Der Erste Weltkrieg in der deutschen und britischen Erinnerungskultur / The First World War in British and German Commemorative Culture [1 ed.] 9783428552030, 9783428152032

Das Gedenkjahr 2014 an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs rückte den »Großen Krieg« auch in Deutschland in den Mittelpun

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Der Erste Weltkrieg in der deutschen und britischen Erinnerungskultur / The First World War in British and German Commemorative Culture [1 ed.]
 9783428552030, 9783428152032

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Der Erste Weltkrieg in der deutschen und britischen Erinnerungskultur / The First World War in British and German Commemorative Culture Herausgegeben von

Jasmin Hain, Frank-Lothar Kroll und Martin Munke

Duncker & Humblot . Berlin

Prinz-Albert-Studien / Prince Albert Studies

Prinz-Albert-Studien / Prince Albert Studies Herausgegeben von / edited by Frank-Lothar Kroll

Band 33 / Volume 33

Der Erste Weltkrieg in der deutschen und britischen Erinnerungskultur / The First World War in British and German Commemorative Culture

Herausgegeben von

Jasmin Hain, Frank-Lothar Kroll und Martin Munke

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Druckteam, Berlin Printed in Germany ISSN 0941-6242 ISBN 978-3-428-15203-2 (Print) ISBN 978-3-428-55203-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85203-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Kathleen und Klaus Beyersdorf in Dankbarkeit

Vorwort Im Säkularjahr 2014 ist die Erinnerung an den 100-jährigen Ausbruch des Ersten Weltkriegs allseits präsent gewesen. In England und Frankreich nahm der „Great War“ bzw. „Grande Guerre“ stets einen prominenten Platz im jeweiligen Geschichtsbewusstsein ein. In Deutschland war das anders – hier wurde das erinnernde Gedenken an den Ersten Weltkrieg durch die von Deutschland verschuldete Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in den Schatten gestellt und weitgehend absorbiert. Mittlerweile ist das anders geworden – große Gesamtdarstellungen aus der Feder von Christopher Clark, Herfried Münkler und Jörn Leonhard haben das Thema ebenso in den Mittelpunkt aktueller Geschichtsdiskurse gerückt,1 wie sich ihm die Medien – Presse, Rundfunk und Fernsehen gleichermaßen – mit vermehrter Aufmerksamkeit widmen. Nach langen Jahren einer weitgehend durch nationale Blickwinkel geprägten Behandlung des Themas sind zuletzt vermehrt seine europäischen, grenzüberschreitenden Bezüge aufgegriffen worden.2 Während aber 2014 die meisten Veröffentlichungen und begleitenden Konferenzen noch immer – oder: wieder – die Vorgeschichte des Krieges, seinen Ausbruch, seine politischen und militärischen Implikationen und bestenfalls seine kulturellen Folgewirkungen bedachten, nahm die 33. Jahrestagung der Prinz-AlbertGesellschaft und der Landesbibliothek Coburg vom 4. bis 6. September 2014 einen besonderen Aspekt in den Blick: Sie richtete sich auf die Rezeption des Krieges in der deutschen und britischen Erinnerungskultur im bilateralen Vergleich.3 Die in diesem Band vorgelegten ausgewählten Beiträge gliedern sich in drei Sektionen. Die erste Sektion behandelt allgemeine erinnerungskulturelle Gesichtspunkte in Deutschland und Großbritannien. Die zweite Sektion 1  Vgl. dazu die Beiträge von Stephen Badsey und Martin Munke in diesem Band, S. 13–30 und 31–58. 2  Vgl. zuletzt Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Das Ende des Alten Europa. Der Erste Weltkrieg in Geschichte und Erinnerung mitteleuropäischer Regionen. Dresden 2016. 3  Vgl. die Tagungsberichte von Marian Bertz, in: H-Soz-Kult, 30. Oktober 2014, URL: http: /  / www.hsozkult.de / conferencereport / id / tagungsberichte-5617, letzter Zu­ griff: 9.  März 2017 und von Ulrich Hertel, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 73 (2014), S. 429–432.

8 Vorwort

thematisiert symbolische und bildkünstlerische Reflexionen über das Kriegsgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart. Die dritte Sektion widmet sich Formen und Wandlungen von Kriegserinnerung und Kriegsbewältigung im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Auf diese Weise werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige Schlaglichter auf unterschiedliche Arten des Erinnerns und der Verarbeitung jener „Urkatastrophe“ geworfen, deren Ausbruch der Beginn vom Ende des alten Europas gewesen ist. Der Dank der Herausgeber gilt den Förderern der Gesellschaft, welche die Durchführung der Konferenz und die Drucklegung des Tagungsbandes möglich machten: der Stadt Coburg, der Niederfüllbacher Stiftung Coburg und der Technischen Universität Chemnitz. Die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge lag weitgehend in den Händen von Herrn Mario H. Müller, M. A., der sich dieser Aufgabe mit gewohnter Sorgfalt und Akribie widmete. Chemnitz / Dresden, im Juni 2017

Jasmin Hain / Frank-Lothar Kroll / Martin Munke

Inhaltsverzeichnis / Table of contents I.  Getrenntes oder gemeinsames Erinnern? Großbritannien und Deutschland im Vergleich / Divided or common remembrance? Britain and Germany in comparison A Hundred Years On: Recent and Changing Views on the History of the First World War By Stephen Badsey  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Der Erste Weltkrieg in der deutsch- und englischsprachigen Historiographie. Neue Literatur und alte Debatten zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns Von Martin Munke  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Hundert Jahre kulturelles Kriegsgedächtnis in Deutschland und Großbritannien Von Bernd Hüppauf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II.  Visualisierung und symbolische Kontextualisierung /  Visualisation and symbolic contextualisation „A record of the facts“? Britische Malerei und der Erste Weltkrieg. Das War Artist Scheme und seine Ausläufer zwischen Authentizität, Memoria und Modernismusdebattte Von Susanne Kolter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 The Faces of Mourning in British First World War Memorialisation By Mia Jones  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Der Erste Weltkrieg wird ausgestellt Von Juliane Haubold-Stolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 III.  Erinnerungswelten in Politik und Gesellschaft /  Memory cultures in politics and society Die Erinnerung der Gestürzten. Der Erste Weltkrieg in den Memoiren deutscher Fürstenhäuser Von Erik Lommatzsch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhaltsverzeichnis / Table of contents

Modernisierung und Reaktion. Zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Theorie und Praxis des Konservativismus in Deutschland Von Frank-Lothar Kroll  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Stadt und Garnison – Ereignis und Erinnerung am Beispiel von Chemnitz Von Ulrich Hertel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Verzeichnis der Autoren und Herausgeber / List of Contributors  . . . . . . . . . . . . . . 197

I. Getrenntes oder gemeinsames Erinnern? Großbritannien und Deutschland im Vergleich /  Divided or common remembrance? Britain and Germany in comparison

A Hundred Years On: Recent and Changing Views on the History of the First World War By Stephen Badsey, Wolverhampton I. Introduction The impetus of the one-hundredth anniversary of the outbreak of the First World War of 1914–18 has provided opportunities for the re-evaluation of both historical understanding of the war, and of its commemoration and remembrance.1 With the deaths of the last war veterans, the war must be understood in terms of remembrance rather than of memory, as well as in terms of its history. As fresh findings have emerged from the investigation of historical evidence, so the history of the war has been greatly modified, and these new historical findings have begun to impact on the approach to the study of remembrance. The last decade (or so) of historical research has been characterised by a new openness and new approaches, as well as fresh controversies. These have included several recent publications on the war’s origins and outbreak, on its conduct in both military and social terms, and on its aftermath. In many areas of research, old assumptions and national or regional histories, and narrower methodological approaches, are being replaced by the beginnings of a real global history for what was truly a world war. II. A Great Global War There is no single perspective on the history of the First World War that could ever embrace the entire war and all its consequences. The discussion of the historical understanding and commemoration of the war in this paper has been shaped by the choices made in placing it within the context of British and German cultures of remembrance a hundred years after the war’s outbreak. This anniversary has also provided an opportunity to reflect on how much our wider knowledge of that terrible war has increased in 1  I am grateful to Professor Dr Frank-Lothar Kroll for the invitation to speak and for making my participation in the conference such a pleasant one, to Dr Beatrice Heuser, and to my colleagues at the University of Wolverhampton, UK.

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recent years. It is popularly assumed that knowledge fades over time, as personal memory becomes scarcer and more remote. But for an event as large as the First World War the opposite has proved to be true, largely in consequence of the release and uncovering of new evidence. As historians, we know considerably more about the war than was known fifty years ago, and certainly far more than any one individual did at the time, except perhaps about their own immediate personal experience. But as a reflection of the choices in perspective that we must make as historians, there is scarcely a word in common between this present paper and a paper that I contributed in 2008 to a conference and book sponsored by the Australian War Memorial to mark the ninetieth anniversary of the end of the war.2 That paper stressed the wartime contributions of the countries of the British Empire, and the truly revolutionary changes in our recent understanding of the military history of the war, particularly the tactical and technological developments of the Western Front, that led to the Allied victory. This present paper, intended chiefly for a German and wider European (including British) readership, reflects more the political, social and cultural aspects of the war; and inevitably the war’s outbreak rather than its ending. This includes the contribution to the present historical debates of historians who are of German birth or origin, but who have found their intellectual homes in Britain or other parts of the English-speaking world. It also reflects the importance given to studying the history of Germany in the first half of the 20th Century, especially the First and Second World Wars, by a strong and distinguished group of British historians who, beginning their careers in the 1960s with the implications of the ‘Fischer Thesis’, have challenged the idea of the German ‘special path’ (Sonderweg), and tackled the ‘big questions’ of recent German history.3 In my own career as a historian, which has embraced both the military and the cultural history of warfare, including much work on the First World War, I am pleased to have the opportunity to summarise this new knowledge. Even so, this was truly a global war, and it needs an even more far reaching approach to its history to encompass it. After decades of European emigration to the rest of the world, the First World War caused a brief reversal of this trend, with unexpected and sometimes lasting consequences. There are many illustrations of this: Japanese sailors in 1917 walked the streets of Malta; while Germans in France found themselves fighting – 2  Stephen Badsey: Ninety Years On: Recent and Changing Views on the History of the First World War. In: Ashley Ekins (ed.): 1918 Year of Victory. The end of the Great War and the shaping of history. Titirangi, NZ 2010, 243–259. 3  Neil Gregor: Encumbrance of things past. Review of Richard J. Evans: The Third Reich in History and Memory. New York 2015. In: Times Higher Education. 19 March 2015, 54.



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among many other nationalities – at first Sikhs from the Punjab and Gurkhas from Nepal, and then later on fighting Americans from Wisconsin, a state that in 1910 had a majority who spoke German as their first language. Although on the Western Front the war ended at 11.00 a.m. (British time) on 11 November 1918, the fighting did not. What may be called the ‘aftershock wars’ or ‘successor wars’ to the First World War continued in regions as diverse as Mesopotamia, Ukraine and Ireland well into the 1920s. How to expand the scope of the history of the First World War was shown at the turn of the millennium by the monumental collaboration between German and American scholars studying the nature of total war, orchestrated by the German Historical Institute in London.4 Only a decade later, the sheer breadth and depth of the current approaches to the First World War has been well illustrated by the publication in 2014 (in English and French) of the new three-volume Cambridge History of the First World War, edited by Jay Winter.5 This encompassed the work of scholars of many nationalities, ranging across all countries and cultures affected, from narratives and theatres of war through to the broader role of the state at war, and the role of civil society including the war’s aftermath and memorialisation. III. Cultures of Remembrance The centenary anniversary of the outbreak of the First World War has been a particularly piquant challenge, which the British have taken extremely seriously. In October 2012, at the main London site of the Imperial War Museums, Prime Minister David Cameron announced plans for an extensive British official commemoration programme for the First World War which has now started, and which is intended to last until the end of 2018.6 For the British (and for most English-speakers), and in contrast to 4  The proceedings of successive conferences have been published: Stig Förs­ ter / Jörg Nagler: On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861–1871. Cambridge 1997; Manfred F. Boemeker / Stig Förster (eds.): Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871–1914. Cambridge 1999; Roger Chickering / Stig Förster (eds.): Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918. Cambridge 2000; Roger Chickering / Stig Förster (eds.): The Shadows of Total War. Europe, East Asia, and the United States, 1919–1939. Cambridge 2003; Roger Chickering /  Stig Förster (eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937–1945. Cambridge 2004. 5  Jay Winter (ed.): The Cambridge History of the First World War. 3 vol. Cambridge 2014 / La Première Guerre Mondiale. 3 vol. Paris 2013–14. 6  Speech by Prime Minister the Rt. Hon David Cameron, at the Imperial War Museum, London, 11 October 2012, available at: https: /  / www.gov.uk / government /  speeches / speech-at-imperial-war-museum-on-first-world-war-centenary-plans.

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the rest of Western Europe except for Belgium, it has always been the First World War rather than the Second World War which was the great tragic event of the 20th Century. The central paradox of the British experience of the First World War is that the war enjoyed massive popular support from the British civilian population from start to finish, and also largely from the populations of the British Empire; Great Britain also emerged from the war as a victor, with its territory largely unaffected, its empire at its greatest historical extent, and with its war dead – both in absolute and proportionate terms – fewer than those of France, Germany or even Italy. Despite its financial losses, Great Britain might even have been a net creditor from the war, if the emerging Soviet Union had not reneged on all the Russian Empire’s debts. But more than any other major power, Great Britain then almost immediately turned against the idea of war as a future instrument of policy, so that by the early 1920s it had become impossible for any British mainstream politician to seriously advocate deliberately embarking on a war as a praiseworthy act. This phenomenon is now explained partly by Britain being largely a satisfied power in the aftermath of the war, at least in terms of its international security, and partly by the extreme cultural shock to a country unused to peacetime conscription, and afterwards deeply disturbed both by what it had needed to do to win, and by what the consequences of another major European war might be. British commemoration of the First World War has always been first and foremost about the dead: at once its most personal and its most nationally and publically visible aspect. A century after the event, a sizeable majority of British people wish to see the First World War commemorated, and mostly they wish this commemoration to be about the dead, and about the war’s consequences for their lives today. What are for many historians the more important questions about the war – how and why it was fought, and how and why it was won – attract less British public interest. There is also a considerable British concern to avoid triumphalism. It was only with difficulty that historians have persuaded the British government to consider including a centenary commemoration of the Battle of Amiens of August 1918, General Erich Ludendorff’s famous ‘black day of the German Army’ and as good a marker as any for the moment at which the war was lost and won, alongside commemorations of British de­ feats or heavy losses, such as the Battle of the Somme in 1916 or the Third Battle of Ypres (usually known to the British as Passchendaele) in 1917.7 In present day remembrance, it is fundamental to the foundation myth of the 7  For an interesting recent discussion as to whether the Battle of the Somme should be considered an Allied or German victory see William Philpott: Bloody Victory. The Sacrifice on the Somme and the Making of the Twentieth Century. The Battle, the Myth, the Legacy. New York, NY 2009.



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European Union that the three great Franco-German conflicts – the FrancoPrussian War of 1870–71, the First World War of 1914–18 and the Second World War of 1939–45 – should be seen as European civil wars, in which all Europe and its civilisation was the loser, and in which any discussion of victory is therefore meaningless. This sits well with the perspectives of presentday Great Britain, a multicultural and diverse modern state for which the values of the British Empire of 1914–18 are very remote indeed. But it does not sit well with the myth of a unified and victorious Great Britain in the First World War, or with the importance of the wider British Empire to that victory. It is particularly hard to reconcile the idea of the First World War as a European civil war with the cultural perspectives of present-day Canada, Australia and India. For the various successor states of the British Empire and their governments, responses have been as diverse as their geographical and cultural spread. Probably no country is placing more importance on the centenary commemorations than Australia, which for decades has seen the First World War as central to its own defining national foundation myth. The responses from countries such as India and Canada have so far been rather more ambiguous. It has also proved hard to reconcile this narrative with the historical traditions formed in the old pre-unification German Democratic Republic, which like the Soviet Union took the Bolshevik Revolution of 1917 as the defining event that separated the Great War 1914–17 from the subsequent revolutionary wars 1917–1922. The impact of the First World War at the time on British society was so considerable that national government plans for commemoration of the war began in Great Britain before the war itself had actually ended, in 1917 with the establishment of the Imperial (later Commonwealth) War Graves Commission, and of the Imperial War Museum.8 The Museum began at once to collect and preserve documents and other evidence, including the world’s first national film archive, with particular attention paid to the role of British women in the war, and to the wider role of the British Empire. Commemorations of various kinds about the war have taken place ever since, and in recent decades cultural historians have produced a wealth of valuable studies on their forms and meanings. But for this centenary anniversary there are two important differences. First, the very last Frontkämpfer, the veterans of the war, are dead; there is no longer any adult personal memory of the First World War, no matter how tenuous or controversial. Although as with the loss of any human life this is perhaps a sad fact, it is not necessarily of great historical significance. Oral historians have long 8  Originally and briefly known as the National War Museum, the change of name to Imperial War Museum was made in late 1917; a further change to Imperial War Museums was made in 2011 to reflect its different sites throughout Great Britain.

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been aware of the doubtful value of personal memories at such a distance in time. In today’s world it is only a collective cultural memory that remains, presenting the challenge that any collective memory will be at variance with some of the known facts about the war. In essence, the study of commemorative cultures of war is the study of how people who are not historians have got their history wrong. The second great difference between the centenary anniversary and studies that historians have made of previous commemorations is that this time as historians we are inside the experiment, taking part in the commemoration. By perhaps late 2018, historians will have a first tentative knowledge of what has happened, and of what part historians have played in it. This is probably the one time in their lives that the present generation may think seriously about the First World War, and it represents a unique opportunity to push the boundaries of imagination and knowledge. In January 2013, Sir Hew Strachan, the only historian of the First World War on the British government’s advisory panel for its commemoration (a fact that in itself speaks volumes about the British approach) warned publicly that if the planned official commemoration ‘simply reworks the familiar themes of remembrance, it will be repetitive, sterile and possibly even boring. If we do not emerge at the end of the process in 2018 with fresh perspectives, we shall have failed’.9 IV. The British ‘Two Western Fronts’ The origins of our present historical understanding of the First Word War may be traced back about fifty years to the 1960s, to when the generation that fought in the First World War began to die of old age, leaving behind an immense mass of letters, memoirs and other evidence, supplemented by the release into the public domain of large numbers of official documents relating to the war. In the British historical tradition, publications based on this new evidence have within recent decades rewritten much of the history of the war, from the politics and grand strategies of nations through to the tactics of the battlefields, and the attitudes and beliefs of the soldiers and civilians, replacing an older narrative based chiefly on published evidence consciously provided by elites. Known originally for convenience as the ‘revisionist’ perspective (a term that has, of course, been used in many other cases, but has been particularly associated with new British views of the First World War) this approach to the British contribution to the war 9  Hew Strachan: ‘First World War Anniversary, we must do more than remember’. In: Daily Telegraph. 11 January 2013.



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also coincided to a large extent with the shift in the understanding of Germany’s war aims begun with the work of Fritz Fischer. This British revisionism in turn has prompted historical investigation into a most unusual cultural phenomenon that is still with us. The 1960s was also the time of the great youth cultural revolution and its challenge to established values. In effect, it was a rejection by many of the young of the values of their grandparents, and that meant the values and social assumptions with which the First World War had been fought. This led in Britain from the 1960s onwards to an interpretation of the experience of the war couched in terms of irony and rejection. If over the subsequent decades British historical revisionists have been arguing against anything, it has been against the position taken in Paul Fussell’s classic early work of cultural criticism The Great War and Modern Memory (1975), that the First World War had been such an exceptional and dislocating event that it could not be understood as history at all, but only through its elite literature. This debate has now largely run its course, and much of what was once revisionism may be now seen as orthodoxy among British historians. What remains a historical puzzle is how – and also when between the 1920s and the 1960s – the older elite interpretation of the First World War became almost universally accepted into wider modern British popular culture, to the extent that presentday public ‘remembrance’ of the war bears very little relation to its actual history. While this puzzle has been well explored by the work of Dan Todman and David Reynolds in particular, its implications for the very concept of any ‘commemorative culture’ of the First World War are considerable.10 It was in the 1990s that, among English-speaking historians, this new revisionist understanding of the First World War came into collision with the emerging work on the cultural history of the war coming from France and Germany. Whereas cultural historians stressed a ‘long war’ in the sense that the impact of the First World War may be considered to have never ended, along with the tragic nature of the conflict, the revisionists were concerned with the war in its own context and how it was perceived by people of the time. For cultural historians the war was a profound and enduring human tragedy, while the revisionists drew on evidence for more positive contemporary mass public attitudes, and stressed the fact of a British (and Allied) victory. In the worst aspects of the ensuing debate, while cultural historians joined some political historians in emphasising the war’s global nature and complexity to the point of virtually neglecting the fighting, some revisionists became obsessed with military details down to artil10  See Dan Todman: The Great War. Myth and Memory. London 2005; David Reynolds: The Long Shadow. The Great War and the Twentieth Century. London 2013; and also Paul Fussell: The Great War and Modern Memory. Oxford 1975.

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lery shell calibres. When cultural history drew on French postmodernist theory to discuss the war, many British revisionists, trained in a strong empiricist tradition, literally could not understand what they were saying. By the end of the decade the central problem to be overcome had been identified: most cultural historians and theorists took as their baseline the older view of the First World War, based on elite perspectives, that the new evidence unearthed by the revisionists was simultaneously destroying. It was about this time that I characterised the debate in terms of their being ‘two Western Fronts’, to reflect the existence of a historical Western Front of the revisionists in contrast with the Western Front of the imagination of literary and cultural studies.11 The rifts between historians caused by this clash of ideas about the First World War were largely healed in 2007, very appropriately at the ninetieth anniversary conference of the Battle of ­Passchendaele held at Ypres Cloth Hall. It is now accepted that in order to understand the First World War we must approach its political and military history and its cultural or ‘long’ history as related perspectives rather than as separate, and with the same rigorous attention to facts and evidence. The impact of the cultural approach and of the importance of remembrance on mainstream political and military history of the First World War is now evident. It has become usual for major works on battles or on diplomacy to include a chapter or at least a discussion on the influence of cultural research findings, or the longer term imaginative and cultural results. By way of illustration, it is increasingly difficult to discuss British perspectives on the Battle of the Somme in 1916 without reference to the British official documentary propaganda film made at the time, also called Battle of the Somme, which smashed box-office records on its release. This film is gradually becoming recognised as the essential starting point for any discussion of British civilian understanding of the Western Front at the time, and perhaps of popular understanding ever since. However, although cultural historians of the First World War have largely embraced its new military and political history, many scholars approaching the war from other disciplines, including literature and anthropology, still base their perspectives heavily on historical works that were classics of their time, but are now considerably out of date.12

11  See Stephen Badsey: The British Army in Battle and Its Image 1914–18. London 2009; Brian Bond: The Unquiet Western Front. Britain’s Role in Literature and History. Cambridge 2002. 12  See for example the contrasting perspectives in Fred Bridgham (ed.): The First World War as a Clash of Cultures. London 2006, particularly the editor’s Introduction, 1–40.



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V. Evidence Gaps and Problems The war’s centenary has offered the chance to collect yet more evidence, this time across much of Western Europe, including Britain and Ireland, starting in 2008 with the work of the Oxford Digital Archive. In a simple and non-invasive process, people are presently being invited to come forward with their letters, diaries, medals, and other war memorabilia, not to donate them, but to loan them for a few minutes while they are digitally photographed and their provenance is recorded, with the resulting images placed on the web, often with open access. Already, thousands of pieces of evidence have been recorded in this way. Many national and official archives are also making their material available on the web, including important film records made available through the European Film Gateway’s EFG 1914 Project, which opened in 2014. Once again it will take decades to work through such a substantial increase in evidence, and the extent to which the material now being gathered will confirm or contradict our findings so far is one of the most exciting prospects for the future of First World War historical study. However, for every step forward there is also a step back. One of the continuing problems of First World War studies is that the best documented national war effort is also the most unusual: that of Great Britain with its massive navy, its improvised mass army, its homeland largely untouched by the fighting, and its unique global empire. It is an accepted feature of modern understanding of the First World War that the further east across Europe historians have looked, the more they have found higher proportionate casualties, greater levels of disruption and dislocation, and more cases of disregard for what were then established laws and conventions intended to mitigate the effects of war. To this should be added that the further eastwards historians look, the harder their work becomes in obtaining access to archives and evidence, and to establishing even the basic facts and events. The National Archives of Great Britain at Kew are well known for being a pleasure in which to work; and increasing digitisation of Australian and Canadian war records means that the distances from Europe are no longer always the obstacle that they were. To consult the French official records at Vincennes still sometimes requires immense patience. Research into the German conduct of the war has always been hampered by problems of evidence, including the loss of the Prussian Army’s records in 1945, although English-speaking historians are increasingly aware of the importance of the Bavarian Army’s records in Munich. There is a notorious lack of documentation relating to Austria-Hungary, while changing political circumstances have made access to historical records in Russia increasingly difficult. The war against the Ottoman Empire, with its continuing modern resonances remains under-researched, and even with im-

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mense goodwill on all sides there are many practical problems in accessing Ottoman records. Interest is increasing in the Indian Army of the British Raj, the largest all-volunteer army in modern history, recruited chiefly from what is now northern India and Pakistan, and which played the major role in the defeat of the Ottoman Empire; but important documents still remain inaccessible. In fact, there is still so much about the First World War that remains unknown, or on which the evidence may change, perhaps with the rediscovery of an underused archive or the chance opening of a filing cabinet. We need to be less certain, and to hold our theories like a feather on the back of the hand; they are only our best assessment at the present time. It may be that major gaps in the archives and the evidence, in comparison with the detailed work of the last fifty years on Germany, France and Great Britain, have partly attracted some historians to make speculative claims about events further east, particularly in respect of the origins and outbreak of the war. While such theories may be conjectural or even wrong, it is important that they should be wrong in an interesting way. A bad historical theory or controversy will rapidly turn in upon itself, becoming a rather bad-tempered clash of unsubstantiated opinions, often about trivial or unprovable matters; a good theory or controversy is outward-looking and productive, forcing all historians back to the primary evidence and to an examination of the origins of the assumptions underpinning the existing orthodoxy. It is a trite observation that there has never been an absolute consensus on what or who caused the war, nor is there ever likely to be one. A recent and well-written summary briefly discusses eight main historical theories on the reasons for the war’s outbreak, and then dismisses all of them as unsatisfactory.13 But it has been both expected and encouraging that the war’s centenary has produced a number of new perspectives on its origins and outbreak (even disregarding a number of conspiracy theories and books of little historical merit). The chief reasons for this lack of consensus lies partly in the events of the outbreak of the war themselves, and partly in the evidence available to us today. Both in July–August 1914 and throughout the rest of the war, the governments of the major powers all went out of their way to deflect responsibility for its outbreak in public away from themselves. It was notably a major theme of German political calculation during the crisis of July–August 1914 to attempt to emulate Bismarck’s success in appearing blameless over the outbreak of his war with France in 1870–71. In those countries with some form of mass representational politics, chiefly France, Britain 13  Margaret MacMillan: The War That Ended Peace. How Europe Abandoned Peace for the First World War. London 2013. XXI–XXIII.



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and Germany (and in 1917 the United States) politicians felt it necessary to explain their country’s entry into the war to their people in simple terms: essentially that they were defending themselves. A fundamental long-term flaw in the German government’s position was the gap between its promise to its people that the war would be both short and defensive against an unprovoked attack by Russia, and its military strategy of an immediate attack on Belgium and France, with the main propaganda enemy rapidly shifted to being Britain, and the promise of a short war unfulfilled.14 Whatever ordinary people may have thought or told themselves in July– August 1914, none of the governments of the major powers were certain that this would be a short war, and the phrase ‘over by Christmas’ was never used by any high official, except possibly in hope or in irony. Although famously Kaiser Wilhelm II told his departing troops that they would be home ‘before the leaves fall from the trees’, this was not a statement agreed or cleared by his government. For France, it was not hard to explain the war to its people as defensive, but it was never promised to be short. The British government was quite open with its people about expecting a long war, and calling for volunteers for a mass army that could not be trained and ready for at least another year. Britain was not directly attacked, and the British cabinet was in July 1914 deeply divided about entry into the war. In recent years, French and German historians have successfully challenged the idea of mass war enthusiasm or crowds cheering for the war from its immediate outbreak, and the same findings have now been extended to Britain and to Ireland.15 Consequently, although the massive German violation of Belgian neutrality in early August had not been the chief consideration among Great Britain’s political decision-makers a week or so before, it was the event that united both the government and the people against what was seen as a real threat of future invasion, and made the British declaration of war certain. From start to finish, for the British people the war was about the German invasion and occupation of Belgium, and it was considered to have ended when Belgium was liberated. This also included the attitude of the British nation-in-arms as represented by the British Army; in October 1918, Field Marshal Sir Douglas Haig (commanding the British Army on the Western Front) warned his government that his soldiers would not understand continuing the war further by invading Germany. 14  This is most completely explored in David Welch: Germany, Propaganda and Total War 1914–18. London 2000, revised paperback edition: Germany and Propaganda in World War I. Pacifism, Mobilization and Total War. London 2014. 15  See notably Catriona Pennell: A Kingdom United. Popular Responses to the Outbreak of the First World War in Britain and Ireland. Oxford 2012.

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This evidence points to what is arguably a significant methodological flaw that has marred several recent books on the outbreak of the war. With some exceptions, in their narratives political and diplomatic historians stop almost with the first shots in July–August 1914, ignoring the next few months of the war’s conduct and its wider impact.16 This may seem good international law, distinguishing ius ad bellum (the legality of entering into the war) from ius in bello (the legality of conduct during the war), but it is not good history. Little distinction could be made at the time between the war’s outbreak and its first crises, either by political leaders or by the mass of the people, and the declarations were followed at once by dramatic events which played an equally critical part in determining the war’s nature. One answer to the apparently hackneyed question as to what caused the First World War is that it was caused (in the sense that its nature was determined) by the discovery over the few months after its outbreak that it could not be fought and won by methods considered before July 1914. Put even more simply, the nature of the First World War was determined by the deadlock on the Western Front, and it ended only when that deadlock was broken; a fact that places German-Anglo-French military events squarely at the heart of the war’s discourse, as part of a wider re-integration of the military history of the war with its political and cultural history that has been a marked feature of recent historiography. VI. The Post-Fischer Consensus? Despite the impossibility of any absolute agreement by historians on the outbreak of the First World War, by the start of the new millennium there existed what Annika Mombauer has usefully described as the ‘post-Fischer consensus’, strengthened by newly available documentation and other evidence.17 This consensus represented a move away from the ‘structural’ explanations for the start of the war that had developed in the 1920s and 1930s, and had remained tenable into the 1970s. In these explanations, all the major powers involved (and even minor powers, especially Serbia) bore responsibility for the outbreak of the war to some extent, but the main explanation lay in the existing political, economic and cultural undercur16  Exceptions which cover events beyond August 1914 include two works by Amer­ican scholars: Michael S. Neiberg: Dance of the Furies. Europe and the Outbreak of World War I. Cambridge, MA 2011; and Geoffrey Wawro: A Mad Catastrophe. The Outbreak of World War I and the Collapse of the Habsburg Empire. New York 2014. 17  Annika Mombauer: The Origins of the First World War. Controversies and Consensus. London 2002; see also the collected documents, Annika Mombauer (ed.): The Origins of the First World War. Diplomatic and Military Documents. Manchester 2013.



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rents. The revelations of new evidence started by Fritz Fischer shifted this towards a variety of ‘contingent’ explanations, whereby one or more powers could be shown to have deliberately sought war in July 1914. Although there have always been proposals blaming Great Britain, Russia or France, the post-Fischer consensus among historians has been that the government (rather than the people), of Germany – and with increasing emphasis the government of Austria-Hungary – deliberately sought war, although in neither case was the war that they got the war that they had wanted or expected. The idea of the Sonderweg, of Imperial Germany’s attitudes towards the conduct of war both before and after 1914 as revolutionary or exceptional when compared to other European states, has been greatly strengthened by recent pathbreaking historical research. This has included work on the contemporary laws of war by Isabel Hull,18 a monumental biography of Kaiser Wilhelm II by John Röhl, and a valuable military biography of Moltke as chief of staff by Annika Mombauer, works which between them provide strong evidence for a German government intention for war in 1914.19 After several decades of near-adulation by military historians (notably in the United States) of the German Army of 1870–1945, both recognition of its shortcomings and criticism of its warfighting methods are now growing. This includes increasing acceptance of the fact of German Army war crimes in Belgium in 1914 and later. Information is also starting to emerge as to the extent of Russian Army war crimes against German civilians in East Prussia in August 1914; and Austro-Hungarian Army war crimes against Russian and Serbian civilians.20 In 1914 the commencement of hostilities by almost all European armies, including the Ottoman forces in November, was accompanied within a very short time-frame by an accompanying large-scale massacre of civilians; the exceptions to this general rule being the French and the British. Just as it took decades for the post-Fischer consensus to emerge among historians, so it will take an equivalent time for the new challenges made 18  Isabel V. Hull: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany. New York, NY 2005; and A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War. Ithaca, NY 2014. 19  The three-volume biography is: John C. G. Röhl: Young Wilhelm. The Kaiser’s Early Life, 1859–1888. Cambridge 1998; Wilhelm II The Kaiser’s Personal Monarchy, 1888–1900. Cambridge 2004; and Wilhelm II: Into the Abyss of War and Exile, 1900–1941. Cambridge 2014; an abridged version is: John C. G. Röhl: Kaiser Wilhelm II. A Concise Life. Cambridge 2014. The Moltke biography is Annika Mombauer: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War. Cambridge 2001. 20  See the interesting comparison by Alexander Watson: Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary at War 1914–1918. London 2014. 127–200; also John Horne and Alan Kramer: German Attrocities 1914. A History of Denial. New Haven 2001; Jeff Lipkes: Rehearsals. The German Army in Belgium, August 1914. Leuven 2007.

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to it to be evaluated. One approach, championed in part by Holger Afflerbach and by Michael Neiberg, marks a return to a more structural explanation, with the idea that war was seen as becoming less and not more likely as every crisis before July 1914 was successfully resolved.21 But if the structural idea of an inevitable war appealed as a historical model to 1960s theorists wrestling with the possibility of nuclear war, so this belief that the crisis of July 1914 could also have been defused and the old order preserved has somewhat derived from the peaceful ending to the cold war in the 1990s, and the forming of the European Union. But unlike the earlier structural approach, this view still places responsibility for the war on small numbers of highly-placed political decision-makers, rather than on large and impersonal social forces or on a groundswell of popular opinion demanding war. This approach also does not conflict with the idea that the political and military leaders of Germany actively sought war in July 1914, or at the very least that they were irresponsible in ignoring the obvious likelihood that a European-wide war would result from their behaviour. By asking if the actual historical outcome of July–August 1914 was itself improbable, this argument has also raised a matter with which many historians remain very uncomfortable: the role of chance or random events in history, and the present interest among some historians in whether counterfactual history has a serious role in historical studies.22 VII. New (and Revived) Theories There are few historians who take seriously the German propaganda position of July–August 1914 that Great Britain was responsible for starting the war; but one of the most valuable examples of a good controversy has recently been generated by the British naval historian Nicholas Lambert, in his book Planning Armageddon.23 Taking its narrative well into 1915, this book argues that the British had planned in some detail to take advantage of changes in international finance and shipping in the event of war, to 21  Holger Afflerbach / David Stevenson (eds.): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914. New York 2007; Nei­ berg: Dance of the Furies (Note 16). 22  See Stephen Badsey: If It Had Happened Otherwise. First World War Exceptionalism in Counterfactual History. In: Jessica Meyer (ed.): British Popular Culture and the First World War. London 2008; Jeremy Black: What If? Counterfactualism and the Problem of History. London 2008; and for a critical dismissal of the possibility Richard J. Evans: Altered Pasts. New York, NY 2014. 23  Nicholas A. Lambert: Planning Armageddon. British Economic Warfare and the First World War. Cambridge, MA 2012; this makes an interesting comparison with Watson: Ring of Steel (Note 20).



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destabilise and collapse German finances in a matter of weeks through naval ‘economic warfare’ restricting trade, and so win a short war chiefly by naval power, with the despatch of the British Expeditionary Force as a secondary and almost irrelevant matter. It is further argued that this ambitious British plan backfired when it was implemented in August 1914, proving so successful that it nearly destabilised the British, American and global trading financial structure as well, and had to be abandoned in favour of a more conventional ‘blockade’ (the British never declared a blockade of Germany in the legal sense). Lambert’s thesis is valuable for highlighting the several different historians’ perspectives that presently exist on the same events: the naval historians’ account of the blockade; the social, economic and cultural historians’ account of the impact of the blockade on Germany; and the political and military historians’ account of the relationship between the blockade and the defeat of the German Army in the West in 1918; all overlaid with the considerable propaganda programmes on all sides, which still remain largely neglected areas for research. It is probably beyond the scope of any one historian to possess expert knowledge of all these fields, which strongly suggests the need for a unified approach. It is also significant that Lambert has argued that the British failure to create a single ministry or political institution to direct this form of economic warfare, together with a corresponding failure to create an institutional memory and official history or record, led to its being neglected until his own re-discovery of its importance. The same argument could be made for British propaganda, which together with the naval blockade were held by the German stab-in-the-back myth (Dolchstosslegende) to have been the two decisive (and illegal or immoral) Allied weapons. Again, this suggests the need for a unified and comparative approach. It may also be observed in passing that, although the land warfare and the naval warfare of the First World War has been increasingly understood in these much wider contexts, the history of air warfare, an almost entirely new form of manufacture and technology developed during the war, although it has attracted the attention of historians interested in its mythology and fictional representation, otherwise remains stuck in an apparently endless repetition of the war of the ‘Aces’ and the story of Baron von Richthofen. The gaps and problems already noted in the historical record of the Russian Empire and the Ottoman Empire have also prompted for the centenary a revival and re-examination of possible culpability for the outbreak of the First World War. Sean McMeekin has placed responsibility squarely on the Russian Empire, or more exactly on its foreign minister Sergei Sazanov. McMeekin’s thesis is that for more than a century before 1914 France and Great Britain were the two greatest opponents of Russian expansion, but

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that the diplomatic revolution of 1902–7 presented Russia with a historic opportunity in July 1914 to provoke a European war, in which France and Britain would fight Germany, leaving Russia with its best chance for an expansionist war against the Ottoman Empire which broke out in November, with the object of securing Constantinople and other territory.24 Although this account continues up to the Russian revolution, in a second book McMeekin follows only the day-by-day crisis of July 1914, and concludes dramatically that not only were the Russians’ chiefly to blame, but that the German political and military high command fell ‘kicking and screaming’ into an Austrian trap that pulled them into the war.25 All recent accounts of the July–August crisis have stressed the incoherence and unreality of Austro-Hungarian decision-making. The book that has provoked the most popular interest for the commemoration of the outbreak of the war, and a very interesting challenge to the post-Fischer consensus, has been Christopher Clark’s The Sleepwalkers (Die Schlafwandler), which has become a particular bestseller in Germany and also in Austria.26 In a stimulating argument, Clark has gone back to the structural position of the 1920s and 1930s: that no country’s government was without fault, and that therefore a moral equivalence and shared responsibility may be attributed to them all. The effect of this revived argument is actually to shift blame away from Berlin, emphasising the brutality and instability of the Serbian state in 1914, the incoherence of AustriaHungary, the close links between France and Russia, and the ambiguous position of Great Britain, leaving the higher rulers of Germany as only one group of error-makers among many. Clark explains his title on his last page, stating with disarming honesty that his thesis cannot explain the decisions for war in rational terms, suggesting that ‘they knew it, but did they really feel it?’ and that ‘the protagonists of 1914 were sleepwalkers, watchful but unseeing’.27 Putting aside these metaphysical musing, it is a well-known principle that if a theory cannot explain the evidence, then it is not the evidence that is at fault. It has already been suggested that Clark’s thesis is ‘brilliant but flawed’, and that in reviving the idea that all sides were to blame for the outbreak of the war he has not just returned to a previously 24  Sean McMeekin: The Russian Origins of the First World War. Cambridge, MA 2011; McMeekin’s thesis would evoke more confidence if he did not describe David Lloyd George as a ‘Unionist’ politician (215). 25  Sean McMeekin: July 1914. Countdown to War. London 2103; the quotation is on 405. 26  Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2012 / Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013. 27  Ibid., 562.



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discarded theory, but actually disregarded the considerable body of evidence that has led to its being abandoned.28 What is much more disturbing, in terms of cultures of remembrance, is that the immense popularity in Germany and Austria of this revival of the structural approach of no-one being to blame suggests a continuing need for the present-day people of those countries to be personally absolved from responsibility for an event with which they have no actual connection, and which their commemorative culture has badly misunderstood. The handful of (mostly) men who made the decision for war in July–August 1914 are long dead, and the war that they began was not – in itself and automatically – the catastrophe that was shortly to become the Great War of 1914–1918. VIII. Conclusion Within months of the war’s outbreak, it became evident that the major powers had to do two things: to outfight their enemies but also to outlast them, hence the intimate connection between their armed forces and their home societies in prosecuting the war. Historians now use the term ‘remobilisation’ to describe the successive processes whereby the German, French, British and even Russian governments sought to direct their industry and populations to continue the war. The essential components of fighting power, matériel and firepower on one side, morale and societal cohesion on the other, were complementary rather than as separate. For all major powers, the crisis year came in 1917, and by the end of that year the armies and navies that had not mutinied and the countries that had not collapsed into revolt or revolution had all shown remarkable resilience. In addition to the collapse of Imperial Russia, there were significant mutinies in the French, Austro-Hungarian and Ottoman armies, and in the German Imperial Navy. The extent of the collapse of the German Army in 1918 is a matter for some debate, paradoxically because the scale of that collapse meant that its documentary records are so poor. All of these matters will continue to be the subjects for historical investigation, and proposed new theories and revisionism, as the anniversary years of the First World War continue through to the end of 2018 and beyond. Recent research is only just starting to answer the questions posed (sometimes rhetorically) by cultural historians in the 1970s: just how the mass of people in all belligerent countries fought, endured and perceived the war. It was previously a cliché that the experience of combat alienated soldiers from civilians, that no-one 28  John C. G. Röhl: Goodbye to all that (again)? The Fischer thesis, the new revisionism and the meaning of the First World War. In: International Affairs. 91.1 (2015), 153–166.

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who had not been a Frontkämpfer could have any notion of what they had endured. While this was certainly literally true of the First World War, as of all other wars, recent research has stressed the extent to which serving soldiers took their civilian culture with them to war, and the degrees to which their political and military leaders recognised and responded to this.29 One recent finding which remains controversial, even though the evidence for it appears presently overwhelming and is getting stronger, is that by the middle of the war, the average British civilian, letter-writing, newspaperreading and cinema going, with a friend or relative serving in the armed forces, had a quite realistic understanding of the nature of the fighting fronts, including the levels of casualties, and yet still broadly supported fighting the war through to a victory. The same may yet be possibly said, with qualifications, of the German or French home fronts, although the levels of state censorship and misleading propaganda appear to have been correspondingly higher. From a distance of a hundred years, this is so very hard for us to understand that some historians have simply rejected or refused to come to terms with it. Such evidence warns us that, although we appear to know so much about them, in our continuing study of the First World War we are dealing with societies utterly unlike our own.

29  See in particular Adrian Gregory: The Last Great War. British Society and the First World War. Oxford 2008; and Alexander Watson: Enduring the Great War. Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914–1918. Cambridge 2008.

Der Erste Weltkrieg in der deutschund englischsprachigen Historiographie Neue Literatur und alte Debatten zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns Von Martin Munke, Dresden I. Nachdem er in Deutschland lange im Schatten des Zweiten Weltkriegs blieb, hatte auch der Erste Weltkrieg im 100. Jubiläumsjahr seines Beginns den Weg zurück in die Schlagzeilen gefunden: Die Bücherläden boten Sondertische mit hohen Stapeln voluminöser Neuerscheinungen an, in den Feuilletons wurde über die Lehren für die Gegenwart debattiert, an den Universitäten reihten sich eine Tagung und eine Ringvorlesung an die nächste, allein 2014 fanden um die 50 Ausstellungen zum Thema statt.1 Inhaltlich stand dabei häufig noch immer die Deutung der Kriegsgründe im Vordergrund, auch wenn anders als früher eher von „Verantwortlichkeiten“ gesprochen wird und die Rolle des Schuldbegriffs des Versailler Vertrages in der Forschung zunehmend zurückgeht – in den Titeln des Feuilletons wurde er gleichwohl prominent bedient.2 Die Beantwortung der „Schuldfra1  Vgl. Manfred Sapper / Volker Weichsel: Editorial. In: Osteuropa 64 (2014), H. 2–4, 5–6, hier: 5. Eine umfassende Bestandsaufnahme v. a. der 2013 / 14 erschienenen Literatur bietet die (weitgehend deskriptive) Sammelbesprechung von Eckhart G. Franz: „Schlafwandler“isch in die „Urkatastrophe“. Literaturbericht zum Jahrhundert-Gedenken des Ersten Weltkrieges. In: Archiv für Hessische Geschichte 72 (2014), 325–362; für einen international orientierten Überblick zur Forschungsgeschichte v. a. der letzten 25 Jahre siehe Iris Rachamimow: „Zivilhistoriographie“ des Ersten Weltkrieges. Der Erste Weltkrieg in der jüngeren akademischen Forschung. In: Galili Shahar (Hrsg.): Texturen des Krieges. Körper, Schrift und der Erste Weltkrieg. Göttingen 2015 [= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 43 (2015)], 21–52.  – Alle zitierten Internetquellen wurden zuletzt am 6.  Juni 2017 aufgerufen. 2  Vgl. prototypisch einer der frühesten Interventionen von Volker Ullrich: Nun schlittern sie wieder. In: Die Zeit, 16. Januar 2014. Für die Einordnung in den Forschungskontext siehe Annika Mombauer: Guilt or Responsibility? The HundredYear Debate on the Origins of World War I. In: Central European History 48 (2015), 541–564, auf deren Beitrag zurückzukommen sein wird.

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ge“ (oder eben der Frage nach der Verantwortung3) konnte also noch einhundert Jahre nach Kriegsausbruch und fünfzig Jahre nach den schulbildenden Thesen und Publikationen des Hamburger Historikers Fritz Fischer (1908–1999)4 kontroverse Debatten auslösen, und das nicht nur unten den Historikern, die sich von Haus aus damit befassen. Die dabei häufig anzutreffende deutsche Nabelschau stand (und steht) im auffälligen Kontrast zu den Diskussionen in den damals zumindest nominell siegreichen Nachbarländern wie Großbritannien und Frankreich, in denen der „Große Krieg“ – eine Bezeichnung, die mittlerweile auch im deutschen Sprachraum vermehrt verwendet wird5 – auch gesellschaftlich seit jeher ein höheres Prestige genoss und über Gedenkveranstaltungen stets präsent war.6 Nur so ließ sich auch die große Wirkung eines kontrovers diskutierten Werkes wie Niall Fergusons „The Pity of War“7 erklären, das althergebrachte Annahmen radikal in Frage stellte, etwa ein Überleben des Empires prognostizierte, so sich Großbritannien aus dem Krieg herausgehalten hätte, und seinem Heimatland überhaupt einen großen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch beziehungsweise dessen Ausweitung zum Weltkrieg zuschrieb. Auch in Deutschland schien 2014 die Zeit reif für partielle Neubewertungen jenseits der überkommenen „Sonderwegsthese“8 mit ihrer eu3  Ein Begriff, der schon in einer der klassischen Darstellungen der Julikrise von Barbara Tuchman: The Guns of August. New York, NY 1962 [zuletzt 2012]. Dt. Übers.: August 1914. Aus dem Amerikan. von Grete und Karl Eberhard Felten. Bern 1964 [zuletzt Frankfurt am Main 2013] eine zentrale Rolle spielte. Zu Tuchmans Buch siehe zuletzt Bernd Greiner: Casino Royale. Barbara Tuchmans Klassiker über die Anfänge des Ersten Weltkriegs. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), H. 4, 16–29. 4  Zur „Fischer-Kontroverse“ der 1960er Jahre siehe unten, Kap. III. 5  Vgl. Jost Dülffer: Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg. In: Osteuropa 64 (2014), H. 2–4, 351–367, hier: 352. Ein Beispiel ist Stig Förster: Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg. In: Neue Politische Literatur 60 (2015), H. 1, 5–25, hier: 21, v. a. aber die Gesamtdarstellungen von Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin 2014 und von Oliver Janz: 14. Der große Krieg. Frankfurt am Main / New York, NY 2013. 6  Vgl. Wencke Meteling: Neue Forschungen zum Ersten Weltkrieg. Englisch- und französischsprachige Studien über Deutschland, Frankreich und Großbritannien. In: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), 614–648, hier: 614–623 als Zusammenfassung der damaligen Themen und Debatten in Großbritannien und v. a. in Frankreich; für Großbritannien außerdem den Beitrag von Stephen Badsey in diesem Band, 15–18. 7  Niall Ferguson: The Pity of War. Explaining World War I. New York u. a. 1998. Dt. Übers. (unter Auslassung wesentlicher Bestandteile des Werks): Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert. Aus dem Engl. von Klaus Kochmann. München 1999 [zuletzt 2013]. 8  Maßgeblich vertreten in der Synthese von Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte I: Vom Ende des Alten Reiches bis zum



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ropäische Vergleichsmaßstäbe weitgehend ignorierenden Zentrierung Deutschlands – unter anderem eben gerade in der Frage nach den Verantwortlichkeiten für den Kriegsausbruch, aber bei weitem nicht nur dort.9 Den größten Eindruck machte dabei zunächst Christopher Clarks Ende 2013 in deutscher Übersetzung erschienenes Werk „Die Schlafwandler“ über Julikrise und Kriegsausbruch.10 Die umfassende Studie des in Cambridge lehrenden australischen Historikers avancierte innerhalb kürzester Zeit trotz des akademischen Stils11 zum Bestseller und hielt sich bis in die zweite Jahreshälfte 2014 in den „Top Ten“ der entsprechenden Liste des Magazins „Der Spiegel“. Clark warf in seiner Analyse der Mitte des Jahres 1914 unter anderem einen genaueren Blick auf Serbien, das in Gesamtdarstellungen bisher eher am Rand betrachtet worden war.12 Doch auch die Forschungsergebnisse zu den anderen am Kriegsausbruch beteiligten Staaten bündelte er auf beeindruckende Weise in einer Synthese, die die komplexen Ereignisse der Julikrise zu entwirren und in ihren internationalen Bezügen analytisch zu deuten vermochte.13 Entgegen mancher Behauptungen wurde der deutsche Anteil am Kriegsausbrauch bei alledem keineswegs „verblüf-

Untergang der Weimarer Republik; Deutsche Geschichte II: Vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000 [zuletzt 2014]. 9  Vgl. Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013, 7–10. 10  Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914. London 2012. Dt. Übers.: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Engl. von Norbert Juraschitz. München 2013. 11  Anlässlich des 100. Jahrestags erschien zudem eine Reihe populär gehaltener Einführungen unter Beteiligung der bekannten Fachexperten; vgl. etwa Nicolas Beaupré u. a.: Der Erste Weltkrieg. Hrsg. in Zusammenarbeit mit Damals – das Magazin für Geschichte. Darmstadt / Stuttgart 2013. Auch die Geschichtsmagazine der großen deutschen Wochenzeitungen und -magazine brachten entsprechende Ausgaben; vgl. Zeit. Geschichte. Epochen. Menschen. Ideen (2014), Nr. 1 („Der Erste Weltkrieg. 1914–1918. Der Große Krieg: Wie er begann und wie die Menschen ihn erlebten“); Der Spiegel Geschichte (2013), Nr. 5 („Der Erste Weltkrieg. 1914–1918: Als Europa im Inferno versank“). 12  Zur Kritik an Clarks Deutungen vgl. Marie-Janine Calic: Kriegstreiber Serbien. Die Südslawen und der Erste Weltkrieg: eine Richtigstellung. In: Osteuropa 64 (2014), H. 2–4, 43–58. 13  Gut herausgearbeitet wird diese Komplexität auch bei Margaret MacMillan: The War That Ended Peace. How Europe Abandoned Peace for the First World War. London 2013, die in ihrer Schilderung der Entwicklungen hin zum Kriegsausbruch unter Konzentration auf die politischen und militärischen Führungseliten nicht nur wie Clark bis zur Jahrhundertwende, sondern bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht und ebenfalls die gesamteuropäischen Entwicklungen in den Blick nimmt. In seiner präzisen Zusammenfassung des Forschungsstandes ohne neue Details zu liefern, richtet sich das Buch durchaus auch an ein Publikum jenseits der Spezialisten.

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fend einseitig [verwischt]“14, jedoch in einen größeren europäischen Kontext gestellt, der von den „Sonderweglern“ zumeist ignoriert wurde. Auf Clarks „Schlafwandler“15 folgten zahlreiche weitere Publikationen, von denen viele auch in den Feuilletons besprochen wurden. Neben diesen Debatten in den großen Zeitungen und Zeitschriften, die gleichwohl vielfach von den Fachhistorikern bestritten wurden, sollen im Folgenden eher die eigentliche, in den Fachzeitschriften ausgetragene Fachdiskussion der Jahre 2014 / 15 untersucht und die zugrundeliegenden historiographischen Werke in den Blick genommen werden. Angesichts der Fülle an Neuerscheinungen zum Thema sowohl in der deutsch- als auch in der englischsprachigen Geschichtswissenschaft kann es sich dabei notwendigerweise nur um einen Ausschnitt handeln.16 Anhand der Auswahl sollte es gleichwohl gelingen, einige Thesen zu den aktuellen Tendenzen der Forschung zu entwickeln. Zunächst werden dazu maßgebliche Veröffentlichungen kursorisch vorgestellt. Danach soll gezeigt werden, wie eine hauptsächlich ältere Historikergeneration im Jubiläumsjahr eine Reihe bekannter (und teilweise veralteter) Thesen in neuer Form zu popularisieren suchte, bevor 14  Hans-Ulrich Wehler: Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.  Mai 2014. URL: http: /  / www.faz.net / aktuell / feuilleton / buecher / literatur-zum-gedenkjahr-beginn-einer-neuen-epoche-der-weltkriegsgeschichte-12924342.html. 15  Eine Begriffsprägung, die bei aller Zustimmung in ihrer inhaltlichen Nähe zur Formulierung des britischen Premierministers David Lloyd George (1863–1945), die beteiligten Staaten seien „ohne ein Spur von Angst oder Besorgnis“ in den Krieg „gerutscht“ bzw. in der geläufigeren Übertragung „geschlittert“ (hier zit. nach Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn u. a. 2014, 7)  – im Original: „slithered into the boiling cauldron of war“ –‚ auch einige Kritik erfahren hat. Der von Jost Dülffer verwendete Begriff der „Pokerspieler“, die sich kollektiv verpokerten (vgl. Dülffer: Die geplante Erinnerung [wie Anm. 5], 354) – ähnlich „Zocker“ bei Greiner: Casino Royale (wie Anm. 3), 20 f., 28 f. in der Interpretation von Barbara Tuchmann –, erscheint mit Blick auf seinen aktivischen Gehalt gegenüber den eher passiv scheinenden „Schlafwandlern“ vielleicht passender. 16  Einen aktuellen, wertvollen Überblick zum Gang der internationalen Forschung zum Ersten Weltkrieg unter Konzentration auf die europäischen Geschehensräume bietet der Band in der bewährten Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von Elise Julien: Der Erste Weltkrieg. Darmstadt 2014, entsprechend der Reihenkonzeption gerade mit Blick auf umstrittene Themen und mit einer umfassenden Bibliographie von 850 Einträgen. Den Anspruch, „neue Wege der Forschung“ aufzuzeigen, kann der in der ebenfalls sehr verdienstvollen parallelen Reihe erschienene Band von Wolfgang Kruse (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Darmstadt 2014 dagegen nur bedingt einlösen. Zwar finden sich unter den hier vorgenommenen Zweitabdrucken durchaus zentrale Beiträge zur Forschungsdiskussion ihrer jeweiligen Zeit, die aber teilweise mehr als 40 und im Durchschnitt 20 bis 25 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nur noch bedingt den aktuellen Stand wiedergeben.



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abschließend der Versuch einer Einordnung der Debatten unternommen wird.17 II. Den Ausgangs- und Bezugspunkt für einen Großteil der späteren Wortmeldungen bildete Christopher Clarks fulminante Interpretation der Julikrise des Jahres 1914, die den Publikationsreigen zur Zentenarfeier eröffnete und schon deshalb die Aufmerksamkeit zunächst bündeln konnte. Clarks Synthese ordnet sich allerdings ein in eine Reihe weiterer Versuche, den Kriegs­ ausbruch neu in den Blick zunehmen.18 Entsprechende Darstellungen wurden dabei hauptsächlich aus der angloamerikanischen Wissenschaft vorgelegt. Ähnlich wie Clark setzte der US-amerikanische Historiker Sean McMeekin, der mehrere Jahre in Ankara und Istanbul lehrte, neue Schwerpunkte.19 Anknüpfend an seine Untersuchung zum russischen „Weg in den Krieg“20 nahm er vor allem die Auseinandersetzungen zwischen dem Russländischen und dem Osmanischen Reich in den Blick, ein in „westlichen“ Darstellungen allgemein eher unterbelichtetes Kapitel. Darstellerisch eng orientiert am Handlungsablauf nach dem Attentat vom 28. Juni, analysiert der Autor gleichwohl die übergeordneten Zusammenhänge und vermag auf der Basis russischen und türkischen Quellenmaterials21 besonders hinsichtlich der 17  Dies erfolgt mit Schwerpunkt auf der Rezeption von deutsch- und englischsprachigen Beiträgen – teilweise in Übersetzung – in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Für die britischen Kontexte vgl. – mit teilweise gegensätzlichen Wertungen – den Beitrag von Stephen Badsey in diesem Band, 24–29. 18  Vgl. als konzisen Überblick und Einordnung in die Forschungsgeschichte Keith Neilson: 1914. The German War?. In: European History Quarterly 44 (2014), H. 3, 395–418; eine luzide, vergleichende Betrachtung der Werke zur Julikrise bietet in deutscher Sprache Andreas Rose: Ein neuer Streit um die Deutungshoheit? Neuere Literatur zu den Kriegsursachen von 1914. In: H-Soz-u-Kult, 30. Juli 2014. URL: http: /  / www.hsozkult.de / publicationreview / id / rezbuecher-21344. Für die zwischen 2010 und 2012 im englischen Sprachraum zum Thema erschienenen Titel vgl. Arndt Weinrich: „Großer Krieg“, große Ursachen? Aktuelle Forschungen zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 40 (2013), 233–252. 19  Sean McMeekin: July 1914. Countdown to War. New York, NY 2013. Dt. Übers.: Juli 1914. Der Countdown in den Krieg. Aus dem Amerikan. von Franz Leipold. Berlin / München / Wien 2014. 20  Sean McMeekin: The Russian Origins of the First World War. Cambridge, MA u. a. 2011. Dt. Übers.: Russlands Weg in den Krieg. Der Erste Weltkrieg – Ursprung der Jahrhundertkatastrophe. Aus dem amerikan. Engl. von Franz Leipold. München / Berlin / Wien 2014. 21  Anzunehmen, dass die „Quellenbasis seit der ersten Phase der Aufarbeitung des Juli 1914 nahezu dieselbe geblieben [sei]“ – so Krumeich: Juli 1914 (wie

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Rolle Russlands wichtige Akzente zu setzen. Dabei neigt er jedoch ein Stück weit dazu, den russisch-osmanischen Gegensatz zu stark in den Mittelpunkt zu stellen und die gesamte Entwicklung im Juli 1914 unter diesem Blickwinkel zu betrachten.22 Eine ähnlich minutiöse Darstellung steuerte der an der University of East Anglia wirkende Historiker Thomas Otte bei.23 Einen besonderen Schwerpunkt legt er darin auf die Schilderung der Handlungen der beteiligten Akteure, bietet mithin eine Diplomatiegeschichte klassischer Prägung.24 Hierin gelingt es ihm, „Verantwortlichkeiten, Fehlkalküle und Erwartungen“25 auf allen Seiten differenziert aufzuzeigen. Einzig die Rolle Großbritanniens wird besonders in Person von Edward Grey weit positiver beurteilt als etwas bei Clark oder McMeekin, worin Otte an ältere Forschungspositionen anknüpft.26 Ähnlich argumentiert der Journalist und Militärhistoriker Max Hastings, der im Titel George F. Kennans (1904–2005) Charakterisierung des Weltkriegs als „Urkatastrophe“ aufgreift.27 Die klassische chronologische, an der Ereignisgeschichte orientierte Darstellung geht über die Julikrise hinaus und schildert die britische Perspektive auf das Kriegsgeschehen bis zum Jahresende.28 Die Schuld („blame“) des Deutschen Reiches erscheint ihm als Anm. 15), 9 – zeigt vor diesem Hintergrund wohl eher den Unwillen, sich mit diesen neuen Funden auseinanderzusetzen. 22  Kritik wurde außerdem an McMeekins „offen apologetische[r] Haltung“ zum türkischen Genozid an den Armeniern geäußert, bei dem er ebenfalls eine russische Mitverantwortung konstatiert; vgl. die Rezension von Markus Osterrieder. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas / jgo.e-reviews 62 (2014), H. 4, 605–608, hier: 608. URL: http: /  / recensio.net / r / 01331bc0a54e4ab4b7a87e0479b7206f. 23  T[homas] G. Otte: July Crisis. The World’s Descent into War, Summer 1914. Cambridge 2014. 24  Vergleichbar mit MacMillan: The War That Ended Peace (wie Anm. 13). 25  Jost Dülffer: Einhundert Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014. In: Osteuropa 64 (2014), H. 11 / 12, 45–58, hier: 49. 26  Ganz verhaftet in diesen Positionen – und im methodischen Ansatz einer klassischen Militärgeschichtsschreibung, der hier zudem noch ganz ohne Nachweise auskommt – ist der Beitrag des Publizisten und ehemaligen Militärs Allan Mallinson: 1914. Fight the Good Fight. Britain, the Army and the Coming of the First World War. London u. a. 2013, der das Narrativ des „guten Krieges“ unhinterfragt schon im Titel fortschreibt. 27  Max Hastings: Catastrophe. Europe goes to war. London / New York 2013. Ähnlich – wenn auch nur in der übersetzten Fassung – McMeekin: Russlands Weg in den Krieg (wie Anm. 20) und Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Mit einem Vorw. von Gerd Krumeich. Darmstadt / Stuttgart 2013, das eine kulturhistorisch fundierte Einführung aus französischer Perspektive bietet. 28  Vergleichbar geht Mark Bostridge: The Fateful Year. England 1914. A Year that Began in Peace and Ended in War. London u. a. 2014 vor, der ein umfassendes



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eindeutig, der Krieg in Abgrenzung von Niall Ferguson als unbedingt notwendig; hätten bei einem deutschen Sieg doch „Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie“ in Europa eine „schreckliche Strafe bezahlt“29, die territorialen Eroberungsziele hätten sich kaum von denen der Nazis unterschieden – eine englisch-nationale Perspektive, die unter anderen Vorzeichen so auch bei den deutschen „Sonderweglern“ Zustimmung findet. Nicht in dieser massiven Zuspitzung, aber in der grundsätzlichen Ausrichtung und in der Verteilung der Verantwortung zumindest teilweise vergleichbar ist der einzige ausführlichere30 Beitrag aus der deutschsprachigen Wissenschaft von Gerd Krumeich, der eine Bilanz der Forschungen zur Julikrise verspricht.31 Dies vermag jedoch kaum gelingen, wenn der Autor im abschließenden Kapitel über den Gang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema freimütig eingesteht, damit „nicht den Anspruch [zu verfolgen], die aktuelle Forschung en détail zu resümieren“32. Entsprechend endet dieser Überblick bereits in den 1960er Jahren. Eigentlich einer der profiliertesten Kenner der Materie – besonders mit Blick auf die französische Politik der Zeit –, verharrt Krumeich auch in der an sich sehr prägnanten Darstellung der Entwicklungen hin zum Kriegsausbruch allzu sehr in einer Schilderung der Entwicklungen im Kaiserreich (und in der Habsburgermonarchie), die Rolle Frankreichs, Englands und Russlands erscheint unterbelichtet. Dass hier die „Perspektiven zurechtgerückt [wür­ den]“33, kann man so kaum behaupten; stattdessen wird die Deutschland­ fixierung des Deutungsansatzes von Fritz Fischer – zu dessen Differenzierung Krumeich viel beigetragen hat – fortgeschrieben. Wenig Neues bie­tet denn auch der Dokumentenanhang, der zahlreiche Quellen hauptsächlich zu den Mittelmächten versammelt, die bereits an anderer Stelle und zum Teil mehrfach publiziert worden sind, mehr als vier Fünftel davon schon 1965 durch den Fritz Fischer-Schüler Imanuel Geiss (1931–2012).34

Panorama der englischen Gesellschaft im gesamten Jahr des Kriegsbeginns entfaltet und anhand vieler biografischer Schlaglichter besonders die erfahrungsgeschichtliche Ebene bedient. 29  Hastings: Catastrophe (wie Anm. 27), 563 („[…] freedom, justice and democracy would have paid a dreadful forfeit“). 30  Zum knappen Einführungsband von Annika Mombauer: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg. München 2014 siehe unten, Kap. III. 31  Krumeich: Juli 1914 (wie Anm. 15). 32  Ebd., 183. Hervorhebung im Original. 33  Förster: Hundert Jahre danach (wie Anm. 5), 10. 34  Imanuel Geiss (Hrsg.): Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965 [zuletzt 1986]. Vgl. Rose: Ein neuer Streit um die Deutungshoheit? (wie Anm. 18), [10] (pdf-Fassung).

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Neben diesen Übersichten und Analysen zum Kriegsausbruch ist anlässlich des Zentenariums eine Reihe von Gesamtdarstellungen erschienen, die eine umfassende Analyse und Deutung des Geschehens anstreben.35 Für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft ist hier zunächst das Werk des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler zum „Großen Krieg“ zu nennen.36 Chronologisch vorgehend und weitgehend konventionell darstellend, schildert Münkler die militärischen Entwicklungen, ihre technischkulturellen Implikationen und ihre politischen Grundlagen und Auswirkungen. Der Schwerpunkt des in Deutschland viel verkauften Werkes liegt vor allem auf dem europäischen Geschehensraum (und darin besonders im Deutschen Reich), der im Untertitel angedeutete Anspruch einer globalen Betrachtung wird eher ansatzweise eingelöst. Die Einordnung der Julikrise in die geopolitischen Zusammenhänge der Zeit zeigt eindrücklich die He­ rausforderungen und die Undurchsichtigkeiten der Situation von 1914, womit zurecht eine „Absage an alle einfachen, linearen Erzählungen“37 einhergeht. Als Ideenhistoriker stellt Münkler darüber hinaus einige Überlegungen zur Theorie des Krieges an – der Erste Weltkrieg als „Laboratorium“ der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts38 – und erörtert eindrücklich die Wechselwirkungen zwischen Kampffront und Heimatfront, zwischen Militärischem und Zivilem. Letztere Aspekte werden ebenfalls ausführlich und instruktiv behandelt in der von der Fachwelt durchweg am positivsten39 aufgenommenen, in der interessierten Öffentlichkeit allein schon aufgrund des Umfangs von mehr als 1.150 Seiten dagegen weit weniger rezipierten Studie des Freiburger Historikers Jörn Leonhard mit dem programmatischen Titel „Die Büchse 35  Zu den Herausforderungen eines solchen Unternehmens vgl. Christoph Nübel: Neue Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs. Themen, Tendenzen, Perspektiven. In: H-Soz-Kult, 8.  Juli 2011, URL: http: /  / www.hsozkult. de / literaturereview / id / forschungsberichte-1114, 31–34, der zugleich prägnant die Forschungsergebnisse der zweiten Hälfte der 2000er Jahre resümiert. 36  Münkler: Der Große Krieg (wie Anm. 5). Zur Verbreitung trug auch das Erscheinen einer Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung bei, die überhaupt viele Werke zum Thema verbreitete. So erschienen u. a. eigene Ausgaben von Janz: 14 (wie Anm. 5), von Cabanes / Duménil (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 27) und von Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 2013. 37  Dülffer: Die geplante Erinnerung (wie Anm. 5), 363. 38  Münkler: Der Große Krieg (wie Anm. 5), 9. 39  Vgl. etwa Dülffer: Einhundert Jahre Erster Weltkrieg (wie Anm. 25), 56; Förster: Einhundert Jahre danach (wie Anm. 5), 13; Michael Epkenhans: Der Erste Weltkrieg – Jahrestaggedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach dem Beginn. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), H. 3, 135–165, hier: 159.



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der Pandora“40, der die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für den weiteren Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts vor allem in Europa prägnant auf den Punkt bringt. Das Werk selbst stellt eine Fundgrube an faktischen und analytischen Überlegungen dar, wobei häufige Perspektivwechsel von Zeiten (auch wenn weitgehend chronologisch vorgegangen wird), Räumen und Themen eine hohe Aufmerksamkeit des Rezipienten verlangen. Besonders in den raumbezogenen Überlegungen leistet der Autor wertvolle Beiträge zur aktuellen kulturgeschichtlichen Raumforschung41, gerade mit Blick auf die Debatten um die „Gewalträume“ des 20. Jahrhunderts.42 In seinem Verweis auf die zahlreichen offenen Möglichkeiten der Vorkriegs­zeit wendet sich Leonhard ähnlich wie Münkler gegen die überkommenen „Meistererzählungen“ vom Kriegsausbruch. Vor allem der fortschreitende Vertrauensverlust zwischen den Großmächten – die Julikrise als „Ver­trauenskrise“43 – erscheint ihm als wichtiger Erklärungsansatz.44 Dabei gerät die globale Perspektive im Lauf der Darstellung gelegentlich außer Blick, außereuropäi­ sche Schauplätze werden jenseits des Nahen Ostens eher am Rand behandelt. Am konsequentesten dargestellt und analysiert wird die Globalität des Weltkriegs demgegenüber beim Berliner Historiker Oliver Janz, der seinen Beitrag bereits 2013 vorlegte.45 In gesonderten Kapiteln werden die Ent­ wicklungen im europäischen Osten und im Orient sowie in Afrika und Ostasien konzise vorgestellt, wie der Autor überhaupt häufig die Chronologie zugunsten der Systematik verlässt. Die Auswirkungen von Technisierung und Totalisierung auf den Charakter des Krieges behandelt Janz dabei ebenso eindrücklich wie dessen kulturelle Implikationen. Die knappen Ausführungen zu den erinnerungskulturellen Praktiken im Nachgang hätten auf Basis der aktuellen Forschung durchaus ausführlich gestaltet werden können. Die einführende Darstellung der Julikrise folgt klassischen Mustern mit der „eindeutig[en] […] Hauptschuld“46 bei der deutschen Reichsleitung – die im englischen Original zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits vorliegende Studie von Clark hatte es noch nicht ins Literaturverzeichnis geschafft. 40  Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014. 41  Vgl. als Einführung Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008. 42  Maßgeblich und herausfordernd jetzt Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Frankfurt am Main 2015. 43  Leonhard: Büchse der Pandora (wie Anm. 40), 125. 44  Vgl. auch Epkenhans: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 39), 154 f., 157 f. 45  Janz: 14 (wie Anm. 5), mit dem irritierenden Titel „14“, statt „14–18“. 46  Ebd., 69.

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Umstrittene Reaktion erhielt – wie üblich – der Beitrag des Publizisten Jörg Friedrich zum Thema47, der sich in einem eher deskriptiv-journalistischen Stil an ein breiteres Publikum wendet – trotz eines ebenfalls statt­ lichen Umfangs von fast 1.100 Seiten. Der Autor bedient darin stark die erfahrungsgeschichtliche Ebene des Kriegs im Schlachtengeschehen an allen Fronten, dessen besondere osteuropäische Dimension er ausführlich und gelungen darstellt. Daneben bemüht er sich um eine stärkere Kontextua­ lisierung des militärischen Vorgehens des Deutschen Reiches, die ihm allerdings vielfach zur Relativierung gerät.48 Andererseits hebt er dabei zum Beispiel die in der Öffentlichkeit weitgehend vergessenen Auswirkungen der britischen Blockadepolitik hervor – ein Themenfeld, das eine entsprechende Behandlung verdient, ohne dass allein deshalb der Vorwurf der Einnahme von „nationalapologetischen Positionen“ berechtigt wäre.49 Weitaus knapper als die bisher vorgestellten Werke stellt sich der Beitrag des Hagener Historikers Wolfgang Kruse dar, entsprechend dem Konzept der Reihe „Geschichte kompakt“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft.50 Überblickshaft führt der Autor in die Ereignisgeschichte ein, wobei wiederum die jüngeren kulturhistorischen Forschungstendenzen zu ihrem Recht kommen. Räumlich erfolgt eine Konzentration auf Europa, in der Darstellung von Ursachen und Ausbruch stärker auf die Mittelmächte.51 Prägnant werden zentrale Ereignisse und Prozesse geschildert, allerdings nicht immer frei von teleologischen Tendenzen – die Stilisierung des Kriegs als Ausdruck der Auseinandersetzung von (westlicher) Demokratie und (deutscher) „Militärmonarchie“52 transportiert sowohl den Geist der zeitgenössischen britischen Propaganda als auch der überkommenen Sonderwegsthese. Gerade für ein Einführungswerk, das sich besonders an Studenten richtet, wäre hier eine größere sprachliche Sensibilität wünschenswert. Dem Titel nach ebenfalls in den Kontext der Gesamtdarstellungen einzuordnen ist ein Beitrag des US-amerikanischen Publizisten Adam Hochschild, der im Vorfeld des Jubiläumsjahres in deutscher Übersetzung erschien.53 47  Jörg

Friedrich: 14 / 18. Der Weg nach Versailles. Berlin 2014. Dülffer: Einhundert Jahre Erster Weltkrieg (wie Anm. 25), 55 f. 49  So aber Ulrich Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil I). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), H. 11, 921–940, hier: 935. 50  Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg. 2., bibliograph. erg. und durchges. Aufl. Darmstadt 2014 [zuerst 2009]. 51  Die nach dem Erscheinen der Erstauflage vorgelegte Literatur wurde dabei zwar für die Bibliographie ergänzt, aber scheinbar nicht systematisch eingearbeitet. 52  Kruse: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 50), 130. 53  Adam Hochschild: To End All Wars. A Story of Loyalty and Rebellion, 1914–1918. New York, NY 2011. Dt. Übers.: Der Große Krieg. Der Untergang des 48  Vgl.



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Tatsächlich widmet sich der Autor darin eher den britischen Debatten um den Krieg zwischen Befürwortern und Gegnern – eine wertvolle Ergänzung zur langjährigen erinnerungskulturellen Dominanz des Topos vom „gerechten Krieg“.54 Kriegserfahrungen und Kriegserlebnisse werden eindrücklich dargestellt und an biographischen Fallstudien beispielhaft ausgeführt, wobei die Schrecken des Krieges auf allen Seiten deutlich werden.55 Neben den Gesamtdarstellungen haben so auch national orientierte Einzelstudien ihren bleibenden Wert. Besonders für Österreich-Ungarn sind dabei zuletzt wichtige Untersuchungen vorgelegt worden. Gewichtig ist dabei vor allem die Neuauflage des Standardwerkes des Militärhistorikers Manfried Rauchensteiner „Der Tod des Doppeladlers“56, jetzt unter dem Titel „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“57 und um 500 auf mehr als 1.200 Seiten erweitert.58 Hierin beleuchtet der Autor u. a. die Rolle Kaiser Franz Josephs I. (1830–1916) neu – auch in Abgrenzung zur eigenen Darstellung 20 Jahre zuvor – und zeigt dessen fortgesetzte Einbindung in die politischen und militärischen Prozesse auch im hohen Alter auf. Daneben werden die verschiedenen Kriegsschauplätze und die Ereignisse dort ausführlich vorgestellt – die Heimatfront tritt demgegenüber etwas zurück, wird aber gleichwohl gebührend behandelt. In internationale Kontexte eingeordnet werden die von Rauchensteiner dargestellten Geschehnisse in einem vergleichend angelegten Sammelband als Ergebnis einer Wiener Tagung im März 2012 des Forums „ÖsterreichUngarn im Ersten Weltkrieg“, der zugleich einen weiteren Schwerpunkt der Neuerscheinungen zum Zentenarium repräsentiert: den intensiveren Blick auf die Entwicklungen im europäischen Osten.59 Die ehemals „vergessene alten Europa im Ersten Weltkrieg. Aus dem Amerik. von Hainer Kober. Stuttgart 2013. 54  Vgl. Dülffer: Die geplante Erinnerung (wie Anm. 5), 358 f. 55  Nebenbei bemerkt dürfte sich eine Formulierung wie die von der „Rachsucht der siegreichen Alliierten“ nach Kriegsende (Hochschild: Der Große Krieg, 12 [wie Anm. 53]) wohl kein deutschsprachiger Autor „ungestraft“ erlauben. 56  Manfried Rauchensteiner: Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Graz / Wien / Köln 1993. 57  Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Vollst. überarb. und wesentlich erw. Fassung. Wien / Köln / Wei­ mar 2013. 58  Eine „Kompaktversion“ auf weniger als 300 Seiten bietet Manfried Rauchensteiner / Josef Broukal: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. In aller Kürze. Köln / Weimar / Wien 2015. 59  Wolfram Dornik / Julia Walleczek-Fritz / Stefan Wedrac (Hrsg.): Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich. Unter Mitarbeit von Markus Wurzer. Wien / Köln / Weimar 2014.

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Front“60 erhält so weitere Konturen. Auf mehrere einleitende Texte zur Historiographiegeschichte folgen Studien zu den drei Themenfeldern „Erleben vs. Erinnern“, „Selbstbestimmung vs. Fremdherrschaft“ und „Politik vs. Militär“. Im engeren Sinne militärhistorisch orientiert ist dabei nur ein kleiner Teil der von Experten aus mehreren Ländern verfassten Beiträge, ebenso werden kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte und die Kriegserfahrungen an den unterschiedlichen Fronten der Region aufgegriffen. Vor allem das Russländische Reich gerät als Vergleichs- und Bezugspunkt zur Habsburgermonarchie in den Blick, aber auch Polen und Serbien. Der Band leistet so einen wichtigen Beitrag dazu, die nach dem Zerfall des multiethnischen Reiches weitgehend entlang der nationalen Linien verlaufenden Erinnerungsmuster an den Krieg wieder miteinander in Austausch zu bringen. Ebenfalls vergleichend, und noch stärker wahrnehmungs- und erfahrungsgeschichtlich ausgerichtet, ist ein weiterer internationaler Sammelband, der als Frucht eines mehrjährigen Grazer Forschungsprojektes durchaus komplementär gelesen werden kann.61 Schon im Titel werden die Unterschiede zu den das Bild vom Ersten Weltkrieg prägenden Kriegshandlungen deutlich – war das Schlachtengeschehen im Osten doch ein viel beweglicheres und fand überwiegend „jenseits des Schützengrabens“ statt. Damit gingen vielfältige Erfahrungen von Besatzung und Ausbeutung einher – für die Region der Auftakt in ein gewalttätiges Jahrhundert, das noch viele weiterer solcher zerstörerischen Phasen mit sich bringen sollte. Fast die Hälfte des Bandes beleuchtet auf der Basis von Egodokumenten das Kriegserleben der Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee, das die fragmentierte Gestalt der Habsburgermonarchie kurz vor ihrem Zusammenbruch und der be- und umkämpften Staaten einer „Weltordnung im Umbruch“62 widerspiegelt. Dem überaus gewaltsamen Charakter dieses Umbruchs – dem der Begriff des „Übergangs“ („transition“) als einer Kapitelüberschrift eher weniger gerecht wird – sind die Beiträge eines Jenaer Workshops vom April 2012 gewidmet.63 Sie machen zugleich deutlich, dass der Krieg im Osten – anders als im Westen – nicht mit dem Jahr 1918 beendet war, sondern teilweise bis weit 60  Gerhard P. Groß (Hrsg.): Die vergessene Front – der Osten 1914 / 15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Paderborn u. a. 2006. 61  Bernhard Bachinger / Wolfram Dornik (Hrsg.): Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext. Innsbruck / Wien / Bozen 2013. 62  So Bernhard Bachinger / Wolfram Dornik: Jenseits des Schützengraben-Narrativs? Einleitende Bemerkungen über Kriegserfahrung und Kriegserinnerung an der Ostfront im Vergleich. In: Ebd., 11–23, hier: 22. 63  Jochen Böhler / Włodzimierz Borodziej / Joachim von Puttkamer (Hrsg.): Legacies of Violence. Eastern Europe‘s First World War. München 2014.



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in die 1920er Jahre hinein noch militärische Auseinandersetzungen stattfanden. Auch bewährt sich der international-vergleichende Zugriff, der die Vorgeschichte des Krieges mit einbezieht und etwa ethnische Säuberungen als fortwährendes Phänomen in der Region deutet – ein Erbe („legacy“), das schließlich im Zweiten Weltkrieg seinen grausamen Kulminationspunkt fand.64 Schon im Ersten Weltkrieg aber waren direkte Betroffenheit und die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung so um einiges höher, die Auswirkungen auf die politische Organisation und das gesellschaftliche Leben in den gravierenden Umwälzungen mit dem Verschwinden alter multi­ ethnischer Reiche und dem Entstehen neuer Nationalstaaten viel massiver gewesen als im westlichen Europa, wie die Beiträge des Bandes eindrücklich zeigen. Die Gewalthandlungen über 1918 hinaus werden ebenfalls in einer Themenausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ thematisiert, die unter dem Titel „Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas“ 25 Beiträge internationaler Autoren versammelt.65 Besonders deutlich wird dabei die Rolle des Weltkriegs als „Katalysator für die Nationalstaatsbildung“66 in der Region. Unter der Überschrift „Imperium und Nation“67 ist fast die Hälfte der Beiträge des Bandes diesem Themenfeld gewidmet. Zwar gelang es den multiethnischen Reichen wie der Habsburgermonarchie und dem Zarenreich68 nicht mehr, die schon im Vorfeld beständig gewachsenen und im Krieg dann noch einmal verschärft wirkenden inneren Fliehkräfte auszugleichen. Aber auch die neu entstanden Nationalstaaten waren angesichts fortschreitender Gewalterfahrungen – zwischenstaatlich und im Bürgerkrieg – „von Beginn an von Defekten gekennzeichnet“69. Und so kann es kaum verwundern, dass sich die politischen Systeme der meisten Staaten der Region in der Folge in Richtung Autokratie und Diktatur entwickelten. 64  So Jochen Böhler / Włodzimierz Borodziej / Joachim von Puttkamer: Introduction. In: Ebd., 1–6, hier: 6. 65  Osteuropa 64 (2014), Nr. 2–4. 66  Egbert Jahn: Sprengkraft Selbstbestimmungsrecht. Der Erste Weltkrieg als Katalysator für die Nationalstaatsbildung. In: Ebd., 73–90. 67  Vgl. zu den Wechselverhältnissen jeweils mit Ausblicken auf den Ersten Weltkrieg Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011; dies.: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen 2009. 68  Vgl. grundlegend Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall. [4.], um ein Nachw. erg. Aufl. München 2008 [zuerst 1992]; für die Habsburgermonarchie zuletzt Pieter M. Judson: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. Aus dem Amerikan. von Michael Müller. München 2017. 69  So Jan Kusber: Wegscheide Krieg. Defekte Imperien, defekte Nationalstaaten. In: Osteuropa 64 (2014), H. 2–4, 233–246, hier: 233. Vgl. jetzt auch Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917–1923. London u. a. 2016.

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Aus deutscher Perspektive lange vernachlässigt wurde in den Forschungen zum Ersten Weltkrieg nicht nur der europäische, sondern auch der Nahe Osten bzw. die zentralasiatische Region. Rudolf A. Mark schildert in diesem Kontext die Versuche deutscher Einflussnahme in Russisch-Turkestan und in Afghanistan70 und holt einen vielfach vergessenen Aspekt des Krieges zurück in die (Fach-)Öffentlichkeit: das Vorhaben, eine antikoloniale Bewegung der muslimischen Bevölkerung gegen die russische Fremdherrschaft zu schüren und für eigene Belange zu nutzen.71 Eine zielgerichtete, systematische Politik wurde dabei schon allein aufgrund fehlender Ressourcen aber nicht verfolgt, so dass kaum Erfolge erzielt wurden. Der Autor arbeitet dabei ein weiteres, von den europäischen Erfahrungen sich wiederum unterscheidendes Kriegserlebnis heraus – dasjenige von „Expeditionen durch Wüsten und Nomadensteppen“, von „Partisanenkriegen, Spionageaktionen und Revolutionierungsversuchen“72. Ähnliche Befunde vermittelt ein instruktiver Sammelband, der sich ebenfalls den deutschen Aktivitäten in der Region widmet und – neben den von Mark untersuchten Provinzen – auch den Irak, Persien, den Kaukasus und die östlichen Gebiete des Osmanischen Reiches in den Blick nimmt.73 Dabei werden vor allem jene Akteure genauer untersucht, die das Bündnis zwischen Deutschem Reich, K.u.K.-Monarchie und der jungtürkischen praktisch fruchtbar machen sollten. Ihr Engagement bewegte sich in einem Spannungsfeld „zwischen Hilfestellung zur Emanzipation von kolonialer Herrschaft und Anbahnung eines eigenen orientalischen Imperiums“74, wobei auch hier nur begrenzte Erfolge zu verzeichnen waren. Anspruch und Wirklichkeit fielen weit auseinander – die geplante (und teilweise gelungene) Bindung britischer und französischer Truppen in der Region bewirkte allenfalls eine Verlängerung des Kriegs, keinesfalls aber einen Umschwung zugunsten der Mittelmächte. Neben diesen Schlaglichtern auf bisher nur am Rand von der Forschung behandelte Geschehensräume bilden kultur- und literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Einordnung des Krieges einem weiteren Schwerpunkt der 70  Rudolf A. Mark: Krieg an fernen Fronten. Die Deutschen in Zentralasien und am Hindukusch 1914–1924. Paderborn u. a. 2013. 71  Für die erfolgreicheren Unternehmungen des T. E. Lawrence (1888–1935) auf britischer Seite vgl. Peter Thorau: Lawrence von Arabien. Ein Mann und seine Zeit. München 2010; Jeremy Wilson: Lawrence von Arabien. Die Biographie. Aus dem Engl. von Suzanne Gangloff. 3. Aufl. Berlin 2004. 72  Mark: Krieg an fernen Fronten (wie Anm. 70), 8. 73  Wilfried Loth / Marc Hanisch (Hrsg.): Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients. München 2014. 74  So Wilfried Loth: „Dschihad Made in Germany?“. Einleitung: In. Ebd., 7–12, hier: 11.



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Neuerscheinungen im und um das Zentenarium. Eine Kulturgeschichte eher klassischer Prägung legte der Potsdamer Historiker Ernst Piper vor,75 die sich in der Hauptsache den kulturellen Eliten (besonders des Deutschen Reiches) und deren Kriegsdeutung und -wahrnehmung widmet. Kaleidoskopartig werden besonders die Bemühungen zur Begründung und Legitimation des Krieges geschildert, die nicht selten in propagandistische Überspitzungen mündeten. Ein eigenes Kapitel ist der Situation jüdischer Intellektueller gewidmet.76 Sinnvoll ergänzt wird Pipers Buch durch eine im Original bereits 2008 erschienene Studie des niederländischen Literaturwissenschaftlers Geert Buelens.77 Stärker in vergleichender europäischer Perspektive argumentierend, die auch viele Vertreter der „kleinen Staaten“ des Kontinents umfasst, schildert Buelens ebenfalls ausführlich die Kriegswahrnehmung von Lyrikern und Literaten und ihre Versuche der Sinnstiftung, jeweils unter ständiger Rückbindung an das militärische Geschehen:78 „Alles wurde auf eine höhere Ebene gebracht, die Politik, das Gefühlsleben, das ganze Dasein.“79 Für viele trugen Begeisterung und Aufbruchswillen bis zum Kriegsende, und das jenseits unterschiedlicher stilistischer, politischer und sozialer Verortungen, mit starken Auswirkungen auf das weitere Schaffen in der vielfach instabilen Zwischenkriegszeit. Am Beispiel des Schriftstellers J.  R.  R. Tolkien (1892–1973) arbeitet der Journalist und Literaturwissenschaftler John Garth eindrucksvoll Strategien zum literarischen Umgang mit dem Erlebten im Krieg heraus.80 Auf Basis der Tagebücher, Notizen und Briefe von Tolkien zeigt der Autor, wie der Schriftsteller mit seinen Werken auf eine „zutiefst traumatisierende Epoche“81 reagierte. Mit dem Rückgriff auf eine traditionelle Erzählweise 75  Piper:

Nacht über Europa (wie Anm. 36). jüdische Geschichte im Ersten Weltkrieg stellt in den hier vorgestellten Werken weitgehend keinen zentralen Bezugspunkt dar. Vgl. aber Ulrich Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil  II). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), H. 7 / 8, 683–702, hier: 697–702, für zahlreiche entsprechende Neuerscheinungen (womit der Verfasser den Titel seines Beitrags gehörig konterkariert). 77  Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Aus dem Niederländ. von Waltraud Hüsmert. Berlin 2014. 78  Stärker den konkreten Kriegserfahrungen an der Front, aber auch den „Propagandaschlachten“ gewidmet ist Steffen Bruendel: Zeitenwende 1914. Künstler, Dichter und Denker im Ersten Weltkrieg. München 1914. 79  Buelens: Europas Dichter (wie Anm. 77), 68. 80  John Garth: Tolkien und der Erste Weltkrieg. Das Tor zu Mittelerde. Aus dem Engl. von Birgit Herden und Marcel Aubron-Bülles. Stuttgart 2014. 81  Ebd., 401. 76  Die

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und altertümliche Sprache kam es ihm darauf an, bedrohte Traditionen zu bewahren und angesichts der gewaltigen Umbrüche der Zeit neu zu beleben. Eine zentrale Rolle kam in seinen Werken immer wieder großen Schlachten zu, deren Probleme und Verläufe durch jene realer Auseinandersetzungen bestimmt war – etwa die Schlacht an der Somme, an der er selbst teilgenommen hatte.82 Die Verarbeitung des Krieges in der Bildenden Kunst zeigt ein beeindruckender Band der Kunsthistorikern Aya Soika zu den Mitgliedern der expressionistischen Gruppe „Die Brücke“.83 Eine Veränderung des Kunstverständnisses ist dabei nicht zu konstatieren: Ähnlich wie beim Schriftsteller Tolkien zeigt sich stattdessen eine „Bejahung des Kunstschaffens in seiner tradierten Form“84. Den Brüchen der Epoche stellten die Künstler der „Brücke“ Kontinuität entgegen. Die individuellen Ausprägungen dieser Grundhaltung werden durch zahlreiche Abbildungen und eine ausführliche Chronik der Stationen und Ausstellungen der Künstler in den Kriegsjahren verdeutlicht. Einzel- und Fallstudien wie diese stellen eine Möglichkeit der Annäherung an den Weltkrieg dar. Für die Forschung besonders wertvoll sind abschließend die verschiedenen lexikalischen Unternehmungen, die anlässlich der Zentenarfeier zum Abschluss bzw. auf den Weg gebracht wurden. Eine Neuauflage erlebte 2014 die verdienstvolle „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“85 mit ihrer Mischung aus essayistischen Darstellungen und kurzen lexikalischen Einträgen als unverzichtbares Nachschlagewerk. Um einige neue Einträge ergänzt, wurden aktuelle methodische und thematische Entwicklungen der Forschung aufgenommen. Die einzelnen Länderartikel zu Beginn des Werkes erscheinen aufgrund des unterschiedlichen methodischen Zu82  Für die deutsche Perspektive vgl. grundlegend Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.): Die Deutschen an der Somme. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde. 4., überarb. Aufl. Essen 2016 [zuerst 2006]. 83  Aya Soika: Weltenbruch. Die Künstler der „Brücke“ im Ersten Weltkrieg 1914–1918. München / London / New York, NY 2014. Als Einführungen zu den Mitgliedern und ihrer Kunst vgl. Gerd Presler: Die Brücke. Reinbek bei Hamburg 2007; Horst Jähner: Künstlergruppe Brücke. Geschichte einer Gemeinschaft und das Lebenswerk ihrer Repräsentanten. Leipzig 2005. 84  Soika: Weltenbruch (wie Anm. 83), 186. 85  Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. In Verb. mit Markus Pöhlmann. Erneut akt. und erw. Studienausg. 2. Aufl. Paderborn 2014 [zuerst 2003]. Die Herausgeber haben zudem eine eindrückliche Schilderung der Kriegsjahre im Deutschen Reich vorgelegt, die Kampf- und Heimatfront gleichermaßen prägnant darstellt und – jenseits der erwartbar konventionellen Beschreibung der Junikrise – viele aktuelle Forschungsansätze systematisch bündelt. Vgl. Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarb. von Irina Renz. Frankfurt am Main 2013.



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griffs der Autoren zwar recht divergent, in der Zusammenschau ermöglichen sie gleichwohl einen vergleichenden Zugriff, der den thematisch orientierten Beiträgen zum Themenfeld „Gesellschaft im Krieg“ dann inhärent ist. Weiterhin werden der Kriegsverlauf, die Geschichtsschreibung zum Krieg und aktuelle Forschungsperspektiven wie Kolonialismus oder die „Neue Kulturgeschichte“ handbuchartig charakterisiert. Dem kulturgeschichtlichen Zugriff ganz gewidmet ist ein ebenfalls 2014 veröffentlichtes „Kulturwissenschaftliches Handbuch“ zum Weltkrieg.86 Ereignisorientierte Darstellung wird man hier allenfalls am Rand finden, stattdessen werden analytisch ausgefeilte Essays zur literarischen Darstellung, zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung und zur politischen Sinnstiftung des Krieges und um den Krieg geboten. Als bedeutsam erweist sich dabei der zeitlich übergreifende Ansatz, der die Vor- und die Nachkriegszeit gleichermaßen in den Blick nimmt und den Ersten Weltkrieg so in übergreifende Entwicklungen im 20. Jahrhundert einordnet. Der methodischen Annäherung auf der Höhe der Zeit nicht gerecht wird dabei allerdings die weitgehende räumliche Konzentration auf das Deutsche Reich. Zwar haben die Autoren der einzelnen Artikel eine beeindruckende Fülle auch internationaler Literatur ausgewertet, dies aber leider nur teilweise für länderübergreifende Vergleichsanalysen fruchtbar gemacht. Ein besonderes Projekt stellt die von Oliver Janz und seinem Berliner Kollegen Nicolas Apostolopoulos geleitete Internet-Enzyklopädie „1914– 1918-online“87 dar, die letztlich 1.000 frei zugängliche Artikel in englischer Sprache umfassen soll und als internationales Gemeinschaftsprojekt einen breiten Perspektivenreichtum verspricht, der an den ersten Einträgen bereits deutlich wird. Neben der bereits realisierten Möglichkeit von Verlinkungen auf weiterführende Angebote und der Verknüpfung mit Normdaten würde man sich eine stärkere, auch inhaltliche Einbindung (audio)visueller Komponenten wünschen, die bisher meist rein illustrativ und unkommentiert am Rand stehen. Das Versprechen des Perspektivenreichtums und der Themenbreite bereits eingelöst hat daneben die monumentale dreibändige „Cambridge History of the First World War“, herausgegeben vom lange Zeit in Yale lehrenden Weltkriegsexperten Jay Winter.88 Die insgesamt mehr als 70 Beiträge ver86  Niels Werber / Stefan Kaufmann / Lars Koch (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart / Weimar 2014. 87  URL: http: /  / www.1914-1918-online.net / . Vgl. Oliver Janz: 1914–1918 online. Ein globales Projekt zu einem globalen Krieg. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 5 / 6, 369–379. 88  Jay Winter (Hrsg.): The Cambridge History of the First World War. Bd. 1: Global War. Bd. 2: The State. Bd. 3: Civil Society. Cambridge u. a. 2014. Eine um-

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folgen systematisch einen vergleichenden Ansatz, der neben der europäischen die globale Dimension des Krieges umfassend untersucht – der Charakter als Weltkrieg mit all seinen Auswirkungen wird hier besonders deutlich, sowohl hinsichtlich der Schauplätze als auch der untersuchten Themen. Mit Recht ist dieses Werk als „[q]ualitativ und quantitativ […] bahnbrechend“89 bezeichnet worden und wird zukünftig einen zentralen Bezugspunkt weiterführender Forschungen bilden. Die Auswahl der Autoren führt freilich bisweilen zu Schwerpunktsetzungen, die neuere Entwicklungen der Forschung etwas marginalisieren. Dies betrifft vor allem die Einträge zu den Ursprüngen von Volker Berghahn und zum Ausbruch des Krieges von Gerd Krumeich gemeinsam mit Jean-Jacques Becker in ihrer sehr klassischen, der Verteilung der Verantwortung stark auf die Mittelmächte konzentrierten Darstellung90 – vorgenommen mithin von Autoren, die zu den profiliertesten Experten auf ihrem Gebiet gehören, zugleich aber nur in Grenzen Bereitschaft zur Aufnahme neuer Interpretationen zeig(t)en, wie im Folgenden u. a. ausgeführt werden soll. III. Geschichtswissenschaft lebt davon, dass durch neue Quellenfunde und neue Kontextualisierungen Altbekanntes und vermeintlich Feststehendes als überarbeitungswürdig, als revisionsbedürftig erkannt und den neuen Erkenntnissen angepasst werden kann – wobei mit dem Begriff des „Revisionismus“ im Englischen um einiges unbefangener umgegangen werden kann als im Deutschen. Es handelt sich dabei zumeist um einen längeren Prozess, in dessen Folge sich entweder ein von großen Teilen der damit befassten Forscher akzeptierter, neuer Konsens entwickelt, oder aber eben jene neuen Interpretationsvorschläge als abwegig zurückgewiesen werden. Zumeist finden sich gerade am Beginn solcher Prozesse vehemente Verteidiger des „Alten“, die wenig Bereitschaft erkennen lassen, alternative Modelle in Betracht zu ziehen und sie bisweilen nicht mit Blick auf ihren wissenschaftlichen Gehalt, sondern auf ihre (vermuteten) Motive hin zurückweisen. Ein Beispiel dafür ist der britische Historiker und Biograf Wilhelms II., John C. G. Röhl, der – neben einigen Einlassungen in den Feuilletons großer deutscher Blätter, in denen er einen neuen deutschen „Sonderweg“ in der Interfassende Besprechung und Einordnung bietet William Mulligan: The First World War in a Global Age. In: European History Quarterly 46 (2016), H. 2, 311–326. 89  Dülffer: Die geplante Erinnerung (wie Anm. 5), 351. 90  Volker R. Berghahn: Origins. In: Winter (Hrsg.): Cambridge History of the First World War (wie Anm. 88). Bd. 1, 16–38: Jean-Jacques Becker / Gerd Krumeich: 1914: Outbreak. In: Ebd., 39–64.



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pretation der Ursachen des Kriegsausbruchs diagnostizierte91 – in einem Fachorgan (allerdings einem politikwissenschaftlichen) intervenierte.92 In einem mit persönlichen Erinnerungen – u. a. an die Zusammenarbeit mit Fritz Fischer – durchsetzten, teilweise sehr pathetisch formulierten Beitrag93 zeigte er aber wenig mehr als den fortgesetzten Unwillen, den eigenen Interpretationen widersprechende Forschungsergebnisse zumindest ansatzweise als alternativen Deutungsansatz in Betracht zu ziehen.94 In einer erneuten Rekapitulation von Quellenmaterial überwiegend deutscher Provenienz kam er, ebenfalls erneut, zu dem erwartbaren Ergebnis einer deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg als einer Etappe auf der „schicksalhaften Entwicklungslinie von Bismarck zu Hitler“95. Traditionelle Deutungsmuster, wenn auch nicht (immer) in dieser überspitzten Ausformung, bieten zwei schmale Bücher zum Thema, die 2014 in der populären Reihe „C. H. Beck Wissen“ erschienen sind und daher einige Verbreitung erfahren dürften: der neu verfasste Überblick zur Julikrise der englischen Historikerin Annika Mombauer96 – einer Röhl-Schülerin – und die ergänzte Neuauflage der erstmals 2003 erschienenen Gesamtdarstellung des in New York lehrenden Historikers Volker Berghahn.97 Mombauer, die unter anderem in Münster studierte und heute an der Open University in Milton Keynes arbeitet, hat sich intensiv mit Helmuth von Moltke dem 91  John C. G. Röhl: Jetzt gilt es loszuschlagen! In: Die Zeit, 22. Mai 2014. URL: http: /  / www.zeit.de / 2014 / 22 / erster-weltkrieg-kriegsschuld-deutsches-reich; Ders.: Wie Deutschland 1914 den Krieg plante. In: Süddeutsche Zeitung, 5. März 2014. URL: http: /  / www.sueddeutsche.de / politik / ausbruch-des-ersten-weltkriegs-wiedeutschland-den-krieg-plante-1.1903963. 92  Vgl. John C. G. Röhl: Goodbye to All That (Again)? The Fischer Thesis, the New Revisionism and the Meaning of the First World War. In: International Affairs 91 (2015), H. 1, 153–166. 93  So stellt sich Röhl als einen von „wenigen Wahrheitssuchenden“ („few truthseekers“) hin, die quellenbasiert am Thema arbeiten würden; ebd., 166. 94  Dies gilt auch für seine negative Interpretation Wilhelms II., die er zuletzt ohne Bereitschaft zur Differenzierung und unter Missachtung anderer Forschungsergebnisse wieder formuliert hat in John C. G. Röhl: Wilhelm II. München 2013. Dazu instruktiv Benjamin Hasselhorn: Wilhelm II. in neuer Sicht. Plädoyer für eine sach­ liche Beurteilung des letzten deutschen Kaisers. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F. 25 (2015), 337–351. 95  Röhl: Goodbye to all that (again)? (wie Anm. 92), 165 („fateful trajectory from Bismarck to Hitler“). 96  Mombauer: Die Julikrise (wie Anm. 30). 97  Volker Berghahn: Der Erste Weltkrieg. 5., akt. und erg. Aufl. München 2014. – Die folgenden Abschnitte basieren auf Martin Munke: Neue alte Blicke auf Julikrise und Ersten Weltkrieg. Annika Mombauer und Volker Berghahn legen knappe Überblicksdarstellungen zum Thema vor. In: literaturkritik.de (2014), Nr. 8, URL: http: /  / literaturkritik.de / id / 19484.

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Jüngeren (1848–1916) in seiner Rolle als Chef des Großen Generalstabs befasst98 und 2002 bereits eine Studie zu Kriegsursachen und -ausbruch vorgelegt.99 Zuletzt folgte eine verdienstvolle Quellenedition.100 Berghahn hatte schon in den 1970er Jahren zum Thema publiziert und sich darüber hinaus intensiv mit der Geschichte des Kaiserreiches befasst.101 Die genannten Vorarbeiten prägen natürlich den Blick, der in den beiden Büchern auf das Thema geworfen wird. Für Mombauer ist das ihr Bezug auf die Arbeiten Fritz Fischers, der in „Griff nach der Weltmacht“ (1961) zunächst die deutsche Hauptschuld am Krieg herauszuarbeiten suchte und dem Deutschen Reich schließlich gar eine zielgerichtete Planung und Vorbereitung des Krieges unterstellte.102 In der „Fischer-Kontroverse“ gelang es, diese Thesen für die nächsten Jahrzehnte als gültige Interpretation in der deutschen Öffentlichkeit zu verankern, auch wenn ihre Zuspitzung und Radikalisierung in den Folgewerken „Weltmacht oder Niedergang“ (1965) und „Krieg der Illusionen“ (1969) weit weniger Anhänger fand.103 Die Wissenschaft hat daran schon lange Modifikationen vorgenommen, manches bestätigt, anderes mit guten Gründen hinterfragt. Auch Mombauer hat insgesamt einiges zur Nuancierung von Fischers in vielen simplifizierenden Thesen beigetragen. Im Grundtenor erweisen sich ihre Arbeiten gleichwohl als „durchzogen von Fischers [und Röhls] Ideen“104. Dies gilt auch für das Buch zur Julikrise. Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn bleiben die Hauptverantwortlichen für die Eskalation der 98  Annika Mombauer: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War. Cambridge 2001. 99  Annika Mombauer: The Origins of the First World War. Controversies and Consensus. London u. a. 2002. 100  Annika Mombauer (Hrsg.): The Origins of the First World War. Diplomatic and Military Documents. Manchester u. a. 2013. 101  Volker Berghahn: Germany and the Approach of War in 1914. London u. a. 1973 [zuletzt 1993]. 102  Vgl. Klaus Große Kracht: „An das gute Gewissen der Deutschen ist eine Mine gelegt“. Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte. In: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hrsg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte. Göttingen 2007, 66–70. 103  Vgl. Konrad H. Jarausch: Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse. In: Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, 20–40; Imanuel Geiss: Zur Fischer-Kontroverse – 40 Jahre danach. In: Ebd., 41–57; Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. 2. Aufl. Göttingen 2011, 47–67 (Kapitel „Die Fischer-Kontroverse: Von der Fachdebatte zum Publikumsstreit“). 104  So der britische Historiker Matthew Hughes in einer Besprechung von Mombauer: Controversies and Consensus (wie Anm. 99), URL: http: /  / www.history. ac.uk / reviews / review / 291 („infused with Fischer’s ideas“).



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Krise, die unter „bewusste[r] Täuschung des Auslands“105 auf einen Krieg hinarbeiteten. Hier sei „die Absicht, einen Krieg vom Zaun zu brechen, stärker und daher auch letztendlich ausschlaggebender“106 gewesen – eine Ansicht, die mit Blick auf die Akteure in Paris und St. Petersburg bezweifelt werden kann, wie einige Studien aus der jüngeren Vergangenheit belegten.107 Letztendlich zeigten die politischen Führungseliten in allen beteiligten Ländern Interessen an einem militärischen Konflikt, waren täuschende Handlungen an der Tagesordnung – und auch in England standen in der Vorkriegszeit ganz andere als nur friedliche beziehungsweise reaktive Intentionen im Zentrum des außenpolitischen Handelns.108 Deutlich wird bei alle­dem, „dass einfache Urteile über Schuld und Unschuld die Wirklichkeit dieser Krise verfehlen“: „Der Friede war niemandem unter den Regierenden so viel wert, dass er einen wirklichen Preis für ihn zu zahlen bereit gewesen wäre.“109 Die Fischer’schen Annahmen der deutschen Hauptschuld stehen im Kontext der genannten Sonderwegsthese, die ihre Hochphase in der Historischen 105  Mombauer:

Die Julikrise (wie Anm. 30), 119 f. 118. 107  Vgl. v. a. Stefan Schmidt: Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. München 2009 und McMeekin: The Russian Origins of the First World War / Russlands Weg in den Krieg (wie Anm. 20), außerdem die wichtigen Arbeiten von Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914. Paderborn u. a. 2011; ders.: Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866 / 67–1914. Paderborn u. a. 2016. Freilich besteht dabei partiell die Tendenz, auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen: Besonders McMeekin gibt – noch stärker als in seiner Darstellung zur Julikrise (wie Anm. 19) – in seiner Überbetonung des russisch-osmanischen Gegensatzes an vielen Stellen eine Art „Fischer für Russland“, der den Blick auf die weiteren beteiligten Staaten unterlässt bzw. deren Handeln nur vor dem Hintergrund der eigenen Folie interpretiert. 108  Vgl. instruktiv Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. München 2011; Dominik Geppert / Andreas Rose: Machtpolitik und Flottenbau vor 1914. Zur Neuinterpretation britischer Außenpolitik im Zeitalter des Hochimperialismus. In: Historische Zeitschrift 293 (2011), H. 2, 401–437. Die militärische Konfrontation bzw. weitgehend Nicht-Konfrontation der Seestreitkräfte im Weltkrieg schildert jetzt eindrücklich und informativ Nicolas Wolz: „Und wir verrosten im Hafen“. Deutschland, Großbritannien und der Krieg zur See 1914–1918. München 2013. V. a. auf der Basis von Egodokumenten deutscher und britischer Marineoffiziere und -mannschaftsgrade leuchtet er ein in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bisher nicht monografisch untersuchtes Thema auf einem breiten Quellenfundament aus und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer vergleichenden Wahrnehmungs- und Mentalitätsgeschichte des Weltkriegs. 109  Peter Graf Kielmannsegg: Deutschland ist schuld – oder?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.  Juni 2014. URL: http: /  / www.faz.net / aktuell / politik / dererste-weltkrieg / die-schuld-am-ersten-weltkrieg-ist-noch-immer-nicht-geklaert-130 17137.html. 106  Ebd.,

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Sozialwissenschaft der 1970er Jahre erlebte. Auch Berghahn zeigt sich diesem Ansatz verpflichtet, wie er es 2003 erneut mit seiner Gesamtdarstellung des Kaiserreichs im Rahmen des Handbuchs der deutschen Geschichte, dem „Gebhardt“, bekräftigte. Zwar fand eine Reihe von Themen aktueller kulturhistorischer Ansätze Eingang, „Berghahns Aufgeschlossenheit gegenüber der neueren Forschung [war] mit dieser thematischen Erweiterung aber auch schon erschöpft“110. Ähnliches lässt sich für die Neuauflage des Weltkriegsbuches konstatieren. Eingangs erfolgt eine kursorische Betrachtung der aktuellen Neuerscheinungen besonders zur Julikrise, unüblich für das Reihenformat mit Fußnoten nachgewiesen. Hier erscheinen im Resümee „die Entscheidungsträger in Berlin und Wien wie auch jene in St. Peters­burg“111 als die Hauptverantwortlichen – immerhin eine Erweiterung um Russland –, Paris und London kommen erst im späteren Kapitel zum Kriegsausbruch und auch dort nur am Rand vor. Für die Darstellung im Hauptteil beschränkt sich Berghahn auf ältere Untersuchungen. Deutlich wird dies auch an der Auswahlbibliografie, die sich auf die Literatur der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre konzentriert, und in der eher reflexhaften Gegenüberstellung einer Weltkriegsgeschichte „von oben“ und „von unten“, deren Verknüpfung mittlerweile längst zum Standard einer modernen Geschichtsschreibung gehört, wobei die Sensibilisierung für diese Themenfelder der entsprechenden Schule als wichtiges Verdienst anzurechnen ist. Nicht fehlen darf allerdings der Verweis auf den „preußisch-deutschen Militarismus“ und die „Notwendigkeit“ für England, diesen „ein für alle Mal in seine Schranken zu weisen“112. Hier findet sich eine der Begründungen für jene „Moralisierung des Krieges“, wie sie die zeitgenössische englische und US-amerikanische Kriegspropaganda betrieben – und die „die Deutschen“ als „Barbaren“ darstellte113 –, und wie sie im Nachgang der Fischer-Kontroverse auch in Deutschland zahlreiche Anhänger fand. Dieses undifferenzierte Narrativ eines „gerechten Krieges“ findet in der jüngeren Forschung allerdings keine Bestätigung – auch wenn gerade in Großbritannien manche an diesem Blick festhalten wollen, wie die 110  Frank Becker: Rezension von: Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat. 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2003. In: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: ­ http: /  / www.sehepunkte.de / 2004 / 05 / 5078.html. Eine Gegenposition zu Berghahns überwiegend negativer Deutung präsentiert jetzt Kroll: Geburt der Moderne (wie Anm. 9), für den das Deutschland der Jahrhundertwende ein fortschrittlicher und entwicklungsoffener europäischer Nationalstaat auf der Höhe zeitgenössischer Modernität war. 111  Berghahn: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 97), XVII. 112  Ebd., 50. 113  Vgl. als Einführungen Klaus-Jürgen Bremm: Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt / Stuttgart 2013; Brigitte Hamann: Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten. München / Zürich 2004.



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bereits erwähnten Debatten um Fergusons „The Pity of War“ zeigten. Gerade unter den Neu­erscheinungen des Jahres 2014 finden sich einige, die dieser Sichtweise unbeirrt folgen.114 Trotz der genannten Einwände bieten die Bücher von Mombauer und Berghahn insgesamt einen zuverlässigen Überblick zu Kriegsausbruch und -verlauf, verbunden mit einem traditionellen Blick auf den Forschungsstand – bei besonders für das Jahr 1914 starker Konzentration auf die Rolle der Mittelmächte, so dass andere Werke zur Ergänzung herangezogen werden müssen, was man bei einer solchen Überblicksdarstellung eigentlich nicht erwarten darf. Mombauer gelingt es gerade über zahlreiche (dem Format der Reihe entsprechend leider nicht nachgewiesene) Zitate, die Anspannung und den Handlungsdruck der Julikrise bei allen Akteuren greifbar werden zu lassen. Berghahn zeichnet eindrücklich das ungeheure Ausmaß der Opfer an der Front, die Entbehrungen an der Heimatfront, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges nach. Das Kapitel „Eine Verlustrechnung“ stellt diese Zahlen auf erschütternde Weise zusammen. Auch die Relativierung der lange als gesichert geltenden „Kriegsbegeisterung“ in den beteiligten Staaten durch die Forschung stellt er überzeugend dar. Darüber hinaus gehende neue Blicke auf Julikrise und Ersten Weltkrieg findet man allerdings nicht. IV. Beide Bücher stehen damit sinnbildlich für einige allgemeine Tendenzen in der Diskussion um die Neuerscheinungen zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns. Zu nennen ist hier die mangelnde Bereitschaft, alternative Deutungen vermeintlich feststehender Wissensbestände in Betracht zu ziehen: „Die allermeisten Historiker verteidigten ihre seit Langem bekannten Positionen und nahmen neue Literatur nur selektiv wahr.“115 Hierbei handelte es sich vielfach um ein Phänomen älterer Wissenschaftler116, die, nachdem es ihnen lange gelungen war, gegensätzliche Positionen „so weit wie möglich zu marginalisieren“117, nun gegen Neuwertungen ankämpften – eine „wahrMallinson: 1914 (wie Anm. 26); Hastings: Catastrophe (wie Anm. 27). Lehnstaedt: In der Endlosschleife? Debatten über die Schuld am Ersten Weltkrieg von Emil Ludwig bis Christopher Clark. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), H. 7 / 8, 620–641, hier 638 f.; vgl. Sönke Neitzel: Der Erste Weltkrieg und kein Ende. In: Historische Zeitschrift 301 (2015), H. 1, 121–148, hier: 130 f. 116  So auch Dülffer: Einhundert Jahre Erster (wie Anm. 25) Weltkrieg, 51. 117  Hans-Christof Kraus: Neues zur Urkatastrophe. Aktuelle Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg. In: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 7 (2014), H. 6, 42–55, hier: 42. 114  Vgl.

115  Stephan

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nehmbare Stille der Historiker, die mit dem neuen Revisionismus [á la Clark] nicht übereinstimmen“118, hat es so tatsächlich nicht gegeben, wie die Beispiele im vorherigen Kapitel gezeigt haben dürften. Es handelte sich 2014 so vielfach um eine Debatte, „die zwar von Wissenschaftlern, aber im eigentlichen Sinn nicht wissenschaftlich geführt wurde“119 – mediale Logiken, politische Agenden und erinnerungskulturelle Aspekte standen häufig im Vordergrund gegenüber der quellenbasierten Diskussion.120 Dies hing damit zusammen, dass die „Penetranz der Gegenwart“ aus der Fischer-Ära und deren „Politisierung der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen“121 noch immer nachwirkte und manche Protagonisten sich weiterhin in der „Pflicht zur politischen Pädagogik“ (Theodor Mommsen)122 sahen. Hier liegt auch der eigentliche Grund für den Befund des Berliner Historikers Ulrich Wyrwa, es habe „[z]um Hundertsten nichts neues [gege­ ben]“123 – allerdings gerade anders herum, als der Autor es in seinen beiden Beiträgen postuliert, in denen er gegen den vermeintlichen koordinierten Versuch polemisiert, „die deutsche Reichsleitung und die habsburgischen Entscheidungsträger von der Schuld am Ausbruch des Krieges reinzuwaschen und ein neues gereinigtes deutschnationales Geschichtsbild zu kreieren“124. Denn gerade die Verfechter solcher Annahmen sind es, die das, was es tatsächlich „Neues zur Urkatastrophe“125 gibt, beharrlich ignorieren. Ein weiterer Grund für die überzogene Kritik an Clark und anderen ist nämlich deren dezidierte Weigerung der Arbeit mit moralischen Katego­ rien126, die der eigenen geschichtspolitischen Agenda widerspricht, das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse in ein „normativ verengtes Korsett [zwängt]“127 und es mithin zur Nebensache werden lässt. Denn: „Man wird den Kriegsausbruch nur verstehen, wenn man nicht von vorneherein einem moralisch motivierten Ansatz folgt, der letztlich das Ergebnis der Analyse vorwegnimmt.“128 Von daher scheint es geradezu grotesk, wenn Wyrwa den Annika Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2), 551. Der Erste Weltkrieg und kein Ende (wie Anm. 115), 639. 120  Christoph Cornelißen: „Oh! What a Lovely War!“. Zum Forschungsertrag und zu den Tendenzen ausgewählter Neuerscheinungen über den Ersten Weltkrieg. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 5 / 6, 269–283, hier: 269. 121  Ebd., 273, 272. 122  Zit. nach Epkenhans: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 39), 143. 123  Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues (Teil I) (wie Anm. 49); Ders.: Zum Hundertsten nichts Neues (Teil  II) (wie Anm. 76). 124  Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues (Teil  II) (wie Anm. 76), 683. 125  Kraus: Neues zur Urkatastrophe (wie Anm. 117). 126  Vgl. Neitzel: Der Erste Weltkrieg und kein Ende (wie Anm. 115), 124 f. 127  Ebd., 136. 128  Ebd., 127. 118  Anders

119  Neitzel:



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„Mangel an neuen Perspektiven, neuen methodischen Zugängen und neuen Fragestellungen“129 beklagt, nachdem er zuvor auf fast 20 Seiten aus keinen anderen als den genannten (geschichts)politischen Gründen gerade diejenigen Autoren verdammt, die solche Perspektiven liefern.130 Eine Polarisierung der Diskussion wurde dabei gerade auch durch Autoren befördert, die teilweise für angeblich ausgleichende Position gelobt wurden.131 Dies gilt etwa für Annika Mombauer, die angesichts der Debatten um den Kriegsausbruch ein „Déja vue“ [!] beklagte,132 aber eben gerade die mit gutem Grund vorlegten neuen Argumente für einen anderen Blick auf die Schuld- bzw. Verantwortungsfrage nicht wahrnehmen wollte. Ihr in diesem Zusammenhang zentraler Fachaufsatz „Der hundertjährige Krieg um die Kriegsschuld“ zeigt sich zwar teilweise um Differenzierung bemüht, relativiert seine ausgleichenden Befunde aber immer wieder selbst133 und gerät in seiner Schlussbetrachtung dann gar zum Rundumschlag: mit dem Vorwurf, die Revisionisten planten nun „auch die Schuldfrage für den Zweiten Weltkrieg neu zu stellen“; mit der expliziten Aussage, dass es ihr gerade um „die politische und geschichtspolitische Relevanz der Kriegsschuldfrage 1914“ gehe (und eben nicht um einen wissenschaftlichen Disput); schließlich mit der absurd anmutenden Behauptung, mit Clark und anderen habe sich eine „nun wieder dominante deutsche Kriegsunschuldsthese“ etabliert.134 Hierbei 129  Wyrwa:

Zum Hundertsten nichts Neues (Teil I) (wie Anm. 49), 938. weiteres Beispiel für diese Ignoranz ist der Beitrag von Wolfram Wette: Seit hundert Jahren umkämpft: Die Kriegsschuldfrage. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (2014), H. 9, 91–101, der in der Warnung vor der Gefahr einer „neuerlichen Weltmachtpolitik“ eines „von historischer Kriegsschuld gereinigten Deutschlands“ (ebd., 101) gipfelt, mit Christopher Clarks „Schlafwandler“-Metapher als „strategische[m] Hebel der Entschuldung“ (94). Eine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Gehalt der Studien der von ihm kritisierten Autoren versucht Wette gar nicht erst, um der „revisionistische[n] Welle“ (92) einmal mehr die Positionen Fritz Fischers entgegenzuhalten. Bezugspunkt ist u. a. der Beitrag Dominik Geppert / Sönke Neitzel / Cora Stephan / Thomas Weber: Der Beginn vieler Schrecken. In: Die Welt, 3.  Januar 2014. URL: https: /  / www.welt.de / print / die_welt / politik / arti cle123489102 / Der-Beginn-vieler-Schrecken.html. 131  So Cornelißen: „Oh! What a Lovely War!“ (wie Anm. 120), 278 f. und Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues (Teil I) (wie Anm. 49), 923 f. in ihrem Lob von Mombauer: Julikrise (wie Anm. 30). 132  Annika Mombauer: Der hundertjährige Krieg um die Kriegsschuld. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 5 / 6, 303-337, hier: 315; ähnlich argumentierend Dies.: Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H. 16 / 17, 10–16, wobei sie en passant die Möglichkeit neuer Erkenntnisse überhaupt in Zweifel zieht (ebd., 16). 133  Mombauer: Der hundertjährige Krieg (wie Anm. 132), 320 f. 134  Alle Zitate ebd., 323; ähnlich Wyrwa: Zum Hundertsten nichts Neues (Teil I) (wie Anm. 49), 921. Bei Mombauer ist diese Formulierung v. a. dahingehend irritierend, dass sie mit Blick auf Clark und andere an anderer Stelle schreibt, diesen sei 130  Ein

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handelte es sich um eine ähnlich verstiegene Annahme wie die wiederholt anzutreffende Aussage, Fritz Fischer habe seinerzeit das Postulat einer deutschen „Alleinschuld“ durchzusetzen versucht.135 Ein Quellenanhang soll die eigenen Aussagen dann wieder auf eine wissenschaftlich fundierte Basis stellen und die eigene Position erhärten. Demnach würden die abgedruckten Dokumente die Hauptverantwortung von Österreich-Ungarn und Deutschland „eindeutig beweisen“136. Das kann man so sehen – allerdings folgt dieser Befund aus der eigenen Perspektive, die sich eben auf diese beiden Staaten konzentriert und kaum Blicke über den Tellerrand zulässt. Hauptsächlich (und: erneut) fand sich hier eine Auswertung von Quellen deutscher Provenienz.137 Besonders interessant erscheint dies vor dem Hintergrund von Mombauers Ausführungen einige Jahre zuvor über die Frage „historischer Wahrheit“ auf der Basis von Dokumenten138, die in der Feststellung kulminierte, dass es manchmal eben „mehrere Wahrheiten“139 geben könne – eine Erkenntnis, die es ermögliche, andere Interpretationen zu akzeptieren, „selbst wenn wir sie als weniger wahrscheinlich ansehen als unsere eigenen“140 Diese Einsicht, nämlich dass Historiker auf der Basis identischen Quellenmaterials und in der Gewichtung historischer Abläufe zu konträren Schlüssen gelangen können, formulierte Mombauer an anderer Stelle auch angesichts der aktuellen Debatten141 – mit der Existenz „eindeutiger Beweise“ sieht es da eher schlecht aus! Das Problem zeigt sich auch in Formulierungen, die Begrifflichkeiten wie eine von Clark angeblich behauptete „relative Unschuld [des Kaiserreichs]“ und „geteilte Verantwortung“ nebeneinanderstellen, als ob es sich dabei um von Dritten ein „Weißwaschen“ Deutschlands vorgeworfen wurden (vgl. Mombauer: Guilt or Responsibility? [wie Anm. 2], 561), während sie diesen Vorwurf doch selber ebenfalls explizit äußert. 135  Vgl. Epkenhans: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 39), 147 f. 136  Mombauer: Der hundertjährige Krieg (wie Anm. 132), 318. Als Gewährsleute für diese Behauptung werden in einer Anmerkung dann wiederum Geiss, Krumeich und Mombauer selbst angeführt, womit sich die Argumentation einmal mehr im Kreis dreht. Ähnlich formuliert in Mombauer: Julikrise (wie Anm. 30), 117. 137  Vgl. Kraus: Neues zur Urkatastrophe (wie Anm. 117), 42; William Mulligan: The Trial Continues: New Directions in the Study of the Origins of the First World War. In: English Historical Review 79 (2014), Nr. 538, 639–666, hier: 659. 138  Vgl. Mulligan: The Trial Continues (wie Anm. 137), 664 mit Blick auf Annika Mombauer: The Fischer Controversy, Documents and the ‚Truth‘ About the Origins of the First World War. In: Journal of Contemporary History 48 (2013), H. 2, 290–314. 139  Mulligan: The Trial Continues (wie Anm. 137), 314 („multiple truths“). 140  Ebd. („[…] if we perhaps consider them less probable than our own“). 141  Vgl. Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2), 557.



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dasselbe handeln würde.142 Mombauers Vorgehen in diesen Passagen – andere sind weit differenzierter formuliert – steht paradigmatisch für irritierende Wertungen, die einzelne Autoren auf wenige Aussagen reduzieren, dabei entgegenstehende Äußerungen in deren Werk ignorieren, und wiederum andere dafür als „Kronzeugen“ heranziehen, die doch in der Sache ganz ähnlich argumentieren.143 Die Emotionalisierung des Themas, die spätestens in 1990er Jahren abgeflaut war,144 wird so wieder zurückgeholt. Die Beiträge von Mombauer, Berghahn und anderen erscheinen so als eine „spezifische Art von Anti-Literatur“, die alte Thesen wiederholt, „ohne auf […] Gegenargumente wirklich einzugehen“145. Hier findet sich das eigentliche „Déjà vu“ der Diskussionen des Jubiläumsjahres. Neues findet sich demgegenüber hauptsächlich in der Bündelung der Forschungsergebnisse der letzten Jahre146, die in der Öffentlichkeit – und teilweise auch in der Fachwissenschaft – bis dahin „kaum zur Kenntnis genommen“147 worden waren. Verbunden wird dies mit neuen Interpretationen und Gewichtungen.148 Gerade die verschiedenen vorgelegten Syntheseversuche von Leonhard, Münkler und anderen erweisen sich „inhaltlich und methodisch [als] großer Fortschritt“149. Der Boden für die damit einher gehenden Neubewertungen, die „Büchse der Pandora“, deren Öffnen der Berner Militärhistoriker Stig Förster Clark mit Bezug auf den Titel von Leonhards Werk zuschreibt, war allerdings schon lange zuvor bereitet150 – ganz zu schweigen davon, dass das Bemühen um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt wohl kaum mit den Übeln der Menschheit gleichzusetzen ist. Methodisch weiterführend erscheinen vor allem globalhistorisch und vergleichend argumentierende Ansätze. Trans- bzw. Internationalität kann zwar nicht als „Allheilmittel“ für alle offenen Fragen angesehen werden. Einzelstudien auf nationaler, aber auch regionaler und lokaler Ebene sind weiter142  Ebd.,

550. Dülffer: Einhundert Jahre Erster Weltkrieg (wie Anm. 25), 52 am Beispiel Hans-Ulrich Wehlers (siehe Wehler: Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte [wie Anm. 14]), der Clarks und Münklers Deutung der Julikrise mit Leonhard zu widerlegen sucht, dabei aber die strukturellen Ähnlichkeiten übersieht. 144  Vgl. Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2), 544. 145  Kraus: Neues zur Urkatastrophe (wie Anm. 117), 48. 146  Dülffer: Einhundert Jahre Erster Weltkrieg (wie Anm. 25), 48. 147  Kraus: Neues zur Urkatastrophe (wie Anm. 117), 43. 148  Hauptsächlich auf die Rolle der Entente-Mächte und Serbiens bezogen (auch in der Gewichtung der Darstellung), was wiederum Kritik hervorrief und die Rolle Deutschlands und der Habsburgermonarchie unterbelichtet erscheinen lässt; vgl. Dülffer: Die geplante Erinnerung (wie Anm. 5), 351–353. 149  Epkenhans: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 39), 143. 150  Förster: Hundert Jahre danach (wie Anm. 5), 23. 143  Vgl.

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hin nötig.151 Eine Zusammenschau entsprechender Analysen und Ergebnisse ist jedoch unabdingbar, um Fehlschlüssen zu entgehen. Dies wurde 2014 gerade am Beispiel jener Studien deutlich, die die althergebrachten zentralen Punkte der nationalen Debatten relativierten152 und sich allmählich von einer ‚Überbetonung‘ der Rolle des Deutschen Reiches entfernten.153 Aufs Ganze gesehen scheint heute eine unvoreingenommene Auseinandersetzung jenseits tagespolitischer Befindlichkeiten durchaus möglich, zumal in Großbritannien, auch wenn die Interventionen gerade von Röhl und (in Grenzen)154 Mombauer – die wiederum stark auf die deutschen Kontexte abzielen – anderes vermuten ließen.155 Ein allgemeiner Konsens über strittige Punkte ist zwar auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Doch deuten sich zahlreiche Wege an, auf denen weiterer Forschungsbedarf besteht, und die es auch jenseits der „Jubiläumsbewirtschaftung“ zu beschreiten gilt. Weitgehende Einigkeit besteht mittlerweile immerhin darüber, dass „,Schuld‘ kein hilfreiches Konzept zur Anwendung auf die Ursprünge des Krieges ist“156. Die klassische Forderung – der sich letztlich auch Mombauer anschließt157 –, das historische Geschehen aus seiner Zeit heraus zu deuten, ist so gerade mit Blick auf den Ersten Weltkrieg nicht der schlechteste Ratschlag. Denn: „Only when historians begin to look at European power politics before 1914 without seeing them as prefiguring an inevitable war and without being concerned primarily with Germany, are we likely to create an understanding of the origins of the war that differs greatly from the perspective we now enjoy.“158 151  Vgl. ebd., 17, 22 f. Deutlich wird dies auch am Wert biografischer Detailstudien, wie ihn Dülffer: Die geplante Erinnerung (wie Anm. 5), 359 hervorhebt. 152  Vgl. Mulligan: The First World War in a Global Age (wie Anm. 88), 312 f., 323. 153  Vgl. Friedrich Kießling: Vergesst die Schulddebatte! Die Forschung zum Ersten Weltkrieg überwindet liebgewonnene Denkblockaden. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 23 (2014), H. 4, 4–15, hier: 11 f. So auch die prinzipielle Einsicht bei Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2), 554, 563. 154  In Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2) argumentiert die Autorin in der Analyse aktueller Veröffentlichungen um einiges ausgewogener (bes. 555– 559) – zumindest solange dabei die Rolle Großbritanniens nicht kritischer gesehen wird (559–561), wobei sie den Topos vom ‚gerechten Krieg‘ fortschreibt. 155  Ein Beispiel hierfür sind die ausgewogenen Beiträge von Mulligan: The Trial Continues (wie Anm. 137); Ders.: The First World War (wie Anm. 88). 156  Mombauer: Guilt or Responsibility? (wie Anm. 2), 553 (Zitat), 563. 157  Ebd., 563 („to explain and understand them [= die Entscheidungen der 1914 handelnden Personen und die Strukturen, in denen diese Entscheidungen getroffen wurden; Anm. MM] within the context and constraints of the time and without the benefit of hindsight“). 158  Neilson: 1914 (wie Anm. 18), 412.

Hundert Jahre kulturelles Kriegsgedächtnis in Deutschland und Großbritannien Von Bernd Hüppauf, Berlin I. Woran wollen wir uns erinnern, wenn wir des Ersten Weltkriegs gedenken? Auf einer Tagung für junge Geschichtsinteressenten, Abiturienten und Studenten, die aus Anlass des Kriegsausbruchs 2014 am Maxim-GorkiTheater in Berlin stattfand, machte eine Studentin die Bemerkung, die neuen Bücher über den Ersten Weltkrieg erzählten die „Geschichte der alten Männer“. Sie traf den Geist der Gruppe. Die Jugendlichen hatten nicht den Eindruck, dass sie in den neuen Publikationen über den Ersten Weltkrieg einen Krieg für sie finden würden. Einen Zusammenhang mit dem Leben, zumindest mit ihrer Lebenswelt konnten sie nicht entdecken. Im Gegenteil: sie fühlten sich „angeödet“ oder „untergebuttert“.1 Die Studentin wusste wahrscheinlich nicht, dass sie ein Schlüsselwort des öffentlichen Diskurses in Großbritannien nach 1918 zitierte. Im Krieg hätten alte Männer, so lautete die Anklage, die Jugend zum Opfer gemacht. In derselben Weise, wie in der Kontroverse nach 1918 ein Gegensatz zwischen Generationen ausgetragen wurde, ist der gegenwärtige Erinnerungsdiskurs gespalten. Jetzt geht es nicht um Leben und Tod, aber um Leben und Gedächtnis, aus dem Identität entwickelt wird. Professoren, und mit ihnen die Mehrzahl der Medien, beherrschen den öffentlichen Diskurs über den Ersten Weltkrieg. Diese Geschichte geht diese Jugend nichts an. Sie war einmal wichtig, kann aber nicht auf Dauer für das kollektive Gedächtnis Deutschlands wichtig sein. Der Krieg der alten Männer, so lautet die Hypothese, von der ich ausgehen möchte, erschlägt das Interesse der jungen und an Geschichte interessierten Generation. Die Frage, was wir erinnern wollen, wenn wir von diesem Krieg sprechen, muss gestellt werden, nicht weil eine Geschichte für diese Generation geschrieben werden sollte, sondern weil ihr Vorbehalt die konzeptionelle 1  Der Eindruck, in deutschen Darstellungen eine Geschichte der alten Männer zu lesen, wird, füge ich aus meiner Erfahrung hinzu, von vielen amerikanischen Studenten, die sich für den Krieg interessieren, geteilt.

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Frage auslöst, was der Erste Weltkrieg für uns ist. Was war der Erste Weltkrieg im kulturellen Gedächtnis der letzen 100 Jahre und was wird aus dem Ersten Weltkrieg unter den Bedingungen der Gegenwart? Dieser Krieg ist nicht mit sich identisch, ist es nie gewesen. Das digitale Zeitalter und die neuen Formen von Krieg haben die Perspektive auf Krieg und damit auf diesen Krieg verändert. Die Nicht-Übereinstimmung verstärkt sich in der Gegenwart im Vergleich zur Veränderung des Kriegs in der Erinnerung des 20. Jahrhunderts. Mehr als das: Wird der Erste Weltkrieg, sobald wir ihn an den Umstürzen der Gegenwart messen, überschätzt und fehlbewertet? Wird der Politik, der Nation und dem Militär zu viel Bedeutung zugesprochen, wenn wir die Geschichte befragen, um etwas über die Welt zu erfahren? Im Horizont der Industrialisierung (welche Industrialisierung machen wir gerade durch?), der Lebensbedingungen des Anthropozän und der Globalisierung schrumpft die politische Bedeutung des Ersten Weltkriegs, und die Fragen, die wir an ihn richten, müssen andere sein als die des Zeitalters der Nationalstaaten. Die beliebte Metapher Urkatastrophe ist signifikant. Sie ist ein Anachronismus mit der Gefahr, von den richtigen Fragen abzulenken. Die richtige Antwort auf die Frage, welchen Krieg wir erinnern sollen, gibt es nicht. In dieser Frage können wir nicht frei entscheiden, nicht als Subjekte und nicht als Generation. Sie ist von Vorentscheidungen abhängig, die keine Subjekte treffen, und die außerhalb des theoretischen Rahmens der Historiografie gemacht werden. Die Art der Überlegungen und die Inhalte beugen sich der nationalen Erinnerungskultur, also beim Ersten Weltkrieg einer Tradition von hundert Jahren, sowie gegenwärtigen Präferenzen und Werten im öffentlichen Diskurs. Darin liegt aber keine Determination. Die Freiheit zu Änderungen und Innovation darf nicht geleugnet werden, ist jedoch gegen die normierende Kraft der Erinnerungskultur nur schwer durchzusetzen. Der Mainstream ist mächtig. Aber ein Umdenken ist nötig geworden. Der öffentliche Diskurs ist nicht damit beschäftigt, das richtige Bild des Kriegs zu ermitteln. Daran arbeiten Historiker und Politologen in Distanz zum öffentlichen Kriegsdiskurs. Diese Distanz ist schwer zu halten. Die Beziehung zwischen öffentlichem Diskurs und akademischer Geschichtsschreibung ist vielschichtig und von Interessen durchsetzt. Im Idealfall werden Inhalte und Ziele des kulturellen Erinnerns in freier gesellschaftlicher Kommunikation, zu der auch die akademische Forschung und die Gemeinschaft der Experten beitragen, bestimmt. Diese machtfreie Kommunikation ist eine idealistische Schimäre. Politik und der Medienmarkt üben Macht aus. Die diskursleitenden Interessen haben einen anderen Ursprung und andere Funktionen als das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft, und sie folgen anderen Regeln als die akademische Geschichte. Was ist der Zweck der Frage nach dem Kriegsbild im öffentlichen Diskurs? Es gibt keine ein-



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fache Antwort. Das öffentliche Erinnern der wissenschaftlichen Forschung gegenüberzustellen und das eine am anderen zu messen, ist verfehlt und unfruchtbar. Der gesellschaftliche Diskurs ist von der akademischen Historiografie nicht zu entkoppeln. Andererseits verfehlt er seine Funktion, wenn er die Bestimmung seiner Fragestellungen und Themen der akademischen Geschichte überlässt. Ich komme am Beispiel des Jahres 2014 auf die Folgen zu sprechen. Der Wunsch nach einer europäischen Erinnerung an den „Großen Krieg“ wird seit Jahren immer wieder geäußert. Es gibt sie nicht.2 Es gibt Vergleiche zwischen Deutschland und Frankreich,3 Deutschland und Großbritannien. Sie sind selten. Andere Nationen und Kulturen werden kaum je in Vergleiche einbezogen. Eine genuin übernationale Geschichte des Ersten Weltkriegs gibt es nicht, und die Frage ist berechtigt, ob es sie in der absehbaren Zukunft geben kann. Die Kontroversen des Gedenkjahres 2014 legen Skepsis nahe. Eine europäische Perspektive erfordert Dezentralisierung. Wie könnte eine Geschichte strukturiert sein, die aus wechselnden Perspektiven geschrieben würde, ohne in unzusammenhängende Fragmente zu zerfallen? Man kann sie sich wie einen avantgardistischen Film mit harten Schnitt-Gegenschnitt-Einstellungen denken. Wäre das Geschichte? Wohl nicht! Eine europäische Geschichte des Ersten Weltkriegs erfordert die Gemeinsamkeit von Problemen, so dass Unterschiede in einem überwölbenden Rahmen, jenseits von Nationen, beschrieben werden können. Solche Rahmen sind bis heute nicht entwickelt. Eine Frage wird selten ausgesprochen, hat sich aber implizit seit der Kriegszeit erhalten: die nach nationalen Mentalitäten und kulturellen Unterschieden. Diese zeigten sich in Kriegszeiten, so ist die Vermutung, klarer und unverstellter als im Frieden. Die Frage kann aus dem Untergrund nur gehoben werden, wenn sie geplant mit Methoden und Theorie arbeitet. Sie 2  Auch eine Globalperspektive wird vorgeschlagen. Jürgen Osterhammel fordert eine weltgeschichtliche Betrachtung, die, „die Geschichte des europäischen, sich gegen Ende des Jahrhunderts global erweiternden Staatensystems mit der Geschichte der kolonialen und imperialen Expansion in Beziehung“ setzt: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, 579. Seiner sehr berechtigten Warnung vor der Teleologie, also „die Geschichte des 19. Jahrhunderts auf den Kriegsausbruch am 4. August 1914 zulaufen zu lassen,“ ist die Warnung vor der komplementären Gefahr hinzuzufügen: das Ende von Bedeutung in der Geschichte durch ihren Zerfall in perspektivische Fragmente. 3  Für die seltene Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Historikern hat das „Historial de la Grande Guerre“, Péronne, fruchtbare Anregungen geliefert. Das jüngste Beispiel ist: Gerd Krumeich / Antoine Prost: Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht. Essen 2016.

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sind bisher nicht entwickelt worden.4 Eine vergleichende Untersuchung der britischen und deutschen Erinnerungskulturen begibt sich auf diesen schwankenden Boden. In einer vergleichenden Studie über die britische und deutsche Philosophie im Ersten Weltkrieg lässt sich Peter Hoeres auf eine grundlegende Frage dieses Feldes ein. Er zeigt für die britische Philosophie, dass die Vertreter des (deutschen) Idealismus durch den Krieg in Erklärungsnot gerieten. Seine Vertreter modifizierten notgedrungen ihre Position, gaben sie jedoch nicht auf. Vielmehr vertraten sie eine „Zwei-Deutschland-Theorie“, die zwischen einer „positiv konnotierten deutschen Kultur und einem verderblichen preußischen Militarismusdiskurs unterschied“.5 Auch Vertreter des (englischen) Liberalismus hatten das Feindbild „eines militaristischen, von Preußen dominierten Deutschlands“.6 Die Bewertung der Philosophie einer Nation als gut und des Handelns der Nation als moralisch böse und politisch verantwortungslos unterstellt beides der Ethik und Psychologie. Die Verbindung von philosophischem Denken und Nation widerspricht der Annahme der Autonomie des wissenschaftlich-logischen Denkens, das unabhängig vom Ort praktiziert werde, und macht es relativ. Die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts widerspricht dieser Hypothese nicht. Sie hat eine unbestreitbare Plausibilität und Suggestion. Aber unbeantwortet bleibt die Frage, auf welche Frage eine Antwort gesucht wird. Führen wissenschaftliche Positionen zur Bewertung der politischen Nation Deutschland und ihrer Theorien über Krieg und Frieden – oder ist das Urteil über die philosophische Theoriebildung Deutschlands die Folge der britischen psychologischen und ethnologischen Konstitution, ihres, wie es vor hundert Jahren hieß: Nationalcharakters? Der Vergleich der Kriegserinnerungen im kulturellen Gedächtnis der beiden Gesellschaften führt in das gleiche Dilemma. Sucht er nach Aussagen über die sich Erinnernden oder über das Erinnerte? Sind die Kriegserinnerungen die Folge des kulturell determinierten Blicks auf den Krieg, oder sind vielmehr die Kriegserfahrungen die 4  Die Völkerpsychologie des späten 19. Jahrhunderts, von Steinthal, Lazarus und Wilhelm Wundt entwickelt, ist aus verschiedenen Gründen diskreditiert aber bisher nicht überwunden. Vgl. die kenntnisreiche Darstellung von Andreas Vonderach: Völkerpsychologe. Was uns unterscheidet. Schnellroda 2014. Für ernsthafte Arbeit an vergleichenden Untersuchungen der Kriegserinnerungen ist eine theoretische Klärung dieses Feldes, das in der wiederbelebten Kulturgeschichte nicht vernachlässigt werden darf, die Voraussetzung. 5  Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004, 131, das nächste Zitat 177. 6  Den Druck zu nationaler Geschlossenheit erfuhren, wie Hoeres belegt, Philosophen mit Sympathien des deutschen Idealismus, etwa der germanophile Politiker und Philosoph Richard Burdon Haldane, der 1915 zur Demission gezwungen wurde.



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Ursache für die Ausbildung der nationalen Kriegserinnerung? Entstehen das Kriegsbild und das Kriegsgedächtnis aus dem, was die Kriegsteilnehmer in ihren Köpfen mitbringen, oder sind die Kriegsteilnehmer die mentalen Produkte ihrer Erlebnisse und Erfahrungen im Krieg? Das methodische Dilemma muss unbeantwortet bleiben, und ich bescheide mich mit dem Versuch einer verstehenden Beschreibung. Ich will im Folgenden Themen in der akademischen Geschichtsschreibung und in Literatur, Film und Ritualen in Großbritannien und Deutschland des letzten Jahrhunderts auf ihre Grundlagen befragen und miteinander in Beziehung setzen und mache am Ende des Aufsatzes einen Vorschlag, der in eine Richtung weist, die nicht neu ist, aber doch in der öffentlichen Erinnerungskultur und der akademischen Behandlung des Kriegs bisher ein Schattendasein geführt hat. Die Siegergesellschaften und die Verlierer des Ersten Weltkriegs haben unterschiedliche Erinnerungskulturen ausgebildet. Die Unterschiede wurden bereits 1918 / 19 sichtbar und ziehen sich bis in die öffentlichen Erinnerungen im Jahr 2014. Walter Benjamin hatte beobachtet, dass der Verlierer den Krieg zweimal verliert: auf dem Schlachtfeld und im Gedächtnis. Das war eine hellsichtige Beobachtung, die bedacht zu werden verdient. Aber sie trifft nur teilweise zu. Die Unterschiede in den Erinnerungen lassen sich nicht allein mit Sieg und Niederlage erklären. Die Ursachen für Bewahren und Verlieren oder Erinnern und Vergessen reichen tief in die Vorkriegszeit zurück. Sie sind integrale Teile eines nationalen kulturellen Beziehungsnetzes. Erinnern und Vergessen bilden keinen Gegensatz. Das Vergessen ist der Schatten der Erinnerung oder ihre stille Kehrseite. Erinnerung und Vergessen sind sozial konstruiert und entstehen aus einer spezifischen Einstellung zu Vergangenheit und Gegenwart. Erinnerung ist immer als eine Interaktion zwischen Zerstören oder Verlieren und Bewahren oder Pflegen zu verstehen, und auch das Vergessen ist ein selektiver und dynamischer Prozess. Das Vergessen beugt sich politischem Druck, der Macht, und es passt sich den Regeln des öffentlichen Diskurses an. Es ist von Erfahrungen der Vergangenheit geprägt und kann Verlust bedeuten, den Benjamin im Sinn hatte, und in Lüge und Selbsttäuschung übergehen. Es kann aber ebenso an Neuund Umschreibungen der Geschichte teilnehmen und zu einer Überlebensstrategie werden7 und trägt dann zur Begründung von Identität bei. Die Spuren, die der Erste Weltkrieg in den beiden untersuchten Gesellschaften hinterließ, sind nicht nur vom Wunsch, nicht zu vergessen („Lest 7  Kontroverse Beispiele sind Deutschland und Japan nach 1945 oder Spanien nach dem Bürgerkrieg.

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we forget“, Rudyard Kipling), sondern auch von dessen Gegenteil, Abwehr und dem Wunsch, sich nicht erinnern zu müssen, begleitet. In der Verlierernation wirkte die Abwehr. Denn die Erinnerung an die eigene Geschichte als Versagen und an eine Beteiligung an Unrecht widerstrebt dem nationalen Stolz. Das Vergessen schützte vor dem Verlust der nationalen Ehre und verhinderte eine Entwertung der Ideale, für die der Krieg gefochten worden war. Erinnerung hätte eine von Nationalisten und Bellizisten unerwünschte Folge haben können: Humanisierung und Demokratisierung. Diese Befürchtung galt für Großbritannien nicht. Abwehr und Vergessen waren in der Siegernation nicht abwesend, wirkten aber auf andere Weise. Die Gedächtnisspuren zeugen ebenso von einem intellektuellen Ringen um den Gegenstand, also um ihre Verursachung. Bereits ein erster Blick auf dieses Ringen zeigt eine größere Kontinuität in Großbritannien und im Unterschied dazu einen zerrissenen öffentlichen Diskurs der Kriegserinnerung sowie einen Kampf um die Konsistenz des Kriegs für die Erinnerung in Deutschland. Der Name entstand früh und ist symptomatisch: The Great War, La grande guerre, de Groote Orlog sind bis heute gebräuchliche Bezeichnungen, während in Deutschland der Große Krieg und die Große Zeit, auch die schwere Zeit (Reden in schwerer Zeit 1915) nur bis 1918 gebraucht wurden. Groß und schwer geben dem Krieg die Bedeutung des Heroischen. Größe ist in der Geschichte schwer zu erringen, erfordert Kampf, Selbstüberwindung und die Zuschreibung von außergewöhnlicher Bedeutung. Groß war der Krieg nicht, weil er beinahe den ganzen Globus erfasste, sondern weil er als existenzieller Kampf verstanden wurde. Er betraf, wie Philosophen und Zeitungen auf beiden Seiten nicht müde wurden zu wiederholen, die höchsten Werte der Nation. Sie gaben ihm in Deutschland oft eine metaphysische Dimension. Das sah die Mehrheit der Beobachter in Frankreich ganz ähnlich, wie die Verbreitung von Union sacrée belegt. In Frankreich haben sich Reste dieser Bewertung erhalten. Die exzeptionelle Stellung Frankreichs als Nation mit einer heiligen Mission für die säkulare Welt ist nicht vergessen. Die universellen Werte, für die Frankreich in diesem Krieg kämpfte oder glaubte zu kämpfen, werden bis heute als Rechtfertigung angeführt. Das gilt für die Ideen von 1914, denen sich deutsche Intellektuelle und das Bürgertum verschrieben hatten, nicht. Sie verblassten im Lauf des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie als eine nationale Hypothek empfunden und als eine Auswirkung des Sonderwegs, den Deutschland gegangen sei, diskreditiert. In der akademischen Geschichtsschreibung wie im kulturellen Gedächtnis wurde der Krieg als Ganzer in diese negative Bewertung des Sonderwegs einbezogen und, wie die meisten negativen Erinnerungen, aus dem Gedächtnis ausgeschieden. Gegen das Attribut groß regte sich unüberwindlicher innerer Widerstand.



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Die öffentliche Meinung in Großbritannien unterschied sich von dieser Position. Auch auf der Insel war die Überzeugung verbreitet, dass auf dem Kontinent ein ganz besonderer Krieg gefochten werde: ein existenzieller Kampf. Aber die Zivilisation, die vorgeblich auf dem Spiel stand, war in Großbritannien nicht metaphysisch begründet. Argumente, die dem Krieg eine transzendente Dimension geben, waren sehr selten. Auf den spezifisch britischen Pragmatismus komme ich zurück und will zunächst feststellen, dass sich als Folge dieser unterschiedlichen geistigen Ausgangspositionen verschiedene Kriegsbilder ausprägten. Die Bezeichnung Great War stieß auf keinen inneren Widerstand und konnte die Erinnerung bis in die Gegenwart prägen. II. Kriegserinnerungen in zwei Gesellschaften 1. Nach 1914 Die Grundlagen der späteren Kriegserinnerungen wurden bereits während des Kriegs gelegt. Sie waren nicht, wie oft zu lesen ist, von Hassgefühlen geprägt. Aus den Zeugnissen der Soldaten an der Front spricht kein Hass. Es hat ihn gegeben, aber nicht an der Front, sondern an der Heimatfront und mehr zu Beginn des Kriegs als später. Das kulturelle Gedächtnis war von Emotionen geleitet. Aber der Hass beschränkte sich auf Minderheiten. In den ersten Kriegsmonaten überflutete eine Welle patriotischer und kriegerischer Lyrik die Zeitungsredaktionen.8 Diese Massenware endete im Lauf des Jahres 1915. Auch in diesem Umfeld gehörte Ernst Lissauers Hassgesang gegen England (November 1914) zu den Ausnahmen. Bezeichnend war allenfalls, dass das Gedicht sich nicht gegen Frankreich, sondern gegen Großbritannien richtete. Auf der Insel saß – so die allgemeine Überzeugung – der wahre Feind. Noch in der späteren Kriegsliteratur war, seit Ernst Jüngers In Stahlgewittern, der würdige Gegner ein Engländer oder Schotte. „Was schiert uns Russe und Franzos’? Schuß wider Schuß und Stoß um Stoß! Wir lieben sie nicht, Wir hassen sie nicht, […] Wir haben alle nur einen Haß, Wir lieben vereint, wir hassen vereint, Wir alle haben nur einen Feind: ENGLAND!“ 8  Julius Bab sprach im Rückblick (1920) von einer „poetischen Mobilmachung“. Unter zahllosen Anthologien war die bekannteste: Julius Bab: 1914. Der Deutsche Krieg im Deutschen Gedicht. Berlin o. J. (1914–1915), zahlreiche Neuauflagen.

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Es gab die Parole: „Gott strafe England“ und die Erwiderung: „Er strafe es.“9 Wilhelm II. und einige militante Nationalisten haben dieses plumpe Werk offenbar geschätzt. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass es in der Öffentlichkeit angenommen worden wäre oder Wirkung gezeigt hätte. Keine Spur des Hassgesangs (und seines Autor) hat sich nach den ersten Kriegsjahren erhalten. Auch in Großbritannien lassen sich Hassgefühle kaum belegen. Beispiele sind die Reaktionen auf die Versenkung der Lusithania (7.  Mai 1915) oder die Exekution Edith Cavells (12. Oktober 1915). Trotz großen Aufwands des Propagandabüros in London, in beiden Fällen emotionale Reaktionen auszulösen, schlug die Stimmung in den USA nicht um, und in Großbritannien verstärkte sich wohl die Einigkeit im Kampf gegen den barbarischen Feind, aber Äußerungen von Hass waren die Ausnahme. Auf das kulturelle Gedächtnis hatten sie (trotz einer Briefmarke und eines Cavell-Gedenktags der Church of England) kaum einen Einfluss. Dass die eigene Nation eine Bedeutung für die Zukunft der Menschheit beanspruchen könne, galt 1914 auf beiden Seiten als gesichert. In Großbritannien wie im Deutschen Reich wurde der Krieg als aufgezwungener Verteidigungskampf um die Existenz der eigenen Nation interpretiert. Der Kampf wurde zur existenziellen Schlacht um das Selbst, um das Daseinsrecht in der Zukunft stilisiert, der die Interessen anderer Völker einzuschließen vorgab. Die Briten fochten den Krieg, war die verbreitete Ansicht, um ihr nationales Selbst gegen den preußischen Militarismus, den autoritären Staat und letztlich gegen die Barbaren Europas (die Propaganda hielt von 1914 bis ans Kriegsende an der Bezeichnung Hunnen für den Gegner fest) zu verteidigen.10 Die Kriegspropaganda stellte der Welt das Bild der Gegner als vorzivilisierte Barbaren vor Augen. Das war nicht bloßer Zynismus der Propagandaschlacht. Um die Welt von dieser Barbarei zu befreien, kämpfte die Entente den Krieg für universale Werte, zur Bewahrung der Zivilisation. 9  Stefan Zweig schrieb 1942: „Nie vielleicht hat ein Gedicht in Deutschland, selbst die ‚Wacht am Rhein‘ nicht, so rasch die Runde gemacht […] Der Kaiser war begeistert und verlieh Lissauer den Roten Adlerorden, man druckte das Gedicht in allen Zeitungen nach, die Lehrer lasen es den Kindern vor, die Offiziere traten vor die Front und rezitierten es den Soldaten.“ 10  Aufschlussreich ist die propagandistische Auswertung der deutschen Gräueltaten beim Marsch durch Belgien im Herbst 1914. Die Verarbeitung der Ereignisse diente in erster Linie nicht der Dokumentation, sondern konstruierte ein Medienereignis, das die Evidenz für die Hunnen-These liefern sollte. In Großbritannien gab es Opposition gegen die Schönfärberei des Imperialismus und das schmeichelhafte Eigenbild durch Virginia Woolf, Leonard Woolf, John Meynard Keynes und andere Mitglieder des Bloomsbury Circle, Georges Bernhard Shaw und D. H. Lawrence.



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Briten verstanden den Auftrag an die Großmacht, die vermeintlich keine territorialen Ansprüche stellte, als nationale Mission, der Welt die Zivilisation zu bringen. Der Kampf für Moderne und ihre Zivilisation bildete die philosophische Rechtfertigung für den Krieg. Ähnlich wie der Kolonialismus als Zivilisierung der Welt interpretiert wurde, wirkte dieser weltgeschichtliche Auftrag auch im Ersten Weltkrieg. Aus der deutschen Perspektive stellten sich Zweifel an der Universalität der Werte der Gegenseite ein. Es lag nahe, sie für britische Werte, die sich im Lauf einer Geschichte von über 300 Jahren als vorgeblich universales Wertsystem globalisiert hatten, zu deklarieren.11 Die Deutschen kämpften für den Umbau einer Moderne, die, so lautete das Argument auf vielen Seiten des öffentlichen Diskurses, nicht ihre Moderne war. Der deutsche Diskurs sprach vom Kampf gegen den seelenlosen Materialismus, eine entleerte, formalistische Freiheitsidee und die Herrschaft des Kapitalismus in Ökonomie und Lebenswelt. Deutschland kämpfte für spezifisch deutsche Werte, die universalisiert werden sollten. In erster Linie handelte der öffentliche Diskurs von der deutschen Freiheit.12 Gemäß seinem Eigenbild kämpfte Deutschland gegen die Vereinheitlichung der Welt durch den englischen Imperialismus und für die Vielfalt und das Recht auf Abweichung. Der deutsche Imperialismus und Annexionismus in der öffentlichen Kriegszieldebatte blieb bei dieser Argumentation unbemerkt oder wurde, wie das Mitteleuropa des Liberalen Friedrich Naumann zeigt, in eine eigene Fortschrittsideologie gehüllt.13 Populär war die Vorstellung, eine junge Nation habe das Recht, für sich einen Platz in der Globalgeschichte zu sichern. Der Einschätzung des Rechts der jungen Nation hätten die meisten Beobachter in Deutschland, wären sie gefragt worden, zugestimmt. Die deutsche Mission kann man in den Zusammenhang der verspäteten Nation stellen, die einen deutlichen Unterschied 11  Das ist eine wohlwollende Lesart von Büchern wie Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen. München / Leipzig 1915. Unter Berücksichtigung der aufgeheizten Kriegsatmosphäre von 1915 und des in der Völkerpsychologie wirksamen Essentialismus ist diese Interpretation des nationalistischen Grundtons dieses und anderer, ähnlicher Vergleiche jedoch nicht unangemessen. 12  Die deutsche Freiheit war Gegenstand einer 1914 einsetzenden ausführlichen Debatte im Rahmen der Ideen von 1914. Im Mittelpunkt stand die philosophischintellektuelle Abgrenzung des westlichen (politischen) vom spezifisch deutschen (philosophischen) Verständnis von Freiheit. 13  Friedrich Naumann: Mitteleuropa. Berlin 1915, war eine der vielgelesenen Kriegspublikationen. Naumann nahm für Deutschland einen „liberalen Imperialismus“ in Anspruch und begründete Mitteleuropa unter der Hegemonie des Deutschen Reichs in Zeiten des Imperialismus und der von Großbritannien begründeten „Wirtschaftsblöcke“, als eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

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zwischen der ältesten und der jüngsten Nation Europas in die Begründung und Wahrnehmung des Kriegs einführte. Nach 1918 setzte sich dieser während des Kriegs entwickelte Unterschied zwischen der britischen und der deutschen Haltung fort, wenn auch in Deutschland mit eingeschränkter Unterstützung. Die Informationspolitik während des Kriegs hat in beiden Ländern einen langen Schatten auf das Kriegsbild geworfen. Für beide Länder galt: in einer Flut von Zeitungsmeldungen fanden sich wenige und stark selektierte Informationen, und die Vermutung wuchs bei kritischen Lesern, dass sie getäuscht wurden.14 Es dauerte bis etwa 1920, bis konkrete Kenntnisse über den Krieg in Großbritannien allgemein verbreitet waren.15 Liest man heute die Zeitungen aus den Kriegsjahren, schrieb Philip Gibbs schon 1923, errötet man vor Scham über die Lügen und Verleumdungen des Gegners.16 Gibbs spricht von degradation and insanity. Seit den Büchern von Martin Middlebrook, The first day of the Somme (1971), Lyn Mcdonald, They called it Paschendaele (1984) und Alan Clark, The Donkeys (1991), die aus der Perspektive von Historikern den Krieg an der Westfront populär darstellten, erscheint es wie natürlich, dass die Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich mit dem Ersten Weltkrieg der Schlachtfelder genauer vertraut wurde. Selbstverständlich ist das keineswegs. Die sehr erfolgreiche Dokumentarserie The Great War (26 Folgen, BBC, 1964) hat einen wichtigen Beitrag geleistet, um ein Bild dieses Kriegs im kollektiven Gedächtnis zu verbreiten. Sie wurde auch im deutschen Fernsehen gezeigt und hat mehr als 50 Jahre nach Kriegsausbruch viel zum Entstehen eines Bildgedächtnisses beigetragen. Es unterscheidet sich von dem der Jahre im Krieg und der Jahrzehnte nach 1918. Die Frage stellt sich, ob Briten und Deutsche dieselben Bilder gesehen haben, oder ob es Unterschiede in der Rezeption gab. Die Serie stützte sich auf Originaldokumente des Kriegs, vor allen auf Fotografie. Dieser Realismus folgte einer spezifischen Konzeption von Krieg, die an die der Kriegszeit anknüpfte. Ist sie noch immer zeitgerecht? 2. Nach 1918 Treffen wir die Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Diskurs und der akademischen Historiografie, wird eine weitere Differenzierung nötig. u. a. Vera Brittain: Testament of Youth. London 1978, 136 u. ö. J. Farrar: News from the Front. War Correspondents 1914–1918. Stroud 1998, S. IX. 16  Philip Gibbs: Adventures in Journalism. London 1923, 217. 14  Vgl

15  Marin



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Jan und Aleida Assmann haben den Begriff des kulturellen Gedächtnisses entwickelt. Das kulturelle Gedächtnis ist durch eine Distanz zur akademischen Geschichte ebenso wie durch „Alltagsferne“ und einen kulturell bestimmten Zeithorizont charakterisiert. Einem großen geschichtlichen Ereignis wird bei der Ausbildung des kulturellen Gedächtnisses viel Raum eingeräumt. Er ist nicht statisch, sondern unterliegt der fortwährenden Bearbeitung.17 Das gilt für den Ersten Weltkrieg in beiden Gesellschaften seit dem Kriegsende. Für die kollektive Identitätsbildung kommt ihm eine konstitu­tive Rolle zu. Für die britische Identität blieb lange Zeit das Feindbild aus der Kriegszeit instrumentell. Im kulturellen Gedächtnis erhielt sich das Bild des ehemaligen Gegners als militaristische und preußisch-autoritäre Gesellschaft. Ihm widersprach eine Desillusionierung, die in den 1930er Jahren von kritischen Studien in den USA über die britische und amerikanische Kriegspropaganda ausging. Die Reaktion auf die Erkenntnis, von der Presse unter der Anleitung der Regierung belogen worden zu sein, war stark und hat, wie oft argumentiert wurde, das Zögern, in den Zweiten Weltkrieg einzusteigen, ausgelöst: „[…]  the paroxysm was tremendous. Its effects were felt all through the Second World War, influencing British strategy; They are still felt in Britain today.“18 Wir erleben, dass nach weiteren dreißig Jahren diese lang anhaltenden Effekte aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Paul Fussel schreibt vom englischen Phlegma, das aus persönlichen Zeugnissen spreche.19 Schon in vielen Briefen von der Front habe ein Ton geherrscht, der Englisch als unflappable bezeichnet werden kann, also: gelassen, unerschütterlich. Fussel sieht darin offensichtlich einen Zug des englischen Nationalcharakters, den er seiner bahnbrechenden Analyse des modernen Gedächtnisses zugrunde legt. Phlegma moderiert die Emotionen, und Moderation aus einem kollektiven Phlegma zeigte sich in Kriegserinnerungen und der Einstellung zum Leben in England nach 1918. Es gab eine im Verhältnis zu Deutschland große Gruppe der Nachdenklichen, die womöglich aus diesem Phlegma lebten und dachten. Die abwägende und fragende Haltung des Bloomsbury Circles, von G. B. Shaw und D. H. Laurence, setzte sich in das Nachkriegsengland fort. Sie ließen sich nicht in den aufgeregten Diskurs über die nationalen Interessen, der auch in England 17  Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Alaida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006; zuvor Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925; Ders., La mémoire collective. Paris 1950. 18  John Terraine: The First World War 1914–1918. London 1984, 117. 19  Paul Fussel: The Great War and Modern Memory. Oxford 1975, 181.

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geführt wurde, hineinziehen. Für sie zählte der Sieg des Militärs und der Nation wenig. Sie stellten die Frage, wie es mit der Zivilisation weitergehen sollte. Was war die Zukunft der Gelassenheit und der zivilen Werte, die auf beiden Seiten verraten worden waren? In diesen Kotext gehört der Topos des Generationenkonflikts: Alte Männer opfern die Jugend.20 Konnte man den alten Männern, die im Krieg ihren wahren Charakter gezeigt hatten, die Zukunft überlassen? Der Generationenkonflikt setzte sich fort in den Topos der verlorenen Generation. Er hat zwei Bedeutungen. Die statistische meint, eine Generation sei aus der Generationenkette ausgelöscht. Das ist trotz der hohen Verluste an jungen Männern an der Front unhaltbar. Die zweite Bedeutung ist psychologisch: diese Generation habe den Lebensgeist verloren, sei der Welt verloren gegangen. In dieser Formulierung schwingt ein Gedicht von Friedrich Rückert, das die Vertonung von Gustav Mahler (1901) bekannt gemacht hat, an: „Ich bin der Welt abhanden gekommen.“21 Das Gedicht spricht von einem Dichter, der zwar in der Gegenwart lebt, aber eigentlich abwesend ist und in eine andere, imaginierte Welt gehört. Die Atmosphäre einer solchen Abwesenheit, umgeben von der praktischen Welt, spricht aus Gedichten der englischen Kriegspoeten. Es ist erstaunlich, wie nahe die romantische Stimmung des Gedichts dem Lebensgefühl einiger junger Dichter und Intellektueller in Großbritannien nach 1918 verwandt war, von Wilfred Owen, Edmund Blunden oder Siegfried Sassoon.22 Ihre Gedichte werden bis heute gelesen. Anthologien erschienen in hohen Auflagen. Wie lebendig diese Stimmung in der britischen Kriegserinnerung noch immer ist, zeigt der Erfolg von Pat Barkers Regeneration Trilogy (1991 / 95). Sie schildert den Kampf der heimgekehrten Soldaten und der daheim Gebliebenen, mit den Ereignissen psychisch fertig zu werden. Im Roman Niemandsland führt sie den jungen Dichter Siegfried Sassoon ein. 20  Siegfried Sassoon: Memoirs of an Infantry Officer. London 1930; Farrar: News (wie Anm. 15); Philip Gibbs: The Hope of Europe. The Soul of the War, Realities of War. London 1921. 21  „Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mit der ich sonst viele Zeit verdorben, Sie hat so lange nichts von mir vernommen, Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben! […] Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, Und ruh’ in einem stillen Gebiet! Ich leb’ allein in meinem Himmel, In meinem Lieben, in meinem Lied!“ 22  Jon Silkin (Hrsg.): The Penguin Book of First World War Poetry. London 1979 und zahlreiche spätere Editionen.



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Er hatte im Juli 1917 an das Parlament in London geschrieben, der sinnlose Krieg müsse beendet werden. Er wurde nicht vor ein Kriegsgericht gestellt (was in Großbritannien wie in Deutschland nicht ungewöhnlich war), sondern in eine Irrenanstalt eingewiesen (auch keine Seltenheit). Dort trifft er auf ehemalige Soldaten, die mit ihren Traumata nicht fertig werden. Auch andere Dichter von Kriegslyrik wie Wilfred Owen und Robert Graves nehmen an diesem Schicksal teil. Es ist erstaunlich, dass in Deutschland, dem Land, das den Krieg gegen eine materialistische und gefühlskalte Kultur zu führen glaubte, die Kriegserinnerung so wenig durch Empathie und das Gefühl von Mitleid ausgezeichnet ist. Die melancholische Stimmung der britischen Kriegslyrik hat in Deutschland kein Äquivalent, und so gibt es zu dieser einfühlsamen psychologischen Studie kein Gegenstück in Deutschland. Mir scheint für die Unterschiede in den Kriegserinnerungen der beiden Gesellschaften bezeichnend zu sein, dass es die Vorstellung einer der Welt im Krieg abhanden gekommenen Generation in Deutschland nicht gab. Damit fehlte dem Opferdiskurs die Voraussetzung. Einfühlung in die Opfer und Mitgefühl sind daher im deutschen Kriegsgedächtnis selten.23 Nicht Melancholie, sondern Kampf lässt sich als das Leitmotiv der Kriegserinnerung in Deutschland benennen. Die kollektive Erinnerung fand auf einem mentalen Schlachtfeld statt. Die kollektive Erinnerung war polarisiert, und alle am öffentlichen Diskurs Beteiligten bestanden darauf, dass die eigene Sicht das authentische Kriegsbild zeige. Englische Kriegsliteratur wurde nicht zur Kenntnis genommen. Die Ernüchterung, die in Großbritannien und den USA im Jahrzehnt nach dem Kriegsende einsetzte, hat in Deutschland kaum gewirkt, obwohl die Berichterstattung, die unter der Zensur der Oberstem Heeresleitung gestanden hatte, erkennbar lügenhaft gewesen war: Sieg folgte auf Sieg bis 1918, und dann kam die Kapitulation. Die Niederlage blieb unverständlich. Das mangelnde Verständnis hatte Folgen für das Bild von Krieg und Frieden und für die Politik, die als Fortsetzung des Kriegs im Frieden charakterisiert wurde.24 Das Ende der Zensur und die freien Medien führten in Deutschland die Mehrheit nicht zu einem kritischen Kriegsbild und zu selbständigen Einstel23  Der Roman Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat. Berlin 1930 wurde zwar für kurze Zeit ein Bestseller, war und blieb aber eine Ausnahme. Adrienne Thomas war das Pseudonym für Hertha Strauch, einer Jüdin aus dem Elsass. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb dieser Roman vergessen. Paul Alverdes: Die Pfeiferstube. Frankfurt am Main 1929. 24  Aufschlussreiche Texte versammelt Bernd Ulrich / Benjamin Ziemann (Hrsg.): Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 1997.

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lungen zum Krieg. Die Propaganda aus der Zeit des Kriegs setzte sich auf andere Weise nach dessen Ende im öffentlichen Diskurs fort. Ohne das Verständnis der Niederlage ging der Krieg in den Köpfen weiter. Die akademische Geschichtsschreibung war keine Hilfe beim Versuch, den Krieg jenseits der nationalen Interessen und Vorurteile zu verstehen. Die Kriegserinnerung wurde in eine öffentliche Un-Kultur des politischen Streits verwandelt. Abgesehen von Ernst Jüngers Prosa setzte die literarische Bearbeitung des Kriegs erst zehn Jahre nach dem Kriegsende ein. Sie führte die Deutungskämpfe der zerrissenen Republik fort. Die Fortsetzung des Kriegs mit den Mitteln von Sprache und Bild okkupierte die Erinnerungskultur. Das Freund-Feind-Denken vergiftete den Frieden und machte den öffentlichen Diskurs zu einem Schlachtfeld der Worte und Bilder. Von Moderation konnte nicht die Rede sein. Jüngers In Stahlgewittern (1920) und den nationalistischen Autoren (Dwinger, Zöberlein, Thor Goot, Schauwecker) standen die Romane von Remarque (1928), Zweig (1927), Glaeser, Renn und Scharrer gegenüber. Die Anti-Kriegs-Publikationen des BPRS die Linkskurve oder eine Zeitschrift wie Die Pleite (nur ein Exemplar konnte im Februar 1919 erscheinen) führten in unversöhnliche Kämpfe um die richtige Erinnerung. Die britische Moderation kann mit Ernst Jüngers desinvolture verglichen werden, dem Ideal der kalten und emotionslosen Distanz zum Kriegsgeschehen. Er stellte sich eine andere Zukunft vor, in der Gelassenheit kein Wert war. Jüngers desinvolture bildete die Grundlage für eine Zustimmung zum Krieg der Industrialisierung als einer intellektuellen Herausforderung der Moderne. Diese Herausforderung wirkte in Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisierung und politischen Moderne, weitaus weniger stark als in Deutschland. Der Krieg war über die antagonistischen Kriegsbilder hinweg eine existentielle Erfahrung mit der Überhöhung des Ichs. Das Risiko des Lebens, das in Großbritannien mit Abenteuern wie dem Bergsteigen in den Alpen und im Himalaya verbunden war, blieb in Deutschland mit dem Krieg verknüpft. Es wirkte eine Identifikation der jungen Generation mit einer zum Ideal überhöhten geistigen Nation, die aus der militärischen und politischen Niederlage eine moralische Überlegenheit ableitete. „Mit uns zieht die neue Zeit“ war das Motto dieser Generation. Ich will einen Augenblick bei diesem Lied bleiben, da es einen charakteristischen Unterschied des Erinnerns der deutschen und britischen Jugend erhellt. „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“25 entstand als Lied der Arbeiterbewegung. Der Autor des Textes, Hermann Claudius, gab an, es während eines Heimaturlaubs von der Westfront unter dem Eindruck der Spannung zwi25  „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ / und die alten Lieder singen / und die Wälder widerklingen / fühlen wir, es muss gelingen: / Mit uns zieht die neue Zeit.“ Vgl.



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schen Krieg und friedlichem Leben in Hamburg zu Pfingsten 1916 geschrieben zu haben. Das ist eine falsche Erinnerung oder wahrscheinlicher eine bewusste Irreführung. Es gibt eine Druckfassung von 1914 in der Zeitschrift „Freie Sozialistische Jugend“, dem Hamburger Echo.26 Am 17.  März 1916 wurde die Freie Jugendorganisation in Hamburg-Altona gegründet. Bei diesem Anlass wurde das Lied von einem Hamburger Arbeiterchor gesungen. Es zeugt von dem Optimismus und der Aufbruchsstimmung der Jugendbewegung und der Arbeiterjugend in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Kriegserinnerung wurde nun in diesen mentalen Kontext einbezogen.27 Das Lied steht im lebensphilosophischen Kontext der Jugendbewegung. Sie war ein Protest gegen Industrialisierung und die Gefühllosigkeit der wissenschaftlich und technisch verstandenen Moderne und setzte ihr durch die Idealisierung der Natur und Jugend eine Gegenwelt entgegen. Das Leben außerhalb der Zivilisation und unter freiem Himmel an der Westfront war anders als das Leben der primitiven Gesellschaften in Hütten, und es war doch, wie Walter Benjamin bemerkte, vergleichbar. Eine Beziehung zum Primitivismus, der das kulturelle Leben von Paris und Berlin seit der Jahrhundertwende erfasst hatte und auf eine Erneuerung der europäischen Kultur zielte, kann für dieses Kriegsbild fruchtbar gemacht werden. In der Kriegserinnerung als Aufbruch der Jugend aus dem Geist von Anti-Kapitalismus, Primitivismus und Wandervogelideologie steckte nicht nur eine dynamische Kraft, sondern auch ein wirklichkeitsverneinender Enthusiasmus. „Wie mit bittender Gebärde hält die alte Mutter Erde, dass der Mensch ihr eigen werde, ihm die vollen Hände hin“ heißt es in einer Strophe. Der Heroismus vom August 1914, die Kriegsbegeisterung der deutschen Jugend und das Pathos des Neuen Menschen schwingen in diesen Worten. Aus der zeitlichen Distanz wird offensichtlich, dass der Heroismus fehlgeleitet und das Pathos hohl waren, aber beide wirkten als ein mentales Aufputschmittel, das vor der Wirklichkeit immunisierte. Eine vergleichbare Literatur gab es in Großbritannien nicht. Wann wir schreiten Seit an Seit. Hymnen und Kampflieder der Arbeiterbewegung. Berlin 2004. 26  Vgl. Christoph Butterwegge / Heinz-Gerd Hofschen: Sozialdemokratie – Krieg und Frieden. Antimilitarismus, Kriegsverhinderung und „Vaterlandsverteidigung“. Die Auseinandersetzung in der Sozialdemokratie um den Kampf gegen den Krieg 1900 bis 1914. Heilbronn 1984; Heinrich Eppe: 100 Jahre Sozialistische Jugend in Deutschland im Überblick. In: Heinrich Eppe / Ulrich Herrmann (Hrsg.): Sozialis­ tische Jugend im 20. Jahrhundert. Weinheim / München 2008. 27  In Parenthese sei angemerkt, dass die Wirkungsgeschichte dieses Lieds nicht mit der Republik 1933 zu Ende ging, vielmehr wurde es seit den 1960er Jahren auf Parteitagen der SPD als Schlusslied gesungen. Dem Parteilied der SPD und KPD Brüder, zur Sonne, zur Freiheit steht es näher als der melancholischen Lyrik in England.

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III. Bellizisten, Pazifisten, Modernisten Die Nationalisten und Bellizisten brauchten das Kriegsgedächtnis für ihre Identität. Die Pazifisten brauchten das Kriegsgedächtnis für didaktische Zwecke und zur Abschreckung. Die Modernisten wollten das Gedächtnis zerstören und Identitätsbildung verhindern und lachten über die moralischen Didaktiker. Nationalisten und Bellizisten bliesen zum Kampf. Ihr Schlachtruf war eine aggressive Täuschung und Selbsttäuschung: Im Felde unbesiegt. Die Dolchstoßlegende war eine plumpe Lüge, deren Echtheit mit gefälschten Zitaten von britischen Offizieren und Politkern belegt werden sollte. Sie war zugleich eine Verschwörungstheorie, nach dem Muster des Mords an Siegfried in den Nibelungen gebaut. Wie Siegfried von Hagen, so sei das deutsche Heer von der Zivilbevölkerung erdolcht worden – nicht von der gesamten Bevölkerung, sondern von einer radikalen Minderheit: Frauen, Juden, Sozialisten, Pazifisten. Diese primitive Legende war erfolgreich, nicht nur bei Nationalisten. Sie wirkte als Blockade der Erinnerung. Einen Höhepunkt des Kampfes gegen die Erinnerung bildete die Aufführung von Lewis Milestones Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque in einem Berliner Kino (1931). Das deprimierende Bild der Westfront, des Kriegs von unten, des Leids der kleinen Leute und gequälten Opfer traf auf die Bellizisten, die sich ihr heroisches Kriegsbild nicht stören lassen wollten. Sie verhinderten weitere Aufführungen und waren zwei Jahre später in der politischen Position, die Debatte über das authentische Kriegsbild ganz zu verhinderten. Über den Ersten Weltkrieg im gleichgeschalteten öffentlichen Gedächtnis der Jahre zwischen 1933 und 1945 will ich an dieser Stelle nichts sagen. Für die Verbindung mit der Politik ist symptomatisch, dass eine Neuauflage von Franz Schauweckers Roman Aufbruch der Nation (1929) mit einem Geleitwort Adolf Hitlers erschien. Auf der anderen Seite wirkte die Nie-wieder-Krieg-Bewegung, moralisch und emotional oder, bei Bert Brecht, analytisch und zynisch und mit einer marxistischen Kapitalismus-Theorie (Karl Korsch) unterlegt. Auch die Pazifisten nahmen eine aggressive Haltung an. Käthe Kollwitz und ihre Holzschnitte Krieg (1923) soll als Beispiel dienen. Für den Jugendtag der Sozialistischen Arbeiterbewegung (1924) verknüpfte sie die Maxime suggestiv mit dem Oberkörper einer jugendlich wilden Frau, die mit kämpferisch erhobenem Arm gegen den Krieg demonstriert. Dies Motiv wurde in einer Massenauflage als Plakat vertrieben und nahm das Format und die Ikonographie der Plakate aus der Zeit des Kriegs auf, die zum Zeichnen von Kriegsanleihen aufgefordert hatten, und kehrte die Aufforderung ins Gegenteil um. In Gemeinschaft mit Bildern und Skulpturen anderer politischer



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Künstler wie John Heartfield und George Grosz kombinierte das Plakat die Erinnerung an den Krieg mit einer Mahnung für die Zukunft. Kunst löste sich von der Erinnerung und wurde zu einer Waffe im Krieg gegen den Krieg, wie Ernst Friedrich sein Anti-Kriegs-Museum in Berlin und ein 1924 erschienenes Fotobuch nannte, das das wahre Antlitz des Krieges (Leichen, Verwundete, Verstümmelte, Hinrichtungen und das Leiden der kleinen Leute) als Mittel zur Verhinderung eines neuen Kriegs zeigen sollte. Die knappen Kommentare des Buchs in vier Sprachen (deutsch, französisch, englisch und niederländisch) wurden in wenigen Jahren in beinahe 50 Sprachen übersetzt. Warum nur hat dieses Kriegsbild so wenig erreicht? Nach einer Welle an patriotischer und nationalistischer Lyrik zu Anfang des Kriegs schrieben später nur noch die Kriegsgegner Gedichte – Tucholsky, Brecht, Mehring, Kästner. Stefan Georges Der Krieg (1917) war eine Ausnahme. Die Anti-Kriegskunst und -literatur wurde 1933 abrupt unterbrochen. Kriegsliteratur war nur noch als Vorspiel zum Nationalsozialismus gestattet. Nach 1945 wurde an die Kriegsliteratur der Jahre vor 1933 nicht wieder angeknüpft. Aber im öffentlichen Diskurs regte sich kein Widerstand gegen die nun mehrheitliche Nie-Wieder-Mentalität. Die These über die Folgen der Desillusionierung durch die Enthüllung der Propaganda für Großbritannien erscheint in neuem Licht, wenn man sie in einen Zusammenhang mit dem Kriegsbild der Nie wieder Krieg!-Maxime stellt. Die deutsche Zurückhaltung bei Kriegseinsätzen der Gegenwart ist zweifellos eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Aber sein Bild hat eine tiefe Wurzel in der moralischen Kriegsbewertung der Jahre nach 1918. Künstler der Moderne machten im Umgang mit dem Krieg Gebrauch vom Potential des Gedankenexperiments, nicht selten als Bürgerschreck. Die Experimente, von Dada, dem Neuen Sehen und dem surrealistischen Film bis zur Auflösung des Temporalen und der Kausalität, bedeuteten einen Angriff auf das Gedächtnis der bürgerlichen Gesellschaft. Es kam vielen Künstlern der Zeit nicht in den Sinn, den Krieg trotz des persönlich erfahrenen Schreckens und Leidens als Bankrotterklärung der Moral zu verstehen. Er mochte grotesk, unvernünftig, irrsinnig oder krank gewesen sein, aber als Kulturbruch wollten sie ihn nicht erinnern. Die Grausamkeiten waren – als Folge der modernen Technik – erschreckender als die der primitiven Kriege, und die Zahl der Kriegsopfer war ins Unvorstellbare gewachsen. Aber es war die Wiederholung des Bekannten und der alten Grausamkeit – abstoßend, aber nicht umstürzend. Der Krieg besiegelte das Ende des bürgerlichen Zeitalters und wirkte an einem Neuanfang mit. In Berlin fand 1920 die erste Dada-Messe in einer Galerie statt. Der Preußische Erzengel von Heartfield und Schlichter, eine ausgestopfte Offiziersuniform mit einem Messer und einem Schweinerüssel

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statt eines Gesichts, um den Bauch gebunden die Botschaft „Vom Himmel hoch da komm’ ich her“, schwebte in der Mitte des Raumes unter der Decke. Die Figur erregte Ärgernis und musste aufgrund eines Gerichtsurteils entfernt werden. Nicht nur die politische Botschaft dieser vulgären Karikatur eines Offiziers, sondern ebenso die Entwürdigung des Kriegsgedächtnisses durch das Arrangement, das der Inszenierung in einem primitiven Ritual nachgebildet war, sorgte für Empörung. Die Empörung gegen diese Verletzung der Kriegserinnerung war echt. Denn die Identität der Kriegsgeneration beruhte auf der Erinnerung. Wenn Dada oder die Surrealisten das Ende der Kunst proklamierten, war ihre Intention, durch Satire die Erinnerung zu löschen und damit die Identität der Kriegsgeneration zu zerstören. Die Modernisten verbanden die Kriegserinnerung mit Handlungsanleitungen: der Weg in die Zukunft der technologischen Moderne sollte gebahnt werden. Der Gedanke eines aus dem Krieg geborenen Neuen Menschen war verbreitet, von der Sowjetunion bis zum faschistischen Italien. Für Faschismus, Nationalsozialismus und sowjetischen Sozialismus war der Neue Mensch der Krieger aus einer Kombination aus Fleisch und Stahl, mit einem Blick, hart wie die Linsen von Kameras. Die Angst vor der Moderne, die sich auf den Schlachtfeldern als Schrecken geoutet hatte, galt als überwunden. Die Erwartung phantasierte den Übermenschen aus Biologie und Technik. In Großbritannien haben die Emotionen und der Aufbruchsenthusiasmus kaum Resonanz gefunden. Die radikalen Formen und Experimente, die Antikriegs-Literatur von Dada, Surrealismus, experimenteller Literatur und Fotografie und die politische Anti-Kriegslyrik hatten dort keine Entsprechung. Der Krieg der künstlerischen Avantgarde hatte kaum eine Wirkung auf das Kriegsbild jenseits des Kanals. Modernistische Kunst lebte nur kurz und verschwand, wie der Vortizismus, mit dem Kriegsende. IV. Rituale Für alle am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen waren Rituale nach Kriegsende von überragender Bedeutung für die Erinnerung. Die Kriegsrituale waren wie alle Rituale eine kulturelle Zeichensprache, in der Worte von untergeordneter Bedeutung sind. Die Signifikation löst sich davon, dem Krieg einen Ausdruck zu geben, und das Ritual stellt stattdessen durch Körpersprache und praktisches Handeln etwas her, das erlebt wird, während es hergestellt wird. Das Ritual wird selbst zu einer Quelle des Erlebens. Mit jeder Inszenierung des Rituals verändert sich die Erinnerung. Ein je neuer Gedächtnisinhalt entsteht.



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Unmittelbar nach Kriegsende schlug der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vor, einen nationalen Gedenktag einzurichten, und löste damit einen anhaltenden Streit aus. Eine die Nation versammelnde Erinnerung an den gemeinsam gefochtenen Krieg wurde in der Nachkriegszeit durch die Kämpfe, die zu Beginn der Republik einem Bürgerkrieg ähnelten, unmöglich gemacht. Die Spaltung der Gesellschaft durch den Nationalsozialismus, die vor 1933 begann, hatte hier einen Ausgangspunkt. Die Kriegserinnerung war ein wesentliches Element dieses Kriegs der Geister. Auf ähnliche Weise wie der Gedenktag waren Friedhöfe, Denkmäler und eine geplante nationale Gedenkstätte umstritten. Nach sechs Jahren wurde ein Volkstrauertag eingeführt, erstmals am 1. März 1925 und seit 1926 als beweglicher Feiertag am fünften Sonntag vor Ostern begangen. Trauer passte nicht in das nationalsozialistische Konzept von Krieg, und so wurde nach sieben Jahren der Name geändert und ein Heldengedenktag eingeführt. Er sollte für die richtige Erinnerung sorgen und dem Namen entsprechend das Heroische in die Feiern zurückbringen. In der Bundesrepublik kam der Trauertag zurück, nicht in der DDR. Es ist nicht erstaunlich, dass nach diesem Durcheinander an den Tag keine Erinnerung geknüpft werden konnte. Deutschland – Neil MacGregor hat das aus der britischen Perspektive betont28 – ist eine Ausnahme unter den europäischen Nationen, da es den Heroismus aus seiner Kriegserinnerung gestrichen hat. Zu diesem Schritt hat der Zweite Weltkrieg geführt. Aber der Effekt hat auch frühere Kriege erfasst, auch den Ersten Weltkrieg. In Deutschland hat kein Heldenbild dieses Kriegs den Zweiten Weltkrieg überlebt. Auch die Fliegerhelden, in Großbritannien wie in Deutschland einst Idole der Gesellschaft, die den Glanz späterer Kinostars in den Schatten stellten, sind in Deutschland spurlos verflogen. Wer kennt noch den roten Baron von Richthoven oder den Adler von Lille, Max Immelmann? Mit den Helden ist das heroische Bild vom Krieg aus dem Gedächtnis verschwunden. Dieses Verlieren hat die Bundesrepublik nach 1949 wesentlich geprägt. Auch für Großbritannien und seine früheren Kolonien trifft zu, dass der Große Krieg wie kein anderer Krieg den Anlass zu Ritualen und öffentlichen Zeremonien gab. Aus verschiedenen Gründen – die Siege in den beiden Weltkriegen spielen eine nicht unbedeutende Rolle – herrscht Kontinuität in der britischen Kriegserinnerung vor. Der Erste Weltkrieg wird noch immer als heroisch erinnert, durch das Wissen um die Millionen von Opfern nur partiell gedämpft. Briten sahen weder in der Zwischenkriegszeit noch nach 1945 Anlass für die verneinende Haltung, die in Deutschland nach 28  Neil

MacGregor: Memories of a Nation. New York 2015.

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1945 herrschte. Ihre Kriegserinnerung ließ sich mit den Idealen von 1914 noch immer aussöhnen und bewahrte den Hauch des Heroischen. AntiKriegs-Denkmäler wurden in Großbritannien nicht errichtet. Die jährlichen Zeremonien zum Kriegsende in den Ländern der ehemaligen Entente und insbesondere die dem Unbekannten Soldaten gewidmeten Zeremonien hatten von Anfang an und haben bis in die Gegenwart eine tiefe Wirkung auf die Kriegserinnerung. Seit dem 11. November 1919 wird der Remembrance Day zur Erinnerung an die Opfer dieses Kriegs begangen. Das Staatsoberhaupt legt in Anwesenheit des Premierministers und von Veteranen am Cenotaph einen Strauß mit Mohnblumen nieder. Künstliche Mohnblumen zum Anstecken, die remembrance poppies, werden vom Veteranenverband verkauft. Sie sollen an den Mohn Flanderns, wo die meisten britischen Soldaten ihr Leben ließen, erinnern – in Anlehnung an ein Gedicht von John McCrae, In Flanders Fields. Im Nachkriegsjahr wurde am 11. November für eine Minute der Straßenverkehr angehalten. Gegen die Forderungen von Handel und Industrie konnte sich das Ritual nicht halten. Die Idee zum Unbekannten Soldaten kam aus Paris und wurde gegen anfänglichen Widerstand in London durchgesetzt. Die jährliche Zeremonie wurde zur erfolgreichsten kollektiven Kriegserinnerung und verbindet bis heute die Nationen der Entente.29 Deutschland nahm an dem über-nationalen Ritual des Unbekannten Soldaten nicht teil – aus einleuchtenden Gründen, die wir aber nicht als gute Gründe bezeichnen können. Die Alliierten wollten Deutschland als die Nation der vermeintlichen Kriegsverursacher ausschließen, und die Deutschen erinnerten sich an einen Krieg, für den die Idee des Unbekannten Soldaten nicht repräsentativ war. Die Kombination von Sieg und Trauer, die jährlich in den Siegernationen wiederbelebt wurde und von Jahr zu Jahr eine neue verbindende Erinnerung bildete, führte zu einer Distanz zwischen den beiden Nationen-Gruppen. Auch hier kann man die heilende Wirkung der Zeit beobachten. In der Zwischenzeit hat die Bedeutung dieser Rituale für das kollektive Gedächtnis abgenommen. Die letzten Zeitzeugen sind gestorben. Die Lebenden haben keine Erinnerung mehr an den Krieg, und selbst die Erinnerungen an gemeinsam erlebte Kriegszeremonien werden selten und schwinden.30 Die Kluft schrumpft. 29  Bernd Hüppauf: War and Death. The Experience of the First World War. In: Mira Crouch / Bernd Hüppauf (Hrsg.): Essays on Mortality. Sydney 1985, 65–88; David Cannadine: War and Death. Grief and Mourning in Modern Britain. In: Joachim Waley (Hrsg.): Mirrors of Mortality. Studies in the Social History of Death. London 1981, 187–242. 30  Unterschiede sind aber noch immer groß. Seminare, die ich in den letzten Jahren über die Literatur des Ersten Weltkriegs angeboten habe, zogen eine dispro-



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V. Denkmale und Mahnmale Zu den signifikanten Trägern der kollektiven Erinnerung gehören seit dem 19. Jahrhundert Kriegsdenkmäler.31 Die durch sie vertretenen Ideen sind in Großbritannien bis in die Gegenwart die Nation und ihr Zivilisationsauftrag. Das gilt einschränkungslos für die Denkmäler des Ersten Weltkriegs und auch für die Kriegsfriedhöfe auf dem Kontinent. Bereits während des Kriegs entstanden in vielen Städten und Gemeinden Großbritanniens Kriegsdenkmäler, oft mit Listen von gefallenen Soldaten der Region, nicht immer mit der Zustimmung der Angehörigen, und im Jahrzehnt nach dem Kriegsende große Anlagen mit bis zu 80 000 Namen wie der Cenotaph in London (1920), das Menin Gate (1927), das Scottish National War Memorial in Edinburgh, das als Zeichen der nationalen Einheit vom Prince of Wales eingeweiht wurde (1927) und bei Ypern das Thiepval memorial (1932). Sie dienen bis in die Gegenwart zu regelmäßigen ritualisierten Veranstaltungen. Zeremonien, bei denen der Sieg die Stimmung trägt, sind vom Wissen um den Massentod in diesem Krieg nicht verstellt. Das Opfer des Lebens wird durch den Gedanken der Sinnlosigkeit nicht eingeschränkt. Weitaus mehr Deutsche als Briten haben ihr Leben auf den Schlachtfeldern gelassen. Dennoch sind die Erinnerungsstätten in Deutschland seltener und erregen wenig Aufmerksamkeit. Ein Cenotaph oder Kriegsdenkmäler mit nationaler Bedeutung, die in der Englisch sprechenden Welt bis heute das Zentrum von Kriegszeremonien bilden, die selbst im fernen Australien noch immer begangen werden, sind in Deutschland unbekannt. Ehrerbietung galt nur eingeschränkt für die deutschen Kriegsdenkmäler. Deutsche Kriegsdenkmäler sind, zugespitzt formuliert, eine Verweigerung der Erinnerung und sie sind, jedenfalls in der Tendenz, Mahnmale. Ein Äquivalent zu Mahnmal hat die englische Sprache nicht. Mahnmale verbildlichen einen Imperativ für die Zukunft. Der Imperativ des Ersten Weltkriegs, „Nie wieder Krieg!“, wurde mit Kunstwerken, die den Krieg als Schrecken und Leid zeigen, in den öffentlichen Diskurs eingeführt. Die Maxime „Nie wieder portional große Zahl von Studenten des Erasmusprogramms an. Studenten aus Holland und Belgien hatten an Kriegszeremonien teilgenommen und, meist mit ihren Großvätern, die Schlachtfelder besucht. Das traf auf keinen der deutschen Studenten zu. Sie kannten den Krieg nur aus der Literatur. Die Beiträge der beiden Gruppen zum Seminar unterschieden sich signifikant. 31  Jay Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History. Cambridge 1998; Rudy Koshar: From Monuments to Traces. Artifacts of German Memory, 1870–1990. Berkeley 2000; Reinhart Koselleck / Michael Jeismann (Hrsg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. München 1999.

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Krieg!“, die vor 1933 in Deutschland zum verbreiteten Satz in der Sprache der Kriegsgegner und Pazifisten wurde, durchdrang die steinernen Denkmäler und machte etwas anderes aus ihnen, als die ursprüngliche Intention beabsichtigt hatte. Architekten wie Bruno Taut entwarfen Anti-Krieg-Mahnmale. Sie zeigten abstrakte Friedenssymbole und Figuren, meist trauernde Frauen und Kinder. Diese Grundhaltung zum Krieg bestimmte in Deutschland die Einstellung aller Ausstellungsmacher im Erinnerungsjahr 2014. VI. Kriegserinnerungen in zwei Gesellschaften  – im Jahr 2014 Im Jahr 2014 ist in Feuilletons wiederholt die Behauptung verbreitet worden, dass im Unterschied zu Großbritannien die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland verloren sei. Gerd Krumeich sah Moos auf den Gräbern des Ersten Weltkriegs wachsen. Das wäre keine „erzwungene Amnesie“ wie etwa der Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg (1915 / 16) oder der Algerienkrieg in Frankreich.32 Das Vergessen wäre nicht die Folge von politischer Macht und nationalen Interessen, sondern die Folge von Umschichtungen im kulturellen Gedächtnis. Motive ließen sich leicht finden. Ich halte die These für nicht gerechtfertigt. In englischen Kommentaren war zu lesen, es gebe 2014 in Deutschland keine Feierlichkeiten. Das halte ich für die Folge einer fehlgeleiteten Perspektive, gelenkt durch die eigene Erinnerungskultur, die auf London konzentriert war. In der dezentralisierten Republik gab es keine Förderung und Koordination von Berlin, sondern dezentralisiertes, lokales und regionales Gedenken. In allen Bundesländern organisierten Städte, Gemeinden und unabhängige Kultureinrichtungen die Ausstellungen, Tagungen und Vortragsserien. Allein in Baden-Württemberg gab es weit über zwanzig solcher Veranstaltungen.33 Der Unterschied zwischen dezentralisierten Veranstaltungen und nationalen, von zentralisierten Regierungen geplanten und finanzierten Veranstaltungen ist bezeichnend für die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Großbritannien (ähnlich in Frankreich, Australien, Kanada) und Deutschland. Einige dieser Veranstaltungen bezogen sich auf Auswirkungen, die der Krieg auf ihre spezifische Region hatte – bis hin zu Einzelschicksalen und zur lokalen Industrie. 32  Luisa Passerini (Hrsg.): Figures d’Europe. Images and Myths of Europe. Brüssel 2003. Das Vergessen kann, argumentiert Passerini, die Form eines verdeckten Gedächtnisspeichers annehmen, der das Durcharbeiten im Sinn Freuds ermöglicht. 33  Bemerkenswert: in den Ländern östlich der Linie Königsberg-Triest gab es keine Veranstaltungen – obwohl viele von ihnen dem Krieg ihre Existenz verdanken. Auch im Rest der Welt: Nord- und Süd-Amerika, Afrika und Asien gab es keine Zeremonien. Die Erinnerung machte den Weltkrieg zu einem europäischen Krieg.



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Das Jahr 2014 hat die Gefahr offensichtlich gemacht, dass von einer Hegemonie der Historiografie eine Gefahr für das Gedenken des Ersten Weltkriegs und das kulturelle Gedächtnis ausgeht. Die Frage nach dem Zweck ist im Gedenkjahr nicht gestellt oder zu schnell beantwortet worden. Popularisierung der akademischen Historiografie ist legitim und wünschenswert.34 Es ist aber bemerkenswert, in welchem Maß in Deutschland der akademische den Mediendiskurs dominierte und im Unterschied zur dezentralisierten regionalen Erinnerung den Diskurs vereinheitlichte. Wenn das Expertenwissen die Fragen der öffentlichen Erinnerung bestimmt, ist die Gefahr der Entmündigung gegeben. Popularisierung von Forschung (in elektronischen Medien) geht leicht in die Herrschaft von Experten über. Dadurch droht nicht nur eine Entmündigung, sondern die Verwechslung von akademischen Fragen und öffentlichem Diskurs hat unerwünschte Folgen. Das Expertenwissen der Historiker ist selten frei von politischen und ideologischen Interessen, und so droht eine Politisierung und Ideologisierung des Erinnerns mit der Autorität der Wissenschaftlichkeit. Es kann keinen Zweifel geben, dass es im öffentlichen Diskurs Fehleinschätzungen gibt, und manche sind korrekturresistent. Die Herausforderung besteht aber weniger darin, sie zu korrigieren, als nach ihren Ursachen und Wirkungen zu fragen. Warum hielten sich zum Beispiel in Großbritannien der Mythos der verlorenen Generation oder die maßlos übertriebenen Opferzahlen der Sommeschlacht und in Deutschland der Mythos von Langemarck oder die offensichtliche Lüge vom Dolchstoß so hartnäckig? Welche Funktionen erfüllten diese Mythen und Legenden? Sobald wir annehmen, es sei die Aufgabe der Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs, die politisch-militärischen Konfrontationen zu beschreiben und die Prinzipien zu erklären, nach denen der Krieg geführt wurde, hängen wir einem methodischen Naturalismus an, der geschichtliche Wahrheit aus Empirie abzuleiten vorgibt. Dann sieht Geschichte ihre Aufgabe darin, in der Fortsetzung der nationalen Historiografie Bilanz zu ziehen.35 Für das kulturelle Gedächtnis, das keine abschließende Bilanz kennt, haben diese Arbeiten nur eine marginale Bedeutung. Diese Geschichte des Ersten Weltkriegs hat an Universitäten ihren legitimen Ort. In die Öffentlichkeit übertragen, wirkt sie dagegen musealisierend. 34  Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / Jen Ruchatz (Hrsg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005; Heiner Drertup / Edwin Keiner (Hrsg.): Popularisierung wissenschaftlichen Wissens in pädagogischen Feldern. Weinheim 1999; Bernd Hüppauf / Peter Weingart (Hrsg.): Science Images and Popular Images of the Sciences. New York 2008. 35  Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Stuttgart 2013; Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn 2014; Krumeich / Prost: Verdun (wie Anm. 3).

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VII. Das lang anhaltende Erinnern des Ersten Weltkriegs Wo liegen die Ursachen für das lang anhaltende Erinnern des Ersten Weltkriegs, der noch 100 Jahre nach seinem Beginn eine Lawine an Publikationen ausgelöst hat? Zunächst die Scheingründe, die aber verbreitet sind: viele Opfer – 9,6 Millionen Tote auf den Schlachtfeldern. Andere Schätzungen sprechen von ca. 16 Millionen wenn man die weiteren Opfer hinzurechnet, und mit den Grippetoten nach 1918 werden es dann 23 Millionen. Keine Zahl ist zuverlässig gesichert. Der Hang zum Großen wirkt auch hier. Die Daten sind leeres Wissen. Wir können uns einen Berg aus 10 Millio­ nen toten Körpern nicht vorstellen. Die Quantität macht diesen Krieg nicht erinnerungswürdig. Auch die Fragen der Politik gehen uns heute nicht mehr nahe. Sie gehören ins historische Seminar der Universitäten: das Ende der Großmachtträume Deutschlands, das Ende der Monarchien in Österreich, Russland und im Osmanischen Reich, das Schicksal der europäischen Großmächte, das beginnende Ende der Kolonialreiche, die neue Rolle Asiens, vor allem Japans, und der Eintritt der USA in die globale Machtpolitik. Während des Kriegs und verstärkt nach seinem Ende forderten die Millionen an Toten und Kriegskrüppeln in beiden Ländern eine Rechtfertigung. In Deutschland blieben die nationale Integration und die Besonderheit des Deutschen im Unterschied zum britischen Individualismus, Liberalismus und Kapitalismus auch nach der Niederlage eine anhaltende Aufgabe. Diese Fragen sind wichtig. Können und sollen sie dem Krieg Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis einhauchen und den öffentlichen Kriegsdiskurs beflügeln? Das scheint mir unwahrscheinlich zu sein. Ohne eine affektive Beziehung gehört der Krieg ins Geschichtsseminar der Universität. 2013 / 14 haben zahlreiche Bücher zum Ersten Weltkrieg öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Sie griffen ererbte Themen aus der politischen und militärischen Geschichte des Kriegs auf. Der Verkaufserfolg könnte dafür sprechen, dass sie Fragen mit Relevanz für die Gegenwart behandeln. Ich denke, das ist ein Irrtum. Sie schreiben ererbte Fragen fort und behandeln sie wie eine unerledigte Aufgabe. Sie zeugen von Komplexitätsverweigerung. Fragen nach Ursachen, Verantwortung und Schuld hat die Geschichte dieses Kriegs seit drei Generationen gelenkt. Hundert Jahre nach dem Beginn der Debatte wird noch immer aus den Kategorien Verantwortung und Schuld eine MetaErzählung großer Ereignisse zu einem Bild zusammengesetzt.36 36  Christopher Clark setzt sich explizit von diesem Muster der Erklärung ab und betont, die Beschreibung komplexer Beziehungen an seine Stelle zu setzen. Die Kritik übersah den Unterschied und drängte sein Buch in das Erklärungsmuster zurück.



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Herfried Münkler stellt fest, der Weltkrieg habe die Geschichte „aus der Bahn“ geworfen.37 Aus welcher Bahn? Der Gedanke eines Weltplans mit Bahnen und einem Ziel gehört nicht in die gegenwärtigen Vorstellungen von Geschichte. Aber wenn Historiker und Politologen an Großereignisse wie den Ersten Weltkrieg denken, fällt ihre Argumentation leicht in das Muster der teleologischen Geschichte zurück.38 Ich will die Debatte, die 2014 in der Öffentlichkeit von Historikern geführt wurde, sehr kurz unter der Fragestellung nach der Beziehung zum kulturellen Gedächtnis vorstellen. Leitmotive bildeten die Fragen nach dem Kriegsausbruch und der Schuld am Krieg. Die Entente vertrat bereits im Krieg die These der Schuld der Mittelmächte. Der berüchtigte Artikel 231 der Verträge von Versailles formulierte die Schuld Deutschlands am Krieg im Hinblick auf zu zahlende Reparationen. Die Alleinschuldthese ist in Deutschland nie akzeptiert worden. Sie hat die öffentliche Erinnerung ohne Zweifel bestimmt und schwer belastet. Die Mehrheit der Historiker und der Öffentlichkeit wies den Schuldvorwurf zurück. Es ging in der Debatte nicht um Erinnerung, sondern um Rechtfertigung und um nationalen Stolz. Die Schuldfrage, kann man vereinfachend sagen, war eine treibende Kraft bei der Zerstörung der öffentlichen Kultur der Republik. Mit dem Zweiten Weltkrieg verlor diese Frage ihre Bedeutung und sank ins Vergessen. Das änderte sich 1961. Die Frage der politischen und moralischen Verantwortung des Reichs hatte jahrelang geschlummert und, das ist immer wieder herausgestellt worden, Fritz Fischer holte sie 1961 in die deutsche Debatte zurück (Griff nach der Weltmacht) und verschärfte sie in weiteren Publikationen. Sein Urteil, Deutschland habe den Krieg planmäßig vorbereitet und willentlich herbeigeführt („Vom Zaun gebrochen  …“ war seine Metapher 1965), stimmte mit dem öffentlichen Urteil in den Gesellschaften der Entente überein. Das zerrissene Kriegsbild der Weimarer Republik setzte sich nun auf vergleichbare Weise fort. Die Verantwortung für beide Weltkriege wurde von Fischer und seinen Sympathisanten in die lange Entwicklungsbahn Deutschlands eingefügt und als Folge der undemokratischen Strukturen und der Dominanz des autoritären Staats interpretiert. Im Unterschied zur Lage nach 1918, als es in Deutschland einen breiten Konsens über die Zurückweisung des Schuldvorwurfs gab, führte die Fischer37  Süddeutsche

Zeitung, 20.7.2014. setzen diese Geschichtsschreibung, auch wenn sie das Ziel formulieren, mit ihr zu brechen, fort und wenden theoretisch und psychologisch unbegründete Kausalketten zur Erklärung des Kriegs an: Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. München 2014, langfristig und Herfried Münkler: Der große Krieg. Berlin 2013, auf einen kurzen Zeitraum beschränkt. 38  Sie

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These zu einer Kontroverse, die eine Minderheit, die an die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch nicht glaubte, von einer Mehrheit trennte, die von der These geleitet war, dass die Weltkriege als Versuche in einem kontinuierlichen Bestreben Deutschlands zu verstehen seien, sich zur europäischen Hegemonialmacht aufzuwerfen. Die Katastrophe Europas und die Gefährdung von Zivilisation und Demokratie gingen aus dieser Sicht auf das Konto Deutschlands. Deutsche Historiker identifizierten sich nicht mehr mit der eigenen Seite im Krieg. Sie wechselten die Seite und argumentierten aus der Sicht der Entente. Gegen den Wechsel ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil: es kann für Offenheit und Pluralität sprechen, wenn Beobachter die Maßstäbe ändern und Einsicht zeigen. Offenheit hat sich aber nicht eingestellt. Die Debatte zeigte Verhärtung bis zum Dogmatismus. Die heftige Emotionalisierung war 2014 längst abgeklungen. Aber noch immer wirkte ein moralischer Druck, in der Frage der Schuld des Deutschen Reiches Position zu beziehen und die von Fischer entwickelte Interpretation fortzuführen. In den Druck- und Elektronik-Medien wurde diese Kontroverse in die Öffentlichkeit getragen. Die Identifikation der einen Seite mit moralischer Verantwortung und der anderen mit dem Vorwurf der moralischen Exkulpation eines Schuldigen war schwer zu vermeiden.39 Die moralische Bewertung mit der Autorität der akademischen Geschichtsschreibung hat der Erinnerungsarbeit nicht gut getan. Die Gegenposition entwickelt Christopher Clark The Sleepwalkers (2013). Clarks Intention ist nicht, in die Kontroverse über Kriegsschuld einzugreifen. Er spricht zwar nicht aus, dass die Schuldfrage nicht entschieden werden kann (und auch nach weiteren hundert Jahren Forschung nicht entschieden werden wird) und in eine Sackgasse führt. Aber diese These liegt seiner Arbeit implizit zugrunde. Sie wurde in der öffentlichen Debatte nicht aufgenommen, sondern die Schulfrage wurde seinem Buch geradezu aufgedrängt. Clarks The Sleepwalkers ist immer wieder eine politisch-moralische „Entlastung“ Deutschlands vorgeworfen worden – zu Unrecht, wie ich denke. Seine Arbeit verfolgt andere Ziele, die von der Politisierung nicht erreicht und verfälscht werden. Clark spricht nicht von verantwortlichen Subjekten, sondern von komplexen Konstellationen und Verflechtungen von Macht und Unfähigkeit. Aber er konzentriert sich doch noch immer auf Akteure als die verantwortlichen Entscheidungsinstanzen. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Gruppe der bekannten Akteure – Entscheidungsträger der Eli39  Für eine breite Leserschaft schrieben schmale Bände Annika Mombauer: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg. München 2014; Volker Berghahn: Der Erste Weltkrieg, 5., vollst. überarb. und akt. Aufl., München 2014.



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ten, die er nach dem Muster einer schlichten Handlungstheorie einführt. Clarks Beschränkung auf die Akteure (deren Kreis er um Serben erweitert) und ein unterkomplexes Handlungsmodell macht den Wert dieser beeindruckenden Analyse fragwürdig, war aber für die Rezeption im öffentlichen Diskurs zweifellos hilfreich. Clarks Ziele stehen nicht über einer Kritik, und die muss auf der Grundlage theoretischer und methodischer Kriterien der Sozial- und Kulturwissenschaften geleistet werden. Auch sie würde Aspekte des Unterschieds in der britisch-australischen und der deutschen Kriegserinnerung aufdecken und zum Ende der Schulddebatte führen. Weniger elaboriert war etwa zehn Jahre nach dem Kriegsende in den USA und in Großbritannien von Historikern und Politikern (Sidney Fay, Harry Elmer Barnes, George Gooch) mit diesem Muster argumentiert worden. David Lloyd George hat in seinen Kriegsmemoiren (Mein Anteil am Weltkrieg, Band III, 1934) das zentrale Wort geliefert, das vom öffentlichen Diskurs aufgenommen wurde: Europa sei in diesen Krieg hineingeschlittert. Nicht einer Regierung, war die These, könne die Verantwortung angelastet werden, sondern die politischen und militärischen Verhältnisse hätten Europa auf den Kriegskurs geleitet, an dessen Ende schließlich der Erste Weltkrieg ausgebrochen sei. Vor allem in Deutschland ist diese These in der akademischen Forschung wie im öffentlichen Diskurs politisch gedeutet worden. Sie suspendiert die Schuldfrage, bietet aber keine Erklärung, da die Voraussetzungen, die das „Schlittern“ ermöglichten, ungeklärt bleiben. Eine moralische Exkulpation lässt sich aus diesem methodischen Vorgehen nicht ableiten. Vom Primat von Schuld und Sühne hatten sich viele deutsche Historiker 2014 nicht befreit. Volker Ullrich, Bernd Sösemann, Hans-Ulrich Wehler, John Röhl und andere fochten für ihre Position in den Medien. Wehler wollte in Clarkes Buch die bewusste Absicht bemerken, die deutsche Schuld zu „verwischen“ und wehrte sich mit Nachdruck dagegen, die deutsche Kriegsgeschichte „zu beschönigen“. John Röhl und andere pflichteten bei.40 Zeitungen und Fernsehen sorgten für die weiteste Verbreitung, die man sich für ein Thema aus der Geschichte denken kann. Die Reaktion lässt darauf schließen, wie tief die Verletzung des Eigenbildes gewesen ist und offenbar noch immer ist und wie leicht historisches Urteil in Glaubensbekenntnis und sein Gegenteil, Häresie, übertragen werden kann. Hier 40  Hans-Ulrich Wehler: Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte: In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.2014. Röhl befürchtete gar, dass sich in Deutschland die Überzeugung von der „Unschuld“ des Kaiserreichs verbreiten könnte: John C. G. Röhl: Wie Deutschland 1914 den Krieg plante. In: Süddeutsche Zeitung, 5.3.2014. und Regierten 1914 doch keine Schlafwandler? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.6.2014.

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liegt, wenn ich nochmals auf die Anekdote des Anfangs zurückkommen darf, offenbar ein Unterschied zur jungen Generation der Gegenwart. Deren Gedächtnis ist frei von Schuldgefühlen, so dass diese Debatte ihnen fremd bleiben muss. Trotz der moralisch aufgeladenen Kontroverse sind die beiden Kriegsbilder enger miteinander verbunden, als es zunächst scheint. Beide argumentieren im selben Bezugsrahmen. Die Wende (von Clark und Münkler) verharrte im Rahmen der politischen Geschichte des Kriegs. Die Debatte wurde auf etabliertem Boden ausgefochten. Sie hat Aufregung in den Feuilletons und Kulturteilen der Medien erzeugt und nahezu konkurrenzlos den öffentlichen Diskurs des Jahres 2014 dominiert. Für das kulturelle Gedächtnis des Ersten Weltkriegs hat diese Wende indes wenig Folgen. VIII. Krieg der Technologie  – Krieg der Imagination Mit zwei Kommentaren, die an die Ausgangsfragen zurückführen und die Frage Was ist der Erste Weltkrieg für uns? wieder aufnehmen, will ich schließen. Für die kollektive Erinnerung schlage ich vor, einen Bezugsrahmen zu entwickeln, in dem die poltische und nationale Geschichte überwunden wird, an ihre Stelle den Krieg der Moderne zu setzen und ihn unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten: Krieg der Technologie und Krieg der Imagination. Zum Krieg der Moderne gibt es vereinzelte Studien. Da sehe ich eine zukunftsgewandte Aufgabe für die Erinnerung des ersten Kriegs der Industrialisierung. Populär ist die Rede vom Ersten Weltkrieg als Katastrophe. Als Kennan sich im Kalten Krieg die dramatische Bezeichnung Great seminal catastrophe (1979) ausdachte, reflektierte sie Probleme der Zeit, die unter der Drohung des Nuklearkriegs lebte. Inzwischen hat die Zeit sich verändert. Aber noch immer wird das Wort inflationär verwendet. Das Leitmotiv Urkatastrophe ist inzwischen obsolet. Mit diesem Wort ist vorgeblich alles gesagt. Es macht den Krieg zu einem Objekt und zieht einen Schlussstrich. Es deklariert den Krieg zum Modell eines Jahrhunderts der Destruktion. Nach der Katastrophe und der Schuld an der Katastrophe zu fragen, erschöpft sich in Repetition und erklärt nichts. Das Nachdenken ist durch dieses Mantra blockiert. Wenn das Gedenken nicht über Schuld und Katastrophe hinaus kommt, verfehlt es seine andere Aufgabe, das Nachdenken. Der Erste Weltkrieg war anderes und mehr als eine Katastrophe. Ein Diskurs geht über der politischen Auffassung des Kriegs als Katastrophe beinahe unter: der Erste Weltkrieg als Beginn eines neuen Zeitalters – der Krieg der Technologie entstand. Er war nicht das Ende eines langen Jahrhunderts. Er gehörte nicht mehr ins 19. Jahrhundert, sondern er bildete



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den Auftakt des neuen Jahrhunderts. Der Krieg wurde bereits von Teilnehmern nicht als Katastrophe, sondern als ein Projekt interpretiert, das das Selbst aus der Konfrontation mit der technischen Moderne erneuert. 100 Jahre vor dem postmodernen Ausbruch der Skepsis gegenüber den Versprechungen der Aufklärung wies der Krieg in die immanente Widersprüchlichkeit der Moderne. Die Moderne erfand sich im Krieg einen Ort für die Erneuerung. Er wurde zum Ansporn. Literatur machte den Ersten Weltkrieg zu einem mentalen Experimentierfeld der Vernunftkritik und Zeitdiagnose. Die Rationalität bildete nicht länger die Anatomie der modernen Gesellschaft und die vom Idealismus um 1800 ersonnene Gesellschaft der Vernunft nicht länger die historische Endstufe in der geschichtlichen Verwandlung institutionalisierter Macht. Eine Lektion des Kriegs war, die Dichotomie von Zerstörung und Konstruktion zu verwerfen und im Umgang mit dem Krieg die später von Schumpeter entwickelte Vorstellung einer schöpferischen Zerstörung zu praktizieren. Das Vorbild war Nietzsche: „Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.“41 Der Krieg – dies war eine Ansicht der Autoren der Moderne – führe zur Zerstörung der gewohnten Lebenssituationen und biete daher günstige Bedingungen für die Beobachtung des Zusammenspiels von Vernichtern und Schöpfern. Daraus folgte die Beurteilung des Kriegs als Zeit der konstruktiven Destruktion. Der Diskurs der Moderne setzte sich zum Ziel, in diesem Krieg eine Wirklichkeit zu erfahren, für die die Destruktion nicht als Stigma der Anti-Zivilisation galt, sondern als eine Befreiung. Eine elementare Neuerung dieses Kriegs waren die Medien. Sie widerspricht dem Katastrophendiskurs. Medien verändern Wahrnehmung und Kommunikation. Die Destruktion des Kriegs gewinnt eine andere Seite, die man als die produktiven Eigenschaften der kapitalistischen Moderne bezeichnet hat: die Fähigkeiten zu Innovation und technisch-wissenschaftlichem Fortschritt.42 Das Schlachtfeld wurde mit den neuen Medien zum ersten Informationskrieg, und die neuen Medien, Fotografie, Film, illustrierte Zeitschriften, kodierten den Krieg für das kulturelle Gedächtnis. Eine Medientheorie entstand, in der die Medien nicht mehr als instrumentell betrachtet, als Mittler zwischen Sender und Empfänger verstanden wurden. In der Theorie der Medien wurde die Verbindung der neuen Techniken mit dem Unerhörten der Wirklichkeit, die den Irrsinn des Kriegs in 41  Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra II. In: Giorgio Colli and Mazzino Montinari (Hrsg.): Sämtliche Werke, Bd. 4, 149. 42  Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815–1945. Stufen telemedialer Rüstung. München 1996.

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sich einschloss, reflektiert. Literatur machte Versuche, das Neue des Kriegs in eine kollektive Erfahrung zu verwandeln.43 Robert Musils Ansätze zu neuer Ästhetik44 gehörten zu den frühen Versuchen, die Verbindung herzustellen. Paul Virilios Rhetorik der Übertreibung, die im Satz Kino ist Krieg gipfelt, ist kein bloßes Phantasma, sondern hat hier ihren Anfang. Werfen wir einen Blick voraus auf unsere eigene Gegenwart, so können wir im Ersten Weltkrieg die Vorgeschichte von Information war und Cyber war erkennen.45 Zwar haben sich Sprache und Apparate verändert, aber nicht die mentale Einstellung. Wir kennen das Bedürfnis, Dinge auseinanderzunehmen und verbinden mit Demontage das Potential, Neues zu schaffen. Demontage ist die andere Seite von Innovation oder Kreation. Ein Beispiel aus der Welt der Computerisierung sind die Hacker. Die Prinzipien der Hackerarbeit durchdringen alle Bereiche des Lebens in der post-industriellen Welt. Ihr Krieg gegen das Kommunikationssystem ist nicht, wie oft unterstellt wird, von rein destruktiven Motiven geleitet. Es geht in ihrem Krieg um freien Zugang zu allen Informationen, und den suchen sie durch das Verletzen der Zugangsregeln und das Zerstören der geschützten Kreisläufe der Informationssysteme. Man kann darin das Bedürfnis nach dem Neuen und der Freiheit in der Informationspolitik erkennen. Auf der ersten Hacker-Konferenz, die 1984 in San Francisco stattfand, wurde das Wort war benutzt, und ein ehemaliger Apple-Mitarbeiter, Burrell Smith, assoziierte es mit einem Handeln aus innerer Beteiligung und Begeisterung für Ideen. Der Erste Weltkrieg hat verdeckte tiefe Spuren in der Literatur hinterlassen. Sie birgt einen unsichtbaren Krieg. Das Verhältnis von Autoren der Moderne zum Krieg kann im Rahmen der politischen Geschichte nicht verstanden werden. Aus einer moralisch grundierten Geschichte der Nationen wird die Faszination als Mangel an Humanität abgewertet und damit entschärft. Für die Avantgarden bildete der Krieg kein Motiv und keinen Gegenstand der Beobachtung, der selbst wert gewesen wäre, literarisch festgehalten zu werden. Sie waren keine modernen Nachfahren Homers. Vom Krieg ging für sie eine andere Herausforderung aus. Sie transformierten ihn in eine Anschauungsform. Sie wollten erkennen, was die vertraute kulturelle Signi43  Michael Taussig: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Hamburg 1997, 219. 44  Robert Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramatologie des Films. In: Adolf Frisé (Hrsg.): Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 8, 1137–1154. 45  Hans Lüdersdorff: Die Maschinen des Weltkrieges. Berlin / Leipzig 1917.



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fikationspraxis nicht erfasste. Sie fragten nicht nach Inhalt und Ursachen des Kriegs, sondern nach der Form und der Wahrnehmung. Die Avantgarden empfanden den Krieg als Ausbruch brutaler Gewalt in der eigenen Zivilisation, aber nicht als Regression und moralischen Kollaps. Wenn sie ihn „Irrsinn“ nannten, so erkannten sie denselben Irrsinn im Alltag der Gesellschaft. Der Krieg exponierte den Irrsinn der Normalität. Es gibt ein anderes Paradigma als die politische Kultur, das ich die philosophische Einstellung nennen möchte, und für das Robert Musil repräsentativ ist. Für ihn wirkte der Krieg als Medium der Zerstörung und zugleich der Befragung der eigenen Zivilisation, die die Wirklichkeit in einem anderen Zustand sichtbar macht. Der Erste Weltkrieg lieferte einen ins gigantische gesteigerten Raum für Gedankenexperimente. Das geschichtlich-militärische Ereignis wurde in eine Anschauungsform übersetzt. Diese mentale Operation hat mit Kriegsverharmlosung nichts zu tun. Eine aus dem Krieg entworfene Mentalität verdrängte das Vertrauen auf Aufklärung und Fortschritt. In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften werden einmal die Philosophen als „Gewalttäter“ bezeichnet, die keine Armee kommandieren, aber sich die Welt unterwerfen, indem sie sie in ein System sperren. Im Krieg handelten andere Gewalttäter, die echten und unverstellten. Sie sorgten dafür, dass die Welt in Trümmer gelegt wurde. Philosophen und Schriftsteller konnten aus den Fragmenten eine Wirklichkeit phantasieren, die das Experimentieren mit dem Verhältnis zur Welt ermöglichte. Aus dem Krieg entwickelt Musil einen Raum der Inversion, in dem Gegenstände nicht zu Objekten distanziert werden, sondern der den Wahrnehmenden in eine gemeinsame Struktur verstrickt. Raum ist nicht Gegenstand von Repräsentation, sondern wird zum existentiellen Zustand. Er ist ein Experimental-Raum, der aus der Zeit und dem strukturierten Raum hinausführt. Was tun wir, wenn wir sehen und mit dem Blick eines Ethnologen das Eigene betrachten? Der Krieg sprengte die gewohnten Beziehungen zwischen Auge und Umwelt auf und ermöglichte einen Einblick in ihr Entstehen. Aus dieser Sicht gewann der ethnologische Blick eine neue Bedeutung. Musil, der sich zunächst der kollektiven Emotion der Augustbegeisterung von 1914 nicht hatte entziehen können, interessiert am Krieg nicht das Nationale oder das kollektive Ereignis der Makrogeschichte, sondern eine andere Ebene: er ist für ihn eine Zersprengung der Normalität, der Formelhaftigkeit der Existenz, der gesellschaftlichen Konventionen und eingeübten Formen der Wahrnehmung. Er schafft den Abstand für einen ethnologischen Blick auf die eigene Welt.

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IX. Epilog Musil schreibt das Lob des im Krieg neu eingeführten Prismenfernglases, weil es „die gewohnten Zusammenhänge auflöst“, und er setzt hinzu: „und die wirklichen entdeckt“.46 Wie kommt der Apparat dazu, Dinge und ihre unsichtbaren Beziehungen, die hinter den gewohnten Zusammenhängen liegen, sichtbar zu machen? Er zeigt, dass die Wirklichkeit nicht die vom Blick scheinbar direkt wahrgenommene Welt ist, sondern sie entsteht durch Medien. Das Fernglas ist – direkter als Fotoapparat und Filmkamera – ein Mittel, die Welt medial zu machen. Diese Wahrheit ist variabel zusammengesetzt und unbeständig: „Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer […] Und wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit […]“.47 Musils Triëdere zeigt eine andere als die vertraute Welt der Alltagsorientierung und macht verborgenen Schrecken sichtbar. Die Formen geben ihre Geheimnisse preis. Andere Autoren berichten auf ähnliche Weise vom Effekt der optischen Apparate, und selbst der bedächtige Hans Carossa macht an der Ostfront einen Eintrag über die durch das optische Instrument veränderte Welt ins Tagebuch. Musil präsentiert das Fernglas als eine verzaubernde Technik, die die Welt dämonisiert. Zauber schließt die Theorie der Moderne, die sich als Theorie der Entzauberung versteht, nicht ein. Aber die Übereinstimmung von Technik und Zauber sorgte für Ambivalenz und lieferte einen neuen Fluchtpunkt der Theorie der Wirklichkeit. Es ging nicht um Fragen der Repräsentation des Kriegs als eines Objekts, nicht um die Debatte unter Historikern und Ideologen über die richtige Dar46  Musil: Triëdere (wie Anm. 44), 518–522, hier 522. Vom Triëder-Effekt sprechen zahlreiche Texte Musils, z. B. die Novelle Tonka (1924): Gesammelte Werke, Bd. 6, 270–306: „Man geht zwischen Kornfeldern […] man ist fern aller Wahrheit, man ist in einer Welt, die den Begriff Wahrheit nicht kennt […] Aber alle diese Dinge hatten etwas Schiefes, Vornübergeneigtes, fast Fallendes in ihrer Aufrechtheit, sie erschienen ihm unendlich und sinnlos. Er drückte seine Augen, sah umher, aber es waren nicht die Augen. Es waren die Dinge. Von ihnen galt, dass der Glaube an sie früher da sein musste als sie selbst; wenn man die Welt nicht mit den Augen der Welt ansieht und sie schon im Blick hat, so zerfällt sie in sinnlose Einzelheiten, die so traurig getrennt voneinander leben wie die Sterne in der Nacht […]“ (289, 298). 47  Ebd., 521.



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stellung des Kriegs. Der Poetik stellte sich die Aufgabe, Mittel zu entwickeln, die der sich neu konstituierenden Realität angemessen waren.48 Musil fragt, was wir wissen können. Er stellt die Frage nach dem Objekt selbst. Was war es, dem die Augenzeugen, Ohrenzeugen und emotional beteiligten Zeitgenossen den Namen „Krieg gaben“? Da kann die gegenwärtige Erinnerung an den Krieg anknüpfen.

48  Wenn Musil von dem Irrtum spricht, „den Geist des Menschen vom Verstand zu befreien“ und im Erlebnis eine unvermittelte Kategorie zu finden, entzieht er bereits der Kriegsgeschichte der vergangenen 20 Jahre, die sich auf das Erlebnis kapriziert hat, den Boden.

II. Visualisierung und symbolische Kontextualisierung /  Visualisation and symbolic contextualisation

„A record of the facts“? Britische Malerei und der Erste Weltkrieg Das War Artist Scheme und seine Ausläufer zwischen Authentizität, Memoria und Modernismusdebatte Von Susanne Kolter, Münster / Göttingen I. Künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Krieg sind wohl so alt wie der Krieg selbst. Quer zur Zeit haben sich Themen, Motive, ikonographische Topoi herausgebildet. Das Spektrum reicht dabei von ganz individuellen Erfahrungsberichten unterschiedlichster Gradation bis hin zu einer offiziösen Kriegskunst, nicht selten im Dienst der Propaganda, der Nation oder der herrscherlichen Selbstdarstellung.1 Beklemmende Zeugnisse individuellen Leidens stehen neben heroisierender Monumentalmalerei, und dazwischen gibt es unzählige Spielarten. Solcher Kunst eignet einerseits eine anthropologische Dimension, macht doch die Erfahrung existentieller Krisen und Leiden nicht an nationalen oder geographischen Demarkationslinien Halt. Andererseits entstehen derartige Bilder vom, über, im und zum Krieg durchaus auch nach nationalen Parametern, stehen in Verbindung zu je eigenen künstlerischen Entwicklungen oder sind eingeschrieben in ein dezidiertes kunstpolitisches Kraftfeld. So verhält es sich mit der britischen Malerei zum Ersten Weltkrieg. England blickt auf eine veritable Tradition der Schlachtenmalerei zurück, die fraglos einen Höhepunkt im Kontext der Napoleonischen Kriege bzw. deren memorialer Verarbeitung hatte, danach aber keineswegs obsolet wurde. Neben die etablierten, vor allem graphischen und malerischen Techniken tritt nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografie. So entsandte England schon von 1854 bis 1856 Roger Fenton in den Krimkrieg.2 1  Artefakte aus diesem Gebiet finden sich in allen künstlerischen Techniken, Gattungen und Stilen und auf jedem Niveau. Je nach Anspruch, Zielgruppe und Auftraggeber gibt es aber natürlich bevorzugte Medien und Genres. 2  Vgl. insg. auch Robert Fox: Camera in Conflict. Köln 1996; Ulrich Keller: Fentons Porträtatlas der britischen Krimarmee. In: Fotogeschichte 12 (1992), 17–26;

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Darüber hinaus kam im Ersten Weltkrieg auch die Filmkamera zum Einsatz.3 Von der britischen Regierung wurden diese neuen Möglichkeiten zunächst zögerlich eingesetzt;4 erst im Verlauf des Weltkriegs entwickelten sie sich zu einem eigenen Propagandainstrument,5 und erst nach und nach entstanden dabei jene Ästhetik6 und jenes die Realitätswahrnehmung verändernde Potenzial, das uns heute nur allzu präsent ist.7 Philip Knightley: The Eye of War. Words and Photographs from the Front Line. London 2003; John Hannavy: The Camera goes to War. Photographs from the Crimean War 1854–1856. Edinburgh 1974; Susan Sontag: Das Leiden Anderer betrachten. München / Wien 2003; Matthew P. Lamunia: Realism and Politics in Victorian Art of the Crimean War. Ann Arbor 1984. 3  Vgl. Gerhard Paul: Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn / München 2004, 110–113, 125–130. 4  Jane Carmichael: Die Entwicklung der britischen Photographie während des Weltkrieges. In: Rainer Rother (Hrsg.): Die letzten Tage der Menschheit: Bilder des ersten Weltkrieges. Berlin 1994, 177–186; Jane Carmichael: First World War Photographers. London 1989; John Taylor: War Photography Realism in the British Press. London / New York 1991; John Taylor: Pictorial Photography in the First World War. In: History of Photography 6 (1982), 119–141. 5  Vgl. Susan L. Carruthers: The Media at War. Communication and Conflict in the Twentieth Century. London 2000, 29; Gisèle Freund: Photographie und Gesellschaft. Reinbek 1979, 117; John Taylor: Atrocity Propaganda in the First World War. In: Kathleen Collins (Hrsg.): Shadow and Substance: Essays on the History of Photography. Bloomfield Hill 1990, 305–317. 6  1917 konsultierte Wellington House einen Kunstredakteur zu der Frage, welche Fotografien die britische Presse denn bevorzugen würde. Ergebnis: „The first rule was to get close to the subject, as that gave the spectator the feeling of ‘being there’. Empty stretches of country were to be avoided, and picture stories were to build up of men in full kit going to the front, or returning after two days of rain and mud to their billets, where they would play games or talk to the locals. People were supposed to want ‘intimate’ pictures of men relaxing or working on their tanks or building trenches and gun emplacements.“ Zit. n. Carmichael: Entwicklung der britischen Photographie (wie Anm. 4), 180. 7  In diesem Sinne spricht etwa Martin Warnke vom Erste Weltkrieg als „Inkubationszeit“ der politischen Bildpropaganda: Martin Warnke: Die Institutionalisierungsformen visueller Propaganda im XX. Jahrhundert. Arbeitspapier Kulturwissenschaftliches Institut Essen 1990, 2; vgl. ferner: Michael Diers: Das öffentliche Bild. Annäherung an eine Kunstgeschichte im Medienzeitalter. In: Ders.: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1997, 25 f. Siegfried Quandt / Horst Schichtel (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis. Gießen 1993; Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt am Main 1989; Paul: Bilder des Krieges (wie Anm. 3), 103–152; Bernd Hüppauf: Fotografie im Ersten Weltkrieg. In: Rolf Spilker / Bernd Ulrich (Hrsg.): Der Tod als Maschine. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Osnabrück 1998, 108–123; Gerd Krumeich: Kriegsfotografie zwischen Erleben und Propaganda. Verdun und die Somme in deutschen und französischen Fotografien des Ersten Weltkriegs. In: Ute



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Nicht nur auf britischer Seite stand im Ersten Weltkrieg neben einer relativ kleinen Gruppe offizieller Kriegsfotografen8 die unüberschaubare Zahl von „Knipsern“.9 Obgleich nicht gerade erwünscht, trugen Soldaten private Kameras mit an die Front, verkauften teilweise eigene Aufnahmen an die heimische Presse, die solches durch saftige Honorare und sogar durch Wettbewerbe förderte.10 Fotografie und Film ersetzten aber keineswegs die älteren Medien, die schon deshalb notwendig waren, um den enormen Bildbedarf nicht nur der Presse zu decken. Daneben gab es ein qualitatives Argument: Die Auf­ fassung, dass vor allem Malerei und Graphik in der Lage waren, sowohl „a record of the facts“11 zu bieten als auch Facetten zu visualisieren, die außerhalb der Reichweite der Fotografie lagen, war stets Konsens, wie nicht allein britische Einlassungen zu diesem Thema über den zeitlichen Rahmen des Ersten Weltkriegs hinaus immer wieder deutlich machen. Das Koordinatensystem, in dem die britische Malerei und Graphik im und zum Ersten Weltkrieg zu verorten ist, besteht letztlich aus drei Achsen: Da sind einerseits die Herausforderungen und Erfordernisse der Kriegssituation, denen in unserem Kontext vor allem durch Institutionalisierungsinitiativen Rechnung getragen wurde. Auf einer zweiten Ebene ist die heterogene Kunstszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England und dabei vor allem die kontroverse Modernismus-Debatte relevant. Hinzu kommt drittens das spezifische Problem der Darstellbarkeit, mit dem sich Künstler bei diesem neuartigen Krieg konfrontiert sahen. Der erste Katalog des Imperial War Museum von 1924 listet unter dem Titel Paintings, Drawings and Sculptures of the First World War 3.335 Werke. Der Großteil jener Arbeiten stand in irgendeiner Verbindung mit Daniel / Wolfram Siemann (Hrsg.): Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung (1789–1989). Frankfurt am Main 1994, 117–132. 8  Vgl. Carmichael: First World War Photographers (wie Anm. 4) 38 f.; Stephen D. Badsey: British Official Photography in the First World War (unveröff. Manuskript, Imperial War Museum, London 1981), 55; Taylor: War Photography (wie Anm. 4), 43. 9  Curt Elkeles: Der Schützengraben-Photograph. In: Photographische Chronik 30.04.1916, 139 f.; Barbara Duden: Der Kodak und der Stellungskrieg. Versuch einer Situierung von Weltkriegsfotografien. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 7 (1994), 64–82; Bodo von Dewitz: „So wird bei uns Krieg geführt“. Amateurfotografie im Ersten Weltkrieg. München 1989, 251–263; Hans J. Scheurer: Zur Kultur und Mediengeschichte der Fotografie. Die Industrialisierung des Blicks. Köln 1987. 10  Taylor: War Photography (wie Anm. 4), 46. 11  Zit. n. Ausstellungskatalog: First World War Artists, Kelingrove Museum and Art Gallery. Glasgow 1987, 78.

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dem britischen Official War Artist Scheme.12 Mit seinen nachgeordneten Committees und Departments, seinen Teilprojekten und Nebenprodukten handelte es sich dabei um eine ausgesprochen komplexe und verzweigte Unternehmung, die hier nur in groben Linien aufgezeigt werden kann: Innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums waren die personellen und institu­ tionellen Parameter mehrfachen Veränderungen unterworfen. Zuständigkeiten wechselten, Zielvorgaben wurden neu formuliert, Destinationen überdacht.13 Das War Artist Scheme und sein Umfeld spiegeln aber letztlich die gesamte Bandbreite der zeitgenössischen britischen Kunstszene wider. Neben Etablierten wurden ebenso junge, zum Teil noch relativ unbekannte Künstler einbezogen.14 Mit seinen Appendizes und Ausläufern handelte es sich so auch um ein Großprojekt staatlicher Kunstförderung, das sich unterteilen lässt in eine eher dokumentarische und eine stärker memoriale Phase, die beide einen propagandistischen Impetus haben und nicht scharf voneinander abzugrenzen sind.

12  Zum Komplex der British War Art im Ersten Weltkrieg vgl. v. a.: Sue Malvern: Modern Art, Britain and the Great War: Witnessing, Testimony and Remembrance. Yale 2004; Paul Gough: A Terrible Beauty. War, Art and the Imagination, 1914– 1918. London 2010; Sue Malvern: „War as it is“. The Art of Muirhead Bone, C.R.W. Nevinson and Paul Nash, 1916–17. In: Art History 9 (1986), 487–515. Ferner: Laura Brandon: Art and War. London / New York 2007, 39–58; John Ferguson: The Arts in Britain in World War One. London 1980; Paul Gough: „A War of the Imagina­ tion“: The Experience of the British Artists. In: John Bourne / Peter H. Liddle / Ian R. Whitehead (Hrsg.): The Great World War 1914–1945, Bd. 2: The People’s Experience. London 2001; Sue Malvern: War Tourisms: Englishness, Art and the First World War. In: Oxford Art Journal 24 (2001), 45–66; Meirion Harries / Susan Harries: The War Artists. London 1983; David Boyd Haycock: A Crisis of Brilliance: Five Young British Artists and the Great War. London 2009; Elizabeth Kahn: Art from the Front: Death Imagined and the Neglected Majority. In: Art History 8 (1985), 192–208; Richard Cork: A Bitter Truth: Avant-Garde Art and the Great War. London 1994; James Fox: Conflict and Consolation: British art and the First World War, 1914–1919. In: Art History 36 (2013), 810–833. 13  Selbst das Imperial War Museum, in dem ein Gutteil der Arbeiten einen endgültigen Bestimmungsort fand – aktuell allerdings viele davon im Depot –, gibt als Provenienz zumeist großzügig an: „Part of the Official War Artist Scheme.“ Zur genaueren Herleitung des Einzelfalls verweise ich auf die Sekundärliteratur. Sue Malvern beispielsweise verfolgt aufmerksam die institutionellen Phasen, die die entsprechenden Werke durchlaufen haben, und bietet zum Teil ausgesprochen hilfreiche tabellarische Übersichten zu den unterschiedlichen Auftrags- und Projektstrukturen; Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 178–197. 14  Zu den ersten nach Muirhead Bone kontraktierten Künstlern gehörten Eric Kennington, Francis Dodd, Paul Nash, C.W.R. Nevinson; dann, neben anderen, Percy Wyndham Lewis, William Orpen, Augustus John, William Rothenstein, John Singer Sargent.



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II. Der Anspruch, den man an eine dezidierte Kunstpropaganda herantrug, war eigentlich von Anfang an relativ hoch. Das zeigt schon die Aufnahme und Kommentierung früher Werke, auch solcher, die noch nicht im Rahmen des institutionalisierten Projekts entstanden. Man erwartete eine elaborierte Authentizität, eine Präsentation, die über das bloße „Dabeigewesensein“ hinausging, die sich auch nicht in einer platten Schmähung des Feindes erschöpfte und überdies von eindimensionaler Verklärung Abstand nahm. Die gab es jedoch andernorts: James ­Clarks The Great Sacrifice15 wurde 1914 zum Souvenir-Print der Weihnachtsausgabe von The Graphic erkoren, unzählige Male in Gemäldeform kopiert und diente als Vorlage für diverse Kirchenfenster.16 Was man aber eigentlich von Malerei und Graphik erwartete, und was sie gegenüber der Fotografie besonders qualifizierte, wird deutlich mit Blick auf Erik Kenningtons Gemälde The Kensingtons at Laventie,17 1916, das noch vor Kenningtons Anstellung als Official War Artist entstand,18 die erst im August 1917 erfolgte. Kennington war im November 1914 dem 13. Bataillon des London Regiment, den Kensingtons, beigetreten. Nach seiner Verwundung in Nordfrankreich, 1915 – er hatte sich versehentlich selbst in den Zeh geschossen –, malte er während seines Genesungsurlaubs in der Heimat The Kensingtons at Laventie. Ausführliche Erläuterungen, die Kennington wohl anlässlich der Ausstellung des Bildes in London im Frühjahr 1916 verfasste,19 ermöglichen es, die Situation zu umgreifen: Jeder Soldat wird dort namentlich aufgeführt, und wir erfahren beispielsweise, dass das zweite Gewehr, das Private McCafferty – der Soldat in Rückenansicht mit weißer Mütze – neben der erbeuteten Pickelhaube mit sich führt, seinem Kameraden Private Perry gehörte, der in den Schützengräben entlang der Rue Tilleloy der Kugel eines Scharfschützen zum Opfer gefallen war. 15  St

Mildred’s Church, Whippingham, Isle of Wight. Kirchenfester ausgeführt z. B. in: Church of St Margaret, Mountain Ash, Rhondda CynonTaff; vgl. auch Peter Harrington: The Great Sacrifice. The First World War’s Most Graphic Painting. In: This England 27 (1994), 14–15. 17  Imperial War Museum, London. 18  Angela Weight: The Kensingtons at Laventie: A Twentieth Century Icon. In: Imperial War Museum Review 1 (1986), 14–18; Gough: A Terrible Beauty (wie Anm. 12), 19 f. Auch im Zweiten Weltkrieg war Kennington als Official War Artist für England tätig. 19  Goupil Gallery, Regent Street, London, April–Mai 1916. 16  Als

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Abb.: Erik Kennington: The Kensingtons at Laventie, 1916, Imperial War Museum London, © IWM.

In den Ruinen von Laventie hat Kenningtons eigener Platoon kurz Halt gemacht. Der Boden ist schneebedeckt. Die Infanteristen, von den Anstrengungen und der Kälte ausgelaugt, warten auf das Signal ihres Corporals zum Weitermarsch. Halb verborgen hinter seinen Kameraden erkennen wir den Künstler selbst, mit einer dunkelblauen Sturmhaube. Obgleich auf relativ engem Raum versammelt und trotz der Tatsache, dass doch alle der gleichen Situation ausgeliefert sind, erscheinen die Soldaten merkwürdig isoliert und distanziert. Es gibt keine Interaktion, keinen Blickkontakt, jeder ist vollkommen mit sich beschäftigt. Selbst der erschöpft zusammengebrochene Soldat, direkt am unteren Bildrand, bleibt unbeachtet; gleichgültig ist ein Kamerad über dessen Füße hinweggestiegen. Bei der Londoner Ausstellung fand das Bild große Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt der Technik zollte man Beachtung, handelt es sich doch um eine aufwändige Hinterglasmalerei, wobei aus dem dumpfen Oliv der Uniformen vereinzelt Rot- und Goldtöne hervorstechen.



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Obgleich Kenningtons Realismus nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stieß, lobten doch die meisten Rezensenten einerseits den stillen Heroismus der Darstellung,20 andererseits die Authentizität und die Aura ungeschönter Augenzeugenschaft: All diese Aspekte finden sich in einer Rezension der Times: „The picture convinces us that it is real life, but it is not at all like a photograph of an actual scene. Without any sentimentality or forcing of expression Mr. Kennington makes visible to us what all these men are feel­ ing. They are ordinary men, very tired and dirty; there is none of the romance of war as it is commonly painted. No-one is enjoying the thought that he is a hero or is making history; and yet all these soldiers are at one in their common sense of duty and determined to endure; and it is this sense, made visible, that imparts beauty to the picture.“21 Der Erfolg der Kensingtons in Laventie trug durchaus dazu bei, das (Propaganda-)Poten­zial der Kunst stärker ins Bewusstsein zu heben.22 III. Das britische War Artist Scheme wurde 1916 ins Leben gerufen.23 Es stand unter der Ägide des Propaganda Department, das bereits im September 1914 in Wellington House, London, installiert worden war und dem Foreign Office unterstand; als Direktor amtierte Charles Masterman.24 Schwerpunkt des Wirkens war vor allem die rege Produktion und Distribu20  Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 12: „[…] reworking a chivalric ideal of soldiers into a modern and democratic vision.“ 21  Times, 20. Mai 1916. 22  Mit den Arbeiten, die Kennington später in seiner Funktion als Official War Artist schuf, konnte er allerdings nur bedingt an den Erfolg des ersten Gemäldes anknüpfen (Eine Ausnahme bildet dabei Gassed and Wounded, 1918, Imperial War Museum, London). Kennington selbst beklagt als Grund dafür, dass ihn seine Vorgesetzten im Feld von der Frontlinie ferngehalten und auf „Tents, shacks und camp rubbish“ beschränkt hätten. (z. B.: A Camouflaged Tent, 1917, Imperial War Mu­ seum, London). Den Großteil seiner Arbeit machen in der Zeit allerdings Soldatenportraits aus (z. B.: Raider with a Cosh, 1917, Imperial War Museum, London), ein Themenschwerpunkt, nebenbei bemerkt, dem Kennington als Official War Artist auch im Zweiten Weltkrieg treu blieb. 23  Zur der Rolle, die Max Aitken (später Lord Beaverbrook) für das britische War Artist Scheme spielte, sowie zu den teilweise vorbildhaften kanadischen Unternehmungen auf dem Sektor vgl. Maria Tippert: Art at the Service of War – Canada, Art and the Great War. Toronto 1984; Laura Brandon / Dean F. Oliver: Canvas of War: Painting the Canadian Experience. Vancouver 2000. 24  Zur britischen Propaganda vgl. u. a. Michael Sanders / Philip M. Taylor: British Propaganda During the First World War, 1914–1918. London 1982; Cate Haste: Keep the Home Fires Burning: Propaganda in the First World War. London 1977; Garry S. Messinger: British Propaganda and the State in the First World War. Manchester / New York 1992; Alice Goldfarb Marquis: Words as Weapons: Propaganda

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tion vielfältiger Materialien: Pamphlete, Photographien, Pläne, Postkarten, Poster und einiges mehr. Bevorzugt wurde, was sich gut reproduzieren ließ. Claire Bowen weist darauf hin, dass es sich dabei um Materialien handelte, die „echoed the type of didactic entertainment so appreciated by the late Victorians and Edwardians.“25 Entscheidend für die weitere Entwicklung war die personelle Zusammensetzung in Wellington House – rekrutierten sich viele Mitarbeiter doch aus kultur- und kunstaffinen Kreisen, unter ihnen Verleger, Publizisten, Journalisten und Museumsangestellte. Das Department war so im Prinzip schon vor 1916 bestens aufgestellt für die Promotion und Distribution von Kunst und verfügte über die notwendigen Kenntnisse und Kontakte. Der konkrete Vorschlag für die Kontraktierung von Künstlern im Mai 1916 ging wohl auf Ernest Watt, Literarturagent und Mitarbeiter des Propaganda Department, zurück. Auf seine Initiative hin wurde der unmittelbar vor seiner Einberufung stehende Maler Muirhead Bone für Wellington House verpflichtet. Auf ähnliche Weise erhielten auch die später folgenden War Artists ihre Anstellungen: durch Empfehlungsschreiben, Kontakte, Referenzen. Es gab kein Standardverfahren, doch darf nicht der Eindruck entstehen, Maler hätten eine Anstellung als War Artist angestrebt, um sich dem Frontdienst zu entziehen. Tatsächlich konnte das Gros der eingesetzten Künstler bereits mit Erfahrungen aus dem aktiven Dienst aufwarten, meist beim Royal Army Medical Corps oder bei den Artists’ Rifles. An der Vereinbarung, die mit Muirhead Bone getroffen wurde, orientierten sich im Großen und Ganzen auch die späteren Kontrakte. Einen unumgänglichen Standardvertrag gab es allerdings auch dabei nicht. Bone, jedenfalls, sollte während eines kürzeren Frontaufenthalts Skizzen anfertigen, Eindrücke und Ansichten aus erster Hand sammeln und diese dann anschließend bei einem längeren Heimaturlaub im Studio ausarbeiten. Eine Auswahl der Arbeiten sollte mit Mitteln aus Museumsfonds angekauft werden.26 Zusätzlich sollten Mittel der Treasury das gesamte Projekt unterstützen. Bone erhielt den Rang eines Second Lieutenant, wurde dem General Staff zugeordnet und sollte exklusiv für Wellington House arbeiten. Das bezog sich nicht allein auf alle angefertigten Arbeiten, sondern auch auf deren in Britain and Germany during the First World War. In: Journal of Contemporary History, 13 (1978), 467–498. 25  Claire Bowen: Paul Nash and the First World War Official War Artist Scheme. In: Cercles 1 (2000), 21–31, hier 21. 26  In diesem Zusammenhang erwies sich die Zusammensetzung des Wellington House-Teams erneut als vorteilhaft, zählte zu den Mitarbeitern doch auch Campbell Dodgson, der zugleich Keeper of Prints and Drawings im British Museum war.



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Verwertungs- bzw. Reproduktionsrechte für die Dauer des Krieges.27 Bereits zwischen Dezember 1916 und Oktober 1917 wurden so über 200 Zeichnungen in der zehnteiligen Reihe The Western Front publiziert, die in einer Auflagenhöhe von 30.000 Exemplaren erschien. Schon während dieser ersten Projektphase ging man zur Ausweitung des Official War Artist Scheme über. Es wurden nicht nur weitere Künstler unter Vertrag genommen, auch das Wellington House-Team wurde mit Blick auf die spezielle Unternehmung verstärkt.28 Ein Nachfolgeprojekt zu Bones Darstellungen der Westfront war 1917 die Reihe British Artits at the Front, die allerdings schon mit etwas veränderter Schwerpunktsetzung aufwartete. Vier ausgewählte Künstler wurden in ihrer Funktion als War Artists in Wort und Bild vorgestellt. Der Künstler avancierte dabei zum Zeugen und Kommentator des Krieges; vom General Headquarter sanktionierte begleitende Essays bürgten für den relativen Wahrheitsgehalt.29 IV. Im Dezember 1917 wurde das Propaganda Department zunächst dem neu gegründeten Department of Information unterstellt, ging aber bereits im Februar 1918 fast vollständig darin auf. Das War Artist Scheme blieb zwar unter der neuen Ägide erhalten, die Zielvorgaben änderten sich jedoch signifikant. Schon im März 1917 hatte das Kabinett die Einrichtung eines nationalen Kriegsmuseums beschlossen.30 Dem Imperial War Museum kam in der Folge eine dokumentarische und memoriale Aufgabe zu. Die Kunst stellte dabei nur einen, wenn auch sehr bedeutenden Zweig dar. Das Museum übernahm 27  Der Vertrag zwischen Muirhead Bone und dem Propaganda Department macht deutlich, dass nicht nur ein Interesse an den schlussendlich ausgeführten Malereien bestand, sondern auch am schnellen graphischen Output. Gerade dieser konnte schließlich auch zeitnah verwertet werden. 28  Bereits im Sommer 1916 wurde Alfred Yockney – ehemaliger Herausgeber des Art Journal und ein Profi auf dem Gebiet der Bildpublizistik – als Mitarbeiter gewonnen. 29  Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 29 f.: „The format of British Artists at the Front constructed a reading of the reproductions as self-evident truth about the war both because they expressed the integrated persona of the artist, based on a romantic cult of individualism, and because they visualized actualities confirmed in an independent written account authorized by GHQ.“ 30  George Kavanagh: Museum as Memorial: The Origins of the Imperial War Museum. In: Journal of Contemporary History 23 (1988), 77–97; Sue Malvern: War, Memory and Museums: Art and Artefact in the Imperial War Museum. In: History Workshop Journal 49 (2000), 177–203.

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Werke aus dem Official War Artist Scheme, verfolgte aber gleichzeitig eine eigene Ankauf- und Auftragsstrategie: „While the Wellington House collections were meant to have an active role in shaping opinion and were moved around the country and the Dominions for exhibition and reproduced for purchase by the public, the War museum collection was intended for retrospective propaganda, for the constitution of a pictorial memorial of the victims of the war to be lodged, virtually enshrined, in one place.“31 Im März 1918 entstand als Unterabteilung des Ministry of Information das British War Memorials Committee. Den Memorialgedanken fortschreibend, plante das Committee ab 1918 eine Hall of Remembrance „to celebrate national ideals of heroism and sacrifice“.32 In einem eigens zu errichtenden Gebäude33 sollten in vier Abteilungen „fighting subjects, home subjects and the war at sea and in the air“ präsentiert werden. Das Projekt wurde 1919 aufgegeben.34 Grund für das Scheitern waren einerseits Finan31  Bowen: Paul Nash (wie Anm. 25), 24. Zu den memorialen Dimension des Ersten Weltkriegs in England vgl. u. a.: Peter Donaldson: Ritual and Remembrance: The Memorialization of the Great War in East Kent. Cambridge 2006, 1–9; Alex King: Memorials of the Great War in Britain: The Symbolism and Politics of Remembrance. Oxford, 1998; Mark Connelly: The Great War: Memory and Ritual: Commemoration in the City and East London 1916–1939. Bury St. Edmunds, 2002; Catherine Moriarty: The Absent Dead and Figurative First World War Memorials. In: Transactions of the Ancient Monuments Society I (1995), 3–39; Catherine Mor­ iarty: Private Grief and Public Remembrance: British First World War Memorials, In: Martin Evans / Kenneth Lunn (Hrsg.): War and Memory in the Twentieth Century. Oxford, 1997, 125–142; George L. Mosse: Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars. Oxford, 1990; Jay Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History. Cambridge, 1995; David William Lloyd: Battlefield Tourism: Pilgrimage and the Commemoration of the Great War in Britain, Australia and Canada, 1919–39. Oxford, 1998; Bob Bushaway: Name upon Name: The Great War and Remembrance. In: Roy Porter (Hrsg.): The Myths of the English. London, 1992, 136–167; David Cannadine: War and Death, Grief and Mortality in Modern Britain. In: Joachim Whaley (Hrsg.): Mirrors of Mortality: Studies in the Social History of Death. London 1981, 195, betont: „interwar Britain was more obsessed with death than any other period in modern history“. 32  Muirhead Bone, der zu einem wichtigen Berater des British War Memorials Committee avanciert war, sah das hohe Ziel des Projekts darin, „to speak to succeeding generations in a voice which never grows unintelligible or stale […] the power of Art […] is as clear and telling as the ‚moral voice within us‘.“ Zit. n.: Harries: The War Artists (wie Anm. 12), 94. Die Pläne für eine britische Hall of Remembrance stehen ebenfalls im Zusammenhang mit dem auf Initiative Lord Beaverbrooks initiierten Projekt des Canadian National War Memorial; vgl. The Canadian War Memorial Fund. Its History and Objectives, Imperial War Museum, London 460 a / 10. 33  Den Entwurf dazu legte Charles Holden vor. 34  Eine weitere Kommission, nämlich das Pictorial Propaganda Committee, wurde ab Juni 1918 mit der Aufgabe betraut, die Sammlungen des Imperial War Muse-



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zierungsschwierigkeiten, andererseits, und darauf weist etwa Clare Willsdon hin, gab es möglicherweise auch Vorbehalte gegen das künstlerische Gesamtkonzept.35 In der Hall of Remembrance sollten nicht nur thematische und kompositorische Vorgaben, sondern auch die Beschränkung auf vier Formate ein einheitliches Gesamtbild sichern.36 Zur mittleren Formatkategorie gehörte beispielsweise Henry Lambs37 Irish Troops in the Judaean Hills Surprised By A Turkish Bombardment38 und Stanley Spencers Travoys Arriving with Wounded at a Dressing-Station at Smol, Macedonia, September 1916.39 Spencer gibt dort wieder, was er aus eigener Anschauung als Sanitäter der 68th Field Ambulance in Mazedonien kannte: Verwundete werden auf von Maultieren gezogenen Tragen zur Dressing Station in einer alten griechischen Kirche gebracht, deren in warmes Licht getauchtes Inneres wie ein Ort der Erlösung erscheint. Spencer hatte, nebenbei bemerkt, später die Gelegenheit, Kriegsereignisse und Kriegserlebnisse im Rahmen eines Prium und des British War Memorials Committee, darunter später auch die bereits für die Hall of Remembrance geplanten Arbeiten, zusammenzuführen. Auch nach dem Friedensschluss und nach Beendigung des Official War Artist Scheme wurden weiterhin Arbeiten in Auftrag gegeben und angekauft. Überdies erweiterten Schenkungen die Sammlungen. Künstler wie Muirhead Bone oder William Orpen überließen dem Imperial War Museum alle Arbeiten, die in einem Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg standen. 35  „[…] in the Hall of Remembrance the chosen iconography was perhaps still too recent and emotively charged for successful translation into an art-form intended to speak for time immemorial.“ Clare A. P. Willsdon: Mural Painting in Britain 1840–1940. Image and Meaning. Oxford 2000, 122–130, hier 124. Wie problematisch es war, ein malerisches Memorialkonzept für den Ersten Weltkrieg zu erarbeiten, dokumentiert auch der unglückliche Verlauf eines weiteren Projekts: 1925 stellte Edward Guinness, Earl of Iveagh, als privater Mäzen £20.000 bereit, um der Royal Gallery, New Palace od Westminster, ein War Memorial für das House of Lord zu inkorporieren. Er konnte den renommierten Künstler Frank Brangwyn für den Auftrag gewinnen. Bereits Ende 1925 wurde das ursprüngliche Konzept, wohl in Absprache zwischen Mäzen und Künstler, abgeändert. Trotz Planänderung stellte Brangwyn zwei Paneele des ursprünglichen Konzepts fertig: A Heavy Gun in Action (1927) und A Tank in Action (1929), beide National Museum of Wales, Cardiff. Vgl. insg. auch Rodney Brangwyn: Frank Brangwyn. London 1978, 238; Frank Rutter: The British Empire Panels by Frank Brangwyn. Leigh-on-Sea 1933; Willsdon: Mural Painting (wie Anm. 35), 145–165; Alan Powers: History in Paint: The TwentiethCentury Murals. In: Apollo 135 (1992), 320 f. 36  Zu den Leitgedanken und Zielvorstellungen vgl. auch Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 92–98. 37  Lamb diente als Medical Officer in Palästina und an der Westfront und wurde erst 1919 nach seiner Demobilisierung als War Artist beauftragt. 38  1918, 183 x 219 cm, Imperial War Museum, London. 39  1916, 183 x 219 cm, Imperial War Museum, London.

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vatauftrags in einem eigenen Gesamtkunstwerk (1927–1932), der Sandham Memorial Chapel in Burghclere, Hampshire, umzusetzen.40 Für die Hall of Remembrance waren darüber hinaus einige Supersized Pictures im extremen Querformat (231 × 611 cm) vorgesehen, von denen allerdings allein John Singer Sargents Gassed fertiggestellt wurde.41 Es war dies vielleicht das populärste Werk aus dem großen Pool des War Artist Scheme – eine Darstellung, die zu Recht häufig mit Pieter Bruegels d. Ä. Sturz der Blinden von 156842 verglichen wurde. 1919 in der Royal Academy zum Picture of the Year gewählt, zeigt Sargents Gassed die unzähligen Verwundeten nach einer Senfgasattacke an der Westfront, süd-westlich von Arras, im August 1918. Eine Reihe von Soldaten wird im Mittelgrund von einem Sanitäter zur Dressing Station geführt – die Vertäuung des Zeltes ist rechts bereits erkennbar. Mit verbundenen Augen und mit den Händen am Vordermann Orientierung suchend, tappen die Opfer durch das schauerliche Szenario. Ein ähnlicher Zug nähert sich rechts im Hintergrund. Dass dies alles Kriegsnormalität war, deutet Sargent durch einige Fußball spielende Soldaten in der Ferne an. Trotz der enormen Opferzahl präsentiert Sargent kein Bild der Verzweiflung, sondern eher eine gesäuberte, gemilderte Ver­ sion der Ereignisse, golden überhaucht von der tief stehenden Sonne: „Sargent’s painting captures an air of discomfort but not the full gamut of pain. The bandages are clean, the wounds discrete, even polite; the statuesque Tommies are fit, whole and cared for“.43 Dass gerade Sargent die britische Ikone zum Great War lieferte, entbehrt nicht einer gewissen Skurrilität, waren ihm doch die Front, ja der Krieg überhaupt, offenkundig fremd. Symptomatisch ist die stets aufs Neue wiederholte Anekdote, dass er in Flandern mit der ahnungslosen Frage, ob denn auch am Sonntag gekämpft werde, auffiel. V. Es muss hier nicht eigens ausgeführt werden, inwiefern sich der Erste Weltkrieg von früheren kriegerischen Auseinandersetzungen unterschied. Das „Moderne“ dieses Konflikts, der „qualitative Entwicklungssprung in 40  Paul Gough: Stanley Spencer: Journey to Burghclere. Bristol 2006; Sue Malvern: Memorising the Great War: Stanley Spencer at Burghclere. In: Art History 23 (2000), 182–204. 41  1919, Imperial War Museum, London. Augustus John und William Orpen, die mit zu den Themen Anglo-French bzw. Anglo-Italian Co-operation die beiden anderen Supersized Pictures beisteuern sollten, begannen nicht einmal mit der Arbeit. 42  Musée du Louvre, Paris. 43  Gough: A Terrible Beauty (wie Anm. 12), 200.



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der Geschichte des modernen Völkerschlachtens“,44 hatte in vielerlei Hinsicht auch entscheidenden Einfluss auf die Kunst. Wie sich diesem Krieg mit künstlerischen Mitteln nähern? Wie gerade die Mechanisierung und die veränderte Rolle des Menschen bildnerisch fassen? Neben dem Krieg zu Lande und zur See galt es, sich auch mit dem Luftkrieg zu beschäftigen; darüber hinaus mussten für die Heimatfront, für die Massenmobilisierung und die Absorption der gesamten Wirtschaftskraft visuelle Übersetzungen gefunden werden. Auf einer anderen Ebene versagten vor dem Ausmaß des Konflikts – mit der ungeheuren Steigerung des militärischen Destruktionspotentials45 einerseits und der Unübersichtlichkeit einer großen Zahl weit auseinanderliegender Schauplätze andererseits46 – tradierte ikonographische Muster und die Strategien einer klassischen Historienmalerei.47 In diesem Sinne fasst Gerhard Paul zusammen: „Das Framing des Krieges, um das sich Maler, Zeichner und Fotografen bislang bemüht hatten, war aus militärischen Gründen nun endgültig gescheitert.“48 Treffend bemerkte der Essayist Robert de la Sizeranne 1919: „Der moderne Krieg liefert den Schriftstellern, Psychologen, Dichtern, Stückeschreibern, Moralisten und vielleicht sogar den Musikern mehr Stoff als den Malern.“49 Ein spezieller Faktor war dabei die neue „Unsichtbarkeit“ des Krieges. Das Wesentliche geschah im Verborgenen, in Schützengräben, mithilfe von Torpedos und U-Booten;50 nicht zu vergessen der Einsatz chemischer Kampfmittel. Tarnung war ein wichtiger Aspekt; prachtvolle bunte Uniformen boten sich dem Maler nicht mehr an. Wie sollte man so den entscheidenden Moment einer Schlacht herausarbeiten? 44  Gerhard:

Bilder des Krieges (wie Anm. 3), 103. Thomas Flemming: Industrialisierung und Krieg. In: Rolf Spilker / Bernd Ulrich (Hrsg.): Der Tod als Maschine. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Osnabrück 1998, 55–67. 46  Vgl. Daniel Pick: The Rationalization of Slaughter in the Modern Age. New Haven / London 1993, 189. 47  Klassische Motive, wie sie noch der deutsch-französische Krieg von 1870 / 71 geboten hatte – Attacken, Hinterhalte, der Feldherrnhügel beispielsweise –, gab es im Prinzip nicht mehr. Andererseits findet sich aber auch das Phänomen des „medievalism“ in der britischen (und deutschen) Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs; vgl. Stefan Goebel: The Great War and Medieval Memory: War, Remem­ brance and Medievalism in Britain and Germany, 1914–1940. Cambridge 2006. 48  Paul: Bilder des Krieges (wie Anm. 3), 105; vgl. auch Norbert Bolz: Warum es keine Kriege mehr gibt. In: Bazon Brock / Gerlinde Koschik (Hrsg.): Krieg und Kunst. München 2002, 149–161. 49  Robert de la Sizeranne: L’art pendant la guerre, 1914–1918. Paris, 1919, 259. 50  Vgl. auch Martin Warnke: Political landscape. The Art History of Nature. London 1994, 60–62. 45  Vgl.

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Und überdies: Wie das Paradoxon von explosiver Beschleunigung, die modernes Kriegsgerät hervorbrachte, und der zermürbenden Bewegungslosigkeit des Stellungskriegs fassen? Wie die Zerstörung und Opferzahlen ungekannten Ausmaßes? Einen Königsweg gab es dafür offensichtlich nicht. Künstler fanden je eigene Lösungen, das Unsagbare ins Bild zu bringen. Oft war das eine tastende Suche, die permanent die Aktualisierung der eigenen Formsprache erforderte. Paul Nash etwa setzt in The Mule Track51 die zerstörerische Kraft eines Bombardements in Kontrast zu dem verschwindend kleinen Konvoi mit Maultieren, der im Mittelgrund des Bildes schutzlos, hilflos und panisch durch die kataklystische Landschaft irrt. Auch Nash konnte Erfahrungen im active service vorweisen. Er hatte sich 1915 den Artists’ Rifles angeschlossen, wurde dann ins Hampshire Regiment versetzt und war bis zu seiner Ausmusterung im Mai 1917 vor allem am Ypern-Bogen eingesetzt. Noch im November desselben Jahres kehrte er als Official War Artist nach Flandern zurück. Unirdische Landschaften, von Kriegswunden durchzogen, wurden zum beherrschenden Thema in Nashs War Paintings im Ersten Weltkrieg.52 So etwa in We are Making a New World,53 das Inverness Copse, den Schauplatz deutschen Widerstands während der britischen Sommeroffensive 1917, wiedergibt: Eine strahlende Sonne geht über einer vollkommen zerstörten Landschaft mit aufgetürmten Erdschollen und Baumgerippen auf – ein Kontrast, der, zusammen mit dem Titel, eine ironische Brechung mehr als deutlich macht. Eine Landschaft, die Menschen nicht mehr als Lebensraum oder Habitat dienen kann, präsentiert auch The Menin Road,54 das 1918 für die seinerzeit noch geplante Hall of Remembrance in Auftrag gegeben wurde. Es zeigt ein als Tower Hamlets bekanntes Areal in der Nähe der belgischen Ortschaft Gheluveldt, ebenfalls im lange und erbittert umkämpften Gebiet von Ypern. Einzig lebend sind zwei mittig platzierte Soldaten, die in einer zerklüfteten Landschaft zwischen überfluteten Bombentrichtern und Trümmerteilen verloren scheinen. Es gibt offensichtlich keinen Zufluchtsort für sie, dauert doch der Artilleriebeschuss im Hintergrund an.

51  1918,

Imperial War Museum, London. Cardinal: The Landscape Vision of Paul Nash. London 1998; Ausstellungskatalog: Paul Nash: Modern artist, ancient landscape. Tate Liverpool 2003. 53  1918, Imperial War Museum, London. 54  1919, Imperial War Museum, London. 52  Roger



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VI. Wie eingangs vermerkt, gehörte zu den Parametern, die die britische War Art bestimmten, neben dem Faktor Institutionalisierung auch eine Modernismus-Debatte.55 Die kulturelle Avantgarde wurde in England bereits vor, aber auch während des Ersten Weltkriegs kontrovers diskutiert.56 So gab es durchaus ein Spektrum, das den Krieg als Möglichkeit sah, die Nation von sozialen Übeln zu reinigen. Und das betraf neben solchen Gravamina wie dem Feminismus auch die modernistischen Abwege der Kunst, etwa den Futurismus oder den speziell englischen Beitrag zur Moderne, den Vortizismus.57 Nur der Ausgewogenheit halber soll hier darauf hingewiesen werden, dass zum Teil auch in den Reihen der Avantgarde, der Gegenseite sozusagen, der Krieg begrüßt wurde. Italienische Futuristen etwa, vertreten in erster Linie durch die schillernde Figur Filippo Marinetti, sahen den Krieg als eine Art essentieller Hygiene, die verkrustete Werte, Systeme und Strukturen hinwegfegen würde.58 Gegen die Avantgarde polemisierte in England etwa der Bildhauer William Robert Colton. In dem Magazin The Architect schrieb er 1916: „it was high time that war should come with its purifying fire. […] A wave of diseased degeneracy had submerged Philosophy, Music, Literature, and Art to such a depth that, looking forward, I venture to prophesy that future centuries will gaze back with pity upon this period of mistaken morbidness. 55  Zur britischen Kunst in ersten Drittel des 20. Jahrhunderts insg. vgl. u.  a. Charles Harrison: English Art and Modernism, 1900–1939. London / Indiana 1981; Susan Compton (Hrsg.): British Art in the 20th Century: The Modern Movement. London / München 1987; David Peters Corbett: The Modernity of British Art, 1914– 1930. Manchester 1997; Lisa Tickner: Modern Life and Modern Subjects: British Art in the Early Twentieth Century. New Haven 2000; Richard Cork: Vorticism and Abstract Art in the First machine Age (2 Bde.). London 1975 / 76; David Peters Corbett: The Modernity of English Art, 1914–1930. Manchester 1997; John Ferguson: The Arts in Britain in World War One. London 1980. 56  Roy Strong weist auf die bemerkenswerte kulturelle Isolation Englands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hin: „What sets the preceding four decades before the Great War apart is this quite extraordinarily arrogant cultural isolationism. While the Empire progressively straddled the globe, Britain withdrew from political and cultural contact with other nations, the result being intellectual ossification as the nineteenth century drew to its close. […] All of this was to come under siege sharply in the years immediately preceding the outbreak of the Great War in 1914 as the full force of the movement known as modernism began to erupt on the cultural scene.“ Roy Strong: The Spirit of Britain. A Narrative History of the Arts. London et al. 1999, 602–604. 57  Vgl. Michael J. K. Walsh: C.R.W. Nevinson. The Cult of Violence. Yale 2002, 101 f. 58  Vgl: Denis Farr: English Art 1870–1940. Oxford 1978, 208.

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[…] The futurists, the cubists, the whole school of decadent novelists.“59 Und Colton stand keineswegs allein mit seiner Ansicht, dass das Edwar­ dianische England durch europäische Modernismen infiziert war.60 Eine kulturelle Reinigung durch Krieg hielt etwa auch der Keeper der National Gallery, Charles Henry Collins-Baker, für durchaus wünschenswert: „Artists will be very hard hit by the war, but Art will benefit if the warn be great enough to engrave the world’s mind deeply […] Given certain conditions, war and periods of precarious existence have always produced a fine temper of intelligence and a rare susceptibility.“61 Überdies ist zum Teil auch eine Zuspitzung der Modernekritik auf einen insbesondere schädlichen deutschen Einfluss zu beobachten. Dass zumindest in der bildenden Kunst die wesentlichen Einflüsse eher aus Frankreich oder Italien kamen, tat dem keinen Abbruch. Die Gleichsetzung des militärischen mit dem kulturellen Feind bot sich für viele Kritiker an, wie beispielsweise Samuel Heynes resümiert: „for many English critics, of many different critical persuasions, the war against Germany rapidly became a war against modernism“.62 Dennoch hat es den Anschein, als hätte es zumindest in Wellington House zwar durchaus artikulierte Präferenzen, jedoch keine wirklich rigiden, über den Rahmen einer Auftragssituation hinausgehenden Direktiven gegeben. So schrieb der Direktor des War Artist scheme, Charles Masterman, im September 1917 an Erik Kennington: „I am afraid I cannot give you any directions as to what you should draw. I am quite content that you should go on drawing whatever you think best. I cannot pretend to direct or control artistic inspiration.“63 Als Major Arthur N. Lee, ab 1917 an der Westfront für die Koordination der Military Press Control zuständig, die Veröffentlichung von Christopher Richard Wynne Nevinsons A Group of Soldiers, 1917, mit dem Einwand 59  Robert Colton: The Effects of War on Art. In: The Architect 45 (1916), 200. Vgl. auch Patrick Deer: Culture in Camouflage. War, Empire, and Modern British Literature. Oxford 2009, 43: „The Bohemian ‘enemy within’ was a frequent and conveniently target in the Home Front culture wars.“ 60  Vgl. Samuel Heynes: A War Imagined. The First World War and English Culture. London 1990, 58–78. „To be Modern, they saw, was to be German, and it was right and patriotic that English Critics should declare war on Modernism wherever it could be detected.“ (64). 61  Art and War. In: Saturday Review 118 (1914), 220. 62  Heynes: A War Imagined (wie Anm. 60), 67. 63  Masterman an Kennington, 29.  September 1917. In: Imperial War Museum, London 245A / 6; vgl. auch Imperial War Museum, London 266A / 6; ferner Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 49–55.



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verhindern wollte, „the type of men represented is not worthy of the British Army“,64 protestierte Masterman entschieden: „We ought not to censor any ‚work of art‘ except for purely military reasons. If we judge of its ugliness or beauty as censors we are ‚in the soup‘ at once!!“65 Nevinson ist aber im Hinblick auf die Gemengelage von Moderne und Zensur dennoch interessant. Während sich Nash, dessen apokalyptische Landschaften bereits vorgestellt wurden, einer relativ konstanten Formsprache bediente, lassen sich bei Nevinson im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit dem Kriegsgeschehen gewisse Veränderungen beobachten. Von vornherein polarisierte er mit seiner „abgemilderten“ Moderne sowieso weniger als manch anderer.66 Dennoch waren seine frühen Arbeiten wie Returning to the Trenches67 oder La Mitrailleuse68 mit ihrer Aufsplitterung in geometrische Formen noch stärker dem Kubismus verpflichtet und zeigten teilweise eine Nähe zum italienischen Futurismus. Diese Tendenzen nahmen später sukzessive ab, wie etwa French Troops Resting69 und The Harvest of the Battle70 vor Augen führen. In Konflikt mit der Zensur geriet Nevinson dann auch nicht wegen einer allzu avantgardistischen Kunstauffassung, sondern wegen seines schonungslosen Realismus in The Paths of Glory,71 das die vergessenen Leichname zweier britischer Soldaten mit dem Gesicht im Dreck liegend vor einem Stacheldrahtverhau zeigt. Der Titel, der auf Thomas Grays Elegy Written in a Country Church-Yard von 1751 zurückgreift, tat ein Übriges, um das Fatalistische hervorzuheben, geht doch die Zeile bei Gray bekanntermaßen weiter: „The Paths of Glory lead but to the grave.“ Dass Nevinson die Arbeit 1918 trotzdem in seiner Ausstellung in den Leicester Galleries, London, und zwar mit einem großen darüber geklebten Schild „Zensiert“, zeigen wollte, brachte ihm eine Rüge des War Office ein, 64  Yokney an Dodgson, 21.  November 1917. In: Imperial War Museum, London 266A / 6. 65  Addendum zu einem Brief Mastermans, 27.  November 1917. In: Imperial War Museum, London 266A / 6. 66  In der Sunday Times (21.März 1915) bemerkt Frank Rutter: „If all Futurists gave us such beauty of colour and conveyed movement with such imaginative power as Mr. Nevinson shows us in these aeroplanes rushing through space, we should have no quarrel with them.“ 67  1914 / 15, National Gallery of Canada, Ottawa. Gift of the Massey Collection of English Painting, 1946. 68  1915, Tate Gallery, London. 69  1916, Imperial War Museum, London. 70  1919, Imperial War Museum, London. 71  1917, Imperial War Museum, London.

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das sowohl die Präsentation eines zensierten Werkes als auch den unautorisierten Gebrauch des Wortes „Zensiert“ tadelte.72 Für eine eher tolerante Kunstauffassung in Wellington House spricht letztlich aber auch die große Bandbreite der Arbeiten, die von John Singer Sargents beinahe altmeisterlicher A Street in Arras (1918) über William Orpens Dead Germans in a Trench (1918) und John Nashs Over the Top (1918) bis zu Percy Wyndham Lewis’ vortizistischem A Battery Shelled (1919) reicht.73 Die Rückkehr zu einer historisierenden oder allegorisch aufgeladenen Kunst ließ sich auch beim Publikum kaum noch durchsetzen. Dies zeigte sich beispielsweise an der abweisenden Haltung, die Kritik und Öffentlichkeit gegenüber einem speziellen Projekt einnahmen: 1917 gab das Ministry of Information unter dem Titel Britain’s Efforts and Ideals eine 66-teilige Lithografie-Serie mit einer Auflagenhöhe von jeweils 200 Kopien in Auftrag.74 Während neun Künstler in jeweils sechs Darstellungen die Efforts präsentieren sollten – etwa Building Aircrafts (C.W.R Nevinson), Women’s Work (Archibald Standish Hartrick), Making Guns (George Clausen) – erhielten zwölf weitere die Anweisung, jeweils ein Ideal oder Ziel zu gestalten, für das man in den Krieg gezogen war; beispielsweise United Defence Against Aggression (Francis E. Jackson), The Rebirth of the Arts (Charles Shannon) oder Italia Redenta (Charles Ricketts). Während die Efforts noch positive Kritiken erhielten, wurden die Ideals als zu flache Propaganda getadelt und eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit gemutmaßt, „restrictions which kept their imagination enchained“, wie der Kritiker Paul George Konody es fasste.75 Inwiefern der Krieg, aber eben auch die War Art zu Umbrüchen in der Kunstauffassung geführt hatten, lässt sich auch im Hinblick auf ein anderes Projekt vor Augen führen: 1912 bewarb sich Sigismund Goetze um die malerische Ausgestaltung des großen Treppenhauses (Ambassadors’ Staircase) im Foreign Office, London.76 Auf die Genehmigung des Gesamtkon72  Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 50–54; Charles Doherty: Nevinson’s Elegy: Paths of Glory. In: College Art Journal 51 (1992), 64–71; Jonathan Black: A Curious Cold Intensity: C.R.W. Nevinson as a War Artist, 1914–1918. In: Richard Ingelby / Jonathan Black / David Cohen / Gordon Cooke (Hrsg.): C.W.R. Nevinson: The Twentieth Century. London 1999, 34–36. Nevinsons Einlassung zu dem Vorgang in: C.R.W. Nevinson: Paint and Prejudice. London 1937, 110 f. 73  Alle Imperial War Museum, London. 74  Malvern: Modern Art (wie Anm. 12), 41–44; Ausstellungskatalog: Efforts and Ideals: Prints of the First World War. National Museum Cardiff, 2014 / 15. 75  Observer, 8. Juli 1918. 76  Vgl. insg. Sigismund Goetze: Mural Decoration of the Foreign Office. (o.O und o. J., c. 1921); Caroline Dakers: Sigismund Goetze and the decoration of the Foreign



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zepts 1913 durch den First Commissioner of Works, Lord Beauchamp, folgte die Ausstellung erster Farbentwürfe im Foreign Office im Mai 1914 sowie die Einsetzung eines Komitees mit der Aufgabe: „to consider all matters of detail in connection with the panels so as to ensure that the subjects represented were not likely to clash in any way with diplomatic amenities“.77 Ab Sommer 1914 arbeitete Goetze in seinem Studio an fünf großen „Spirit Frescoes“ auf Leinwand, die anschließend als Marouflage im Foreign Office installiert werden sollten. Es handelte sich um fünf Personifikationen der Britannia78 sowie drei Supraporten mit Personifikationen zu den Themen „Silence“, „Strength“ und „Dulce et Decorum est pro patria mori“. Ikonographisch und formsprachlich waren Goetzes Arbeiten fraglos dazu geeignet, Edward Greys Balance-of-Power-Politik zu visualisieren. Als sich dann 1919 die Frage der Anbringung neu stellte, waren Goetzes Arbeiten in vielerlei Hinsicht out of date. Sie entsprachen weder der neuen politischen noch der künstlerischen Wirklichkeit; erst 1921 – nach einigen Überarbeitungen – wurden die Malereien installiert.79 So trennen nicht einmal fünf Jahre Goetzes Britannia Bellatrix von C.W.R. Nevinsons The Paths of Glory oder Paul Nashs We are Making a New World. Wird in Goetzes Arbeiten noch ein starkes und selbstbewusstes, vom Schicksal verwöhntes Menschengeschlecht präsentiert, das souverän in der Welt agieren kann, so präsentieren Nevinson und Nash kein einladendes Habitat mehr, sondern nur noch eine fremde, unwirtliche Umwelt, durch die sich leidende und verstörte Individuen schleppen müssen. „Goetze’s style and iconography, rooted in a classical idiom reaching back through Leighton and French academic tradition to High Renaissance painting, were also out of touch, not just with Vorticism and the avant-garde, or the Official War Artists’ records of the Front, but with the directness and accessibility of the art of Sickert and the Camden Town Group as well.“80 Aber auch eine Gegenbewegung soll hier nicht verschwiegen werden: Ab 1909 bemühte sich der amtierende First Commissioner of Works, Lewis Harcourt, um die Fortführung der bereits im 19. Jahrhundert begonnenen malerischen Ausgestaltung des New Palace of Westminster, London. Für die Office Staircase: „melodrama, pathos and high camp“. In: Decorative Arts Society Journal 21 (1997), 54–65. 77  Alfred Mond: Mural Decoration of the Foreign and Commonwealth Office, Memorandum 13. Februar 1920, Public Record Office, London, 105. 78  Britannia Sponsa (The Seafarers), Britannia Colonorum mater, Britannia Bellatrix, Britannia Nutrix, Britannia Pacificatrix. Jeweils 4,64 m breit und zwischen 5,18 und 8,45 m hoch. 79  Ein verkleinertes Modell der von Goetze ursprünglich geplanten Treppenhausmalereien befindet sich im Empire and Commonwealth Museum, Bristol. 80  Willsdon: Mural Painting (wie Anm. 35), 120.

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St Stephen’s Hall fasste er unter dem Obertitel The growth of Privileges at Parliament from the Middle Ages to Modern Times auch die Inkorporation zeitgenössischer Themen ins Auge. Die Reihe sollte beschlossen werden mit der Darstellung King George V Opens His First Parliament in 1911. Bis 1915 wurden zwei der geplanten Arbeiten in der St Stephen’s Hall angebracht, nämlich Andrew Carrick Gows The House of Commons, 2nd March 1628. Holles and Valentine Holding the Speaker in the Chair und Seymour Lucas’ The Flight of the Five Members, 1624. Beide Arbeiten präsentieren sich als ausgesprochen konventionelle Historienbilder. Sie kontrastieren nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch sehr stark mit dem nächsten Bild, das erst 1920 / 21 in den Korridor Einzug hielt und keineswegs zum ursprünglichen Programm gehörte, nämlich Frank O. Salisburys The Burial of the Unknown Warrior.81 Ein überzeugendes Gesamtkonzept ließ sich so dort offensichtlich nicht mehr verwirklichen. In der Folge wurden die drei bereits fertiggestellten Gemälde aus der St Stephen’s Hall entfernt, bzw. in Committee Rooms transferiert und in den 1920er Jahren völlig neue Pläne entwickelt. Mit dem neuen Konzept orientierte man sich allerdings dezidiert nicht an einem zeitgenössischen Realismus oder der heterogenen Formsprache der War Artists, sondern kultivierte vielmehr genau die Gegenrichtung. Zeitnahe Ereignisse und das Thema „Krieg“ galt es, so die Vorgabe, generell zu meiden, und unter dem Titel The Building of Britain sollte in den Korridor-Malereien England in den Mittelpunkt eines stabilen, friedvollen Weltreichs gestellt werden.82 Zwischen 1925 und 1927 entstanden so die acht Arbeiten, die in großen Schritten die Geschichte Englands vom Ende des 9. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts abmessen.83 Mit dem inhaltlichen Konservativismus korrespondierte ein stilistischer, aus dem die Konzentration auf das klassische Vokabular der italienischen Renaissance folgte, wie 81  Ein ähnliches Thema hatte Salisbury auch 1917 in der Royal Exchange, London, umgesetzt: Their Majesties King George V and Queen Mary visiting the battle Districts in France, 1917. 82  Indem man The Building of Britain mit dem parlamentarischen Zusammenschluss von England und Schottland 1707 enden ließ, konnten zudem nicht nur die zeitgenössischen Untiefen und Gravamina des Empire-Gedankens gemieden, auch die unerquickliche Geschichte der amerikanischen Kolonien konnte so ausgegrenzt werden. 83  „So the committee decided that the eight subjects should illustrate eight main incidents symbolic of the building of Britain. First comes the beginning of the British Navy; next expansion of power; then the foundation of the British constitution based on individual liberty; after this the freedom of religious faith; then the control of the people of the purse of the nation; then the beginning of colonial enterprise, and thereafter the spirit in which England deals with an ancient civilization […]; and finally the union of ‚our own two nations at home‘.“ Herbert Furst: The Building of Britain. With the Speaker in St. Stephen’s Hall. In: Apollo 6 (1927), 113–119, hier 114.



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es auch in der British School in Rom gepflegt wurde, die im Wesentlichen die Künstler für diese letzte Phase der Parlamentsdekoration stellte. VII. Das bildliche Nachwort zu den memorialen Ambitionen des British War Artist Scheme gebührt William Orpen. Bei Kriegsausbruch bereits ein etablierter Künstler und gesuchter Gesellschaftsmaler der Edwardianischen Ära, gehörte er dann zu den produktivsten Beiträgern des Scheme. Noch von einer, wenn auch etwas fragenden, so doch positiven Aufbruchsstimmung zeugt sein Selbstportrait von 1917 Ready to start. Doch die Desillusionierung folgte auf dem Fuße. Von 1917 datiert Thiepval, das zu den Schauplätzen der Somme-Schlacht vom Sommer 1916 gehörte, und aus dem Folgejahr die bereits angesprochene Arbeit Dead Germans in a Trench.84 Unmittelbar nach dem Friedensschluss beauftragte das Imperial War Museum, das damit einem Wunsch von Premier David Lloyd George nach einer angemessenen künstlerischen Würdigung der historischen Ereignisse von Versailles entsprach, Orpen mit drei großen Gemälden. Dabei handelte es sich mit einem Honorar von £6.000 um den höchst dotierten Auftrag im Rahmen des War Artist Scheme. Sargent beispielsweise hatte für Gassed nur £300 erhalten. 1919 stellte Orpen A Peace Conference at the Quai d’Orsay und The Signing of the Peace in the Hall of Mirrors, Versailles, 28th June 1919, fertig.85 Beides sind technisch untadelige Arbeiten, doch sie präsentieren merkwürdig gezwungene Versammlungen, in denen die Protagonisten von der Extravaganz der Architektur an den Rand gedrängt werden.86 In seinen Kriegserinnerungen kommentiert Orpen: „The fighting man, alive, and those who fought and died – all the People who made the Peace Conference possible, were being forgotten, the ‘frocks’ reigned supreme.“87 Pflichtschuldig nahm Orpen dann auch das dritte Bild in Angriff, änderte aber nach neun Monaten den Kurs radikal und tilgte alle bereits gemalten Porträts von der Leinwand. 1922 stellte er dann unter dem Titel To the Unknown British Soldier in France den Gegenentwurf zum, seiner Ansicht nach, hohlen politischen Theater der Friedenskonferenz vor: Das zentrale Motiv bildete nun ein mit dem Union Jack verhüllter Katafalk, darüber zwei 84  Alle

Imperial War Museum, London. und die folgenden Arbeiten im Imperial War Museum, London. 86  Vgl. auch Keith Jeffery: Ireland and the Great War. Cambridge 2011, 86–89. 87  William Orpen: An Onlooker in France, 1917–1919. London 1921, 103 f. 85  Diese

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Engel. Flankiert wird die Szene von zwei befremdlichen, halb entblößten Soldaten, die offensichtlich ihr Vorbild in Orpens verstörendem Aquarell Blown-Up Mad, 1919, haben. 1923 in der Royal Academy zum Picture of the Year gekürt und insgesamt gut besprochen, erfuhr das Gemälde allerdings von Seiten der konservativen Presse heftige Kritik, es wurde als scham- und geschmacklos klassifiziert. Das Imperial War Museum weigerte sich zudem, das fällige Resthonorar zu zahlen. Fünf Jahre später retuschierte Orpen die Arbeit allerdings zur Zufriedenheit der Auftraggeber. Was bleibt, ist ein Palimpsest, dessen pentimenti noch von seiner einstigen Störqualität zeugen. „Nothing is left“, resümiert Samuel Heynes, „but a nameless dead soldier in a cold emptiness.“88

88  Heynes:

A War Imagined (wie Anm. 60), 460.

The Faces of Mourning in British First World War Memorialisation By Mia Jones, Wolverhampton I. The First World War was the first conflict to evoke such a phenomenon of memory. Arguably the first total war, and one to involve large citizen armies, its effects were felt throughout every sphere and aspect of society. With over 900,000 Commonwealth dead recorded during the First World War, memorialisation became not only socially and morally popular, it became a necessary function. Commemoration does not always take the form of a cemetery. War memorials have long since been a controversial element of memorialisation. The debate over whom memorialisation was actually for has been reignited in recent years. Adrian Gregory in his body of work on memorialisation leading up to The Silence of Memory focuses on memorials as a direct link between memorials and grief, but in his latest work, The Last Great War he has joined, amongst others, Joanna Bourke, who in her article ‘Remembering War’ claims that memorials were erected for the bereaved, to act as an outlet for their grief, rather than a direct consequence of that grief and as a memorial to those whom had died.1 The ‘grief school’ as led by Winter, aims to fully acknowledge the aspect of bereavement in war memorials. It focuses on the memorial as a representational focus of mourning and as a substitution for a grave. This was particularly resonant in Britain, where repatriation was forbidden. The functionalist approach, as supported by Bob Bushaway, serves to support the idea of the memorial, and memorialisation in general, as an arm of political power.2 This is best demonstrated in the erection of the Menin Gate in Ypres, commissioned in order to memorialise the missing of the Ypres Salient, and designed by Sir Reginald Blomfield with sculpture by Sir William ReidDick. It was finally unveiled on 24 July 1927 by Field-Marshal Plumer, 1  Adrian Gregory: The Last Great War. British Society and the First World War. Cambridge 2008, 334; Joanna Bourke: ‘Remembering’ War. In: Journal of Contemporary History 39 (2004), no. 4, 481. 2  Stefan Goebel: Re-Membered and Re-Mobilized. The “Sleeping Dead” in Interwar Germany and Britain. In: Ibid., 487.

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who in his speech made reference to those memorialised, whose bodies had never been recovered – “He is not missing. He is here”.3 It commemorates 54,405 Commonwealth war dead, namely forces of Australia, Canada, India, South Africa and the United Kingdom who died in the area prior to August 1917. The Menin Gate memorial is also noted as from Armistice Day in 1929 the bugle call of the Last Post has been played there every night.4 The Menin Gate memorial is particularly controversial, as its architecture has left it vulnerable to interpretation. Commentators, such as Mark Connelly, have drawn comparison between the Menin Gate and the triumphal arches of the Roman Empire.5 Architecturally the two structures do bear some similarity. Philip Longworth states that whilst the Menin Gate memorial is surely the best known of all Commonwealth War Graves Commission’s memorials, it is primarily an imperial monument and secondarily a memorial to war dead.6 Siegfried Sassoon’s poem ‘On Passing The Menin Gate’ denounces the memorial as a proclamation of victory, rather than a true memorial to the fallen. As a soldier of the First World War, his views were certainly valid, but his obvious disenchantment with the reasons that Britain entered the conflict colour his work. Stephens remarks that the architecture is reminiscent of a mausoleum, which is fitting as, as a memorial, it marks the resting place of those whom have never been found.7 The focus of this paper, whilst encapsulating the theme of war memorials – particularly those of naval concentration – has been based around the individual. The importance of remembering the individual cannot be undervalued, as it is those that they left behind that shaped the way in which we commemorate and remember the fallen. Memorials around the world to the First World War are inscribed with hundreds of thousands of names, and yet each of those names represents a person who, in the course of duty to their nation, left behind family, friends and the communities in which they had lived in the pre-war years.

3  Toni Holt / Valmai Holt: My Boy Jack? The Search for Kipling’s Only Son. Barnsley 2001, 153. 4  Bar a short break during the hostilities of the Second World War; Holt / Holt: My Boy Jack? (note 3), 153. 5  Mark Connelly: The Ypres League and the Commemoration of the Ypres Salient. 1914–1940. In: War in History 16 (2009), no. 51, 58. 6  Philip Longworth: The Unending Vigil. The History of the Commonwealth War Graves Commission. Barnsley 2010, 103–104. 7  John Stephens: The Ghosts of Menin Gate. Art, Architecture and Commemoration. In: The Journal of Contemporary History 44 (2009), no.  1, 17.



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II. The case studies featured in this paper begin with what could be considered the ‘acceptable face’ of First World War memorialisation. Whilst, in the opinion of the Commonwealth War Graves Commission, all men were equally worthy of commemoration, those who had performed heroic feats, or behaved gallantly in the face of the enemy were often the focus of intense attention and memorialisation. Reverend (Rev) Theodore Bayley Hardy was one such subject of memorialisation, having been awarded the Victoria Cross (V.C.) by King George V on 9 August 1918.8 65 chaplains embarked with the British Expeditionary Force in August 1914, with 3,745 padres serving with the British forces by the conflicts conclusion in 1918.9 166 died, 3 won the V.C.10, and 242 the Distinguished Service Order (D.S.O.)11, or the Military Cross (M.C.).12 The majority of these were awarded for tending to wounded men whilst under fire.13 Rev Hardy can be counted as one amongst these figures, having been awarded the D.S.O. on 18 October 1917, the M.C. on 17 December 1917, and finally the V.C. on 7 July 1918. The Chaplains’ Department provided a vital outlet for clergymen who were anxious to serve their country. Many men, such as Rev Hardy, volunteered their services as chaplains, after being turned away from military service due to factors such as age or physical impairment or infirmity.14 Rev Hardy was so keen to serve that he had attended an interview to become a volunteer stretcher-bearer for the British Red Cross before he was offered a chaplaincy position in August 1916 following the commencement of the Battle of the Somme. His rank was Temporary Chaplain, 4th Class.15 A chaplain would often have to deal with a daily struggle between his beliefs and the war aims of his country. The Christian doctrines of love, of universal brotherhood, of peace, and the commandment “You shall not kill” 8  David Raw: ‘It’s Only Me’ A Life of the Reverend Theodore Bayley Hardy V.C., D.S.O., M.C. 1863–1918. Vicar of Hutton Roof, Westmorland, Gatebeck near Kendal. Cumbria 1988. 74. 9  Linda Parker: The Whole Armour of God. Anglican Army Chaplains in the Great War. Solihull 2009, 13; Alison Brown: Army Chaplains in the First World War. University of St. Andrews 1996. 2. 10  Cf. Raw: It’s Only Me (note 8). 11  Ibid. 12  Parker: Armour of God (note 9), 13. 13  Michael Snape: Church of England Army Chaplains in the First World War. Goodbye to ‘Goodbye to All That’. In: Journal of Ecclesiastical History 62 (2011), no. 2, 321. 14  Cf. Brown: Army Chaplains (note 9), 32. 15  Raw: It’s Only Me (note 8), 14.

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presented an unusual struggle. These ideals are manifestly incompatible with the aims of a nation at war. Therefore it could be problematic for the Christian in military service to put them into practice. Moreover, the ageold problem of the relationship between church and state is prominent – whether the church or state should receive the first, unwavering, loyalty of its followers.16 Rev Hardy recognised that this conflict would affect the morale of the Christian [and other overtly religious] public, and more importantly to him, the soldiers with who he served. Therefore he approached his role of chaplain in a paternal, friendly manner, which both comforted and reassured the men whom he felt bound to help during their time at the front.17 Roger Lloyd has stated that a chaplain in the First World War could become indispensable, but only if he created that himself.18 This is a feat Rev Hardy achieved to a great deal of success, with colleagues, both military and ecclesiastical praising his efforts to bring comfort to the men whom he attended to. Rev Hardy recognised that men would not necessarily come to him in his own domain in order to receive spiritual comfort or guidance, and that he was better positioned to distribute his services throughout the lines. This pastoral, rather than theological approach was one which earned Rev Hardy much respect and affection, and many other Chaplains also adopted this approach. Not only were Chaplain’s at odds with conflicting military and religious ideology, they also contended with the imbalance between serving as officers in both the military and ecclesiastical spheres. It was assumed that chaplains, with high levels of education and moral conduct, would have the necessary skills in order to act as senior officials. Many felt uncomfortable with this label.19 The official historian for the First World War, Sir J. E. Edmonds touched upon this in 1932, stating that chaplains were “often a useful link between the man in the ranks and his officer”.20 Robert Graves has asserted that a very small minority of soldiers on the Western Front were religious in character, however John Baynes, whilst conducting a study of morale on the Western Front during the First World War, has commented that in his opinion, just over forty per cent of soldiers were immensely comforted by aspects of religion at times during their service.21 However, these figures could be influenced by typically devoutly religious 16  Waldo W. Burchard: Role Conflicts of Military Chaplains. In: American Sociological Review 19 (1954), no. 5, 529–530. 17  Cf. Raw: It’s Only Me (note 8), 21. 18  Cf. Parker: Armour of God (note 9), 140. 19  Cf. Burchard: Role Conflicts (note 16), 528–529. 20  Quoted in Snape: Church of England (note 13), 322. 21  Cf Raw: It’s Only Me (note 8), 17.



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Roman Catholics, or by the pastoral care which is synonymous with Rev Hardy and other notable padres, such as ‘Woodbine Willy’.22 Rev Hardy was first stationed in Etaples in August 1916, moving to the front at Lens in December 1916. Moving to Arras in March 1917, the Ypres salient in the June of the same year before transferring to Gommecourt [near Albert] where he remained until his death.23 He won the V.C. on 7  July 1918. The announcement of Rev Hardy being awarded the V.C. in the London Gazette stated that he had been honoured “for most conspicuous bravery and devotion to duty on many occasions. Although over fifty years of age, he has, by his fearlessness, devotion to men of his battalion, and his quiet, unobtrusive manner, won the respect and admiration of the whole division. His marvelous energy and endurance would be remarkable even in a very much younger man”.24 Rev Hardy died on 18 October 1918, from wounds he had received just a week earlier. He had been once again tending to the wounded and was shot through the thigh.25 The war would be over just twenty four days later, and discussions regarding commemoration and memorialisation had already begun to take fruition. As a highly decorated Chaplain, the memorialisation of Hardy was to be multiple.26 Chaplains, as men of God, in all denominations, are memorialised often in their parishes. The Museum of Army Chaplaincy, based in Amport, Hampshire, is one example of a centre where the chaplaincy are widely studied and commemorated. Centres such as these are, however, in diametric contrast to the ethos of memorialisation envisaged by the Commonwealth War Graves Commission, who aim to commemorate all men as equal without any prejudice based upon their standing in society. Many men were commemorated on more than one memorial and this has been widely seen in workplaces. Companies were often keen to both commemorate and advertise their employees as faithful, brave and patriotic. Due to this ethos of the Commonwealth War Graves Commission, Rev Hardy was buried in St Sever Cemetery Extension. An appendage from the St Sever Cemetery, burials had begun in September 1916.27 Based in Rouen, an Allied stronghold, it served a number of Allied hospitals and as such the demand for cemetery space was at a premium. It was designed by Sir RegiSnape: Church of England (note 13), 318–319. Raw: It’s Only Me (note 8), 28. 24  London Gazette, 11 July 1918. 25  Cf. Raw: It’s Only Me (note 8), 28. 26  Ibid., 1. 27  Imperial War Graves Commission, 1964, Their Name Liveth Volume V, Part II, London: Imperial War Graves Commission, 12. 22  Cf. 23  Cf.

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nald Blomfield. The debate over uniform commemoration of the varying social classes is also strongly evident in the case of Rev Hardy. He was buried amongst the men he served alongside. Non-official commemoration of Rev Hardy is prominent. In Hutton Roof Church in Cumbria, in which he served as Reverend prior to the outbreak of hostilities, there is a plaque and memorial stone memorialising him. Services are held every 10 years on the nearest Sunday to his death, commemorating his life and work.28 Plaques commemorating Hardy can also be found in Garrison Church in Portsmouth and Carlisle Cathedral. The abundance of personal commemoration for this one man can be linked to his extensive achievement during the course of the war years, in winning a D.S.O., M.C., and finally a V.C. However the amount of religion based commemoration can also be attributed to his faith, and his followers. Hardy had also worked as a teacher for many years before entering the clergy and so would have had an impact on many people throughout the country.29 Teamed with his religious character and his achievements, it is no wonder that a post-war Britain wished to remember one of its own whom had given so much. Of all of the case studies presented in this paper, it may be that Rev Hardy has received the most attention, and is the focus of a larger body of commemoration. A proportion of this may be attributed to the numerous commendations he was awarded throughout his service, such as the V.C., or because of the King’s reported affection for him. However, it should also be considered that these commemorations are due to the fact that as a chaplain, he was a source of comfort and strength for the men whom he served alongside and as such, when the survivors returned to Britain following the culmination of their military service they consciously spread the word of the actions and character of their chaplain. At the conclusion of the war, Hardy’s daughter wrote to the stretcher bearers who had carried Hardy to the aid station after he received his fatal wound, thanking them for the care they had shown Rev Hardy. They replied saying “it was difficult, but we would go through Hell itself for our dear old padre”.30 Not only did Rev Hardy leave behind a family in mourning and the communities in which he had served, both as a schoolteacher and a Reverend, he remained in the memory of the men whom he had attended to on the Western Front. As a result, based upon his standing in social circles and the sacrifices he made during his life, Hardy represents the ‘acceptable face’ of First World War 28  ‘Thanksgiving Service for the life of T. B. Hardy Sunday 19th October 2008’. http://www.huttonroof.org.uk / church / 2008HardyService.htm [Accessed 24/11/2014]. 29  Cf. Raw: It’s Only Me (note 8), 11. 30  Quoted in Raw: It’s Only Me (note 8), vii.



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memorialisation which, as will be seen, is in contrast to others who gave the same sacrifices but did not receive the same degree of adulation. III. The Commonwealth War Graves Cemetery (CWGC) commemorated all war dead – its ethos was equality in death. If Rev Theodore Bayley Hardy represents the acceptable face of mourning, this case study demonstrates the unacceptable, the hidden and the shameful face of mourning. Not only did CWGC practice extend to non-fighting personnel, it also extended to soldiers who did not die at the hands of enemy forces, but by their own country. The ‘Shot At Dawn’ soldiers have sparked much debate, but over ninety per cent of the death sentences that were passed on soldiers of the First World War were eventually commuted, and it must be noted that the case of Pte Earp and the other soldiers who were shot at dawn remain a minority.31 Private (Pte) Arthur Grove Earp of the 1 / 5th Royal Warwickshire Regiment, serving with the 48th [South Midlands] Division, was executed by firing squad at 4.30 am on 22 July 1916. He was charged with two offences: quitting his post and conduct to the prejudice of good order and military discipline.32 According to the transcript of his court martial, Pte Earp went missing from the Carency dug out at approximately 12.30 pm on 26 June 1916, and remained missing until he reported to the person in charge in Botha dug out at 2.30 am on 27 June 1916.33 Botha was a line further back from Carency, and so this was seen as a cowardly action as well as a disobedient one. Academic and memorial material relating to Pte Earp’s states that his age is unknown, however census records from 1911 state his age as 19; and we can therefore estimate with the addition of local birth records, which give his birth as being in the June quarter of 1892, that Pte Earp was 24 at the time of his death in 1916.34 His mother Jane was named as the head of the household, following his father’s death in the winter of 1908.35 He had an 31  Julian Putkowski / Julian Sykes: Shot At Dawn. Executions in World War One by Authority of the British Army Act. New and Revised Edition. Barnsley 1992, 11. 32  Ibid., 93–94. 33  The National Archives, WO 71 / 485, Earp, A.G. Offence: Desertion. Documentation relating to the pardon was added to this file in August 2007. 34  Jones, M., October 2013, Shot At Dawn Memorial Pte A.G Earp’s Post, National Memorial Arboretum, Alrewas, Staffordshire; Census Records, 1911, A.G. Earp; Birth Records, June Quarter 1892, A.G. Earp. 35  Death Records, December Quarter 1908, T. Earp.

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elder sister, Florence, three younger sisters, Matilda, Ethel and Kate, and a brother, Thomas. The Commonwealth War Graves Commission website states that Pte Earp was the brother of Mr G. Earp.36 This individual is not named on any of the census records for the Earp family.37 A possible reason for this relates to the social stigma of having a loved one labelled a ‘coward’ and being shot rather than gallantly facing the enemy being so great that the family did not wish to bear association, or a simple typographic error. He was the only member of his immediate family to serve in the First World War. Pte Earp served with a territorial division and his service number  – 2676  – leads historians to believe he was a Kitchener volunteer.38 Despite extensive research of the Birmingham Post, and the Birmingham Daily Mail an obituary for Pte Earp could not be found.39 At his trial Earp attested that he was of a nervous disposition and had been particularly fraught with nerves on the day of his final offence. Sergeant Williams noted during the trial that Pte Earp had always been of a nervous disposition and had appeared particularly affected during the morning of his offence.40 Sgt Williams, whilst giving evidence for the defence in the court martial, noted that the bombardment of the trench in which Earp was located was particularly fierce; indeed it was the beginning of the bombardments that would precede the Battle of the Somme. He also testified that Pte Earp had been sent to base for three to four months for his nerves and had only been back with his regiment for three months before the final offence.41 Although it was not overtly communicated, the implication was that Pte Earp had been suffering from a degree of shell shock. Charles S. Myers, a contemporary leading practitioner in the mental health sphere, was the nominal expert on shell shock and its effects on First World War soldiers. In his memoirs of the First World War, he states that he advised in several court martial trials, “endeavouring to save soldiers from being shot for desertion, etc., who were clearly not wholly punishable for their acts”.42 Cathryn Corns and John Wilson liken the case of Pte Earp to

36  ‘Casulty

Details. Earp, Arthur Grove’, CWGC website. Records, 1911, A.G. Earp. 38  Cf. Putkowski / Sykes: Shot at Dawn (note 31), 93. 39  I have searched through The Birmingham Mail, The Birmingham Post and other local newspapers from the date of Pte Earp’s death until 1 January 1917 and can find no trace of the correct Pte Earp. 40  Cathryn M. Corns / John Hughes-Wilson: Blindfold and Alone. British Military Executions in the Great War. London 2005, 42. 41  The National Archives, WO 71 / 485, Earp, A.G. Offence: Desertion. Documentation relating to the pardon was added to this file in August 2007. 42  Charles S. Myers: Shell Shock in France. 1914–1918. Cambridge 1940, 135. 37  Census



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that of a well-known soldier who met the same fate, Pte Harry Farr, who was clearly suffering from shellshock.43 Almost all of Earp’s superiors recommended mercy. This could be reflected in the progressive medical and military attitudes toward shell shock and battle fatigue, or in the recognition of particularly horrific circumstances which Earp had endured around the time of his fatal offence. Soldier accounts of the shell bombardments preceding the opening of the Battle of the Somme record it as being one of the largest of the First World War up to that date.44 The Battle of the Somme is also recognised for the horrific casualties suffered by the ‘Pals’ battalions, causing intense pockets of bereavement in local communities.45 The commencement of the Battle of the Somme has been chosen as one of the main official commemorative focuses for the centenary of the First World War. Douglas Haig noted on the court martial transcript “How can we ever win if this is allowed?”46 Haig’s annotation is extremely unusual, a signature would be required to pass the verdict, but the evidence of his personal views on this case suggest that he was particularly incensed by Pte Earp’s case. This annotation has drawn much attention from commentators, such as Putkowski and Sykes, and Corns and Wilson. Brigadier General Dent also recommended that the death sentence should be applied in Earp’s case, noting that three other men of the same regiment had been convicted of the same offence in the preceding three weeks – their sentences had been commuted to two years imprisonment – and that an example of penalisation was necessary to deter the men of the regiment from continuing to offend.47 Pte Earp’s battalion, 1 / 5th Royal Warwickshire Regiment, had the largest proportion of court martial offences of the entire regiment during the First World War. Indeed, the only two men who were executed for military offences in the Royal Warwickshire Regiment came from this battalion, with Pte Earp being the first to meet this fate.48 Through this we can see that Corns / Wilson: Blindfold and Alone (note 40), 144; 202. Rogerson: Twelve Days on the Somme. A Memoir of the Trenches, 1916. London 2006, 76. 45  57,470 casualties were suffered by Commonwealth forces on 1 July 1916, the first day of the Battle of the Somme, with 19,000 reported as having been killed in action, or died of wounds. Sourced from Anthony Babington: For The Sake of Example. Capital Courts Martial 1914–1918, the Truth. London 1983, 71. 46  The National Archives, WO 71 / 485, Earp, A.G. Offence: Desertion. Documentation relating to the pardon was added to this file in August 2007. 47  Cf. Corns / Wilson: Blindfold and Alone (note 40), 142. 48  Robert David Williams: A Social and Military History of The 1 / 8th Battalion. The Royal Warwickshire Regiment in the Great War. University of Birmingham 1999, 76–78. 43  Cf.

44  Sidney

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Pte Earp was almost certainly used as an example to the men of the battalion, that discipline was of the highest concern and should be maintained at all times. The Army Commander, General Hubert Gough was in agreement that Pte Earp should be sentenced to death by firing squad.49 Through this, and Brigadier General Dent’s comments we can see that the fate of the men who were executed by their own forces during the First World War often was meant to serve as a deterrent to their comrades. Pte Earp’s case is also notable due to his execution being the first connected with the Somme front. He is buried in Bouzincourt Communal Cemetery Extension in the Somme area.50 Designed by Sir Reginald Blomfield, this cemetery extension was used for burials between May 1916 and February 1917. Located near the village of Albert, the surrounding area was mainly used as a field ambulance area, although during the time of Pte Earp’s death, and the following months of the Battle of the Somme, soldiers who were killed in battle were transported to Bouzincourt for burial. It holds 589 Commonwealth burials from the First World War. Pte Earp is buried alongside the men whom he served with, with no indication that he did not die ‘gallantly in action’. Once again, the philosophy of equality that the Commonwealth War Graves Commission upholds is evident. Although grave sites were recorded by the Commonwealth War Graves Cemetery, and remains were treated with the same reverence and attention to detail as their comrades, it has been suggested by Jonathon Black, amongst others, that many of those who were executed for military offences were not included on local memorials, and so Commonwealth War Graves Commission commemoration became all the more significant.51 Pte Earp is not commemorated on any local war memorials, and this makes alternative forms of memorialisation – both official and personal – even more prominent in this case study.52 There are cases of names being added to local war memorials following the furore surrounding the Shot at Dawn campaign and consequent pardon; however this has not been applied to Pte Earp.53 Pukowski / Sykes: Shot At Dawn (note 31), 94. I. L., ‘Bouzincourt Communal Cemetery extension. (Somme).’ Imperial War Museum Photograph Archive, Q 100809; The War Graves Photographic Project, October 2013, Pte A.G Earp. 51  Jonathan Black: Thanks for the memory. War memorials, spectatorship and the trajectories of commemoration 1919–2001. In: Nicholas J. Saunders (ed.): Matters of Conflict. Material Culture, Memory and the First World War. Abingdon 2004, 144. 52  I have visited all local memorials in the vicinity in which Pte Earp was born and lived to confirm he is not listed. This has also been corroborated by the War Memorials Archive, which as part of the Imperial War Museum, is compiling a full inventory of all British war memorials. 53  “Battle to clear the ‘cowards’ ’’, BBC News, 11 November 1999. 49  Cf.

50  Bawtree,



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IV. An exception to this lack of memorialisation lies in the grounds of the National Memorial Arboretum. Based in Alrewas, Staffordshire, it erected the first memorial dedicated purely to those executed for military offences during the First World War in June 2001. The memorial was one of the National Memorial Arobretum’s primary memorials and remains one of its most popular with visitors.54 The ‘Shot at Dawn’ memorial is comprised of 306 wooden posts, each representing a soldier who was executed for contemporary military offences from 1914 to 1918. These posts are symbolic, as the soldiers who were executed were tied to such posts during their execution. Six trees were planted facing the memorial, and these represent their fellow soldiers who carried out the executions. A sculpture of a convicted soldier immediately prior to his execution stands between these posts and trees. The sculpture is modelled on Pte Herbert Francis Burden, who was executed on 21 July 1915 aged 17.55 The memorial is positioned in the far east section of the Arboretum’s grounds, and is situated specifically so that as the sun rises it strikes the memorial before any other – evoking a remembrance of how the soldiers were shot at dawn. The entire memorial is symbolic, the wooden posts that represent each soldier being arranged in the style of an amphitheatre, reminiscent of ancient tragedies.56 The National Memorial Arboretum itself is comprised of a large area of woodland, and is a testament to the view that trees and other plant matter create a contemporary and living memorial.57 Executions for military offences such as quitting their post and desertion were abolished in the Army Act of 1929. Harry Farr’s daughter, along with John Hipkin, spearheaded the ‘Shot at Dawn’ campaign to pardon those executed for military offences in the First World War.58 A pardon was enforced in 2006, after a lengthy campaign, under Section 359 of the Armed Forces Act. Evolving attitudes and treatment for mental illnesses, both in the military field and the wider public have largely erased the stigma of shellshock amongst service personnel today. However, the historian must consider that these issues were prominent in this era. This would have affected the quantity and quality of memorialisation, as evident in the case of Pte Earp. Nevertheless, the moral character of the Commonwealth War 54  National Memorial Arboretum, Guidebook Edition 4, Alrewas, Staffordshire: National Memorial Arboretum. 55  Cf. Black: Thanks for the memory (note 51), 143–144. 56  Ibid., 146. 57  Cloke, Paul / Eric Pawson: Memorial trees and treescape memories. In: Environment and Planning D: Society and Space 26 (2008), 110. 58  Cf. Black: Thanks for the memory (note 51), 144.

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Graves Commission meant that all men were memorialised as equal, and although commemoration of Pte Earp, and the other ‘unacceptable faces’ of mourning, was not as publicly celebrated during this time, it is equally important. V. The memorialisation of the First World War period has been diverse and far reaching. The emergence of the first total war involving mainly citizen combatants, and the technological advancements that were made during this time meant that death and suffering was experienced on a scale never before seen. Whilst Gregory has quite rightly asserted that the passage of time has misled the British public into believing the death toll was much higher and all-encompassing than the statistics prove, the experience of bereavement was certainly widely and intensely felt throughout the country, and the Commonwealth. Memorialisation and commemoration of the dead was a logical response to this feeling of grief. Memorials were erected by every aspect of society, from the working class mother who displays a photograph of her son next to a vase of fresh flowers, to village and town parish memorials, plaques commemorating the dead of a alternative community – such as the workplace, or a sports team – to the large scale memorials erected by the British Government and the Commonwealth War Graves Commission. These memorials all hold different meanings for each individual, and in this spirit, there can be no answer to what First World War memorials actually commemorate. Discussion regarding memorials acting as political tools, or as a means of expressing nationalistic feelings or intent have taken place from the moment of commission to the present day – evident in such cases as the Menin Gate memorial. Academic debate is also on-going as to who memorials were for – were they intended to memorialise those who had died, or intended to comfort those who remained? Whichever may be the case, although I believe it to be a heady mixture of the two, the fact that these memorials remain an integral part of the British and European landscape, and that the experiences of those who served and lived through the conflict are still remembered, is testament to the memorials pertaining to the First World War. Of course, memorials did not only take the form of monuments or cemeteries. A large part of First World War memorialisation was the schemes that helped those who were left behind. These were often preferred by exservice men. To some extent these schemes, parks, hospitals and public facilities meant that a larger portion of British society had accessible amenities and an improved quality of life. This culture has, as with other



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acts of memorialisation concerning the First World War, become conventional, with many charitable funds being established in memoriam to individuals whom have passed away. The work of the Commonwealth War Graves Commission should certainly be considered a large part of First World War memorialisation. No attempt to commemorate the entirety of an empires war dead had been attempted before. Whilst this was certainly not the ultimate goal in Sir Fabian Ware’s initial efforts, it has become a part of the fabric of British memorialisation. Debate over decisions taken by the Commonwealth War Graves Commission, such as the refusal to adhere to any one religion or to overtly display religious symbols was met with much criticism. However, in today’s multicultural society, perhaps it is this (largely) non-secular environment that has ensured the on-going popularity and poignancy of the war cemeteries. Their ethos of equality was a product of social change of that era, but this was also key in procuring parity amongst those who were memorialised, and how this memorialisation took place. Whilst repatriation has now become the norm for those who are killed in action in more recent conflicts, the language and action of mourning was certainly shaped in part by the Commonwealth War Graves Commission and its affiliates. As deliberated throughout this paper, memorialisation of Britain’s war dead would certainly be much altered were it not for the philosophies and activities of the Commonwealth War Graves Commission. The case studies that I have presented are based on, and represent, very different experiences of the First World War. The ‘acceptable’ face of mourning is demonstrated by Rev Theodore Bayley Hardy, whilst the ‘unacceptable’ face of memorialisation is represented by Pte Arthur Grove Earp. These case studies are intertwined with individual issues pertaining to their subject, however the harmonious aspect is that they were both commemorated by the Commonwealth War Graves Commission – as all Commonwealth servicemen of the world wars of the twentieth century were. The equality with which they were treated, despite the variation in situation, is an aspect of First World War memorialisation that is not as evident in other forms of commemoration, demonstrated through the lack of memorialisation to Pte Earp, the ‘unacceptable’ face of mourning. The Commonwealth War Graves Commission ensures that these men are all remembered with honour. The memory of those who gave their lives in the First World War is still strong in British culture. The Armistice Day observations are still widely held throughout the country, and indeed, the Commonwealth countries. Remembrance has reached somewhat of a peak in 2014, with the centenary of the outbreak of the First World War. Not for the first time – and cer-

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tainly not for the last – the British public has become immersed in all forms of memorialisation and commemoration. British school children are still routinely taken on visits to the war cemeteries of the Western Front and war poetry is still a strong part of the Key Stage Three National Curriculum. Scholars such as Adrian Gregory and Jay Winter routinely publish academic material regarding the memorials, and many works revolving around the First World War are still published in literary form, shown on television or in the cinema, or performed on stage. The memorial to the body of men, rather than the individual is now commonplace, and the work of the National Memorial Arboretum in commemorating conflicts past and present is proof that the culture of memorialisation continues to be potent. Whilst generations past initiated the languages of mourning so synonymous with the First World War period, and built the cemeteries and memorials that are intrinsically part of Europe’s landscape, it is us, and future generations, who will continue to memorialise those who died in the First World War.

Der Erste Weltkrieg wird ausgestellt Von Juliane Haubold-Stolle, Berlin 2014 war das Gedenkjahr an den Beginn des Ersten Weltkriegs. Kaum ein deutscher Historiker oder Journalist hatte mit dieser breiten Welle gerechnet, die der 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs schlug. An dieser Erinnerungswelle waren die Museen in Deutschland, Europa und der Welt stark beteiligt. In Ansätzen war das große Interesse am 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs schon auf drei Veranstaltungen deutlich geworden, die das Deutsche Historische Museum 2011, 2012 und 2013 durchgeführt hatte. Im Sommer 2011 und Herbst 2012 trafen sich Museumskollegen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland im Deutschen Historischen Museum in Berlin, um einander vorzustellen, was sie für das Gedenkjahr 2014 vorbereiteten. Rasch stellte sich heraus, dass nicht nur die etwa zwanzig anwesenden Häuser Ausstellungen zum Thema planten, sondern fast alle anderen Museen auch. Eine Liste, die im Deutschen Historischen Museum ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit begonnen und 2013 weitergeführt wurde, umfasste weit über 80 Ausstellungen: Es zeichnete sich bereits ab, dass alle Museen mit einem großen Interesse am Thema „Erster Weltkrieg“ rechneten. Auf der europäischen Ebene waren jedoch große Unterschiede zu erkennen. In Westeuropa, vor allem in Belgien, Frankreich und Großbritannien, liefen die Planungen der großen nationalen wie der regionalen und lokalen Museen schon seit Jahren. In Ost- und Mittelosteuropa hingegen war das Thema „Erster Weltkrieg“ noch nicht so lange präsent. Viele Museen endeckten dort jetzt ein Thema wieder, das jahrzehntelang von der Russischen Revolution, dem Zweiten Weltkrieg, den Verbrechen des Nationalsozialismus und denen des Kommunismus sowie deren Folgen überdeckt worden war. Vor dem Hintergrund von über achtzig Ausstellungen in Deutschland im Gedenkjahr 2014 kam der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum „1914–1918. Der Erste Weltkrieg“ die Aufgabe eines zentralen Überblicks zu, der einen Rahmen für die thematisch oder lokal begrenzten anderen Ausstellungen setzte. Sie rückte deswegen ganz strikt die Zeit des Ersten Weltkriegs, seinen Verlauf und die unmittelbaren Folgen ins Zentrum. Kern der Ausstellung war die neue Qualität der Gewalt in den Jahren von 1914 bis 1918. Die Gewaltexplosion in den ersten verlustreichen Wochen zerstör-

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te die bis dahin existierenden Vorstellungen vom Krieg und die Hoffnung auf ein schnelles Ende. Damit rückten auch die zunächst gefassten Kriegsziele in weite Ferne, verschoben und veränderten sich. An den Fronten und in der Heimat gewann das Durchhalten, gewannen Propaganda und kollektive Sinngebung immer mehr an Bedeutung. Die Grunderfahrung des Krieges war das massenhafte Sterben und Leiden, an der Front und im Hinterland. Im Verlauf des Krieges prägten die Steigerung der Gewalt zum industrialisierten Massentod, die Brutalisierung des Kampfes und die Erfindung immer neuer Techniken des Tötens und Verletzens mittels Giftgas, Flammenwerfern oder durch den Luftkrieg sowie die totale Mobilisierung der Zivilbevölkerung nicht nur das Bild vom Krieg und von nachfolgenden Kriegen, sondern auch das politische Denken. Neu war die Kombination von massenhafter, material- und maschinengestützter, „entfremdeter“ Gewalt, die in kürzester Zeit über große Distanzen Tausende von Menschen töten und verletzen konnte, mit direkter, unmittelbar körperlich ausgeübter Gewalt gegen einzelne Personen – zum Beispiel im Nahkampf nach dem Eindringen von Stoßtrupps in Schützengräben. Auch gerieten sogenannte „innere“ Feinde in den Blick, gegen die man ebenfalls bereit war, Gewalt anzuwenden – bis hin zum Völkermord an den Armeniern. Der Krieg verschärfte das totalitäre Denken. Die Freund-Feind-Dichotomie wurde vorherrschend, und das hatte tiefgreifende Folgen für die politische Auseinandersetzung. Zweites zentrales Anliegen der Ausstellung war es, die globale Dimension des Ersten Weltkrieges zu veranschaulichen. Die Hauptschauplätze lagen in Europa, doch wurde der Konflikt auch an dessen Grenzen und weit über diese hinaus ausgetragen. Imperien und Kolonialreiche, internationale Bündnisse und wirtschaftliche Verflechtungen sogen immer mehr Menschen und Ressourcen in das Geschehen und machten sie zu direkten oder mittelbaren Faktoren im Krieg. Der Auftaktraum der Ausstellung führte in die „moderne Welt von gestern“ ein, in die Zeit von vor 1914: Anhand von wenigen Objekten wurden die Konflikte, aber auch die wirtschaftlichen und dynastischen Verbindungen zwischen den europäischen Mächten angedeutet. Zum Ende präsentierte der letzte Raum in sehr knapper Form die wichtigsten Folgen und Konsequenzen des Ersten Weltkriegs. Zwischen dieser Klammer lag die Erzählung des Krieges, die entlang der Seiten eines Hauptrundwegs an 14 Stationen präsentiert wurde. Ausgangspunkt für die Erzählung waren 14 Orte, darunter konkrete Schlachtfelder wie Verdun, aber auch politisch-kulturelle Zentren wie Berlin und Petrograd sowie besetzte Städte wie Brüssel und eine geographisch-chronologische Übersicht über das Kriegsgeschehen von 1914 bis zum Waffenstillstand



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1918. Die Orte repräsentierten wichtige Stationen und Situationen des Krieges. Anhand des konkreten Ortes sollten gesellschaftlich-politische und ökonomische Faktoren ebenso wie technisch-mediale Entwicklungen erzählt werden, um die neue Qualität und Modernität des Ersten Weltkrieges zu zeigen. Zu jedem Ort und Thema wurden Biographien von einzelnen Menschen, Soldaten und Zivilisten, Künstlern und Wissenschaftlern vorgestellt, um die Auswirkungen und das Erleben des Krieges nachvollziehbar zu machen. Hier reichte die Bandbreite vom Tagebuch eines Belgiers, geschrieben während der deutschen Besatzung, oder den Briefen einfacher, unbekannter französischer Soldaten, aber auch denen des expressionistischen Dichters August Stramm, bis hin zu den Tagebüchern der Bildhauerin Käthe Kollwitz oder des Schriftstellers Ernst Jünger. Zwei Schwerpunkte der Ausstellung bildeten die Ostfront und die Revolutionen in Russland 1917. Daneben standen Verdun, die Schlacht an der Somme und die Schlachten am Isonzo, als exemplarische Kriegsorte für die Erfahrungen der Franzosen, Briten und Italiener. Die globale Ausweitung des Krieges wurde nicht nur am Beispiel von Ostafrika, sondern auch anhand der gescheiterten Landung in Gallipoli thematisiert, bei der Australier und Neuseeländer gegen Truppen des Osmanischen Reichs kämpften. Die Rolle und der Aufstieg der USA zu einer Großmacht vermittelte der Raum zur Kriegswirtschaft. Alle Ortsräume repräsentierten ein Thema, der Raum Ypern den Gaskrieg, der Raum Tannenberg den Hindenburg-Kult und die Kriegspropaganda, der Raum Brüssel das Thema Besatzung im Westen. Die gesamte Ausstellung durchwob verbindend die Frage nach der Gewalt: So erzählte der Raum Verdun vom Kriegskampf, vom Einsatz neuer, grausamer Waffen, von der Erfahrung und den Folgen der Gewalt. Die Schlacht von Verdun war geprägt vom gescheiterten Versuch der deutschen Militärführung, die Franzosen durch massiven Artillerie- und Menscheneinsatz „weißbluten“ zu lassen. Eine neue Waffe, die hier zum Einsatz kam, war der Flammenwerfer, der auch in der Ausstellung präsentiert wurde. Mit den tod- und schreckenbringenden Flammen gingen deutsche Soldaten vor Verdun gegen die Unterstände der Franzosen vor. Der Tod durch Verbrennen war qualvoll, traf jedoch oft genug auch den Träger des Flammenwerfers selbst, wenn der Tank durch einen Schuss in Brand gesetzt wurde. Flammenwerfer und Handgranaten, Gewehre und Artillerie ermöglichten Kämpfe auf Distanz, während die archaisch anmutenden Grabenkeulen und Grabendolche im Angesicht des Feindes in der direkten Konfrontation angewendet werden mussten. Eine ähnliche Gleichzeitigkeit alter und neuer Kriegstechnik verdeutlichte das Nebeneinander parallel verwendeter Kommunikationsmittel, etwa von Brieftaubenkäfig, Feldtelefon und Funkverstärker.

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Doch blieb Verdun in der Ausstellung nicht nur ein Ort der Technik. Aquarelle und Graphiken von Georges Scott, Paul Thiriat und Ernst Vollbehr, Fotoalben und Briefe deutscher und französischer Soldaten gaben Zeugnis von den Erlebnissen und Erfahrungen der Menschen. Originalfilmaufnahmen riefen die Verletzungen in Erinnerung, die die Kämpfe des industrialisierten Krieges schufen. Noch näher rückten die direkten körperlichen und psychischen Folgen durch die medizinischen Geräte, die in der Ausstellung zu sehen waren: das Lazarettbesteck, mit dem die Militärärzte, meist unter Mangel von Betäubungs- und Schmerzmitteln, hinter der Front massenhaft Wunden versorgen mussten, oder der „Multostat“, ein Gerät, mit dem Elektroschocks verabreicht wurden, durch die Stromstöße sollte die Kampffähigkeit traumatisierter Soldaten, der sogenannten „Kriegszitterer“, wieder erzwungen werden. Man glaubte, der physische Schock würde den psychischen Schock heilen. Der Raum „Galizien“ stellte den Umgang mit unliebsamen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt. Der österreichische Fliegerfotograf Franz Pachleitner fotografierte 1914 die schwere Niederlage Österreich-Ungarns in Galizien. Dabei hielt er auch Übergriffe der k.u.k. Soldaten auf die Zivilbevölkerung fest. Fotos aus dem Internierungslager Thalerhof bei Graz zeugen von Massendeportationen. Umgekehrt wurden auch von den russischen Besatzern die Einwohner Galiziens als „Spione“ verdächtigt und standrechtlich erhängt. Sowohl in Österreich-Ungarn als auch in Russland wurden Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Sprache oder ihrer Religion pauschal als „spionageverdächtig“ angesehen und in der Folge zwangsevakuiert, teilweise interniert. Diese Vorgehensweise gegen ihre eigenen Bürger destabilisierte beide Großmächte, besonders aber das Russische Reich, wie der Raum „Petrograd“ zeigte. Hier wurde die Geschichte der kriegsmüden russischen Bevölkerung und der beiden Revolutionen des Jahres 1917 erzählt. Mit der Oktoberrevolution, deren Wirkung weit über Russland hinausreichte, wurde eine der weitreichendsten politischen Entwicklungen, die durch den Ersten Weltkrieg entstanden, in die Ausstellung integriert. Zu der Ausstellung gab es ein umfangreiches Begleitprogramm, so z. B. das Begleitbuch, das 100 Objekte aus der Sammlung des Deutschen Historischen Museums zur Geschichte des Ersten Weltkriegs präsentierte, aber auch über ein Dutzend Diskussionsveranstaltungen und Vortragsabende mit Historikern aus fast allen kriegsbeteiligten Staaten über die aktuelle Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Dazu gab es vielfältige Führungsformate für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie zwei Multimediaguides (für Jugendliche und für Erwachsene), die zum eigenständigen Entdecken der Ausstellung einluden und diese mit Hintergrundinformationen ergänzten.



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Ausstellung und Begleitprogramm waren ein großer Erfolg für das Museum: Die Ausstellung war eine der drei besucherstärksten Ausstellungen des Museums seit seiner Gründung. Eine Ausstellung lebt jedoch nicht nur von ihrer inhaltlichen Erzählung, sondern auch von der Präsentation der Objekte, die diese Erzählung tragen. Die Begegnung mit dem Originalobjekt ist eine Erfahrung, die die Ausstellung von anderen historischen Erzählungen, beispielsweise in Büchern oder Filmen, unterscheidet.1 Objekte vermitteln dem Besucher das Gefühl der Nähe, einerseits, weil das Objekt „zum Greifen nah“ ist, sich im selben Raum befindet wie der Besucher, zum anderen, weil das historische Objekt „wirklich dabei gewesen ist“ – eine Waffe beispielsweise wirklich im Ersten Weltkrieg benutzt wurde. Diese Authentizität wiederum beflügelt die historische Imagination des Betrachters.2 Die Materialität und Anschaulichkeit der Objekte und die mit dem Objekt verknüpfte Geschichte ermöglichen eine Annäherung an das historische Geschehen. Besonders eindrucksvoll sind für Besucher historischer Ausstellungen dabei Gegenstände, die eine persönliche Geschichte transportieren, die uns etwas vom Leben des Menschen erzählen, der das Objekt vorher im Besitz oder Gebrauch hatte. Geschichten von einzelnen Menschen berühren uns nachweislich stärker als Erzählungen von massenhaften Schicksalen. Sie ermöglichen Identifikation, wir werden emotional aufmerksam und dadurch auch aufnahmefähig. Das ist, nicht zuletzt, deshalb der Fall, weil Dinge für uns Menschen immer mit menschlichen Beziehungen verbunden sind.3 Die Vorbereitung der Ausstellung „1914–1918. Der Erste Weltkrieg“ stellte das Team der daran beteiligten Wissenschaftler vor besondere Herausforderungen: Herausragende Objekte zum Ersten Weltkrieg waren in diesem Jahr vor allem gesucht. Da zahlreiche Museen Ausstellungen vorbereiteten, waren sie häufig nicht in der Lage oder willens, ihre Objekte zu verleihen. Durch intensive Recherchen und Kontakte zu europäischen Museen gelang es, unbekannte, aber durchaus auch bekanntere Objekte nach Berlin zu holen. Gleichzeitig konnte ein Museum wie das Deutsche Historische Mu1  Siehe dazu zusammenfassend Thomas Thiemeyer: Evidenzmaschine der Erlebnisgesellschaft. Die Museumsausstellung als Hort und Ort der Geschichte. In: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), 13–29. 2  Zur Authentizität und ihrer Rolle in der Ausstellung siehe Gottfried Korff: Objekt und Information im Widerstreit. In: Ders.: Museumsdinge. deponieren – exponieren. Köln 2007, 113–125, v. a. 121. 3  Mihaly Csikszentmihalyi: Why We Need Things. In: Stephen Lubar / W. David Kindgery (Hrsg.): History From Things. Essays on Material Culture. London 1995, 20–29.

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seum auch auf eine große und qualitativ hochwertige eigene Sammlung zurückgreifen. Dabei ist zu beachten, dass Objekte aus der eigenen Sammlung immer schon eine eigene Geschichte in dieser Sammlung haben. So reichen die Militariasammlungen, vor allem die Waffen- und Uniformsammlung, in die Zeit weit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Sie entstand aus der königlich-preußischen Waffen- und Uniformsammlung, die seit den 1880er Jahren in der militärhistorischen Ausstellung des Zeughauses gezeigt wurde. Diese Sammlung wurde im Ersten Weltkrieg, noch während der andauernden Kämpfe, um zeitgenössische Waffen und Uniformen erweitert. Die Beutewaffen, d. h. eroberte Waffen der Gegner, deren Hauptzweck die militärische Wiederverwendung war, fanden ihren Weg auch in die Heeresmuseen. Dort sollten sie in Ausstellungen gezeigt werden und den Kampfwillen der Bevölkerung stärken. Dazu erhielten die Museen auch Stücke der eigenen Ausrüstung zur Dokumentation der Leistungsfähigkeit der eigenen Armeen.4 Diese militärischen Objekte blieben jedoch nicht alle im Museumsbestand. Im Friedensvertrag von 1919 war festgelegt, dass auch die Waffen im Museum entweder zurückgegeben oder aber zerstört werden sollten. Waffen aus dem Ersten Weltkrieg kamen daher erst in der Zwischenkriegszeit wieder in die Sammlung. Doch auch 1945 wurden Kriegswaffen aus den Sammlungen des Zeughauses von den Alliierten zerstört, soweit sie nicht ohnehin durch Kriegseinwirkung, die Auslagerung oder aber durch Plünderung des Museums aus den Sammlungen verschwunden waren. Der österreichische Minenwerfer, der auch in der Sonderausstellung gezeigt wurde, war schon in den zwei Dauerausstellungen des Museums für Deutsche Geschichte zu sehen. 1989, nach der 1981 erfolgten Neueröffnung der Dauerausstellung des Museums für Deutsche Geschichte, zeigte man ihn weiterhin in einem dem Ersten Weltkrieg gewidmeten Raum. Gibt es nun eine alle drei Ausstellungen durchziehende Grundaussage, auf die diese mittelgroße Waffe verweisen kann? Zumindest repräsentiert sie die modernen Waffen, die entmenschlichte Massengewalt des Krieges. Zwar war der Minenwerfer eine der eher kleineren Waffen und wurde wegen seiner bedingten Funktionstüchtigkeit nicht in wirklichen Massen hergestellt und benutzt, doch als Zeichen für die Veränderung des Krieges konnte er gleichwohl eingesetzt werden, zumal alle größeren Waffen aus Gewichtsgründen weder im Obergeschoss des Zeughauses noch in der Ausstellungshalle gezeigt werden konnten.

4  Siehe dazu u. a. Heinrich Müller: Das Berliner Zeughaus. Vom Arsenal zum Museum. Berlin 1994.



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In der Ausstellung „1914–1918. Der Erste Weltkrieg“ fand das Objekt seinen Platz in jenem Raum, der sich mit den österreichisch-italienischen Schlachten um den Grenzfluss Isonzo beschäftigte. Denn der kleine, dennoch von mehreren Männern zu tragende Minenwerfer war eine der Waffen, die zwar in Deutschland hergestellt worden waren, von denen jedoch auch die österreichische Armee über 100 Stück geordert hatte. Die tragbaren Minenwerfer waren im Grabenkrieg von der Infanterie einsetzbar, sie konnten in die Schützengräben getragen werden, in denen sie gebraucht wurden. Das im Museum für Deutsche Geschichte und in der Sonderaustellung von 2014 gezeigte Exemplar war eine besondere Entwicklung, machte ihn seine Bauart (pneumatische Feuerung) doch wesentlich leiser als herkömmliche Minenwerfer.5 So zeigt dieses erste Beispiel, dass Ausstellungsobjekte ihre Aussage durch die Kontextualisierung verändern. Die Zuschreibung scheint hier stärker zu sein als die Aussage des Objektes selbst. Ein weiteres Beispiel ist der Uniformrock, den Karl Liebknecht als Armierungssoldat trug. Er wurde bereits 1978 ausgestellt, auch nach 1982 hatte der Rock des Gründers der KPD seinen Platz in der Daueraus­ stellung des Museums für Deutsche Geschichte. Hier gehörte er zu den Devotionalien, den Erinnerungsstücken an das Wirken „aufrechter Sozial­ demokraten“6, die den Siegeszug der kommunistischen Bewegung nachzeichnen sollten. In der Sonderausstellung „1914–1918“ wurde dieser Uniformrock im zweiten Raum präsentiert, der den Besuchern den Weg vom Frieden in den Krieg erklärte. Hier standen der Rock Karl Liebknechts und die Geschichte seines Besitzers beispielhaft für die wenigen Menschen, die schon 1914 gegen den Krieg waren und dies auch öffentlich bekundeten. Der Reichstagsabgeordnete Liebknecht beugte sich zwar der Fraktionsdisziplin der Sozialdemokraten und stimmte im August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite, lehnte aber im Dezember 1914 als Einziger die Gewährung neuer Kredite ab. Wieder ist zu erkennen, dass die Einbettung desselben Ausstellungsstücks in verschiedene Narrative die jeweilige Aussage des Objektes wesentlich mitbestimmt. Beide Male jedoch profitierte die Ausstellung von der Behauptung, dieser Rock sei wirklich der von Liebknecht im Krieg getragene, der 1918 für den zivilen Gebrauch umgearbeitet worden sei. Diese Behauptung, die nicht weiter nachweisbar ist, als dass der Eingang in die Sammlung des Museums für 5  Sven Lüken: Luftminenwerfer. In: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Darmstadt 2014, 68. 6  „Koffer und Uniform des Armierungssoldaten. Erinnerungsstücke an führende Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung“. In: Neue Zeit vom 20.3.1982.

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Deutsche Geschichte den Vermerk trägt, dass dem so sei, ist es, die die „Aura“ des Kleidungsstücks ausmacht.7 Letztlich ist dies jedoch eine bloße Zuschreibung, indes eben eine solche, die ihre Wirkung auf Besucher nicht verfehlt. Ohne Exponate blieben Ausstellungen begehbare Bücher, durch sie werden sie zu Orten des anderen Sehens. Ausstellungsstücke haben auch eine Deutungsgeschichte, nicht nur dann, wenn sie – wie die geschilderten Beispiele – schon länger im Museum verwahrt werden, sondern auch, wenn sie kurzfristig hinzugekommen sind. Dies geschieht etwa durch Schenkungen, wie die Briefe des Kadetten Stanley Tribe, die sein Sohn dem Deutschen Historischen Museum 2013 übereignete. Stanley war als sehr junger Kadett mit 16 Jahren schon in den ersten Kriegswochen 1914 eingesetzt worden. Er geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, in der er vier Jahre bleiben musste. Einer der Briefe, die er aus dem Kriegsgefangenenlager nach Hause schickte, wurde von der deutschen Zensur beschnitten, ein Teil fehlt. Die wenigen Briefe, die noch überliefert sind, schildern das Leben eines jungen Mannes in Kriegsgefangenschaft, die Freude über die Pakete von zu Hause, die das Leben wesentlich erleichterten, aber auch die Tatsache, dass Stanley Tribe seine Gefangenschaft dazu nutzen konnte, um viele verschiedene europäische Sprachen, z. B. Russisch, zu lernen. Nach dem Krieg wird er diese Kenntnisse als international reisender Handelsvertreter einer Keksfirma nutzen können, wie sein Sohn berichtete. Sammlungen haben jedoch auch ihre „blinden Flecke“, die aufgefüllt werden müssen. So kaufte das Deutsche Historische Museum erst 2001 die Zeichnungen des jüdischen Malers und Zeichners Max Fabian (1873–1926) an. Fabian zeichnete als Soldat im Ersten Weltkrieg seine Kriegserlebnisse an der West- wie an der Ostfront. Von seiner ursprünglichen Kriegsbegeisterung blieb nicht viel übrig. Zwei seiner Themen waren die Ruinen und – vor allem im Osten – die flüchtende Zivilbevölkerung. 1933 musste Fabians Familie – der Maler war bereits gestorben – Deutschland verlassen, um der nationalsozialistischen Verfolgung zu entkommen und ihr Leben zu retten. Sein Sohn überlebte in Australien. Nun dokumentieren die Zeichnungen (und auch einzelne Ölgemälde) nicht nur seinen Blick auf den Ersten Weltkrieg, sondern auch die Geschichte seiner Familie, die von den Nationalsozialisten als Juden aus Deutschland vertrieben wurden.8 7  Andreas Mix: Waffenrock des Armierungssoldaten Karl Liebknecht. In: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 5), S. 44. – Zur Kritik an der Ideologie der „Aura“ vgl. Daniel Tyradellis: Müde Museen oder wie Ausstellungen unser Denken verändern können. Hamburg 2014, 165 ff. 8  Juliane Haubold-Stolle: Max Fabian. Flüchtlinge. In: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 5), 104.



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In der Summe zeigt sich, dass Sonderausstellungen wie „1914–1918“ einerseits Medien der historischen Erzählung, der Vermittlung sind; sie dienen dazu, den Besuchern eine auf wissenschaftlichen Ergebnissen basierende Interpretation des Krieges zu vermitteln. Zugleich sind sie jedoch auch Zeitzeugnisse, sie stellen dar, welche Sicht die Kuratoren – in Aushandlung mit dem Wissenschaftlichen Beirat und der Museumsleitung – vermitteln möchten, aber sie drücken auch viel von dem aus, was die gesellschaftlichen Ansprüche an die Ausstellung sind. Die Ausstellungsstücke selbst, die Objekte, sind von dieser Aushandlung nicht ausgenommen. In ihnen spiegeln sich sowohl die Verschiebungen wissenschaftlicher Erkenntnisse und Interessen wider als auch politische Interpretationen. Unpolitisch, allgemeingültig und wertfrei kann eine solche Sonderausstellung nicht sein. Sie sollte jedoch verantwortbar in ihrer Darstellung und offen für Diskussionen und mögliche Widersprüche bleiben.

III. Erinnerungswelten in Politik und Gesellschaft /  Memory cultures in politics and society

Die Erinnerung der Gestürzten Der Erste Weltkrieg in den Memoiren deutscher Fürstenhäuser Von Erik Lommatzsch, Mannheim Subjektive Bilder stehen wieder im Interesse der Geschichtswissenschaft. Hinsichtlich der Zeitspanne zwischen 1914 und 1918 ist eine vermehrte Betrachtung und Analyse des Erlebens und der Wahrnehmung des „kleinen Mannes“ auszumachen, eher mit Blick auf Krieg und Kriegsgeschehen als auf die große Politik. Das „Jubiläumsjahr“ 2014 bot entsprechenden Veröffentlichungsanlass.1 Erkennbar ist aber auch, dass der Quellenwert von Erinnerungen, Memoirenwerken und Autobiographien von prominenteren, auf Entscheidungsträgerebene tätigen Personen von der historischen Forschung wieder in den Blick genommen wird.2 Der Beginn dieses neu erwachten wissenschaftlichen Interesses war bereits in den 1980er Jahren erkennbar.3 Allerdings wäre es verfehlt, hier von einer regelrechten Konjunktur zu sprechen. Noch immer gilt, dass „eine intensivere Beschäftigung mit dem Genre [der Memoirenliteratur] ein Desiderat ist“.4 Auf die vielfältigen, mit Selbstzeugnissen verbundenen Probleme – etwa Stilisierung, konstruierte Erinnerungen, „biographische Illusion“, Mitwirkung bzw. eigentliche Autorschaft von Dritten – wurde immer wie1  Vgl. z. B. Sebastian Schaar: Wahrnehmungen des Weltkrieges. Selbstzeugnisse Königlich Sächsischer Offiziere 1914 bis 1918. Paderborn u. a. 2014; Maria Reinhold / Dominik Poos / Cord Gudegast / Solveig Höchst / Christian Schewe / Andreas Jakowidis: Feldpost im Ersten Weltkrieg. Briefe als Spiegel des Kriegsalltags an der Front. München 2014. 2  Marc von Knorring: Die Wilhelminische Zeit in der Diskussion. Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918–1939 und ihr zeitgenössischer Kontext. Stuttgart 2014; Franz Bosbach / Magnus Brechtken (Hrsg.): Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive / Political Memoirs in Anglo-German Context. München 2005; Magnus Brechtken (Hrsg.): Life Writing and Political Memoir – Lebenszeugnisse und politische Memoiren. Göttingen 2012. 3  Magnus Brechtken: Einleitung. Politische Memoiren: Prolegomena zum Potential eines vernachlässigten Forschungsgebietes. In: Bosbach / Brechtken (Hrsg.): Poli­ tische Memoiren (wie Anm. 2), 9–42, 18. 4  Ebd., 40.

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der hingewiesen.5 Dies erstreckte sich bis hin zu Untersuchungen über die Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhänge von Memoiren unter dem Stichwort „geschichtspolitische Waffe“.6 Gerade letzteres wurde reichlich genutzt von den Entscheidungsträgern der deutschen Politik vor und während des Ersten Weltkrieges, welche im Nachhinein ihre Sicht auf die Dinge zu Papier brachten.7 Stehen diese Erinnerungswerke als Quelle jedoch wieder bzw. immer wieder im Blickfeld der historischen Forschung, so führen Memoiren der mit dem Ende des Krieges „Entthronten“ hier bislang ein marginales Dasein. Eine Reihe dieser Fürsten, ebenso wie manche Prätendenten, Verwandte und Vertraute, haben dem bei Menschen, die eine herausragende Stellung einnehmen bzw. eine solche einzunehmen glauben, nicht unverbreiteten Bedürfnis nachgegeben, mittels schriftlich niedergelegter Erinnerungen ihren Weg zu erklären, zu rechtfertigen und vermeintliche oder tatsächliche Fehler anderer zurechtzurücken. Die Zeit des Ersten Weltkrieges und der damit verbundene Sturz ist im Rahmen umfassenderer Lebenserinnerungen naturgemäß stets Gegenstand der Ausführungen. Im Gegensatz zur breiten öffentlichen Wahrnehmung, die sich beispielsweise in den hohen Auflagenzahlen der Memoiren dieser Personen widerspielgelt und die allein eine ausführlichere Betrachtung dieser Schriften rechtfertigt, stand der begrenzte politische Einfluss des Deutschen Kaisers und erst recht jener der deutschen Bundesfürsten. Gegen Abdankung, Absetzung und seither dauerhaften Thronverzicht für sich selbst sowie die Nachkommen unmittelbar vor bzw. bald nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 vermochte sich keiner von ihnen erfolgreich zur Wehr zu setzen. Kaum einer hat es ernsthaft versucht. Eine Auswahl von entsprechenden Erinnerungen soll nun in den Blick genommen werden. Zunächst erfolgt eine umfangreichere Betrachtung des 5  Z. B. ebd. Bezüglich des Begriffs der „biographischen Illusion“, als dessen Urheber Pierre Bourdieu gilt, sei darauf verwiesen, dass der Gedanke des – durch Biographen oder Autobiographen – nachträglich geschaffenen Zusammenhangs der Lebensgeschichte bereits von Siegfried Kracauer stammt. Dazu: Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie. 2. Aufl. München 1995, 15. 6  Lothar Machtan: Autobiographie als geschichtspolitische Waffe. Die Memoiren des letzten kaiserlichen Reichskanzlers Max von Baden. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), 481–512. 7  Vgl. etwa: Theobald von Bethmann Hollweg: Betrachtungen zum Weltkriege. 1. Teil: Vor dem Kriege. Berlin 1919, 2. Teil: Während des Krieges. Berlin 1922; Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente. Stuttgart 1928; Georg Michaelis: Für Volk und Staat. Eine Lebensgeschichte. Berlin 1922; Bernhard Fürst von Bülow: Denkwürdigkeiten. 4 Bde. Berlin 1930 / 31. Der dritte Band ist dem Abschnitt „Weltkrieg und Zusammenbruch“ gewidmet, greift aber zeitlich bis zum bzw. bis vor den Rücktritt Bülows im Jahr 1909 zurück.



Die Erinnerung der Gestürzten

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Werkes des letzten Deutschen Kaisers Wilhelm II.8 (Abschnitt I.) Dessen Memoiren werden anschließend mit denen seines ersten Sohnes, des Kronprinzen Wilhelm,9 sowie seiner Tochter, Viktoria Luise,10 kontrastiert. (Abschnitt II.) Für die Wahrnehmung der Kaiserin Auguste Victoria, die sich selbst nicht publizistisch äußerte, werden die Erinnerungen der Hofdame Mathilde Gräfin von Keller11 herangezogen. Diese thematisieren fast ausschließlich die Kaiserin, aber zeigen natürlich auch die Wahrnehmung bzw. das öffentlichkeitswirksame Vermittlungsinteresse einer der Kaiserfamilie auf das Engste nahestehenden, jedoch nicht in die Politik involvierten Person. (Abschnitt III.) Der Blick der nichtpreußischen Regenten soll anhand der Erinnerungen des sächsischen Prinzen Erst Heinrich12 sowie des letzten Großherzogs von Hessen-Darmstadt, Ernst Ludwig,13 beleuchtet werden. (Abschnitt IV.) Abschließend erfolgt eine thesenartige Zusammenschau, um allgemein erkennbare Linien sowie Besonderheiten dieser speziellen Erinnerungspassagen sichtbar werden zu lassen. (Abschnitt V.) Die Frage nach dem objektivierbaren Wahrheitsgehalt der Schilderungen und der wissenschaftlichen Belastbarkeit für die Zusammenhänge des Ersten Weltkrieges soll hier nicht im Mittelpunkt stehen. Interesseleitend sind die (vergleichende) Selbstwahrnehmung im Zusammenhang mit den Ereignissen und die entsprechende Vermittlungsintention. Letztere erstreckt sich mitunter auch sehr stark auf nicht unmittelbar selbst Erlebtes. 8  Kaiser Wilhelm II.: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918. Leipzig u. a. 1922. Folgt hinfort als „E.u.G.“ mit Seitenzahl im Fließtext. 9  Kronprinz Wilhelm: Erinnerungen des Kronprinzen Wilhelm. Aus den Aufzeichnungen, Dokumenten, Tagebüchern und Gesprächen. Hrsg. v. Karl Rosner. Stuttgart u. a. 1922. Folgt hinfort als „Erinnerungen“ mit Seitenzahl im Fließtext. Ebenfalls Erinnerungscharakter trägt zumindest partiell das Werk: Wilhelm, Kronprinz. Ich suche die Wahrheit! Ein Buch zur Kriegsschuldfrage. Stuttgart u. a. 1925. Dieses ist allerdings nicht vordergründig als Memoirenwerk konzipiert und setzt sich, aus der Sicht des Kronprinzen Wilhelm, mit der Vorgeschichte, nicht jedoch mit dem Ersten Weltkrieg an sich auseinander. 10  Viktoria Luise: Mein Leben. Köln 2005 (EA 1965). Folgt hinfort als „Mein Leben“ mit Seitenzahl im Fließtext. 11  Mathilde Gräfin von Keller: Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin. Ein Kulturbild aus den Jahren 1881–1921. Leipzig 1935. Folgt hinfort als „Vierzig Jahre“ mit Seitenzahl im Fließtext. 12  Prinz Ernst Heinrich von Sachsen: Mein Lebensweg vom Königsschloß zum Bauernhof. Dresden u. a. 1995 (EA 1968). Folgt hinfort als „Lebensweg“ mit Seitenzahl im Fließtext. 13  Ernst Ludwig von Hessen: Erinnertes. Aufzeichnungen des letzten Großherzogs von Hessen und bei Rhein. Mit einem biographischen Essay von Golo Mann hrsg. v. Eckhart G. Franz. Darmstadt 1983. Folgt hinfort als „Erinnertes“ mit Seitenzahl im Fließtext.

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Ebenso wie die Auswahl der teilweise mit großem zeitlichen Abstand publizierten Werke, die zudem nicht alle von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt waren, erhebt die nachfolgende Betrachtung lediglich kursorischen Anspruch. Minutiöse Kriegsdarstellungen, die ebenfalls von Angehörigen der ehemals regierenden Fürstenhäuser publiziert wurden und auch ein entsprechendes Selbstbild vermitteln,14 werden nicht einbezogen. Der 1921 verstorbene Theodor Klaiber, mithin Zeitgenosse der hier zu betrachtenden Personen, dessen Interesse allerdings eher der Litera­ tur(geschichte) galt, publizierte in seinem letzten Lebensjahr ein Werk über die „deutsche Selbstbiographie“15. Das Schlusswort überließ er ­ Arthur Schopenhauer: „Ich muß in Hinsicht auf die Erkenntnis des Wesens der Menschheit den Biographen, vornehmlich den Autobiographen einen größeren Wert zugestehen als der eigentlichen Geschichte, wenigstens wie sie gewöhnlich behandelt wird. Auch hat man unrecht, zu meinen, die Selbstbiographen seien voller Lug und Verstellung. Vielmehr ist das Lügen, obwohl überall möglich, dort vielleicht schwerer als irgendwo, und in einer Selbstbiographie sich zu verstellen ist so schwer, daß es vielleicht keine einzige gibt, die nicht im ganzen wahrer wäre, als jede andere geschriebene Geschichte.“16 Für heutige wissenschaftliche Ansprüche mögen die Worte des großen Philosophen etwas holzschnittartig sein – deutlich wird aber noch einmal der Wert der Erinnerungswerke: als Quelle für die Person, ihren Horizont und ihre Absichten. I. Sehr selten im Mittepunkt der historischen Forschung stehen die Erinnerungen der zentralen Gestalt des Deutschen Kaiserreichs – Kaiser Wilhelms II. Dieser steht eponym für seine Epoche. Gemessen an der Gesamtdauer resp. der eher wahrgenommenen und gewollten als realen Intensität seiner Herrschaft17 war er ausgerechnet (oder vielleicht auch folgerichtig?) in der Zeit des Krieges machttechnisch noch weiter marginalisiert als zuvor. Dazu im Widerspruch steht, dass es der Kaiser war und ist – am Ende Symbol, kaum mehr Person –, der für Kriegssieger und Nachwelt das kriegführende und – je nach Diskussionslage – zumindest mittelschwer mit 14  Kronprinz Wilhelm: Meine Erinnerungen aus Deutschlands Heldenkampf. Berlin 1923; Kronprinz Rupprecht von Bayern. Mein Kriegstagebuch. Hrsg. v. E ­ ugen von Frauenholz, 3 Bde. Berlin 1929. 15  Theodor Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie. Beschreibung des eigenen Lebens. Memoiren. Tagebücher. Stuttgart 1921. 16  Zit. ebd., 349. 17  Vgl. Nicolaus Sombart: Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte. 2. Aufl. Berlin 1997, insbes. 154–157.



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Schuld an eben jenem Ersten Weltkrieg belastete Deutsche Reich verkörperte und verkörpert. Der 1922 durch den Exil-Kaiser publizierte Band „Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 bis 1918“, der mit gerade einmal 300 Seiten für das Memoirenwerk einer solch zentralen Herrschergestalt recht s­chmal ist, widmet sich natürlich auch dem Ersten Weltkrieg. Es ist eine klassische Traditionsquelle, welche bestimmte Sichtweisen vermitteln und den Blick auf spezielle Aspekte lenken will. Dass es sich zudem um eine Rechtfertigungsschrift handelt, soll nicht in Abrede gestellt werden, ebenso sollte man sich die Tatsache vor Augen halten, dass für Wilhelm II. eine Rückkehr auf den Thron nicht jenseits des Denkmöglichen lag. Das Buch erlebte in kurzer Zeit eine mehrere 100.000 Exemplare umfassende Auflage, wurde in mehrere Sprachen übersetzt, und der Verkauf der Weltrechte erbrachte über 70 Millionen Mark.18 Der prominente Autor, das flüssig zu lesende Werk sowie der bescheidene Umfang dürften dazu beigetragen haben, dass das Buch nicht nur gekauft, sondern gelesen und rezipiert wurde. Für das Selbst- und Zeitbild Wilhelms II. sind die Memoiren wohl aussagekräftig. Von der vermuteten breiten Leserschaft auf deren einhellige Zustimmung bzw. Übernahme dieser Bilder zu schließen, wäre spekulativ, dennoch dürfte es sich bei einem großen Teil nicht gerade um Feinde des Kaisers gehandelt haben. Auch wenn „Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878–1918“ insgesamt im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg und vor allem den sich anschließenden Sturz zu lesen ist, so sind dem Krieg an sich lediglich knapp 40 Seiten gewidmet, dem Komplex der Schuld- bzw. Unschuldsfrage ist ein ähnlicher Umfang beschieden. Im Frühjahr 1921 hatte Wilhelm II. im privaten Kreis bereits seine „Vergleichenden Geschichts­tabellen von 1878 bis zum Kriegsausbruch 1914“ zugänglich gemacht19 (E.u.G., 253). Unter anderen erhielt auch Paul von Hindenburg ein Exemplar, der sie als „ein[en] gute[n] Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Krieges und geeignet, manche unrichtige Vorstellung zu beseitigen“ (E.u.G., 253) schätzte. Sehr zum Unwillen des Exil-Kaisers und seiner Umgebung gab es bald Raubdrucke, zum Teil unvollständig (E.u.G., 253),20 zunächst in der niederländischen Zeitung „Het Volk“. Die Memoiren im Zusammenhang erschienen im Fol18  John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900–1941. 2. Aufl. München 2009, 1273. Vgl. zu Röhl jetzt die Kritik von Benjamin Hasselhorn: Wilhelm II. in neuer Sicht. Plädoyer für eine sachliche Beurteilung des letzten deutschen Kaisers. In: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, N.F. 25 (2015), 337–351. 19  Röhl: Wilhelm II. 1900–1941 (wie Anm. 18), 1273. 20  Ebd., 1273.

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gejahr, entstanden waren sie unter maßgeblicher Mitwirkung des Publizisten Eugen Zimmermann.21 Der ressentimentgeladene Biograph des Kaisers, der Historiker John C. G. Röhl, beschränkt sich darauf, die abfälligen zeitgenössischen Stimmen – in der Sache durchaus berechtigt – zu diesem Buch zu sammeln, angefangen mit Rudolf von Valentini, der bis Januar 1918 als Chef des Zivilkabinetts gewirkt hatte und urteilte, dass am erschütterndsten die Unwahrhaftigkeit des Werkes sei, „mit der er [Wilhelm II.] die Dinge auf den Kopf stellt, um sich selbst in ein günstiges Licht zu rücken“.22 Den Inhalt des Buches übergeht Röhl vollständig. Dabei dürfte sich gerade in den auffällig wenigen Punkten, mit denen Wilhelm II. im Zusammenhang mit dem Weltkrieg der Nachwelt im Gedächtnis bleiben will, ein Stück seiner Persönlichkeit erschließen lassen. Um Erinnerungen im geläufigen Sinne handelt es sich zudem gar nicht, man kann das Ganze eher als pointierte Analyse bezeichnen, versehen mit Belegen. Bezüglich des Krieges an sich werden lediglich drei Aspekte näher beleuchtet: der Kriegsausbruch, das Kriegsende und – als Kapitel gleichberechtigt dazwischen – das Gespräch Wilhelms II. mit dem Nuntius Eugenio Pacelli im Juni 1917. Gegenstand war der Vorschlag des Kaisers hinsichtlich einer Friedensvermittlung durch den Papst. Am Beginn stehen die Betrachtungen zum Kriegsausbruch (E.u.G., 209– 222). Wilhelm II. ist es wichtig zu betonen, dass er zur Beisetzung des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand gereist wäre, hätte Wien nicht gebeten, davon abzusehen (E.u.G., 209). Die Nordlandreise hingegen habe er wegen der prekären Lage gar nicht antreten wollen, dazu sei er von Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und dem Auswärtigen Amt gedrängt worden, mit dem Argument, die Lage erscheine sonst ernster als sie sei. Die Existenz des sogenannten Potsdamer Kronrats am 5. Juli 1914, in welchem einige Historiker einen wesentlichen Schritt in Richtung einer eindeutigen Kriegsentscheidung sehen,23 negiert er und erklärt das Ganze zur üblichen Instruktion bzw. zur Berichterstattung von Ministern vor seiner Nordlandreise (E.u.G., 209 f.). Mehrfach sei er durch die Lage beunruhigt gewesen, mehrfach habe ihn das Auswärtige Amt zur Fortsetzung der Reise aufgefordert. Orientiert gewesen sei er lediglich durch die norwegische Presse, zur Rückkehr habe er sich aufgrund des österreichischen Ultimatums an Serbien entschlossen, knapp sei er der englischen Flotte entkommen, die ihn habe abfangen wollen (E.u.G., 210). 21  Ebd.,

1273. 1273. 23  Ebd., 1083. 22  Ebd.,



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Generalstabschef Helmuth von Moltke sei – im Unterscheid zu den deutschen Diplomaten – der Einzige gewesen, der an die Unausweichlichkeit des Krieges geglaubt habe, dies habe sich allgemein erst mit den Nachrichten über die russische Mobilmachung geändert. „Hieraus geht hervor, wie wenig wir im Juli 1914 auf den Krieg gefaßt waren, geschweige denn, daß wir ihn vorbereitet hätten“. Wilhelm II. fügt hinzu, Zar Nikolaus II. habe geäußert, es werde 1914 zum Krieg kommen – wovon zwar Bethmann Hollweg erfahren habe, er selbst jedoch nicht. Enttäuschung lässt Wilhelm erkennen, wenn er ausführlich die russischen Freundschaftsbeteuerungen der Vorkriegsjahre ihm gegenüber zitiert. Gerade seine längeren Abwesenheiten führt Wilhelm immer wieder an, um den Vorwurf, das Deutsche Reich habe den Krieg vorbereitet, zurückzuweisen, etwa zu „derselben Zeit, als der Zar sein Sommerkriegsprogramm aussprach, beschäftigte ich mich in Korfu mit Ausgrabungen von Altertümern.“ (E.u.G., 210–212, Zitat 211 f.). Die Ausschaltung des Krieges als Denkmöglichkeit durch das Auswärtige Amt sieht er zwar kritisch und betont auch den „gewissen Gegensatz“ zum General- oder Admiralstab, beide hätten rechtzeitig gewarnt, vor allem aber zeige dieses – wenn auch naive – Verhalten der deutschen Politiker, dass keinesfalls jemand ernsthaft den Krieg geplant habe. Wie in den Geschichtstabellen, so ist Wilhelm auch in seinen Memoiren bemüht, Beweise für die Kriegsvorbereitungen der Entente, also Russlands, Englands und Frankreichs sowie, nicht ganz in diese Reihe passend, Belgiens zu erbringen. Verwiesen wird etwa auf das Ansammeln von Goldreserven durch britische Banken seit April 1914, eine Äußerung des Direktors der Kriegsakademie in Petersburg vom März 1914, dass der Krieg Russlands gegen Österreich wegen dessen Balkanpolitik noch im Sommer desselben Jahres zum Ausbruch kommen werde oder eine Äußerung des belgischen Gesandten in Berlin vom April 1914, dass eine japanische Militärmission während eines Aufenthalts in Petersburg gehört habe, wie russische Offiziere offen über einen bevorstehenden Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn sprachen (E.u.G., 212 f., Zitat 212). Angeführt wird zudem ein geheimer Kronrat unter Vorsitz des Zaren Nikolaus II. vom Februar 1914, in welchem der russische Außenminister Sergej Sasonow vorgeschlagen habe, Konstantinopel einzunehmen. Da dies der Dreibund wohl kaum hinnehmen werde, werde es zum Krieg zwischen Deutschland und Russland kommen, Italien werde abfallen, Frankreich zu Russland stehen und auf England könne man wahrscheinlich auch zählen. Der Zar habe Befehl gegeben, die notwendigen Vorarbeiten zu veranlassen und den Rat des russischen Finanzministers, lieber mit Deutschland zu gehen, da der Krieg die Revolution zur Folge haben werde, in den Wind geschlagen (E.u.G., 214). Sollte dieser Kronrat in dieser Form stattgefunden

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haben, so ist die prophetische Gabe der damaligen russischen Politiker respekteinflößend. Weitere Vorzeichen und Ausführungen dieses Stils, bemerkenswerterweise vor allem im Zusammenhang mit Russland, listet Wilhelm II. auf. Der Feind auf russischer Seite ist vor allem Sasonow, während der Zar beinahe „unter dem tiefen Eindruck des ernsten Telegramms des Deutschen Kaisers“ die Mobilmachung gestoppt hätte, hätte nicht eben jener Sasonow hinter dem Rücken des Zaren die Dinge unumkehrbar in Gang gesetzt (E.u.G., 216). Der Zar hingegen habe wohl die Verantwortung gespürt und wäre, insbesondere nach dem Hinweis des Deutschen Kaisers, geneigt gewesen, die „völkermordende Kriegsmaschine“ aufzuhalten (E.u.G., 217). Wilhelm II. reibt sich in seinen Erinnerungen sehr an Russland: Einerseits habe es hier eine antideutsche Stimmung „im ganzen russischen Offizierskorps“ gegeben, aufgehetzt auch von Frankreich, welches sich der britischen Unterstützung zu dieser Zeit sicher gewesen sei. Massiv vorangetrieben worden sei das Ganze aber auch von deutschfeindlichen Kräften in Russland selbst. Diese hätten befürchtet, der Zar könne durch den Deutschen Kaiser umgestimmt werden. Man sei sich zwar bewusst gewesen, erst 1917 für den Krieg gerüstet zu sein, aber diese mögliche Verständigung habe auf die Kriegspartei in Russland ebenso Druck ausgeübt wie der Einfluss Frankreichs, welches wiederum vor allem eine deutsch-britische Verständigung befürchtete. Als Beweis für gemeinsame Kriegsvorbereitungen der Gegenseite führt Wilhelm II. an, deutsche Truppen hätten im Spätsommer 1914 in Belgien und Nordfrankreich Depots mit britischen Militärmänteln sowie große Mengen an Karten mit englischen und französischen Erläuterungen gefunden  – alles eingelagert weit im Vorfeld des Krieges (E.u.G., 217 f., Zitat 217). Neben einer Vielzahl von Details und Aussprüchen im Stile der hier aufgezählten Beispiele, für die Wilhelm II. zwar fast immer Gewährsleute benennt, die er aber selbst meist nur aus zweiter Hand kennt, und bei denen eindeutig Russland im Mittelpunkt seines Interesses oder – deutlich herauszulesen – seiner Enttäuschung steht, kommt auch ein klassisch-verschwörungstheoretischer Ansatz zur Sprache: Die „internationale ‚Großorientloge‘ “ habe maßgeblich an der Entfesselung des Weltkrieges mitgewirkt. Die Zusammenhänge könne er jedoch nach eigener Aussage nicht nachprüfen. Bemerkenswerterweise legt er Wert darauf, die deutschen Freimaurer ausdrücklich auszunehmen (E.u.G., 219). Das Kriegsgeschehen überspringt Wilhelm II. Mangels Aktenzugriffs wolle er derartige Ausführungen Offizieren und Historikern überlassen. Er belässt es bei kurzem Dank und Bewunderung „für die unvergleichlichen Leistungen des deutschen Volkes in Waffen“. Ausdrücklich hervorgehoben



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werden lediglich zwei Namen: Paul von Hindenburg, mit einigem Abstand gefolgt von Erich Ludendorff. Erwähnt werden die erdrückende Übermacht der 28 Feindstaaten und die „heldenmütige Tapferkeit des deutschen Volkes“, welches dem „tückischen Dolchstoße“ zum Opfer gefallen sei (E.u.G., 220 f.). Nur wenig länger ist eine Passage, in welcher sich Wilhelm gegen den Vorwurf deutscher „Kriegsgreuel“ verwahrt. Ausführlich geschildert wird hier die Bewahrung bzw. Rettung von Kunstschätzen in Frankreich – nichts anderes. Wilhelm II. sieht sich als Kulturbewahrer. Kunsthistoriker seien den Armeen zugeteilt worden, der Konservator der Rheinprovinz, der Bonner Professor Paul Clemen, habe sich hier besonders hervorgetan. Kataloge seien erstellt worden, die „alten Fenster der Kathedrale von St. Quentin wurden von deutschen Soldaten mit Lebensgefahr unter englischem Granatfeuer herausgeholt“. Oder bezüglich des Schlosses von Pinon: „Ich besuchte das Schloß und wohnte dort. Vorher waren Engländer einquartiert gewesen. Sie hatten greulich gehaust. Der kommandierende General von Lochow mit seinem Stabe hatte große Mühe, das Schloß nach der englischen Verwüstung wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen“. Mit deutlichem Hinweis auf das konservatorische Wirken des deutschen Heeres  – („[…] durch meine Fürsorge […] sind den französischen Besitzern und den französischen Städten Kunstschätze im Werte von Milliarden erhalten worden. Das taten die Hunnen, die Boches!“) – endet das Kapitel über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (E.u.G., 221 f.). Bevor Wilhelm II. zum Kriegsende und zur Abdankung weiterspringt, ist einem speziellen Vorgang ein eigenes Kapitel gewidmet, was darauf schließen lässt, dass dem Autor dieses Ereignis ein besonderes Anliegen war. Es handelt sich um das Treffen Wilhelms II. mit dem päpstlichen Nuntius in München, Eugenio Pacelli, welches am 29.  Juni 1917 in Bad Kreuznach stattgefunden hat (E.u.G., 225–230).24 Interessanterweise lassen nahezu sämtliche Wilhelm-Biographien dieses Ereignis völlig außen vor, einzig erkennbare Ausnahme ist die Arbeit von Joachim von Kürenberg, der es zumindest erwähnt.25 Dies scheint insofern bemerkenswert, als Wilhelm II. selbst ausweislich der prominenten Platzierung dieser Schilderung in seinen Memoiren zumindest im Nachhinein größten Wert auf diesen Vorgang 24  Dargestellt ist dieses Treffen auch bei John Cornwall: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 1999, 89–94. Cornwall stützt sich in diesem Kapitel allerdings selbst großflächig auf die Erinnerungen Wilhelms II. 25  Joachim von Kürenberg: War alles falsch? Das Leben Wilhelms II. 2. Aufl. Bonn 1952, 351. Bezug genommen auf dieses Treffen wird auch in den Erinnerungen von Bethmann Hollweg: Betrachtungen zum Weltkriege. 2.  Teil  (wie Anm. 7), 211.

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legt. Nach einer äußerst positiven Darstellung Pacellis führt Wilhelm II. aus, wie er sich dafür eingesetzt habe, dass der Papst sich an die Spitze einer Friedensinitiative setzen solle. Als problematisch empfand Wilhelm vor allem die ihm feindlich gesonnenen Priester in den Staaten der Entente, namentlich in Frankreich, aber auch in Belgien. Der Papst sollte, als oberste Autorität, ein Machtwort sprechen. Gute Ansätze gebe es beispielsweise im dezidiert katholischen Italien sowie in Österreich-Ungarn, dessen Kaiser selbst den Titel „apostolisch“ führe. Einwände Pacellis und eines seiner Begleiter, dass Gespräche mit der italienischen Regierung schwierig seien, sein entsprechender Einfluss begrenzt sei und das Ganze auch für den Papst persönlich gefährlich werden könne, habe der Kaiser nicht gelten lassen wollen (E.u.G., 227). Auch bezüglich eines in Zukunft wieder eigenen Staates für den Vatikan – ein dringender Wunsch des Papstes – habe sich Wilhelm zuversichtlich geäußert und Unterstützung zugesichert (E.u.G., 228). Durchschlagendes Argument Wilhelms II. sei schließlich der Hinweis gewesen, falls der Papst nicht handle, so würden sich die Sozialisten an die Spitze der Friedensbewegung setzen. Dabei betont der Kaiser bemerkenswerterweise, dass er jegliche Friedensbemühung schätze, auch sozialistische. Schließlich sei der Nuntius Pacelli überzeugt gewesen, dass der Papst handeln müsse, er habe die Hand des Kaisers mit den Worten „Vous avez parfaitement raison!“ ergriffen und versprochen, dem Papst die Anregung des Kaisers zu übermitteln (E.u.G., 229 f., Zitat 230). Mag das Gespräch von Wilhelm im Nachhinein ausgeschmückt worden sein, mag Benedikt XV. nicht erst der Anregung des Deutschen Kaisers bedurft haben, um Friedensinitiativen zu entfalten – Wilhelm II. war die Vermittlung dieser Episode aus seiner Sicht äußerst wichtig: Er überzeugt den Nuntius, dass der Papst sich an die Spitze einer Friedensbewegung setzen müsse. Im Abschnitt über Kriegsende und Abdankung dominiert in den Memoiren Wilhelms II. die Enttäuschung. Von nahezu allen sei der Kaiser hintergangen und am von ihm beabsichtigten Handeln gehindert worden. Österreich, namentlich der junge Kaiser Karl I., habe sich im Spätsommer als immer unzuverlässigerer Verbündeter erwiesen (E.u.G., 233 f.). Zur Schwächung des deutschen Heeres durch den Krieg gesellt sich nach Wilhelms II. Auffassung die negative Propaganda aus der Heimat, jedoch „die Mehrheit meiner Divisionen hat sich bis zuletzt tadellos geschlagen. Explizit fällt auch die Äußerung: „Im Felde und zur See unbesiegt“. Es finden sich Elogen auf die „herrliche Jugend von 1914“, welche den Stahlgewittern der feindlichen Artillerie getrotzt habe (E.u.G., 235 f., Zitat 236). Wilhelm II. betont die Richtigkeit seines Entschlusses, sich im Herbst 1918 an die Front zu begeben (E.u.G., 236).



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Max von Baden, den letzten von ihm ernannten Reichskanzler, zeichnet er als schwache Persönlichkeit. Jener vor allem sei es gewesen, der Wilhelm frühzeitig eine Abdankung habe nahelegen wollen – was dieser zurückgewiesen habe, aus Verantwortung auch für die Armee, die „im Falle meiner Abdankung nicht mehr weiterkämpfen, sondern sich auflösen würde“. Eine aus Sicht des Kaisers besonders unrühmliche Rolle bezüglich der gewünschten Abdankung habe Innenminister Wilhelm Drews gespielt. Wilhelm II. über seine Regierung: „Die Herren wollten mich wohl loswerden, aber vor den Folgen schreckten sie zunächst zurück (E.u.G., 240 f.). Wiederholt ist es die revolutionäre, nach den Worten Wilhelms die „verseuchte“ Stimmung aus der Heimat, welche auch die Soldaten an der Front infiltrierte (E.u.G., 242). Am 9. November 1918 habe der Reichskanzler Max von Baden dem Kaiser wiederholt mitgeteilt, seine Abdankung sei unausweichlich, sonst käme es in Berlin zu blutigen Straßenkämpfen, die schon begonnen hätten (E.u.G., 242). Schließlich habe er sich einsichtig gezeigt. Quasi überlistet worden sei er allerdings am Ende, da er zwar als Deutscher Kaiser, niemals jedoch als König von Preußen habe abdanken wollen – die Gesamtabdankung sei ohne sein Wissen verkündet und damit vollzogen worden. Schuldig ist für ihn Max von Baden. Wilhelm II. sieht seine Abdankung letztlich als ein Opfer, das er gebracht habe, um Bürgerkrieg abzuwenden und günstigen Waffenstillstandsbedingungen nicht im Weg zu stehen – beides sei umsonst gewesen (E.u.G., 244 f.). Alle anderen Verhaltensvarianten – als Führer gegen den Feind anzutreten, als Führer mit der Truppe in die Heimat zurückzukehren, oder gar ein Selbstmord –, seien von ihm kurz bedacht, aber jeweils als zu keinem Ziel führend verworfen worden – mit dem für ihn offenbar plausiblen Argument, dass die Übernahme der Führung der Truppen, in welche Richtung auch immer, nichts gebracht hätte und der Freitod von seinem christlichen Standpunkt aus niemals in Frage gekommen sei (E.u.G., 245 f.). Der Gedanke an die symbolische Wirkung all dieser Möglichkeiten, auch für das Bild, das die Nachwelt sich von ihm formen würde, bleibt außen vor. Einem Gericht der Sieger wollte sich der ins niederländische Exil entkommene Wilhelm – verständlicherweise – nicht stellen. Der historische Vergleich, den er anführt, mag für sich sprechen: Auch der Arvernerfürst Vercingetorix habe seinerzeit, also fast 2000 Jahre zuvor, auf den Großmut Caesars vertraut – am Ende sei er aber doch in Ketten gelegt und hingerichtet worden (E.u.G., 251). Ein weiterer Teil der Memoiren widmet sich der Schuldfrage, mithin also der Vorgeschichte des Krieges. Gebetsmühlenartig wiederholt Wilhelm II. die These von der ausschließlichen deutschen Friedenspolitik, zumindest

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vom Standpunkt des heutigen Lesers auf eine nahezu infantil-beharrende Darstellungsweise, die sein Rechtfertigungsanliegen eher konterkariert als unterstützt: Das Deutsche Reich sei zum Bau der Flotte gezwungen gewesen (E.u.G., 262), eine Entscheidung mit Waffen habe in jedem Falle vermieden werden sollen, nur seien eben die Ziele der Entente ausschließlich durch Krieg erreichbar gewesen, die Ziele Deutschlands hingegen – Wilhelm II. spricht hier bemerkenswerterweise nicht vom Dreibund, selbst Österreich-Ungarn bezieht er nicht ein – ausschließlich ohne Krieg (E.u.G., 265). Die große Enttäuschung des Memoirenschreibers bleibt Russland, das dann allerdings selbst unter der Revolution zusammenbrach – und das, obwohl der Deutsche Kaiser sich bemüht habe, den Zaren zu unterstützen: „Ich habe dem Zaren Nikolaus wiederholt eindringlichst zu liberalen Reformen im Inneren, zur Einberufung der sogenannten großen Duma geraten, die schon unter Iwan dem Schrecklichen existiert und funktioniert hat […] Der Zar hat nicht gehört, sondern er hat eine neue Duma geschaffen, die den Zweck nicht erfüllen konnte“ (E.u.G., 268). Bilanzierend stellt Wilhelm II. fest: „Wir leiden also jetzt nicht unter den Folgen einer uns angedichteten Angriffstendenz, sondern gerade unter den Folgen einer kaum glaublichen Friedensliebe und Vertrauensseligkeit“ (E.u.G., 275). Immer wieder scheinen bei der Behandlung der eigentlich im Vorfeld spielenden Schuldfrage Punkte auf, die unmittelbar mit dem Krieg verknüpft und Wilhelm einer Erwähnung wert sind, sei es der in seinen Augen überforderte Bethmann Hollweg, der der Weltkrise nicht gewachsen gewesen sei, auch wenn er den Krieg habe verhindern wollen (E.u.G., 279), oder sei es die von England entfaltete politische Propaganda, interessanterweise unter dem ausdrücklichen Hinweis, dass diese Propaganda zwar widerlich sei und den Deutschen als Instrument der Unaufrichtigkeit und Verdrehung unsympathisch – aber dennoch eine Leistung darstelle, die uns „mehr Schaden getan hat als die Waffe des Gegners“ (E.u.G., 281 f.). II. Dass die Sicht des Kronprinzen Wilhelm, der im selben Jahr wie sein Vater Erinnerungen publizierte bzw. publizieren ließ, keine gänzlich andere als die des Exil-Kaisers ist, überrascht wenig – dennoch akzentuiert er anders. Über die Kriegsschuldfrage und seine Fronterlebnisse veröffentlichte er separate Werke,26 direkt involviert – wenn auch nach militärischen Gesichtspunkten nicht sonderlich erfolgreich – war er als Kommandeur der 5. Armee und später der Heeresgruppe „Deutscher Kronprinz“. Bei dem 26  Kronprinz Wilhelm: Ich suche die Wahrheit! (wie Anm. 9), sowie Ders.: Meine Erinnerungen (wie Anm. 14).



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Erinnerungswerk handelt es sich um Aufzeichnungen, die sich im Wesentlichen mit dem Weltkrieg und der entsprechenden Politik auseinandersetzen. Diese sind allerdings in zum Teil mehrmonatigen Abständen verfasst, zudem sind sie wenig systematisch. Weit im Vorfeld des Krieges habe der Kronprinz festgestellt, dass Deutschland „in der ganzen Welt wenig beliebt, vielfach geradezu verhaßt“ gewesen sei. Missgunst bezüglich des wirtschaftlichen Aufschwunges sei ein wichtiger Faktor gewesen, vor allem England habe sich bedroht gefühlt. Er selbst habe sich für eine Verständigung mit dem Inselreich eingesetzt, was aber auch von der deutschen Regierung als unmöglich betrachtet worden sei. Alternativ galten seine Überlegenen bzw. Vorstöße einer Wiederannäherung an Rußland. Das Verfolgen derartiger Ziele sei in der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg jedoch vernachlässigt worden, man habe es sich mit niemandem „verderben“ wollen, folglich seien „wir mit unserer Friedenspolitik […] auf dem besten Wege [gewesen], uns zwischen alle Stühle zu setzen.“ (Erinnerungen, 75–81, Zitate 75, 81). Deutschlands Friedenswille sei schließlich dadurch deutlich geworden, dass es auf den Krieg im Jahr 1914 überhaupt nicht vorbereitet gewesen sei, namentlich die wirtschaftliche Mobilmachung sei nicht im Blick gewesen (Erinnerungen, 89, 114, 233). Die als Beruhigung verstandene kaiserliche Nordlandreise findet hier ebenfalls Erwähnung (Erinnerungen, 133). Die warnende Stimme des Kronprinzen bezüglich des heraufziehenden Konflikts habe Reichskanzler Bethmann Hollweg als Konterkarieren seiner Politik verstanden und ihn beim Kaiser denunziert (Erinnerungen, 134). Insgesamt ist das Urteil über Bethmann Hollwegs Fähigkeiten vernichtend, so habe dieser noch am 3. August 1914 geglaubt, England bleibe neutral. Sowohl der Reichskanzler als auch „das Auswärtige Amt haben in diesen schicksalsschweren Tagen noch mehr versagt, als man das nach den vorangegangen Jahren befürchten musste“ (Erinnerungen, 137–139, 138 f.). Alfred von Tirpitz, der den Pessimismus des Kronprinzen bezüglich der friedlichen Zukunft vor Kriegsausbruch als einer der wenigen geteilt habe, wäre 1917 ein geeigneter Nachfolger Bethmann Hollwegs gewesen, vor allem jedoch der 1909 zurückgetretene Bernhard von Bülow (Erinnerungen, 104, 83 f.). Ein Fehler sei es 1914 gewesen, sich „vollends von Österreich ins Schlepptau nehmen“ zu lassen (Erinnerungen, 139 f.). Durch die Unfähigkeit der deutschen Politik, vor allem des Auswärtigen Amtes, sei man „in den Weltkrieg hineingetapert“ – ein Diktum welches an die Einschätzung des britischen Premierministers David Lloyd George27 denken lässt. 27  Lloyd George fragt in seinen Memoiren: „How was it, that the world was so unexpectedly plunged into this terrible conflict?“ und formuliert wenig später: „The nations slithered over the brink into the boiling caudron of war without any trace of

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Kronprinz Wilhelm scheut sich nicht, Ausführungen des britischen Admirals John Fisher, zu Beginn des Krieges Erster Seelord, heranzuziehen, um auf den nach seiner Auffassung immensen Schaden hinzuweisen, den die passive Rolle der Reichsregierung und deren mangelnde Zusammenarbeit mit der Obersten Heeresleitung angerichtet habe. In Anbetracht des schon zu Anfang für Deutschland nicht günstig verlaufenden Kriegs habe die Regierung „auf politische Schritte zur Beendigung des Krieges sinnen“ müssen, was aber versäumt worden sei (Erinnerungen, 149–153, Zitat 153). Bereits im Frühsommer 1915 hätte man einen Sonderfrieden mit Russland anstreben müssen und können (Erinnerungen, 154). Mittels einer von ihm verfassten Denkschrift vom 18. Dezember 1915 belegt er, dass er den Gedanken eines solchen Friedens selbst forcierte und es sich nicht um einen Gedanken ex post handelt (Erinnerungen, 156 f.). Eine zweite Denkschrift, wie die eben erwähnte ebenfalls an die Adresse des Kaisers, des Reichskanzlers und der Obersten Heeresleitung gerichtet, „ein Zeugnis meines Willens zum ehrenvollen Frieden“, stammt vom Sommer 1917 (Erinnerungen, 160–167). Dass er als Heerführer anders habe reden müssen, verteidigt er ausdrücklich und sieht darin keinen Widerspruch (Erinnerungen, 168 f.). Beklagt werden durchweg die fehlende Geschlossenheit, der fehlende Burgfrieden und der fehlende deutsche Zivildiktator – „mit starkem, wegund zielbewusstem Siegeswillen, wie Clemenceau und Lloyd George solche für ihre Länder gewesen sind“ (Erinnerungen, 174). Ausdrücklich dient abermals England als Vorbild gegenüber deutscher Zerstrittenheit während des Kriegs, dort gebe es den – auch befolgten – Grundsatz „Right or wrong – my country!“ (Erinnerungen, 172). Ein Loblied singt der Kronprinz auf Hindenburg und Ludendorff (Erinnerungen, 177–188), gegen die Unterstellung, er selbst habe Anteil oder gar Verantwortung für militärische Fehlentscheidungen, etwa im Zusammenhang mit der ersten Marneschlacht oder Verdun, verwahrt er sich heftig (Erinnerungen, 190, 201). Kriegsmüdigkeit und nachlassende Disziplin, das Zerfallen der „Ordnung hinter der Front“ ab Sommer 1918 (Erinnerungen, 237) sieht er deutlich, die eigentliche „Bankrotterklärung“ sei jedoch dem Auswärtigen Amt zuzuschreiben, dem es trotz der Vermittlung neutraler Mächte nicht gelungen sei, Friedensverhandlungen in Gang zu setzen (Erinnerungen, 243). Wilhelm Groener, der die Nachfolge Ludendorffs antrat, lehnt der Kronprinz entschieden ab („ […] diesen Mann […], dem nichts von jenem Geiste innewohnte, der jetzt allein noch retten konnte, was zu retten blieb“) (Erinnerungen, 263). Vom Verzicht seines Vaters auf den preußischen Thron, den er ursprünglich apprehension or dismay.“ David Lloyd George: War Memoirs, Bd. 1. Neuausgabe London 1938 (EA 1933), 32.



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auch im Falle der Abdankung als Deutscher Kaiser behalten wollte, zeigte sich der Kronprinz überrascht (Erinnerungen, 279, 303). Viktoria Luise, einzige Tochter und jüngstes Kind Wilhelms II., verheiratet mit Ernst August von Hannover, dem letzten regierenden Herzog von Braunschweig, veröffentlichte ihre Erinnerungen erst 1965. Familiär-privates kommt zur Sprache, aber über weite Strecken bemüht sich die Autorin um „Geschichtsschreibung“, vieles Berichtete stammt nicht aus dem eigenen Erleben. Allerdings ist es auch – erklärbar mit ihrer Position und dem großen zeitlichen Abstand – keine offensichtliche Rechtfertigungsschrift wie diejenigen ihres Vaters und ihres Bruders. In einem mit „Der Götter Neid“ überschriebenen Kapitel wird, vor allem in Hinblick auf die sozialen Errungenschaften, das prosperierende wilhelminische Vorkriegsdeutschland präsentiert,28 das misstrauisch beäugt worden sei. „Wie mein Vater in der Außenpolitik mit seinem Ziel der Erhaltung des Friedens schließlich an den antideutschen Interessen der Großmächte scheiterte, so vermochte er im Inneren nicht der militanten sozialistischen Bewegung Herr zu werden. Dabei hat er persönlich das Beste für die Arbeiterschaft gewollt und getan.“ (Mein Leben, 130). Es finden sich auch hier Hinweise, wie viel Wilhelm II. unternommen habe, um den Krieg zu verhindern – „Beschwörungen an die Adresse des Zaren“ und der vehemente Einsatz, um Franz Joseph I. zum Einlenken zu bewegen. „Ausführlich schilderte er seinen Versuch, König Georg [V.] von England dafür zu gewinnen, England neutral zu halten und auf Frankreich und Rußland mäßigend einzuwirken.“ Aussagen des englischen Königs habe er als Neutralitätsversprechen aufgefasst und die Zweifel von Tirpitz zurückgewiesen. Enttäuscht über England sei der Kaiser schließlich gewesen, auch über den Zaren, der jedoch in seinen Handlungen nur bedingt frei gewesen sei. Später habe der Kaiser gegenüber seiner Tochter geäußert, Russland, England und Frankreich hätten sich im Vorfeld zur Vernichtung Deutschlands abgesprochen, der österreichisch-serbische Konflikt sei lediglich ein Vorwand gewesen (Mein Leben, 134 f.). Auch bei Viktoria Luise findet sich eine der Schilderung ihres Vaters entsprechende Passage über die Nordlandreise: Wilhelm II. habe diese nicht antreten wollen, das Auswärtige Amt habe jedoch dazu gedrängt, weil man sich davon eine beruhigende Wirkung versprochen habe (Mein Leben, 132). Die Fürsorge für Verwundete und die Einrichtung des Lazaretts in ihrem Residenzschloss waren Viktoria Luise humanitäre Anliegen (Mein Leben, 139). Unterstrichen wird die Siegeszuversicht des Kaisers im Sommer 1914. Trotz aller Enttäuschungen habe er gegenüber dem englischen König und 28  Dazu jetzt einlässlich Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013.

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dem Zaren „weder Rache noch Haß“ empfunden. Nicht nur die eigenen Verwundeten, auch Gefangene habe er in Lazaretten besucht (Mein Leben, 142). Ähnliches wird wiederholt berichtet, vor allem um den „anderen Charakter“ der Beziehungen zwischen den Kriegsgegnern von 1914 / 18 gegenüber dem Zweiten Weltkrieg zu betonen. Damals sei es noch leichter gelungen, durch familiär-dynastische Verflechtungen Kontakte herzustellen. So sei es möglich gewesen, dass russische Krankenschwestern russische Kriegsgefangene in Deutschland besuchen durften, deutsche Schwestern die Gefangenen in Russland, die Abordnungen seien jeweils von der Kaiserin bzw. der Zarin empfangen worden (Mein Leben, 162). Helmuth von Moltke wird totales „Versagen“ attestiert, vor allem gemessen an seinem Vorgänger Alfred von Schlieffen (Mein Leben, 144). Aussagekräftig aus persönlicher Perspektive ist folgende Feststellung: „In der Patenliste unseres Zweiten konnte man übrigens den Gang der Politik ablesen. Die große europäische Fürstenfamilie war auseinandergerissen!“ Die Hungersnot Ende 1916, nach Viktoria Luise eine direkte Folge der britischen Blockade, findet ausdrückliche Erwähnung (Mein Leben, 147). Bezüglich der Diskussion um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg habe sich Wilhelm II. lange gesträubt („Unser Schwert muß rein bleiben“). Diesen Standpunkt habe Karl Helfferich gegen Hindenburg und Ludendorff unterstützt, allerdings mit rationaleren Argumenten, etwa dem befürchteten Kriegseintritt der USA (Mein Leben, 148–151, Zitat 148). Helfferich, zunächst Staatssekretär des Reichsschatzamtes, später des Reichsamtes des Inneren, dient Viktoria Luise häufig als Referenzperson, so auch bezüglich des UBoot Krieges. Letztlich bleibt ihr Urteil aber offen – der ­ U-Boot-Krieg hätte sich auch positiv für Deutschland auswirken können, „Mars entschied, wer recht hatte“ (Mein Leben, 152). Maßstab Viktoria Luises ist auch 1965, im Jahr der Veröffentlichung ihrer Memoiren, der militärische Nutzen für das eigene Land. Bethmann Hollweg schien für Ernst August von Hannover und damit auch für seine Frau Viktoria Luise als Reichskanzler die ideale Besetzung für innenpolitische Reformen zu sein. Die durch Hindenburg und Ludendorff erzwungene Absetzung wirkt zumindest indirekt als Enttäuschung. Bülows misslungene Bestrebungen, dieses Amt erneut zu übernehmen, registriert Viktoria Luise mit Befriedigung. Der Friedensresolution von 1917 bescheinigt sie „defätistische Züge“. Sie habe „der deutschen Kriegsführung sehr geschadet“ (Mein Leben, 152–155, Zitate 154 f.). Ausführlich hingegen wird der angeblich von Wilhelm II. und Bethmann Hollweg initiierte Friedensschritt gewürdigt, der am 30. Dezember 1916 mit der Ablehnung durch die Entente erfolglos geendet hatte. Zugrunde liegt hier der auch von Viktoria Luise vertretene Standpunkt, dass die Friedensverhandlungen in einem Moment der Stärke, nicht der Schwäche begonnen werden müssten. Erwäh-



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nung findet im Anschluss das Treffen Wilhelms II. mit dem päpstlichen Nuntius am 29.  Juni 1917 (Mein Leben, 156–159). Die Revolution in Russland habe in der öffentlichen Meinung wieder Siegeszuversicht in Deutschland verbreitet. Wilhelm II. habe diese revolutionäre Entwicklung vorausgesehen und den Zaren davor gewarnt (Mein Leben, 159 f.). Die durch Anna Anderson, die von sich behauptete, die überlebende Zarentochter zu sein, in Umlauf gebrachte Geschichte, Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt sei als Geheimemissär nach Russland gesandt worden, um einen Sonderfrieden mit dem Zaren auszuhandeln, wird von Viktoria Luise auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht, letztlich aber aufgrund fehlender Belege zurückgewiesen. Unabhängig davon ist es der Kaisertochter wichtig zu unterstreichen: „Mein Vater hat allerdings davon gesprochen, daß er den Zaren über seine Bereitschaft zu einem Separatfrieden unterrichtet habe. Dabei habe er den Frieden mit den Grenzen von 1914 ohne Reparationsforderungen angeboten.“ (Mein Leben, 160–162, Zitat 162). Deutschfreundliche Tendenzen in Russland seien allerdings massiv von England und Frankreich bekämpft, selbst der Zar sei entsprechend angegriffen worden (Mein Leben, 163). Auch nach dessen Sturz habe Wilhelm II. sich intensiv für Nikolaus II. verwendet und dessen Vorhaben, nach England zu gehen, habe er nach Möglichkeit unterstützt. Abgelehnt worden sei das Asyl schließlich durch Lloyd George (Mein Leben, 164 f.). Die „Durchschleusung Lenins und anderer Radikaler“ sei besonders vom Zentrumspolitiker Matthias Erzberger betrieben worden. Aber auch Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, damals Botschafter in Kopenhagen, habe sich für die Stärkung der „extremen Elemente“ in Russland stark gemacht. Von der Durchreise habe Wilhelm II. keine Kenntnis gehabt (Mein Leben, 166 f., Zitat Brokdorff-Rantzau S. 166). Unvermittelt sei der Kaiser dann auch von der Eröffnung Hindenburgs, Ludendorffs und Paul von Hintzes im September 1918 getroffen worden, dass die Lage einen sofortigen Waffenstillstand erfordere. Auch wenn Viktoria Luise vielfach Aussagen Dritter zitiert: Vor allem Ludendorff wird, wenn auch mit Verständnis für sein Handeln, vorgeworfen, zu lange mit der Unterrichtung über die wahre Lage gezögert zu haben. Jedoch habe es Wilhelm II. fern gelegen, ihn öffentlich zu kritisieren (Mein Leben, 172–175, 180). Max von Baden, der „Unglückliche, der unter solchen Umständen das Amt des Reichskanzlers übernehmen sollte“, erscheint als pflichttreuer Getriebener, der sich vergeblich vehement gegen ein überstürztes Waffenstillstandsangebot ausgesprochen habe. Letztlich habe er sich jedoch weder der Obersten Heeresleitung noch den sozialdemokratischen Wünschen bei der Regierungsbildung erwehren können (Mein Leben, 180–186). Max von

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Baden „war von der Aufgabe erfüllt, den Kaiser mit dem Volk wieder zusammenzuführen“, doch sei dieser Versuch, gegen den Strom zu schwimmen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen (Mein Leben, 199). Die Entente-Forderungen seien es letztendlich gewesen, welche die Monarchie zum Einsturz brachten (Mein Leben, 193). Ein Großteil der Sozialdemokratie hätte sich mit einem Monarchen abfinden können – Friedrich Ebert habe Groener ausdrücklich aufgefordert, „die letzte Gelegenheit zur Rettung der Monarchie zu ergreifen und sogleich beschleunigt die Betrauung eines kaiserlichen Prinzen mit der Regentschaft zu veranlassen.“ Groener habe abgelehnt (Mein Leben, 205). Ebert erscheint auch später noch einmal als Quasi-Monarchist, der zumindest eine Reichsverweserschaft Max von Badens gewünscht habe, die dieser jedoch ebenfalls ablehnte (Mein Leben, 212). Ausschlaggebend für den Abdankungsentschluss des Kaisers sei die Mittelung gewesen, dass die kriegsmüde Truppe nicht bereit sei, mit dem Kaiser an der Spitze gegen die Revolution zu marschieren (Mein Leben, 207). Ausführlich nimmt Viktoria Luise ihren Vater gegen den Vorwurf in Schutz, er habe sich nicht mit aller Kraft gegen den Umsturz gewehrt. „Diktatur ist Unsinn“ habe er 1918 geäußert, vielmehr habe er mit der parlamentarischen Regierung zusammenarbeiten wollen. Herangezogen wird zur Begründung für die Zurückhaltung des Kaisers zudem die Daily-Telegraph-Affäre von 1908: „Die schwere seelische Erschütterung von damals hat mein Vater nicht verwunden.“ (Mein Leben, 196). III. Eine ergänzende Perspektive auf den Weltkrieg fügt Mathilde Gräfin von Keller mit ihrem Erinnerungswerk „Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin 1881–1921“ den Memoiren der Hohenzollern hinzu. 1935 veröffentlichte sie ihre Briefe und Notizen in überarbeiteter Form. Lange Jahre war sie eine von den drei Hofdamen der Kaiserin Auguste Victoria, die aufgrund ihres frömmelnden Wesens gern als „Halleluja-Tanten“29 apostrophiert wurden. Zur Zeit des Kriegs hatte sie die 60 bereits überschritten, sie war schließlich die einzige Hofdame, die Auguste Victoria auch ins niederländische Exil begleitete. Gräfin Keller berichtet hauptsächlich über die Kaiserin und deren Wohlergehen. Bei dem Buch dürfte es sich durchaus um ein Dokument zum Wahrnehmungshorizont der Hofgesellschaft bzw. der nicht ganz einflusslosen Kaiserin handeln. 29  U. a. John C. G. Röhl: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik. München 1987, 90.



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Natürlich finden sich im Abschnitt über den Weltkrieg keine Frontberichte. Der Krieg und dessen Wahrnehmung kommen aber deutlich zum Vorschein: Die Kaiserin und folglich auch die Hofdamen sind um Besuch und Versorgung der Lazarette bemüht, was sich für die Gräfin Keller folgendermaßen darstellt: „Die Stimmung unter den Verwundeten ist prachtvoll, nie eine Klage, überall nur der Wunsch, bald gesund zu werden und wieder hinaus zu dürfen, um weiter kämpfen zu können.“ (Vierzig Jahre, 305 f.). Allerdings ist durchaus auch von „großen Leiden“ (Vierzig Jahre, 307) die Rede. Die Bemühungen der in der Bevölkerung sehr beliebten Kaiserin offenbaren zuweilen rührend-groteske Züge: Ihre besondere Fürsorge habe Kriegsblinden gegolten. Die Memoirenschreiberin Keller vermerkt, dass Auguste Victoria sehr darauf achtete, dass diesen Kranken stark duftende Blumen überreicht wurden, „damit die armen Menschen doch etwas Freude an ihnen haben könnten“ (Vierzig Jahre, 310). Weiterhin sei der Kaiserin zugetragen worden, die Blinden hätten sich beklagt, keine Bilder von der Monarchin zu bekommen. Dazu habe die Kaiserin gemeint: „Dann müssen sie auf jeden Fall eingerahmt werden, damit die Armen wenigstens die Leisten fühlen“ (Vierzig Jahre, 310). Die Kaiserin habe eigenhändig Fallobst gesammelt, das zu Saft verarbeitet wurde, den man dann in die Lazarette lieferte (Vierzig Jahre, 315). An der Abendtafel habe sich die Kaiserin Diademe und großen Schmuck verbeten – dies sei in der Kriegszeit unpassend (Vierzig Jahre, 320). Das ernsthafte soziale Empfinden Auguste Victorias steht außer Zweifel,30 doch zeigen derartige, fast zwei Jahrzehnte später in einer Veröffentlichung präsentierte Schwerpunktsetzungen deutlich den Wahrnehmungshorizont nicht nur des Umfeldes der Kaiserin, sondern auch den ihrigen – den Wahrnehmungshorizont einer Frau, die unter anderen Tirpitz unterstützte und indirekt durchaus Anteil an der Ingangsetzung des uneingeschränkten U-Bootkrieges hatte. Mathilde Gräfin von Keller applaudiert entsprechend den „ans Märchenhafte grenzenden Erfolgen unserer U-Boote“ (Vierzig Jahre, 319). Insgesamt wird auf konkrete Kampfhandlungen, die ja zumindest durch Presseberichte gegenwärtig gewesen sein dürften, wenig Bezug genommen, beispielsweise wird die „großartige Einnahme von Lüttich“ (Vierzig Jahre, 305) am Anfang nur kurz erwähnt. Neben Alltagschilderungen des Lebens der Kaiserin und einer etwas ausführlicheren Darstellung der Novembertage des Jahres 1918 fallen des Öfteren Rückbezüge auf die antinapoleonischen Befreiungskriege bzw. entsprechende Vergleiche auf – welche Mathilde 30  Dazu Erik Lommatzsch: Kaiserin Auguste Victoria (1858–1921). Die allerhöchste Sozialarbeiterin des Deutschen Reiches. In: Michael Häusler / Jürgen Kampmann (Hrsg.): Protestantismus in Preußen, Bd. III: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2013, 285–303.

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Gräfin von Keller von sich aus zieht, etwa unter dem Eindruck einer Waffenweihe in der Spandauer Garnisonkirche (Vierzig Jahre, 306, 309). IV. Nicht nur die Angehörigen des Hauses Hohenzollern und deren Umfeld, auch andere deutsche Fürsten verfassten Lebenserinnerungen, die ihren Blick auf den Ersten Weltkrieg, auf das ihnen überliefernswert Erscheinende deutlich machen. So publizierte Prinz Ernst Heinrich von Sachsen, dritter Sohn des letzten sächsischen Königs Friedrich August III. 1968, also mit sehr großem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen zwischen 1914 und 1918, seine Memoiren. Den Ersten Weltkrieg hatte er als junger Offizier erlebt. Im Unterschied zum Buch Wilhelms II. und seines Sohnes handelt es sich um „echte“ Erinnerungen, die auch über eine Reihe von privaten Erlebnissen und Bekanntschaften berichten, die von keiner erkennbaren rechtfertigenden Intention geleitet sind. Prinz Ernst Heinrich erlebte große Abschnitte des Krieges an der Front, zunächst im Westen, vorwiegend in der Champagne, dann in Flandern, später im Osten, hier insbesondere in Weißrussland und im Verlauf der sich an die Oktoberrevolution anschließenden Wirren. Als königlicher Prinz, der als möglicher „Thronersatz“ am Leben gehalten werden musste, erfolgte der Einsatz des jungen Offiziers allerdings an dezidiert ungefährlicheren Frontabschnitten – was er auch selbst einräumt. Inhaltlich erkennbar – ohne dass es so deutlich sichtbar wird wie bei Wilhelm II. – sind drei große Linien, in denen der sächsische Prinz Ernst Heinrich den Krieg nachzeichnet, und die er seinen Lesern vermitteln will. Im Übrigen verweist auch Ernst Heinrich auf die große symbolische Wirkung der angetretenen Nordlandreise des Kaisers  – zur allgemeinen Beruhigung der Lage (Lebensweg, 72). Die erste Linie ist das Anekdotische. Es handelt sich um Szenen, welche sich zumeist zu Beginn des Krieges ereigneten. Der Leser hat zunächst den Eindruck einer doch eher entspannten oder gar heiteren Veranstaltung: Berichtet wird von Euphorie in der Bevölkerung, auf einem der Waggons habe die Aufschrift „Paris muss sächsisch werden“ (Lebensweg, 73) geprangt. Der honorige Umgang mit französischen Kriegsgefangenen wird ausdrücklich hervorgehoben (Lebensweg, 76 f.). Im Winter 1914 / 15 sei es zu friedlichen Begegnungen mit Engländern zwischen den Schützengräben gekommen, diese „Idylle […] dauerte drei Wochen lang“ (Lebensweg, 77).31 Der 31  Vgl. darunter zuletzt Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg: Westfront 1914. Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München 2005.



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Prinz war von derartigen Fraternisierungsvorgängen offenbar sehr angetan. Im Gedächtnis geblieben ist ihm ebenso, dass er zwar sehr überrascht, aber nicht unerfreut gewesen sei, 1917 in Galizien zwei seiner Soldaten skatspielend mit einem Russen anzutreffen (Lebensweg, 79). Beeindruckt zeigt er sich von den englischen Fliegern, die während der Beisetzung des sächsischen Piloten Max Immelmann Kränze abwarfen (Lebensweg, 81). Von der bayerischen Landsturmbrigade, die der Division, in der auch Ernst Heinrich diente, zugeteilt war, und die sich weigerte, weiterzumarschieren, weil ihre gewohnte Bierversorgung ausblieb, habe man sich lieber getrennt – auch auf Anraten des Prinzen (Lebensweg, 94 f.). Deutlich unterschieden von den eher unterhaltsamen Geschichten oder Schilderungen von Landschaften und persönlichen Begegnungen ist – als zweite Linie – der Krieg als solcher in den Memoiren des Prinzen präsent. Es finden sich Schilderungen von Kämpfen, die zwar nicht an Ernst Jünger, Erich Maria Remarque oder Hans Carossa denken lassen, aber das HeroischLeichte des Anekdotischen doch deutlich konterkarieren. Eine zeitlich nicht näher bezeichnete Szene spielt sich vor Ypern ab: „Ich bekam den Befehl, einen englischen Bataillonsstab durch Gas zu erledigen. Die Aufgabe war mir höchst unsympathisch, aber Befehl ist Befehl […] Ich beobachtete den britischen Befehlsunterstand und schoß […] zunächst mit Reizgas und sodann mit dem tödlich wirkenden Grünkreuz, wodurch die Besatzung erledigt wurde, zu meinem Trost vermutlich sehr schnell. So merkwürdig es klingt, es war eine Genugtuung, dass der Gegner uns ebenfalls ständig nach dem Leben trachtete, sonst hätte man das Gefühl gehabt, zu morden […] Hier standen sich Menschen gegenüber, die beiderseits die leidenschaftslose Pflicht hatten, sich gegenseitig zu zerstören. Welch ein Wahnsinn!“ (Lebensweg, 99). Längere Passagen sind der Zeit nach dem Thronverzicht des sächsischen Königs, also des Vaters des Memoirenschreibers, gewidmet, dem Rückmarsch aus Weißrussland im Herbst 1918 und den Auseinandersetzungen mit den Soldatenratsvertretern – hier spielt Ernst Heinrich, nun keine königliche Hoheit mehr, allerdings stets eine durchsetzungsstarke Rolle, und es findet sich – natürlich – auch ein Soldatenratsobmann, der zum Abschied gegenüber dem Prinzen bekennt: „Ich bin wieder für die alte Ordnung und die Monarchie“ (Lebensweg, 132). Hindenburg schätzt er ausdrücklich als großen Kopf, ganz im Gegensatz zu Ludendorff (Lebensweg, 133–135). Einerseits hat Ernst Heinrich also leichte, jugendlich-abenteuerliche Schilderungen niedergeschrieben, andererseits hat er stets auch die unmittelbare kriegerische Auseinandersetzung im Blick. Doch es gibt noch eine dritte Linie – und hier könnte man eine Parallele zum Nuntius-Kapitel in den Erinnerungen Wilhelms II. ziehen. Ein vergleichsweise langes Kapitel in den Memoiren des sächsischen Prinzen steht unter der Überschrift „Der

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Friedensschritt meines Vaters“.32 Ähnlich folgenlos wie die Aufforderung des Kaisers an den Papst, sich an die Spitze einer Friedensbewegung zu setzen, blieb dieser Friedensschritt des sächsischen Königs Friedrich August III. Ernst Heinrich war auch nicht zugegen, sondern erfuhr erst viel später davon – dennoch war es ihm äußerst wichtig, das Ganze in seinen Erinnerungen darzustellen. Es handelte sich eigentlich nicht einmal um einen „Schritt“ des sächsischen Königs. Der Bundesratsbevollmächtigte Hamburgs sei im März 1918 an den König herangetreten mit der Aussage, der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen, er müsse schnell beendet werden. Dabei seien aber Zugeständnisse nötig, wie die Räumung des besetzten belgischen und französischen Gebiets, die Räumung der Reichslande Elsass-Lothringen und schließlich eine Abstimmung in Elsass-Lothringen über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder zu Frankreich oder die Bildung eines eigenen Staates. Die Aufgabe des sächsischen Monarchen sollte darin bestehen, möglichst viele Bundesstaaten für diesen Vorschlag zu gewinnen und schließlich entsprechend auf den Kaiser einzuwirken. Friedrich August III. habe sich schwer getan, vor allem der mögliche Verlust des Elsass war für ihn ein Problem. Zudem habe er Wilhelm II. nicht hintergehen wollen. Schließlich habe er sich doch entsprechend eingesetzt. Da außer den beiden Fürstentümern Reuß und Hamburg aber alle anderen Bundesstaaten an den kurz bevorstehenden Sieg im Westen glaubten, sei die Initiative im Sande verlaufen (Lebensweg, 102–106).33 Bemerkenswert ist der breite Raum, der dieser Geschichte in den Erinnerungen Ernst Heinrichs gewidmet wird. Erst 1983, also sehr lange nach dem Tod des letzten regierenden Großherzogs von Hessen Darmstadt, Ernst Ludwig, im Jahr 1937 wurden dessen Lebenserinnerungen publiziert, die er zu Beginn der 1930er Jahre auf Anregung seiner Söhne verfasst hatte.34 Eine Publikation war von ihm selbst offenbar nicht beabsichtigt. Kriegsende und Umsturz scheinen ihn, wie die meisten seiner Amtskollegen, überrascht zu haben, im Unterschied zu den anderen hier erwähnten Fürsten konnte er als ein in allen Schichten des Volkes überaus geschätzter Landesherr seine Wohnsitze – im Neuen Palais 32  Vgl. für den Zusammenhang Hans Fenske: Der Anfang vom Ende des alten Europas. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914–1919. München 2013. 33  Walter Fellmann: Sachsens letzter König Friedrich August III. Leipzig 1992, 178, macht darauf aufmerksam, dass ihm ein archivalischer Nachweis der Hamburger Initiative insgesamt und folglich auch des Einbezugs des sächsischen Königs nicht möglich gewesen sei; vgl. zuletzt Frank-Lothar Kroll: Friedrich August III. 1904–1918. In: Ders.: Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918. 3. Aufl. München 2013, 306–319, 351 f. 34  Mann: Der letzte Großherzog (wie Anm. 13), 7–18, hier 17; vgl. Manfred Knodt: Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein. Sein Leben und seine Zeit. Darmstadt 1978.



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in Darmstadt sowie im Jagdschloss Wolfsgarten – nach seinem Thronverzicht beibehalten.35 Dem Weltkrieg sind in dem kaum 160 Seiten starken, zudem reichlich mit Abbildungen versehenen Band gerade einmal fünf Textseiten gewidmet. Bei Kriegsausbruch festzustellen gewesen sei „eine Begeisterung unter der Menschheit, von der man sich keinen Begriff machen kann […] einfach frenetisch.“ Ernst Ludwig mochte sich alledem nicht anschließen, kaum auszuhalten sei es gewesen, da man wusste, sie ziehen „alle in den Tod“. Russische Spione habe man überall gesucht, was Ernst Ludwig als „Auswüchse“ bezeichnet. Auch habe man nach „russischen Autos“ gesucht, die angeblich Gold von Frankreich nach Russland transportierten, der Großherzog zeigt sich skeptisch bezüglich des Wahrheitsgehalts solcher und ähnlicher Gerüchte (Erinnertes, 146 f.). Distanz und Pessimismus sind auch bei den weiteren erinnerten Punkten vorherrschend. Die Zeit an der Front sei schwer gewesen, „da ich dem Korpskommando zugeteilt war und eigentlich nur als Zuschauer geduldet wurde.“ Wenn er seine Truppen besuchte, so blickte er in Augen, die „den Tod gesehen“ hatten, „ihre Seelen hatten Fürchterliches durchlebt“. Auch legt er Wert auf Lazarettbesuche – die Verwundeten wussten dies seiner Meinung nach sehr zu schätzen (Erinnertes, 147). Seit Sommer 1915 sei er wieder viel in Darmstadt gewesen, erinnerlich sei ihm das zum großen Teil unsinnige Hineinregieren aus Berlin, vor allem das Gebaren reaktivierter Generale. Selbst das mit Spendengeldern beschaffte Lazarettauto habe er erst nach einer Intervention bei Wilhelm II. zu seinen Truppen schicken dürfen (Erinnertes, 148). Bezüglich persönlicher Kontakte im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg hält der kulturbegeisterte und mäzenatisch tätige Großherzog lediglich zwei Namen fest: General Viktor Kühne, dessen Sprachkenntnisse und Übersetzertätigkeit er hervorhebt – sowie den Dichter Fritz von Unruh. Mit Unruh diskutierte er dessen Werke, in denen sich die Zweifel des Dichters am „großen inneren Wert dieses Abschlachtens“ niederschlugen. Ernst Ludwig führt mit ihm auch einen umfangreichen Briefwechsel und bedauert die spätere Entzweiung, deren Ursache der Wechsel von Unruhs ins Lager der Revolution gewesen sei (Erinnertes, 150 f.). V. Wie sahen sich die Depossedierten selbst? Was wollten sie ihrem Lesepublikum vermitteln? Eine tragfähige vergleichende Bilanz würde eine 35  Mann:

Der letzte Großherzog (wie Anm. 13), 16 f.

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systematische Auswertung auf Grundlage einer größeren Anzahl von Memoirenwerken erfordern. Auch wären die unterschiedliche Fallhöhe der Autoren, die Art des jeweiligen Abstandes zueinander sowie die erheblichen zeitlichen Unterschiede bei der Abfassung der Werke gesondert zu diskutieren. Dennoch sollen einige zusammenfassende Beobachtungen gewagt werden. Noch einmal sei dabei vermerkt, dass die Frage nach faktischer Belastbarkeit und Konstruktion der Darstellungen hier nicht von Relevanz ist. 1.  Frieden: Nach Zurückweisung jeglicher Beteiligung am Zustandekommen des Krieges spielen Friedenswille und Friedensbemühungen in den vorgestellten Werken eine herausragende Rolle. Betrachtet man die Quantität der Passagen, gemessen am übrigen dem Weltkrieg gewidmeten Text, und erst recht mit Blick auf die Geschichte des Krieges insgesamt, so lässt sich von einer nahezu dominanten Penetranz dieses Komplexes sprechen. Wilhelm II. schildert das Treffen mit dem Nuntius ausführlich, der Kronprinz verweist auf den Wortlaut seiner Denkschriften. Die Passage, in welcher die Kaisertochter den U-Boot-Krieg unter dem militärischen Nützlichkeitsaspekt betrachtet, ist dagegen schon fast auffällig bellizistisch. Ein Abstand zur Schilderung der Hohenzollern ist in den Memoirenwerken des sächsischen Prinzen und des hessischen Großherzogs deutlich zu erkennen. Ernst Heinrich kann dem Krieg, neben allem Grauen, jedoch auch immer noch heiter-leichte Erinnerungen abgewinnen, während bei Ernst Ludwig in den ohnehin kurzen Passagen fast eine Art pazifistische Abscheu herauszulesen ist. Ob sich der „Friedensschwerpunkt“ dabei allein als (unbewusstes) Ausweichen vor dem zumindest im Nachhinein vor Augen stehenden Schrecken der Schlachten und einem mit der ehemaligen Stellung verbundenen Verantwortungsgefühl erklären lässt, sei dahingestellt. 2.  Das unvorbereitete Deutschland: Die „Beweise“, dass das Deutsche Reich 1914 von der Gegenseite überrascht worden sei, erklären sich im Falle Wilhelms II. und des Kronprinzen mit dem Rechtfertigungsdruck. Auffällig ist jedoch die auch bei Viktoria Luise und Ernst Heinrich ausführliche Behandlung der kaiserlichen Nordlandreise, deren Symbolik – als Zeichen dafür, dass man keinesfalls einen Krieg erwartet habe – auch ex post ihr Gewicht besitzt. 3.  Die anderen Staaten: Bezüglich der Gegenseite steht besonders bei Wilhelm II., jedoch auch bei Viktoria Luise ein Staat im Vordergrund: Russland. Wilhelm II. setzt erhebliche, letztlich nicht erfüllte Hoffnungen auf den Zaren und stellt seine Versuche dar, diesen zu beeinflussen. Unterschieden wird zwischen dem Zaren, der deutschfeindlichen Partei am Zarenhof und, vor allem bei der Kaisertochter, den Revolutionären. Erklärbar ist das Herausheben des Zaren möglicherwiese mit dessen späterem Schicksal, das den Memoirenschreibern präsent war. Der Kronprinz, der bezüglich eines



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Separatfriedens nur bedingt auf das Russland des Zaren setzt, hebt England hervor. Allerdings geht es ihm um das Aufzeigen des britischen Vorbildes an nationaler Geschlossenheit – im Gegensatz zum uneinigen und daher seiner Auffassung nach viel schwächeren Deutschland. Auffällig ist in den Memoiren die Behandlung des Hauptverbündeten: Die Habsburgermonarchie findet Erwähnung als jene Macht, die für die Kriegsbeteiligung Deutschlands verantwortlich sei – und als Enttäuschung. 4.  Gedanke der Diktatur: Wilhelm II. weist indirekt, aber entschieden, alle Erwägungen zurück, er habe sich zum Kriegsende an die Spitze einer Gegenbewegung setzten sollen. Sekundiert wird er dabei von seiner Tochter, die auch erklärt, warum ihr Vater niemals ein „Diktator“ hätte sein können. Dem könnte man eine Kritik des Kronprinzen kontrastieren: Gerade der fehlende „Zivildiktator“ sei in Deutschland ein Problem gewesen – wobei es offen bleibt, ob er hier an seinen Vater dachte. 5.  Personen: Genutzt werden die Memoiren, um sich an politischen und militärischen Persönlichkeiten abzuarbeiten. Hier gibt es allerdings durchaus Differenzen. Wilhelm II. und der Kronprinz sehen in Bethmann Hollweg einen schwachen Kanzler, deutlich kritisiert wird auch das Auswärtige Amt. Viktoria Luise hingegen stellt Bethmann Hollweg ein gutes Zeugnis aus. Im Unterschied zu ihrem Vater sieht sie in Max von Baden einen gutmeinenden Getriebenen, der kaum über Entscheidungsspielräume verfügt. Lob gibt es für Tirpitz, vor allem dessen frühzeitige Warnung vor dem Krieg. Hindenburg und Ludendorff erfahren eine würdigende Nennung durch den ExilKaiser und eine Eloge des Kronprinzen, Ludendorff wird von Viktoria Luise wegen seiner Zurückhaltung bezüglich der Information über die Kriegslage zumindest vorsichtig kritisiert. Ernst Heinrich sieht Ludendorff weit hinter Hindenburg, für Ernst Ludwig ist diese Welt in seinen Erinnerungen nicht existent. 6.  Preußischer König: Das Verbleiben Wilhelms II. als preußischer König nach seiner Abdankung als Kaiser stellt sich für die Hohenzollern als reale Denkmöglichkeit dar. 7.  Die andere Welt des Krieges: Zeigen sich Ernst Heinrich und Ernst Ludwig zumindest partiell vom unmittelbaren Kriegsgeschehen abgestoßen, so bestand die Welt des Krieges für Viktoria Luise und die Kaiserin, geschildert in den Erinnerungen der Gräfin von Keller, zum großen Teil aus Wohltätigkeit im Lazarett, wobei die Verwundeten sich stets als äußerst dankbar erwiesen. Die Art der Wahrnehmung ist mitunter in einer offensichtlichen Parallelwelt angesiedelt. Das Lazarettwesen spielt auch bei Ernst Ludwig eine Rolle. Für Wilhelm II. besteht die Verhinderung von „Kriegsgreueln“ lediglich in der Rettung von Kunstschätzen.

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Man könnte es einerseits dabei belassen, die Memoiren, gerade jene mit zweifelsfrei rechtfertigender Intention, als unterhaltsame und teilweise ungewollt anekdotische Illustration zeitgenössischer oder nachträglicher Kriegswahrnehmung stehen zu lassen. Andererseits: Im Hinblick auf die Stichworte „Selbstbild“ und „Vermittlungsabsicht“ von real mehr oder weniger einflussreichen, durch ihre Prominenz aber auch nach der Abdankung wahrgenommenen Persönlichkeiten, bergen die Erinnerungen ein weit höheres Potential. Wie hier nur angedeutet werden konnte, ergibt ein Vergleich der Wahrnehmungshorizonte und Gewichtungen erhebliche Parallelen zueinander. Eine – nicht auf den Krieg beschränkte – systematische Auswertung der Erinnerungen der Depossedierten von 1918 würde jedenfalls einen nicht unwichtigen Beitrag leisten zum differenzierten Verständnis maßgeblicher politischer Entscheidungmechanismen in der Zeit des Ersten Weltkrieges und aller nachfolgenden Diskussionen über das Ende der monarchischen Herrschaftsform in Deutschland.

Modernisierung und Reaktion Zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Theorie und Praxis des Konservativismus in Deutschland Von Frank-Lothar Kroll, Chemnitz Zu den folgenreichsten Auswirkungen des Ersten Weltkriegs zählte in Deutschland, weitaus stärker als in den westlichen Siegerstaaten Frankreich und Großbritannien, die nachhaltige Zerrüttung des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges, verbunden mit einer wachsenden Erosion der parteipolitischen Lager und mit einer mentalen Radikalisierung, welche, wellenförmig voranschreitend, allmählich die gesamte Lebenswirklichkeit der Weimarer Republik erfassen sollte. Ein hervorragendes Beispiel für diese verhängnisvolle Entwicklung liefern die Formwandlungen des deutschen Nachkriegskonservativismus. Für die Vertreter des rechten politischen Spektrums waren die theoretischen und praktischen Konsequenzen der deutschen Kriegsniederlage besonders gravierend, weil hier nicht nur materieller Verlust und seelisches Leid zu beklagen, sondern – mit der Flucht Kaiser Wilhelms II. nach Holland – die Fundamente eines noch wenige Jahre zuvor für unantastbar und unverrückbar gehaltenen jahrhundertealten Staatsbaus gleichsam über Nacht in Trümmern gesunken waren. Die „neue Heimatlosigkeit“ vor allem der preußischen Konservativen in den Jahren nach 1918 hatte tiefgreifende Konsequenzen sowohl in der konservativen Theorie als auch in der Praxis konservativer Politik. Dieses Transformationsgeschehen soll hier in einem dreigliedrigen Argumentationsgang knapp skizziert werden. Zunächst (I.) ist ein Blick auf die Vorweltkriegsverhältnisse zu werfen. Das dient nicht nur der Profilierung eines Kontrastbildes zur Situation nach 1918, sondern ermöglicht überhaupt erst eine sachgemäße Einschätzung der mit dem Kriegsdebakel eingetretenen Wandlungen in ihrem Grad und ihrem Ausmaß. – Ein zweiter Abschnitt (II.) beschreibt einige maßgebliche Entwicklungsmomente, die im Krieg und durch den Krieg jene Formwandlungen vorbereiteten bzw. nach sich zogen, die dem Konservativismus in den Jahren der Weimarer Republik seine Neu-Imprägnierung verleihen sollten. – Im dritten Teil (III.) stehen dann einige dieser Formwandlungen selbst im Mittelpunkt.

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I. Die deutschen Konservativen boten im letzten Vorkriegsjahrzehnt den kläglichen Anblick einer zu keinerlei reformerischem Neubeginn fähigen Lobbyistenclique, deren politisches Credo sich in der rigiden Verfechtung und Bewahrung agrarischer Besitzstände erschöpfte. Einst, im Revolutionsjahr 1849, hatte der Gründer und langjährige Führer der Konservativen Partei Preußens, Ernst Ludwig von Gerlach, diese interessenpartikularistische Tendenz mit starken Worten angeprangert: „Bloß konservieren“, so Gerlach damals, „die negative Haltung: die Front gegen den Mist, den Rücken gegen den Ansprüche machenden Staat – das ist eine Stellung, die allenfalls dem Bauern verziehen werden kann und jetzt auch ihm nicht mehr“.1 Genau solch einer Politik hatte sich jedoch die Führung der Deutschkonservativen Partei (gegründet 1876) verschrieben, spätestens seitdem der schlesische Rittergutsbesitzer Ernst von Heydebrand und der Lasa 1911 Parteivorsitzender und bereits seit 1906 Fraktionsvorsitzender im Preußischen Abgeordnetenhaus geworden war.2 Heydebrand trieb die Deutschkonservativen zu einer systematischen Obstruktionspolitik gegenüber all jenen Regierungsvorlagen, die entweder dem agrarprotektionistischen Interessenstandpunkt der heimischen Landwirtschaft widersprachen oder den materiellen Eigennutz der Besitzenden auch nur ansatzweise einzuhegen wagten. Das betraf finanz- und steuerpolitische Entscheidungen, aber auch Wahlrechtsfragen und selbst Maßnahmen, die der Förderung des Verkehrs und der Infrastruktur dienten. Von einer positiven Einstellung gegenüber sozialpolitischen Unternehmungen, wie sie für viele Repräsentanten des preußisch-deutschen Konservativismus bis in die späte Bismarck-Zeit so bezeichnend gewesen war, konnte bei den Deutschkonservativen unter Führung Heydebrands ohnehin längst keine Rede mehr sein. Allenfalls die zweite, kleinere konservative Parteiformation, die es vor 1914 in Deutschland gegeben hat, die Freikonservative Partei (gegründet 1866), zeichnete sich durch eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber tagesaktuellen Herausforderungen aus, wie sie sich überhaupt, im Vergleich 1  Zitat bei Hans-Joachim Schoeps: Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 3. Aufl., Berlin 1964, S. 56; zum Folgenden vgl. Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2013, S. 52–56, 75–79. 2  Zur Parteigeschichte noch immer Hans Booms: Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff. Düsseldorf 1954; daneben James N. Retallack: Notables of the Right. The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876–1918. Boston 1988; zu den möglichen Reform­ potenzialen zuletzt Kirsten Heinsohn: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive. Düsseldorf 2010, S. 25–30.



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zu den Deutschkonservativen, als kompromissbereitere und von politisch originelleren Köpfen getragene Gruppierung empfahl.3 Die guten Kontakte vieler ihrer Abgeordneten zur Schwerindustrie und zu deren organisierter Interessenvertretung, dem 1876 gegründeten „Centralverband deutscher Industrieller“, verhinderten zudem eine ausschließlich agrarische Klientelfixierung dieser Partei. So war es kein Zufall, dass der einzig ernstzunehmende publizistische Versuch einer intellektuellen Erneuerung konservativen Parteidenkens – nämlich Adolf Grabowskys bildungselitäres Konzept des „Kulturkonserva­ tismus“4 – aus den Reihen der Freikonservativen hervorging. Grabowsky war seit 1912 Herausgeber der Parteizeitschrift „Das neue Deutschland“ und lehrte nach 1918 als Politikwissenschaftler in Berlin, Marburg und Gießen. Doch die Freikonservative Partei galt spätestens seit den Reichstagswahlen vom 1912, die ihr nur noch 14 Mandate und drei Prozent der Stimmen gebracht hatten, als eine im Abstieg begriffene, überdies schwach organisierte Formation. Andere, dem spätwilhelminischen Konservativismus gemeinhin zugeordnete Denkinhalte – ein expansionistischer Nationalismus etwa, oder gar ein völkisch imprägnierter Antisemitismus – waren demgegenüber eher nachgeordnet5 und in konservativen Kreisen vor 1914 zu keiner Zeit mehrheitsfähig. Bei den letzten Vorkriegs-Reichstagswahlen 1912 hatten die Freikonservativen 3 Prozent, die Deutschkonservativen 9 Prozent, beide Parteien zusammengenommen 57 von 397 Sitzen im Reichstag gewonnen. Über 80 Prozent der Stimmen waren dabei freilich in den jenseits der Elbe gelegenen preußischen Ostprovinzen sowie in den beiden mecklenburgischen Großherzogtümern, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, eingeholt worden. Im Westen, Süden und Norden des Reiches besaß der Konservativismus parteipolitisch keine Basis, hier wurde die konservative Wählerschaft entweder – wie in den preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland oder im Großherzogtum Baden – von der katholischen Zentrumspartei bedient oder – wie im Königreich Bayern oder in der preußischen Provinz Hannover – von entsprechenden Regionalparteien aufgefangen. 3  Grundlegend Matthias Alexander: Die Freikonservative Partei 1890–1918. Gemäßigter Konservatismus in der konstitutionellen Monarchie. Düsseldorf 2000, bes. S. 375 ff. 4  Adolf Grabowsky: Der Kulturkonservatismus und die Reichtagswahlen. Berlin 1912, bes. S. 5 f., 10 ff.; zu diesem Konzept eingehend Rüdiger vom Bruch: Kulturstaat – Sinndeutung von oben? (1989). Wiederabgedruckt in: Ders.: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich. Hrsg. von Christoph Liess. Stuttgart 2005, bes. S. 73 ff. 5  Vgl. die aufschlussreichen Bemerkungen bei Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. Darmstadt 2008, S. 68–83.

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Eine starke Verankerung besaß das konservative Milieu im ländlichen Raum, hier wiederum vor allem im Osten, durch den 1893 gegründeten „Bund der Landwirte“6 – einen jener gut organisierten Massenverbände des kaiserlichen Deutschlands, der im letzten Friedensjahr 1913 etwa 328.000 Mitglieder zählte und personell wie organisatorisch eng mit den Deutschkonservativen vernetzt war. Allerdings verfocht der „Bund der Landwirte“ keineswegs, wie früher vielfach behauptet wurde, nur die Interessen des ostelbischen Großgrundbesitzes.7 Fast 90 Prozent seiner Mitglieder rekrutierten sich vielmehr aus dem Kleinbauerntum, und so vertraten „Bund“ und Deutschkonservative denn auch gemeinsame landwirtschaftliche Anliegen von Bauern und Gutsbesitzern im Rahmen des von ihnen repräsentierten konservativen Agrarmilieus, das keineswegs klassenspezifisch begrenzt war. II. Dieses eingespielte und überschaubare Ordnungsgefüge des Konservativismus in Deutschland, geriet – wie alles fest und geordnet Scheinende – seit Anfang August 1914 noch nicht unbedingt ins Wanken. Aber es stand vor völlig neuartigen Herausforderungen, der Krieg eröffnete nie dagewesene Chancen und Möglichkeiten, doch er verführte auch zu Illusionen und Irrwegen, und er endete für die Konservativen speziell in einem Desaster, das die deutsche Gesamttragödie noch einmal in besonderer Weise übertreffen sollte. Wie alle politischen Gruppierungen des Reiches reihten sich auch die deutschen Konservativen ein in die Front der Burgfriedenspolitik mit ihrem Anspruch der Zurückstellung aller inneren Parteigegensätze zugunsten der nationalen Verteidigungsgemeinschaft und zu dem Zweck einer raschen und selbstverständlich sieghaften Beendigung des eher ungewollt ausgebrochenen Krieges. Eine bisher so nicht dagewesene Bündelung konservativer Denkfiguren, zugleich deren Anreicherung mit neuartigen Akzenten und 6  Zur Verflechtung von konservativen und agrarischen Interessen in diesem Zusammenhang noch immer grundlegend, aber einseitig Hans-Jürgen Puhle: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893–1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei. Hannover 1966, bes. S. 261 ff.; vgl. ferner Jens Flemming: Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890–1925. Bonn 1978. 7  So noch Hans-Jürgen Puhle: Radikalisierung und Wandel des deutschen Konservatismus vor dem Ersten Weltkrieg. In: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Deutsche Parteien vor 1918. Köln 1973, S. 165–186, hier S. 171; zutreffender hingegen Christoph Nonn: Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland. Düsseldorf 1996, S. 281–312.



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Elementen, boten jene vielerörterten „Ideen von 1914“, wie sie der Soziologe Johann Plenge,8 der Geopolitiker Rudolf Kjellén9 und der Theologe Ernst Troeltsch10 zeitgenössisch auf den Begriff brachten, und an deren Ausformung führende deutsche Gelehrte wie Max Scheler,11 Werner Sombart12 oder Friedrich Meinecke13 nicht weniger ihren Anteil hatten als prominente Politiker und Schriftsteller wie Friedrich Naumann14 oder Thomas Mann.15 Man hat die in den „Ideen von 1914“ zum Ausdruck gebrachte Geisteshaltung, nicht zu Unrecht, als spezifische Form eines „Kriegskonservatismus“ bezeichnet,16 ja im Krieg selbst eine Art Katalysator erblickt, der zu einem neuerlichen Durchdenken der Probleme des Konservativismus inspirierte – und verführte. In ihrem Kern beinhalteten die „Ideen von 1914“ ein anti-westliches, parlamentarismuskritisches und kapitalismusskeptisches Programm,17 gipfelnd im Idealbild einer „deutschen Freiheit“, einer Freiheit in der verantwortungsvollen Gebundenheit des Dienstes am allgemeinen Wohl.18 Demgemäß war der Einzelne nur dann wirklich „frei“, wenn er sich in eine als notwendig und zugleich als sinnvoll erkannte Ordnung einfügte, 8  Johann Plenge: 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1916. 9  Rudolf Kjellén: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive. Leipzig 1915. 10  Ernst Troeltsch: Die Ideen von 1914. Rede, gehalten vor der „Deutschen Gesellschaft 1914“. In: Die neue Rundschau 17 (1916), S. 605–624; ders.: Die deutsche Freiheit. Berlin 1915. 11  Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. Leipzig 1915. 12  Werner Sombart: Helden und Händler. Patriotische Besinnungen. München / Leipzig 1915. 13  Friedrich Meinecke: Die deutsche Erhebung von 1914. Stuttgart / Berlin 1914. 14  Friedrich Naumann: Die Freiheit in Deutschland (1917). In: Ders.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Verfassungspolitik. Opladen 1964, S. 445–461. 15  Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin 1918. 16  Klemens von Klemperer: Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München / Wien o. J. [1962], S. 57, 63. 17  Vgl. als instruktive Zusammenfassung Wolfgang J. Mommsen: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen „Sonderwegs“ der Deutschen. In: Ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt am Main 1990, S. 407–421. 18  Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die „deutsche Idee der Freiheit“ (1992). Wiederabgedruckt in: Ders.: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933. Frankfurt am Main 2000, S. 133–157; zum ideengeschichtlichen Traditionszusammenhang FrankLothar Kroll: Konservatismus in Deutschland nach 1945 – Probleme und Perspektiven. In: Hans Zehetmair (Hrsg.): Zukunft braucht Konservative. Freiburg / Basel /  Wien 2009, S. 12–38, hier S. 30 f.

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wenn er sich einer Lebensform verschrieb, deren Bindungen er zu akzeptieren hatte und innerhalb derer er sich seinen Fähigkeiten entsprechend entfalten konnte. Freiheit galt nicht als Freiheit von etwas – beispielsweise als bloße Abwesenheit von staatlichen Zwängen oder als Verneinung gesellschaftlicher Konventionen. Freiheit erschien vielmehr als Freiheit zu etwas hin – als Entscheidung für einen übergeordneten Wert und für eine transpersonale Institution, die diesen Wert verkörperte. Solche Auffassungen waren nicht unbedingt neu, sie waren vielmehr tief verwurzelt im Denken zahlreicher prominenter Vertreter der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, doch im Grunde auch schon von einem Autor wie Montesquieu zu Beginn des 18. Jahrhunderts eingefordert worden. Das eigentlich Neuartige an den „Freiheitsideen“ von 1914 lag vielmehr darin, dass die „deutsche Idee der Freiheit“ nunmehr der in vermeintlich hemmungslos individuellem Selbstverwirklichungswahn verkommenden „westlichen“ Freiheitskonzeption in programmatischer und deutlich denunziatorischer Absicht entgegengestellt wurde.19 Man verwarf kategorisch jene, wie man meinte, „mechanistisch-egalitäre demokratische Ideologie“ englischen und französischen Zuschnitts, „die ausschließlich auf materialistischer Grundlage ruhe“20 und dem utilitarischen Erwerbsstreben des Einzelnen auf Kosten der gesellschaftlichen Solidargemeinschaft aller unbegrenzte Möglichkeiten eröffne. Zusätzliche Breitenwirkung gewannen die „Ideen von 1914“ darüber hinaus durch ihre Verbindung mit anderen spezifischen Merkmalen der deutschen Verfassungsordnung. Zu diesen besonderen Merkmalen zählte, nicht zuletzt, die Hochschätzung der monarchischkonstitutionellen Regierungsform, die, angesichts der stets bedrohten und gefährdeten geographischen Mittellage des Reiches, eine straffe, kraftvoll gebündelte Staatsführung ermögliche.21 Hinzu trat die Bevorzugung einer von den Funktionsträgern der Ministerialbürokratie dominierten Exekutive, die durch ihre im Idealfall von Parteieinflüssen weitgehend unabhängige Stellung die Machtansprüche des Reichstags ausbalanciere und deren fundiertes Sachwissen ein am Gemeinwohl orientiertes Handeln jenseits sozia19  Zu dieser Entgegensetzung vgl. speziell Klaus von See: Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg. Frankfurt am Main 1975; Barbara Besslich: Wege in den „Kulturkrieg“. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, bes. S.  16 ff. 20  Mommsen: Die „deutsche Idee der Freiheit“ (wie Anm. 18), S. 145. 21  So die repräsentative zeitgenössische Argumentation führender deutscher Historiker, etwa bei Otto Hintze: Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten (1914). Wiederabgedruckt in: Ders.: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 359–389, oder bei Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung. Berlin 1914, bes. S. 181 f.



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ler Bruchlinien und politischer Gegensätze garantiere.22 In der Zusammenschau solcher und anderer Besonderheiten gerieten die „Ideen von 1914“ zu einem großangelegten konservativen Manifest zur Verteidigung der tradierten Vorzüge der deutschen politischen Kultur gegenüber den parlamentarischen Verfassungsordnungen des „Westens“.23 Eine andere, in ihren Konsequenzen gleichermaßen folgenreiche Formwandlung konservativen Denkens (und Handelns) im Krieg lag in der erstaunlich rasch vollzogenen Annäherung zwischen Konservativismus und Sozialismus. Entsprechende Berührungspunkte und Verbindungslinien waren vereinzelt bereits im mittleren 19. Jahrhundert ans Licht getreten. Führende Köpfe aus dem Lager der preußischen Konservativen hatten damals kühne Konzepte zur Lösung der Sozialen Frage entwickelt, um die Arbeiterschaft auf evolutionärem Weg, ohne einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, in den monarchischen Staat zu integrieren.24 Nun, in der fundamentalen Existenzkrise des Reiches, gelangten solche Erwägungen zu erneuertem Ansehen. Die kriegswirtschaftlich bedingte Konzentration aller verfügbaren Kräfte ließ eine Hintanstellung von Parteidenken und Klassenegoismus ratsam erscheinen, sie verlangte nach nationaler Solidarität, und sie ließ die später von Autoren wie Sigmund Neumann oder Panajotis Kondylis konstatierte „Kongruenz menschlichen Verhaltens im Konservatismus und Sozialismus“25 in einem konservativ grundierten „Kriegssozialismus“ Gestalt gewinnen.26 Zu den führenden Vertretern dieses fragilen „Bündnis[ses] eines geläuterten Konservatismus mit einem gemäßigten Sozialismus“27 zählten damals 22  Dazu zeitgenössisch erneut repräsentativ Otto Hintze: Der Beamtenstand. Dresden 1911 (Neudruck Darmstadt 1963). 23  Dazu die sehr anregende Skizze von Klaus Hildebrand: Der Westen. Betrachtungen über einen uneindeutigen Begriff. In: Dieter Hein / Klaus Hildebrand / Andreas Schulz (Hrsg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70.  Geburtstag. München 2006, S. 595–603. 24  Darüber jetzt ausführlich Frank-Lothar Kroll: Die Idee eines sozialen Königtums im 19. Jahrhundert. In: Ders. / Dieter J. Weiss (Hrsg.): Inszenierung oder Legitimation? / Monarchy and the Art of Representation. Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich. Berlin 2015, S. 111–140. 25  So Sigmund Neumann: Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert. Berlin 1928, S. 74; vgl. Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, S. 432–446. 26  Zur Vorbildfunktion „kriegssozialistischer“ Planungen und Maßnahmen für die Zeit nach 1918 vgl. vor allem Steffen Bründel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. 27  Rudolf Wissell / Wichard von Moellendorff: Wirtschaftliche Selbstverwaltung. Zwei Kundgebungen des Reichswirtschaftsministeriums. Jena 1919, S. 24.

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Walther Rathenau als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Preußischen Kriegsministerium und sein Mitarbeiter Wichard von Moellendorff, beide waren sich einig im Blick auf die Notwendigkeit einer „vom Staat garantierten Harmonisierung der wirtschaftlichen Interessen“28 und einer Unterordnung der privaten ökonomischen Tagesbedürfnisse unter die aktuellen Erfordernisse des kriegsbedingt aufs stärkste gefährdeten Allgemeinwohls. Die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse sollten bei alledem freilich ebenso wenig angetastet werden wie die privatwirtschaftliche Ordnung insgesamt. Moellendorff hat solche Ideen zu einer nichtkapitalistischen „Deutschen Gemeinwirtschaft“ 1916 in einer Schrift gleichen Titels propagiert und auch andernorts publizistisch artikuliert.29 Immerhin versuchte er ab November 1918 in seiner neuen Stellung als Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt, unterstützt vom sozialdemokratischen Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell, derart „gemeinwirtschaftliche“ Positionen praktisch zu realisieren.30 Die ihm dabei von prominenten Vertretern des rechten Flügels der deutschen Sozialdemokratie gewährte Schützenhilfe – etwa von Heinrich Cunow,31 Konrad Haenisch,32 Paul Lensch33 oder August Winnig,34 die in ihrer Kriegszeitschrift „Die Glocke“ schon seit 1915 explizit einem „nationalen Sozialismus“ im Rahmen der deutschen „Volksgemeinschaft“ das Wort redeten35 – vermochte seine Demission im Juni 1919 freilich nicht zu verhindern. 28  So treffend bei Armin Mohler / Karlheinz Weissmann: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 6., völlig überarbeitete und erweiterte Aufl., Graz 2005, S. 61. 29  Wichard von Moellendorff: Deutsche Gemeinwirtschaft. Berlin 1916; Ders.: Von Einst zu Einst. Der alte Fritz, J. G. Fichte, Freiherr vom Stein, Friedrich List, Fürst Bismarck, Paul Lagarde über Deutsche Gemeinwirtschaft. Jena 1917; Ders.: Konservativer Sozialismus. Aufsätze aus der Zeit von 1912 bis 1922. Hrsg. und eingeleitet von Hermann Curth. Hamburg 1932. 30  Für den Zusammenhang vgl. instruktiv David E. Barclay: A Prussian So­ cialism? Wichard von Moellendorff and the Dilemmas of Economic Planning in Germany 1918–1919. In: Central European History 11 (1978), S. 50–82; ferner Ders.: Rudolf Wissell als Sozialpolitiker 1890–1933. Berlin 1984, S. 75–142, bes. S.  84 ff. 31  Vgl. Heinrich Cunow: Parteizusammenbruch? Ein offenes Wort zum inneren Parteienstreit. Berlin 1915. 32  Vgl. Konrad Haenisch: Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkrieg. Berlin 1915. 33  Vgl. Paul Lensch: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück. Berlin / Leipzig 1916. 34  Vgl.  August Winnig: Zur Neuorientierung der deutschen Sozialdemokratie. Berlin-Karlshorst 1916. 35  Dazu die vorzügliche Darstellung von Stefan Vogt: Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945. Bonn 2006, bes. S. 27–50.



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Weitgehend unberührt und relativ unbeeinflusst von solchen zukunftweisenden Konzeptionen und Visionen zeigte sich hingegen die überwiegende Mehrheit des traditionell konservativen Milieus, deren populäre Stichwortgeber und Meinungsführer – allen voran Politiker wie Wolfgang Kapp, Alfred von Tirpitz und Heinrich Class, Schriftsteller wie Ludwig Thoma, Historiker wie Johannes Haller oder Industrielle wie Wilhelm von Siemens  – im September 1917 die „Deutsche Vaterlandspartei“ ins Leben riefen – eine Sammlungsbewegung der politischen Rechten, die zum Kampf gegen jeden maßvollen Verständigungsfrieden und zur kompromisslosen Weiterführung einer expansionistischen Kriegszielpolitik antrat. Eine hemmungslose publizistische Agitation vermochte dieser Gruppierung innerhalb kürzester Zeit über 1,2 Millionen Mitglieder zuzuführen.36 Mit alledem offenbarten sich bereits im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs jene Bruchlinien und Differenzen zwischen „altem“ und „neuem“, zwischen „restaurativem“ und „revolutionärem“ Konservativismus, wie sie für die Zeit nach 1918 bestimmend werden sollten: Modernisierung und Reaktion, als gleichermaßen offenstehende Perspektiven konservativer politischer Theorie und Praxis im Deutschland der Weimarer Republik. Im „ausgleichenden Klima des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates“37 waren solche Dichotomien noch relativ mühelos überbrückt worden, nicht zuletzt zusammengehalten durch die Person des Staatsoberhauptes, Kaiser Wilhelms II., dessen Charisma moderne und antimoderne Gesinnungen und Sehnsüchte gleichermaßen virtuos zu bedienen vermochte, übrigens nicht nur im konservativen Lager. Der Weltkrieg hatte alle diese Elemente der Mäßigung stillgelegt beziehungsweise hinweggefegt. Sein für Deutschland allgemein und für die preußisch-deutschen Konservativen im Besonderen so überaus unglückliches Ende, gipfelnd in der Preisgabe der Monarchie, der Einführung der ungeliebten republikanischen Ordnung und der Katastrophe des Versailler Friedensdiktats, brachte vollkommen neuartige Herausforderungen und verlangte nach entsprechenden Antworten, deren Variationsbreite, verglichen mit den vor 1914 in Deutschland kursierenden Deutungsangeboten, ein nicht unerhebliches Ausmaß besaß. III. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs am 9. November 1918 fanden sich die Hauptvertreter der politischen Rechten zunächst erstaunlich 36  Dazu grundlegend Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1997. 37  So treffend Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 183.

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rasch, bereits ab Mitte Dezember, zum Zusammenschluss in einer großen Sammlungsbewegung bereit, der Deutschnationalen Volkspartei. Sie nahm Deutsch-Konservative, Freikonservative, national und christlich-sozial Gesinnte, doch auch Repräsentanten des alldeutschen, des völkischen und des antisemitischen Spektrums in sich auf. Die Partei bediente – zweifellos – von Anfang an starke restaurative Sehnsüchte,38 war sich jedoch unter ihren beiden profilbildenden Vorsitzenden Oskar Hergt (von 1918 bis 1924) und Kuno Graf Westarp (von 1926 bis 1928) durchaus bewusst, dass die Forderung nach einer schlichten Rückkehr zu den Zuständen der Kaiserzeit illusionär war, und dass dem Ziel einer Mobilisierung breiter Wählerschichten mit werbewirksameren Botschaften zugearbeitet werden musste. So besaß denn auch, beispielsweise, das in Punkt 4 des Parteiprogramms von 1920 abgelegte Bekenntnis zur Monarchie39 weithin einen formelhaft-deklamatorischen Charakter, ohne realpolitischen Anspruch im Sinne konkret ins Auge gefasster Restaurationsziele. Auch andere Grundsatzbekundungen der Partei – etwa das Bekenntnis zum Föderalismus, zum „organischen“ Staatsgedanken, zum „berufsständischen“ Prinzip oder zur Bindekraft des „Volkstums“ – verwiesen in ihrer Unverbindlichkeit nicht von vorneherein auf eine kompromisslose Ablehnung der im November 1918 ins Leben getretenen Neuordnung.40 In den Anfangsjahren der Republik weigerte sich die 38  Für die Frühzeit der Partei noch immer brauchbar Werner Liebe: Die Deutschnationale Volkspartei 1918–1924. Düsseldorf 1956; daran zeitlich anschließend Manfred Dörr: Die Deutschnationale Volkspartei 1925–1928. Marburg 1964; zuletzt umfassend Maik Ohnezeit: Zwischen „schärfster Opposition“ und dem „Willen zur Macht“. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in der Weimarer Republik 1918– 1928. Düsseldorf 2011. 39  „Die monarchische Staatsform entspricht der Eigenart und geschichtlichen Entwicklung Deutschlands. Über den Parteien stehend verbürgt die Monarchie am sichersten die Einheit des Volkes, den Schutz der Minderheiten, die Stetigkeit der Staatsgeschäfte und die Unbestechlichkeit der öffentlichen Verwaltung. Die deutschen Einzelstaaten sollen freie Entschließung über ihre Staatsform haben; für das Reich erstreben wir die Erneuerung des von den Hohenzollern aufgerichteten deutschen Kaisertums“; zitiert nach W. Liebe (wie Anm. 38), S. 112 f.; vgl. Walter M. Kaufmann: Monarchism in the Weimar Republic. New York 1953, S. 53 ff., 61 ff.; ferner Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen: Zur Beurteilung des Monarchismus in der Weimarer Republik. In: Gotthard Jasper (Hrsg.): Tradition und Reform in der deutschen Politik. Frankfurt am Main 1976, S. 138–185. 40  Die „Chancen der DNVP, […] einen systemintegrierten Konservatismus“ auszubilden und Mitte der 1920er Jahre den Weg zur vorsichtigen Bejahung der Weimarer Staatsordnung einzuschlagen, betont zuletzt nachdrücklich Thomas Mergel: Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932. In: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 323–368, hier S. 323; dagegen argumentiert Manfred Kittel: „Steigbügelhalter Hitlers“ oder „stille Republikaner“? Die Deutschnationalen in neuerer politikgeschichtlicher und kulturalistischer Perspektive. In: Hans-Christof Kraus / Thomas



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Parteileitung zunächst, antisemitische Positionen offiziell in ihr Programm aufzunehmen und zwang die Hauptwortführer solcher Positionen zum Verlassen der DNVP, welchem Schritt sich 1922 die Etablierung der Deutschvölkischen Freiheitspartei verdankte.41 Nach dem Wahlsieg von 1924 kam es bis 1925, und dann erneut, von 1927 bis 1928, sogar zur Beteiligung an bürgerlichen Koalitionsregierungen der Republik; und schon in den Jahren zuvor hatten DNVP-Politiker verschiedentlich als Chefs einzelner Länderregierungen amtiert, etwa in Mecklenburg-Strelitz (Karl Schwabe, von 1923 bis 1928) und in Württemberg (Wilhelm Bazille, von 1924 bis 1928). Dann freilich, im Oktober 1928, wurde der kompromiss- und kooperationsbereite, auf partielle Mitwirkung innerhalb der Grenzen des parlamentarischen Systems bedachte Graf Westrap durch Alfred Hugenberg im Parteivorsitz abgelöst.42 Hugenbergs Fundamentalopposition gegen die Weimarer Ordnung und sein unverbesserlich reaktionärer Starrsinn führten die Partei seitdem nicht nur von einer Wahlniederlage zur anderen, sondern provozierten auch mehrfache Abspaltungen und konservative Konkurrenzgründungen – so 1928 die „Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkspartei“ (1928: 9; 1930: 19 Mandate);43 so 1929 den um ein betont evangelisches Sozialprogramm bemühten „Christlich-Sozialen Volksdienst“ (1930: 14; 1932: 3 Mandate);44 so, gleichfalls 1929, die „Volkskonservative Vereinigung“ (seit 1930 als „Konservative Volkspartei: 4 Mandate),45 die sich als Partei eines „neuen“, bewusst sozial verantworteten Konservativismus verstand und tatsächlich zahlreiche konservative Intellektuelle der jüngeren Generation an sich zu binden vermochte. Nicklas (Hrsg.): Geschichte der Politik. Alte und neue Wege. München 2007, S. 201–235, bes. S. 203 ff. 41  Den dazu führenden Entwicklungsprozess beschreibt ausführlich Jan Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen 1918–1922. 2 Bde. Frankfurt am Main 1981, bes. S. 451–471; vgl. ferner, mit allerdings grenzverwischender Akzentsetzung Geoff Eley: Konservative und radikale Nationalisten in Deutschland. Die Schaffung faschistischer Potentiale 1912–1928. In: Ders.: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland. Münster 1991, S. 209–247. 42  Dazu, vor allem mit Blick auf dessen Beziehung zum rechtsintellektuellen Spektrum, noch immer gültig Heidrun Holzbach: Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP. Stuttgart 1981, S. 154–165. 43  Dazu Markus Müller: Die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei 1928–1933. Düsseldorf 2001. 44  Dazu Günter Opitz: Der Christlich-soziale Volksdienst. Versuch einer protestantischen Partei in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1969. 45  Dazu Erasmus Jonas: Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung. Düsseldorf 1965.

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Damit waren, spätestens seit 1929, die seit langem virulenten Differenzen zwischen dem „alten“, wilhelminischen Vorkriegs-Konservativismus einerseits und den „jungen“, durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs imprägnierten Vertretern der sogenannten Konservativen Revolution andererseits unübersehbar ans Licht getreten.46 Nun erst, zumal in der Rückschau, offenbarten sich die mentalen Langzeitfolgen des Weltkriegsgeschehens für den deutschen Konservativismus in ihrem ganzen Ausmaß. Drei Gesichtspunkte erlangten hier ein besonderes Gewicht. Erstens: Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem äußerst unrühmlichen Abgang seines einst bewunderten und verehrten höchsten Repräsentanten waren die preußisch-deutschen Konservativen, beinahe über Nacht, in eine Lage versetzt worden, in der sie jenen konservativen Denkern und Politikern ähnelten, die nach 1789, durch die gewaltsame Beseitigung des Ancien Régimes und die nachfolgenden revolutionären Turbulenzen fundamental herausgefordert, erstmals zu einer umfassenden theoretischen Profilierung und Präzisierung ihrer bisher weithin unangefochtenen und für sicher gehaltenen Positionen gezwungen waren. So hatte sich damals jene oft beschriebene konservative Intellektuellenszene formiert,47 deren Repräsentanten in den Jahrzehnten nach 1815 zu tragenden Säulen der in Wien restaurierten Friedensordnung Alteuropas avancierten. Ein Jahrhundert später, nach den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs und dem erneuten Untergang einer zuvor festgefügten politischen Ordnung, standen deren exponierteste Verfechter, die preußisch-deutschen Konservativen, ebenfalls vor der Notwendigkeit, ihre Stellung zu den gewandelten politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten neu zu definieren, d. h. entweder auf die gegen ihren Willen erfolgte Umwälzung bloß zu reagieren oder die eingetretenen Veränderungen im Sinne einer Reform- und Modernisierungschance zu nutzen. Diese beiden Möglichkeiten begründeten den von Klemens von Klemperer schon 1957 konstatierten Unterschied „zwischen dem alten schwarz-weiß-roten Konservatismus und einem neuen Konservatismus“,48 dessen Konturen sich seit Mitte der 1920er Jahre immer deutlicher abzuzeichnen begannen. 46  Zu entsprechenden Differenzen vgl. bereits Jens Flemming: Konservatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung“. Konservative Kritik an der Deutschnationalen Volkspartei 1918–1933. In: Dirk Stegmann / Bernd-Jürgen Wendt / Peter-Christian Witt (Hrsg.): Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Bonn 1983, S. 295–331. 47  Unverändert maßgeblich die Darstellung von Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1973, bes. S. 502 ff., 633 ff. 48  K. von Klemperer: Konservative Bewegungen (wie Anm. 16), S. 88.



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Zweitens: Diese Neuformierung konservativen Denkens, das, vielfältig differenziert, durch weitverzweigte publizistische Aktivitäten ebenso hervortrat49 wie es durch eng miteinander verflochtene informelle Netzwerke aktiv war – etwa durch Zeitschriften wie „Das Gewissen“, „Der Ring“, „Die Tat“, „Deutsches Volkstum“, oder im Rahmen verschiedener Bünde, Kreise und Clubs50 – führte zu einer starken Präsenz rechter Ideologien im intellektuellen Deutungsdiskurs des Weimarer Staates.51 Demgegenüber blieb der direkte tagespolitische Einfluss der konservativen DNVP auf Reichsebene, zumindest bis zu den Septemberwahlen von 1930, relativ eng begrenzt – auf Länderebene konnten ihre Repräsentanten, wie erwähnt, zwar in einigen Fällen Regierungsverantwortung übernehmen, doch in Preußen, dem bei weitem größten und bedeutendsten Reichsland, stellte die DNVP-Fraktion eine mitunter zwar starke, aber oftmals doch nur in der Negation von sich Reden machende und stets regierungsferne Gruppierung dar. Eine solche Gemengelage wiederum schuf Distanz zu den jungkonservativen Intellektuellen, deren Führungsanspruch von den etablierten parteipolitischen Instanzen nicht angemessen bedient und erst recht nicht befriedigt werden konnte. Die Weimarer Rechtsintellektuellen führten ihre Diskussionen daher vornehmlich in elitären Gesprächszirkeln, sie versuchten durch Zeitschriftenartikel oder durch Buchveröffentlichungen zu wirken, doch sie agierten letztlich in einem insgesamt eher metapolitischen Raum.52 Weitgehend unberührt von solchen Bruchlinien blieb im Übrigen das konservative Milieu 49  Repräsentativ hierfür das umfängliche Sammelwerk von Arthur Moeller van den Bruck / Heinrich von Gleichen / Max Hildebert Boehm (Hrsg.): Die neue Front. Berlin 1922, mit Beiträgen der meisten nach 1918 maßgeblichen jungkonservativen Intellektuellen. 50  Dazu neuerdings die beiden gleichermaßen vorbildlichen Netzwerkanalysen von Claudia Kemper: Das „Gewissen“ 1919–1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen. München 2001, bes. S. 249 ff. (Verhältnis zur DNVP), und André Postert: Von der Kritik der Parteien zur außerparlamentarischen Opposition. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalsozialismus. Baden-Baden 2014, bes. S. 21 ff. 51  Vgl. neben dem „Klassiker“ von Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1983, bes. S. 93–111 (Bedeutung des Kriegserlebnisses), vor allem Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993, bes. S. 25 ff. 52  Dies betont nachdrücklich Raimund von dem Bussche: Konservativismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen. Heidelberg 1998, reklamiert jedoch eine derart „unpolitische“ Haltung für den gesamten deutschen Nachkriegskonservativismus und nivelliert damit die Differenzen zwischen den pragmatisch-parteigebundenen Kräften innerhalb der DNVP einerseits und dem revolutionären Jungkonservativismus vieler Intellektueller andererseits; zum Problem allgemein Louis Dupeux: Die Intellektuellen der „Konservativen Revolution“ und ihr Einfluß zur Zeit der Weimarer Republik. In: Walter Schmitz / Clemens Vollnhals (Hrsg.):

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in den überwiegend agrarisch geprägten östlichen Regionen des Reiches,53 aber etwa auch in Bayern.54 Drittens: Das Kriegserlebnis verstärkte – wie bei fast allen Angehörigen der zwischen 1890 und 1900 geborenen, vielfach der Jugendbewegung zuzurechnenden „Frontkämpfergeneration“55 – auch im Lager der deutschen Konservativen nicht nur den Willen und die Bereitschaft, radikale, notfalls jederzeit gewalttätige Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele in Erwägung zu ziehen.56 Es erfüllte darüber hinaus fast alle namhaften Vertreter des Weimarer Jungskonservativismus mit einer oftmals zwar höchst unklaren, dafür aber umso selbstbewusster vorgetragenen „sozialistischen“ Gesinnung, die freilich mit dem tradierten Sozialismus der Linksparteien wenig gemeinsam hatte. Die vierjährige „Frontgemeinschaft des Schützengrabens“, mit ihrem Solidarisierungsdruck, hatte alle überlieferten Schranken, auch alle Standes- und Klassenunterschiede, eingeschmolzen und lieferte das Vorbild für eine anzustrebende „Volksgemeinschaft der Überlebenden“, in der jedes nicht durch Arbeit oder Leistung erworbene Privileg hinfällig war, und in der alle Bevölkerungsschichten, auch und gerade die Arbeiterschaft, aktiv am Gemeinwohl zu partizipieren hatten. Das aber sollte eben nicht im Rahmen des marxistischen Internationalismus, sondern auf „nationaler“ Ebene realisiert werden. Als Vorbild dienten dafür jene interventionistischen Maßnahmen, mit denen die Reichsleitung während des Ersten Weltkriegs Wirtschaft und Gesellschaft auf die Bedürfnisse und Anforderungen des Krieges hin zu ordnen versucht hatte. Ein „deutscher“,57 ein Völkische Bewegung, Konservative Revolution, Nationalsozialismus. Aspekte einer politischen Kultur. Dresden 2005, S. 3–19. 53  Dazu die Fallstudie von Frank Bösch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960). Unter Mitarbeit von Helge Matthiesen. Göttingen 2002, S. 57 ff., 93 ff. 54  Dazu bereits die ältere Studie von Friedhelm Mennekes: Die Republik als Herausforderung. Konservatives Denken in Bayern zwischen Weimarer Republik und antidemokratischer Reaktion (1918–1925). Berlin 1972, bes. S. 60–72, 187–190. 55  Zur Bedeutung des gemeinsamen „Generationenerlebnisses“ vgl. sehr erhellend Carsten Kretschmann: Generation und politische Kultur in der Weimarer Republik. In: Hans-Peter Becht / Carsten Kretschmann / Wolfram Pyta (Hrsg.): Politik, Kommunikation und Kultur in der Weimarer Republik. Heidelberg / Basel 2009, S. 11–30; zur „Generation von 1914“ in diesem Zusammenhang ferner wichtig Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000, bes. S. 374–384. 56  Vgl. zum Grundsätzlichen vorzüglich und perspektivenreich Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg. Essen 2001, bes. S. 220 ff. 57  So später Werner Sombart: Deutscher Sozialismus. Berlin-Charlottenburg 1934, bes. S. 160–170, 176–243.



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„preußischer“,58 ein „nationaler“59 Sozialismus sollte, in „konservativer“ Interpretation, das Traumziel sozialer Gerechtigkeit für das eigene Volk einlösen. Wege und Möglichkeiten zur Realisierung dieses Zieles blieben freilich vollkommen vage und unbestimmt. Der Vieldeutigkeit des jungkonservativen Projekts einer Versöhnung von „Nation“ und „Sozialismus“ entsprach die erstaunliche, erst unlängst überzeugend nachgewiesene Resonanz,60 die dieses Projekt zeitgleich bei jenen jungen Vertretern der Weimarer Sozialdemokratie erlangte, deren aus generationellem Gleichklang erwachsene gemeinsame Erlebniswelt die Erfahrungen des „Kriegssozialismus“ als bindende Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft empfand. Die Repräsentanten dieser im „Hofgeismarer Kreis“ zusammengeschlossenen sozialdemokratischen „Jungen Rechten“, die in den „Neuen Blättern für den Sozialismus“ ihr publizistisches Sprachrohr besaßen,61 wussten sich, trotz aller sonstigen Differenzen, mit ihren jungkonservativen Antipoden in der Überzeugung einig, „dass der Sozialismus die Bedeutung der Nation und des Volkes gerade auch für seine eigenen Ziele endlich erkennen und deshalb den Klassenkampf zukünftig als revolutionären Kampf des Volkes um seine nationale Befreiung verstehen müssen […], dass der Sozialismus [daher] einen starken oder gar autoritären Staat fordern solle, dessen politisches System sich vom liberalen Parlamentarismus deutlich zu unterscheiden und stattdessen Elemente des Führerprinzips in sich aufzunehmen habe“.62 Es zählt zu den verhängnisvollen Fehlentwicklungen in der späten Geschichte der Weimarer Demokratie, dass diese mit so großem Elan und Engagement vorgetragene „Volksstaatskonzeption“,63 in der man mit guten 58  So Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus. München 1919, bes. S. 22– 25, 66, 97 ff. 59  So Rudolf Jung: Der nationale Sozialismus, 3. Aufl., München 1922. 60  Vgl. S. Vogt: Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie (wie Anm. 35), bes. S. 27 ff., 78 ff., 156–175. 61  Dazu die Dokumentation von Martin Martiny: Die Entstehung und die politische Bedeutung der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ und ihres Freundeskreises. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 573–419, sowie speziell Stefan Voigt: Der Antifaschismus der sozialdemokratischen Jungen Rechten. Faschismusanalysen und antifaschistische Strategien im Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus“ in den letzen Jahren der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 990–1011. 62  S. Vogt: Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie (wie Anm. 35), S. 254. 63  Ebd., 256; zu deren ideengeschichtlicher Herleitung jetzt instruktiv Wolfgang Hardtwig: Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat. In: Detlef Lehnert (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1930–1938. Köln / Weimar / Wien 2013, S. 227–253; vgl. ferner Frank-Lothar Kroll: „Volksgemeinschaft“. Zur Diskussion

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Gründen das für den deutschen Nachkriegs-Konservativismus vielleicht gewichtigste und zukunftweisendste Langzeitresultat des Weltkriegsgeschehens erblicken mag, nur wenige Jahre später von einer politischen Strömung vereinnahmt und deformiert werden sollte, die nicht nur diese Konzeption restlos diskreditierte, sondern auch den preußisch-deutschen Konservativismus zum endgültigen Untergang verurteilte.

über einen umstrittenen Integrationsfaktor nationalsozialistischer Weltanschauung (2013). Wiederabgedruckt in: Ders.: Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner. Berlin 2017, S. 125–141, mit der maßgeblichen Literatur.

Stadt und Garnison  – Ereignis und Erinnerung am Beispiel von Chemnitz Von Ulrich Hertel, Chemnitz Bis zum Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 erlebte Chemnitz eine bewegte Militärgeschichte. Die Stadt, die im Südwesten von Sachsen liegt und auch heute noch als das „Tor zum Erzgebirge“ bezeichnet wird, erreichte ihren Wirtschafts- und Bevölkerungszenit um das Jahr 1930. Wie alle großen und mittelgroßen deutschen Städte, diente Chemnitz über viele Jahrhunderte hinweg militärischen Einheiten als Garnison. Der Begriff hat seinen Ursprung in dem französischen Wort „garnir“, das mit „belegen“ oder „schmücken“ übersetzt werden kann. Die Städte wurden also dauerhaft mit Truppen „belegt“, denn die vorübergehende Unterbringung von militärischen Einheiten machte einen Ort noch nicht zur Garnison, zumal die dauerhafte Präsenz von Soldaten starken Einfluß auf die städtische Entwicklung hatte, was bei durchziehenden Verbänden nicht der Fall war.1 Im Falle von Chemnitz wurde das Stadtbild erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nachhaltig durch das anwesende Militär geprägt, obwohl die Garnison bereits seit Mitte des 17. Jahrhunderts bestand. Der erste Beleg für deren dauerhafte Unterbringung stammt aus dem Jahr 1644, als Kurfürst Johann Georg I. (1585–1656) dort die Stationierung von 100 Soldaten und 17 Offizieren und Unteroffizieren verfügte. Die weitere Entwicklung war in der Folgezeit von ständig wechselnden Belegungen, Einquartierungen, Neu- und Umbauten gekennzeichnet, bis Chemnitz 1914 als fertiggestellter Divisionsstandort über zwei Infanterieregimenter, ein Ulanenregiment und mehrere kleinere Einheiten anderer Waffengattungen verfügte. Hier soll zunächst auf die Geschichte der drei Regimenter eingegangen und deren Verbindung zur Stadt dargelegt werden. Im zweiten Teil der Darstellung wird die Rolle der Garnison während des Ersten Weltkrieges betrachtet, bevor abschließend das Augenmerk der Chemnitzer „Militärerinnerungskultur“ gilt.

1  Vgl. Henning Roet de Rouet: Frankfurt am Main als preußische Garnison. Von 1866 bis 1914. Frankfurt am Main 2016, 12 ff.

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I. Zur Geschichte der Chemnitzer Regimenter Im Jahr 1910 verteilten sich die Einheiten des deutschen Heeres auf 449 Garnisonen. Die Rekruten wurden zum größten Teil aus den Städten selbst oder zumindest aus deren Umfeld gezogen, sodass sich die Soldaten relativ leicht mit ihren Garnisonsorten identifizieren konnten und das öffentliche Leben sehr stark mitprägten. Paraden und Militärkapellen gehörten ebenso zum alltäglichen Stadtbild wie Uniformierte in den Läden und Geschäften. Zudem stellten die Soldaten einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar. Auf der einen Seite verschafften die Offiziere, die für ihre Uniformen selbst Sorge zu tragen hatten, dem Schneider-, Leder- oder Helmgewerbe gute Umsätze. Auf der anderen Seite verhalfen die Mannschaften Restaurant- und Kneipenbesitzern zu anständigen Gewinnen. Natürlich zogen die Kasernen auch unzählige Prostituierte an, was mancherorts als negativer Nebeneffekt geduldet, andernorts allerdings sogar verboten wurde.2 Der Garnisonsstatus war folglich für die Kommunen, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht, ein Glücksfall,3 wobei die Größe der Garnison – bis auf wenige Ausnahmen, etwa Metz – von der Größe der Stadt abhing und davon, ob neben den Einheiten auch Brigade- oder Divisionsstäbe vergarnisoniert waren. Bereits in den Jahren vor 1914 betrieben die großen europäischen Mächte umfassende Rüstungsprogramme. Neben der Modernisierung der Waffensysteme stand dabei die Aufstockung der Personalstärke der eigenen Streitkräfte im Vordergrund.4 Gerade dieser letztgenannte Punkt hatte für das Kaiserreich Priorität. Innerhalb weniger Jahre nachdem Otto von Bismarck den Kanzlerstuhl hatte räumen müssen, hatte sich das europäische Bündnissystem derart verschoben, dass Deutschland Gefahr lief, bei einem bewaffneten Konflikt ohne einen gewichtigen Verbündeten auskommen zu müssen. Dementsprechend sah das 1893 verabschiedete Wehrgesetz eine beachtliche Aufstockung der Truppenstärke und des Militärhaushalts vor.5 Im Zuge dessen mussten die Garnisonen den neuen Anforderungen angepasst und umfassend ausgebaut werden. Dies war auch in Chemnitz der Fall. Zunächst 2  Seitens des Militärs wurden beispielsweise Verordnungen erlassen, die es Prostituierten verbot, sich in der Nähe von militärischen Gebäuden häuslich niederzulassen. Meist blieben derartige Vorschriften jedoch wirkunglos. Vgl. Roet de Rouet: Frankfurt (wie Anm. 1), 238. 3  Vgl. Reiner Herrmann / Jens Nguyen / René Bernert: Uniformen der deutschen Infanterie 1888 bis 1914. Stuttgart 2003, 7 ff. 4  Vgl. Jürgen Angelow: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten ­Europa 1900–1914. Berlin 2010, 97. 5  Vgl. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. 6. Aufl. München 2013, 198.



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wurden hier sowohl Kasernen aus- und umgebaut bzw. neu errichtet als auch ein Lazarett und ein Militärgericht geschaffen, ehe der Stab der 1899 formierten 4. Königlich Sächsischen Division Nr. 40 einziehen konnte. Parallel zum Ausbau der militärischen Infrastruktur verlief die Aufstockung der Truppe. Chemnitz verfügte im Wesentlichen über drei Regimenter, deren Geschichte unabhängig voneinander verlief. 1. Das 5. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment „Kronprinz“ Nr. 104 Nachdem August der Starke (1670–1733) 1697 die polnische Königswürde erlangt hatte, bedurfte es, zum Zweck der Machtsicherung, auch einer Verstärkung der sächsischen Truppenteile. Dementsprechend wurde am 7.  Dezember 1701 das Infanterie-Regiment „Graf Beichlingen“, benannt nach dem damaligen Regimentsführer und kurfürstlichen Staatskanzler Wolf Dietrich von Beichlingen (1665–1725), gegründet.6 Garnisonsort der Truppe war zunächst Dresden. Dieser sollte jedoch, genau wie der Name des Regiments, während der nächsten Jahrzehnte mehrfach wechseln, bevor es als Regiment „Prinz Friedrich August“ ab 1763 in Chemnitz stationiert war. Nach der Teilnahme am Bayerischen Erbfolgekrieg (1778 / 79) und den Koalitionskriegen gegen Frankreich (ab 1792) kehrte das Regiment 1815 für eine fast fünzigjährige Friedensperiode an seinen sächsischen Standort zurück. Danach kämpfte die Truppe erst wieder im Preussisch-Österreichischen Krieg (1866), nach dessen Ende sie in Schneeberg, Zwickau und Plauen untergebracht wurde. Ab 1877 bezog die Einheit endgültig in Chemnitz als „5. Königlich Sächsisches Infanterie-Regiment ‚Kronprinz‘ Nr. 104“ Quartier. Durch die langjährige Unterbringung wird es auch heute noch als das Chemnitzer „Ur“-Regiment bezeichnet. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg wurde es am 31. März 1919 aufgelöst. 2. Das 15. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment Nr. 181 Bei dem zweiten in Chemnitz stationierten Infanterie-Regiment handelte es sich um das am 1. April 1900 aufgestellte 15. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment Nr. 181. Die Truppe sah ihren Ursprung in den 1887 gegründeten „Wurzener Jägern“, da sich aus diesen das erste Bataillon des Regiments bildete. Für die Aufstellung des zweiten Bataillons mussten alle sächsischen Infanterie-Regimenter, mit Ausnahme der in Straßburg statio6  Vgl. Rudolph Hammer: Vorgeschichte des Regiments. In: Ludwig Wolff: Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Das kgl. Sächs. 5. Inf.-Regiment „Kronprinz“ Nr. 104, Erster Band, Dresden 1925, 1.

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nierten „105er“, ein gewisses Kontingent an Soldaten abgeben. Der städtischen Bevölkerung war durchaus bewusst, dass sich die einzelnen Teile des Regiments von bewährten Beziehungen hatten trennen müssen. Man war deshalb bestrebt, den Neuankömmlingen eine gute neue Heimat zu geben. Es schloß sich eine Zeit der Ausbildung und Rekrutierung an. Am 1. Oktober 1911 erhielt das Regiment die neu aufgestellte Maschinengewehrkompanie. 1912 wurde das 3. Bataillon aufgestellt und somit das Regiment vervollständigt. Diese Einheit nahm allerdings in Glauchau Garnison. Im Heer bildete das 15. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment, zusammen mit dem 5. Königlich Sächsischen Infanterie-Regiment, die 7. Königlich Sächsische Infanterie-Brigade Nr. 88, welche der 4. Königlich Sächsischen Division Nr. 40 unterstellt wurde.7 Auch diese Einheit nahm am Ersten Weltkrieg teil und wurde nach der Rückkehr nach Chemnitz am 20. Dezember 1918 aufgelöst. 3. Das 3. Königlich Sächsische Ulanen-Regiment Nr. 21 „Kaiser Wilhelm II., König von Preußen“ Die Geschichte dieses Kavallerieregiments ist weitaus kürzer als die der beiden Infanterieregimenter. Nach dem vorläufigen Abschluß eines kasernenähnlichen Baus wurde dort die am 1. Oktober 1902 in Chemnitz neu aufgestellte Eskadron „Jäger zu Pferde“8 einquartiert und ein Jahr später um eine Eskadron aus Dresden ergänzt. In der Folge kamen noch die 1. Eskadron des Gardereiter-Regiments und die 4. Eskadron des Karabinier-Regimentes hinzu. Durch weiteren Zuwachs erreichte das Regiment die volle Truppenstärke. Seine endgültige Formierung erfolgte nach den Herbstübungen am 1. Oktober 1905 zunächst in Zeithain.9 Bereits am 30. November 1905 wurde das Regiment auf Betreiben des Oberbürgermeisters Heinrich Gustav Beck (1854–1933)10 nach Chemnitz verlegt. Im Reich war es Tradition, hohe Fürstlichkeiten zu formellen Inhabern der Regimenter zu ernennen. Dies war auch bei den drei sächsischen Ulanen-Regimentern der Fall. So war Kaiser Franz Josef I. von Österreich Chef 7  Vgl. Festschrift zum Regimentstag des ehemaligen 15. Infanterie-Regiments Nr. 181. Chemnitz 1924, 24 ff. 8  Vgl. Eberhard Hübsch: Zur Geschichte militärischer Einrichtungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins. Jahrbuch 77. Neue Folge XVI. Chemnitz 2009, 32. 9  Das Chemnitzer Tageblatt vermeldete, dass der Rat der Stadt aus diesem Anlass einen Blumengruß und seine Glückwünsche nach Zeithain gesendet hatte und in diesem Zusammenhang bereits von „unseren Ulanen“ sprach. Vgl. dazu: Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 457. 1905. 10  Vgl. 2. Beilage zum Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 555. 1905.



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des 1. Königlich Sächsischen Ulanen-Regiments Nr. 17, das in Oschatz ver­ garnisoniert war, und Prinz Albrecht von Preußen Inhaber des in Leipzig stationierten 2. Königlich Sächsischen Ulanen-Regiments Nr. 18.11 Dieser Tradition folgend, ernannte König Friedrich August III. von Sachsen Kaiser Wilhelm II. bei dessen Besuch in Dresden am 25. Oktober 1905 zum Chef des neuen Regiments.12 Es trug von diesem Zeitpunkt an den Namen „3. Königlich Sächsisches Ulanen-Regiment Nr. 21 ‚Kaiser Wilhelm II. König von Preußen‘ “ und wurde von Teilen der Bevölkerung voller Stolz in „Kaiserulanen“ umbenannt. Nachdem das Regiment 1905 zunächst größtenteils in provisorische Unterkünfte einrücken musste, sollte es fast drei weitere Jahre dauern, bis die ihm zugedachte Kaserne fertiggestellt war. Erst am 1. Oktober 1908 konnten die Ulanen ihre dauerhafte Unterkunft beziehen. Nach der äußerst verlustreichen Teilnahme am Ersten Weltkrieg wurde das Regiment 1919 aufgelöst. 4. Die Garnison im Ersten Weltkrieg Die Stadt Chemnitz und die Garnison waren während der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg immer mehr zusammengewachsen. Das Militär gehörte mit Platzkonzerten, Paraden und den Uniformen wie selbstverständlich zum Stadtbild. Viele Chemnitzer Bürger nahmen Anteil an jeder Veränderung der Truppenstationierungen sowie an den Um- und Ausbauten, die die Kasernen betrafen. Diese enge Verbindung zeigte sich umso mehr am Vorabend des Krieges. Bereits bevor die ersten Truppenkontingente ausmarschierten, hatte sich das Stadtbild gewandelt. Sämtliche Militärbehörden und Kasernen wurden Tag und Nacht von den Einwohnern geradezu belagert, Wachsoldaten mit Fragen überhäuft – in der Hoffnung, neue Erkenntnisse über aktuelle Entwicklungen und weitere Planungen zu erlangen. Am 1. August 1914 um fünf Uhr nachmittags ging der Mobilmachungsbefehl in Chemnitz ein. Deutschland befand sich im Krieg. Die­­Vorbereitungen für den Ausmarsch der Chemnitzer Truppenkontingente begannen unverzüglich nach dem Eintreffen des Mobilmachungsbefehls. Die 9. Kompanie des 5. Königlich Sächsischen Infanterie-Regiments „Kronprinz“ Nr. 104 und ein Drittel der Maschinengewehr-Kompanie waren für die Bewachung der Ausladebahnhöfe im Aufmarschgebiet vorgesehen. Beide 11  Die Ernennung Kaiser Franz Josefs von Österreich zum Regimentschef erfolgte am 21. November 1891 durch König Albert von Sachsen. Er war es auch, der dem Braunschweiger Regenten Albrecht von Preußen im Rahmen eines offiziellen Besuches am 21. Juli 1899 in Pillnitz das 2. Ulanenregiment verlieh. Vgl. Chemnitzer Tageblatt Nr. 457. 1905. 12  Vgl. 2. Beilage zum Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 555. 1905.

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Einheiten erreichten innerhalb von 24 Stunden Marschbereitschaft und rückten bereits am 3. August in Richtung Westfront ab.13 Die Mobilmachung der restlichen Truppe gestaltete sich indes weitaus schwieriger. Neben Wachaufgaben an Regierungsbehörden, Post- und Telegraphenstellen, die die Soldaten routinegemäß zu übernehmen hatten, trugen Gerüchte über bevorstehende französische Fliegerangriffe auf Chemnitz, über Sprengstoffattentate auf Verkehrsanlagen, über die Präsenz ausländischer Spione und über angebliche französische Goldtransporte in Richtung Russland einen erheblichen Teil dazu bei, weitere Truppen für Wach- und Schutzaufgaben zu binden. Eine Folge dieser verwirrenden Situation war es, dass die Kaserne in den ersten Augusttagen nahezu soldatenleer war und die militärischen Vorbereitungen dementsprechend schleppend vonstatten gingen. Erst am 6. August rückten das 1. Bataillon der „104er“, deren MaschinengewehrKompanie, der Regimentsstab, ein annähernd starker Verband des 15. Königlich Sächsischen Infanterie-Regiments Nr.  181 sowie der Stab der 7.  Infanterie-Brigade Nr. 88 aus Chemnitz aus. Vom Kasernentor über die Wiesenstraße, den gesamten Weg bis zum Bahnhof bildete eine riesige Menschenmenge ein Spalier. Nahezu jedes Fenster war blumengeschmückt oder wies ein weißes Tuch als Abschiedgruß auf. Schon zuvor hatte die Stadt einen Kriegsfürsorgeausschuss einberufen, dessen Aufgabe es war, sich vor allem um die Versorgung der Truppe mit Liebesgaben und um die Unterstützung von Angehörigen zu kümmern. Der weitere Transport ging von Leipzig über Apolda und Bebra nach Frankfurt am Main, von dort aus über Koblenz in die Nähe von Trier zu den Ausladebahnhöfen. Danach marschierten die Einheiten in Richtung Westen.14 Unterdessen war in Chemnitz aus den Ersatzbataillonen des 104. und des 181. Regiments das Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 244 gebildet worden. Im November 1916 erfolgte abermals aus den 1. und 2. Ersatzbataillonen des 104. und des 181.  Regiments die Aufstellung des Infanterie-Regiments Nr. 474. Die 40. Division, der die drei Chemnitzer Regimenter angehörten, war in das XIX. (II. Königlich Sächsische) Armeekorps eingegliedert, das neben dem XI., dem XII. und dem XII. Reservekorps die 3. Armee bildete. Deren Kommandeur Generaloberst Max Freiherr von Hausen erhielt am 18. August 1914 den Befehl, mit seinen Verbänden, dem Schlieffenplan folgend, durch Belgien nach Frankreich vorzurücken.15 Nach einem zügigen Vormarsch begann am 5. September die Schlacht an der Marne. Nach vier äu13  Vgl. Ludwig Wolff: Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Das kgl. Sächs. 5. Inf.-Regiment „Kronprinz“ Nr. 104, Erster Band, Dresden 1925, 17. 14  Vgl. Wolff: Erinnerungsblätter (wie Anm. 13), 19 f. 15  Die Deutsche Heeresführung hielt sich mit diesem Vorgehen an den 1905 von Alfred Graf von Schlieffen entwickelten Plan zur Umgehung eines Zweifrontenkriegs. Vgl. Kristin Lesch: Sachsen im Ersten Weltkrieg. Dresden 2016, 63 ff.



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ßerst verlustreichen Tagen zogen sich die deutschen Truppen am 9. September an die Aisne zurück, wodurch die deutsche Offensive zum Erliegen kam. Damit war der Schlieffenplan gescheitert und der Stellungs- und Grabenkrieg begann. Als Folge der Marneschlacht wurde Generaloberst von Hausen durch den preußischen General Karl von Einem ersetzt und die 3. Armee neu formiert. Die sächsischen Kontingente wurden von nun an verschiedenen Armeen unterstellt und an diversen Frontabschnitten eingesetzt, wodurch eine rein sächsische Armee als solche aufhörte zu existieren.16 Im weiteren Verlauf des Krieges kämpften die Chemnitzer Regimenter fast ausschließlich an der Westfront und nahmen unter anderen an den Schlachten von Tourteron, Vitry, Lille, an der Somme, in Flandern oder bei Cambrai teil. Lediglich das 5. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment „Kronprinz“ Nr. 104 wurde Ende Oktober 1917 an die Ostfront verlegt, kehrte aber bereits Anfang März 1918 nach Frankreich zurück. Das ReserveInfanterie-Regiment Nr. 244 hingegen rückte nach nicht einmal sechs Wochen Ausbildungszeit in Richtung Flandern ab. Insgesamt nahm es während der vier Kriegsjahre an 22 Gefechten und Schlachten teil.17 War die für die Aushebung erforderliche Truppenstärke infolge der vielen Freiwilligenmeldungen in den ersten Tagen noch schnell erreicht worden, verflog die Euphorie nach kurzer Zeit rasch. Die Anfangsmonate des Krieges hatten gezeigt, dass von einer schnellen Beendigung der Kampfhandlungen und von einer baldigen Heimkehr der Truppen keine Rede sein konnte. Stattdessen hatten die Chemnitzer Regimenter hohe Verluste zu verzeichnen.18 In ganz Deutschland entstanden nun in kurzer Zeit Lazarette für die Verwundeten. Sie wurden von der Kommune, der Armee, aber auch von privaten Vereinen und Stiftungen finanziert. So beschloss der Kriegsfürsorgeausschuss der Stadt Chemnitz auf seiner 26. Sitzung am 20. Oktober 1914 die Ausstattung eines eigenen Lazarettzuges, der schon am 15. November einsatzbereit war. Er beförderte während der Zeit seines Bestehens bis zum 26. November 1918 insgesamt 16.341 Verwundete und legte im Ganzen eine Strecke von 81.750 km zurück.19 Im Chemnitzer Hauptbahnhof 16  Vgl.

ebd., 65. Festschrift zum 2. grossen 104er Tag. Chemnitz 1930. 18  Insgesamt sind aus Chemnitzer Regimentern 341 Offiziere und 13.211 Unteroffiziere und Mannschaften ums Leben gekommen. Davon waren 8.040 der Gefallenen gebürtige Chemnitzer und der Großteil der anderen Toten war im Chemnitzer Umland und im Erzgebirge beheimatet. Vgl. Eberhard Hübsch: Die Garnisonsstadt Chemnitz im 20. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins (Hrsg.): Chemnitz im 20. Jahrhundert, 72. Jahrbuch, Neue Folge (XI). Chemnitz 2002, 18. 19  Vgl.: Ulrich Hertel: Die Entwicklung des Chemnitzer Lazarettwesens und der Verwundetenfürsorge zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Unveröffentlichte Bachelorarbeit an der TU Chemnitz 2013, 11 ff. 17  Vgl.

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wurden zu Kriegsbeginn auch eine Verpflegungsstation für durchfahrende Truppen und ein Verwundetendienst eingerichtet. Hierdurch konnten bereits in den ersten acht Kriegswochen über 48.000 Soldaten und knapp 3.000 Verwundete versorgt werden. Je länger die Kampfhandlungen dauerten, desto mehr nahm die allgemeine Kriegsmüdigkeit zu. Immer öfter kam es ab Ende 1917 an der Ostfront zu Verbrüderungen deutscher und russischer Truppen, und auch in der sächsischen Heimat wurden unterschwellig kritische Stimmen laut. Am 8. November 1918 entwaffneten Chemnitzer Soldaten in ihren Kasernen die Offiziere und protestierten zusammen mit Teilen der Bevölkerung gegen die herrschenden Zustände. Am Tag darauf übernahm der „Rat der Arbeiter und Soldaten im Industriebezirk Chemnitz“ die Exekutive. Alle Chemnitzer Bürger wurden aufgerufen, ihren Tätigkeiten weiterhin geregelt nachzugehen, bis der „Rat“ andere Befehle erlassen würde. Zugleich fanden im Zentral-Theater, im Kaufmännischen Vereinshaus und im neuen Stadt-Theater Versammlungen des „Rates“ statt.20 Am folgenden Tag wurde der Thronverzicht des Kaisers gemeldet. Der sächsische Landesherr, König Friedrich August III. (1865–1932), ein in allen Bevölkerungsschichten beliebter und geschätzter Monarch, verließ seine Residenz am 10. November und erklärte am 13. November von Schloß Guteborn bei Ruhland aus seinen Thronverzicht.21 Die zunehmenden, nicht immer unblutig verlaufenden Proteste und die unabwendbare Niederlage an den Fronten hatten zum Zusammenbruch des Kaiserreiches geführt. Doch das Ende des Krieges brachte keinen Frieden in der Stadt. Die instabile Lage des Landes und die damit verbundene Nahrungsmittelknappheit führten zu weiteren Demonstrationen. Eine davon wurde im August 1919 äußerst brutal von der Reichswehr niedergeschlagen. Das als „Chemnitzer Blutbad“ firmierende Ereignis, bei dem mehr als 30 Menschen ums Leben kamen und über 100 verletzt wurden, war vom damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Georg Gradnauer (1866– 1946) befohlen worden.22

20  Vgl.

Chemnitzer Tageblatt und Anzeiger Nr. 311. 1918. Frank-Lother Kroll: Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige. 1089–1918. 3. Aufl. München 2013, 316. 22  Vgl. Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart 2002, 292. 21  Vgl.



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II. Die Chemnitzer Regimenter in der Erinnerungskultur nach 1918 Wie in ganz Deutschland fanden nach Kriegsende auch in Chemnitz eine Vielzahl von Denkmalsenthüllungen, jährliche Gedenkveranstaltungen und Vereinsgründungen statt. Einer dieser Vereine war der Königlich Sächsische Militärverein „Prinz Friedrich August“ der ehemaligen 104er, dessen Namensgeber selbst Ehrenmitglied war. Der Verein selbst war zwar bereits 1883 gegründet worden,23 rief jedoch 1924 einen eigenen Landesverband ins Leben. Seine Mitglieder nahmen in den darauffolgenden Jahren u. a. an Bezirksfesten des sächsischen Militärverbandes und an Sedan- und Tannenbergfeiern teil.24 Weiterhin organisierte der Verein Regiments- und Wiedersehensfeiern, wie beispielsweise den jährlich stattfindenden großen „104er“ Tag, aus dessen Anlass überall in der Stadt Platzkonzerte, Bälle und Festgottesdienste stattfanden. Außerdem veranstaltete man zu solchen Anlässen grundsätzlich Kranzniederlegungen an den Ehrenmalen der Regimenter. Da auch die anderen ehemals in Chemnitz stationierten Einheiten derartige Jahresveranstaltungen durchführten, entwickelte sich in den 1920er Jahren eine lebhafte Erinnerungskultur, die breite Teile der Bevölkerung mit einbezog. Ein weiteres Element des Gedenkens war die Stiftung von Denkmalen oder Gedenksteinen, die für die meisten Veteranen und Hinterbliebenen als Orte der Erinnerung und der Trauer dienten. Das galt auch für ältere, bereits bestehende Ehrenmale. Eines der bekanntesten dieser Art, aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, war das 1875 eingeweihte Ehrendenkmal an der Theaterstraße. Man hatte bereits zwei Jahre nach dem erfolgreichen Feldzug von 1870 / 71 mit dem Bau der ca. acht Meter hohen Siegessäule begonnen, deren Symbolik eindeutig war. Auf der Spitze stand die Siegesgöttin Viktoria, in der Mitte waren vier Bildnisse von Kaiser Wilhelm I., König Albert von Sachsen, Otto von Bismarck und Helmuth von Moltke d. Ä. angebracht. Am Sockel befanden sich vier Tafeln mit den Namen der Gefallenen. Das Denkmal überstand die Bombenangriffe auf Chemnitz nahezu unbeschadet, wurde aber 1947 von Unbekannten zerstört. Ein anderes Ehrenmal aus der Zeit nach der Reichsgründung findet sich noch heute vor der St. Georgskirche in Rabenstein. Die weitaus unauffälligere Säule hat 23  Eine Vielzahl derartiger Vereine entstanden im Zuge der Reichsgründung von 1871. Oftmals von Angehörigen der jeweiligen Regimenter gebildet, verorteten sich diese Militärvereine zumeist in ihren ehemaligen Garnisonsstädten. Vgl. Lesch: Sachsen im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 15), 145. 24  Vgl. Archiv der Freien Presse Chemnitz, Katalog Altspeicher Chemnitz Nr. 1487 Chemnitz Garnison.

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eine Höhe von ca. 2,50 m und ähnelt einem Kirchturm. Die Namen der im Krieg von 1870 / 71 Gefallenen der Gemeinden Rabenstein und Rottluff sind in Steintafeln gehauen, die an allen vier Seiten angebracht sind. Derartige Gedenkstätten waren früher in nahezu jedem Chemnitzer Stadtteil zu finden. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand eine Vielzahl weiterer Denkmale, die sich in mehrfacher Hinsicht von den früheren unterschieden. Während die Siegessäule an der Theaterstraße einen zentralen Erinnerungsort der Stadt darstellte, waren die meisten Gedenkstätten, wie die Rabensteiner Säule, in Ausmaß und Gestaltung weitaus filigraner. Diese Gestaltungsweise wurde nach 1918 nicht weiter fortgesetzt, wie das 1922 auf dem St. NikolaiFriedhof eingeweihte Ehrenmal zeigt. Es präsentiert einen sterbenden deutschen Soldaten auf einem hohen Sockel sitzend, auf dessen Vorderseite die Widmung „1914–1918 Unseren Helden In Dankbarkeit Die Gemeinden Sankt Nikolai und Sankt Thomas“ zu lesen ist. An den drei verbliebenen Sockelseiten sind die Namen der Gefallenen angebracht. Der Wandel der Darstellungsform entsprach dem veränderten Kriegserleben. Dominierte nach dem Sieg von 1871 in der Regel ein triumphierender Gestus gegenüber dem überwundenen Feind, so rückten durch die Niederlage von 1918 und die im Vergleich zu 1871 enormen Verluste25 nun fast ausschließlich die Leiden der eigenen Soldaten in den Mittelpunkt. Weiterhin wurde nach 1918 der von jeher propagierte „Heldentod“ in Frage gestellt, was die Gestaltung der Denkmale ebenfalls beeinflusste. Der Mythos vom deutschen Soldaten, der für Kaiser und Vaterland geradezu stolz das eigene Leben herschenkte, wurde zwar wenige Jahre später von den Nationalsozialisten wieder aufgegriffen und erneut verklärt, aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit fand diese Sinndeutung kaum Anhänger. Vielmehr musste die eigene Bevölkerung realisieren, dass der Tod all der jungen Männer sinnlos gewesen war.26 Die Erkenntnis, dass auch sie Deutschland nicht vor der Niederlage zu bewahren vermocht hatten, spielte eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur der Weinarer Republik. Dies zeigte sich ebenso in der Wahl der Orte, an denen die Erinnerungsstätten errichtet wurden. Während man die Monumente nach dem Krieg von 1870 / 71 bevorzugt an öffentlichen und bevölkerten Stellen wie Markt- oder Rathausplätzen aufstellte, wählte man in der Weimarer Republik hauptsäch25  Während im Deutsch-Französischen Krieg „nur“ knapp 45000 deutsche Soldaten ihr Leben ließen, fielen im Ersten Weltkrieg ca. 2 Millionen. Somit hatte ungefähr ein Drittel der im Kaiserreich lebenden Familien den Verlust mindestens eines Angehörigen zu verkraften. Vgl. Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin 2013, 477. 26  Vgl. ebd., 477 ff.



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Abb. 1: Das Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des Infanterie-Regiments „Kronprinz“ Nr. 104.

lich ruhige, dezentrale Orte wie Friedhöfe oder Wälder.27 Dies zeigen unter anderen das 1925 errichtete Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des Infanterie-Regiments Nr. 181 im Chemnitzer Zeisigwald in der Nähe der ehemaligen Kaserne, die Gedenkstätte für die Gefallenen des Krieges auf dem Rabensteiner Friedhof oder das Denkmal auf dem Ebersdorfer Stiftsfriedhof. Auf dem Städtischen Friedhof wurde sogar ein regelrechter Ehrenhain angelegt. Neben dem ebenfalls 1925 eingeweihten Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen des Infanterie-Regiments „Kronprinz“ Nr. 104, einer schlichten Erinnerungssäule für die Soldaten des Infanterie-Regiments 244 und einer Gedenkplatte für die des Infanterieregiments 474, findet sich dort auch eine Säule, auf deren Spitze die Walküre thront, und die an die gesamten Gefallenen der Chemnitzer Garnison erinnern soll.28

27  Vgl. Yvonne Jüttner: Gesellschaftliche Konflikte im Kontext der Entstehung von Denkmalen zum Ersten Weltkrieg in Chemnitz (1918–1933). Unveröffentlichte Masterarbeit an der TU Chemnitz 2016, 20. 28  Die Mahnmale auf dem städtischen Friedhof befinden sich derzeit in einem restaurationswürdigen Zustand. Die Verwaltung ist sich dieses Umstandes sehr be-

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Selbst in der Zeit der Weltwirtschaftskrise wurden weitere Mahnmale, wenn auch nicht mehr mit unbedingter Zustimmung der Bevölkerung, geschaffen. Am 2. Oktober 1932 wurde auf dem Grünaer Friedhof ein Ehrenmal zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingeweiht. Das einer Mauer ähnelnde Monument besteht aus fünf großen Gedenktafeln mit den Namen der Toten und befindet sich in unmittelbarer Nähe zu einem Mahnmal des Krieges von 1870 / 71. Trotz massenhafter Arbeitslosigkeit war es der Grünaer Bevölkerung gelungen, das Projekt zu realisieren. Der Stolz über das Erreichte spiegelte sich in der mehrtägigen Einweihungsfeier wider, bei der neben Kranzniederlegungen und einer Ehrenparade auch ein „Mahnfeuer“ abgebrannt wurde.29 Die erstarkende nationalistische Gesinnung in Chemnitz und den umliegenden Gemeinden hatte erheblichen Einfluß auf die Erinnerungskultur. Die Denkmäler der Zeit offenbarten immer öfter den Tenor einer übertriebenen Vaterlandsliebe und einen Hang zur Mystifizierung des Todes auf dem Schlachtfeld. Zudem trat nun gegenüber dem tatsächlichen Gedenken an die Opfer der Wunsch nach Revanche stärker in den Vordergrund. 1935 wurde Chemnitz erneut Garnisonsstadt. Danach kam die Erinnerungskultur zum Erliegen, größere Regiments- und Gedenkfeierlichkeiten fanden seitdem nicht mehr statt. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 ist eine Vielzahl der Chemnitzer Monumente der Zerstörung durch die Alliierten zum Opfer gefallen, die die meisten von ihnen als „den Krieg oder die Gewalt verherrlichend oder chauvinistisch und revanchistisch“30 einstuften. Aufs Ganze gesehen unterscheidet sich sowohl die Garnisonsgeschichte von Chemnitz als auch die hier gelebte Erinnerungskultur nur in Nuancen von denen anderer deutscher Städte. Überall gehörten Uniformierte seit Jahrhunderten zum normalen Straßenbild, und die Garnisonen wuchsen meist parallel zur Stadt. Die um die Jahrhundertwende eingeleiteten umfassenden Rüstungsprogramme beschleunigten die militätisch geprägte Entwicklung der Standorte, sodass 1914 der militärische Charakter vielerorts dominierte und sich, damit einhergehend, e­ine Kriegseuphorie und die feste Überzeugung von der eigenen Über­legenheit manifestierten. Beides wich innerhalb der vier Kriegsjahre einer plötzlichen Fassungslosigkeit und einer tiefen Ernüchterung, was zwangs­läufig zu einer veränderten Erinnerungskultur führen musste. Aber auch wenn die nach 1918 errichteten Mahnmale oftmals eine beabsichtigte Anonymität ausstrahlen, stehen sie für zwei Millionen deutsche und somit auch für ca. 14.000 gefallene Chemnitzer Soldaten. wusst und befindet sich bereits in der Planungsphase für umfassende Sanierungsarbeiten. 29  Vgl. Jüttner: Gesellschaftliche Konflikte (wie Anm. 27), 125. 30  Vgl. ebd., 50.

Autorenverzeichnis Prof. Dr Stephen Badsey is an internationally recognised expert on the history and present practice of wartime propaganda and relationship between the media and warfare, as well as several other fields of modern and contemporary military history. He is a Professor of Confilct Studies; Co-Convenor of the First World War Research Group at University of Wolverhampton. He has held research positions at the Imperial War Mu­seum London, and for several years he was a member of the academic staff at the Royal Military Academy Sandhurst. Important publications of him are: Modern Military Operations and the Media (1994); The British Army in Battle and Its Image 1914–1918 (2009); Bridging the Firewall? Information Operation and US Military Doctrine in the Battles of Fallujah, in David Welch (ed.): Propaganda, Power and Persuasion (2013). Jasmin Hain, B.A., studierte an der Technischen Universität Chemnitz Europäische Geschichte und arbeitet dort seit 2015 als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In diesem Rahmen ist sie für die Bearbeitung von wissenschaftlichen Texten und für die Organisation und Durchführung von Tagungen mitverantwortlich. Ihr Studienschwerpunkt bildet die Britische Geschichte vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert. Dr.  Juliane Haubold-Stolle arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin. Sie ist Historikerin und Kuratorin, mit Schwerpunkt in der europäischen Zeitgeschichte, der Kulturgeschichte des Politischen, den deutsch-polnischen Beziehungen und der Geschichte der Familie. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen 1919-1956 (2008); 1914–1918. Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten (2014); Oma ist die Beste. Eine kleine Kulturgeschichte der Oma (2012). Ulrich Hertel, M. A., ist als Pädagoge im sächsischen Schuldienst tätig. Derzeit arbeitet er an einer Dissertation zum sächsischen König Friedrich August II. (1797–1854). Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um seine erste Publikation. Prof. Dr. Bernd Hüppauf lehrte bis zu seiner Emeritierung 2007 an der New York University. Sein besonderes Interesse gilt der Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Zivilisationsgeschichte. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit Fragen des Wechselverhältnisses von Text und Bild und mit der Ästhetik des Räumlichen. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft (Hrsg., 1984); War, violence and the modern condition (Hrsg., 1997); Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs (2013); Fotografie im Krieg (2015).

198 Autorenverzeichnis Mia Jones is a secondary school First World War and Modern Warfare specialist, currently teaching in the West Midlands, UK. Her areas of interest include memory and commemoration of the First World War and the ‘shot at dawn’ cases. She is currently researching the Battle of Arras 1917, with a view to gaining her PhD and publication. Dr. habil. Susanne  H. Kolter arbeitet als Privatdozentin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen und als Pastoralassistentin im Bistum Münster. Sie forscht schwerpunktmäßig zur englischen Kunst, zur Historienmalerei sowie zur politischen Ikonographie und befasst sich mit den künstlerischen Evokationen nationaler, kultureller und individueller Identität. Zur ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Die gestörte Form. Zur Tradition und Bedeutung eines architektonischen Topos (2002); Architecture Criente. Nine Eleven zwischen Katastrophenästhetik, biblischem Strafgericht und Dekonstruktion. (2008); Bartholomäus Sprangers ‚Amor und Psyche‘ im Kontext rudolfinischer Hofkunst (2008); Historienmalerei im New Palace of Westminster (2011). Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll ist Inhaber der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz. Er ist Vositzender der Prinz-Albert-Gesellschaft und Vorsitzender der Preußischen Historischen Kommission. Zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen zählen: Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (1990); Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich (2. Aufl. 1999); Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates (2001); Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert (2003); Die Hohenzollern (2008); Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg (2013); Geschichte Sachsens (2014); Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner (2017). Dr. Erik Lommatzsch arbeitet seit Januar 2014 als akademischer Mitarbeiter und Habilitand am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie die preußische Geschichte des 19. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang legte er zahlreiche Veröffentlichungen vor: Hans Globke (1898–1973). Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers (2009); Betrachtungen zu den Koalitionen in der Zeit der Kanzlerschaft Helmut Kohls, in: Philipp Gassert  /  Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Koalitionen in der Bundesrepublik Deutschland. Bildung, Management, Krisen (2017); Stefan George, der Kreis – und Preußen? Berührungspunkte, in: Hans-Christof Kraus / Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Literatur in Preußen – preußische Literatur? (2016). Martin Munke, M. A., ist Leiter des Referats Saxonica und Stellvertretender Leiter der Abteilung Handschriften, Alte Drucke und Landeskunde an der Sächsischen Landesbibliothek / Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen und europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt, darunter (als Mithrsg.): Deutsche und Polen im und nach dem Ersten Weltkrieg (2013); Deutsche Englandreisen / German Travels to England, 1550–1900 (2014); Hannover  – Coburg-Gotha  – Windsor. Probleme und Perspektiven einer vergleichenden deutsch-britischen Dynastiegeschichte vom 18. bis in das 20. Jahrhundert (2015).