt des Gremiums 19 und die persönliche und sachliche Unabhängigkeit seiner Richter. Zur Zeit besteht der Gerichtshof aus 15 Richtern und 9 Generalanwälten. Für die Zusammensetzung des Gerichtshofs schlägt absprachegemäß jede Regierung eines Mitgliedstaates einen Richter vor. Zeitweise war ein weiterer Richter notwendig, um eine ungerade Anzahl an Richtern zu gewährleisten. Diese werden dann in ihrer Gesamtheit im gegenseitigen Einvernehmen der Regierungen durch "die im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten"20 für 6 Jahre ernannt. Eine Wiederernennung ist grundsätzlich möglich. Die personelle Legitimation der einzelnen Richter des Gerichtshofs erfolgt damit über die Mitgliedstaaten. 21 Trotzdem besitzt der Gerichtshof einen rein europäische Charakter. Dieser begrundet sich gerade aus der Unabhängigkeit der Gemeinschaftsrichter gern. Art. 167 = 223 neu EGV, insbesondere auch von dem ihn entsendenden Mitgliedstaat. 22 Auffällig ist, daß die Staatsangehörigkeit für das Vorschlagsrecht keine Bedeutung hat. Es ist also möglich, daß ein Staat einen Richter aus einem anderen Mitgliedstaat oder sogar aus einem Drittstaat vorschlägt. In der Praxis ist dieser Fall jedoch noch nicht eingetreten, da die Regierungen wissen, daß sie sich diese Selbstaufgabe von eigenen Mitwirkungsmöglichkeiten innenpolitisch kaum leisten können. Teilweise wird auch eine Beschränkung der freien Richterwahl aus der Systematik der Verträge entnommen, da deren Freiheiten und Rechte an die Staatsangehörigkeit zu einem Mitgliedstaat gekoppelt sind. 23 19 Vgl. Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, in: Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, S. 139. 20 Sie handeln dabei nicht als Gemeinschaftsorgan, sondern als Konferenz von Staatsvertretern. 21 Classen, Europäische Integration und demokratische Legitimation, in: AöR 1994, S. 246. 22 Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Bd. 1, S. 473 ist der Ansicht, daß die Verfasser des Art. 167 EWGV vor allem die Unabhängigkeit vom entsendenden Heimatstaat meinten.

23 So Pieper!Schol/meier, Europarecht - Ein Casebook, S. 10. Insoweit unterscheidet sich die Gemeinschaft von der EMRK, die in Art. I jeder Person, die der Hoheitsgewa1t einer Vertragspartei unterworfen ist, die Beschwerdemöglichkeit einräumt. Liechtenstein könnte deshalb den kanadischen Rechtsgelehrten Ronald Macdonald in den Europäischen Gerichtshof fi1r Menschenrecht nach Straßburg entsenden.

ill. Arbeitsweise Wld WillensbildWlg

23

Es ist im Ergebnis davon auszugehen, daß alle nationalen Rechtsordnungen der Europäischen Union im Plenum des Gerichtshofs durch einen Richter vertreten sind. Obwohl Kanunem mit jeweils drei oder fünf Richtern eingeführt wurden, werden die schwierigen und bedeutsamen Fälle oder wenn dies von einem Mitgliedstaat bzw. einem Gemeinschaftsorgan gefordert wird, im Plenum verhandelt. Damit kann schon die heterogene Zusammensetzung des Gerichtshofs ein Garant für "europäische Entscheidungen" sein, wenn diese Vielfältigkeit der Rechtsordnungen sich auch in dem Willensbildungsprozeß der Richter niederschlägt. Mit der fortschreitenden Erweiterung der Europäischen Union, wird auch eine Erhöhung der Zahl der Richter einhergehen. Es muß auf lange Sicht zwangsläufig zu einer Senatsbildung kommen, um die Arbeitsfähigkeit des Spruchkörpers aufrecht zu erhalten. Damit verbunden ist die Folge, daß nicht mehr alle Rechtsordnungen an den jeweiligen Entscheidungsfindungen beteiligt sein werden. Bei dieser Konstellation ist es aus den oben genannten Gründen aber unbedingt geboten, bei wichtigen Rechtsfällen von grundsätzlicher Bedeutung, die Möglichkeit einer Plenarentscheidung einzuführen.24 Andere Vorschläge gehen dahin, die Zahl der Generalanwälte und eventuell der Richter des Gerichts erster Instanz bei der Verteilung mit einzubeziehen.25 Weil es - wie aus oben erwähnten Gründen ersichtlich - nicht nur um eine bloße Gleichbehandlung der Staaten geht, ist diese Lösung gegenüber der Senatsbildung zu verwerfen.

111. Arbeitsweise und Willensbildung Die einzelnen Gemeinschaftsrichter am Europäischen Gerichtshof repräsentieren ihren jeweiligen Heimatstaat und damit auch dessen Rechts- und Gesellschaftsordnung. Die Geschichte, die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen, die Wertvorstellungen und Rechtstradition ihres Herkunftslandes haben die Richter stark geprägt. Nach seinen Anforderungen für die Ausübung des Richteramtes haben sie ihre juristische Ausbildung er-

24 So auch Reisch/, Die FWlktion der Generalanwälte in der Emopäischen RechtsprechWlg, in: Schwarze (Hrsg.), Der Emopäische Gerichtshof als VerfassWlgsgericht Wld Rechtsschutzinstanz, S. 125. 25 Vgl. Philipp, RegieTWlgskonferenz 1996 Wld emopäische Gerichtsbarkeit, in: EuZW 1996, S. 624.

24

B. Der Gerichtshof- das rein europäische Organ

halten und ein eigenes Verständnis von Staat, Recht und Gerechtigkeit entwickelt.26 Die Aufgabe der Richter besteht darin, den Beitrag ihrer nationalen Rechtsordnungen in den Willensbildungsprozeß des Gerichtshofs miteinfließen zu lassen. Es ist erforderlich, daß sämtliche Rechtsordnungen bei der Entscheidungstindung mitwirken, damit vom Gerichtshof Rechtsgrundsätze entwickelt werden können und dadurch Gemeinschaftsrecht geschaffen wird, das von allen Mitgliedstaaten als geltendes Recht anerkannt wird. Deshalb hat es der Gerichtshof auch stets abgelehnt, daß sich die Richter als Berichterstatter auf ein spezielles Rechtsgebiet spezialisieren, weil sie dann auf diesem Gebiet von ihrem Fachwissen her einen Vorteil erlangen, der eine Gefahr für die Gleichwertigkeit der Beiträge aller Rechtsordnungen zur Entscheidungstindung darstellt.27 Die Verfahren ziehen sich, unter anderem auch wegen der Größe des Spruchkörpers, über sehr lange Zeiträume hin. 28 So können die Richter ihre Entscheidungen in vielen Gesprächen untereinander entwickeln. 29 Auch die Bandbreite der frtiher ausgeübten Berufe der Richter, die aus der Rechtslehre, der Politik, den nationalen Verwaltungen oder der Anwaltschaft stammen, befruchtet die Beratungen des Gerichtshofs. 30 Deshalb setzt sich in den Entscheidungen auch nicht eine Rechtsordnung eines einzelnen Mitgliedstaates durch, sondern eine im Wege der Rechtsvergleichung gefundene Lösung aus den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. Damit vollzieht der Gerichtshof, wie es der ehemalige Richter am EuGH Ulrich Everling treffend formuliert, "bei seiner Willensbildung sozusagen spiegelbildlich den Gesamtprozeß der europäischen Integration nach, in den er eingebettet ist". 31 26 Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofes zur Entwicklung der Gemeinschaft, in: Magiera (Hrsg. ), Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, S. 199 f. 27 Vgl. Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, S. 141. 28 Die Verfahrensdauer lag 1995 nach dem Tätigkeitsbericht 1995 des EuGH und des Gerichts erster Instanz der EG ( 1996), S. 13 u. 204 durchschnittlich bei 20,5 Monaten ft1r Vorabentscheidungssachen und bei 17, 1 Monaten ft1r direkte Klagen. 29 Vgl. Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 201. 30 Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, S. 139.

31 Everling, Die Bedeutung des EuGH, S. 123.

IV. Urteile als Abschluß der Willensbildung

25

IV. Urteile als Abschluß der Willensbildung Das Urteil bildet den Abschluß des Willensbildungsprozesses der Richter im Gerichtshof. Es resultiert zum Teil aus dem Ergebnis einer Rechtsvergleichung der verschiedenen Rechtsordnungen in der Gemeinschaft. 32 Zumeist sind sich die Richter noch über den Tenor der Entscheidung einig, nicht aber über die rechtliche Begründung des Ergebnisses. 33 Dies hängt eng mit dem Prozeß der Willensbildung im Gerichtshof zusammen. Das Rechtsempfinden in den einzelnen Rechtsordnungen ist sehr ähnlich, so daß das gefundene Ergebnis für den, zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreit identisch ist. Lediglich der Weg zum gleichen Ergebnis wird von den einzelnen Rechtsordnungen unterschiedlich beschritten. Als Folge davon fallt die jeweilige Begründung der Entscheidungen in den Urteilen des Gerichtshofs meistens nur sehr knapp aus. 34 Hinzu kommt, daß diese Kürze der Entscheidungsgründe einer französischen Rechtstradition entstammt, der sich der Gerichtshof in diesem Punkt bedient. 35 So prägt die französische Sprache in der die Beratungen gefiihrt und auch die Urteile abgefaßt werden, den Stil und die Art zu argumentieren. 36 Deswegen gewinnen die Schlußanträge der Generalanwälte, die in der Amtlichen Sammlung der veröffentlichten Entscheidungen immer mit abgedruckt werden, besondere Bedeutung. Diese Schlußanträge beinhalten eine umfassende rechtsvergleichende Untersuchung der verschiedenen Rechtslagen in den Mitgliedstaaten. Der Generalanwalt muß also für sich allein die Synthese der einzelnen Rechtsordnungen vornehmen, die die Richter als Willensbildungsprozeß in ihrem Gremium nachvollziehen. Deshalb sind die ausführlichen Schlußanträge für das Verständnis, der häufig nur in kurzer Form begründeten Entscheidungen, oft unverzichtbar. 37 32 Daig, Zu Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein/Drobnig!Kötz (Hrsg.), FS-Zweigert, S. 395 ff. 33 Vgl. Everling, Der Gerichtshofals Entscheidungsinstanz, S. 155. 34 Ausführlicher hierzu Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1994, S. 127 ff. 35 Vgl. Köpemik, Die Ausweitung der Rechtsetzungsbefugnisse der Europäischen Gemeinschaften durch den Europäischen Gerichtshof, S. 199. 36 Everling, EuR 1994, S. 140. 37 Reischl, Die Funktion der Generalanwälte in der Europäischen Rechtsprechung,

s. 125 f.

C. Integration als Prozeß I. Begriff der "Integration" Ausgehend von der Fragestellung, in welchem Maße und in welchen Bereichen der Europäische Gerichtshof die Integration beeinflussen kann, ist es erforderlich, zunächst den Integrationsbegriff näher zu beleuchten und zu definieren. Der Begriff der "Integration" hat aufgrund seiner vielfaltigen Verwendung in den unterschiedlichsten Kontexten in der Wissenschaft und im politischen Leben allmählich seine Konturen verloren. 38 Der Facettenreichturn des Begriffs spiegelt sich darum auch in den verschiedenen Unterscheidungen und Erklärungsmodellen des Begriffs wieder. Integration kann dabei zweierlei bedeuten: zum einen den statischen Zustand der Verschmelzung, zum anderen aber auch die dynamische Entwicklung hin zu einem Endzustand. Der dynamische Begriff beschreibt einen Entwicklungsprozeß, der entweder auf die Schaffung einer einheitlichen Gemeinschaft aus mehreren unabhängigen Akteuren oder aber auf die Eingliederung eines einzelnen Akteurs in eine bereits bestehende Gemeinschaft gerichtet ist. 39 Im Gegensatz dazu stellt der statische Begriff die erreichte Annäherung zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt dar. Die Fragestellung, in welcher Form der Gerichtshof im Laufe der Jahrzehnte, die Integration der Mitgliedstaaten beeinflußt hat, kann in sinnvoller Weise nur durch eine Betrachtung der europäischen Integration als dynamischen Prozeß, bei dem aus selbständigen Akteuren eine Gemeinschaft gebildet wird, geklärt werden. Dabei soll von einem bestimmten Grad ausgehend aufgezeigt werden, wie es der Gerichtshof durch seine Rechtsprechung erreicht, die Vertiefung der europäischen Einigung durch einzelne Integrationsschritte in ver-

38 Vgl. hierzu Teune, Integration, in: Sartori (Ed.), Social Science Concepts, S. 235 ff.

39 Schaffner, Vereinigte Staaten von Europa?, S. 11.

I. Begriff der "Integration"

27

schierlenen Bereichen zu fordern und damit den gesamten Prozeß voranschreiten zu lassen. Teilweise wird die Integration- verstanden als ein Prozeß, in dem aus mehreren Akteuren ein neuer Akteur gebildet wird, auf den dann ein Loyalitätentransfer stattfindet - in einen politischen, einen rechtlichen und einen wirtschaftliehen Bereich aufgeteilt. 40 Bei dieser Aufteilung der Integration werden zwar unterschiedliche Sektoren gebildet, diese Differenzierung kann aber keine Kriterien zur Bestimmung des Grades der Entwicklung innerhalb der einzelnen Bereichen des Integrationsprozesses liefern. Die Unterscheidung erfaßt also lediglich das "Wo" der Integration, jedoch nicht die sich ständig ändernde "Tiefe" des Integrationsprozesses und ist deshalb für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit nicht geeignet. Darüber hinaus wird in der Politikwissenschaft eine Integration nicht nur nach der Tiefe der Entwicklung untersucht, sondern auch als mehrdimensionales Geschehen betrachtet und die unterschiedlichen Dimensionen sowohl isoliert, als auch in Verbindung zu einander, analysiert. 1. Überblick über die Integrationstheorien

Die Theoriekonzepte für eine Integration legen ihren Schwerpunkt auf die Analyse der Einflußgrößen, die die integrationspolitischen Vorgänge, den Fortgang, den Rückschritt oder den Stillstand, aber auch die Geschwindigkeit des Integrationsprozesses bestimmen. Diese politikwissenschaftlichen Ansätze versuchen den Verlaufvon Integrationsprozessen zu beschreiben und zu erklären, die Triebkräfte und Erfolgsbedingungen zu analysieren ferner ihre Wirkungen zu messen sowie den Grad der Integration zu bestimmen. 41 Diese Fragestellung, mit dem Gerichtshof als Variable, kommt auch dem Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit am nächsten. Die sich daraus entwickelnden Theorien können hier zwar nicht ausführlich wiedergegeben werden, aber es gilt wenigstens ihre Kernsätze aufzuzeigen. 40 So von Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 803 ff. und Constantinesco, Das Recht der EG, S. 142 ff. Speziell zur wirtschaftlichen Integration Hellwig, Die Integrationsidee der EWG - wirtschaftspolitische Aspekte, in: Arbeitskreis Europäische Integration (Hrsg. ), Integrationskonzepte auf dem Prüfstand, S. 31 ff. 41 Vgl. Frei, Integrationsprozesse, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 120 f.

28

C. Integration als Prozeß

Aus den Schwerpunkten der einzelnen Hypothesen läßt sich schließlich eine umfassende Theorie entwickeln, aus der die einzelnen Dimensionen des Integrationsprozesses, die auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind, isoliert werden können. a) Föderalistische Theorie Die föderalistische Theorie geht davon aus, daß der Integrationsprozeß in dem Maße voranschreitet, in dem die einzelnen Staaten bestimmte Aufgaben nicht mehr selbst zu bewältigen vermögen und sie deshalb, im Wege eines bewußten Vorganges, auf einen neuen supranationalen Akteur übertragen. 42 Ein Mangel dieses Theorieansatzes liegt in der eindimensionalen Betrachtungsweise, namentlich der Beschränkung auf die Aufgabenverteilung als Untersuchungsgegenstand. b) Funktionalistische Theorie Nach dem Scheitern dieser Hypothese für die Erklärung des europäischen Einigungsprozesses entwickelte David Mitrany die Funktionalismustheorie. 43 Sie sagt aus, daß internationale Organisationen versuchen, auf dem Weg kooperativer Lösungen für bestimmte Probleme, die vor allem von sozialer und wirtschaftlicher Art sind, ein Konzept für eine dauerhafte Friedenserhaltung zu finden.44 Insbesondere die Sachzwänge aufgrund des technologischen Fortschrittes sind es, die die Bildung von funktionalen Einheiten auf der internationalen Ebene zur Problembewältigung erzwingen. 45 Der Erfolg einer internationalen Organisation in einem speziellen Bereich würde als Anregung und als Beispiel

42 Taylor, A Conceptual Typology of International Organization, in: Taylor/Groom (Eds.), International Organization, S. 118 ff.

43 Ausführlicher zur Funktionalismustheorie Mitrany, A Working Peace System: An Argument for the Functional Development of International Organization und Taylor, Functionalism, in: Taylor/Groom (Eds.), International Organization, S. 236 ff. 44 Hrbek, Die EG ein Konkordanzsystem?, in: Bieber/Bleckmann/Capotorti u.a. (Hrsg.), GS-Sasse, Bd. 1, S. 91.

45 Behrens, Integrationstheorie, in: RabelsZ 1981, S. 21.

I. Begriff der "Integration"

29

für ähnliche Organisationen auf anderen Gebieten dienen. 46 Dabei bleiben jedoch die Nationalstaaten und ihre Souveränität erhalten. Die weiterentwickelte neofunktionalistische Theorie von Ernst B. Haas47 sieht als Einflußgröße nicht nur Nationalstaaten, sondern auch sog. Schlüsselgruppen, die sich aus Eliten, nationalen Interessengruppen, Parteien und leitenden Beamten zusammensetzen. Diese Schlüsselgruppen wenden sich, um ihre auf den gemeinsamen Markt bezogenen Interessen zu begünstigen, an das supranationale Entscheidungszentrum, um mehr Druck in Richtung Integration auszuüben, was gleichzeitig zu einer Aufwertung dieses Zentrums führt. 48 Die an der Integration beteiligten Akteure sehen ein, daß eine Kooperation auf einem speziellen Politiksektor zwangsläufig nach einer Zusammenarbeit auf einem anderen Politikfeld verlangt (sog. "Spill-over-Effekt"). Dieses immer dichter werdende Geflecht von Beziehungen geht zuerst vom wirtschaftlichen Bereich aus und greift zuletzt auf den politischen Sektor über. 49 c) Soziokausale Theorie Angesichts der Beschränkung dieser Hypothesen auf jeweils einzelne Aspekte, versuchte Karl W. Deutsch, die verschiedenen theoretischen Ansätze in seinem "soziokausalen Integrationsmodell" 50 zu vereinigen. Aufgrund einer zunehmenden Verflechtung der Transaktionsströme in den verschiedenen Sektoren, wie z.B. dem Austausch von Gütern, der Wanderung von Arbeitskräften oder dem Dienstleistungsverkehr, sehen die Gemeinschaftsbürger den Vorteil solcher Transaktionen. Diese Einsicht führt wegen des gesellschaftlichen Lernprozesses der Eliten und der Bevölkerung zu einem gemeinsamen Bewußtsein bei den Bürgern, einem Gemeinschaftsgefühl ("sense of commu-

46 Vgl.

Hrbek, GS-Sasse, S. 92.

47 Ausf\lhrlicher zu diesem Theorieansatz Haas, The Uniting of Europe; ferner Harrison, Neofunctionalism, in: Taylor/Groom (Eds.), International Organization, S. 253 ff.

48 Hrbek, GS-Sasse, S. 92. 49 Hrbek/Wessels, Nationale Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Integrationsprozeß, in: dies. (Hrsg.), EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland?, S. 33. 50 Ausfilhrlicher hierzu Deutsch, Analyse internationaler Beziehungen.

C. Integration als Prozeß

30

nity") 51 und zu einer Assimilation der Völker. 52 Angesichts des Vorteils von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bindungen entwickelt sich ein Bedürfnis der Bevölkerung zur Schaffung von internationalen Organisationen und Institutionen. Der Integrationsprozeß entwickelt sich von der Dimension der Transaktionen, über den sozialpsychologischen Bereich, schließlich hin zu der institutionellen Dimension. 2. Dimensionen eines Integrationsprozesses

Letztlich ist die Betrachtung des Europäischen Gerichtshofs als Variable im Integrationsprozeß für die vorliegende Arbeit von maßgeblichem Interesse. Gerade von der Theorie des "soziokausalen Integrationsmodells" ausgehend, lassen sich die Dimensionen des Integrationsvorganges aufzeigen, auf die der Gerichtshof Einfluß nehmen kann. Danach läßt sich der Integrationsprozeß im wesentlichen in die folgenden drei Bereiche53 aufgliedern: 1. in die Integration als gemeinsame politische Entscheidungstindung (institutionelle Dimension), 2. in die Integration als gemeinsames Bewußtsein (sozialpsychologische Dimension) und 3. in die Integration als gesellschaftliche Verflechtung (Dimension der Transaktionen).54 Um den Grad der momentanen Integration zu messen, muß der Stand des in den einzelnen Dimensionen jeweils erreichten Zustandes ermittelt werden. Davon ausgehend kann man beschreiben, durch welche Maßnahmen dieser Stand vertieft werden kann, damit der Integrationsprozeß voranschreitet 51

Behrens, RabelsZ 1981, S. 20.

52 Hrbek, GS-Sasse, S. 91. 53 Ebenso haben Etzioni, Political Unification und Nye, Peace in Parts - Integration and Conflict in Regional Organizations, drei ähnliche gleichberechtigte Dimensionen eines Integrationsprozesses entwickelt: 1. die politisch-zwanghafte in Form einer Kontrolle der integrierten Einheit über die autoritative Entscheidungsfmdung, 2. die normativ-identitäre in Form eines Konsenses der Bürger mit der Integration, 3. die wirtschaftlich-utilitäre in Form eines gemeinsamen, wirtschaftlichen Gewinns an der Integration.

54 Nach Frei, Integrationsprozesse, S. 114.

li. Einflußmöglichkeiten auf die Dimensionen

31

Auch die Einflußmöglichkeiten des Gerichtshofs auf den Einigungsprozeß lassen sich sinnvollerweise nur dann genau bestimmen und darstellen, wenn bei der Analyse diese drei Integrationsdimensionen unterschieden werden.

II. Einflußmöglichkeiten auf die Dimensionen Es stellt sich die Frage, ob und in welcher Form der Europäische Gerichtshof durch seine Entscheidungen Einfluß auf die Integrationstiefe in den aufgezeigten Dimensionen nehmen kann. In diesem Zusammenhang sollen die drei Dimensionen zugleich noch einmal vertieft dargestellt werden.

1. Integration als gemeinsame politische Entscheidungsfindung Unter der Integration als gemeinsame politische Entscheidungstindung wird zum einen die Vergemeinschaftung der politischen Entscheidungstindung und zum anderen die Institutionalisierung derselben verstanden. 55 Neben der Anzahl und Bedeutung der, in die vergemeinschaftete Entscheidungstindung einbezogenen Politikbereiche, spielt auch die Art und Weise, in der gemeinschaftliche Beschlüsse gefaßt werden, eine Rolle. Man kann erst dann von einer supranationalen Integration sprechen, wenn die gemeinschaftlichen Organe die Zuständigkeit besitzen, für alle Mitgliedstaaten endgültige und verbindliche Entscheidungen zu fassen und zu vollziehen. Diese Aspekte der institutionellen Dimension sollen im folgenden getrennt voneinander untersucht werden. a) Anzahl und Bedeutung der einbezogenen Politikbereiche Bei diesem Untersuchungsgegenstand geht es um die Frage, für wieviele Aufgabenbereiche das supranationale Entscheidungszentrum zuständig ist und von welcher Wichtigkeit diese sind. Der erreichte Integrationsgrad ist dabei um so höher, je mehr Politikfelder von der nationalstaatliehen Ebene auf die Ebene der Gemeinschaft übertragen werden und von je größerer Bedeutung diese Politiken sind.

55 Ebd.

C. Integration als Prozeß

32

Für das EG-System gilt, daß die Gemeinschaft z.B. für die Bereiche der Festlegung von Zolltarifen (Art. 18-29 EGV, künftig weitgehend aufgehoben, bis auf Art. 26, 27 neu EGV) und der gemeinsamen Handelspolitik (Art. 110115 = 131-134 neu EGV) ausschließlich bzw. für die Agrarpolitik (Art. 38-47 = 32-38 neu EGV) konkurrierend und für die Forschungs- und Technologiepolitik (Art. 130f-130p = 163-173 neu EGV) parallel zuständig ist. Trotzdem sind aber noch viele wichtige Bereiche, wie beispielsweise die Verteidigungspolitik, gänzlich bei den Nationalstaaten verblieben. Im Bereich der "Innenund Rechtspolitik" sowie der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" handelt es sich vorläufig nur um eine intergouvernementale Zusammenarbeit. Seit den Vertragsverhandlungen in Maastricht soll ein Übermaß an Einfluß der Gemeinschaft/Union durch das in Art. 3b = 5 neu EGV und Art. B = 2 neu EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip56 begrenzt werden. Danach soll in den Bereichen, die nicht in der ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft stehen, diese nur tätig werden, wenn die Zielsetzungen durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht besser erreicht werden können. Wird die Justitiabilität dieses Prinzips auch überwiegend negativ beurteilt, so muß jedoch berücksichtigt werden, daß es ein politisches Argument vor allem im Ministerrat ist, das bei künftigen Verhandlungen sehr wohl eine Rolle spielen wird.57 In Teilbereichen könnte das Subsidiaritätsprinzip also durchaus zu einer Renationalisierung der Politiken führen. Der Europäische Gerichtshof könnte auf die Integration in diesem Bereich dadurch Einfluß nehmen, daß er in seiner Rechtsprechung das Aufgaben- und Aktivitätsspektrum der Gemeinschaft erweitert. 58 Dies kann beispielsweise auf dem Wege geschehen, daß der Gerichtshof Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane, wie Richtlinien oder Verordnungen, die von den Mitgliedstaaten angegriffen werden, weil ihrer Ansicht nach eine Kompetenz der Gemeinschaft für diese Politikmaterien nicht ausdrücklich in den Verträgen geregelt ist, aufgrundeiner weiten Interpretation der Befugnisnormen im EG-Vertrag für zulässig erklärt. Welche rechtstechnischen Möglichkeiten ihm dafur zur Verfügung stehen, soll in einem späteren Kapitel näher erläutert werden. 59 56 Hierzu ausfilhrlicher Merlen (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas und Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union.

57 Oppermann!Classen, Die EG vor der Europäischen Union, in: NJW 1993, S. 8. 58 Hierzu ausfilhrlicher Köpemik, Rechtsetzungsbefugnisse; vgl. auch Kapitel G.II.l. 59 Vgl. hierzu Kapitel D.

ll. Einflußmöglichkeiten auf die Dimensionen

33

b) Angewandter Entscheidungsmodus Der Grad an Integration ist um so höher, je mehr Beschlüsse mit einfacher Mehrheit gefaßt werden können. 60 Eine Beschlußfassung scheitert dann, im Gegensatz zum Einstimmigkeitsprinzip, nicht mehr an den nationalen Interessen eines Akteurs. Dies ist auch ein Zeichen dafiir, daß die Akteure generell bereit sind, Teile ihrer Souveränität fiir das gemeinsame Interesse auf der supranationalen Ebene zu opfern. In der Gemeinschaft ist grundsätzlich ein einfacher Mehrheitsbeschluß notwendig, wenn nicht vertraglich etwas anderes vorgesehen ist (Art. 148 Abs. 1 = 205 Abs. 1 neu EGV). In der Praxis ist die Mehrheitsentscheidung jedoch die Ausnahme und der Regelfall immer noch die Einstimmigkeit oder die qualifizierte Mehrheit. 6 1 Jedoch wird auch mit dem "Amsterdamer Vertrag" die Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit immer mehr ausgeweitet. Dies geschieht zum einen im Zusammenhang mit der Einführung neuer Vertragsbestimmungen, wie z.B. Art.152 Abs. 4 neu EGV, zum anderen durch die Änderung bestehender Vorschriften, wie beispielsweise Art. 56 Abs. 2 = 46 Abs. 2 neu EGV. Als Beispiel für die Probleme der politischen Umsetzung des Mehrheitsprinzips dient die Luxemburger Vereinbarung vom 29. Januar 1966. Siebesagt, daß Beschlüsse, auch wenn sie mehrheitlich gefaßt werden dürfen, nicht beschlossen werden, falls ein Staat aufgrund sehr wichtiger eigener Interessen als Begründung, nicht zustimmt. Der Rat muß folglich eine neue Lösung fiir die geplante Materie finden. Die Staats- und Regierungschefs sind allerdings auf der Gipfelkonferenz in Paris vom 9./10. Dezember 1974 übereingekommen, auf diese Praxis zu verzichten. 62 Eine direkte Einwirkungsmöglichkeit auf die Abstimmungsmodi ist wegen den ausdrücklichen vertraglichen Regelungen nicht gegeben. Es könnte aber der Fall eintreten, daß zwischen den Prozeßparteien die Ermächtigungsgrundlage streitig ist, auf die sich ein Rechtsakt eines Gemeinschaftsorgans stützt. Bei dieser Sachlage könnte der Gerichtshof diejenige Rechtsgrundlage als ein60 Ebenso Lindberg/Scheingold, Europe's Would-Be Policy. Patterns of Chance in the European Community, S. 69 ff.

61 Ausfilhrlicher zur Entscheidungsfmdung Engel!Borrmann, Vom Konsens zur Mehrheitsentscheidung. 62 Nr. 6 des Kommuniques- Text in: Europa-Archiv 1975, D 42. 3 G. Sander

34

C. Integration als Prozeß

schlägig erklären, die an eine beschlußfassende Mehrheit die geringeren Anforderungen stellt. 63 c) Verbindlichkeit der Beschlüsse Für eine erfolgreiche Integration müssen die politischen Gemeinschaftsorgane die Kompetenz besitzen, endgültige und fiir alle Mitgliedstaaten verbindliche Entscheidungen zu treffen. Als Rechtsakte des Ministerrates kommen in erster Linie Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen gern. Art. 189 = 249 neu EGV in Betracht. Lediglich die Empfehlungen und Stellungnahmen sind unverbindlich. Für die Fortentwicklung der Gemeinschaft entfalten sie aber dennoch häufig politisch-psychologische Wirkungen, da es sich um offizielle Verlautbarungen der Gemeinschaft handelt, die im Zusammenhang mit der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 5 = 10 neu EGV, Art. 192 EAGV und Art. 86 EGKS zu sehen sind.64 Die Verordnungen gelten dagegen unmittelbar als "europäische Gesetze"65 in den einzelnen Mitgliedstaaten. Sie stellen damit, wie kein anderer Rechtsakt, die eigentliche europäische Kompetenz dar. Mit ihr hat das EG-System als Rechtsgemeinschaft, im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, einen von diesen respektierten politischen Status erlangt. 66 Entscheidungen wenden sich an Mitgliedstaaten, Unternehmen und Einzelpersonen, wobei sie ausschließlich Einzelfälle regeln und ebenfalls unmittelbar rechtswirksam werden.67 Hingegen verpflichten die Richtlinien lediglich die Mitgliedstaaten entsprechende Vorschriften zu schaffen, wobei ihnen die Form und die Wahl der Mittel zur Erreichung des Ziels vorbehalten bleibt. Gerade über die Wirkung von nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinien kann der Gerichtshof Einfluß auf die Verbindlichkeit von EG-Rechtsakten des Rates nehmen, in dem er sie durch

63 Vgl. EuGH Slg. 1989, 1425 ff.- Rs. 242/87 "ERASMUS" und Kapitel G.ll.2. 64 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 479.

65 Vgl. EuGH Slg. 1955/56,295 ff.- Rs. 8/55 "FED:ECHAR". 66 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 448 f. 67 Hierzu ausführlicher Grabitz, Entscheidungen und Richtlinien als unmittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht, in: EuR 1971, S. 1 ff.

II. Einflußmöglichkeiten auf die Dimensionen

35

integrationsfordernde Urteile in ihrer Wirkung in die Nähe der Verordnungen rückt. 68

2. Integration als gemeinsames Bewußtsein Neben der institutionellen Dimension muß sich eine Integration auch in den Köpfen der Bürger vollziehen. Eine politische Gemeinschaft besteht nur in dem Maße, in dem sie von ihren Mitgliedern durch einen gemeinsamen Willen anerkannt ist. 69 Für den Fortgang der Integration ist es deshalb erforderlich, daß die verschiedenen Völker ein "Wir-Gefuhl" sowie eine, gegenüber der Außenwelt sich abhebende Identität entwickeln. Ein Integrationsfortschritt als sozialpsychologischer Prozeß70 bedeutet also auch politischen BewußtseinswandeL Die einzelnen Teilnehmer des Integrationsprozesses sind einander in Solidarität verbunden und wägen nicht die Nutzen und Kosten der Integration gegeneinander ab. Der Grad der Loyalität ist im Gemeinschaftssystem jedoch noch nicht sehr hoch entwickelt, wenn man sich vor allem die Diskussion in Deutschland über den "Zahlmeister der EG" 7 1 vor Augen hält. Auch eine Identifikation mit den europäischen Symbolen, wie der Europafahne und der europäischen Hymne, hat nur in einem geringen Maße stattgefunden und sich noch nicht durchgesetzt.72 Für ein Mehr an Bürgernahe wurde deshalb das Konzept eines "Europas der Bürger" entwickelt.73 Die Vorstellungen gehen dahin, das Entscheidungssystem in der Gemeinschaft übersichtlicher und nachvollziehbarer zu gestalten,

68 Vgl. hierzu Kapitel G.II.3.

69 Frei, Integrationsprozesse, S. 116. 70 Vgl. hierzu Noelle-Neumann, Phantom Europe, in: Hurwitz (Ed.), Contemporary Perspectives on European Integration, S. 53 ff.

71 Vgl. zu dieser Diskussion May, Der deutsche Beitrag zum Gemeinschaftshaushalt- die "Nettozahler"-Diskussion, in: Hrbek/Wessels (Hrsg.), EG-Mitgliedschaft, S. 357 ff.

72 Sturm, Europa und die öffentliche Meinung, in: Woyke (Hrsg.), Europäische Gemeinschaft, S. 87 ff. 73 Hierzu ausführlicher Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen.

36

C. Integration als Prozeß

die Informationsarbeit zu verbessern und bestimmte Rechte der Bürger in einer Verfassung zu garantieren. Auch der Gerichtshof könnte durch seine Rechtsprechung dazu beitragen, die Gemeinschaft als politisches System den Bürgern näher zu bringen. Mit einer Aufwertung der Rechtsstellung der Marktbürger,74 der schließlich zum europäischen Bürger werden soll, könnte er die Einstellung der Bevölkerung zugunsten der Gemeinschaft positiv beeinflussen. Dies wäre durch den Schutz der Bürger vor Diskriminierungen eines anderen Mitgliedstaates sowie durch die Gewährleistung von Grundrechten denkbar. Mit dem "Maastrichter Unionsvertrag" wurde zwar in Art. 8 fi. = 17 fi. neu EGV die Unionsbürgerschaft aufgenommen, trotzdem steht immer noch die wirtschaftliche, Binnenmarktbezogene Stellung der Bürger im Vordergrund, 75 so daß hier nach wie vor ein großes Integrationspotential vorhanden ist. Auch mit Hilfe der Durchsetzung des Demokratieprinzips, beispielsweise durch eine Aufwertung der Stellung des Europäischen Parlaments und des Rechtsstaatsprinzips, kann der Gerichtshof die Akzeptanz gegenüber der Gemeinschaft und der Europäischen Union bei den Bürgern steigern. Dies würde letztlich zu einer Zustimmung und Unterstützung weiterer integrationspolitischer Fortschritte führen.76 3. Integration als gesellschaftliche Verflechtung

In dieser dritten Dimension stellt sich der Integrationsprozeß als Verflechtung und Interdependenz dar.77 Der Integrationsprozeß ist um so fortentwickelter, je größer das Volumen der Transaktionsströme ist. Dabei geht es um den Kontakt im Wege von Wirtschaftsbeziehungen, wie z.B. dem Austausch von Gütern und Krediten, aber auch um die Wanderung von Arbeitnehmern, also den grenzüberschreitenden Personenbewegungen und den Informationsströmen.78 Der Verflechtungsgrad ist als Vergleich zwischen den Bin74 Zu dem Begriff von Hans Peter Ipsen Oppermann, Vom Marktbürger zum EGBürger?, in: Nicolaysen/Quaritsch (Hrsg.), Symposion für Ipsen, S. 87 ff. 75 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 36. 76 Vgl. hierzu Kapitel G.ill. 77 Prewo, Irade, Interdependence and European Integration, in: Hurwitz (Ed. ), Contemporary Perspectives, S. 77 ff.

78 Frei, Integrationsprozesse, S. 117 f.

m. Ergebnis

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nentransaktionen mit den Außentransaktionen zu ermitteln. Je weiter die Integration vorangeschritten ist, um so größer ist außerdem der Ausgleich des Preisniveaus fur Waren, Löhne und Kreditzinsen. Durch die Beseitigung von Einfuhrbeschränkungen fur ausländische Waren oder von Hemmnissen fur die Niederlassungsfreiheit von Personen kann der Gerichtshof die Transaktionsströme innerhalb der Gemeinschaft begünstigen und somit Einfluß auf eine zunehmende Integration nehmen. Eine der Leitlinien fur die Rechtsprechung im Bereich des Personenverkehrs sollte deshalb die Stärkung der Stellung des Marktbürgers sein. Sie müßte den Schutz vor diskriminierenden Entscheidungen der Nationalstaaten, die an der unterschiedlichen Staatsangehörigkeit anknüpfen und damit eine WandeTbewegung erschweren oder sogar ganz verhindern, beinhalten.79 Im Bereich des freien Warenverkehrs könnte der Gerichtshof die Marktfreiheit weit auslegen, ihre Einschränkungen hingegen eng, um das Volumen grenzüberschreitender Güterströme im Sinne einer Zunahme positiv zu beeinflussen.80

111. Ergebnis Festzuhalten ist, daß der Integrationsprozeß in drei Dimensionen, der institutionellen, der sozialpsychologischen und der der Transaktionen, aufzugliedern ist. Diese Dimensionen sind untereinander als gleichgewichtig zu erachten, da sonst eine Schieflage der Integration das gesamte Gemeinschaftsprojekt gefahrden würde.81 Deutlich wird dies in dem Fall, daß im institutionellen Bereich zwar viele Aufgaben auf die Gemeinschaftsebene verlagert werden, das Bewußtsein der Bürger aber damit nicht Schritt hält und es zu einer fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung kommt. Es hat sich auch gezeigt, daß der Gerichtshof viele Anknüpfungspunkte hat, um mit seiner Rechtsprechung die Integration in ihren einzelnen Dimensionen voranzutreiben. Bevor jedoch die Entscheidungen, die auf die verschiedenen Dimensionen ihren Einfluß ausüben, dargestellt werden, soll untersucht werden, welche rechtstechnischen Mittel der Gerichtshof besitzt, um den Lösun-

79 Vgl. hierzu Kapitel G.IV.2.

80 Vgl. hierzu Kapitel G.IV.l. 81 Vgl. hierzu Kapitel H.II.

38

C. Integration als Prozeß

gen, für die an ihn herangetragenen Fälle, integrationspolitischen Impetus zu geben. Greift er dabei auf die Möglichkeit der Rechtsfortbildung zurück, muß deren Rechtfertigung und Grenzen aufgezeigt werden.

D. Richterliche Interpretation als Einwirkungsmöglichkeit I. Einleitung Der Grad des richterlichen Gestaltungsspielraums steigt mit der Unbestimmtheit der auszulegenden Vorschriften. Fehlende klare Formulierungen in den Texten und ein hohes Abstraktionsniveau der Regelungen steigern die Einflußmöglichkeiten des Gerichtshofs, weil ihm in diesen Fällen unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten zur Definition der Tatbestandmerkmale zur VerfUgung stehen. 82 Besonders der EG-Vertrag weist aufgrundder Regelung der gesamten Wirtschaftsabläufe in der Gemeinschaft einen hohen Abstraktionsgrad auf. 83 Dadurch kommen auf den Gerichtshof viele Interpretationsfragen von großer politischer Bedeutung zu. Welcher Auslegungsmethode er sich bei der Konkretisierung der Vertragsvorschriften bedient, soll im folgenden erörtet werden. 84 Dabei gibt es Auslegungsmöglichkeiten, die grundsätzlich auf alle Vorschriften angewendet werden können. Daneben spielt aber auch die "implied powers"-Doktrin eine Rolle, die speziell die Kompetenzvorschriften betrifft.

II. Auslegung durch den Gerichtshofs 1. Auslegungsmethoden

Nach der deutschen Lehre wird zwischen Auslegung einer Vorschrift und ergänzender Rechtsfortbildung unterschieden. Eine ergänzende Rechtsfortbildung soll dann vorliegen, wenn der Rahmen einer möglichen Auslegung überschritten wurde. 85 Das Abgrenzungskriterium ist demzufolge die "Wortlaut82 Köpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 162. 83 Ebd., S. 163. 84 Hierzu ausfUhrlieber Bleckmann, Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff. 85 Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 31 .

40

D. Richterliche Interpretation als Einwirkungsmöglichkeit

grenze". Unterschieden wird im Rahmen der Rechtsfortbildung nach dem jeweiligen Maß der Entfernung des Richterrechts vom Wortlaut der Vorschrift. Im allgemeinen wird in drei Arten unterteilt: die ergänzende Rechtsfortbildung, die gesetzesübersteigende Rechtsfindung sowie die Rechtsfortbildung entgegen dem Wortlaut der Norm.86 Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung kennt jedoch das französische Recht nicht, dessen Doktrin auch der Gerichtshof folgt. Auch die Fälle eindeutiger Rechtsfortbildung werden von ihm lediglich als Interpretation der Vorschriften angesehen. 87 Grundsätzlich bieten sich verschiedene Auslegungsmethoden für eine Interpretation von Normen an. 88 Zum einen die grammatikalische Auslegung, die sich am Wortlaut der Vorschrift orientiert oder die systematische Methode, die danach fragt, in welchem Kontext und in welchem systematischen Zusammenhang die Norm im Gesetzestext steht. Das Gemeinschaftsrecht gilt gern. Art. 248 = 314 neu EGV in allen Amtssprachen als verbindlich, 89 so daß für die wörtliche Auslegung Schwierigkeiten auftreten könnten. Die, in einem Vertragstext einwandfrei verständliche Passage, kann in einer anderen Sprache durchaus problematisch erscheinen. Deshalb muß der Gerichtshof durch den Vergleich der verschiedenen Fassungen den objektiven Wortsinn erschließen. Dabei gelangt er häufig zu dem Ergebnis, daß die Begriffe spezifisch gemeinschaftsrechtlich auszulegen sind. Außen vor bleibt bei der Argumentation des Gerichtshofs meistens die historische Auslegung, bei der auf den Willen der Parteien zur Zeit des Vertragsschlusses abgestellt wird, weil diese die Gründungsverträge bewußt auf eine Dynamik angelegt haben. Auch konnten sie damals die Entwicklungen, die das politische System nehmen würde noch gar nicht in ihren Beschlüssen voraussehen. Das Wesen des Integrationsprozesses ist gerade darauf angelegt, daß sich dieser immer weiter von dem ursprünglichen Willen der Parteien ent86 Vgl. hierzu Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 70 ff. 87 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 807. 88 Dazu Bemhardt, Zur Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Grewe/Rupp/Schneider (Hrsg. ), FS-Kutscher, S. 17 ff. und ausftlhrlicher Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 89 Vgl. die Verordnung (EWG) Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG, in: ABl. 1958, S. 385 sowie Art. S = 53 neu EUV. Lediglich der EGKS-Vertrag ist nur in der französischen Fassung verbindlich.

II. Auslegung durch den Gerichtshofs

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fernt. 90 Außerdem wurden die Motive, die zum Abschluß der Vorschriften der Gründungsverträge fiihrten, nicht veröffentlicht. 91 Die vom Gerichtshof vorrangig benutzte Auslegungsart der teleologischfunktionalen Methode92 stellt auf den Sinn und Zweck der Vorschriften ab. So kommt es häufig zu einem Auslegungsgemisch, der sog. systematisch-teleologischen Methode,93 bei der auf den "Geist, Aufbau und Wortlaut einer Vorschrift" und auf das "System und Ziel des Vertrages"94 abgestellt wird. Den Schwerpunkt bildet jedoch eindeutig die teleologische Auslegung, deren Sonderform der vom Gerichtshof verwandte, aus dem französischen Recht entlehnte Grundsatz des "effet utile" ist.

2. Grundsatz des "eflet utile" Der Vertragszweck und das Vertragsziel stehen im Mittelpunkt der Auslegung der Vorschriften durch den Gerichtshof. Den Ausgangspunkt der Überlegungen des Gerichtshofs bildet das Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. Dafür spielen die praktische Wirksamkeit, die nützlichen Wirkungen und die größtmögliche Effektivität95 der Vorschriften die wesentliche Rolle. Damit hat sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung das Prinzip des "effet utile" zu eigen gemacht,96 wie folgender Urteilsauszug zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien exemplarisch belegt: "Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden einen Mitgliedstaat oder alle Mitgliedstaaten durch Entscheidungen zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Angehörigen dieses Staates sich vor Gericht hierauf nicht be-

90 Vgl. Bleckmann, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Lüke/Ress/Will (Hrsg. ), GS-Constantinesco, S. 68. 91 Bleckmann, NJW 1982, S. 1178.

92 Hierzu ausführlicher Bleckmann, Teleologische und dynamische Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1979, S. 239 ff. 93 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 820 f.

94 EuGH Slg. 1973, 215 (244) - Rs. 6172 "Continental Can". 95 Vgl. Bemhardt, Verfassungsprinzipien- Verfassungsgerichtsfunktion- Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 81 f.

96 Vgl. Lecourt, L' Europe des juges, S. 236 ff.; ferner Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 75 ff.

D. Richterliche Interpretation als Einwirkungsmöglichkeit

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rufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. n97 Als Ergebnis dieses Interpretationsansatzes sind die Vorschriften über die Grundfreiheiten weit und ihre Ausnahmen hingegen eng auszulegen. Eine ausschließliche Stützung der Auslegung von Vorschriften auf den "effet utile" könnte eine schrankenlose Ausdehnung des Aufgaben- und Aktivitätsspektrums der Gemeinschaft zur Folge haben, weil alles, was zur Erreichung der Vertragsziele nützlich ist, gleichsam Vertragsinhalt würde. Damit liefe das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen Gefahr, gesprengt zu werden. 98 Deshalb beruft sich der Gerichtshof bei seiner Auslegung zusätzlich auf die Systematik und den Wortlaut der Vorschrift. Als Beispiel dient hierfür das "ERASMUS"-Urteil: "Der Erlaß von Rechtsakten, ( ...)erfolgt im Rahmen der Befugnisse, die Art. 128 EWG-Vertrag, ausgelegt anhand seines Wortlauts und mit Rücksicht auf das Erfordernis seine praktische Wirksamkeit zu gewährleisten, dem Rat verleiht. "99 3. Lehre von den "implied powers"

Neben der Auslegungsart des "effet utile", der als Interpretationsmethode auf jegliche Vorschriften anwendbar ist, tritt bei den Befugnisnormen und den damit zusammenhängenden Kompetenzfragen die Lehre von den sog. "implied powers" 100 hinzu. 101 Die Doktrin geht davon aus, daß völkerrechtliche Verträge oder Gesetze implizit auch die Vorschriften mitbeinhaltet, ohne die sie nicht zur vernünftigen Anwendung kommen würden.1°2 Der Anknüpfungspunkt fiir die Lösung von Kompetenzfragen mittels der "implied powers"-Doktrin ist also eine ausdrücklich zugewiesene, enge Kompetenznorm. Aus ihr wird durch Ermittlung 97 EuGH Slg. 1970, 825 (838)- Rs. 9nO "Leberpfennig". 98 So auch Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 40.

EuGH Slg. 1989, 1615 (1616)- Rs. 56/88. 100 Hierzu ausfilhrlicher Nicolaysen, Zur Theorie von den implied powers in den Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1966, S. 129 ff. und Schumacher, Die Ausfüllung von Kompetenzlücken im Verfassungsrecht der Europäischen Gemeinschaften, in: AWD 1970, S. 539 ff. 99

101 KtJpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 192 f. 102 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 282.

li. Auslegung durch den Gerichtshofs

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des Sinns, des Ziels und des Zwecks der Vorschrift, der Rahmen bestimmter Befugnisgrundlagen bestimmt. 103 Es werden deshalb keine neuen Ermächtigungsgrundlagen geschaffen, sondern nur bereits existierende Kompetenzen durch Auslegung und Interpretation fur die Anwendung ergiebig gemacht. 104 Diese Figur der "implied powers" 105 wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für die Auslegung der Gemeinschaftsverträge als zulässig erachtet: "Der Gerichtshof hält, ohne dabei eine extensive Auslegung voiZWlehmen, die Anwendung einer sowohl im Völkerrecht als auch im innerstaatlichen Recht allgemein anerkannten Auslegungsregel ftlr zulässig, wonach die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages oder eines Gesetzes zugleich diejenigen Vorschriften beinhalten, bei deren Fehlen sie sinnlos wären oder nicht in vernünftiger Weise zur Anwendung gelangen können." 106

103 Vgl. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, S. 59. 104 Nicolaysen,

EuR 1966, S. 131.

105 Das korrespondierende Institut im deutschen Recht sind die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhang und die Annexkompetenz. 106 EuGH Slg. 1955/56, 295 (312)- Rs. 8/55 "FEDECHAR".

E. Der Gerichtshof als "Gesetzgeber"

I. Einleitung Dem Gerichtshof wird in Teilen der Literatur vorgeworfen, daß seine Auslegung der Vertragsvorschriften oft zu weit gehe und er sich einer unzulässigen Rechtsfortbildung schuldig mache. 107 In diesen Fällen handelt es sich zumeist um integrationspolitisch bedeutsame Entscheidungen, die einen Qualitätssprung im Einigungsprozeß bedeuten. In diesen Urteilen entwickelt er Ergebnisse, die in den Gemeinschaftsverträgen keine ausdrückliche Grundlage haben.108 Grundsätzlich hat der Gerichtshof nur über den konkreten Einzelfall zu entscheiden. Stellt er jedoch abstrakte quasi-normative Regelungen auf, kommt er in den Bereich, in dem er die Befugnisse des eigentlichen Gesetzgebers tangiert. Eine Befugnis zur Abstraktion, die eine Ermächtigung zu einer über den Einzelfall hinausgehenden, sich der Rechtsetzung annähernden Entscheidung beinhaltet, würde zu der Bildung von legitimem Richterrecht führen, ist in den Gemeinschaftsverträgen aber nicht ausdrücklich geregelt. 109 Lediglich für das Vorabentscheidungsverfahren ist in Art. 177 = 234 neu EGV eine Befugnis zur Abstraktion bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts enthalten. Im Grundsatz darf ihm eine Rechtsfortbildung im Wege des Richterrechts jedoch nicht verwehrt werden, denn dann würde man ihm weniger zubilligen als den nationalen Gerichten, für die die Möglichkeit der Rechtsfortbildung in den nationalen Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten zuerkannt wird. 110 So 107 Z.B. Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildoog, S. 46. 108 So beispielsweise seine Rechtsprechoog zur Begründoog einer Staatshaftung von Mitgliedstaaten bei nichtfristgerechter Umsetzung von Richtlinien in EuGH Slg. 1991, 1-5357 ff.- verb. Rs. C-6 u. 9/90 "Francovich". 109 Vgl. Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105. 110 Ebd., S. 25 ff. u. S. 182 ff.

II. Rechtsfortbildungsbefugnis

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wurde in Deutschland beispielsweise das gesamte Arbeitskampfrecht richterrechtlich entwickelt. 111 Auch das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gerichtshof die Möglichkeit der Rechtsfortbildung als einer in den europäischen Rechtsordnungen anerkannten Methode zu. Es spricht dabei von "Rechtsfindungswegen, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind" 112. Der Gerichtshof muß dabei ständig eine Gratwanderung zwischen einer zulässigen Auslegung der Vorschriften -also gesetzesimmanenter oder gesetzesüberschreitender, jedoch rechtsordnungsimmanenter Rechtsfortbildung 113 und einer zu weit gehenden unzulässigen Rechtsschöpfung vornehmen. Mit anderen Worten hat der Gerichtshof darauf zu achten, daß er in seinem Spielraum als Verfassungsgericht bleibt und nicht über den Weg des Richterrechts zum "Neben- oder Ersatzgesetzgeber" wird. Diese Grenze, zwischen extensiver Auslegung und Rechtsergänzung, 114 ist jedoch fließend und kann nur im jeweiligen Einzelfall definiert werden. Im folgenden soll untersucht werden, auf welcher Grundlage die Befugnis zur Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof beruht und aus welchem Gedanken heraus sie gerechtfertigt ist. Anschließend werden die Allgemeinen Rechtsgrundsätze als Methode zur Lückenfüllung erläutert.

II. Rechtsfortbildungsbefugnis Die Kompetenz des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung kann zum einen aus seiner Kontrollfunktion gern. Art. 164 = 220 neu EGV und zum anderen aus seinem Integrationsauftrag und der Dynamik des Rechts folgen. Beide Herleitungsmöglichkeiten sollen im folgenden einer genaueren Untersuchung unterzogen werden.

111 Vgl. hieiZU Schlüter, Das obiter dictum. Die Grenzen höchstrichterlicher Entscheidungsbegründung, dargestellt am Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.

112 BVertGE 75, 223 (243). 113 Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, in: FS-Jur. Fakultät Univ. Heidelberg, S. 633 f. 11 4 Vgl. Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 31 .

46

E. Der Gerichtshof als "Gesetzgeber"

1. Kontrollfunktion

Gemäß Art. 164 = 220 neu EGV besteht die Aufgabe des Gerichtshofs in der "Wahrung des Rechts". Auffallend ist dabei, daß hier nicht, wie an anderen Stellen, die das Rechtsschutzsystem betreffen, vorn "Vertrag" die Rede ist. Der Hinweis auf das "Recht" zeigt somit ein Abwenden vorn strengen Gesetzespositivisrnus an. 115 Die Kontrollfunktion des Gerichtshofs geht damit über die reine Gesetzesanwendung des geschriebenen primären und sekundären Gerneinschaftsrechts hinaus und kann, soweit deren Bestand nicht zur Lösung der rechtlichen Frage ausreicht, zur Rechtsfortbildung durch Richterspruch führen. Ausdrücklich befindet sich eine Rechtsfindungskornpetenz in Art. 215 = 288 neu EGV und Art. F Abs. 2 = 6 Abs. 2 neu ElN. Im Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaftsorgane und des Grundrechtsschutzes wird ihm eine Rechtsfindungskornpetenz zugestanden. 116 Diese Rechtsetzung schlägt sich in Allgerneinen Rechtsgrundsätzen nieder, die aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beziehungsweise den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Vertragsparteien zu entwickeln sind. 2. Integrationsauftrag

Für eine Ausweitung des gerichtlichen Rechtsschutzes spricht andererseits auch, daß der Gerichtshof notwendigerweise für das Versagen der Gesetzgebungsinstanzen einzustehen hat. 11 7 In der Präambel des EG-Vertrages und in Art. A Abs. 2 = 1 Abs. 2 neu ElN, ist die Dynamik der europäischen Integration als Auftrag an die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten niedergelegt. Auch der Gerichtshof ist aufgerufen "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen". In erster Linie richtet sich dieser Auftrag allerdings an die politischen Organe. Wegen des Prinzips der begrenzten Kompetenzzuweisungen in den Gerneinschaftsverträgen ist kein mit umfassenden Befugnissen ausgestatteter Gemeinschaftsgesetzgeber vorhanden, der im Notfall jederzeit Regelungs115 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildllllg, S. 91

ff.

116 Schockweiler, Die richterliche Kontrollfunktion: Umfang lllld Grenzen in Bezug

auf den Europäischen Gerichtshof, in: EuR 1995, S. 194.

117 Schwarze, Stellung und Funktion des EuGH, S. 13.

ill. Lückenschließung als Vorgehensweise

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Iücken und Unvollständigkeilen im Gemeinschaftsrecht ausfüllen könnte. Außerdem gibt es im Rat häufig politische Problerne bei der Wahrnehmung der Gerneinschaftsfunktionen, wie sich z.B. in der Luxemburger Erklärung zeigte oder durch die schwierigen Kornprornißfindungen im Agrarbereich. Auch die einzelnen Mitgliedstaaten können aufgrund eines Blockadeverhaltens während den Revisionsverhandlungen dem Integrationsauftrag möglicherweise nicht gerecht werden. Angesichts der Unvorhersehbarkeit des Verlaufs des Einigungsprozesses muß dem Gerichtshof bei der Erfüllung des Integrationsgebots ein breiter Spielraum für die Festlegung und Entwicklung des rechtlichen Rahmens der europäischen Integration bleiben. Insoweit urnfaßt der Auftrag der "Wahrung des Rechts" in Art. 164 = 220 neu EGV auch die "Dynamik des Rechts ...

111. Lückenschließung als Vorgehensweise Voraussetzung für lückenfüllendes Richterrecht ist die Feststellung einer im Gesetz zu einer bestimmten rechtlichen Problematik vorhandene Lücke. Ein Schweigen des Gesetzgebers muß alleine noch nicht eine solche Regelungslücke darstellen. Vielmehr kann es sich hierbei auch um ein bewußtes Schweigen zu einer konkreten Frage handeln. Erforderlich für eine Lücke ist deshalb eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes und die Möglichkeit der rechtlichen Ableitung einer ausfüllenden Rechtsnorrn. 118 Eindeutig unzulässig ist eine ergänzende Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber die ausgesprochene Regel gerade ausschließen wollte. Ob eine planmäßige oder eine unbeabsichtigte Lücke vorliegt, ist von dem derzeit erreichten Integrationsniveau abhängig. Aufgrund der in der Präambel festgeschriebenen Dynamik, spielt der historische Wille der Vertragsparteien dabei keine Rolle. 119 Für den Fall, daß der Gerichtshof im primären Gemeinschaftsrecht von einer wesentlichen Lücke zu einer rechtlichen Frage ausgeht, ist er in seiner Rechtsprechung bemüht, diese durch Allgerneine Rechtsgrundsätze zu schließen.120 Wegen möglicher Kompetenzkonflikte mit dem Gerneinschaftsgesetz118 Dtinzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Due!Lutter/Schwarze (Hrsg.), FS-Everling, S. 219. 11 9 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 104. 120 Ausfilhrlicher zu den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Gündisch, Allgemeine

48

E. Der Gerichtshof als "Gesetzgeber"

geber wendet er die Allgemeinen Rechtsgrundsätze aber nicht zur Ergänzung des sekundären Gemeinschaftsrechts an. 121 Im Wege einer rechtsvergleichenden Untersuchung entwickelt er Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, weil ihm selbst die Berechtigung zur politischen Gestaltung fehlt. 122 Als Beispiel sei hier der Grundsatz der Rechtssicherheit, 123 des rechtlichen Gehörs 124 oder der Verhältnismäßigkeit 125 erwähnt. Dabei geht es aber nicht darum, die gemeinsame kleinste Basis zu finden, sondern die "bestmögliche" Lösung, die im nationalen Recht auffindbar ist, zu ermitteln.126 Diese Allgemeinen Rechtsgrundsätze gehören nach Art. 215 Abs. 2 = 288 Abs. 2 neu EGV zum integralen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Da sämtliche Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane mit der EG-Rechtsordnung im Einklang stehen müssen, sind neben den Vertragstexten also auch die Allgemeinen Rechtsgrundsätze von ihnen zu beachten. Durch die Bildung und Auslegung dieser Rechtsgrundsätze kann der Europäische Gerichtshof außerdem Einfluß auf den Handlungsspielraum der Gemeinschaftsakteure nehmen. 127 Je weniger Allgemeine Rechtsgrundsätze er in seinen Urteilen anerkennt und je enger er sie auslegt, desto gr,ößer ist der Handlungsspielraum der Gemeinschaftsorgane bei der Konkretisierung der Vertragsnormen. In der Praxis hat die Rechtsprechung zu den Allgemeinen

Rechtsgrundsätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, in: Schwarze (Hrsg.), Das Wirtschaftsrecht des Gemeinsamen Marktes in der aktuellen Rechtsentwicklung, S. 97 ff. 121 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 405. 122 Zuleeg, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europarecht im Lichte des Grundgesetzes und seiner Dogmatik, in: Battis/Mahrenholz!rsatsos (Hrsg.): Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, S. 239. 123 EuGH Slg. 1980, 617 ff. - Rs. 265/78 in st. Rspr. 124 EuGH Slg. 1979, 461 ff. - Rs. 85/76, EuGH Slg. 1966, 321 ff. - verb. Rs. 56 u. 58/64, EuGH S1g. 1986, 489 ff. - Rs. 35/67 und EuGH S1g. 1980, 1677 ff. - verb. Rs. 33 u. 75/79. 125 EuGH Slg. 1979, 677 ff. - Rs. 122/78 und EuGH Slg. 1980, 1979 ff. - verb. Rs. 41, 121 u. 796/79. 126 Z.B. EuGH S1g. 1973, 1471 (1481f.)- Rs. 120/73. 12? So auch Köpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 104.

IV. Rechtsverweigerungsverbot als RechtfertigWlg

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Rechtsgrundsätzen auch nur in den seltensten Fällen zu einer Aufhebung des Gemeinschaftsaktes geführt. 128

IV. Rechtsverweigerungsverbot als Rechtfertigung Als Rechtfertigung für die Lückenschließung im konkreten Einzelfall, dient das Rechtsverweigerungsverbot dienen. 129 Der Gerichtshof ist zwar einerseits dem Gewaltenteilungsprinzip unterworfen und hat nicht in den Bereich des Gesetzgebers einzugreifen, andererseits ist er aber auch dem Rechtsverweigerungsverbot ("deni de justice"130) verpflichtet. Gemäß Art. 164 = 220 neu EGV ist er im Falle seiner Anrufung, zur Entscheidung gezwungen. Deshalb fühlen sich die Richter ermächtigt, um nicht gegen dieses Verbot zu verstoßen, die Regelungslücken im Gemeinschaftsrecht durch Richterrecht zu schließen, was sie wiederholt auch in ihren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht haben: "Was die Zulässigkeit des Widerrufs solcher VerwaltWlgsakte angeht, so handelt es sich hier um eine der RechtsprechWlg Wld der Lehre in allen Ländern der Gemeinschaft wohlvertraute verwaltWlgsrechtliche Frage, ftlr deren LösWlg der Vertrag jedoch keine Vorschrift enthält. Um sich nicht dem Vorwurf einer Rechtsverweigerung auszusetzen, ist der Gerichtshof daher verpflichtet, diese Frage von sich aus Wlter Berücksichtigwtg der in GesetzgebWlg, Lehre Wld RechtsprechWlg der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln zu entscheiden.•131

Teilweise wird aber in der Literatur vertreten, daß solche Rechtsverweigerungslücken im Gemeinschaftsrecht überhaupt nicht bestehen, da grundsätzlich die Rückverweisung auf die nationalen Rechtsordnungen als Lösung möglich ist. 132 Dieser Ausweg wurde auch vom Gerichtshof schon selbst be-

128 Vgl. die AuflistWlg der diesbezüglichen EntscheidWlgen des EuGH bei Kopernik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 108 ff. 129 Dtinzer-Vanotti, FS-Everling, S. 218. 130 Vgl. zum Gedanken des Rechtsverweigerungsverbots den Art. 4 des französischen Code Civi1: "Le juge qui refusera de juger, sous pretexte du silence, de l'obscurite ou de l'insuffisance de Ia loi, pourra etre poursuivi comme coupable de dem de justice". In Deutschland ist das Rechtsverweigerungsverbot gewohnheitsrechtlich anerkannt. l3l EuGH Slg. 1957, 83 (118)- verb. Rs. 7/56 u. 3/57 bis 7/57 "Algera". 132 Stein, FS-Jur. Fakultät Univ. Heidelberg, S. 630 u. 636. 4 G. Sander

so

E. Der Gerichtshof als "Gesetzgeber"

schritten. 133 So soll nach dieser Ansicht das "Francovich"-Urteil zur Schadensersatzpflicht von Mitgliedstaaten ebenfalls nicht mit einer Rechtsverweigerung begründet werden können. 134 Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß der Gerichtshof zumeist eine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Antwort fiir den an ihn herangetragenen Sachverhalt zu finden hat. Für den Fall, daß ihn ein Gemeinschaftsbürger anruft und der Sachverhalt auch einen Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweist, wie z.B. die nichtfristgerechte Umsetzung von Richtlinien, muß er legitimiert sein, eine gemeinschaftsrechtliche Lösung zu entwerfen, die ihren Anknüpfungspunkt in den Staatshaftungsregeln der Mitgliedstaaten hat. Es ist auch zu berücksichtigen, daß die Entscheidungen des Gerichtshofs nicht zwangsläufig eine endgültige Normsetzung beinhalten, sondern von dem Willen und der Duldung des eigentlichen Gesetzgebers, nämlich des Ministerrates oder der Vertragsparteien in bezugauf das primäre Gemeinschaftsrecht, abhängig sind. Sie können durch Vertragsrevision gern. Art. N = 48 neu EUV oder Gesetzesänderungen der Wirkung der Rechtsprechung nur vorläufigen Charakter geben. 135

V. Ergebnis Die Rechtsschöpfung durch den Europäischen Gerichtshof läßt sich damit im Ergebnis durch folgenden Gedanken rechtfertigen: Weil der Gesetzgeber zu einem bestimmten rechtlichen Problem keine normativen Vorgaben gemacht hat, der Gerichtshof aber nach Art. 164 = 220 neu EGV zur Entscheidung aufgerufen ist, muß er versuchen, eine Entscheidung zu treffen, wie sie vermutlich der eigentliche Gesetzgeber getroffen hätte. Dafiir hat er die Wertungen in den nationalen Rechtsordnungen zu dieser Frage zugrunde zu legen. Zu berücksichtigen ist außerdem, daß der Gerichtshof genauso dem Vertragsziel einer fortschreitenden Integration verpflichtet ist, wie die übrigen EGOrgane und die Mitgliedstaaten. Dem Gesetzgeber ist es nun möglich, die Entscheidung zu akzeptieren oder durch Vertragsänderungen zu ersetzen. Für Jürgen Schwarze ist aber die Folge

133 Vg1. EuGH Slg. 1994, I-1525 ff. - Rs. C-305/92. 134 Danzer-Vanotti, FS-Everling, S. 212

f.

135 Schwarze, Stellung und Funktion des EuGH, S. 110.

V. Ergebnis

51

dieser Verlagerung der Entscheidungslast von den politischen Organen auf den Gerichtshof, daß "die politische Entschlußlosigkeit nunmehr im Sinne der Beibehaltung des Entwurfs wirkt, anstatt zu einem unzureichenden Normenbestand zu fiihren." 136 Der aus den obigen Grürtden unvermeidliche Übergriff in die Funktion der Legislative ist im Ergebnis aus dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, daß alle Gemeinschaftstätigkeit den Regeln der Verfassungsordnung unterstellt ist. Der Gerichtshof ist dazu verpflichtet die Einhaltung dieser Verfassungsordnung zu gewährleisten und aufgrund dieser Aufgabe befugt, in den Bereich der anderen Organe einzugreifen. 137 Im folgenden sind die Grenzen, die seiner Rechtsprechungstätigkeit gezogen sind, noch näher darzustellen.

136

Ebd.

13? Borchardt, Richterrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: Randelshofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), GS-Grabitz, S. 30.

F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit Bei der Bewertung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs spielen neben der Befugnis zur Rechtsfortbildung auch die Grenzen seiner richterlichen Gewalt eine Rolle. Es geht dabei unter anderem auch um die Frage, in welcher Weise der Gerichtshof durch seine Urteile die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in unzulässiger und auch rechtspolitisch nicht tragbarer Weise überschreiten kann. Teilweise wurde früher die Ansicht vertreten, daß angesichts der Tatsache, daß der Gemeinschaft ein mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteter Gesetzgeber fehlt, auch der Gerichtshof aus Gründen der internen Machtbalance Zurückhaltung zu üben hat.138 Als weiterer Grund für eine restriktive Rechtsprechung wurde angeführt, daß sich der Gerichtshof, mit der Bildung von Leitsätzen, die nicht zur Entscheidung des konkreten Einzelfalles notwendig sind, Aufgaben aufbürde, die er aufgrund seiner Funktion, Struktur, der Rechtsstellung seiner Richter 139 sowie des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums nicht sachgerecht bewältigen könne.140 Dort aber, wo der Gerichtshof nach seiner soziologischen Funktion nicht entscheiden könne, darf er auch nicht nach dem Willen der Verträge entscheiden.141 Es gibt außerdem politisch hochbrisante Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen, die sich der richterlichen Streiterledigung entziehen 142 und in die sich der Gerichtshof deshalb nicht hineinziehen lassen darf.

138 Steindorff, Die Nichtigkeitsklage im Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, S. 17. 139 Hierzu ausfilhrlicher Btichle, Die Rechtsstellung der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. 140 Vgl. Schlüter, Das obiter dictum, S. 57. 141 Vgl. zu diesem Gedanken, speziell für die Montanunion Jerosalem, Das Recht der Montanunion, S. 52. 142 Nicolaysen, EuR 1972, S. 384.

I. Verfahrensarten und -Voraussetzungen

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Inwieweit diese Gründe tatsächlich der Rechtsprechung Grenzen ziehen, soll im folgenden untersucht werden. Neben der Systematisierung dieser Gründe ist zu fragen, ob noch weitere Schranken existieren.

I. Verfahrensarten und -Voraussetzungen Als neutrale richterliche Instanz hat der Gerichtshof keine Befugnis zur direkten Gestaltung des politischen Lebens. Er wird vielmehr nur auf Antrag hin tätig. Bei den Aufgaben des Gerichtshofs handelt es sich unter anderem um die Nachprüfung von Rechtsakten des Rates und der Kommission, also der rechtsetzenden Gewalt der Gemeinschaft. Es gibt im Gemeinschaftsrecht auch keinen gerichtsfreien politischen Streit, da alle Rechtsakte der politischen Gemeinschaftsorgane vor dem Gerichtshof angegriffen werden können. 143 Grundsätzlich unterliegt der Gerichtshof bei seiner Nachprüfungsbefugnis von Rechtsfragen keinen Beschränkungen und besitzt das Auslegungsmonopol für das Gemeinschaftsrecht. 144 Er kann aber nur im Rahmen seiner Verfahrensarten tätig werden. Dadurch stellen diese Verfahrensarten gleichzeitig auch eine Begrenzung seiner Machtfülle dar.145 1. Vertragsverletzungsverfahren

Mit dem Vertragsverletzungsverfahren146 gern. Art. 169, 170 = 226, 227 neu EGV kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat auf Feststellung eines Vertragsverstoßes durch einen (anderen) Mitgliedstaat klagen. Als Verletzung des Vertrags seitens eines Mitgliedstaats kommt sowohl ein Verstoß durch nationale Exekutivbehörden, als auch durch nationale Parlamente 147 und inner14 3 Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 74. 144 Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, S. 321. 145 So auch Schwarze, Stellung und Funktion des Europäischen Gerichtshofes im Verfassungssystem der Europäischen Gemeinschaft, in: ders. (Hrsg.), Fortentwicklung des Rechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, S. 14 und Bemhardt, Verfassungsprinzipien, S. 30. 146 Hierzu ausführlicher Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und ders., Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vor ihrem Gerichtshof, in: EuR 1983, S. 101 ff. 147 Vgl. EuGH Slg. 1970, 237 ff. - Rs. 77/69.

54

F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

staatliche Gerichte 148 in Betracht. Für die Prüfung der Verletzung zieht der Gerichtshof sowohl das primäre, als auch das sekundäre Gemeinschaftsrecht heran. Die Kommission kommt dabei ihrer in Art. 155 = 211 neu EGV festgelegten Aufgabe nach, für die Einhaltung der Verträge Sorge zu tragen ("Hüterin der Verträge").149 Ein Mitgliedstaat als klagende Partei braucht dabei nicht geltend zu machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein, sondern es genügt ein Verstoß gegen das objektive Recht. 150 Die Vertragsverletzungsverfahren enden zumeist schon im Vorverfahren oder durch Klagerücknahme. Nur in den seltensten Fällen kommt es zu einer gerichtlichen Entscheidung, weil die Mitgliedstaaten, um ein Urteil zu verhindern, schon vorher ihr vertragswidriges Verhalten einstellen.

2. Nichtigkeitsklage

Die Nichtigkeitsklage gern. Art. 173, 174 = 230, 231 neu EGV richtet sich gegen Handlungen des Rates oder der Kommission. Damit sind die verbindlichen Akte der Gemeinschaftsorgane, also Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen gemeint. Weil die Gründungsverträge auf eine dynamische Entwicklung angelegt sind, zeigten sich Lücken im Rechtsschutzsystem 151 hinsichtlich von Empfehlungen und Stellungnahmen. Aufgrund des Rechtsstaatsprinzips schließt der Gerichtshof diese Lücken durch eine analoge Anwendung des Art. 173 = 230 neu EGV. 152 Er beruft sich dabei auf das "Verbot der Rechtsverweigerung" 153 und darauf, daß Rechtsschutzvorschriften im Zweifel nicht zuungunsten der Rechtsunterworfenen einschränkend ausgelegt werden dürfen. 154 148 Vgl. EuGH Slg. 1976, 277 ff. - Rs. 52n5; hierzu ausführlicher Nicolaysen, Vertragsverletzungdurch mitgliedstaatliche Gerichte, in: EuR 1985, S. 368 ff. 149 Zur "Hüterfunktion" Oppennann, Europarecht, Rdnr. 323 f. 150 Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 830. 151 Hierzu ausführlicher Sack, Lücken im Rechtsschutzsystem der Europäischen Gemeinschaften und Möglichkeiten sie zu schließen, in: EuR 1985, S. 319 ff. 152 Vgl. Bemhardt, Verfassungsprinzipien, S. 37 ff. 153 Anerkennung des Verbots z.B. in EuGH Slg. 1977, 305 (309 f., Rdnr. 4 ff.)Rs. 66n6; siehe hierzu außerdem Kapitel E.ill. 154 EuGH Slg. 1963, 211 (237)- Rs. 25/62.

I. Verfahrensarten lUld -Voraussetzungen

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Auch in diesem Verfahren braucht der Kläger keine Verletzung eigener Rechte geltend machen. 155 Ist die Klage begründet, erklärt der Gerichtshof den Rechtsakt für nichtig.

3. Untätigkeitsklage Mit der Untätigkeitsklage nach Art. 175 = 232 neu EGV können die Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsorgane sowie juristische und natürliche Personen ein Nichthandeln des Rates oder der Kommission rügen, das den Vertrag verletzt. Klagebegehren ist dabei die Feststellung durch den Gerichtshof, daß das Unterlassen eines Beschlusses durch ein Gemeinschaftsorgan, gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.156 Es kann jedoch nicht die Verurteilung zum Erlaß des unterlassenen Rechtsaktes verlangt werden.157

4. Vorabentscheidungsverfahren Im Vorabentscheidungsverfahren gern. Art. 177 = 234 neu EGV entscheidet der Gerichtshof über die Frage der Auslegung und Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts in Rechtsstreitigkeiten, die ihm von nationalen Gerichten vorgelegt werden. Er urteilt dabei nur über die an ihn gestellten Rechtsfragen hinsichtlich der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, nicht aber über den nationalen Rechtsstreit. Eine Vorlagepflicht besteht nach Art. 177 Abs. 3 = 234 Abs. 3 neu EGV nur für letztinstanzliehe nationale Gerichte, während aber alle anderen Gerichte gern. Art. 177 Abs. 2 = 234 Abs. 2 neu EGV vorlageberechtigt sind. Damit ist eine gewisse Gleichmäßigkeit der nationalen Rechtsprechung in Fragen des Gemeinschaftsrechts gewährleistet. Der Gerichtshof nimmt die Position eines Gutachters ein. Seine Stellungnahmen schlagen sich in Urteilen nieder, die die vorlegenden innerstaatlichen Gerichte binden. Andere nationale Gerichte sind darüber hinaus berechtigt, sich auf diese Entscheidung auch ohne eigene Vorlage zu stützen.158 155 Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 848. 156 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 643. 157 Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 905. 158 EuGH Slg. 1981 , 1191 ff. - Rs. 66/80.

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F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit 5. Verfahrensvoraussetzungen

Die Machtfülle des Gerichtshofs wird auch durch die Zulässigkeitsanforderungen fiir eine Klage begrenzt. Falls der Gerichtshof die Klagemöglichkeiten durch strengere Verfahrensvoraussetzungen einschränken würde, hätte er sich selbst der Gelegenheit berauben, durch eine Begründetheitsprüfung Einfluß auf die Reichweite der gemeinschaftlichen Kompetenzen zu nehmen. 159 Hinsichtlich einer Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt der Gemeinschaft würde dies folgendes bedeuten. Im Gegensatz zur Abweisung der Klage als unzulässig, würde der Gerichtshof, bei Klageabweisung wegen Unbegründetheit, aufgrund der weiten Vertragsauslegung einen Teil der politischen Verantwortung hinsichtlich der Weitergeltung des Gemeinschaftsaktes mittragen rnüssen. 160 Die Ansichten der politischen Gemeinschaftsorgane über das Ausmaß ihrer Befugnisse setzen sich also faktisch um so mehr durch, je häufiger die Klagen an den Zulässigkeitsvoraussetzungen scheitern würden. Enge Grenzen zieht der Gerichtshof beispielsweise im Rahmen einer Nichtigkeitsklage in bezug auf die qualifizierte Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen gern. Art. 173 Abs. 2 = 230 Abs. 2 neu EGV. Er verlangt, daß die Dritten durch die Entscheidung unmittelbar und individuell in ihrem wirtschaftlichen Interesse betroffen sind. Der Kläger ist befugt den Rechtsakt anzugreifen, wenn ihn die Entscheidung "wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung." 161

Von maßgeblicher Bedeutung ist damit, wie weit oder eng der Gerichtshof die Vergleichsgruppe faßt. Im Fall der Verordnung (EWG) Nr. 404/93162 (sog. "Bananen-Verordnung") hat er die Vergleichsgruppe so eng gefaßt, daß sie im Ergebnis mit dem Kreis der Kläger identisch ist, um deren rechtlicher Sonderstellung es innerhalb der gesamten Bananenmarktorganisation gerade geht. Kläger war ein Importeur von Bananen aus Drittstaaten, der sich aufgrund eines Mengenkontingents gegenüber Händlern von EG- und AKPBananen benachteiligt fühlte. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist er aber 159 Ebd., S . 189.

°

16 Köpemik, 161

Rechtsetzungsbefugnisse, S. 189 f.

EuGH Slg. 1963,211 (238)- Rs. 25/62 "Plaumann" in st. Rspr.

162 ABI. 1993 Nr.

L 47, S. I.

II. Enge Auslegung der Gemeinschaftsverträge

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nicht anders betroffen, als die übrigen "Dollarbananen"-Importeure in der gleichen Situation.1 63 Durch diese problematische Einengung verneint der Gerichtshof bereits die Klagebefugnis und vermeidet damit Ausführungen zur Begründetheit, die hier zur Aufhebung des Rechtsaktes wegen GATIWidrigkeit hätten führen müssen.

II. Enge Auslegung der Gemeinschaftsverträge Die bereits oben erwähnten Interpretationsmethoden des Gerichtshofs können die gemeinschaftliche Rechtsetzungsbefugnis und damit den Handlungsspielraum der Organe aber durchaus auch einengen. Dies ist letztlich eine Frage der Bevorzugung einer engen oder weiten Auslegung von Ennächtigungsnormen.164 Ausdruck der engen Auslegung ist die, vor allem in der Literatur 165 früher häufig vertretene Ansicht der grammatikalischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Ausschlaggebend für die Entscheidung soll damit letztlich der Wortsinn der Norm sein. Diese Auffassung knüpft an die Doktrin des Ständigen Internationalen Gerichtshofs an, nach der völkerrechtliche Verträge eng auszulegen sind, 166 damit die Souveränität der Vertragspartner im Ergebnis weniger beeinträchtigt wird.l67 Es handelt sich nämlich um auf Konsens beruhenden Regeln, die freiwillig akzeptiert und vollzogen werden müssen. 168 Gerade durch den Ausdruck "Vertrag" in Art. 164 = 220 neu EGV scheint diese Vorschrift auf die Gemeinschaftsverträge als völkerrechtliche Verträge abzuheben.

163 Hierzu ausführlicher Sander, Rechtsprobleme der EG-Bananerunarktordnung,

S. 11 f.

164 Hierzu ausführlicher Rabe, Das Verordnungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 130. 165 Vgl. die Hinweise bei Zuleeg, Die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1969, S. 106 und die bei Rabe, Das Verordnungsrecht, aufS. 130 in der Fn. 55 zitierten Autoren. 166 Z.B. StiGH Serie A Nr. 10, S. 18 ff. "Lotus" und StiGH Serie B Nr. 12, S. 25 ff.; vgl. auch Bemhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte. 167 Bemhardt, PS-Kutscher, S. 19. 168 Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 62.

58

F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

Gegen die Anwendbarkeit dieser Lehre auf die Gemeinschaftsverträge bestehen jedoch erhebliche Bedenken. 169 Vor allem haben die Gemeinschaftsverträge eine andere Zielsetzung als die sonstigen völkerrechtlichen Verträge. Sie sollen die Einigung der Mitgliedstaaten fördern und basieren gerade nicht auf dem grundlegenden Prinzip von völkerrechtlichen Verträgen, daß sich die Staaten so wenig wie möglich binden wollen. 170 Die Auslegung der Gemeinschaftsverträge hat deshalb nach Zweck und Ziel dieser Verträge, also nach gemeinschaftsspezifischen Interpretationstechniken, zu erfolgen. Diese bestehen aus selbständigen Grundsätzen und wurden aus einer Synthese von verfassungs- und völkerrechtlichen Auslegungsmaximen gewonnen. 171 Entscheidend ist dabei das sinnvolle und reibungslose Funktionieren der Gemeinschaft. Damit ist aber gleichzeitig noch nicht gesagt, ob im Einzelfall eine Vorschrift restriktiv oder extensiv auszulegen ist. 172 Aus diesen Gründen bedient sich der Europäische Gerichtshof in erster Linie auch der Interpretationsregel des "effet utile" und nicht der grammatikalischen Auslegung. Seine Auslegungsart trägt deshalb mehr verfassungsrechtliche, als völkerrechtliche Züge und folgt mehr dem amerikanischen Supreme Court, 173 als dem Internationalen Gerichtshof. Gerade der "Verfassungscharakter" der Gründungsverträge verlangt nach Interpretationsregeln, die die innerstaatlichen Auslegungsgrundsätzen zum Vorbild haben. 174 Deshalb sind bei der Auswahl der Interpretationsmittel dem Gerichtshof grundsätzlich keine Beschränkungen auferlegt.

169 Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, S. 819. 170 Rabe, Das Verordnungsrecht, S. 131. 171 Vgl. hierzu Bleckmann, NJW 1982, S. 1177 ff.

172 Rabe, Das Verordnungsrecht, S. 137. 173 Dieser legte in seinen Anflingen die eine bundesstaatliche Kompetenz begründende "general welfare clause", die "necessary and proper clause" und die "interstate commerce clause" ebenfalls sehr weit aus. 174 Oppennann, Europarecht, Rdnr. 577.

IV. Aufgabenverteilung aufhorizontaler Ebene

59

111. Rechtssicherheit und -klarheit Wie auf den einzelstaatlichen Ebenen, ist auch im Gemeinschaftsrecht der allgemeine Rechtsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit anerkannt. Dazu gehört neben der Gesetzesbindung, unter anderem auch die Rechtsklarheit 175 , die Rechtssicherheit 176 und ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit des materiellen Gehaltes der Entscheidung. An diesen Grundsätzen gemessen, wird beispielsweise die Rechtsprechung zur Staatshaftung bei nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien, als diesem Prinzip widersprechend angesehen. Es soll ein Verstoß gegen die Vorhersehbarkeit und Rechtsklarheit vorliegen, weil eine solche Haftung in den Verträgen nicht vorgesehen ist. 177 Gerade die Staatshaftung ist aber selbst ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzip, der auch in den nationalen Rechtssystemen vorhanden ist.

Bemerkenswert ist, daß in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen gleichfalls ein Großteil des Haftungssystems durch Richterrecht entwickelt wurde. In Deutschland gilt dies z.B. für den enteignenden und enteignungsgleichen Eingriff sowie für den Aufopferungsanspruch. Man kann deshalb den Kritikern umgekehrt entgegenhalten, daß diese Rechtsprechung, ebenso wie die Entwicklungen in den Mitgliedstaaten, gerade dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung trägt.

IV. Aufgabenverteilung auf horizontaler Ebene 1. Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts

Inwieweit schon das Gewaltenteilungsprinzip in der Gemeinschaft verwirklicht worden ist, bleibt nach wie vor umstritten. 178 Die klassische Aufgabenverteilung auf eine gesetzgebende, eine vollziehende und eine rechtsprechende Gewalt scheint jedoch so lange nicht möglich zu sein, solange die Gemein-

175 EuGH Slg. 1980, 2403 ff. - Rs. 32/79. 176 EuGH Slg. 1980, 617 ff. - Rs. 265/78. 177 Palme, Hoheitsgewalt im europäischen Verfassungssystem, in: Scholz (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union, S. 171 f. 178 Vgl. hierzu lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 317 ff.

60

F. Grenzen der RechtsprechWlgstAtigkeit

schaftkeine eigene Staatsqualität besitzt179 und noch zu sehr von der politischen Mitwirkung der nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten abhängt.180 Der teilweise vorgenommenen Dreiteilung der Gemeinschaftsgewalt, in den Rat als rechtsetzende, in die Kommission als vollziehende und in den Gerichtshof als rechtsprechende Gewalt 18 1 kann nicht gefolgt werden, weil der Rat gleichzeitig Entscheidungs- und Rechtsetzungsbefugnisse besitzt. 182 Außerdem steht der Kommission ebenso wie dem Rat eine originäre Rechtsetzungsbefugnis zu. 183 Trotzdem ist der eigentliche Sinn der Gewaltenteilung, nämlich die Verteilung von Macht und Funktionen auf verschiedene Organe, die sich gegenseitig beschränken und kontrollieren, erfiillt. Das gilt, selbst wenn bei dem Organ des Ministerrates, als Legislativorgan mit Exekutivbefugnissen, ein deutliches Übergewicht besteht und die Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments im Vergleich zu nationalen Parlamenten noch unterentwickelt sind und damit ein großer Nachholbedarf besteht. Deshalb sollte man auch nicht von einem Gewaltenteilungsprinzip im Sinne der Staatslehre sprechen, sondern von einem gleichgewichtigen organadäquaten Funktionsteilungsprinzip oder wie es der Gerichtshof ausdrückt, von einem Grundsatz des "institutionellen Gleichgewichts"184. Gerade beim Europäischen Gerichtshof kann man aber der Ansicht sein, daß hier Organ und Funktion bereits im klassischen Sinne zusammenfallen. Der Gerichtshof hat nach Art. 164 = 220 neu EGV die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Dafür stehen ihm die Instrumentarien des Vertragsverletzungsverfahrens 185, der Nichtigkeits179 Vgl. ausführlicher Dagtoglou, Die Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaft, in: Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Dreizig Jahre Gemeinschaftsrecht, S. 37 tT. 180 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 209. 181 So vorgenommen bei Rabe, Das VerordnWlgsrecht, S. 122, der diese AufteilWlg aber ebenfalls nicht als streng durchgeführt begreifen möchte. 182 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 411 f. 183 EuGH Slg. 1982, 2545 tT. - verb. Rs. 188 bis 190/80. 184 Z.B. EuGH Slg. 1970, 1161 (ll71)- Rs. 25nO. 185 Das Verfahren gern. Art. 169 u. 170 = 226 u. 227 neu EGV ähnelt dabei dem Bund-Länder-Streit im deutschen Recht; vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 614.

IV. Aufgabenverteilung aufhorizontaler Ebene

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klage, der Untätigkeitsklage und der Vorabentscheidung zur Verfiigung.186 Festzuhalten ist auch, daß ihm nach Art. 174, 175 Abs. 1 und 176 = 231,232 Abs. 1 und 233 neu EGV nicht die Befugnis zusteht, ein anderes Organ zu einem bestimmten Verhalten zu verpflichten. Damit besitzt der Europäische Gerichtshof die Funktion einer klassischen rechtsprechenden Gewalt und ist eindeutig zur gesetzgebensehen Gewalt abgegrenzt worden. Er kontrolliert sowohl die horizontale Kompetenzverteilung zwischen den Gemeinschaftsorganen, als auch die vertikale Gewaltenteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten. 187 Der Gerichtshof hat in der Frage der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Handlungen der politischen EG-Organe und des Verhaltens der Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Vertragspflichten damit die typische Funktion eines "Verfassungsgerichts". 188

2. Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts

Eindeutig unzulässig ist eine Rechtsprechung, wenn durch das Urteil gravierende Verschiebungen der institutionellen Gewichte, die die Gemeinschaftsordnung festlegt, eintreten. Dies kann dadurch geschehen, daß der Aufgaben- und Funktionsbereich eines EG-Organs zugunsten eines anderen Organs beschnitten wird, insbesondere wenn der Gerichtshof seine eigenen Befugnisse ausweitet.

3. Richterliche Selbstbeschränkung

Bei der richterlichen Selbstbeschränkung ("judicial self-restraint") handelt es sich um Kompetenzgrenzen, die nicht objektiv außerhalb des Gerichtshofs festgelegt sind, sondern die Schranken bestehen letztlich in jedem Richter selbst. 189 Er hat fiir sich allein zu entscheiden, ob ihre Voraussetzungen im

186 EuGH Slg. 1986, 1339 (1365)- Rs. 294/83. 187 lpsen, Die Verfassungsrolle des EuGH, S. 31; ferner Lenz, Der Gerichtshof als Faktor der Europäischen Integration, in: Rechtsprechung und Europäische Integration, S. 25 f. 188 Schwarze, NJW 1992, S. 1065 f. 189 Hierzu ausfilhrlicher Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts.

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F. Grenzen der RechtsprechWlgstätigkeit

betreffenden Fall vorliegen oder nicht. Im folgenden sollen einige Aspekte dieser richterlichen Selbstbeschränkung kurz aufgegriffen und erläutert werden. a) Zurückhaltung bei politischen Fragen Gerade im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit handelt es sich zum großen Teil um "politisches Recht", denn es berührt sowohl die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, als auch die der Verwaltung und der Regierung. 190 Diese Feststellung gilt nicht nur auf der Ebene der Nationalstaaten, sondern unter Berücksichtigung der Elemente der Funktionsteilung, auch für die politischen Gemeinschaftsorgane. Diese politischen Fragen sind richtigerweise, wegen des in Art. 138 Abs. 3 = 190 Abs. 3 neu EGV angelegten Demokratieprinzips, nicht von den Gemeinschaftsrichtern zu entscheiden, sondern von den im größeren Umfang demokratisch legitimierten politischen Gemeinschaftsorganen ("political question doctrine"). Vor allem zu qualitativen Sprüngen, die über das, von den Verträgen vorgezeichnete Maß an Dynamik hinausgehen, ist der Gerichtshof nicht befugt. 191 Solche politischen Entscheidungen sind ausschließlich von dem demokratisch Iegitimierteren Organ des Ministerrates zu erlassen. Somit birgt die Errichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit außer den Vorteilen der rechtsstaatliehen Machtkontrolle ständig die Gefahr in sich, daß die Grenze zum politischen Umfeld überschritten wird und die Justiz in den Verantwortungshereich von Exekutive und Gesetzgeber, als den originär politischen Instanzen, eingreift. 192 Im Rahmen der gemeinschaftlichen Funktionsteilung hat der Gerichtshof strikt die Aufgabengebiete der politischen GerneiDschaftsorgane zu beachten. Er muß im Verfahren deshalb zwischen rechtlichen und politischen Fragen unterscheiden, wobei letztere nicht justitiabei sind.

190 Roellecke, Politik Wld VerfassWlgsgerichtsbarkeit, S. 182. 19 1 Ukrow, Richterliche RechtsfortbildWlg, S. 209 ff. sieht in solchen Fällen richterlicher Rechtsschöpfung die gemeinschaftsrechtliche Wesentlichkeitstheorie verletzt. 192 Vgl. Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaats.

N. Aufgabenverteilung aufhorizontaler Ebene

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b) Verminderte Kontrolldichte Die Gestaltungsfreiheit der politischen EG-Organe hat der Gerichtshof als einen eigenständigen Wert in seinen Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten zu berücksichtigen. Dabei geht es im Zusammenhang mit der Rechtsetzungsbefugnis von Rat und Kommission um deren politischen Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung von Sachfragen. Gerade im Bereich der unterschiedlichen EG-Politiken muß den politischen Organen, wegen der Komplexität der wirtschaftlichen Vorgänge in der Gemeinschaft, ein großer Einschätzungsspielraum bleiben. 193 . Dies gilt jedoch nur für den Fall, daß sich keine zwingende Folge aus dem Recht ableiten läßt. 194 Liegt jedoch ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum vor, ist für den Gerichtshof nur eine eingeschränkte Überprüfung möglich. 195 Bei diesen Prognoseentscheidungen räumt er grundsätzlich den Gemeinschaftsorganen einen weiten Beurteilungs- oder Ermessensspielraum ein und überprüft nur, ob offensichtliche Fehleinschätzungen vorliegen (sog. "Evidenzkontrolle"). "Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit dieser Voraussetzung (der Verhältnismäßigkeit) betriffi, ist allerdings darauf hinzuweisen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik über einen Ermessensspielraum verfugt, der seiner politischen Verantwortung, die ihm die Artikel40 und 43 EWG-Vertrag übertragen, entspricht. Folglich kann die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist" 196 .

Der Gerichtshof greift damit nicht in den politischen Willensbildungsprozeß dieser Organe ein, sondern beschränkt sich bei Fragen der Zweckmäßigkeit einer Entscheidung des Rates oder der Kommission auf bloße Ermessensmißbrauchsüberlegungen. 197

193 Z.B. EuGH Slg. 1973, 125 (142)- Rs. 40/72. 194 Stein, FS-Jur. Fakultät Univ. Heidelberg, S. 629

f.

195 Bleckmann, Zum Ermessensmißbrauch im europäischen Gemeinschaftsrecht,

FS-Kutscher, S. 26 f.

196 EuGH Slg. 1989, 2263 (2270, Rdnr. 22)- Rs. 265/87 "Schräder" in st. Rspr. 197 So auch die Forderung von Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 74.

in:

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F. Grenzen der Rechtsprechwtgstätigkeit

V. Kompetenzverteilung auf vertikaler Ebene Die Urteile des Gerichtshofs haben sowohl Auswirkungen auf das institutionelle Gleichgewicht der politischen Gemeinschaftsorgane, als auch auf die vertikale Gewaltenteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten und damit letztlich auch auf die Kompetenzen der nationalen Legislativen. So kann der Europäische Gerichtshof mit seinen Urteilen sowohl den Zuständigkeitshereich des Gesetzgebers auf der Gemeinschaftsebene, als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten verletzen.198

1. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Die politischen Gemeinschaftsorgane: Rat und Kommission, werden in Art. 189 Abs. 1 = 249 Abs. 1 neu EGV und Art. 161 Abs. 1 EAGV "nach Maßgabe dieses Vertrages" zum Erlaß von Rechtshandlungen ermächtigt. Nach Art. 14 Abs. 1 EGKSV gilt dies nur fiir die Kommission. Die Gründungsverträge kennen also keine generelle Ermächtigung, sondern lediglich Einzelennächtigungen zum Erlaß von Rechtsakten.199 Nur wenn dem Rat oder der Kommission durch die Verträge eine Kompetenz ausdrücklich zugewiesen wird, können sie auch in diesem Bereich Recht setzen.200 Dieses Prinzip ist durch den "Maastrichter Unionsvertrag" jetzt in Art. 3b Abs. 1 = 5 Abs. 1 neu EGV niedergelegt worden. In Politikbereichen, die durch die Verträge nicht geregelt werden und in den Fällen, die ausdrücklich ausgeschlossen sind (z.B. wie in Art. 222 = 295 neu EGV die Eigentumsordnung der verschiedenen Mitgliedstaaten) darf der Gemeinschaftsgesetzgeber demnach keine Rechtshandlungen vornehmen. 201 Hinsichtlich der vertikalen Gewaltenteilung202 hat er also darauf zu achten,

daß er nicht entgegen den Bestimmungen der Gründungsverträge durch seine Rechtsprechung Einfluß auf die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft

198 Dänzer-Vanotti, RlWIAWD 1992, S. 741. 199 Hierzu ausfilhrlich Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigwtg im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages. 200 Vgl. EuGH Slg. 1982, 2545 (2573)- verb. Rs. 188 bis 190/80. 201 Vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 426 f. 202 Hierzu Bemhardt, Verfasswtgsgprinzipien, S. 169 ff.

V. Kompetenzverteilung aufvertikaler Ebene

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und Mitgliedstaaten nimmt. 2°3 Eine Novellierungsbefugnis als Folge der Dynamik der Verträge steht insoweit lediglich den Mitgliedstaaten zu.

2. Folgen einer weiten Kompetenzauslegung Im folgenden sollen die Auswirkungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs dargelegt werden, wenn er mit unzulässigem Richterrecht in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten, dort insbesondere in die der nationalen Gesetzgeber, eingreifen würde. Seine Entscheidungen, die einen Zuwachs an Hoheitsund Rechtsetzungsgewalt fur die Gemeinschaft vermitteln, haben einen Verlust der Befugnisse der nationalen Gesetzgeber zur Folge. Gleichzeitig bewirken sie eine Stärkung der nationalen Exekutiven, 204 denn die Rechtsakte des Rates und der Kommission werden in erster Linie von den Verwaltungen der Mitgliedstaaten umgesetztlOS und fuhren dadurch zu einer Festigung der nationalen Verwaltungsstrukturen. Die Zunahme der Rechtsetzungsbefugnisse des Rates, als Gremium der Vertreter der nationalen Regierungen, hat insoweit einen Machtzuwachs der nationalen Exekutive zur Folge, als die von ihm erlassenen Verordnungen unmittelbar in den nationalen Rechtsordnungen wirken. Aber auch seine Richtlinien geben Zweck und Ziel vor und lassen der nationalen Legislative lediglich noch die Auswahl der Mittel. 2°6 Deren Spielraum ist also nur noch sehr klein, zumal die Richtlinien teilweise schon sehr ausdifferenziert sind. 207 Heinz Laufer spricht in diesem Zusammenhang davon, daß der Bundestag und der Bundesrat "häufig nicht weiter als einen notariellen Akt zu vollziehen haben."208 Dieser Machtverlust trifft die verschiedenen nationalen Parlamente unterschiedlich stark. Es kommt darauf an, ob sie einen großen Einfluß besitzen, wie z.B. das dänische Parlament und auch das britische Unterhaus, oder in der 203 Das Verfahren gern. Art. 169 u. 170 =226 u. 227 neu EGV ähnelt insoweit dem Bund-Länder-Streit im deutschen Recht; vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 614. 204 K6pemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 171. 205 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 543. 206 EuGH Slg. 1970, 825 (827 f.) - Rs. 9nO "Leberpfennig". 207 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1093. 208 Laufer, Das fderative System der Bundesrepublik Deutschland, S. 130. S G. Sander

66

F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

Politik schon ziemlich entmachtet sind, wie beispielsweise die französische Nationalversammlung. 209 Außerdem können seine Entscheidungen in föderativ aufgebauten Staaten auch den Aufgabenbereich des Gesetzgebers der Gliedstaaten verletzen, indem durch sie Aufgaben auf die Gemeinschaftsebene verlagert werden, die innerstaatlich eigentlich zum Kompetenzbereich der Gliedstaaten gehören. Auf der Gemeinschaftsebene sind dann gegebenenfalls die Regierungsvertreter des Bundesstaates als Gesetzgeber im Ministerrat an der Rechtsetzung in diesen Materien beteiligt. 210 Das gesamte Gemeinschaftssystem zeichnet sich durch eine sog. "Länderblindheit" aus, so daß auch der Gerichtshof keine besonderen Belange hinsichtlich der Befugnisse der Parlamente der Gliedstaaten zu berücksichtigen hat, sondern er die Kompetenzen des Mitgliedstaates einheitlich betrachten und wahren muß. 3. Grenze der vorweggenommenen Vertragsänderung

Eine unzulässige Rechtsfortbildung, welche die Befugnisse der Gemeinschaftsorgane ausweiten würde, hat nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Bindungswirkung fiir die Bundesrepublik Deutschland. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum "Maastrichter Vertragswerk" fiihrt hierzu aus, "daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb im Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegun~ von Befugnisnormen würde fi1r Deutschland keine Bindungswirkung haben." 11

Als Grenze zwischen zulässiger Auslegung und unzulässiger Rechtsschöpfung von Kompetenznormen durch den Europäischen Gerichtshof wird hier das Kriterium der "Vertragserweiterung" angesehen. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung endet dort, wo die Herrschaft der Mitgliedstaaten über die Verträge beginnt. Für den Fall, daß eine formelle Vertragsänderung gern. Art. N =

209 KtJpemik,

Rechtsetzungsbefugnisse, S. 171.

210 Deshalb wurde in Deutschland in Art. 23 Abs. 6 GG bestimmt, daß die Verhandlungen im Rat von einem Landesvertreter geführt werden, der vom Bundesrat benannt wird, wenn ausschließliche Landesgesetzgebungsbefugnisse betroffen sind. 211 BVerfGE 89, 155 (209 f.).

V. Kompetenzverteilung auf vertikaler Ebene

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48 neu EUV notwendig ist, darf der Gerichtshof keine Rechtsfortbildung betreiben. 212 Es ist ihm untersagt, einer Vertragsrevision vorzugreifen, 213 weil er den Willen der Vertragsparteien zu respektieren hat, der dem Rat oder Kommission in diesen Politikbereichen gerade keine Rechtsetzungsbefugnisse übertragen wollte. An anderer Stelle führt das Bundesverfassungsgericht aus, nicht mehr vom Vertrag gedeckte Rechtsakte von europäischen Einrichtungen und Organen, seien "im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden."214

Problematisch ist jedoch, daß das nicht genau definierbare Kriterium der "erforderlichen Vertragserweiterung" eine beliebige Wertung und damit möglicherweise eine objektive Willkür zuläßt.2lj Mit der Anwendung des Kriteriums kann der Bestand der gesamten Gemeinschaft gefährdet sein, weil die Einheit des Gemeinschaftsrecht direkt betroffen ist. 216 In der ungünstigsten Entwicklung könnte ein Zerfall der Gemeinschaft drohen, wenn das Beispiel Nachahmung finden würde. Außerdem wäre der Grundsatz der Rechtssicherheit und die Gleichheit vor dem Gesetz in der Gemeinschaft verletzt, 217 wenn das Bundesverfassungsgericht einen EG-Rechtsakt für in Deutschland unanwendbar erklärt.

4. Ergebnis

Aufgrund der vielfaltigen Einflüsse seiner Entscheidungen hat der Gerichtshof sehr genau die Funktionsbereiche der verschiedenen Organe, sowohl

212 Vgl. Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 41. 213 Nach Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 42 ff. soll dies auch im Bereich der kompetenzergänzenden Vertragslückenschließung durch den Rat gern. Art. 235 = 308 neu EGV gelten. 214 BVerfGE 89, 155 (188). 21 j Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, in: JZ 1994, S. 3. 216 Borchardt, GS-Grabitz, S. 32 f. 217 Zuleeg, JZ 1994, S. 3.

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F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

auf Gemeinschaftsebene, als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu beachten. Er muß die möglichen Auswirkungen seiner Urteile bedenken und ernst nehmen. Deshalb hat er bei seiner Rechtsprechungstätigkeit immer darauf achten, nicht in Form einer zu weitgehenden unzulässigen Rechtsfortbildung in die Zuständigkeitsbereiche der gesetzgebenden Organe beider Ebenen einzugreifen.

VI. Beschränkungen durch Vertragsrevisionen Eine weitere Grenze für die Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs wird diesem neuerdings bei den Vertragsverhandlungen durch die Vertreter der Mitgliedstaaten gesetzt. Aufschlußreich ist hierfür die Schlußbestimmung über die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Vertragswerk von Maastricht (Art. L = 46 neu EUV). Ausgelöst durch die Bedenken gegen die integrationsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wurde ihm die Zuständigkeit auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in fast allen Bereichen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Justiz und der inneren Angelegenheiten nicht übertragen. Erklärbar ist dies auch damit, daß es sich in diesen Bereichen der Europäischen Union vorerst noch um eine intergouvernementale Zusammenarbeit handelt. 218 Mit dem "Amsterdamer Vertrag" wird seine Zuständigkeit nunjedoch aufneue Bereiche ausgeweitet (vgl. z.B. Art. H = 9 neu EUV) und erfaßt nun erstmals auch die GASP (vgl. die Änderungen in Art. L lit. b und c = 46 lit. b und c neu EUV). Hinzu kommen Beschränkungen, die ihm nachträglich gesetzt werden und welche die Wirkung seiner Urteile aushebein sollen. Eine eindeutige Absicht, die Folgen eines Urteils des Gerichtshofs zu umgehen, stellt das Protokoll zu Art. 119 (= 141 neu) des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft dar. "Im Sinne des Artikels 119 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, außer im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichen Recht anhängig gemacht haben." 2 18 Rodrigues Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, in: EuR 1992, S. 244.

VI. Beschränkungen durch Vertragsrevisionen

69

Dieses Protokoll richtet sich ganz offensichtlich gegen die Folgen des Urteils in Sachen "Baber"219 . In diesem Urteil wurden die im Protokoll genannten Leistungen als Entgelte im Sinne des Art. 119 EWGV angesehen. Diese Auslegung wurde vorn Gerichtshof allerdings auf die Vergangenheit beschränkt. Hinsichtlich der Bedeutung und Wirkung dieser Beschränkung für zukünftige Entscheidungen wurden kontroverse Meinungen geäußert und es kam zu Vorlagen nationaler Gerichte. Durch die Abfassung dieses Protokoll haben die vertragschließenden Parteien eine künftige, den Regierungen der Mitgliedstaaten möglicherweise nicht genehme gerichtliche Entscheidung schon im Vorfeld ausgehebelt. Diese Vorgehensweise der Vertragsparteien, nämlich die Auslegung eines Urteils durch den Verfassungsgeber, stellt einen Eingriff in das gemeinschaftliche Aufgaben- und Funktionsteilungsprinzip dar. 220 Die Mitgliedstaaten versuchen damit neuerdings auf vertraglichem Wege die Einwirkungsmöglichkeiten des Gerichtshofs in Bereichen zu beschneiden, in denen sie sich vor ungünstigen Folgen seiner Urteile fürchten. Als weiteres Beispiel sei folgendes Protokoll genannt: "Der Vertrag über die Europäische Union, die Verträge zur GründWlg der Europäischen Gemeinschaften sowie die Verträge Wld Akte zur ÄnderWlg oder Ergänzung der genannten Verträge berühren nicht die AnwendWlg des Art. 40.3.3 der irischen VerfassWlg in Irland."

Hier geht es ganz augenfällig darum, einer möglichen Kollision des irischen Verfassungsauftrages zum Schutz des ungeborenen Lebens und den Grundsätzen der Dienstleistungsfreiheit auszuweichen, nachdem der Gerichtshof im Urteil"Grogan" 221 festgestellt hat, daß eine Abtreibung eine Dienstleistung im Sinne dieses Vertrages ist. Auf diesem Wege soll den Rechtsfolgen der Entscheidungen des Gerichtshofs mit Hilfe der Formulierung von Protokollen in den Vertragsverhandlungen neue Grenzen aufgezeigt werden. Wenn der Verfassungsgeber, wie durch das Protokoll zu Art. 119 = 141 neu EGV, dabei sogar in das gemeinschaftliche Funktionsteilungsprinzip eingreift, ist dieses Vorgehen aus systemtheoretischen Gründen äußerst bedenklich. Außerdem erscheint ein Rückschritt vorn

219 EuGH Slg. 1990, 1-1889 ff. - Rs. C-262/88. 220 In diesem Sinne auch Rodrigues Iglesias, EuR 1992, S. 244. 221 EuGH Slg. 1991, I-4685 ff.- Rs. C-159/90.

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F. Grenzen der Rechtsprechwtgstätigkeit

erreichten Integrationsniveau rechtspolitisch problematisch. 222 Teilweise wird auch vertreten, daß dieser actus-contrarius nur durch dasselbe Organ möglich ist.223 Aus diesen Gründen ist ein künftiges vergleichbares Vorgehen der Mitgliedstaaten abzulehnen. Weitere Grenzen für den Gerichtshofs befinden sich aufgrund politischer Bedenken der Mitgliedstaaten auch in den Vorschriften des EG-Vertrages. Als Schutz vor den möglichen Folgen einer richterlichen Rechtsfortbildung im Bildungsbereich, die unter dem Gerichtspunkt einer Angleichung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften im Zusammenhang mit der beruflichen Bildung stehen könnte, wurde der Art. 127 Abs. 4 = 150 Abs. 4 neu EGV aufgenommen: "Der Rat erläßt gemäß dem Verfahren des Artikels 189c (=252 neu) und nach Anhörwtg des Wirtschafts- wtd Sozialausschusses Maßnahmen, die zur Verwirklichwtg der Ziele dieses Artikels beitragen, wtter Ausschluß jeglicher Harmonisierwtg der Recht- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten." Dieses geschah aufgrund der Erfahrungen, welche die Mitgliedstaaten mit der Rechtsprechung in der Bildungspolitik, insbesondere mit der weiten Ausdehnung des Begriffs der "Berufsbildung" gemacht hatten und womit sie nun künftige Entwicklungen in diese Richtung ausschließen möchten. 224

VII. Akzeptanz der Urteile Die Frage der Akzeptanz der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs stellt sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen müssen die Entscheidungen von den politischen Organen der Mitgliedstaaten, genauer von den Politikern in diesen Institutionen, akzeptiert werden. Zum anderen ist aber auch ihre Anerkennung durch die gesamten politischen Funktionäre, die Journalisten und schließlich auch durch die Bürger von großer Bedeutung. Hinzu kommt noch die besondere Rolle der nationalen Gerichte für die Befolgung der Entscheidungen des Gerichtshofs.

222 Bleckmann, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung, S. 69. 223 Bleckmann, Die actus-contrarius-Doktrin, in: JuS 1988, S. 176. 22 4 Vgl. EuGH Slg. 1985, 593 ff. - Rs. 293/83 "Gravier" sowie EuGH Slg. 1988, 379 ff. - Rs. 24/86.

VII. Akzeptanz der Urteile

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1. Politische Akzeptanz bei den Organen der Mitgliedstaaten

Entscheidendes Merkmal der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist, daß er nicht, wie die Exekutive oder die Legislative, bei wesentlichen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen die Lösungen im Wege eines Kompromisses finden kann. Er muß den Streit zwischen den Parteien nach abstrakten Regeln zugunsten der einen oder der anderen Seite entscheiden. 225 Wenn es bei der Streitigkeit um wesentliche nationale Angelegenheiten und Interessen geht, besteht grundsätzlich die Gefahr, daß die unterliegende Seite das Urteil des Gerichtshofs ignoriert und seinen Ausspruch nicht befolgt. Die wirksame Wahrnehmung der Sicherungsfunktion durch den Gerichtshof gern. Art. 164 = 220 neu EGV und der Erfolg seiner integrationsfordernden Rechtsprechung hängt aber wesentlich von der Befolgung seiner Entscheidungen ab. 226 Dabei kann es sich vor allem um Urteile im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat handeln, die jener nicht beachtet. Begünstigt wird diese Haltung dadurch, daß der ursprüngliche EWG-Vertrag fiir diesen Fall keine Sanktionsmöglichkeiten vorsah, sondern der Gerichtshof auf den "guten Willen" der Mitgliedstaaten angewiesen war. Mit dem Vertragswerk von Maastricht wurde der Art. 171 EWGV in der Form geändert, daß nun auf Antrag der Kommission der Gerichtshof die Zahlung eines Pauschalbetrages oder eines Zwangsgeldes verhängen kann, wenn ein Mitgliedstaat einem Vertragsverletzungsurteil nicht nachkommt (Art. 171 Abs. 2 = 228 Abs. 2 neu EGV). Bisher wurde von dieser Möglichkeit noch kein Gebrauch gemacht. Nun empfiehlt jedoch die Kommission dem Gerichtshof in bezug auf die nichtfristgerechte Umsetzung von Richtlinien im Umweltrecht die Verhängung von Geldbußen.227 225 Hammes, Gedanken zu Funktion und Verfahren des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR 1968, S. 5; ferner Donner, Le röle de la Cour de Justice dans l'elaboration du droit europeen, S. 6. 226 Hierzu Nicolaysen, Der Gerichtshof- Funktion und Bewährung der Judikative, in: EuR 1972, S. 385 sowie Donner, Die politische Funktion des Richters, in: AöR 1981, S. 6 und Kutscher, EuR 1981, S. 412. 227 So droht z.B. Deutschland ein Bußgeld in Höhe von 26.400 ECU (Vogelschutz), 264.000 ECU (Grundwasserschutz) und 158.400 ECU (Oberflächenwasserschutz); vgl. EUR-OP News 111997, S. 3.

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F. Grenzen der RechtsprechWlgstätigkeit

So offensichtlich die Gefahr des Unterlaufens von Urteilen des Gerichtshofs scheint, gab es bis jetzt jedoch kaum Fälle, in denen offen ein Urteil von den Regierungen der Mitgliedstaaten ignoriert wurde. 228 Lediglich in wenigen Fällen mußte der Gerichtshof ein zweites Urteil erlassen, weil das erst nicht innerhalb einer angemessenen Frist von den Mitgliedstaaten befolgt wurde, 229 und nur in Ausnahmefällen wurde eine Entscheidung offen ignoriert. 230 Diese Vorgehensweise der Staaten hat also keine Schule gemacht. Die Gründe dafiir sind leicht ersichtlich. Die Furcht der Mitgliedstaaten, wegen der Ignorierung eines Urteils Schaden an ihrem Ansehen zu nehmen, ist nicht zu unterschätzen. Keinem Staat innerhalb der Gemeinschaft wird es egal sein, wenn er ein Unwerturteil der anderen Staaten auf sich zieht. 231 Außerdem haben sie Angst, ihr Prestige als treue Vertragspartner zu verlieren. 232 Darum lassen es die Mitgliedstaaten auch nur in den seltensten Fällen zu einem Urteil kommen. Meistens endet das Verfahren schon nach Eingang des Mahnschreibens der Kommission im Vorverfahren oder durch Klagerücknahme, weil der Mitgliedstaaten unverzüglich das vertragsverletzende Verhalten nach Klageerhebung eingestellt hat. Deshalb ist es bis jetzt in der Praxis auch nicht zu einer Verhängung eines Zwangsgeldes gegen einen Mitgliedstaat gekommen. Außerdem erkennen die Mitgliedstaaten auch die Gefahr, die hierdurch für die gemeinschaftliche Zusammenarbeit entstehen würde, falls ein Staat offen ein Urteil des Gerichtshofs nicht beachtet und die sich aus dem Urteil ergebenden erforderlichen Maßnahmen nicht ergreift. Die anderen Staaten würden sich dann nämlich fragen, warum ausgerechnet sie sich noch an die Urteile halten sollten. Dies würde zwangsläufig dazu fuhren, daß diejenigen Urteile, die den einzelnen Regierungen der Mitgliedstaaten nicht in das politische 228 Z.B. EuGH Slg. 1968, 633 ff. - Rs. 7/68 "KWlstschätze". Die Vertragsverletzung wurde jedoch von Italien noch vor Erlaß des zweiten Urteils (EuGH Slg. 1972, 529 ff. - Rs. 48nt) eingestellt. 229 Z.B. die zweimalige VerurteilWlg Belgiens wegen fehlender UmsetzWlg von vier Umweltschutzrichtlinien in EuGH Slg. 1982, 153 ff.- verb. Rs. 68 bis 71/81 Wld EuGH Slg. 1988, 1 ff. - verb. Rs. 227 bis 230/85. 230 Vgl. EuGH S1g. 1979, 2729 ff. - Rs. 232n8 Wld EuGH Slg. 1980, 1319 ff. verb. Rs. 24 u. 97/80 "Schaffieisch" sowie EuGH Slg. 1981, 1805 ff. - Rs. 158/80 Wld EuGH Slg. 1984, 777 ff. - Rs. 325/82 "Butterfahrten". 231 KiJpemik, RechtsetzWlgsbefugnisse, S. 201. 23 2

Bleclonann, GS-Constantinesco, S. 63.

Vll. Akzeptanz der Urteile

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Konzept passen, einfach nicht mehr befolgt würden. Damit stände aber der gesamte Bestand der Gemeinschaft auf dem Spiel. 233 Der Gerichtshof als Kontrollinstanz der Rechtsgemeinschaft wäre seiner Funktion beraubt und könnte ein Auseinanderdriften der Gemeinschaftsakteure nicht mehr verhindern, weil es keine einheitlich anerkannten Rechtsgrundsätze mehr geben würde. Solange also das Interesse der Regierungen der Mitgliedstaaten an einer funktionierenden Gemeinschaft größer ist, als das durch die Urteile jeweils betroffene nationale Einzelinteresse, werden sie die Entscheidungen des Gerichtshofs befolgen, damit die Gemeinschaft nicht in eine Krise stürzt oder sogar Gefahr für ihren Bestand entsteht. 234 Die Gefahr der Ignorierung von Urteilen hinsichtlich der Geltung von sekundärem Gemeinschaftsrecht ist auch deswegen gering, weil die Regierungen der Mitgliedstaaten über den Ministerrat an der Rechtsetzung beteiligt sind. Bei wesentlichen Fragen ist sogar die Einstimmigkeit vonnöten. Deshalb ist die Befürchtung, daß Rechtsakte gravierende einzelstaatliche Interessen verletzen, eher gering.23S

2. Akzeptanz bei den Unionsbürgern Auch wenn die Gefahr, daß Urteile über längere Zeit hin offen ignoriert werden, nicht sehr hoch ist, besteht zumindest die Befürchtung, daß der Gerichtshof durch eine betont gemeinschaftsfreundliche Rechtsprechung nach und nach seine eigene Autorität untergräbt. Durch die Stärkung von Befugnissen der Gemeinschaft und integrationsffirdernde Entscheidungen zieht der Gerichtshof häufig die Kritik von nationalen Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten auf sich. Deren Äußerungen haben wiederum großen Einfluß auf die öffentliche Meinung. So wurde z.B. die als zu kostspielig angesehene Sozialrechtsprechung des Gerichtshofs, vom Bundessozialminister Norbert Blüm236 als "Pyrrhus-Sieg" apostrophiert oder die weite Auslegung der Gemeinschaftskompetenzen durch

233 Vgl. Lecourt, L' Europe des juges, S. 309. 23 4 Kutscher, EuR 1981, S. 412 nennt dies die "normative Kraft des Faktischen im überstaatlichen Zusammenhang". 235 KiJpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 203. 236 DER SPIEGEL Nr. 49 v. 30. November 1992, S. 102 tT.

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F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

den jetzigen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber kritisiert. 237 Wissenschaftliche Schelte erhielt der Gerichtshof auch fiir seine Rechtsprechung zum Arbeitsrecht.238 Das Verlangen nach einer Korrektur dieser Rechtsprechung stellt jedoch einen Eingriff in die Unabhängigkeit und die Kompetenz des Gerichtshofs dar, aber allein schon die Forderung schwächt das Ansehen des Europäischen Gerichtshofs in der Öffentlichkeit. Der Gerichtshof muß bedenken, daß eine von den Bürgern nicht akzeptierte Rechtsprechung zu einem Ansehensverlust der Europäischen Union fuhren kann. 239 Schließlich wird in der öffentlichen Meinung bei einem Urteil, das fiir nationale Interessen nachteilig ist, letztlich nicht genau differenziert, welches Organ dafiir verantwortlich ist, sondern die Kritik richtet sich direkt gegen den erreichten Grad der Vergemeinschaftung. In der Regel wird auch nicht abgewogen, ob der durch die Entscheidung entstandene Nachteil die großen Vorteile der Mitgliedschaft aufwiegt. Häufig sind die Nachteile den Bürgern leichter vermittelbar und lassen sich teilweise sogar monetär bewerten, während die Vorteile fiir den einzelnen nicht so offensichtlich auf der Hand liegen.

3. Akzeptanz der Urteile bei nationalen Gerichten Im Hinblick auf die Akzeptanz der Entscheidungen des Gerichtshofs bei den innerstaatlichen Gerichten, stellt sich die Frage, ob diese einerseits den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem in den Mitgliedstaaten geltenden Recht240 und andererseits die unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den nationalen Rechtsordnungen zugunsten der Bürger anerkennen. So kann es auf dem Gebiet der Vorabentscheidungsverfahren dazu kommen, daß nationale Gerichte die Stellungnahmen des Gerichtshofs nicht befolgen oder ihm ihre Rechtsstreite erst gar nicht vorlegen. 241 237 Stoiber, Auswirkungen der Entwicklung Europas zur Rechtsgemeinschaft auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv 1987, S. 543. 238 Junker, NJW 1994, S. 2527 f. 239 Auch Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 81 rät dem EuGH bei der Rechtsschöpfung den Konsens der Mitgliedstaaten im Auge zu behalten. 240 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 629. 241 Ausftlhrlich ft1r die deutsche Gerichtsbarkeit Schwarze, Die Befolgung von Vorabentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs durch deutsche Gerichte.

VII. Akzeptanz der Urteile

75

In der Zwischenzeit haben die nationalen Rechtsprechungsorgane jedoch nach einigem Zögern und mit wenigen Ausnahmen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannt, um nicht den Fortbestand der Gemeinschaft zu gefahrden. 242 Hier sollen nur die Auffassungen einzelner wichtiger innerstaatlicher Gerichte kurz wiedergegeben werden, die dem Gerichtshof eine lange Zeit oder sogar bis heute noch nicht gefolgt sind. 243

a) Bundesverfassungsgericht In der Bundesrepublik Deutschland wird vor allem das Rangverhältnis zwischen nationalem Recht und dem Gemeinschaftsrecht im Zusammenhang mit der Grundrechtspolitik diskutiert. 244 Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Beschluß vom 29. Mai

1974245 ausgeführt, daß das sekundäre Gemeinschaftsrecht unter nationaler Grundrechtskontrolle bleibt, bis es zu einem ausformulierten Grundrechtskatalog in der europäischen Rechtsordnung kommt. Damit ließ es im Ergebnis die konkrete Normenkontrolle gegen eine EWG-Verordnung zu. 246 Das Gericht erkannte zwar prinzipiell den Vorrang des Gemeinschaftsrechts an, dies sollte aber nicht für den Bereich des Grundrechtsschutzes gelten, in dem die deutschen Grundrechte den Vorrang genießen sollten. 247 Darin kam eine Skepsis zum Ausdruck, die angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Grundrechtsschutz als nicht gerechtfertigt erschien.248 Im Jahre 1979 nahm das Bundesverfassungsgericht diesen Beschluß inhaltlich teilweise zurück, indem es offen ließ, inwieweit noch die Grundsätze des "Solange I"-Beschlusses bei künftigen Vorlagen von Normen des abgeleiteten 242 Lecourt, L' Europe desjuges, S. 309. 243 In Großbritannien ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung gesichert; vgl. Court of Appeal CMLRev. 1980, S. 217 f. u. 229 f. 244 Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, S. 713. 245 BVerfGE 37, 271 ff. "Solange I". 246 Vgl. /psen, BVerfG versus EuGH re "Grundrechte", in: EuR 1975, S. I ff. 247 Meessen, Europäische Grundrechtspolitik, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, S. 35. 248 So auch Oppermann, Europarecht, Rdnr. 415.

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F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit

Gemeinschaftsrechts gelten sollen.249 In der Zwischenzeit hatte das Gericht durch einen erneuten Beschluß250 , eine hinreichende Gewährleistung des Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof auf Gemeinschaftsebene grundsätzlich anerkannt und seine eigene Prüfungskompetenz zurückgenommen. In dem "Maastricht"-Urteil vom 12. Oktober 1993 251 führte das Gericht nun aus, daß es eine Kontrollbefugnis über die öffentliche Gewalt der Gemeinschaft ausübt, diese allerdings auf einen unabdingbaren Grundrechtsstandard beschränkt. Dabei berief es sich auf seinen "Solange 11"-Beschluß und sprach von einem Kooperationsverhältnis zum Europäischen Gerichtshof. 252 Dies deutet im Ergebnis eine Renationalisierung des Grundrechtsschutzes an und bestärkt seine generelle Zuständigkeit fiir die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes im Geltungsbereich des Grundgesetzes. b) Conseil d'Etat In der französischen Rechtslehre werden völkerrechtliche Verträge als Akte der hohen Verwaltung angesehen, deren Interpretation aus diesem Grund dem Außenministerium obliegt. Eine richterliche Prüfung würde nach dieser Auffassung einen unzulässigen Eingriff in die Befugnisse der vollziehenden Gewalt darstellen. 253 Das Urteil des Conseil d'Etat in Sachen "Dame Kickwood" 254 ließ zum ersten Mal eine gerichtliche Konfliktlösung zwischen einem nationalen Dekret und einem völkerrechtlichen Vertrag zu. Im Ergebnis räumte die Mehrzahl der französischen Gerichte den völkerrechtlichen Regelungen jedoch keinen Vorrang vor den nationalen Gesetzen ein. Ein späterer französischer Rechtsakt soll Vorrang vor völkerrechtlichen Bestimmungen besitzen, weil ein Richter nach ihrer Ansicht nicht befugt ist, die Tätigkeit der Legislative zu überprüfen und der letzte Gesetzgeberwille vorzugehen hat. 249 BVertGE 52,202 ff. "Vielleicht". 250 BVertGE 73, 339 ff. "Solange ll". 251 BVerfGE 89, 155 ff. 252 Ebd., S. 175 u. 178; vgl. auch Leitsatz Nr. 7. 253 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 736 ff. 254 Urteil v. 30. Mai 1952, in: Rec. 1952, S. 291 ff.

VII. Akzeptanz der Urteile

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Die einzelstaatlichen Gerichte versuchten in einer ersten Phase bis zu den 70er Jahren eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 EWGV (=Art. 234 neu EGV) zu umgehen. Der Conseil d'Etat hatte in einer Entscheidung255 mit der Theorie des "acte clair"256 abgelehnt, das Vorlageverfahren einzuleiten und statt dessen selbst den Art. 37 EWGV (= Art. 31 neu EGV) ausgelegt. In einem späteren Rechtsstreit, in dem es um die Anwendbarkeit einer Verordnung ging, hatte er aus den bereits oben genannten Gründen zugunsten des späteren nationalen Dekrets entschieden.257 In einer zweiten Phase hatten immer mehr ordentliche Gerichte258 und Verwaltungsgerichte den Vorrang des Gemeinschaftsrechts anerkannt. Lediglich der Conseil d'Etat hielt an den Grundsätzen seines Urteils von 1964 fest und erkannte den Vorrang nicht an. 259 Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung von nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien hielt der Conseil d'Etat aufgrund des Legalitätsprinzips fur rechtswidrig. 260 In der Zwischenzeit hat er jedoch in mehreren Urteilen eine Wende vollzogen und sowohl den Vorrang des Vertragsrechts, allerdings unter Hinweis auf Art. 55 der Verfassung, 261 als auch den Vorrang des sekundären Rechts gebilligt. 262 Lediglich die unmittelbare Wirkung von Richtlinien wird von ihm noch nicht anerkannt. Er hat bis jetzt auch von einer Vorlage dieser Frage abgesehen, da fur ihn der Wortlaut des Art. 189 Abs. 3 = 249 Abs. 3 neu EGV eindeutig gegen eine unmittelbare Geltung spricht.

255 Urteil v. 19. Juni 1964, in: Rec. 1964, S. 794 ff. mit Anm. de Soto. 256 Hierzu näher Lagrange, The European Court of Justice and National Courts, in: CMLRev. 1971, S. 313 ff. 257 Urteil v. I. März 1968, in: EuR 1968, S. 317 ff. mit Anm. Constantinesco und

Ipsen.

258 Z.B. Cour de Cassation, Urteil v. 25. Mai 1975, in: EuR 1975, S. 327 ff. mit

Anm. Bieber.

259 Vgl. Urteil v. 23. November 1984, in: AJDA 1985, 216 ff. 260 Urteil v. 22. Dezember 1978 "Cohn-Bendit", in: EuR 1979, S. 292 ff. mit Anm. Bieber und in: EuGRZ 1979, S. 251 ff. mit Anm. Tomuschat, siehe auch Bebr, The rambling ghost of "Cohn-Bendit", in: CMLRev. 1983, S. 439 ff. 261 Urteil v. 20. Oktober 1989 "Nicolo", in: EuGRZ 1990, S. 106. 262 Urteil v. 3. Januar 1989 "ALITALIA", in: Rec. 1989, S. 44 ff. und das Urteil v. 24. September 1990, in: AJDA 1990, S. 906 ff.

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F. Grenzen der Rechtsprechungstätigkeit c) Italienischer Verfassungsgerichtshof

Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien wurde von dem italienischen Verfassungsgerichtshof grundsätzlich anerkannt.263 Bis 1984 beanspruchte er aber für sich allein das Monopol nationale Gesetze wegen eines Verstoßes gegen europäisches Gemeinschaftsrecht für unanwendbar zu erklären. Seit seinem Urteil vom 6. Juni 1984264 hat der Verfassungsgerichtshof diesen Anspruch nwunehr aufgegeben. Trotzdem behält er sich - vergleichbar mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts - noch die Kompetenz vor, auch künftig das sekundäre Gemeinschaftsrecht bei einer schweren Verletzung von Grundrechten zu überpiiifen.26S

d) Bundesfinanzhof Neben dem Conseil d'Etat hat auch der Bundesfinanzhof, in einem Urteil266 vom 16. Juli 1981, dem Europäischen Gerichtshof im Hinblick auf die unmittelbare Anwendung von Richtlinien die Gefolgschaft verweigert. Er leistete auch in der Entscheidung vom 25. April 1985267, einem Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs über die unmittelbare Wirksamkeit der 6. Umsatzsteuer-Richtlinie268, keine Folge. Dabei vertrat er die Ansicht, daß der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht das Hoheitsrecht übertragen wurde, auf dem Gebiet des Umsatzsteuerrechts eine Rechtsetzung mit unmittelbarer Wirkung in den Mitgliedstaaten im Ralunen einer Rechtsangleichung durchzuführen. Die Wirkung von Richtlinien wurde für ihn im Jahre 1957 ausschließlich durch den nationalen Akt des Zustimmungsgesetzes zum EWGVertrag festgelegt. Nach seiner Auffassung stand also eine Entscheidung aufgrund nationalen Rechts und nicht über die Auslegung von Gemeinschafts263 Urteile v. 2. Februar 1990 und v. 18. April1991, in: Le Societa 1991, S. 945 ff. 264 Urteil der Corte constitutione, in: ll Foro italiano 1984, S. 2063 ff. mit Anm.

Tizzano.

265 Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 204. 266 BFHE 133, 470 ff.; auch in: EuR 1981, S. 442 ff. mit Anm. Millarg. 267 BFHE 143, 383 ff. 268 EuGH Slg. 1984, 1075 ff.- Rs. 70/83 "K.loppenburg".

VII. Akzeptanz der Urteile

79

recht zur Debatte. Damit entzog er sich der Bindungswirkung der Vorabentscheidung. Der Bundesfinanzhof bestreitet damit sowohl die innerstaatliche Wirkung von Richtlinien, als auch die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs, zu einer dynamischen Entwicklung beizutragen. 269 Ganz offensichtlich verletzt er mit seinen Entscheidungen aber den Art. 177 EWGV (= Art. 234 neu EGV), 270 denn das Bundesverfassungsgericht hat der vom Gerichtshof festgestellten Bindungswirkung seiner Rechtsprechung für das gesamte innerstaatliche Verfahren bei Vorabentscheidungen271 ausdrücklich zugestimmt. 272 Deshalb hat es das Urteil des Bundesfinanzhofs auch wegen "objektiver Willkür" aufgehoben273, mit dem Hinweis, daß der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist.

4. Reaktionen des Europäischen Gerichtshofs Um den Politikern, Journalisten und Juristen ein Urteil verständlicher zu machen, wendet der Gerichtshof in seinen Begründungen bestimmte Techniken an. Vor allem durch den Stil seiner Urteile versucht der Gerichtshof den Kritiken die Spitze zu nehmen. Geschickt werden zumeist weitergehenden Überlegungen eine Absage erteilt, um die eigene Auffassung schließlich akzeptabler zu machen. Teilweise verpackt der Gerichtshof eine integrationsfordernde Rechtsprechung in Urteile, in denen die Gemeinschaftsorgane unterliegen und somit vordergründig ein Obsiegen der Ansichten der jeweiligen Mitgliedstaaten vorzuliegen scheint. 274 So gewann zwar die niederländische Regierung als Klägerin gegen die Hohe Behörde in der Rs. 25/59275 , trotzdem wurde jener die Kompetenz zugesprochen, Empfehlungenaufgrund Art. 70 Abs. 3 EGKSV zu 269 Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 206. 270 Hierzu ausführlicher Tomuschat, Nein, und abermals Nein! - Zum Urteil des BFH vom 25. April 1985 (V R 123/84), in: EuR 1985, S. 353 f. 271 Z.B. EuGH Slg. 1969, 165 (178)- Rs. 29/68. 272 BVerfGE 52, 187 (201). 273 BVerfGE 75, 223 ff. 274 KlJpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 207 f. 275 EuGH Slg. 1960, 743 ff.

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F. Grenzen der Rechtsprech1mgstätigkeit

erlassen. Auch in den Fällen "AETR"276 und "Continental Can"277 unterlag jeweils die Kommission, obwohl der Gerichtshof im Grundsatz die integrationslordemden Ansichten der Kommission über den Umfang der Gemeinschaftskompetenzen bestätigte. Durch dieses Vorgehen schützt der Gerichtshof einerseits die Mitgliedstaaten vor einer überraschenden extensiven Vertragsauslegung durch die politischen Gemeinschaft.sorgane, andererseits macht er sich aber eine integrationsfreundliche Ansicht zu eigen, olmeden Mitgliedstaaten einen Grund zur Kritik an dieser Auslegung zu geben, weil die konkrete gerichtliche Entscheidung sie nicht in ihren eigenen Interessen beeinträchtigt.278 Als Folge dieses Vertrauensprinzips hat seine Auffassung also noch keine Wirkung fiir den vorliegenden Einzelfall, sondern erst fiir die Zukunft. 279 Außerdem begrenzt er in einigen Fällen die zeitliche Wirkung seiner Urteile, wie z.B. bei Ungültigkeitserklärungen von Rechtsakten oder wenn eine Vorschrift künftig von der bisherigen Auslegung und Praxis abweichend interpretiert wird und dadurch weitreichende Folgen entstehen. 280 Der Gerichtshof ist dazu aufgerufen das Spannungsverhältnis zwischen Integrationsfurderung und Souveränität der Mitgliedstaaten bei jedem Urteil neu lösen. In der heutigen Zeit, in der eine kritische Einstellung der Europäischen Union gegenüber vorherrscht, kann es angebrachter sein, eher zurückhaltend mit der Ausweitung von Gemeinschaftsbefugnissen umzugehen. Die einzelnen Richter müssen außer juristischen Sachverstand, auch politisches Fingerspitzengefiihl besitzen. 281 Dabei bleiben Akzeptanz und Kritik der Entscheidungen, das einzige wirklich effektive Korrektiv seiner Rechtsprechung.

276

EuGH S1g. 1971, 263 ff.- Rs. 22170.

277 EuGH S1g.

1973, 215 ff. - Rs. 6172.

278

Vgl. KtJpemik, Rechtsetzllllgsbefugnisse, S. 208.

279

Vgl. auch EuGH S1g. 1978, 1365 ff. - Rs. 149177 "Sabena".

Vgl. EuGH S1g. 1980, 1205 ff. - Rs. 61/79; EuGH S1g. 1990, I-1889 ff. - Rs. C262/88; EuGH S1g. 1991, I-3635 ff.- Rs. C-368/89. 280 281

Vgl. Donner, AöR 1981, S. I ff.

G. Analyse von Entscheidungen mit grundsätzlicher Bedeutung Im folgenden sollen Urteile des Gerichtshofs, die für die Entwicklung der Rechtsordnung der Gemeinschaft von grundsätzlicher und wegweisender Bedeutung sind, auf ihre Auswirkungen auf den Fortgang der europäischen Einigung untersucht werden. Dabei liegt das Vorhaben zugrunde, die Entscheidungen aufgrund ihrer integrationspolitischen Folgewirkungen in die drei vorgenannten Integrationsdimensionen einzuordnen. Damit stellt sich die Frage, ob die einzelnen Urteile die institutionelle Dimension, die Schaffung eines gemeinsamen Bewußtseins oder den Ausbau der gesellschaftlichen Verflechtungen positiv beeinflußt haben. Häufig zeigen die Urteile aber auch gleichzeitig integrationspolitische Auswirkungen in mehreren Dimensionen, so daß sie sich nur schwerpunktmäßig zuordnen lassen.

I. Das Recht als Integrationsinstrument Zunächst ist festzuhalten, daß für die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, die rechtliche Vereinheitlichung notwendige Grundlage für Fortschritte in den drei genannten Integrationsdimensionen ist. Das Recht besitzt hier eine instrumentale Funktion zur Bewirkung der europäischen Einigung.282 Es wird als Steuerungsinstrument verstanden, um der Integration Form und Rahmen zu geben, durch die der Prozeß erst seine Ausformung und seinen Bestand erhält. 283 Dies soll die Grundlage bilden, auf der sich dann die ökonomische und politische Integration vollziehen kann. 284

282 Schwarze, Das Recht als Integrationsinstrument, in: Capotorti u.a. (Hrsg.): Du droit international au droit de l'integration, S. 641. 283 Everling, Bindung und Rahmen: Recht und Integration, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, S. 152. 284 Dauses, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes als Verfassungsgericht der Europäischen Union, in: Integration 1994, S. 215. 6 G. Sander

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G. Analyse von Entscheidungen

Mit welchen Entscheidungen es der Gerichtshof erreicht hat, aus den lükkenhaften Vorschriften der Gründungsverträge eine europäische Rechtsordnung zu konzipieren und das Recht als Hilfsmittel zu gestalten, mit dem man die Einigung vorantreiben kann, soll im folgenden aufgezeigt werden. 1. Vorrang des Gemeinschaftsrechts

Wichtige Bedingung fur den Fortgang der Integration ist der rechtliche Zusammenhalt der Gemeinschaft. 285 Dieser kann nur gelingen, wenn es der Gerichtshof schafft, aus den rudimentären Bestimmungen der Verträge eine europäische Rechtsordnung zu konzipieren, die wie eine Klammer die "Rechtsgemeinschaft"286 zusammenhält und eine einheitliche Wirkung in den Mitgliedstaaten entfaltet. Eine Voraussetzung hierfur ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen und die unrnittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. 287 In der Entscheidung "Costa/ENEL"288 hat der Gerichtshof grundlegend den Vorrang des Gemeinschaftsrechts konzipiert und in weiteren Urteilen ausgebaut. 289 In diesem Rechtsstreit ging es um den Italiener Costa, der die Bezahlung seiner Stromrechnung an das neu gegründete staatliche Monopolunternehmen E.N.E.L. verweigerte, weil nach seiner Auffassung das Verstaatlichungsgesetz gegen die italienische Verfassung und Vorschriften des EWGVertrages verstieß. Der Verfassungsgerichtshof bejahte die Verfassungsmäßigkeit des Verstaatlichungsgesetzes und legte dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahren die Sache hinsichtlich der Frage vor, ob das Gesetz mit dem EWG-Vertrag vereinbar sei. Der Gerichtshof führte dazu aus, daß jeder staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden. Außerdem hat er die Rechte, die dem einzelnen verliehen werden, zu schützen, indem entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts bei einem Verstoß gegen

285 Stotz, Die Rolle des Gerichtshofs bei der Integration, in: Rengeling/von Borries (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft, S. 22. 286 EuGH Slg. 1986, 1339 (1365)- Rs. 294/83 "Les Verts". 287 Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 204. 288 EuGH Slg. 1964, 1251 ff.- Rs. 6/64. 289 So z.B. in EuGH Slg. 1978,629 ff.- Rs. l06n7 "Simmenthal II".

I. Das Recht als Integrationsinstrument

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Gemeinschaftsrecht für unanwendbar erklärt werden. Der Vorrang des Gerneinschaftsrechts richtete sich nach diesem Urteil jedoch nur gegen nachfolgende, einfache nationale Rechtsvorschriften. Seit seiner Entscheidung "Internationale Handelsgesellschaft"290 gilt dieser Vorrang jetzt auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht, denn der Gerichtshof fürchtete zu Recht, daß ansonsten die einheitliche Geltung des Gerneinschaftsrechts leiden würde. Deshalb darf eine Verletzung der einzelstaatlichen Verfassungen nicht die Gültigkeit von Gemeinschaftsmaßnahmen berühren. "Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt. u291

Mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof im Wege der Rechtsangleichung das nationale Recht in den Mitgliedstaaten mit gemeinschaftlich bestimmten Normeninhalten durchdrungen. Damit begründete er die Effektivität des europäischen Rechts, im Hinblick auf die Durchsetzung der Vertragsziele292 und der Dynamik der Integration. Außerdem unterstützte er die Funktionsfahigkeit der Gerneinschaft und die Bildung einer bürgernahen Normenhierarchie. 293 2. Unmittelbare Wirkung des primären Gemeinschaftsrechts

Nach allgerneiner Auffassung sollte jedoch nur primäres Gemeinschaftsrecht, das unmittelbar gilt, abweichendes nationales Recht verdrängen können. In der Rechtssache "van Gend & Loos" 294 hatte der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob das Verbot von Zöllen oder Abgaben gleicher Wirkung in Art. 12 EWGV (=Art. 25 neu EGV) nur gegenüber den Mitgliedstaaten Wirkung entfaltet oder, ob sich auch einzelne unmittelbar gegenüber den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten auf die Bestimmungen berufen können.

29° EuGH Slg. 1970, 1125 ff. - Rs. 11/70. 291 Ebd., S. 1135, Rdnr. 3. 292 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 523. 293 Vgl. den Titel von Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966. 294 EuGH Slg. 1963, I ff. - Rs. 26/62.

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G. Analyse von Entscheidtutgen

Der Gerichtshof hat entgegen dem Wortlaut der Vorschrift, der sich nur an die Mitgliedstaaten wendet, auf die Vertragsziele des EWG-Vertrages Bezug genommen und so, im Wege der teleologischen Interpretation, die unmittelbare Wirkung der Norm bejaht: "Das von der Gesetzgebtmg der Mitgliedstaaten tutabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern aufgrund von eindeutigen Verpflichttmgen, die der Vertrag den Einzelnen, wie auch den Mitgliedstaaten tutd den Organen der Gemeinschaft auferlegt. n295 Die integrationspolitischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung zeigen sich als Parallele zum Verständnis der Integration als Verschmelzung mehrerer Akteure zu einem neuen Handlungssubjekt Auch hier findet eine Angleichung der einzelnen nationalen Rechtsordnungen statt, mit dem Ziel der Schaffung einer neuen europäischen Rechtsordnung, die diesen übergeordnet ist. Aufgrund der richterlichen Interpretation von Vertragsvorschriften, die nun in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung erhalten, finden entgegenstehende nationale Regelungen, die bis jetzt keiner Angleichung unterlagen, keine Anwendung mehr. Dies bedeutet aber auch, daß hier eine richterliche Rechtsangleichung an die Stelle des vertraglich vorgesehenen Instrumentariums (z.B. Art. 100 ff. = 94 ff. neu EGV) tritt.296 Die integrationspolitischen Ziele werden also "im Rahmen einer eigenständigen, unmittelbar geltenden und vorrangigen Rechtsordnung verfolgt"297. Die hiermit eng verbundene unmittelbare Geltung von nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien soll erst bei der Verbindlichkeit gemeinschaftlicher Beschlüsse erörtert werden.

II. Urteile im Bereich der politische Entscheidungstindung In dieser Integrationsdimension sollen die Folgen der Entscheidungen des Gerichtshofs für die Anzahl und Bedeutung der in die vergemeinschaftete Entscheidungsfindung einbezogenen Politikbereiche, für die Verbindlichkeit der

295 EuGH Slg. 1963,25, Rdnr. 10. 296 Everling, Rechtsvereinheitlichtutg durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: RabelsZ 1986, S. 193 ff. 297 Dauses, GutachtenD zum 60. DIT, Dll.

ll. Urteile im Bereich der politische Entscheidungsfmdung

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gemeinschaftlichen Beschlüsse sowie fiir die Wirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts, untersucht werden. 1. Urteile im Bereich der Verlagerung von Kompetenzen

Der Grad der Integration ist um so höher, je mehr bedeutende Aufgaben auf die supranationale Ebene verlagert werden, also je zahlreicher und von größerer Wichtigkeit die in die vergemeinschaftete Entscheidungstindung einbezogen Politikbereiche sind. 298 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs wird deshalb dahingehend zu untersuchen sein, ob sie einen Einfluß auf die vertragliche Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ausübt. Dies soll exemplarisch im Sektor der Außenbeziehungen der Gemeinschaft erfolgen. Im völkerrechtlichen Verkehr ist die Gemeinschaft nur dort befugt zu handeln, wo ihr ausdrücklich Kompetenzen durch die Gemeinschaftsverträge verliehen werden. Fraglich war ursprünglich, ob dies auch fiir eine völkerrechtliche Vertragsabschlußkompetenz gelten soll. Eine solche ist ihr in den Verträgen nämlich nicht ausdrücklich zugewiesen worden. Dieses Problem wurde durch das "AETR"-Urtei1299 geklärt, in dem zum ersten Mal der Gerichtshof eine weite Auslegung der Gemeinschaftszuständigkeiten vornahm. In dem Rechtsstreit erhob die Kommission Nichtigkeitsklage gegen einen Beschluß des Rates, der die Mitgliedstaaten beauftragte, ihre Verhandlungen über den Abschluß eines europäischen Abkommens über die Arbeit der Fahneugbesatzungen im internationalen Straßenverkehr (AETR) fortzusetzen. Als Vorfrage hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob die Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten die Befugnis zur Aushandlung und zum Abschluß des internationalen Abkommens im Bereich der Verkehrsaußenpolitik besitzen.300 Im Ergebnis stützte der Gerichtshof die Kompetenz der Gemeinschaft zum Abschluß von Verträgen mit Drittstaaten im Bereich des Verkehrswesens auf Art. 75 EWGV (= Art. 71 neu EGV). Diese Zuständigkeit kann sich fiir ihn nicht nur aus den ausdrücklichen Ermächtigungen durch den Vertrag, sondern auch als Reflexwirkung sowohl aus anderen vertraglichen Bestimmungen, als

298 Vgl. Frei, Integrationsprozesse, S. 115. 299 E uGH Slg. 1971,263 ff. - Rs. 22170. 300 Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 32.

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G. Analyse von Entscheidungen

auch aus Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane, die in diesem Bereich mit interner Zielrichtung erlassen wurden, ergeben. "Insbesondere sind in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung einer vom Vertrag vorgesehenen gemeinsamen Politik Vorschriften erlassen hat, die in irgendeiner Form gemeinsame Rechtsnormen vorsehen, die Mitgliedstaaten weder einzeln noch selbst gemeinsam handelnd berechtigt, mit dritten Staaten Verpflichtungen einzugehen, die diese Normen beeinträchtigen. n30 I

Voraussetzung für eine Außenkompetenz ist allerdings, daß die Gemeinschaft ihre interne Zuständigkeit wahrgenommen und bereits gemeinsame, für alle Mitgliedstaaten geltende Vorschriften erlassen hat. Aufgrund der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts handelt es sich dabei um eine ausschließliche Zuständigkeit. Diese Begründung, die sich auf die "implied powers"-Doktrin stützt, wurde vom Europäischen Gerichtshof in einem späteren Urteil302 noch weiter ausgebaut. Die auswärtige Gewalt stellt sich danach als Ergänzung der internen Regelungsgewalt dar, auch wenn sie nicht ausdrücklich geregelt ist. Die Gemeinschaft hat also die Kompetenz, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, wenn die Gründungsverträge ihr im Innenverhältnis für die Erreichung bestimmter Ziele eine Befugnis einräumen und diese Ziele nur durch eine korrespondierende Zuständigkeit für die Gestaltung der Außenbeziehungen erreicht werden können. Im Gutachten303 über die Vereinbarkeit des Europäischen Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt wurde diese Rechtsprechung dahingehend ausgebaut, daß die Gemeinschaft noch nicht von ihrer Innenkompetenz Gebrauch gemacht haben muß, um die entsprechenden Befugnisse im Außenbereich wahrnehmen zu können. Der Gerichtshof entscheidet damit auch im Bereich der Zuständigkeiten nach dem Grundsatz der Nützlichkeit für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. 304 Die Außenbeziehungskompetenz der Gemeinschaft ist ein Beispiel dafür, wie der Gerichtshof das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen mit der "implied powers"-Lehre und dem Grundsatz des "effet utile" über301 EuGH Slg. 1971,275, Rdnr. 15/19. 302 EuGH Slg. 1976, 1279 ff. - verb. Rs. 3, 4, u. 6176 "Kramer" mit Anm. Tomuschat in: EuR 1977, S. 157 ff. 303 EuGH Slg. 1977, S. 741

ff.- Gutachten 1176.

304 Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung, S. 34.

II. Urteile im Bereich der politische Entscheidungsfmdung

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spielt, um Befugnisse der Gemeinschaft zuzusprechen, die der Integration förderlich sind, auch wenn diese nicht ausdtücklich im Vertrag genannt sind.

2. Urteile im Bereich des anzuwendenden Entscheidungsmodus Das Integrationsniveau steigt, wenn an den Mehrheitsbeschluß, der fiir eine Entscheidung notwendig ist, immer geringere Anforderungen gestellt werden, im günstigsten Falle also eine einfache Mehrheit ausreichen würde. 305 Bei Fragen der Abgrenzung der Kompetenzgrundlagen könnte der Gerichtshof deshalb diejenige fiir einschlägig erachten, welche die geringeren Anforderungen an die Beschlußfassung stellt. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Seit den 80er Jahren versucht die Gemeinschaft mit Hilfe von Förderungsprogrammen gemeinschaftliche Aktivitäten auf dem Gebiet der Berufsausbildung zu unterstützen. 306 Exemplarisch sei hierfiir das vom Rat erlassene ERASMUS-Programm307 genannt. Entscheidend war in diesem Zusammenhang, daß das Aktionsprogramm ein finanzielles Engagement der Mitgliedstaaten verlangte. Früher wurde die Auffassung vertreten, daß im Bereich von finanzrelevanten Förderungsprogrammen, die den Mitgliedstaaten entsprechende Mitwirkungspflichten auferlegten, diese zusätzlich auf Art. 235 EWGV (= Art. 308 neu EGV) gestützt werden müssen. Die Frage, ob Art. 128 EWGV (=Art. 150 neu EGV) als Ermächtigungsgrundlage genügt, oder noch Art. 235 EWGV heranzuziehen ist, hat insoweit Bedeutung, als bei Art. 128 EWGV eine einfache Mehrheit im Rat ausreicht, während Art. 235 EWGV Einstimmigkeit fiir einen Beschluß voraussetzt. Eigentlich wurde Art. 128 EWGV bis dahin nur als Ergänzungsnorm zur Tätigkeit des Europäischen Sozialfonds verstanden. Im "ERASMUS"-Urteil308 entschied der Gerichtshof aber, daß die Auslegung des Art. 128 EWGV dem Rat eine Kompetenz gibt, Vorschriften über Gemeinschaftsprojekte, welche die Berufsausbildung betreffen, zu erlassen. Dies gilt auch, wenn diese Projekte von den Mitgliedstaaten Mitwirkungsakte verlangen. Damit ist ein Rück-

305 Vgl. Frei, Integrationsprozesse, S. 11 S f. 306 Vgl. Oppennann, Europarecht, Rdnr. 1934. 307 ABI. 1987 Nr. L 166, S. 20. 308 EuGH Slg. 1989, 1425 ff.- Rs. 242/87.

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G. Analyse von Entscheidwtgen

griff auf Art. 235 EWGV nicht mehr notwendig. Hinsichtlich der Begründung seiner Rechtsprechung berief sich der Gerichtshof auf den Grundsatz des "effet utile" : "Eine auf dieser Vorstellwtg beruhende Auslegwtg des Artikels 128 ftlhrt zur Anerkennwtg einer Befugnis des Rates, Rechtsakte zu erlassen, die gemeinschaftliche Aktionen auf dem Gebiet der Berufsausbildwtg vorsehen wtd den Mitgliedstaaten entsprechende Mitwirkwtgspflichten auferlegen. Eine solche Auslegwtg steht im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 128 wtd gewährleistet auch dessen praktische Wirksamkeit. oo309

Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung damit die Ermächtigungsgrundlage für einschlägig erklärt, die an das Mehrheitsquorum für eine Beschlußfassung die geringeren Anforderungen stellt. Das Urteil erleichtert damit die Entscheidungstindung in den Gemeinschaftsgremien und hat dadurch große integrationspolitische Auswirkungen. In die gleiche Richtung geht auch das Urteil vom 11. Juni 1991 310 , in dem zu entscheiden war, ob eine Richtlinie des Rates über Titandioxid-Abfälle311 , in der anlagen- und produktbezogene Grenzwerte festgelegt wurden, auf Art. lOOa oder Art. 130s EWGV (= Art. 95 neu oder Art. 175 neu EGV) zu stützen sei. Eine Anwendung beider Rechtsgrundlagen verneint der Gerichtshof, da Art. 130s EWGV mit einer bloßen Anhörung des Europäischen Parlaments gegebenenfalls das Zusammenarbeitsverfahren, das Art. 100a EWGV vorschreibt, aushöhlen würde. In seiner Entscheidung gab er wieder der Vorschrift den Vorrang, die die geringeren Mehrheitserfordernisse verlangt: Art. lOOa EWGV, der die qualifizierte Mehrheit im Rat fordert statt der Einstimmigkeit in Art. 130s EWGV. Zur Begründung führte er aus, daß die Angleichung aller Rechtsvorschriften, die sich in irgendeiner Art und Weise auf den Wettbewerb zwischen den Wirtschaftssubjekten der einzelnen Mitgliedstaaten auswirken, unter den Anwendungsbereich des Art. lOOa EWGV fallen, auch wenn gleichzeitig der Umweltschutz betroffen ist. Regelungen im Umweltschutzbereich, die in keiner Weise den Wettbewerb berühren, sind aber kaum denkbar, so daß Art. 130s EWGV nach dieser Rechtsprechung im Ergebnis obsolet wird. Ob diese Folge nach dem Sinn des 309 EuGH Slg. 1989, 1453, Rdnr. 11. 310 EuGH Slg. 1991, I-2867 ff.- Rs. C-300/89 "Titandioxid". 311 Richtlinie 89/428/EWG - ABI. 1989 Nr. L 201, S. 56 ff.

ll. Urteile im Bereich der politische Entscheidungsfmdung

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Vertrages beabsichtigt ist, bleibt fraglich, denn die Aufnahme eines eigenen Titels fiir den Umweltbereich durch die "Einheitlichen Europäischen Akte" von 1986 legt es nahe, daß die Vorschrift des Art. 130s EWGV eigentlich Grundlage fiir eine europäische Umweltpolitik sein soll. Die zugunsten des Art. lOOa EWGV getroffene Entscheidung bewirkt aber, daß der Bereich der Mehrheitsentscheidungen weiter ausgedehnt und zugleich die Beteiligung des Europäischen Parlaments im Sinne des Demokratieprinzips ausgebaut wird, beides wesentliche integrationspolitische Ziele. 3. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien

Auf dem Gebiet des sekundären Gemeinschaftsrechts, insbesondere im Falle von Richtlinien, ergab sich fiir den Gerichtshof die Gelegenheit, die Verbindlichkeit und die Wirkung der Rechtsakte des Gemeinschaftsgesetzgebers gegenüber den Mitgliedstaaten zu erhöhen. Der Integrationsgrad ist nämlich um so höher, je mehr endgültige und verbindliche Entscheidungen die Gemeinschaftsorgane treffen können. Der Gerichtshof rückte deshalb in seiner Rechtsprechung die Richtlinien, die der Umsetzung durch die nationalen Parlamente bedürfen, in die Nähe der Verordnungen. In begrenzten Ausnahmefällen hat er eine unmittelbare Wirkung von nicht umgesetzten Richtlinien anerkannt. Grundlegend und beispielhaft fiir die ständige Rechtsprechung ist das Urteil "SACE"312 , in dem die Klägerin eine Erstattung, ihrer am 17. September 1969 gezahlten Abgaben fiir Verwaltungsleistungen, die der italienische Staat fiir nach Italien eingeführte Waren erhob, begehrte. Die Klägerin berief sich dabei auf eine Richtlinie, nach der die Abgaben bis zum 1. Juli 1968 ganz abgeschafft sein mußten. Der Gerichtshof sollte im Wege des Vorlageverfahren klären, ob durch diese Richtlinie individuelle Rechte des einzelnen entstanden sind, welche die staatlichen Gerichte beachten müssen. Der Gerichtshof bejahte grundsätzlich diese Frage. Er bestätigte auch in der Rechtssache "Becker", daß sich der Bürger "in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchftlhrungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen":fl:J 312 EuGH Slg. 1970, 1213 ff. - Rs. 33nO. 313 EuGH Slg. 1982,53 (71)- Rs. 8/81.

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G. Analyse von Entscheidungen

kann. Diese Ansicht stützte er auf die praktische Wirksamkeit ("effet utile")314 einer Richtlinie, die beeinträchtigt ist, wenn es die Mitgliedstaaten in der Hand hätten, den Eintritt der Rechtsfolgen hinauszuzögern oder sogar ganz zu vereiteln. Damit hat er die Effektivität der Richtlinie als einem Instrument der Rechtsangleichung315 wesentlich erhöht. Die Gesetzgeber der einzelnen Mitgliedstaaten können sich nun nicht mehr durch eine unterlassene Umsetzung der Richtlinien einer fortschreitenden Rechtsangleichung entziehen. Diese Rechtsprechung verbessert nicht nur die Wirksamkeit der Beschlüsse von Rat und Kommission, sondern sie stärkt außerdem die Stellung der Marktbürger. Damit fordert sie deren Zustimmung hinsichtlich der Existenz und Weiterentwicklung der Gemeinschaft/Union. Zusätzlich wird diese Unterstützung durch die Entscheidung des Gerichtshofs gestärkt, "daß eine innerstaatliche Behörde sich nicht zu Lasten eines einzelnen auf eine Bestimmung einer Richtlinie berufen kann, deren erforderliche Umsetzung in innerstaatliches Recht noch nicht erfolgt ist"3 16.

111. Urteile im Bereich der gemeinsamen Willensbildung Die beiden Integrationsdimensionen, der Schaffung eines gemeinsamen Bewußtseins sowie der gesellschaftlichen Verflechtung, hängen zum Teil direkt voneinander ab. So führt beispielsweise die Stärkung der Rechtsstellung von Personen, die am gemeinschaftlichen Personenverkehr teilhaben, bei diesen zu einer Unterstützung der Gemeinschaft als politisches System und sie werden sich auch eher als Europäer fiihlen. Deshalb ist die Untersuchung der Rechtsprechung in diesen Bereichen nur in der Weise möglich, daß die Urteile jeweils schwerpunktmäßig zugeordnet werden. Die wechselseitige Abhängigkeit der Integrationsdimensionen darf dabei aber nicht aus den Augen verloren werden. Zunächst wird auf den Bereich der Bildung eines gemeinsamen "(Europa-)Bewußtseins" einzugehen sein. Eine politische Gemeinschaft existiert nur in dem Maße, in dem sie von ihren Bürgern akzeptiert wird und diese auch ein "Wir-Gefühl" entwickeln.317 314 EuGH Slg. 1970, 825 (838)- Rs. 9170 "Leberpfennig"; Grabitz, Entscheidungen und Richtlinien als wunittelbar wirksames Gemeinschaftsrecht, in: EuR 1971, S. 1 ff. 315 Hierzu näher Oppennann, Europarecht, Rdnr. 1092 ff. 316 EuGH Slg. 1987,3969 (3986, Rdnr. 10)- Rs. 80/86. 317 Vgl. Frei, Integrationsprozesse, S. 116 f.

ill. Urteile im Bereich der gemeinsamen Willensbildung

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Eine Beeinflussung ist dadurch möglich, daß die Bürger feststellen, wie durch die Tätigkeit des Gerichtshofs, als einem der Gemeinschaftsorgane, ihre Rechtsstellung mit all den rechtlichen und politischen Folgen, gestärkt und ausgebaut wird. Sie können sich deshalb in einem größeren Maße mit der Gemeinschaft identifizieren, ihren Bestand gutheißen und eine fortschreitende Integration unterstützen. 1. Grundrechte als Stärkung der Stellung des Gemeinschaftsbürgers Voraussetzung fiir die Tolerierung eines Systems, das öffentliche Gewalt ausübt, ist der Schutz vor willkürlichen Akten der Exekutive. Gemeint ist damit der Grundrechtsschutz der Bürger, der fiir einen Rechtsstaat unabdingbar und wichtig fiir die Anerkennung der Gemeinschaft und seiner Rechtsordnung durch die Bürger ist. Die Grundrechte können zwar nicht die mangelnde Beteiligung der Bürger am politischen Leben der Europäischen Union beheben, sie können aber erreichen, daß der einzelne bemerkt, daß auf seine Persönlichkeitsentfaltung im Rahmen der Gemeinschaft geachtet wird. 318 Die Gemeinschaftsverträge enthalten selbst kaum Vorschriften, die sich mit Grund- oder Menschenrechten befassen. Zu nennen sind hier das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 6 = 12 neu EGV und die Gleichbehandlung der Geschlechter in Art. 119 = 141 neu EGV. Darüber hinaus führen sie lediglich einzelne Rechte der Bürger im Zusammenhang mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes auf, wie z.B. der Freizügigkeit oder der Niederlassungsfreiheit Die erste Anerkennung von ungeschriebenen Grundrechten in der Rechtsprechung des Gerichtshof erfolgte in der Rechtssachen "Stauder" 319 . Auf Vorlage eines deutschen Verwaltungsgerichts führte er aus, daß in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung "Grundrechte der Person" enthalten sind. Diese Auffassung vertiefte der Gerichtshof in dem Urteil "Internationale Handelsgesellschaft"32°, in dem es um die Frage der Gültigkeit 318 Zuleeg, EW"opäische Grundrechtspolitik, in: Woyke (Hrsg.), EW"opäische Gemeinschaft, S. 175; ferner Hilf, Der Gerichtshof der EW"opäischen Gemeinschaften als Integrationsfaktor, dargestellt anhand der Rechtsprechung zu den Grundrechten, in: Die Grundrechte in der EW"opäischen Gemeinschaft, S. 34. 319 EuGH Slg.

1969,419 ff.- Rs. 29/69.

320 EuGH Slg.

1970, 1125 ff. - Rs. 11/70.

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G. Analyse von Entscheidungen

einer Verordnung ging. Er fürchtete, daß die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts leiden würde, wenn die Mitgliedstaaten für die Beurteilung von Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane nationale Vorschriften heranziehen würden. Aus diesem Grund entwickelte der Gerichtshof aus Allgemeinen Rechtsgrundsätzen nun selbst eine gemeinschaftliche Grundrechtsgarantie. "Es ist zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat." 321 Bei der Entwicklung dieser Allgemeinen Rechtsgrundsätze stützt er sich sowohl auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten, als auch auf internationale Quellen, wie der Europäischen Menschenrechtskonvention. 322 Diese Vergehensweise ist jetzt in Art. F Abs. 2 = 6 Abs. 2 neu EUV ausdrücklich von den Vertragsparteien bestätigt worden. Auch im Bereich des Grundrechtsschutzes zeigt sich die Dynamik der Rechtsprechung des Gerichtshofs. So gewährte er im "Rutili"-Fall323 Schutz vor nationalen Handlungen, wenn diese, die in den Verträgen niedergelegten Freiheiten beeinträchtigen. Im Laufe der Zeit hat der Gerichtshof immer mehr Einzelgrundrechte in seinen Entscheidungen anerkannt, wie die Berufs-324, die Religions-325 und die Vereinigungsfreiheit326 oder den Eigentumsschutz327, um nur einige beispielhaft zu nennen. Das Rechtsstaatsprinzip entwickelte der Gerichtshof gleichfalls durch die Herausbildung von Prinzipien zugunsten der Bürger weiter, wie z.B. durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes328 oder des rechtlichen Gehörs329. Als Resümee läßt sich festhalten, daß es dem Gerichtshof gelungen ist, Grundrechte der Bürger in die europäische Rechtsordnung einzufügen, obwohl

321 EuGH Slg. 1970, 1135, Rdnr. 4. 322 EuGH Slg. 1974,491 tf.- Rs. 4n3 "No1d". 323 EuGH Slg. 1975, 1219 tf.- Rs. 36n5. 324 EuGH S1g. 1979, 3727 (3750)- Rs. 44179 "Hauer". 325 EuGH S1g. 1976, 1589 (1599)- Rs. 130175 "Prais". 326 EuGH S1g. 1974,917 (925)- Rs. 175173 "Gewerkschaftsbund". 327 EuGH Slg. 1979, 3745 tf. 328 EuGH Slg. 1973, 723 (729)- Rs. 1173 in st. Rspr. 329 EuGH S1g. 1979, 461 (511) - Rs. 85176 in st. Rspr.

ill. Urteile im Bereich der gemeinsamen Willensbildung

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diese nicht ausdrücklich in den Verträgen erwähnt sind. 330 Aufgrund seiner Grundrechtsrechtsprechung begünstigt der Gerichtshof eine Konsensbildung der gemeinsamen Vorstellungen der Marktbürger. Dies kann dazu führen, daß die Funktion des Gerichtshofs anerkannt und ihm Autorität zugebilligt wird. Letztlich kommt es zu einem Zuwachs an Akzeptanz für die Aufgabe der Gemeinschaft/Union und bildet damit einen Nährboden für zukünftige integrationspolitische Fortschritte. Diese Rechtsprechung trägt auch dadurch zur Integration bei, daß die politischen Gemeinschaftsorgane gezwungen werden, die Vertragsziele, vor allem die Erweiterung des Freiheitsraums der Bürger, umzusetzen331 und damit den Gemeinschaftsbürger unmittelbar in die Integration mit einzubeziehen. 2. Staatshaftung bei nichtumgesetzten Richtlinien Das heftig diskutierte Urteil "Francovich"332 ist ebenfalls ein Beispiel für die Integrationsrechtsprechung des Gerichtshofs. Durch die Richtlinie 80/987/EWG333 soll den Arbeitnehmern ein Mindestschutz bei Zahlungsunfahigkeit des Arbeitgebers, insbesondere spezielle Garantien für die Befriedigung nicht erfüllter Arbeitsentgeltansprüche, gewährleistet werden. Der italienische Staat kam der Verpflichtung die Richtlinie bis zu einer bestimmten Frist umzusetzen, allerdings nicht nach. Die Kläger Franeovieh und Bonifaci erhoben nach fruchtloser Zwangsvollstreckung bei ihrem Arbeitgeber Klage gegen den italienischen Staat und verlangten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien oder hilfsweise Schadensersatz. Im Rahmen eines Vorlageverfahrens hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob ein Staat, der eine Richtlinie nicht durchgeführt hat, dem einzelnen gegenüber haftet, weil dieser einen Schaden durch die Nichtumsetzung erlitten hat. Eine solche Haftung ist in den Verträgen nicht ausdrücklich vorgesehen. Teilweise wird in der Literatur die Ansicht vertreten, daß es sich dabei um ei-

°

33 Feger, Die Nonnsetzung auf dem Gebiet der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften - Der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Rechtsetzungsorgan, in: Die Öffentliche Verwaltung 1987, S. 322 ff. 331 Hilf, Der EuGH als Integrationsfaktor, S. 34. 332 EuGH Slg. 1991, I-5357 ff.- verb. Rs. C-6 u. 9/90. 333 ABI. 1980 Nr. L 283, S. 23.

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G. Analyse von EntscheidWlgen

ne planmäßige Lücke handelt und die Mitgliedstaaten eine derartige Haftung ausschließen wollten. 334 Der Gerichtshof stellte fest, daß die Richtlinie das Ziel der Verleihung von Rechten an einzelne beinhaltet. Der Inhalt dieser Rechte könne auf Grundlage der Richtlinie bestimmt werden und es bestehe ein Kausalzusammenhang zwisehen dem Verstoß des Staates und dem Schaden. Weiterhin führte er aus, daß laut Art. 5 EWGV (= Art. 10 neu EGV) die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Vertragspflichten zu treffen haben. Dazu gehöre auch, die Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben. Die Begründung der Staatshaftung stützte der Gerichtshof wiederum auf den Grundsatz des "effet utile" und die Haftungsvorschrift des Art. 215 Abs. 2 EWGV (= Art. 288 Abs. 2 neu EGV). "Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen BestimmWlgen wäre beeinträchtigt Wld der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn die einzelnen nicht die Möglichkeit hätten, für den Fall eine EntschädigWlg zu verlangen, daß ihre Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist. "335 Dieses Urteil hat eine weitere Verbesserung des Rechtsschutzes in der Gemeinschaft für den Bürger zur Folge_336 Ein Bürger, der Schutz vor Vertragsverletzungen erlangt, ist von der Funktionsfahigkeit des Rechtsschutzsystems überzeugt und wird auch bereit sein, die Gemeinschaft als politisches System anzuerkennen sowie deren Fortentwicklung zu unterstützen. Trotz der Kritik, die diese Rechtsprechung in der juristischen Literatur erfuhr, bestand deshalb keine ernsthafte Gefahr für die Akzeptanz der Entscheidung.

3. Institutionelle Weiterentwicklung als Stärkung des Demokratieprinzips

Der Gerichtshof kontrolliert neben dem Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten, auch das Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander. Die Beziehungen zwischen den Organen der Gemeinschaft sind weni-

334 Dänzer-Vanotti, Unzulässige RechtsfortbildWlg des Europäischen Gerichtshofs, in: RIW/AWD 1992, S. 740 f. 335 EuGH Slg. 1991, I-5414, Rdnr. 33. 33 6 Schlemmer-Schulte/Ukrow, Haft:Wlg des Staates gegenüber dem Marktbürger für gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten, in: EuR 1992, S. 82.

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gerdurch präzise Vorschriften festgelegt oder traditionell geprägt, wie dies in den Mitgliedstaaten der Fall ist. Dadurch entsteht ein Regelungsbedarf, den der Gerichtshof ausfiillen kann. Der Gerichtshof läßt in mehreren Entscheidungen erkennen, daß er - als Ausfluß des demokratischen Prinzips auf Gemeinschaftsebene - gewährleisten will, daß "die Völker durch eine Versammlung ihrer Vertreter an der Ausübung der hoheitlichen Gewalt beteiligt sind. "337 Ihm boten sich dabei mehrere Gelegenheiten, die Rechtsstellung des Europäischen Parlaments zu verbessern. Als ersten Schritt billigte er dem Parlament zu, eine Streithelferfunktion einzunehmen. Obwohl Art. 37 der Satzung des Gerichtshofs eine Intervention aller Organe zuzulassen scheint, sprachen viele dem Parlament diese Möglichkeit ab, weil es fiir ein Parlament unwürdig sei, seine Interessen gerichtlich durchzusetzen. Außerdem sei die Stellung des Parlaments absichtlich schwach ausgestaltet worden. 338 Dem gegenüber hat der Gerichtshofaufgrund wörtlicher Auslegung der Norm klargestellt, daß alle Organe gleichberechtigt sind und deshalb auch dem Parlament ein Interventionsrecht zusteht. Ansonsten würde die von Art. 4 Abs. 1 EWGV (;;: Art. 7 Abs. 1 neu EGV) gewollte institutionelle Stellung eines Gemeinschaftsorgans beeinträchtigt werden. 339 Somit hat das Parlament nun die Möglichkeit vor Gericht aufzutreten und seine Rechtsansichten in das Verfahren einzubringen. In einem weiteren Schritt beteiligte der Gerichtshof das Parlament in einem Vorabentscheidungsverfahren, indem er es aufforderte, sich zu Fragen zu äußern und Erwägungen schriftlich und mündlich vorzutragen. 340 Die Stellung des Europäischen Parlaments baute er weiterhin konsequent aus, indem er das Parlament als Beklagte am Gerichtsverfahren teilnehmen ließ. In dem betreffenden Rechtsstreit341 ging es um die Frage, ob der Beschluß des Parlaments, seine Plenarsitzungen künftig in Straßburg abzuhalten 337 EuGH Slg. 1980, 3333 (3360)- Rs. 138179 "Isoglucose". 338 Bieber, Einflüsse der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf die Stellung des Parlaments, in: Schwane (Hrsg.): Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, S. 196. 339 EuGH Slg. 1980, 3357, Rdnr. 19. 340 Bieber, Einflüsse der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf die Stellung des Parlaments, S. 203. 341 EuGH Slg. 1983, 255 ff. - Rs. 230/81.

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G. Analyse von Entscheidungen

und den Sitz des Sekretariats gegebenenfalls mit zu verlegen, rechtmäßig sei. Problematisch war allerdings, ob das Parlament überhaupt als Beklagter an dem Verfahren teilnehmen konnte, da diese Möglichkeit nur in Art. 38 EGKSV ausdrücklich erwähnt ist, nicht jedoch in den anderen Verträgen. Der Gerichtshof hat im Ergebnis Art. 38 EGKSV für anwendbar erklärt und die Passivlegitimation auf die anderen Verträge ausgedehnt. Der Gerichtshof räumte schließlich dem Parlament auch die Aktivlegitimation für eine Untätigkeitsklage342 gegen den Rat ein, mit dem Vorwurf, daß dieser keine gemeinsame Verkehrspolitik eingefiihrt habe und ließ ebenfalls eine Nichtigkeitsklage343 der französischen Grünen gegen das Parlament zu. In einer weiteren Entscheidung vom 22. Mai 1990344 sprach der Gerichtshof dem Parlament zudem die Klagebefugnis für eine Nichtigkeitsklage zu, soweit es sich auf den Schutz eigener Befugnisse beruft. Er führte dazu aus, daß es ihm obliegt, "die volle Anwendung der Vertragsbestimmungen über das institutionelle Gleichgewicht sicherzustellen und dafilr zu sorgen, daß das Parlament - wie die anderen Organe - nicht in seinen Befugnissen beeinträchtigt werden kann, ohne über eine der in den Verträgen vorgesehenen Klagemöglichkeiten zu verfUgen von der in gesicherter Wld wirksamer Weise Gebrauch gernacht werden kann ...345 In der Zwischenzeit wurde diese Klagemöglichkeit in die neugefaßten Art. 173 und 175 = 230 und 232 neu EGV aufgenommen und die Judikatur damit von den Vertragsparteien bestätigt. Der Gerichtshof konnte den Verfassungsgrundsatz der Demokratie durch seine Urteile im Gemeinschaftsrecht verankern, weil sich alle Mitgliedstaaten zu ihm bekennen. 346 Mit seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof das Parlament aus seiner Vereinzelung hervorgeholt und in ein Beziehungsgeflecht zwischen den Organen eingebunden, das fiir das Funktionieren der Gemeinschaft unentbehrlich ist. 347 Er hat durch den Ausbau der Stellung des Parla-

342 EuGH Slg. 1985, 1513 ff. - Rs. 13/83. 343 EuGH Slg. 1986, 1339 ff. - Rs. 294/83 "Les Verts". 344 EuGH Slg. 1990, 1-2041 ff. - Rs 70/88. 345 EuGH Slg. 1990, 1-2073. hn Gegensatz dazu, hatte er in EuGH Slg. 1988, S. 5615 ff.- Rs. 302/87 die Klagebefugnis des Parlaments noch verneint. 346 EuGH Slg. 1980, 3333 (3360)- Rs. 138n9. 347 Bieber, Einflüsse der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf die Stellung des Parlaments, S. 203.

IV. Urteile im Bereich der gesellschaftlichen Verflechtung

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ments, 348 als einzigem direkt durch die Bürger gewählten Gemeinschaftsorgan, dem Verfassungsgrundsatz der Demokratie entsprochen. 349 Dadurch erhöht er das Ansehen der Gemeinschaft bei den Bürgern, die sich mit einem demokratischeren System auf europäischer Ebene besser identifizieren und es eher akzeptieren können. Diese Tendenz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt sich auch, wenn bei ihm ein Rechtsstreit über die einschlägige Rechtsgrundlage anhängig ist. Er entscheidet sich zumeist für diejenige Ermächtigungsnorm, die neben den geringeren Anforderungen an die Entscheidungsverhältnisse im Rat, auch die Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments stärkt.350

IV. Urteile im Bereich der gesellschaftlichen Verflechtung Der Grad der Integration ist um so höher, je größer die Transaktionsströme und damit die Interdependenz und Verflechtungen351 sind. In diesem Bereich werden die Urteile des Gerichtshofs dahin gehend zu untersuchen sein, ob sie darauf ausgerichtet sind, den Austausch von Gütern und die grenzüberschreitenden Personenbewegungen, zu begünstigen. 1. Förderung der wirtschaftlichen Verflechtung

Für eine Förderung der wirtschaftlichen Verflechtung muß die Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs auf das Ziel der Beseitigung von Handelsschranken und Hemmnissen fur den innergemeinschaftlichen Handel gerichtet sein, damit der Austausch von Gütern steigt. Diese Handelsbeschränkungen können aus nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten resultieren, 352 348 Vgl. Fuß, Positionsstärkung des Europäischen Parlaments, in: EuR 1972, S. 358 ff. und Beutler, Mehr Macht durch Recht? - Das Europäische Parlament vor dem Europäischen Gerichtshof, in: EuR 1984, S. 143 ff.

349 Zuleeg, Le Parlament face a Ia Cour, in: Louis/Waelbroeck (Hrsg.), Parlament Europeen dans l'evolution institutionelle, S. 177 ff.

350 Vgl. EuGH Slg. 1991, I-2867 ff. - Rs. C-300/89 "Titandioxid", im Ergebnis wurde der Ermächtigungsgrundlage der Vorzug gegeben, die das Verfahren der Zusammenarbeit verlangt; siehe auch Kapitel G.II.2. 35l Vgl. Frei, Integrationsprozesse, S. 117 ff. 35 2 Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 207. 7 G. Sander

G. Analyse von Entscheidungen

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die zum Schutze der einheimischen Märkte und Unternehmen errichtet werden. In der Entscheidung "Dassonville"353 ging es um den Import von in Großbritannien produziertem Whisky, der von dem französischen Großhändler Dassonville nach Belgien eingefiihrt wurde. Der Händler wurde daraufhin in Belgien angeklagt, weil er keine Ursprungsbescheinigung beigelegt hatte, die nach belgisehern Recht erforderlich war. Der Gerichtshof mußte nun die Frage klären, ob diese Einfuhrbeschränkung eine Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen ist und somit unter das Verbot des Art. 30 EWGV (=Art. 28 neu EGV) fällt. In seinem Urteillegte er den Begriff der "Maßnahmen gleicher Wirkung" extrem weit aus und entschied: "Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist als Maßnalune mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen. n3S4

Der Gerichtshof hat diese, im Anwendungsbereich sehr weitreichende Entscheidung durch das Urteil "Cassis de Dijon"3SS teilweise wieder eingeschränkt und dadurch die "Dassonville"-Forrnel erst richtig einsatzfahi.g gemacht. 356 In der genannten Entscheidung ging es um die Frage, ob die Firma Rewe den Likör "Cassis de Dijon" nach Deutschland einführen dürfe, denn nach Ansicht der Bundesmonopolverwaltung verstieß der Import des Likörs aufgrundseines geringen Weingeistgehaltes gegen das Brandweinmonopolgesetz. Der Gerichtshof entschied, daß der Likör eingefiihrt werden darf und das Verbot in Art. 30 EWGV (= Art. 28 neu EGV) auch für die Festsetzung des Mindestweingeistgehalts als nationale Maßnahme gilt. Ein Erzeugnis, das nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates rechtmäßig hergestellt worden ist, darf in der gesamten Gemeinschaft in den Verkehr gebracht werden. Diese Rechtsprechung war insoweit neu, als der Mitgliedstaat, der die Einfuhr einer

353 EuGH Slg. 1974, 837 ff. - Rs. 8n4. 354 EuGH Slg. 1974, 852, Rdnr. 5. 3SS

EuGH Slg. 1979, 649 ff. - Rs. 120n8.

356 So Wttgenbaur, Woher kommt, wohin ft1hrt "Cassis"?, in: Lüke/Ress!Will (Hrsg.): GS-Constantinesco, 1983, S. 904.

IV. Urteile im Bereich der gesellschaftlichen Verflechtwlg

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bestimmten Ware aus einem anderen EG-Staat, mittels seiner Gesetzgebung verhindert, diese Vergehensweise nun besonders rechtfertigen muß. Als zwingende Erfordernisse kommen hierfür beispielsweise der Umweltschutz, der Verbraucherschutz oder die Lauterkeit des Handelsverkehrs in Betracht. Ursprünglich ging man davon aus, daß Handelshernrnnisse, die aus im Grunde diskriminierungsfreien nationalen Produktions- und Vermarktungsregelungen resultieren, im Wege von Rechtsangleichungen nach Art. 100 EWGV (= Art. 94 neu EGV) beseitigt werden müssen.3 57 Der Gerichtshof nahm nun selbst die Verwirklichung der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 30 EWGV in die Hand und betätigte sich wiederum als Schrittmacher der Integration. Er überspielt damit auch die Probleme, wie unterschiedliche soziale und wirtschaftliche Strukturen, Interessen und Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten,358 die die Rechtsangleichungen erschweren und verzögern. Mit dem Urteil leitete er eine entscheidende Wende ein, indem er nicht auf den Abbau der Handelshemmnisse im Wege der Harmonisierung von Rechtsvorschriften gewartet hat. 359 Im Rahmen eines Regel-Ausnahme-Schemas legte er das Gebot der Marktfreiheit weit aus und zieht enge Grenzen für eine Ausnahmemöglichkeit 360 Dies führt im Ergebnis zu einem größeren grenzüberschreitenden Handelsvolumen im innergemeinschaftlichen Verkehr. 2. Förderung des Personenverkehrs und des gemeinsamen Bewußtseins

Im Bereich des Personenverkehrs kann der Gerichtshof die Freizügigkeit der Bürger stärken, indem er Schutz vor diskriminierenden Maßnahmen anderer Mitgliedstaaten gewährleistet, damit immer mehr Bürger an der Wanderbewegung teilhaben. Gleichzeitig steigt bei diesem Personenkreis das Bewußtsein, die Gemeinschaft als politisches System mit großen Teilhabemöglichkeiten anzuerkennen und weitere integrationspolitische Fortschritte zu bejahen ("Integration der Menschen").

357 Ebd., S. 905. 358 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1068. 359 Wtigenbaur, GS-Constantinesco, S. 901. 360 Dauses, Integration 1994, S. 221.

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a) Durchsetzung des Diskriminierungsverbots Exemplarisch soll der Ausbau der Freizügigkeit und des Diskriminierungsverbots durch den Gerichtshof in dem Bereich der Bildungspolitik erläutert werden. 361 Die Bildungspolitik ist im EG-Vertrag nicht ausdrücklich als Zuständigkeit der Gemeinschaft aufgeführt. Grundsätzlich besteht nur eine Berufsausbildungskompetenz gern. Art. 127 = 150 neu EGV (früher in Art. 128 EWGV). In dem Rechtsfall "Casagrande" 362 ging es um die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68363 des Rates, die in Art. 12 zum Inhalt hat, daß Kinder von Staatsangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind oder waren, unter gleichen Bedingungen wie Staatsangehörige am Unterricht teilnehmen dürfen. Der Antrag des italienischen Staatsangehörigen Casagrande, der eine Realschule in München besuchte, auf Ausbildungsförderung, wurde von der Stadtverwaltung abgelehnt, weil er weder Deutscher, noch heimatloser Ausländer oder Asylberechtigter im Sinne des Art. 3 des Bayerischen Ausbildungsförderungsgesetzes war. Vor dem Verwaltungsgericht vertrat die Landesanwaltschaft die Ansicht, daß nach Art. 12 der EWG-VO, den Kindem von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten nur ein Anspruch auf gleichberechtigten Zugang zu den Bildungseinrichtungen zustehe, nicht aber auf finanzielle Förderung. Der Gerichtshof stellte in der Vorlageentscheidung fest, daß das Recht auf Freizügigkeit weit auszulegen ist und das Verbot der Diskriminierung aus Art. 7 EWGV (Art 6 = 12 neu EGV) über den Zugang zur Berufsausbildung hinaus geht: "Diese Integration setzt voraus, daß dem Kind eines ausländischen Arbeitnehmers, das eine höhere Schule besuchen will, die Vergünstigungen, welche die Rechtsvorschriften des Aufnahmelandes für die Ausbildungsförderung vorsehen, zu den gleichen Bedingungen offenstehen, wie Inländern in gleicher Lage. ( ... )Wenn folglich Artikel 12 bestimmt, daß die betreffenden Kinder "unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen" des Aufnahmelandesam Unterricht teilnehmen können, so zielt er nicht nur auf die Zulassungsbedingungen, sondern auch auf die allgemeinen Maßnahmen ab, welche die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollen."36 4 361 Hierzu ausführlicher Feld, The Court of the European Communities. New Dimensions in the International Adjucation. 362 EuGH Slg. 1974, 773 ff. - Rs. 9174. 363 ABI. 1968 Nr. L 257, S. 2. 364 EuGH Slg. 1974, 779, Rdnr. 4.

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Außerdem hat der Gerichtshof den Begriff der "Berufsausbildung" durch eine extensive teleologische Auslegung weit ausgedehnt. Für ihn gehört alles zu diesem Bereich, was auf eine Qualifikation fiir einen bestimmten Beruf oder Beschäftigung vorbereitet oder die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufs oder, was eine spezielle Beschäftigung, unabhängig von Alter und Ausbildungsniveau, betrifft. 365 Diese weite Auslegung fiihrte schließlich dazu, daß auch die Hochschulausbildung einbezogen wurde. 366 Dadurch erhielten die Studenten, die sich ausschließlich zu Studienzwecken in einem anderen Mitgliedstaat aufhielten, Gemeinschaftsrechte, obwohl sie zu keiner Personengruppe gehören, die im Vertrag in den Freizügigkeitsvorschriften genannt werden. In der "Gravier"-Entscheidung367 ging es um eine französische Staatsangehörige, die in Belgien studieren wollte. Nach belgisehern Recht mußten ausländische Studenten eine höhere Studiengebühr als Inländer bezahlen. Weil sie nicht in der Lage war, diese zu bezahlen, wurde ihr die Einschreibung für das Studienjahr verweigert und ihre Aufenthaltsgenehmigung, da sie nicht mehr Studentin war, nicht verlängert. Sie klagte daraufhin vor einem nationalen Gericht, das die Ausstellung einer vorläufigen Immatrikulationsbescheinigung veranlaßte. Der Staat machte dagegen geltend, daß die Kulturpolitik nicht unter den Vertrag falle und damit Art. 7 EWGV nicht anwendbar sei. Das Gericht legte deshalb dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob sich ein Student aus einem anderen Mitgliedstaat gegenüber einer Anstalt auf Art. 7 EWGV berufen kann. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, daß die Organisation des Bildungswesens nicht in die Gemeinschaftszuständigkeit fallt, jedoch die Materie, soweit es sich um Berufsausbildung handelt, zu den EG-Befugnissen gehört. Weiterhin fiihrte er aus, daß eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot darstellt. Diese Fortbildung des Gemeinschaftsrechts begründete der Gerichtshof damit, daß eine Berufsausübung, die frei von Diskriminierungen ist, die Vorbedingung einer effektiven Ausbildung des Arbeitnehmerrechts auf Freizügig365 EuGH Slg. 1985, 593 (614, Rdnr. 30)- Rs. 293/83 "Gravier". 366 Vgl. EuGH Slg. 1988, 379 (404, Rdnr. 19)- Rs. 24/86 "Blaizot": selbst wenn das Studium nur besondere Fähigkeiten vermittelt, deren Erwerb nicht fi1r die Berufsausübung vorgeschrieben ist. 367 EuGH Slg. 1985, 593

tT. - Rs. 293/83.

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G. Analyse von Entscheidungen

keit ist. Da diese Freizügigkeit ein Ziel der Gemeinschaft ist, ist auch eine gemeinsame Bildungspolitik bezüglich der Berufsausbildung Bestandteil der Tätigkeiten der Gemeinschaft. Der Gerichtshof hat sich im Ergebnis bei seinen Urteilen darum bemüht, das Diskriminierungsverbot zugunsten der Bürger auszuweiten, auch wenn häufig streitig war, ob es auf den vorliegenden Fall überhaupt Anwendung finden könne. Durch eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs des allgemeinen Diskriminierungsverbots in Art. 7 EWGV (jetzt Art. 6 = 12 neu EGV) hat er die Freizügigkeit direkt gefördert und zusätzliche Personenkreise einbezogen. Damit hat der Gerichtshof viel dazu beigetragen, daß es für die Bürger, hier vor allem auch für die Studenten, leichter wird, in die anderen Mitgliedstaaten überzusiedeln und an dem Leben in einer fremden Kultur teilzunehmen und dieses näher kennenzulernen. b) Durchsetzung der Freizügigkeitsgarantie In dem Aufsehen erregenden Vorabentscheidungsersuchen in Sachen des belgiseben Fußballprofis "Bosman"368 , hat der Gerichtshof bestimmte Transferregelungen und die "Ausländerklausel" für unvereinbar mit dem Freizügigkeitsgrundrecht erklärt. Bei den Transferbestimmungen ging es um die Regelungen, daß ein Berufsfußballspieler auch nach Ablauf seines Arbeitsvertrages nur dann bei einem anderen Fußballverein beschäftigt werden darf, wenn dieser eine Ablösesumme zahlt. Bei der "Ausländerklausel" handelt es sich um eine Bestimmung, nach der bei Wettkämpfen, in einem Verein ausländische Staatsangehörige nur bis zu einer besonderen Höchstzahl eingesetzt werden dürfen. Diese Vorschriften sind aufgrund des Urteils des Gerichtshofs nun nicht mehr auf grenzüberschreitende Transfers beziehungsweise auf Angehörige der Mitgliedstaaten anwendbar. Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung Art. 48 = 39 neu EGV für einschlägig erachtet, obwohl die betreffenden Vorschriften von privaten Vereinen und Verbänden erlassen wurden. Für ihnen fallen auch andere, nichtstaatliche freiheitsbeschränkende Maßnahmen, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit dienen, in den Anwendungsbereich der Norm. Das Argument, daß es sich um ein rechtsfreies gesellschaftliches Subsystem handelt, ließ der Gerichtshof nicht gelten, da der Profifußball dem Wirtschaftsleben des 368 EuGH Slg. 1995,1-4921 ff.- Rs. 415/93.

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Art. 2 EGV zuzuordnen ist. Damit legte er Art. 48 = 39 neu EGV nicht nur als freizügigkeitsbezogenes Diskriminierungsverbot, sondern als ein umfassendes Beschränkungsverbot aus, das auch nichtdiskriminierende Maßnahmen einschließt.369 Nach einer Studie der Europäischen Fußball-Union (UEFA) zeigte sich der integrationspolitische Fortschritt schon im folgende Jahr. Die grenzüberschreitenden Transfers in den attraktivsten europäischen Fußball-Ligen stieg schlagartig an. 370 So beschäftigte die englische Profiliga im Jahre 1996 36% Ausländer, die spanische 29% und die deutsche 27%.

c) Soziale Sicherung der Wanderarbeitnehmer Nach Art. 51 = 42 neu EGV soll ein System eingefuhrt werden, das den Wanderarbeitnehmem ermöglicht, ihre, nach den unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Sozialversicherungszeiten, für den Erwerb des Leistungsanspruchs zusammenzurechnen. Außerdem soll es möglich sein, daß sie die Zahlung der Leistung auch in einem anderen Mitgliedstaat, als jenem, in dem sie gearbeitet haben, erhalten können. Im I ahre 1971 trat die sog. "Sozial-Verordnung" (EWG) Nr. 1408171 371 des Rates in Kraft. Art. 46 Abs. 3 a.F. der Verordnung sah eine gemeinschaftliche Antikumulierungsvorschrift fiir die Berechnung von Renten vor. Im Urteil"Petroni" führte der Gerichtshof dazu aus, daß eine Vorschrift gegen Art. 51 EWGV verstößt, "wenn Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen jedenfalls die Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats sichern. n372 Danach können also Leistungsansprüche, die allein nach einzelstaatlichem Recht erworben wurden, nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften beschränkt werden. Als Ergebnis dieser Rechtsprechung kann es aufgrund der Kumulierung von Ansprüchen dazu kommen, daß im Einzelfall Wanderarbeitnehmer bei der Berechnung besser gestellt sind, als Arbeitnehmer, die nur in einem Staat gearbeitet haben. Die Verordnung wurde deshalb von den Mitgliedstaaten neugefaßt.

369 Hi/f!Pache, Das Bosman-Urteil des EuGH, in: NJW 1996, S. 1172. 370 Ludwigsburger Kreiszeitung vom 31. Dezember 1996, S. 33. 371 ABI. 1971 Nr. L 149, S. 2. 372 EuGH Slg. 1975, 1149 (1160)- Rs. 24175 "Petroni".

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Auch im Bereich der Familienleistungen, die fiir den Berechtigten nach dem nationalen Recht zweier Mitgliedstaaten zu erbringen sind, ist die Rechtsprechung bemüht, zu einem möglichst vorteilhaften, mit dem Wortlaut der Verordnung noch im Einklang stehenden Ergebnis fiir den Wanderarbeitnehmer zu gelangen. Dies führt sogar dazu, daß fiir ihn ein Anspruch auf Leistungen im Beschäftigungsstaat auch dann in voller Höhe zahlbar bleibt, wenn im Wohnortstaat zwar die Voraussetzungen für eine Erbringung der Leistungen gegeben waren, ein solcher Anspruch aber nicht bestand, weil der erforderlich Antrag nicht gestellt worden war.3 73 Das Urteil wurde stark kritisiert, weil es über den Wortlaut der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 hinausgehen und einseitig die Interessen der Wanderarbeitnehmer begünstigen würde. Damit seien nicht ausreichend die Belange der Mitgliedstaaten berücksichtigt worden. 374 Weil der Gerichtshof diese Rechtsprechung aber aufrecht erhielt und weiter ausbaute, kam es in der Folgezeit zu mehrfachen Änderungen des Art. 76 Abs. 2 der Verordnung durch den Rat.37S

Die Entscheidungen des Gerichtshofs sind von dem Gedanken getragen, daß die Wahrnehmung der Freizügigkeit des Art. 48 = 39 neu EGV keine Nachteile auf dem Gebiet der sozialen Sicherung nach sich ziehen darf. Damit ist die Rechtsprechung im Grundsatz von dem Bestreben geprägt, die Interessen der Wanderarbeitnehmer zu vertreten und ihre soziale Absicherung zu verbessern. Dadurch wird es finanziell risikoloser, teilweise sogar vorteilhafter, in anderen Mitgliedstaaten zu arbeiten. Die Wirkung der Urteile ist damit direkt auf eine Zunahme der Wanderbewegung von Arbeitnehmern gerichtet, die den Vorteil der Gemeinschaft für sich erkennen und nicht mehr wegen wirtschaftlicher Bedenken auf einen längeren Arbeitsaufenthalt im Ausland verzichten. Im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts stößt der Gerichtshof mit seinen Entscheidungen auf die größte und schärfste Kritik aus den Reihen der Juristen und nationalen Politiker. Motiviert sind diese Angriffe vor allem durch

373 EuGH Slg. 1981,3741 ff.- Rs. 191183 "Salzano".

374 Vgl. zu einer ähnlichen Kritik auf dem Gebiet des Arbeitsrechts Junker, Der EuGH im Arbeitsrecht- Die schwarze Serie geht weiter, in: NJW 1994, S. 2527 f. 37 S Überblick zur Rechtsprechung im Sozialrecht bei Lenz, Der Beitrag der Rechtsprechung zur Entwicklung des Europäischen Sozialrechts, in: von Maydell/Schulte (Hrsg.), Zukunftsperspektiven des Europäischen Sozialrechts, S. 1S ff.

V. Schlußfolgerungen aus den Entscheidungsanalysen

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die finanziellen Auswirkungen dieser Rechtsprechung. 376 Trotzdem haben die Urteile nicht zu einem umfassenden Akzeptanzverlust des Gerichtshofs geführt und entpuppten sich auch nicht als Sprengsatz im Gemeinschaftssystem.

V. Schlußfolgerungen aus den Entscheidungsanalysen Die Untersuchung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt, daß er in allen Integrationsdimensionen Urteile gefallt hat, die integrationspolitische Folgen auslösten. Dabei sind seine Einwirkungsmöglichkeiten auf die einzelnen Dimensionen der europäischen Einigung durchaus unterschiedlich. Während er in dem institutionellen Bereich qualitativ starke Impulse geben kann, sind seine Steuerungsmöglichkeiten im Bereich der Willensbildung nur sehr begrenzt und lediglich von mittelbarer Art. Trotzdem hat er in allen Integrationsdimensionen entscheidende Einigungsanstöße gegeben. Beispielsweise im institutionellen Bereich, wo er unter allen juristisch vertretbaren Auslegungsarten meistens diejenige bevorzugt, die den Spielraum des Rates und der Kommission für eine Rechtsetzung erweitert.377 Im Bereich der Bildung eines gemeinsamen Bewußtseins trägt er mit dazu bei, ein "Europa der Bürger"378 zu schaffen, damit diese Europa als ihre Angelegenheit begreifen und sich mit der Gemeinschaft identifizieren können. Dieses gelingt ihm vor allem durch den Grundrechtsschutz, den er den Bürgern gewährt und durch die Stärkung des Demokratieprinzips in seinen Entscheidungen. Außerdem führt die Wahrnehmung der vom Gerichtshof ausgebauten Rechte durch die Bürger zu der Bildung eines europäischen Volkes und damit entsteht erst eine europäische Öffentlichkeit. Anschaulich formuliert Hans Peter Ipsen, daß der Gerichtshof mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts die Souveränitätshülse der nationalen Rechtsordnung durchstoßen und die rechtliche Immediatisierung des Markt-

376 Vgl. etwa den Bundessozialminister Norbert Blüm in: DER SPIEGEL Nr. 49 v. 30. November 1992, S. 102 ff. sowie Junker, Der EuGH im Arbeitsrecht- Die schwarze Serie geht weiter, in: NJW 1994, S. 2527 f. 377 Vgl. Köpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 156. 3?8 Hierzu ausfilhrlicher Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen und Hrbek (Hrsg.), Bürger und Europa.

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bürgers im Verhältnis zur Gemeinschaft hergestellt hat. Gleichzeitig bewirkt dieser Durchgriff rechtlich und psychologisch Integrationseffekte permanenter und nachhaltiger Art.379 Eine weitere Maxime seiner Rechtsprechung ist der Ausbau des Austausches von Waren und der Wanderbewegung von Personen, weil die weiteren wirtschaftlichen380 und politischen Entwicklungen zum Teil auf dieser Voraussetzung aufbauen. 381 So ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Förderung des Personenverkehrs und der Dimension der Willensbildung erkennbar. Nur wenn die Menschen aus den verschiedenen Mitgliedstaaten dauerhaft auf den Gebieten Arbeit und Freizeit zusammenleben, kann sich ein gemeinsames Bewußtsein in der Bevölkerung bilden. Gerade dieser Bereich der Assimilation ist aber am wenigsten ausgeprägt und kann nur indirekt vom Gerichtshof gefördert werden. Dazu trägt die Zunahme der Wanderbewegung aber in entscheidendem Maße bei. Im Ergebnis hat der Gerichtshof, trotzmancher Kritik an seinen Entscheidungen, konsequent versucht die europäische Integration durch seine Rechtsprechung voranzutreiben. Dabei war er in vielen Bereichen, was die integrationspolitischen Auswirkungen betrifft, vielleicht sogar anfangs erfolgreicher als die politischen Gemeinschaftsorgane. 382

379 lpsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs filr die Integration, in: Schwarze (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, S. 56.

380 Hierzu ausführlicher Mann, The function of judicial decisions in European economic integration. 381 Vgl. Everling, Die Bedeutung des EuGH, S. 126. 382 Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, S. 471 .

H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor Im folgenden soll untersucht werden, ob der Gerichtshof seinem speziellen Auftrag im europäischen Einigungsprozeß gerecht wird und wie er sich als politischer Akteur im dynamischen System verhält. Schließlich ist zu fragen, ob ihm künftig eine neue Rolle im Integrationsprozeß zufällt.

I. Integrationsfunktionen des Gerichtshofs 1. Allgemeine Integrationsfunktion der Rechtsprechung

Grundlegende Aufgabe der drei Gewalten ist es, die sozialen und politischen Reibungspunkte, die immer wieder durch den technologischen Fortschritt, die wirtschaftliche Entwicklung und den gesellschaftlichen Wandel entstehen, aufzulösen. Dafur ist die Integration der Staatsbürger eine wichtige Voraussetzung.383 In diesem Zusammenhang stellt schon eine Verfassung ein Instrumentarium zur Integrationsförderung dar, das von dem jeweiligen Verfassungsgerlebt in den einzelnen Prozessen umgesetzt werden muß. Das Gericht darf aber auch nicht die Augen vor den möglichen politischen Folgen seiner Entscheidung verschließen. Es muß den Rechtsstreit, der Ausdruck eines bestimmten politischen und gesellschaftlichen Konflikts ist, so lösen, daß möglichst viele Beteiligte die Entscheidung befürworten und der Rechtsfriede zwischen ihnen wieder hergestellt wird.384 Aus Gründen der Rechtssicherheit, ihrerseits wieder Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, muß das Urteil des Gerichts für die Beteiligten vorhersehbar und berechenbar sein. Überraschende Entscheidungen schaden seinem Ansehen als neutrale und unabhängige Institution und damit auch der Integration.385 383 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 90 ff. 384 Vgl. KIJpemik, Rechtsetzungsbefugnisse, S. 197. 385 Ebd.

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H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor

Für den Europäischen Gerichtshof heißt dies, daß er die Belange der Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und die Interessen der Bürger gegeneinander abzuwägen hat, damit sein Urteil von allen als "gerecht" empfunden wird. 386 Bei ihm kommt jedoch noch ein spezieller Integrationsauftrag hinzu, der sich aus der Dynamik der Verträge ergibt.

2. Besonderer Integrationsauftrag in einer dynamischen Rechtsordnung Der gemeinschaftsspezifische Integrationsbegriff geht über die von Rudolf Smend in der Staatslehre387 entwickelte Vorstellung hinaus. Der Zweck der Integration ist hier nicht nur in der Einbindung und Übereinstimmung der Staatsunterworfenen zu sehen. 388 Das Hauptziel der Vergemeinschaftung ist die Integration der Mitgliedstaaten, also deren schrittweise Zusammenführung. Dieser Integrationsauftrag des Gerichtshofs ist damit umfassender als der von nationalen Verfassungsgerichten. 389 Dies ergibt sich schon aus der Präambel, nach der mit der Gründung der Gemeinschaften ein Integrationsprozeß in Gang gesetzt wurde, der zu einem immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker fiihren soll. Die Gründungsverträge sind deshalb als "Integrationsverfassung" schon selbst auf einen Wandel angelegt, 390 der in korrespondierender Weise die Verfassungen der Mitgliedstaaten mitumfaßt. Damit liegt auch keine ausgereifte Rechtsordnung vor, die zwar grundsätzlich immer noch veränderbar wäre, sondern die Vorschriften sind in einem großen Ausmaß von einer künftigen Entfaltung und Ergänzung abhängig.39l Der Integrationsauftrag liegt nicht nur bei den politischen Organen, sondern auch das Recht hat eine Integrationsfunktion ("Integration durch Recht" 392) und damit auch der Europäische Gerichtshof. Er muß aufgrund

386 Vgl. z.B. EuGH Slg. 1958, 159 (194 tT.)- Rs. 15/57 und EuGH Slg. 1961 , 281 (308)- verb. Rs. 2. u. 3/60. 387 Smend, Verfassung, S. 138 tT. 388 Vgl. Bemhardt, Verfassungsprinzipien, S. 175. 389 Ebd. , S. 176. 390 lpsen, Die Verfassungsrolle der Europäischen Gerichtshofs fi!.r die Integration, S. 50 f. 391 Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion, S. 109. 392 Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 66.

I. Integrationsfunktionen des Gerichtshofs

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Art. 164 = 220 neu EGV, im Rahmen seiner richterlichen Möglichkeiten und Befugnisse, zum Fortgang des Integrationsprozesses beitragen. 393 Es kann jedoch nicht gefordert werden, daß er hinsichtlich des Fortschreitens der Integration selbst die Initiative in einem Bereich ergreift, in dem die anderen Gemeinschaftsorgane bisher untätig geblieben sind. Er hat sich vielmehr an dem erreichten Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts zu orientieren,394 außer wenn in den Verträgen Handlungspflichten oder Integrationsreserven enthalten sind, 395 die wegen der Zielrichtung des Vertrages vom Richter immer dann ausgenutzt werden müssen, wenn die politischen Organe der Integrationsfunktion nicht mehr gerecht werden.396 Dieser besonderen Integrationsfunktion wird der Gerichtshof dadurch gerecht, daß er für eine einheitliche und effektive Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten Sorge trägt. Vor allem durch seine Urteile zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts, zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien bzw. der Staatshaftung bei Nichtumsetzung und den Stellungnahmen in den Vorabentscheidungsverfahren ist ihm dies gelungen.397 Auch die Ausweitung der Kompetenzen der Gemeinschaft, als einem über den Gliedern eines politischen Systems stehenden Entscheidungszentrums, gehört zum Einigungsbegriff398 und somit zu seinem besonderen Integrationsauftrag. Auf einen Nenner gebracht, ist er diesem Auftrag im Ergebnis dadurch gerecht geworden, daß er zur Schaffung und zum Ausbau einer europäischen Rechtsordnung beigetragen hat. 393 Vgl. Nicolaysen, EuR 1972, S. 379. 394 Z.B. in EuGH Slg. 1973, 269 (275)- Rs. 62/72: "Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ist daher davon auszugehen, daß sich die Kostenfestsetzung und die Erstattungsfi!higkeit von AufWendungen der Parteien des Ausgangsverfahrens, die für das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 177 EWGV notwendig waren, nach den auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts bestimmen." 395 Z.B. die noch kaum entwickelten Verfahrens-, Mitwirkungs- und Unterlassungspflichten in Art. 5 u. 6 = 10 u. 12 neu EGV oder die Kompetenzreserven in Art. 3 u. 2EGV. 396 Vgl. Bieckmann, GS-Constantinesco, S. 67 und Bemhardt, Verfassungsprinzipien, S. 177. 397 Vgl. Pescatore, Le droit de l'integration, S. 84 IT. 398 Vgl. Haas, The Uniting ofEurope, S. 16.

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H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor

Wegen der auf Dynamik ausgerichteten Gerneinschaftsverfassung399 besteht eine wesensgernäße Unvollständigkeit der europäischen Rechtsordnung, die aufgrund der politischen Schwerfälligkeit des Gesetzgebers auch nur unzureichend beseitigt wird. So trifft den Gerichtshof eine besondere Verpflichtung hinsichtlich der Entfaltung des Gerneinschaftsrechts. 400 Die Aufgabe der Sicherung des Rechts gern. Art. 164 = 220 neu EGV urnfaßt also auch die Sicherung der Dynamik des Rechts. 40 1 Deshalb kann sich der Gerichtshof bei seiner Rechtsprechungstätigkeit auch nicht immer auf abstrakt-normative Bestimmungen stützen, sondern leistet teilweise Rechtsfortbildung. Gegen eine zu weit gehende Rechtsfortbildung sind Akzeptanz in der Öffentlichkeit und wissenschaftliche Kritik die einzigen wirksamen Korrektiven. 402

II. Integrationspolitische Rolle des Gerichtshofs Dem Gerichtshof sind Aufgaben zugewiesen, die oft angesichts ihrer engen politischen Verflechtung arn Rande dessen liegen, was einer richterlich neutralen Instanz abverlangt werden kann. Er muß in der Lage sein, seinen Aufgaben im Spannungsfeld zwischen Recht und Politik zu lösen und damit seiner Befriedigungsfunktion nachzukommen. Er ist zwar ein politisch relevantes, aber kein im engen Sinne politisches Organ, denn die Auslegung der Gründungsverträge bleibt eine Rechtsfrage und die darauf beruhenden Urteile sind rechtliche und keine politischen Entscheidungen.403 Der Integrationsprozeß muß, wie oben gezeigt wurde, als vieldimensionales Geschehen betrachtet werden, dessen Entwicklungsgrad nur unter Berücksichtigung des in allen drei Bereichen erreichten Standes ermittelt werden kann. Dabei ist es von großer Bedeutung, daß der Integrationsfortschritt in allen Dimensionen in etwa gleichgewichtig erfolgt und er nicht in der einen oder anderen Dimension zurückbleibt. 404 399 Hierzu Bieber!Ress (Hrsg.), Die Dynamik des Europäischen Gemeinschafts-

rechts.

400 Schwarze, Stellung und Funktion des EuGH, S. 13. 40! Bemhardt, Verfassungsprinzipien, S. 31. 402 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 29. 403 Stein, FS-Jur. Fakultät Univ. Heidelberg, S. 621; Nicolaysen, EuR 1972, S. 377; Donner, AöR 1981, S. I ff. 404 Vgl. Frei, Integrationsprozesse, S. 119.

li. Integrationspolitische Rolle des Gerichtshofs

111

Im Laufe der Geschichte hat sich gezeigt, daß ungleichgewichtige Entwicklungen über kurze oder längere Zeit zu einer Stagnation, einer Krise oder zu einem Zerfall des Integrationsprozesses, zumindest zu einer Auflösung des bisher geltenden Bezugsrahmens der Integration führten. 405 Meistens lag dies an einer unterentwickelten politischen Integration406 und der daraus folgenden fehlenden Identifikation der Bürger mit dem Integrationsprozeß. Hier sei nochmals darauf verwiesen, daß auch in der Europäischen Union diese Dimension im Gegensatz zu den anderen erheblich unterentwickelt ist. Weder Napoleon 1., noch das Römische Kaiserreich oder die real-existierenden sozialistischen Systeme Osteuropas haben es geschafft, die Kluft zwischen der institutionellen Dimension, die weit fortgeschritten war und der Dimension der gemeinsamen Bewußtseinsbildung erfolgreich zu schließen. Auf der anderen Seite war im nationalen Einigungsprozeß in Deutschland im 19. Jahrhundert der politische Wille in der sozialpsychologischen Dimension viel stärker entwickelt als die damalige institutionelle Einigung und wirtschaftliche Verflechtung. Das Übergewicht des gemeinsamen Bewußtseins führte schließlich zu einer Sprengung des ehemals geltenden ordnungspolitischen Rahmens.407 Der Erfolg eines Integrationsprozesses ist damit zu einem Großteil von einer wachsenden Zustimmung und Unterstützung seiner Bürger abhängig. Weil die europäische Integration in dem Bereich der gemeinsamen Bewußtseinsschaffung aber noch nicht gleichweit fortgeschritten ist, wie in den beiden anderen Dimensionen, bleiben viele Vorschriften der Verträge bloße Absichtserklärungen. In den EG-Mitgliedstaaten sind auch heute noch unterschiedliche nationale, historische, sprachliche und wirtschaftliche Strukturen und Interessen vorhanden, die nicht problemlos überwunden und integriert werden können. Die Völker in Europa sind in der Bezugsgröße eines Nationalstaates entstanden, mit nationaler Identität und unterschiedlichen Interessen. Sie haben aber noch nicht das Gefühl entwickelt, Mitglieder einer neuen übergeordneten Solidargemeinschaft zu sein, sondern begreifen sich immer noch als Angehörige ihres 405 Ebd. 406 Näher zur Frage der politischen Integration durch die Rechtsprechung Green, Political Integration by Jurisprudence. The Work of the Court of Justice of the European Communities in European Political Integration. 407 Frei, Integrationsprozesse, S. 120.

112

H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor

Nationalstaates. 408 Die Dynamik im wirtschaftlichen Einigungsprozeß hat damit nicht automatisch zu einer politischen Integration geführt. 409 Die Wirtschaftsintegration kann höchstens die politische Integration vorbereiten und stützen, aber nicht an ihre Stelle treten.410 Für die Bestimmung des Integrationsgrades muß eine Rückkopplung zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der einen Seite sowie den Bürgern auf der anderen Seite stattfinden, um sicher zu gehen, daß das modifizierte und weiterentwickelte politische System von seinen Bürgern auch akzeptiert wird. Nur durch die Schaffung eines "Europa-Bewußtseins" in den einzelnen Völkern erhalten die Vertragsziele ihre wirkliche Bedeutung und Effektivität. Dabei kann es zwar notwendig sein, daß eine der anderen beiden Dimensionen, - die institutionelle oder die der Transaktionen bzw. auch beide zusammen - eine gewisse Führungsrolle übernehmen, sie dürfen jedoch nicht den Anschluß zur zweiten Dimension verlieren. Diese Lehre sollten die vertragschließenden Parteien und die GerneiRschaftsorgane spätestens aus der Debatte um den "Maastrichter Vertrag" gezogen haben, denn die Aufklärung der Bürger spielt für das Gelingen des Integrationsprozesses eine überragende Bedeutung. Mit der Rechtsprechung zur institutionellen Dimension hat der Gerichtshof zwar eine gewisse Vorreiterrolle ausgefüllt, er darf jedoch nicht den Kontakt zum Willen der Bürger verlieren. In Zeiten der Skepsis gegenüber der Gemeinschaft sollte er darum zurückhaltender, mit Augenmaß und politischem Fingerspitzengefühl urteilen, 411 um die Gefahr einer ungleichgewichtigen Integration nicht aufkommen zu lassen. Weil der Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung teilweise größere Integrationsfortschritte als die politischen Organe erreicht hat, 412 trifft ihn im Rahmen seiner Rechtsprechungstätigkeit auch eine besondere Verantwortung für 408 Constantinesco, Das Recht der EG, S. 147. 409 Dieser Gedanke der "Motorfunktion" der Wirtschaftsintegration filr die politische Integration wird z.B. vertreten von Hai/stein, Wirtschaftliche Integration als Faktor politischer Einigung, in: FS-Müller-Annack, S. 267 ff. lnsb. aufS. 276 fil.hrt er aus, daß die wirtschaftliche Integration ein politischer Vorgang ist. 410 So auch Constantinesco, Das Recht der EG, S. 148. 411 Donner, Le röle de Ia Cour de Justice, S. 7 verlangt von den Gemeinschaftsrichtern Vorsicht und Mut. 412 Ebd., S. 471.

m. Die neue Aufgabe des Gerichtshofs

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den gleichgewichtigen Fortgang der europäischen Einigung. Für den Gerichtshof hängt die Frage nach den politischen Möglichkeiten für die Förderung der Integration von dieser Maxime ab. Wegen der großen Bedeutung der Bildung eines gemeinsamen Bewußtseins in der Bevölkerung ist eine integrationsfördernde Rechtsprechung, die gerade diesen Bereich weiterentwickelt, notwendig und geboten, auch im Sinne der Vertragsziele. Dazu zählen die oben untersuchten Urteile zum Grundrechtsschutz der Bürger, zum Diskriminierungsverbot und insgesamt zur Stärkung der Rechtsstellung des Unionsbürgers. Dazu gehört jetzt aber auch die Überwachung des Subsidiaritätsprinzips, damit die politischen Entscheidungen so nahe wie möglich beim Bürger getroffen werden. Seine Entscheidungen sollten deshalb im Ergebnis auf eine fortschreitende Integration in allen drei Bereichen gerichtet sein und alle drei Bereiche möglichst gleichmäßig vorantreiben, wobei er besondere Rücksicht auf die Schaffung eines gemeinsamen Bewußtseins zulegen hat. Dieser Aufgabe wird er, wie die Urteilsanalysen zeigen, auch in allen drei Dimensionen gerecht. Durch seine Urteile hat er den Integrationsprozeß in dessen verschiedenen Bereichen gleichmäßig vorangebracht, auch wenn die zweite Dimension noch immer unterentwickelt ist. Zu bedenken ist jedoch, daß hier vor allem den eigentlichen politischen Instanzen die Aufgabe zukommt, das "Europa-Bewußtsein" der Bürger weiterzuführen und der Gerichtshof nur indirekt mit seinen beschränkten Mitteln tätig werden kann.

111. Die neue Aufgabe des Gerichtshofs Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, die Präzisierung von Generalklauseln und die Schließung von Lücken im Gemeinschaftsrechts ist ein fortdauernder Auftrag des Gerichtshofs. Trotzdem ist sein neuen "Verfassungsauftrag" eher auf die Wahrung und Sicherung des erreichten Gemeinschaftsbestandes ("acquis communautaire"), gegebenenfalls noch seine Abrundung und Vervollständigung, gerichtet. 413 Dieser Schluß läßt sich aus der momentan vorherrschenden Skepsis in bezug auf eine vertiefte Integration aufgrund des Defizits in der sozialpsychologischen Dimension ziehen. 414 4 13 Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, S. 146. 414 Vgl. hierzu Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, in: DVBI. 1994, S. 905 f.

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H. Der Europäische Gerichtshof als Integrationsfaktor

Der Gerichtshof läuft ansonsten Gefahr, daß er sich eines Tages als "Führer ohne Truppe" wiederfinden415 und aufgrund der mangelnden Gefolgschaft Schaden an seiner Autorität nehmen könnte. 416 Er vermag in seiner Rechtsprechung zwar vorhandene gemeinschaftspolitische Impulse aufzugreifen und zu verstärken, sie aber auf die Dauer nicht zu ersetzen. 417 Deshalb darf sich der Gerichtshof künftig nicht mehr nur gleichforrnig als Integrationsforderer sehen. Von ihm ist mehr Fingerspitzengefühl bei der Ausübung seiner Kontrollaufgabe zu verlangen, denn das Rechtssystem der Gerneinschaft und die Politikbereiche sind vielfältiger, das institutionelle Gleichgewicht empfindlicher und die Akzeptanz heikler geworden. Zentrale Aufgabe ist darum die Festigung und Sicherung des Gerneinschaftsbestandes. 418 Gerade die Erfordernisse einer Bürgemähe der Entscheidungen (Art. A Abs. 2 = l Abs. 2 neu EUV) und des in Art. 3b = 5 neu EGV verankerten Subsidiaritätsprinzips sind Ansatzpunkte um das Kompetenzgefüge zwischen Gerneinschaft und Mitgliedstaaten sinnvoll auszutarieren.4 19 Erste Anzeichen für die Anerkennung seiner neuen Rolle zeigen sich in der jüngsten Rechtsprechung. So hat er die weite Auslegung der "Maßnahmen gleicher Wirkung" des Art. 30 = 28 neu EGV in den Entscheidungen "Keck und Mithouard" 420 sowie "Hünerrnund"42 1 teilweise korrigiert. Nach der "Dassonville-Forrnel"422 sind alle Maßnahmen verboten, die tatsächlich oder potentiell, unmittelbar oder mittelbar den grenzüberschreitenden Warenverkehr beeinträchtigen. Von diesen weitgefaßten Maßnahmen nimmt er in den neuen Entscheidungen bloße "Verkaufsrnodalitäten" aus, die jetzt im Ergebnis nicht mehr von Art. 30 = 28 neu EGV tatbestandlieh erfaßt werden. Auch die "AETR-Doktrin"4 23 hat der Gerichtshof neuerdings ungewöhnlich restriktiv weiterentwickelt. Mit Blick auf den Wortlaut der Art. 113, 75 415 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 343. 416 Stein, FS-Jur. Fakultät Univ. Heidelberg, S. 640.

417 Ebd., S. 626. 418 Dauses, Integration 1994, S. 222. 419 Oppermann, DVBI. 1994, S. 906.

420 Urteil v. 24.11.1993 - verb. Rs. C-267 u. 268/91 , in: EWS 1994, S. 25 f. 421 Urteil v. 15.12.1993- Rs. C-292/92, in: EWS 1994, S. 59 f.

422 EuGH Slg. 1974, 837 (852) - Rs. 8174; vgl. auch Kapitel G.IV.1 . 423 EuGH Slg. 1971, 263

ff. - Rs. 22170; vgl. auch Kapitel G.ll.l.

ill. Die neue Aufgabe des Gerichtshofs

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und 43 = 133, 71 und 37 neu EGV hat er im sog. "WTO-Gutachten"424 der Kommission die Abschlußkompetenz im Bereich der "Handelspolitik" nur für das GATT 1994 mit seinen Nebenverträgen zugewiesen. Er sprach der Kommission also nicht, wie von ihr erhofft, die Befugnis für den Abschluß des GATS und TRIPS-Abkommens zu. Hierfiir gilt eine geteilte Zuständigkeit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. 425 Der Gerichtshof bemüht sich, ohne die übliche Berufung auf den "effet utile", das Zuständigkeitsgefüge zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft mit Blick auf Art. 3b Abs. 1 = 5 Abs. 1 neu EGV vorsichtig auszutarieren. Dies gelingt ihm, indem er nun zusätzlich eine zwingende Erforderlichkeil der Außenkompetenz für die Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft verlangt und diese im vorliegenden Fall verneinte. 426 Ein genereller Rückzug des Gerichtshofs aus seiner Integrationsfunktion ist aber, wie schon das Urteil "MP Travel Line"427 mit der Bestätigung einer Staatshaftung bei nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien und die Entscheidung "Bosman"428 mit ihren gravierenden Auswirkungen auf den Profifußball zeigen, nicht zu befürchten. Er ist sich aber den Gefahren bewußter geworden, die durch seine Rechtsprechung ausgelöst werden können. Denn was von der überwiegenden Mehrheit der Bürger nicht akzeptiert wird, läuft Gefahr, nicht mehr "gerecht" zu sein. Dies könnte besonders in Krisenzeiten fundamentale Auswirkungen auf den Bestand der Gemeinschaft haben. Vielleicht wurden gerade aufgrund seines neuen Selbstverständnisses die Zuständigkeiten des Gerichtshofs durch den "Amsterdamer Vertrag" wieder ausgeweitet. Sie erstrecken sich zum einen auf neue Gebiete (vgl. z.B. Art. H = 9 neu EUV), zum anderen erhält er zum ersten Mal Befugnisse im Bereich der GASP durch die Änderung des Art. L lit. b und c = 46 lit. b und c neu

EUV.

424 EuGH Slg. 1994, I-5267 ff. -Gutachten 1194. 425 Hierzu Dtirr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, in: EuZW 1996, S. 39. 426 EuGH Slg. 1994, I-5267. 427 Urteil v. 8. Oktober 1996- verb. Rs. C-178, 179, 188, 189 u. 190/94 "Dillenkofer", in: NJW 1996, S. 3139. 428 EuGH S1g. 1995, I-4921 ff. - Rs. 415/93.

I. Schlußwort Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, daß der Europäische Gerichtshof den Integrationsprozeß fiir die allgerneine Öffentlichkeit kaum bernerkbar429 weiter fortgeführt hat. Damit erfiillt er auch eine weitere Maxime, die an ihn gestellt wird, daß sich nämlich die Tätigkeit eines Rechtsprechungsorgans ohne Effekthascherei im stillen vollziehen soll. 430 Selbst wenn einige Entscheidungen bei manchen Juristen und Politikern auf Ablehung stießen, so stand er bis jetzt doch nie im öffentlichen Kreuzfeuer der Kritik. Schon seine heterogene Zusammensetzung, mit Richtern als Repräsentanten aller in der Gerneinschaft vertretenen Rechtsordnungen, bietet die Gewähr dafiir, daß der Gerichtshof "europäische" Lösungen fiir die Streitfragen findet. Den Integrationsfortschritt kann er vor allem dadurch erreichen, daß er nicht dem Konsensprinzip unterworfen ist, das den politischen Bereich der Gemeinschaft teilweise handlungsunfahig macht. Die Mitgliedstaaten dürfen nur ihre Auffassungen zu dem Rechtsstreit vortragen, aber keinerlei Einfluß oder Druck auf den Gerichtshof ausüben. 431 Trotzdem ist der Gerichtshof Teil des politischen Systems und steht damit im Kräftefeld der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten. Er darf sich aber nicht von politischen Tagesstimmungen und Volksmeinungen beeindrukken lassen, sondern muß, ohne sich beeinflussen zu lassen, gradlinig danach entscheiden, was er als "gerecht" ernpfindet. 432 Seine Urteile besitzen auch eine politische Wirkung, die er bei seiner Entscheidungsfindung nicht außer acht lassen darf. 433 Er muß deshalb darauf Rücksicht nehmen, daß er sich im 429 Vgl. den Titel von Kutscher, Der Gerichtshof in Luxemburg. Das unbekannte Organ der Europäischen Gemeinschaften, in: Wertpapier-Mitteilungen 1984, Sonderbeilage Nr. 2, S. 2 ff.

43° Everling, Der Beitrag des EuGH, S. 195. 431 Vgl. Everling, Die Bedeutung des EuGH, S. 127. 432 Everling, Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, S. 152 spricht von pragmatischer, ausgleichender, und ideologiefreier Vorgehensweise. 433 Vgl. Donner, AöR 1981, S. 1 ff.

I. Schlußwort

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Rahmen der politischen Gegebenheiten hält und es äußere Realitäten gibt, über die er sich nicht hinwegsetzen darf. Das unvollständige Gemeinschaftsrecht und der Wille der Vertragsparteien, eine neue, eigenständige Rechtsordnung zu schaffen, haben ihn durch die erwähnten politischen Schwierigkeiten der Legislative geradezu dahin gedrängt, selbst quasi-normative Bestimmungen zu treffen. 434 Eine Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof ist deshalb fiir die europäische Rechtsordnung unverzichtbar435 und resultiert aus einer dynamischen Auslegung der Verträge. Der Gemeinschaftsgesetzgeber und die nationalen politischen Organe können sich gegen diese mögliche Einmischung aber grundsätzlich jederzeit durch Gesetzes- und Vertragsänderungen wehren. Gerade auf dem Gebiet der Verfassungspolitik hat er mit integrationspolitischer Konsequenz die Befugnisse der Gemeinschaftsorgane ausgebaut, um einen Stillstand des Integrationsprozesses zu verhindern. 436 Seine Entscheidungen haben sich aber auch in allen anderen Dimensionen des Einigungsprozesses positiv auf den Fortschritt und den Grad der Integration ausgewirkt. Er muß allerdings berücksichtigen, daß die Fortschritte in den einzelnen Integrationsbereichen sich auch kontraproduktiv auswirken können. So kann eine Stärkung der Stellung des Parlaments zu Lasten der Akzeptanz einzelner Mitgliedstaaten gehen und auch die Wahl der Ermächtigungsgrundlage, die das Mehrheitsprinzip stärken würde, könnte dazu führen, daß sich einzelne Mitgliedstaaten weigern, die beschlossene Richtlinien umzusetzen, was wiederum die Integration schwächen würde. Außerdem hat er das "Gebot einer gleichgewichtigen Integrationspolitik" für die drei Integrationsbereiche ernstzunehmen, um keine Krise im Gemeinschaftssystem heraufzubeschwören. Er muß versuchen, mit den Inhalten einer von den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsprechung, eine Billigung der Weiterentwicklung der Europäischen Union durch die nationalen Akteure, insbesondere auch durch die Bürger, zu bewirken. In der Untersuchung hat sich bestätigt, daß der Gerichtshof die "mangelnde Entscheidungsfreudigkeit des Rates" 437 ausgleichen konnte. Als Rechtspre434 Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion, S. 239. 43S Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 81.

436 Vgl. Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion, S. 237. 437 Bleckmann, Europäischer Gerichtshof, in: Woyke (Hrsg.), Europäische Gemeinschaft, S. 323. 8 G. Sander

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I. Schlußwort

chungs- und Kontrollorgan hat er in manchen Bereichen größere Integrationsfortschritte erzielt, als die politisch-dynamischen Organe Rat bzw. Kommission.438 Erreicht hat er dies durch seinen Entscheidungsgrundsatz "in dubio pro communitate", der sich durch seine Urteile hindurchzieht. 439 Künftig sollte er seine Rolle, zumindest solange die Skepsis gegenüber der weiteren Vertiefung anhält und die Akzeptanz brüchig ist, vorwiegend in der Festigung des Gemeinschaftsbestandes sehen. 440 Weitere integrationspolitisehe Fortschritte sollte er von diesem Faktor abhängig machen. Damit führt die Rechtsprechung des Gerichtshofs zugleich zu einer Stabilisierung des Integrationszustandes. Zusammenfassend kann man sagen, daß der Gerichtshof seit der Gründung der Gemeinschaften als Hüter des bestehenden Integrationsgrades und Förderer zukunftsweisender Entwicklungen des europäischen Einigungsprozesses gewirkt hat.

438 Vgl. Constantinesco, Das Recht der EG, S. 471. 439 Bleckmann, GS-Constantinesco, S. 67. 440 Oppermann, DVBI.

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Sachverzeichnis Acquis communautaire 113 Acte clair 77 Akzeptanz der Urteile 70 ff., 110 - bei den Bürgern 36 f., 73 f., 93 f. - bei nationalen Gerichten 74 ff. - bei den Organen der Mitgliedstaaten 71 ff. Allgemeine Rechtsgrundsätze 24, 46 ff., 92 Arbeitsrecht 45, 76, 104f. Ausbildung - siehe Bildungsrecht Auslegungsarten 39 ff. - grammatikalische 40, 57f. - historische 40 f. - systematisch-teleologische 40 ff., 84 - völkerrechtlicher Verträge 42 f., 57 f. Außen- und Sicherheitspolitilc, Gemeinsame 21, 32, 68 Außenkompetenzen der EG 85 ff., 115

Effet utile 41 f., 58, 86 ff., 90, 94, 115 Einzelermächtigung, Prinzip der begrenzten 42, 46,64 f. Ermächtigungsgrundlage 33, 43, 87 f., 97, 117 EuGH - siehe Gerichtshofder EG

Befugnisse - siehe Kompetenzen Berufsausbildung - siehe Bildungsrecht Bewußtseins, Schaffung eines gemeinsamen - siehe Integrationstheorien, soziokausale Bildungsrecht 70, 87 f., 100 ff.

Implied powers 39,42 f., 86 f. Institutionelles Gleichgewicht - siehe Gewaltenteilung Integration - Begriff 26 f. - gleichgewichtige 37, 111 ff., 117 politische 27, 81 - rechtliche 27, 81 f. - wirtschaftliche 27, 81 Integrationsdimensionen 30 ff. - institutionelle 30 ff., 84 ff., 112 - sozialpsychologische 30, 35 f. , 90 ff., 105 f., 112 - der Transaktionen 30, 36 f., 90, 97 ff., 112 Integrationsgrad 27, 30, 85, 87, 89, 97

Demokratieprinzip 36, 62, 89, 94 ff., 105 Dem de justice - siehe Rechtsverweigerungsverbot Diskriminierungsverbot 36, 91, 100 ff., 113

Freizügigkeit - siehe Personenverkehr, freier Generalanwälte 22, 25 Gerichtshof der EG - Aufgaben 21,45 ff., 110, 113 ff. - als Gesetzgeber 44 ff. - Integrationsfunktion 46 f., 107 ff. - Kammern23 - Zusammensetzung 21 ff. Gesetzespositivismus 46 Gewaltenteilung 17, 49, 59 ff. Grundrechte 36, 46, 75 f., 78, 91 ff., 105, 113

130

Sachverzeiclmis

Integrationstheorien 27 ff. - fMeralistische 28 - funktionalistische 28 f. - soziokausale 29 f. Interpretationsmethoden - siehe Auslegungsarten Judicial self-restraint - siehe Selbstbeschrankung, richterliche Klagearten 53, 60 f. - Nichtigkeitsklage 54 f., 56, 85, 96 - Untätigkeitsklage 55, 96 - Vertragsverletzungsverfahren 53 f., 71 - Vorabentscheidungsverfahren 44, 55 f., 77 f., 89, 93 f., 109 - Voraussetzungen 56 f. Kommission, Europäische 16, 46, 48, 55, 60, 63 ff., 71 f., 85, 108, 118 Kompetenzen 17,42 f., 56, 115 - der Gemeinschaftsorgane 64 ff., 85 ff., 109 Kontrolldichte, verminderte 63 Lückenfüllung 47 f., 49 f., 54, 113 Luxemburger Kompromiß 33,47 Marktbürger 35 ff., 90 f., 93, 106, 112 f. Mehrheitsprinzip 33 f., 87 ff., 117 Ministerrat - sieheRat Parlament, Europäisches 60, 88 f., 95 ff. Personenverkehr, freier 36 f., 99 ff., 102 ff., 106 Political question doctrine 62 Rat 16, 32 ff., 46, 48, 55, 60, 63 ff., 85, 108, 117f. Rechtsakte 21 , 54 -Richtlinien 21, 34f., 4lf., 89f., 93 f. - Verordnungen 21, 34 f., 65 Rechtsangleichung 83 f., 90, 99

Rechtsfortbildung 16, 39 f., 44 ff., 52, 117 Rechtsgemeinschaft 15, 20, 73 Rechtsgrundsätze - siehe Allgemeine Rechtsgrundsatze Rechtsordnung - dynamische 46 f., 65, 108 ff., 117 - der Mitgliedstaaten 23 f., 44 ff., 48 ff. Rechtsschöpfung - siehe Rechtsfortbildung Rechtssicherheit 48, 59, 67, 107 Rechtsstaatsprinzip 37, 54, 59, 91 f., 107 Rechtsvergleichung 24 f., 48 Rechtsverweigerungsverbot 49 f., 54 Regelungslücken 46 f. Richter 22 ff., 49, 52, 61 f. , 112 (Fn. 411) - Aufgaben 23 - Ernennung 22 - Unabhängigkeit 22 - Willensbildung/Arbeitsweise 23 ff. Richterrecht - siehe Rechtsfortbildung Sanktionen 71 f. Selbstbeschränkung, richterliche 61 ff. Souveränität 29, 80, 105 f. Sozialrecht 73, 103 ff. Spill-over-Effekt 29 Staatshafumg 16, 46, 50, 59, 93 f. , 109, 115 Subsidiaritätsprinzip 32, 113 f. Unionsbürger - siehe Marktbürger Unmittelbare Geltung - des primären EG-Rechts 74, 77, 83f. - des sekundären EG-Rechts 34 f., 41 f., 74, 77 ff., 89 f., 109 Urteile des EuGH 25 f., 80 - Nichtbeachtung 71 ff. Verflechtung, gesellschaftliche - siehe lntegrationsdimensionen, der Transaktionen

Sachverzeichnis Vertragsänderung, weggenommene 66 f. Vertragsrevision 50, 67, 68 f. Vorrang des Gemeinschaftsrechts 74, 82 f., 109, 105 f.

131

Wanderarbeitnehmer 29, 103 ff. Warenverkehr, freier 37, 98 f., 114 f. Welthandelsorganisation 114 f.