Im Sommer 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Mit seiner ganzen Zerstörungskraft prägte er nicht nur die Zeitgenossen, s
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German Pages 256 [257] Year 2014
Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Politische Sozialgeschichte
Die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg
Klassengesellschaftliche Tendenzen und Gegentendenzen: das Verhältnis Land-Stadt, Generationen, Konfessionen und Minderheiten
Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik
Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917 – 1920)
II. Neue Militärgeschichte
Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?
Militärgeschichte von unten. Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert
Fazit: Gefangen im Großen Krieg
III. Politische Kulturgeschichte
Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen
Räume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft, Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg
Informelle Kommunikation und Propaganda in der deutschen Kriegsgesellschaft
Entwicklungen in der politischen Bildsprache
Auswahlbibliographie
Autoren
Back Cover
Neue Wege der Forschung
Der Erste Weltkrieg Herausgegeben von Wolfgang Kruse
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ISBN 978-3-534-26429-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73869-4 eBook (epub): 978-3-534-73870-0
Inhalt Wolfgang Kruse Einleitung ................................................................................................ 7 I. Politische Sozialgeschichte Gerald Feldman Die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg....................... 18 Jürgen Kocka Klassengesellschaftliche Tendenzen und Gegentendenzen: das Verhältnis Land-Stadt, Generationen, Konfessionen und Minderheiten ................................................................................................ 35 Susanne Rouette Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik .............. 51 Gerald Feldman, Eberhard Kolb, Reinhard Rürup Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917 – 1920) ......................................... 83 II. Neue Militärgeschichte Wilhelm Deist Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?..................................... 112 Bernhard Ulrich Militärgeschichte von unten. Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert..................................... 131 Uta Hinz Fazit: Gefangen im Großen Krieg ....................................................... 165
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Inhalt
III. Politische Kulturgeschichte Wolfgang Kruse Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen ................................................................................. 180 Bernd Hüppauf Räume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft, Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg ................................................ 197 Ute Daniel Informelle Kommunikation und Propaganda in der deutschen Kriegsgesellschaft ............................................................................... 217 Anne Schmidt Entwicklungen in der politischen Bildsprache .................................... 232 Auswahlbibliographie ......................................................................... 255 Autoren................................................................................................ 256
Wolfgang Kruse
Einleitung Der Erste Weltkrieg war schon immer und wird auch noch auf unabsehbare Zeit eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft bleiben.1 Diese „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) hat nicht nur, obwohl ihr Zentrum in Europa lag, die ganze Welt erfasst, sondern ihre Gesellschaften auch auf allen Ebenen, von der Wirtschaft über die soziale Ordnung und die politische Herrschaft bis hin zur Kultur, so tiefgehend durchdrungen und geprägt, dass kaum eine Entwicklung der folgenden Jahrzehnte ohne Bezug darauf erklärt werden kann. Nicht nur der Untergang der regierenden Monarchien und ihrer Imperien in Europa war eine unmittelbare Folge des Ersten Weltkrieges. Auch die totalitären Bewegungen, Ideologien und Herrschaftsordnungen des 20. Jahrhunderts nahmen hier ihren Ausgang, ebenso wie der moderne Wohlfahrtsstaat, die moderne Kunst und, mit der Russischen Revolution und dem Eintritt der USA in die Weltpolitik seit 1917, die Blockkonfrontation zwischen den Supermächten in der zweiten Jahrhunderthälfte. Dazwischen erscheint es schließlich kaum möglich, den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ohne die Folgen des ersten globalen Krieges auch nur ansatzweise zu verstehen und zu erklären. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Literatur über den Ersten Weltkrieg ungeheure Dimensionen angenommen hat und selbst für Experten kaum noch überschaubar ist. Die Wege der Forschung folgen jedoch Pfaden, die von den Konjunkturen allgemeinerer geschichtswissenschaftlicher wie öffentlicher Interessen, Fragestellungen, Konzepte und Schwerpunktsetzungen geprägt werden und so klarere Strukturen gewinnen. Auch die Forschung zum Ersten Weltkrieg spiegelt so eine Entwicklung wider, die von der gerade in Deutschland lange besonders deutlich ausgeprägten Dominanz der Politikgeschichte2 über den Ende der 1960er Jahre beginnenden Siegeszug der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte bis zum aktuellen Interesse an kulturgeschichtlichen Themen und Perspektiven führt. Die hier präsentierte Textauswahl hat sich vom Titel der Reihe leiten lassen und die neuen, sozialund kulturgeschichtlich geprägten Wege der Forschung jenseits der traditionellen Politikgeschichte in den Mittelpunkt gerückt; allerdings, dem genuin politischen Charakter eines modernen, nationalstaatlichen Krieges entsprechend, jeweils doch unter politischen Vorzeichen. Im engeren Sinne politische Themen dagegen, nicht zuletzt die gerade wieder aufs
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Neue Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit beschäftigende Kriegsschuldfrage3, bleiben so ausgeschlossen. Ergänzend wurde dagegen mit den soldatischen Kriegserfahrungen ein spezifisch militärgeschichtliches Forschungsfeld aufgenommen, das sich in der letzten Zeit unter dem Einfluss der historischen Friedensforschung und in Verbindung mit sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen von der lange anhaltenden Dominanz einer klassischen, an Schlachten und Kriegsstrategien orientierten Militärgeschichtsschreibung emanzipiert hat.4 Eine zweite, die hier präsentierte Auswahl wichtiger Forschungstexte anleitende Vorentscheidung liegt in der Konzentration auf Arbeiten zum Deutschen Reich, wobei einige Beiträge auch den europäischen Vergleich einbeziehen. Diese vielleicht etwas altmodisch erscheinende, nationalstaatliche Perspektive weist gleichwohl eine Reihe von Vorteilen auf: Sie vereinfacht nicht nur die Auswahl und macht es leichter, der Verlagsvorgabe entsprechend, nur deutschsprachige Texte abzudrucken. Vielmehr ist mit dieser Beschränkung auch die Hoffnung verbunden, durch das Ensemble der abgedruckten Texte zum durchaus zentralen deutschen Beispiel einen insgesamt stimmigeren Gesamteindruck des Ersten Weltkrieges im Lichte der neueren Forschung entwerfen zu können, als dies bei einer national übergreifenden Auswahl möglich gewesen wäre. Der Nachteil, dabei neben den vielen anderen nationalen Fällen und den immer noch eher wenigen Vergleichsstudien5 auch die neueren globalgeschichtlichen Perspektiven auf diesen ersten wahrhaft globalen Krieg der Weltgeschichte auszuschließen6, musste dafür in Kauf genommen werden. Die einzelnen, im Folgenden kurz vorgestellten und eingeordneten Beiträge werden hier unverändert, teilweise allerdings mit kleinen Kürzungen und Ergänzungen in den Anmerkungen abgedruckt. Politische Sozialgeschichte Die Sammlung beginnt mit Beiträgen zur politischen Sozialgeschichte des Ersten Weltkrieges, wie sie seit den ausgehenden 1960er Jahren zunehmend in den Mittelpunkt der Forschung gerückt ist. Am Anfang steht ein Aufsatz des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman aus dem Jahre 2002, der jedoch deutlich auf die Anfänge wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Forschung in den 1960er Jahren zurückweist. Feldmann veröffentlichte 1966 seine Dissertation über die spannungsreichen Kooperationsformen zwischen Armee, Industrie und Arbeiterschaft in der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges, die seitdem zu einem Klassiker der Weltkriegsforschung geworden ist.7 Aufbauend auf seinen weiteren Forschungen über die deutsche Inflationsgesellschaft in der Kriegs- und Nachkriegszeit8, zieht Feldman hier
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gewissermaßen Bilanz: Er arbeitet die wesentlichen Strukturmerkmale der deutschen Kriegswirtschaft heraus und ordnet sie in vergleichend in den internationalen Zusammenhang ein. Der folgende Beitrag ist ein Kapitel aus Jürgen Kockas bahnbrechender Untersuchung über die deutsche „Klassengesellschaft im Krieg“ aus dem Jahre 1973.9 Diese Arbeit war nicht nur in methodisch-konzeptioneller Hinsicht vorbildlich für eine theoriegeleitete Sozialgeschichtsschreibung, sie hat auch inhaltlich die weitere Erforschung der Kriegsgesellschaft in vieler Hinsicht angeleitet. Kocka geht dabei von einem marxistischem Klassenkonzept aus, das er jedoch nicht als Schlüssel zur Wahrheit betrachtet, sondern als ein idealtypisches Modell, an dem die realen, empirisch feststellbaren Entwicklungen der Kriegsgesellschaft gemessen und genauer bestimmt werden können. In den Binnenstrukturen und Gegensätzen der abhängig Beschäftigten auf der einen, der Produktionsmittelbesitzer auf der anderen Seite kann er dabei eine immer deutlichere Ausprägung klassengesellschaftlicher Verhältnisse feststellen, während vor allem die sich verselbständigende Rolle des Staates, aber auch andere Entwicklungen nach Kockas Ergebnissen nicht den Vorgaben des marxistischen Modells entsprachen. Die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Revolution 1918 lagen demnach nicht einfach in der Zunahmen klassengesellschaftlicher Gegensätze und Konflikte, sondern auch in der um sich greifenden Ablehnung eines Obrigkeitsstaates, der immer weitere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren versuchte, davon jedoch zunehmend überfordert war und wachsende Ablehnung in weiten Teilen der Gesellschaft hervorrief. In diesem Gesamtkontext behandelt das hier abgedruckte Kapitel gesellschaftliche Spannungs- und Konfliktfelder, die mit genuin klassengesellschaftlichen Strukturen nicht deckungsgleich waren und in der weiteren Erforschung der Kriegsgesellschaft eine wichtige Rolle gespielt haben: Stadt und Land, Generationen und Konfessionen, Front und Heimat sowie Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, wobei vor allem auch der im Krieg nachhaltig verstärkte Antisemitismus herausgearbeitet wird.10 Der dritte Text zur politischen Sozialgeschichte greift mit der Rolle der Frauen und den Geschlechterbeziehungen in der Kriegsgesellschaft ein weiteres Themenfeld jenseits der sozialen Klassenbeziehungen auf. Er stammt von der leider viel zu früh verstorbenen Historikerin Susanne Rouette und ist ursprünglich für einen Lehrtext der FernUniversität in Hagen geschrieben worden, der 1997 auch als Buch veröffentlicht worden ist.11 Während der Erste Weltkrieg mit seiner Mobilisierung der Frauen an der „Heimatfront“ lange als ein wesentlicher Anstoß zur Entwicklung von Frauenerwerbsarbeit und gesellschaftspolitischer Emanzipation gewertet wurde, hat für Deutschland an erster Stelle die Untersu-
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chung von Ute Daniel über „Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft“ ein ganz anderes Bild gezeichnet, in dem vor allem die Zumutungen des kriegführenden Staates und die vielfältigen Widerständigkeiten der (Arbeiter-) Frauen hervortreten.12 Der Beitrag von Rouette stellt die Ergebnisse dieser Forschungen vor, ordnet sie zugleich aber in einem allgemeineren, geschlechtergeschichtlichen und europäisch vergleichenden Kontext ein. Es folgt als vierter Text in dieser Abteilung ein Beitrag, der die Entstehung und Entwicklung der revolutionären Bewegungen in der deutschen Arbeiterschaft der Jahre 1917-1920 analysiert, die aus den Kriegserfahrungen entstanden sind, im November 1918 die kriegführende Monarchie umgestürzt haben und in der Folgezeit den Versuch unternahmen, die Gesellschaft zu demokratisieren und zu sozialisieren. Zusammen mit Gerald Feldman haben diesen Aufsatz aus dem Jahre 1972 zwei führende Vertreter der Räteforschung in Deutschland verfasst, Eberhard Kolb und Reinhard Rürup. In den grundlegenden Untersuchungen über die Rätebewegung war zuvor insbesondere deutlich geworden, dass die klassische Vorstellung, in der Revolution 1918/19 sei es um die Alternative zwischen parlamentarischer Demokratie und bolschewistischer Diktatur gegangen, angesichts der zuerst sozialdemokratischen, reformorientierten Haltung der großen Mehrheit der Räte nicht mehr haltbar erschien.13 Neben der Verortung der Massenbewegungen in der Kriegsgesellschaft und ihrer Periodisierung im Prozess der Revolution arbeitet dieser Beitrag vor allem auch die für die weitere Forschungsentwicklung grundlegende Vorstellung heraus, dass mit den Räten anfangs eine weitergehende Demokratisierung der Weimarer Republik möglich gewesen wäre, als dies von einer zögerlichen, legalistisch orientierten sozialdemokratischen Revolutionsführung umgesetzt wurde.14 Neue Militärgeschichte Während die klassische Form der politischen Sozialgeschichte sich in wesentlichen auf die „Heimatfront“ konzentrierte, entwickelten sich an ihren Rändern Versuche, auch die Kriegserfahrungen der Soldaten zu erforschen. Diese Erfahrungen hatten lange im Schatten einflussreicher Mythen und Deutungsmuster gestanden, wie sie im politischen Kontext der „Dolchstoßlegende“ mit ihrem Bild vom „im Felde unbesiegten“ Heer sowie im literarischen Kontext der vielfältigen Kriegsromane mit ihrer Beschwörung der „Schützengrabenfreundschaft“ und der Ausbildung moderner Männlichkeit in den „Stahlgewittern“ des industrialisierten Krieges propagiert worden waren.15 Die geschichtswissenschaftliche Erforschung der realen soldatischen Kriegserfahrungen des Ersten Weltkrieges führte zu ganz anderen Erkenntnissen, in denen Leid und Schre-
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cken des modernen Krieges, schroffe soziale Gegensätze und Missstände in der Armee, Abstumpfung und Verzweiflung, aber auch Verweigerung und Aufbegehren immer deutlicher hervortraten.16 Dabei konnte teilweise auf Forschungsarbeiten aus den 1920er Jahren zurückgegriffen werden, die im Zusammenhang der politischen Auseinandersetzungen über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs von 1918 entstanden waren.17 Der erste hier abgedruckte Beitrag aus dem Jahre 1992, veröffentlicht in einem einflussreichen Sammelband zum Programm einer „Militärgeschichte von unten“18, greift diese Fragestellungen erneut auf. Er stammt von dem ehemals leitenden Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Wilhelm Deist, der für den Sommer und Herbst 1918 einen „verdeckten Militärstreik“ unter den deutschen Soldaten an der Westfront feststellt und ihre Verweigerung in die allgemeineren Verhältnisse, Stimmungen und Zusammenhänge im deutschen Heer einordnet. Es handelt sich dabei um die gekürzte und überarbeitete Fassung eines ursprünglich bereits 1986 erschienenen Aufsatzes.19 An zweiter Stelle folgt ein Aufsatz des Berliner Historikers Bernd Ulrich, der in seiner Dissertation über die „Augenzeugen“ des Ersten Weltkrieges einen grundlegenden Beitrag zur methodischen und inhaltlichen Bearbeitung der zentralen Quellengattung für die Erforschung soldatischer Kriegserfahrungen geleistet hat: der Feldpostbriefe, die während des Ersten Weltkrieges zu Milliarden zwischen Front und Heimat hin und her geschickt wurden.20 Der hier abgedruckte Aufsatz aus dem Jahre 1996 versucht, die mit ihrer Erforschung verbundene „Perspektive von unten“ in ihren verschiedenen, politisch keineswegs eindeutigen Zusammenhängen zu verorten und, davon ausgehend, jenseits naiver Authentizitätserwartungen Wege zum kritischen Umgang mit den Feldpostbriefen als Grundlage einer soldatischen Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges zu weisen. Zentral dafür war schließlich ein Thema, das lange von der historischen Forschung vernachlässigt worden ist, obwohl Millionen Soldaten davon existentiell betroffen waren: die Kriegsgefangenschaft.21 Bei dem hier abgedruckten Beitrag handelt es sich um die zusammenfassenden Schlussbemerkungen der 2006 veröffentlichten Düsseldorfer Dissertation von Uta Hinz über die kriegsgefangenen ausländischen Soldaten, die während des Ersten Weltkrieges und teilweise auch darüber hinaus zu Millionen in deutschem Gewahrsam waren. Aufgezeigt wird darin vor allem das Spannungsverhältnis zwischen dem Bemühen, trotz aller Überforderungen die völkerrechtlichen Bestimmungen einzuhalten auf der einen Seite, und den Entwicklungstendenzen und Zwängen des zunehmen totalen Krieges, die insbesondere im Bereich der Ernährung und des Arbeitszwangs immer deutli-
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cher völkerrechtswidrige, ausbeuterische Züge annahmen, auf der anderen Seite. Politische Kulturgeschichte Die kulturgeschichtliche Erforschung des Ersten Weltkrieges ist in Deutschland vor allem aus zwei unterschiedlichen Wurzeln hervorgegangen. Zum einen hat sie sich aus der Sozialgeschichtsschreibung heraus entwickelt, die im Zuge ihrer Erweiterung zur Gesellschaftsgeschichte dazu übergegangen ist, immer stärker auch kulturelle Phänomene, insbesondere Erfahrungen, Mentalitäten und Verarbeitungen in ihre Studien einzubeziehen; dies gilt etwa für die hier abgedruckten Beiträge von Wolfgang Kruse und Ute Daniel. Zum anderen hat sie, wie in den Beiträgen von Bernd Hüppauf und Anne Schmidt deutlich wird, wesentliche Anstöße von Literatur- und Medienwissenschaftlern erhalten, die nicht nur die vielfältigen Kriegsromane untersucht, sondern bald auch andere historische Quellen in ihre Forschungen zum Kriegserlebnis des Ersten Weltkrieges einbezogen haben.22 Der erste hier abgedruckte, vom Herausgeber erstmals 1991 veröffentlichte Beitrag steht im Schnittpunkt zweier Themen und Forschungsentwicklungen: Zum einen handelt es sich dabei um die kritische Untersuchung der Stimmungsentwicklung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die lange unhinterfragt im Zeichen des Propagandabildes einer einheitlichen nationalen Kriegsbegeisterung gestanden hat. Nachdem für Frankreich Jean-Jacques Becker in einer großen Untersuchung dieses Bild nachhaltig relativiert hatte und auch für Deutschland schon einige Lokalstudien andere Ergebnisse andeuteten23, steht dieser Aufsatz am Anfang einer Neuerforschung des deutschen „Augusterlebnisses“ von 1914, die vielfältige, sozial und regional unterschiedliche, vielfach auch brüchige Stimmungslagen herausgearbeitet hat, unter denen die Kriegsbegeisterung nur als eine, bald jedoch zum Mythos erhobene Ausprägung gelten kann.24 Zum anderen thematisiert der Beitrag die Entstehung der unter den Chiffren „Geist von 1914“ und „Ideen von 1914“ verbreiteten Sinnstiftungen des Krieges, die schon lange und immer wieder das Interesse der Forschung geweckt haben.25 Sie werden hier vor allem aus den Strukturproblemen des Kaiserreichs und der gesellschaftspolitischen Dynamik des Kriegsbeginns heraus erklärt, die den ideologisierten Eindruck einer „deutschen“ Neuordnung heraufbeschwor. Während dabei, ähnlich wie in anderen Beiträgen, die politische Problematik der antiwestlich orientierten deutschen Selbstbestimmungsversuche des Ersten Weltkrieges betont wird, sind in der Folgezeit stärker auch die darin enthaltenen Reformbestrebungen herausgearbeitet worden.26
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Im zweiten Beitrag geht es um die Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit seinen umfassenden technologischen Vernichtungsorgien als Erschütterung und Zerstörung von Normen und Wertvorstellungen, die bislang als Grundlage der modernen Zivilisation erschienen waren. Nachdem zuerst angelsächsische Literatur- und Kulturwissenschaftler wie Paul Fussel und Eric J. Lead diese Destruktionserfahrungen und ihre Verarbeitung thematisiert hatten27, war es vor allem der in Sydney und New York lehrende deutsche Literaturwissenschaftlicher Bernd Hüppauf, der weiterführende Perspektiven auf die zivilisatorischen Dimensionen der Kriegserfahrung geworfen hat. Neben der Kriegsliteratur rückte so die Kriegsphotographie in den Fokus der Forschung, die spezifischen Zeitwahrnehmungen des Krieges wurden von Hüppauf ebenso thematisiert wie, in einem bahnbrechenden, vielfach abgedruckten Aufsatz, die im Zeichen des industrialisierten Krieges neu entstehenden soldatischen Menschenbilder.28 Der hier abgedruckte, 1991 in einer weniger bekannten Literaturzeitschrift erschienene Beitrag rückt, dem „spatial turn“ der Kulturwissenschaft folgend, die Räume der technologischen Vernichtung an der Westfront in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zugleich ordnet er die neuere kulturgeschichtliche Erforschung der soldatischen Kriegserfahrungen in allgemeinere, vom Zweifel an den Potentialen der Moderne geprägte Forschungszusammenhänge ein. Die beiden folgenden Beiträge beziehen sich wieder vornehmlich auf die „Heimatfront“, und sie konzentrieren sich dabei auf das für eine politische Kulturgeschichte zentrale Thema der Kriegspropaganda. Ute Daniel geht in dem ersten, 1993 veröffentlichten Beitrag, der aus einem Kapitel ihrer Dissertation über Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft hervorgegangenen ist, von den informellen Kommunikationsstrukturen wie vor allem den Gerüchten aus, mit denen die schlecht informierten Menschen in der Heimat das Kriegsgeschehen zu fassen versuchten. Den enormen Ausbau der Propagandaapparate während des Krieges deutet sie vor diesem Hintergrund als Reaktion des Militärstaates zur Kontrolle und Steuerung einer immer kriegsgegnerischen Stimmungsentwicklung. Der abschließende Beitrag von Anne Schmidt, 2006 als Exkurs im Rahmen ihrer Bielefelder Dissertation über die verschiedenen, traditionalistischen, modernistischen und reformistischen Formen staatlicher Kommunikationspolitik im Ersten Weltkrieg erschienen, greift die neueren bildwissenschaftlichen Ansätze in den Medien- und Kulturwissenschaften auf und analysiert die visuellen Aspekte der deutschen Kriegspropaganda. Die zunehmend in Bildform umgesetzten und propagierten Sinnstiftungen, Selbst- und Feindbilder des Krieges treten dabei in ihrer neuartigen, auf Massenwirksamkeit zielenden Qualität hervor. Zugleich wird deutlich, wie sehr in der Propaganda des Ersten Weltkrieges Ent-
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wicklungen ihren Ausgang nahmen, von denen die totalitären Massenbewegungen und Regime der folgenden Jahrzehnte nachhaltig geprägt wurden. Die neuesten, hier nicht mehr mit einem Beitrag vertretenen Wege der Forschung zielen vor allem, das soll abschließend angemerkt werden, auf die Untersuchung der deutschen Besatzungsherrschaft im Ersten Weltkrieg. Unter sozialgeschichtlichen Perspektiven geht es dabei um die Ausbeutung der besetzten Gebiete und die Anfänge der Zwangsarbeit. Der kulturgeschichtliche Blick dagegen rückt, bisher insbesondere für die deutsche Herrschaft in Mittel- und Osteuropa, die Überlegenheitsgefühle und Herrschaftsphantasien der Besatzer in den Mittelpunkt.29 Wir dürfen gespannt sein, ob und wie die öffentliche Erinnerung an 100 Jahre Erster Weltkrieg in den kommenden vier Jahren weitere neue Wege der Forschung eröffnen wird. Dafür kann es jedenfalls nicht falsch sein, auch die bisherige Forschungsentwicklung im Blick zu behalten und den Versuch zu unternehmen, mit neuen Fragen, Perspektiven und Schwerpunktsetzungen doch auch von ihren Erkenntnissen und Erkenntnislücken auszugehen. Anmerkungen 1
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Zur Forschungsentwicklung vgl. Wolfgang J. Mommsen, Ders., Der große Krieg und die Historiker. Neue Wege der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg, Essen 2002; Winter, Jay M. u. Antoine Prost (Hg.), The Great War in History. Debates and Controversies 1914 to the Present, Cambridge 2005. Vgl. für den Ersten Weltkrieg Karl Dietrich Erdmann, Der Erste Weltkrieg (Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 18), München 1961; Peter Graf Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankf./M. 1968; mit neuer, allerdings teilweise dogmatischer gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive bereits Fritz Klein u. a., Deutschland im Ersten Weltkrieg, 3 Bde., Leipzig 1968-70. Vgl. zuletzt Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 (Orig. London 2012); dagegen Mark Hewitson, Germany and the Causes oft he First World War, Oxford u. New York 2004; zur Forschungsentwicklung Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1984. Vgl. einführend Thomas Kühne und Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn u. a. 2000.
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Vgl. etwa Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002; Aribert Reimann, Der Große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkries, Essen 2000; Thomas Raithel, „Das Wunder der inneren Einheit“. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; Molthagen, Dietmar, Das Ende der Bürgerlichkeit? Liverpooler und Hamburger Bürgerfamilien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007. 6 Vgl. Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2010. 7 Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labour in Germany, 1914-1918, Princeton 1966 (dt. unter dem Titel: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918, Bonn u. Berlin 1985). 8 Ders., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, Oxford 1993. 9 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1973. 10 Vgl. zur weiteren Forschung beispielhaft Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997; Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003; Jacob Rosenthal, Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankf./M. u. New York 1997; Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001; Andrew Donson, Youth in the Fatherless Land. War, Pedagogy, Nationalism, and Authority in Germany, 1914-1918, Harvard 2010. 11 Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main 1997, S. 92-126. 12 Vgl. Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989; ferner Birte Kundrus, „Kriegerfrauen“. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; allg. Margret R. Higonnet (Hg.), Behind the Lines. Gender and the two World Wars, New Haven u. London 1987; Karen Hagemann u. a. (Hg.), Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankf./M. u. New York 2002. 13 Vgl. den damaligen Forschungsstand zusammenfassend Reinhard Rürup, Rätebewegung und Revolution in Deutschland 1918/19, in: Neue Politische Literatur, 12. Jg. 1967, S. 303-15; ders., Probleme der Revolution in Deutschland 1918/1919, Wiesbaden 1968; ferner die von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien sowie dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam herausgegebene Reihe „Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19“.
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Vgl. Reinhard Rürup, Demokratische Revolution und „dritter Weg“. Die deutsche Revolution von 1918/19 in der wissenschaftlichen Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft, 9. Jg. 1983, S. 278-301; zur Kritik Eckhard Jesse u. Henning Köhler, Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. Forschungsüberblick und Kritik an der „herrschenden Lehre“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 20/21, 1978, S. 3-23; zuletzt Karl Christian Führer u.a. (Hg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1920, Essen 2013. 15 Vgl. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman in der Weimarer Republik, Stuttgart 1986; Kurt Möser, Kriegsgeschichte und Kriegsliteratur. Formen der Verarbeitung des Ersten Weltkriegs, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, H. 40/2, 1986, S. 39-51. 16 Vgl. Tony Ashworth, Trench Warfare 1914-1918. The Live and Let Live System. London 1980; Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998; Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918, Göttingen 2003. Als besonders bedeutend wurde auch die psychischen Erkrankungen vieler Soldaten im industrialisierten Krieg und ihre häufig brutale Behandlung durch die expandierende Kriegspsychiatrie erkannt. Vgl. Barbara Schaffelner, Unvernunft und Kriegsmoral am Beispiel der Kriegsneurose im Ersten Weltkrieg, Wien 2005; Peter Leese, Shell Shock. Traumatic Neurosis and the British Soldiers oft he First World War, New York 2002. 17 Vgl. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1930, Vierte Reihe: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs 1918. 18 Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München u. Zürich 1992. 19 Vgl. Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Bd. 1, Hamburg 1986, S. 101-129; zur Dolchstoßlegende allg. vgl. neben Barth, Dolchstoßlegenden, Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983 20 Vgl. Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997. 21 Zum Thema Kriegsgefangenschaft sind in der letzten Zeit eine Reihe von Studien entstanden. Vgl. zusammenfassend Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn u. a. 2005. 22 Vgl. grundlegend Paul Fussel, The Great War and Modern Memory, New York 1975; für Deutschland Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der symbolischen Deutung und Gestaltung der Nationen, Göttingen 1980; Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende
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Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein/Ts. 1984. 23 Vgl. Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique printemps-été 1914, Paris 1977; Volker Ullrich, Kriegsalltag in Hamburg, Köln 1982; Friedhelm Boll, Massenbewegungen in Niedersachsen 1906-1920, Bonn 1981; Karl-Dietrich Schwarz, Weltkrieg und Revolution in Nürnberg, Stuttgart 1971. 24 Vgl. grundlegend Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993; Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998. 25 Vgl. u. a. Hermann Lübbe, Die philosophischen Ideen von 1914, in: ders., Politische Philosophie in Deutschland, München 1974, S. 173-238; Reinhard Rürup, Der „Geist von 1914“ in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Kriegs im Ersten Weltkrieg, in: Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg, S. 1-30; Wolfgang J. Mommsen, Der „Geist von 1914“: Das Programm eines politischen „Sonderwegs“ der Deutschen, in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des Deutschen Kaiserreichs, Frankf./M. 1990, S. 407-21; vergleichend Peter Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2004. 26 Vgl. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; klassisch bereits Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundlagen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969. 27 Vgl. Neben Fussel, Great War, vor allem Eric J. Leed, No Man’s Land. Combat & Identity in World War I, Cambridge u. New York 1979. 28 Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des „Neuen Menschen“, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 4384. 29 Vgl. Christof Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914-1918, Paderborn 2012; Jens Thiel, „Menschenbassin Belgien“. Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007; Hirschfeld, Gerhard u. a. (Hg.), Die Deutschen an der Somme 1914-1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde, Essen 2006; Vejas G. Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002 (Orig. Cambridge/Mass. 2000).
Aus: Jay Winter u. a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 167-86. © HIS-Verlag, Hamburg
Gerald Feldman
Die Mobilisierung der Volkswirtschaften für den Krieg Als ich die Aufgabe übernahm, über die wirtschaftliche Mobilmachung der großen kriegführenden Mächte im Ersten Weltkrieg zu schreiben, fiel mir ein, daß dies das Thema des ersten Proseminars gewesen war, das ich 1963 in Berkeley mit Studenten im ersten Semester durchgeführt hatte. Ich hatte gerade meine Dissertation beendet, die drei Jahre später mit dem Titel »Army, Industry and Labor in Germany, 1914-1918« veröffentlicht werden sollte.1 Nach Fertigstellung dieser Arbeit war ich ein echter Fachidiot, der das meiste, das er im Studium gelernt hatte, vergessen hatte und unsicher in dem wissenschaftlichen Schützengraben kauerte, in dem er sich in den letzten Jahren verschanzt hatte. Mit dem Proseminar bot sich mir eine Gelegenheit, die Kenntnisse anzubringen, die ich im Übermaß besaß, und mich freier auf dem Terrain zu bewegen, das mir vertraut war. Sein Thema war die komparative nationale Geschichte des Ersten Weltkrieges unter dem Aspekt der Innenpolitik der beteiligten Länder. Ich habe nun freilich nicht vor, für meine Mitarbeit an dem vorliegenden Buch erneut eine nostalgische Reise anzutreten. Vielmehr möchte ich eine Bestandsaufnahme von drei Jahrzehnten historischer Forschung machen und mir über neue Perspektiven klarwerden, wobei diese Forschung und diese Perspektiven zwangsläufig durch wichtige Ereignisse der jüngeren Vergangenheit beeinflußt sind. Ich möchte dies anhand eines der Bücher deutlich machen, das ich meinen Studenten (und mir) 1963 zur Lektüre empfahl, nämlich Michael T. Florinskis Buch »End of the Russian Empire«.2 Das 1931 erschienene Buch war die Zusammenfassung der zwölf Bände füllenden russischen Beiträge zu der »Social and Economic History of the World War«, das vom Carnegie Endowment for International Peace veröffentlicht wurde. Dieses große Projekt, das Arbeiten über die verschiedenen kriegführenden Nationen enthielt, bleibt eine der wichtigsten und zuwenig genutzten Quellen über den Ersten Weltkrieg. Florinskis Band, der »zu erklären suchte, warum und wie die Monarchie scheiterte und durch eine kommunistische Diktatur ersetzt wurde«, wurde 1961 in einer PaperbackAusgabe neu herausgegeben, denn, wie Florinski in seinem Vorwort sagte, »angesichts der Stellung der Sowjetunion in der Weltpolitik ist
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dieses Buch heute vielleicht noch aktueller als in der Zeit, in der es geschrieben wurde«.3 Liest man Florinskis Beschreibung der russischen Kriegsanstrengungen und seine Schlußfolgerung, gewinnt man den Eindruck, eine weitere Neuausgabe könnte abermals aktuell sein: »Die Ursache der Katastrophe, die über das Zarenreich hereinbrach, läßt sich bis weit in die Geschichte des russischen Volkes zurückverfolgen. Solange von diesem Land nicht verlangt wurde, die ihm durch den Krieg auferlegten heroischen Anstrengungen zu machen, konnte es mit Abstand, aber nicht ohne einen gewissen Erfolg, den anderen europäischen Ländern auf dem Weg der wirtschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts folgen. Durch den Ersten Weltkrieg wurde die gesamte Ordnung des Reiches auf eine harte Probe gestellt. Die Überholtheit und Unzulänglichkeit seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur konnte nicht länger übersehen und vertuscht werden. Nach dem Beispiel Englands, Frankreichs und Deutschlands, die auf die Schläge, die sie erhielten, mit geradezu übermenschlichen Anstrengungen zur Bewältigung dieser Ausnahmesituation reagierten, versuchte auch Rußland, beziehungsweise seine gebildeten Schichten, das Land für den Krieg zu organisieren; doch diese Bemühungen waren unsystematisch, unkoordiniert und in ihrer Hilflosigkeit 4 schon fast mitleiderregend.«
Die Mobilisierung der russischen Ressourcen für den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg unter dem kommunistischen Regime war zweifellos eine eindrucksvolle Leistung, aber das Ende der Sowjetunion und die derzeitigen Lebensbedingungen in ihren Nachfolgestaaten deuten darauf hin, daß Rußlands sozioökonomische Schwächen und politische Strukturen nach wie vor nicht seinen internationalen Bestrebungen entsprechen und daß es starke Kontinuitätslinien vom zaristischen Rußland bis zur Gegenwart gibt. Wie aus Florinskis Schlußfolgerung hervorgeht, unternahm auch das Russische Reich Anstrengungen zur Mobilisierung der gesellschaftlichen Ressourcen, eine Aufgabe, die die europäischen Großmächte und schließlich die Vereinigten Staaten ebenfalls auf eine harte Probe stellte. Welche Unterschiede es auch zwischen den kriegführenden Nationen gab – darauf werde ich später eingehen –, sie reagierten alle in gleicher Weise auf die Kriegserfordernisse. Das Ergebnis waren tiefgreifende Veränderungen in allen bedeutenden wirtschaftlichen und sozialen Bereichen, und zwar auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Während es schwierig ist, eine so umfassende kontrafaktische Frage zu beantworten wie die, was geschehen wäre, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, kann man mit Bestimmtheit sagen, daß das wirtschaftliche und finanzielle Wachstum der Vereinigten Staaten, die Globalisierung der internationalen Wirtschaft, die Verschiebungen im relativen
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Gewicht der verschiedenen Industriezweige, der Ausbau des Sozialstaats und die Einführung von Tarifverträgen in jedem Fall stattgefunden hätten. Der Krieg veränderte lediglich die Art und Weise, wie diese Prozesse stattfanden, und schuf die Bedingungen, unter denen sie zustande kamen. Wie ich an anderer Stelle unter spezieller Bezugnahme auf Deutschland dargelegt habe – was sich aber durchaus verallgemeinern läßt –, brachte der Erste Weltkrieg große Umgestaltungen mit sich, die dazu führten, daß die Geschichte durch neue Kräfteverhältnisse bestimmt und in andere Bahnen gelenkt wurde.5 Damit meine ich jedoch nicht, daß die Ergebnisse in irgendeiner Weise besser waren als das von Frankenstein geschaffene Geschöpf. Nach dem Krieg gab es bei Kritikern, Historikern und anderen Beobachtern lange die starke Tendenz, in der Organisation der Kriegswirtschaft und ihren gesellschaftspolitischen Tendenzen das vielversprechende Modell einer zukünftigen Wirtschaftsordnung zu sehen, die auf Planung, rationeller Organisation sowie auf der Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und dem Staat basieren sollte, und die Fehler und Schwächen der Zwischenkriegszeit als soziale und wirtschaftliche Konsequenzen des Friedens und der Bemühungen um die Wiederherstellung der Vorkriegsordnung zu verstehen. Eine solche Kritik spiegelte die enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen von Männern wie Walther Rathenau, Albert Thomas und Etienne Clemental, die die Kriegswirtschaft geplant und organisiert hatten, sowie die Phantasien sozialistischer Theoretiker wie Rudolf Hilferding. Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, um derartige Illusionen aufzugeben und anzuerkennen, daß die Folgen des Friedens die Folgen des Krieges waren. Die gleichen Bedingungen, die eine Rückkehr zur Vorkriegszeit unmöglich machten, machten es auch unmöglich, die Wirtschaft so effektiv wiederaufzubauen, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft und der internationalen Zusammenarbeit geschah, und wie es auch heute in Mittel- und Osteuropa möglich sein könnte, nachdem die »real existierenden« sozialistischen Systeme zusammengebrochen sind und der Kalte Krieg beendet ist. Das heißt, die wirtschaftliche Mobilmachung im Ersten Weltkrieg war nicht das potentielle Vorspiel zu einer neuen Wirtschaftsordnung, sondern stellte eine massive Störung und Verzerrung der hoffnungsvollen Ansätze dar, die das internationale kapitalistische System vor 1914 enthalten hatte. Erinnern wir zunächst daran, daß die wirtschaftliche Mobilmachung – von einigen wenigen Fanatikern abgesehen – der Alptraum der Militärs und Staatsmänner der Vorkriegszeit war. Sie waren sich der großen Gefahren eines langen Krieges sehr bewußt, und dies war einer der
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Gründe für die Illusion von einem kurzen Krieg sowie für die Überzeugung mancher Leute – wie Norman Angell –, daß moderner Industriekapitalismus und große Kriege unvereinbar seien.6 Interessanterweise war es Graf von Schlieffen, der Urheber des berühmten Schlieffen-Plans, der am nachdrücklichsten die Möglichkeit langer Kriege unter modernen Bedingungen verneinte. Er sagte 1909: »Solche Kriege sind aber zu einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einen ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie begründet ist. [...] Eine Ermattungsstrategie läßt sich nicht treiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Aufwand von Milliarden erfordert.«7 In letzter Zeit wurde die Auffassung vertreten, Schlieffens Nachfolger, Helmuth von Moltke, hätte einen langen Krieg vorausgesehen und darauf gedrängt, die Wirtschaft besser darauf vorzubereiten. In weiser Voraussicht nahm Moltke die Niederlande von den neutralen Ländern aus, in die die Deutschen einmarschieren sollten, um sicherzustellen, daß Deutschland von holländischen Häfen aus versorgt werden konnte.8 Nichts deutet jedoch darauf hin, daß er oder irgendein anderer Entscheidungsträger in einem der künftigen kriegführenden Staaten die Einbeziehung der zivilen Wirtschaft in die Kriegsanstrengungen gefordert hätte. Sicherlich gab es wohldurchdachte Bemühungen, einen großen internationalen Konflikt zu vermeiden, und es kommt nicht von ungefähr, daß der Bereich, in dem wichtige Vorbereitungen getroffen wurden – der Währungs- und Finanzbereich –, am wenigsten transparent war; hier konnte die Regierung die Öffentlichkeit am überzeugendsten täuschen, weil sie sich zuerst selbst täuschen mußte. Wie Barry Eichengreen in seinem hervorragenden Buch »Golden Fetters«9 gezeigt hat, hatte die Goldwährung vor 1914 nicht so reibungslos funktioniert und war nicht in dem Maße von London gesteuert worden, wie einige ihrer Bewunderer angenommen hatten, und es ist schwer vorstellbar, daß sich ihre Funktionen im Laufe der Zeit nicht geändert hätten. Gleichwohl sorgte die internationale währungspolitische Zusammenarbeit für ihren Fortbestand, solange diejenigen, die zusammenarbeiteten, nicht beschlossen, sich gegenseitig umzubringen. Zudem war das internationale Währungssystem vor dem Krieg die Klammer, die den internationalen Handel und das inländische Finanzsystem zusammenhielt, wodurch der Handel gefördert und die Regierungen gezwungen wurden, im großen und ganzen nicht über ihre Verhältnisse zu leben. Kurzum, die Goldwährung förderte eine Welt von »handeltreibenden Staaten«, die im Gegensatz zu einer politisch und militärisch rivalisierenden Welt stand.10 Leider waren die atavistischen Tendenzen in der internationalen Ordnung stärker als die fortschrittlichen. Schon vor dem Krieg gerieten die nationalen Finanzsysteme durch das Wettrüsten aus dem Gleichgewicht,
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was zur Einschränkung ihrer wirtschafts- und handelspolitischen Entwicklungsmöglichkeiten führte. Gold wurde gehortet und Vorkehrungen wurden getroffen, um im Fall eines Krieges die Konvertibilität aufzuheben, die Wechselkurse künstlich aufrechtzuerhalten, Verträge zu brechen und finanzielle Verpflichtungen nicht einzuhalten.11 Merkwürdigerweise ging die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen für den Krieg fast zwangsläufig mit Maßnahmen einher, die man als Demobilisierung bezeichnen könnte. Für diese Demobilisierung lieferten die Russen ein besonders verblüffendes Beispiel, indem sie die Prohibition einführten, obwohl das Branntweinmonopol die wichtigste Einkommensquelle des Staates war. Das einzige, was dadurch verringert wurde, waren die Einnahmen des Staates, der gezwungen war, massenhaft Geld zu drucken, das jedoch – genau wie der in Millionen von Haushalten illegal gebrannte Schnaps – um so weniger Befriedigung verschaffte, je mehr verbraucht wurde.12 Abgesehen von der Abhängigkeit des russischen Staates von der Branntweinsteuer, unterschied sich Rußlands Finanzgebaren jedoch nicht allzusehr von dem der Kontinentalmächte, die mehr auf Kriegsanleihen als auf Steuern zurückgriffen, um die wachsenden Kriegskosten zu finanzieren. Rußland hatte, wie Frankreich, Zugang zu Krediten von seinen reicheren Verbündeten, zuerst Großbritannien und dann die Vereinigten Staaten, doch der größte Teil der Kosten wurde durch Kriegsanleihen und durch die Notenpresse gedeckt. ÖsterreichUngarn konnte bis zu einem gewissen Grad Geld von Deutschland leihen, aber Deutschland konnte bei niemandem Geld leihen und wurde das berühmteste Beispiel für ein großes Land, das beschloß, den Krieg mit inländischen Kriegsanleihen und nicht mit Steuern zu finanzieren.13 Die Kampagnen für die Zeichnung von Kriegsanleihen in Deutschland und anderen Ländern stellen – vor allem unter dem Gesichtspunkt der Propaganda – einen wichtigen und bislang nicht ausreichend untersuchten Aspekt der Mobilisierung der inneren Kräfte für den Krieg dar. Ich möchte allerdings noch einmal auf die Grenzen der finanziellen Mobilmachung und auf die tiefgreifenden Folgen der Kriegskosten hinweisen. Sowohl den Deutschen als auch den Franzosen widerstrebte es, ihre Bürger zu besteuern, und sie versprachen, die Kriegskosten nach dem Sieg dem Feind aufzubürden, ohne zu erklären, wie die Entschädigungen beziehungsweise Reparationen bezahlt werden sollten, wenn man, was sowohl die Alliierten als auch die Mittelmächte 1917 vorhatten, nach dem Krieg einen Wirtschaftskrieg gegen seine ehemaligen Feinde führen wollte. Die Briten waren wohl am erfolgreichsten bei der Finanzierung ihres Krieges durch Steuern. Sie hatten, wie Theodore Balderston zutreffend dargelegt hat, Banken, die daran gewöhnt und bereit waren, dem Staat Geld zu leihen.14 Das bedeutete freilich nicht, daß die
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besitzenden Schichten in Großbritannien oder in anderen Ländern bereit gewesen wären, diese kriegsbedingte Besteuerung von Einkommen und Gewinnen auch nach dem Krieg weiter hinzunehmen. Die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen fand in einer nationalen Notstandssituation statt, die allgemeiner Erwartung zufolge nach dem Krieg enden würde. Sie fand andererseits aber auch in einer Situation statt, in der die Unternehmer die abzusehenden hohen Kosten der Rückkehr zur Friedensproduktion und der Wiederherstellung ihrer Marktposition vorwegnahmen – ein Umstand, der von sozial gesonnenen Historikern zu wenig ernst genommen wird – und in der die unteren Schichten Erwartungen entwickelt hatten, die wenig Rücksicht auf die Notwendigkeit nahmen, den Wert der Währungen wiederherzustellen und die nationalen und internationalen Wirtschaftsstrukturen wiederaufzubauen. Dazu Barry Eichengreen: »Durch den Krieg veränderte sich das Verständnis von steuerlicher Belastung und Einkommensverteilung. Nach dem Waffenstillstand forderten die Wohlhabenden die Abschaffung der neuen Einkommenssteuern und die Zurückführung der alten auf das Vorkriegsniveau. Dagegen verlangten die Vertreter der Arbeiterschaft, unerwartete Gewinne und Kapitalzuwächse der Betreiber und Besitzer von kriegswichtigen Industriezweigen durch Abgaben abzuschöpfen. Jeder Versuch, das Steuersystem der Vorkriegszeit wiederherzustellen, wurde durch neue Ansprüche an die staatlichen Finanzen erschwert. Ein Land, das Helden hervorgebracht hatte, brauchte großzügige Pensionen für Kriegsveteranen, ein gutes Gesundheitssystem, Arbeitslosenunterstützung und Wohnungsbeihilfen. Es mußten zusätzliche Einnahmequellen gefunden werden. Die Frage war, ob man sich dabei an den Vorkriegspraktiken oder an während des Krieges entwickelten Instrumenten orientieren sollte. Dies war die strittigste Frage, vor der die 15 Regierungen in der Nachkriegszeit standen.«
Eine Antwort darauf hätte jedoch vor dem Hintergrund einer grundlegenden Veränderung der internationalen Finanzbeziehungen gefunden werden müssen, die mehrere Ursachen hatte: die Kriegsschulden der Alliierten, Reparationen, Währungsabwertungen und Inflation und schließlich der Aufstieg der Vereinigten Staaten, die noch nie die Rolle eines internationalen Gläubigers und finanziellen Rettungsankers gespielt und kaum eine Ahnung von internationaler Wirtschaftskooperation hatten, zu einem Gläubigerland. Schlieffen und Norman Angell mögen sich geirrt haben, als sie annahmen, entwickelte Industriegesellschaften könnten keine langen Kriege führen, doch sie hatten recht mit der Annahme, daß sie sich solche Kriege eigentlich nicht leisten konnten. – Nach diesen Ausführungen über die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen, die mit einem Abbau der für das Vorkriegsregime der
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Goldwährung kennzeichnenden Finanz- und Steuerdisziplin einherging, möchte ich auf die Mobilisierung der sogenannten Realwirtschaft eingehen. Die Mobilisierung der Realwirtschaft hat zwei Aspekte, die zwar miteinander verbunden sind, jedoch getrennt untersucht werden sollten. Der eine ist der Einsatz der Industrie für die Kriegsproduktion. Der andere ist das Problem der Versorgung der Menschen in Kriegszeiten, also das Problem, die lebensnotwendigen Güter bereitzustellen und den Lebensstandard der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Aus verschiedenen Gründen – unter anderem deswegen, weil ich mich am gründlichsten mit Deutschland beschäftigt habe – halte ich es für hilfreich, Deutschland in beiden Bereichen als idealtypisch zu betrachten. Deutschland, gegen das eine Blockade verhängt war und das der am höchsten entwickelte Industriestaat Europas war, hatte schon in der Anfangsphase des Krieges beträchtliche Versorgungsschwierigkeiten. Es mußte eine Rohstoffbewirtschaftung einführen, und es entwickelte Organisationsstrukturen, die für andere kriegführende Länder zum Vorbild wurden. Gleichzeitig gab es in Deutschland Konflikte wegen der Bewirtschaftungsmaßnahmen, die auch in anderen Ländern Parallelen hatten. Die mit dem relativ langsamen Übergang Deutschlands zur »totalen Mobilmachung« verbundenen Probleme wurden hier deutlicher angesprochen als anderswo. Dies lag zum Teil daran, daß Deutschland eine hochorganisierte Gesellschaft mit einer starken zivilen und militärischen Bürokratie, mächtigen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden, großen Gewerkschaften und bedeutsamen korporatistischen Traditionen war. Gleichzeitig war das kaiserliche Deutschland eine seltsame Mischung aus Liberalismus und Autoritarismus, ein konstitutioneller Staat mit wachsenden Tendenzen zum Parlamentarismus und einer starken Opposition, die sich jeder politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung entgegenstemmte. Es hatte eine Tradition der Selbstverwaltung durch wirtschaftliche Interessengruppen, die auf einer Kombination von liberalen Wirtschaftsprinzipien und staatlicher Unterstützung der Schlüsselsektoren basierte. Es verfügte über ein Sozialsystem, in dem sich staatliche Eingriffe mit organisierter Mitbestimmung von unten verbanden. Deutschland war ein Land, das mehr als irgendein Land in Europa das Beste aus dem internationalen Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit gemacht hatte und dessen Wohlstand aufs höchste gefährdet war, wenn dieses System durcheinandergeriet. Zugleich war es jedoch das Land, dessen Militär- und Außenpolitik am meisten zur Destabilisierung der internationalen Beziehungen beigetragen hatte. Die wirtschaftliche Mobilmachung bedrohte die fragilen Gleichgewichte, auf denen das Kaiserreich und seine Errungenschaften beruhten, so daß es nicht überrascht,
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daß über viele mit der wirtschaftlichen Mobilisierung verbundene Fragen in Deutschland widersprüchlich diskutiert wurde. Der Widerstand der zivilen und militärischen Bürokratie gegen die Mobilisierung der wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen für den Krieg ist folglich nicht als ein Zeichen von Zurückgebliebenheit, sondern als eine instinktive systemerhaltende Reaktion auf die Gefahren einer solchen Mobilisierung zu verstehen. Die notwendigen Initiativen mußten daher von Kräften außerhalb der Bürokratie kommen. Die bekannteste war der Vorschlag von Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff, beim preußischen Kriegsministerium eine Rohstoffabteilung einzurichten, in der die Industrie in eigener Verantwortung für die Beschaffung und Verteilung der knappen Rohstoffe entsprechend den von den Militärbehörden gesetzten Prioritäten sorgen sollte.16 Dieses Organisationsmodell wurde von anderen kriegführenden Nationen, einschließlich der Vereinigten Staaten, weitgehend übernommen, und Rathenau und Moellendorff sahen in ihm einen Prototyp für die Neuordnung der Wirtschaft nach dem Krieg. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß die meisten deutschen Unternehmen von diesen Ideen gar nicht begeistert waren. Sie nahmen sie hin, weil der Krieg sie notwendig machte, wehrten sich im Laufe des Krieges aber immer vehementer gegen ihre Weiterführung. Die Befürworter eines Kriegssozialismus à la Rathenau und Moellendorff waren selten in Wirtschaftskreisen, sondern eher unter jungen Technokraten, Wissenschaftlern und Sozialisten anzutreffen, die die Gelegenheit ergriffen, um ihre abstrakten Ideale zu konkretisieren. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis ein weiterer Versuch zur Organisation der Kriegswirtschaft unternommen wurde. Das deutsche Kriegsministerium, das für die wirtschaftliche Mobilmachung verantwortlich war, verfolgte einen äußerst konservativen Kurs, obwohl die Anforderungen an die Kriegsproduktion wuchsen und die Notwendigkeit bestand, Facharbeiter vom Militärdienst freizustellen und Arbeiter von der Front anzufordern. Ausgerechnet das liberale Großbritannien spielte durch die Schaffung des Kriegsministeriums im Jahre 1915 eine Vorreiterrolle bei der Organisation der Kriegswirtschaft. Der Schein kann allerdings trügen. Die deutsche Armee war eine Armee von Wehrpflichtigen, und obwohl das Kriegsministerium, weil es mit einem kurzen Krieg rechnete, zu viele Arbeiter einberief, die an der Heimatfront gebraucht wurden, war dies ein Fehler, den das Ministerium korrigieren konnte. In Großbritannien gingen die Arbeiter freiwillig zum Militär, und erst als 1916 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, konnte man zu einem koordinierten Einsatz der Arbeitskräfte übergehen. Was das deutsche Kriegsministerium anstrebte und was sich letztlich als un-
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möglich erwies, war die möglichst lange Kontrolle über die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des unerwartet langen Krieges. Anstelle einer militärisch-industriellen Kooperation gab es folglich ein Spannungsverhältnis zwischen Militär und Industrie: Das Kriegsministerium wollte verhindern, daß zu viele Arbeiter vom Militärdienst freigestellt oder von der Front zurückgeschickt wurden; durch eine Dämpfung der Nachfrage und eine Begrenzung der Gewinne wollte es die Belastungen für die Wirtschaft verringern und die Kosten eindämmen; die Moral der Arbeiter sollte dadurch hochgehalten werden, daß die Arbeitgeber daran gehindert wurden, ihre Arbeiter auszubeuten, und daß gemeinsame Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Ausschüsse und Vertreter der Gewerkschaften in Konfliktfällen vermittelten, um eine größere Verschiebung des Machtgleichgewichts zu verhindern. Diese gemäßigte Politik hatte die Unterstützung der Politiker, die sich der sozialpolitischen Gefahren eines Krieges, der zu einem totalen werden sollte, bewußt waren.17 Mit den großen Materialschlachten an der Somme im Sommer 1916 und der Berufung des Militaristen Erich Ludendorff und seines fanatischen Beraters Major (später Oberstleutnant) Max Bauer in die Oberste Heeresleitung fand diese Mäßigung ein Ende. Jetzt kam es zu einer umfassenden Mobilisierung der Volkswirtschaft, die von den Industriellen beeinflußt und organisiert wurde, welche ihre Betriebskapazitäten voll ausnutzen wollten und einen großen Bedarf an Arbeitskräften hatten. Im Militär kamen Leute zum Zuge, die hart durchgriffen, um mit dem aufzuräumen, was sie bürokratische Schlamperei nannten, und technokratische Träumer wie Moellendorff kaltstellten, die glaubten, die Krise könnte genutzt werden, um ihre Pläne für eine Rationalisierung der Wirtschaft zu verwirklichen und eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die auf der Selbstverwaltung der Wirtschaft bei gleichzeitigen Staatseingriffen basieren sollte. Das Ergebnis der neuen Politik waren erstens das Hindenburg-Programm, das eine gewaltige Steigerung der Rüstungsproduktion vorsah und die Wirtschaft ins Chaos stürzte, weil es Kohleknappheit, Transportprobleme und zunehmende Inflation hervorrief; zweitens die Lenkung der Kriegswirtschaft durch das neugeschaffene Kriegsamt, das von wohlmeinenden und fähigen Leuten geführt wurde, letztlich jedoch die bürokratischen Probleme verschärfte; und drittens das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst, das die Bevölkerung für die Kriegsanstrengungen mobilisieren und die Fluktuation der Arbeitskräfte kontrollieren sollte, das aber von bestimmten Interessengruppen benutzt wurde, um Kriegsgewinne und Lohnerhöhungen zu erzielen, wodurch die Fluktuation mehr gefördert als eingeschränkt wurde. Das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst wurde häufig als die Mag-
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na Charta der organisierten Arbeitnehmerschaft in Deutschland betrachtet, was gewiß nicht im Sinne der Obersten Heeresleitung oder der Industriellen war. Interessanterweise waren Frauen entgegen den Wünschen der Obersten Heeresleitung von diesem Gesetz ausgeschlossen, weil die zivilen Behörden zu Recht argumentierten, daß diejenigen Frauen, die arbeitsfähig waren, bereits arbeiteten und in die Rüstungsindustrie gegangen waren. Daß sich die Oberste Heeresleitung und die Industriellen nicht auf der ganzen Linie durchsetzen konnten und die Arbeiterschaft Erfolge erzielte, hat naheliegende Gründe. Gibt es in einem Land keine totalitäre Diktatur, ist es unmöglich, die Zivilbevölkerung zu mobilisieren, ohne ihr eine Entschädigung in Form von Privilegien, mehr Rechten und Versprechungen für die Zukunft zu gewähren. Dies war besonders in Deutschland während des Ersten Weltkrieges der Fall, als die Unterstützung der Sozialisten für den Krieg anerkannt werden mußte und als die Blockade eine Kleidungs- und Lebensmittelknappheit schuf, die die Unzufriedenheit der Bevölkerung verstärkte und bei den Arbeitern zu höheren Ansprüchen und Forderungen führte. Die Bewältigung beziehungsweise Nichtbewältigung dieser Versorgungsprobleme hatte tiefgreifende soziale Folgen. Sämtliche Regulierungen in bezug auf Produktion, Preisgestaltung und Verteilung, die in den ersten beiden Kriegsjahren eingeführt wurden und die sogenannte Zwangswirtschaft bildeten, waren darauf ausgerichtet, die städtischen Arbeiter gegenüber den Bauern und Einzelhändlern zu bevorzugen. Die letzteren trugen die Hauptlast des »Konsumentensozialismus«, eines Systems von endlosen Vorschriften, deren Nichteinhaltung Konfiszierungen, Gerichtsverfahren, Bußgelder und sogar Gefängnisstrafen nach sich ziehen konnte. Da die Regierung immer behauptet hatte, den sogenannten Mittelstand, also die Bauern, Einzelhändler und Handwerker, zu fördern, waren diese über ihren plötzlichen Niedergang um so verbitterter. Letztlich aber funktionierte das System nicht: erstens wegen des absoluten Lebensmittelmangels und zweitens, weil eine übermäßige Regulierung und unzureichende Preisanreize das förderten, was sie, wie man weiß, stets fördern: Schwarzmarkt und Inflation. Das Ergebnis war eine regelrechte Kriminalisierung der deutschen Gesellschaft sowie das Entstehen einer tiefen Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern, zwischen Mittelstand und Arbeitern sowie zwischen Mittelstand und Oberschicht. Bis Ende 1917 hatten die Regulierung und die Mobilisierung der Wirtschaft einen gewaltigen Umschwung in großen Segmenten der deutschen Gesellschaft herbeigeführt. Industrielle, Kaufleute, Handwerker und Bauern lehnten die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen vehement ab und führten öffentliche Veranstaltungen und
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Demonstrationen gegen deren geplante Fortsetzung in Friedenszeiten durch. Gleichzeitig führte der Zusammenbruch der Versorgung bei den Arbeitern zu Desillusionierung und schwindendem Vertrauen in die Bürokratie. Diese Probleme und die allgemeine Kriegsmüdigkeit riefen die Streikwellen von 1917 und 1918 hervor. Wenn das deutsche Volk überhaupt so lange durchhielt, dann nur deswegen, weil es über die militärische Lage nicht informiert war und weiterhin an die Möglichkeit eines militärischen Sieges glaubte. Andererseits aber ebneten am Ende des Krieges die Unzufriedenheit mit der Bürokratie und das abnehmende Vertrauen in die Regierung den Weg für ein durch die Inflation gefördertes Bündnis zwischen der regulierten Industrie und der Arbeitnehmerschaft. Soviel zum deutschen »Modell«. Wie sah es bei den anderen kriegführenden Nationen aus? Die Versorgungsfrage läßt sich am leichtesten abhandeln, und sie ist wohl am ausschlaggebendsten für das relative Gelingen oder Mißlingen der wirtschaftlichen Mobilmachung. Das österreichische System der Nahrungsmittelbeschaffung ähnelte dem deutschen sowohl in seiner Organisation als auch in seinen Ergebnissen. Die österreichisch-ungarische Monarchie hätte theoretisch besser versorgt sein sollen als ihr Verbündeter, doch die Ungarn weigerten sich, ihren Partner zu versorgen, und durch die feindliche Besetzung anderer Getreidegebiete, durch Einberufungen und die Requirierung von Pferden und Futtermitteln verschlechterte sich die Versorgungslage erheblich. Österreichs zunehmende Nutzlosigkeit als Verbündeter und das Interesse der Regierung an einem Separatfrieden hatten zweifellos etwas mit dieser Situation zu tun.18 Organisationsfehler und zunehmende Spannungen zwischen Stadt und Land wirkten sich auch auf die Versorgungslage in Rußland aus, wenngleich die Gesamtsituation dort eine andere war. Wie die Deutschen und die Österreicher wollten die Russen ihre wirtschaftlichen Kriegsanstrengungen durch die Einrichtung spezieller Beiräte für nationale Verteidigung, Transportwesen, Brennstoffe und Lebensmittelversorgung im Sommer 1915 bündeln. Anscheinend wurden genügend Nahrungsmittel produziert, und viele Bauern profitierten zunächst insofern von dem Krieg, als die massive Einberufung im landwirtschaftlichen Bereich ihnen das Überleben ermöglichte. Im Gegensatz zu den Armeen der Mittelmächte hatte jedoch die russische Armee unter Entbehrungen zu leiden. In den russischen Versorgungsschwierigkeiten kamen mehrere Dinge zum Ausdruck: die industrielle Rückständigkeit Rußlands, ein mangelhaftes Transportsystem sowie das Fehlen ausreichender Industriegüter zur Versorgung der ländlichen Bevölkerung; hinzu kam, daß die Bauern immer weniger bereit waren, Papiergeld für ihre Produkte zu akzeptieren, daß sie zunehmend in eine
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dumpfe Selbstversorgungsmentalität verfielen und sich feindselig von anderen sozialen Schichten abgrenzten.19 Dieser kurze Überblick über die Versorgungsprobleme in Mittel- und Osteuropa beleuchtet schlaglichtartig die großen Vorteile der Alliierten. Das extremste Beispiel ist, wie Jay Winter aufgezeigt hat, Großbritannien, das Zugang zu Lebensmitteln aus dem Ausland hatte und die heimische Produktion mit Hilfe von Preis- und Lohnanreizen steigerte. Bemerkenswerterweise wurde aber eine Rationierung von Lebensmitteln erst 1918 eingeführt. Als sich die Versorgung mit Lebensmitteln schließlich doch verschlechterte und die Mahlzeiten aufgrund anderer Zutaten weniger schmackhaft wurden – was beim englischen Essen schwer vorstellbar ist –, war die Ursache dafür der enge Zusammenhang zwischen der Mobilisierung von Arbeitskräften und der Versorgungslage. Die Anwerbung von zuvor schlechter bezahlten Arbeitern für die Rüstungsindustrie, um die an die Front gegangenen Facharbeiter zu ersetzen, sowie die Bereitschaft der Regierung, die Löhne mit der Inflation steigen zu lassen, führte zu einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards. In Deutschland führte die Inflation zwar zu einer Erhöhung der Einkommen der unteren Lohngruppen, senkte aber den allgemeinen Lebensstandard, was in Großbritannien nicht der Fall war. Die Versorgung war, im Gegensatz zur britischen Wirtschaft, der große Schwachpunkt der deutschen Kriegswirtschaft. Wenn ich auch nicht so weit gehen würde wie Winter, der meint, »der Krieg hätte durchaus anders ausgehen können«, wenn die Deutschen auf diesem Gebiet Erfolg gehabt hätten, würde ich mich der Feststellung anschließen, daß es in der deutschen Bevölkerung »wesentlich mehr Entbehrungen, Belastungen, Verzweiflung und eine stärkere Verschlechterung des Gesundheitszustands [gab]. Sie bezahlte einen Preis, den die britische Zivilbevölkerung für die Kriegsanstrengungen ihres Landes nie zu bezahlen hatte.«20 Auch Frankreich stand im Vergleich zu Deutschland wesentlich besser da, weil es eine starke Landwirtschaft und Zugang zu Importen hatte. Dort begann die Rationierung von Nahrungsmitteln ebenfalls nicht vor 1917, und sie wurde erst 1918 allgemein durchgesetzt, als den Bauern, die insgesamt vom Krieg profitierten, Preisanreize gegeben wurden. Die Bauern waren zwar sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien als »Kriegsgewinnler« verschrien, und zwar vor allem, wenn es Engpässe gab oder die Menschen Schlange stehen mußten, doch die Feindschaft zwischen Stadt und Land, die es in Mittel- und Osteuropa gab, war eine Erfahrung, die den westlichen Alliierten erspart blieb.21 Aus alledem geht hervor, daß ausreichende Nahrungsmittel ein großer Vorteil der westlichen Alliierten waren und daß ein einigermaßen liberales Versorgungssystem effizienter war als die dirigistische wirtschaftli-
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che Mobilmachung. Allerdings war die Produktion von Waffen und Munition keineswegs unwichtig, und es stellt sich die Frage, in welchem Maße das deutsche Modell von anderen kriegführenden Staaten nachgeahmt wurde. Eine erfolgreiche Fortsetzung der Kriegsanstrengungen hing zum Teil von der freiwilligen oder erzwungenen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Arbeiterschaft ab. Es war ein Zeichen für Rußlands Rückständigkeit, aber auch für das in der Vorkriegszeit aufgekommene Streben nach wirtschaftlicher Modernisierung, daß liberal eingestellte Industrielle im Sommer 1915 die Initiative zur Gründung von Ausschüssen in der Rüstungsindustrie ergriffen und sich um eine Zusammenarbeit mit den Arbeitern bemühten. Im Mai 1916 wurden trotz des heftigen Widerstands der Bolschewisten Arbeitervertreter in 20 regionale und 98 Bezirksausschüsse gewählt. Leider waren die Obstruktionspolitik der Bolschewisten und das reaktionäre Regime, das 1916 an die Macht kam, stärker als die entstehende Zusammenarbeit zwischen Industrie und Arbeiterschaft. Die Arbeitervertreter wurden Anfang 1917 festgenommen, und wenn es nach der Zarin gegangen wäre, wären die Wirtschaftsvertreter in den Ausschüssen der Rüstungsindustrie ebenfalls verhaftet worden.22 Italien ist ein besonders interessantes Beispiel dafür, daß es trotz der großen Entwicklungsunterschiede bei den kriegführenden Ländern Parallelen gab. Unter den entwickelten Ländern war Italien ein »Nachzügler«; nach seinem Kriegseintritt nahm es rasch die Mobilisierung seiner wirtschaftlichen Ressourcen in Angriff, wobei es sich stark an ausländischen Vorbildern, besonders am britischen Kriegsministerium, orientierte. In der Praxis ähnelte das italienische Modell jedoch am meisten dem außerordentlich repressiven der Österreicher. Einerseits waren die italienischen Sozialisten gegen die Kriegsanstrengungen, so daß man in Italien keineswegs von einem echten Burgfrieden sprechen konnte. Andererseits waren die Arbeitgeber sehr darauf bedacht, die Arbeitnehmerschaft fest an der Kandare zu halten. Infolgedessen setzte das MI, die für die Mobilisierung der Industrie verantwortliche Behörde, auf die Militarisierung der Wirtschaft. Die italienischen Arbeiter wurden wie Zwangsarbeiter behandelt, hatten kein Streikrecht und waren einer militärischen Disziplin unterworfen. Wie in Deutschland und Osterreich lag die industrielle Mobilmachung in den Händen von Militärs, in diesem Fall von General Alfredo Dallolio. Im Gegensatz zum deutschen Kriegsministerium und zum späteren Kriegsamt war das MI, genau wie die entsprechenden Stellen in Osterreich, jedoch ausgesprochen arbeitnehmerfeindlich eingestellt. In den ihm unterstellten Schlichtungsausschüssen saßen keine Vertreter der Arbeiterschaft. Ende 1916 kam Dallolio wie seine
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Kollegen in Deutschland (einschließlich General Wilhelm Groener) allerdings zu dem Schluß, daß der Arbeitsfrieden nicht durch Repression aufrechtzuerhalten war. Sehr zum Leidwesen der Industriellen und des Generalstabs setzte er sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für Lohnerhöhungen zum Ausgleich für die Inflation ein, wobei er die Unternehmer aufforderte, »aus freien Stücken Konzessionen zu machen, bevor Sie dazu gezwungen werden«.23 Vertreter der Gewerkschaften wurden zunehmend herangezogen, um die Inflation in den Griff zu bekommen und die Unzufriedenheit zu dämpfen, die sich besonders nach der Katastrophe von Caporetto ausbreitete. Das Militär wollte eine strikte Unterscheidung von »wirtschaftlichen« und »politischen« Streiks, doch dies war eine künstliche Unterscheidung, da das Hauptziel der Streiks darin bestand, die Regierung zu zwingen, den Unternehmern Konzessionen abzuringen. Letztlich erwarteten sowohl die Arbeiter als auch die Industrie vom Staat Unterstützung für ihre Interessen und Forderungen und wollten nicht durch Zusammenarbeit aus der staatlichen Bevormundung ausbrechen. Was der italienische Historiker Giovanni Procacci »korporative soziale Fragmentierung«24 genannt hat, war das Ergebnis der Kriegswirtschaft. Sie unterschied sich sehr von der korporatistischen Zusammenarbeit, die in Deutschland aus der Kriegswirtschaft entstand und die für die englische Kriegswirtschaft in höherem Maße charakteristisch war als für die französische. Anders als in Deutschland, Osterreich, Italien und Rußland lag die Mobilisierung der wirtschaftlichen Ressourcen in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten in den Händen von zivilen Behörden, und allen drei Ländern kamen in der entscheidenden Phase des Krieges politische Führungen zugute, die im Auftrag des Volkes regierten und ausgewiesene Demokraten waren. Als die Zeiten rauher wurden, waren harte Maßnahmen, insbesondere gegenüber der Arbeiterschaft, demokratisch legitimiert und wurden stets durch Lohnzugeständnisse an die Arbeiter und die Einbeziehung der Gewerkschaften in die Kriegsanstrengungen gemildert. Besonders große Zugeständnisse an die Arbeiter wurden in England gemacht, wo die Gewerkschaftsrechte fest verankert waren und Verstöße gegen die Arbeitsbestimmungen durch eine Ausdünnung der Personaldecke mehr Entschädigungen und Versprechungen erforderten als in Frankreich, wo die Gewerkschaften schwächer waren. Die wirtschaftliche Mobilmachung unter demokratischen Vorzeichen brachte allerdings mehr Illusionen in bezug auf die Gestaltung der Zukunft als reale gesellschaftliche Veränderungen hervor. Wie Gerd Hardach für Frankreich überzeugend dargelegt hat, blieben durch die Politik von Kriegsminister Albert Thomas die Unternehmergewinne unangetastet, während seine Rhetorik von der Zukunft des Kriegssozialismus und
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seine Pläne für zukünftige Kontrollen über die Wirtschaft bei der Industrie lediglich den Wunsch weckten, zu den Vorkriegsverhältnissen zurückzukehren. In Großbritannien war die Lage ambivalenter, da Lloyd George seine Reformvorstellungen nie aufgab und einige Unternehmer, wie etwa Sir Alfred Mond, an einer Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften interessiert waren. Gleichwohl wollten die britischen Unternehmer unbedingt zu den Vorkriegsverhältnissen zurückkehren. Auf der gesamten Unternehmerschaft lastete der Zustand des Pfundes sowie die Macht der City. Hier wie anderswo machte man sich 1917/18 zunehmend Gedanken über die Demobilisierung und wünschte den Abbau der Kontrollen und nicht die dauerhafte Einrichtung eines staatlich gelenkten oder eines auf der freiwilligen Zusammenarbeit von Interessengruppen basierenden Korporatismus. So gesehen, stellt die amerikanische »Ausnahmesituation« in bezug auf die wirtschaftliche Mobilmachung – das heißt der Rückgriff auf informelle, temporäre und begrenzte Einrichtungen und Instrumente – weniger eine Ausnahme dar, als es auf den ersten Blick erscheint. In ihr drückten sich die Vorteile großer Entfernung, reicher Ressourcen und eines begrenzten Engagements aus. Dieses Land konnte sich den Luxus erlauben, spät in den Krieg einzutreten und früh deutlich zu machen, daß es keine Verantwortung für seine Folgen zu übernehmen gedachte.25 Am interessantesten an den zwischen 1914 und 1918 unternommenen Kriegsanstrengungen ist folglich nicht, wie sie durchgeführt wurden, sondern welche Folgen und Weichenstellungen sich aus ihnen ergaben.26 Daher ist eine nüchterne Betrachtungsweise angebracht. Die Mobilisierung der finanziellen Ressourcen zerstörte das Vorkriegssystem und führte zu Inflation und Destabilisierung, die den Weg für die Weltwirtschaftskrise bereiteten, deren Bewältigung nicht gelang. Die Zwangswirtschaft in Mittel- und Osteuropa vertiefte die Spannungen zwischen Stadt und Land, verbitterte die Bauern und den unteren Mittelstand, diskreditierte den Staat, förderte den Schwarzmarkt, wurde mit Sozialismus gleichgesetzt, setzte sich in verschiedenen Formen sozialistischer Kommandowirtschaften fort und lebt heute in der Umweltverschmutzung und der Kriminalität weiter, die diese hinterlassen haben. Zwangswirtschaft sollte für verschiedene europäische Länder in diesem Jahrhundert Mangelwirtschaft bedeuten. Die Art und Weise, wie im Ersten Weltkrieg die gesellschaftlichen Ressourcen mobilisiert wurden, hat die wirtschaftliche Mobilmachung für den Zweiten Weltkrieg stark beeinflußt, was aber den Befürwortern des Kriegssozialismus bestimmt nicht vorgeschwebt hatte. Rathenaus und Moellendorffs Ideen haben Lenin beeinflußt, als Sowjetrußland die Neue Ökonomische Politik einführte, doch dies ist ebenso wenig eine Empfehlung wie die Tatsache, daß auch
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Albert Speer von ihnen beeinflußt war. Mussolini holte 1923 Dallolio zurück, als er sein Amt für die zivile Mobilmachung gründete, und in der faschistischen Arbeitsordnung von 1926 spiegelten sich die während des Krieges praktizierten Zwangsschlichtungen und die Zustimmung Mussolinis zu dieser Praxis wider. Die freiwilligen korporatistischen Regelungen, die nach dem Ersten Weltkrieg häufig deswegen eingeführt wurden, weil man die Erfahrungen der Kriegswirtschaft ablehnte, scheiterten allesamt. Kurz gesagt, ich kann nur wenig Kontinuität oder positive Einflüsse der Kriegswirtschaft erkennen, und ich bezweifele sogar, daß sie positive Möglichkeiten in sich barg. Daher komme ich zu dem Schluß, daß es nicht die Erfahrung der wirtschaftlichen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg, sondern die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise war, die nach 1945 den Anstoß zu sozialen und wirtschaftlichen Reformen und zur internationalen Zusammenarbeit gab. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
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Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany, 1914-1918, Princeton 1966, Neuausgabe, New York 1992. Michael T. Florinski, The End of the Russian Empire, New York 1961. Ebenda, vi. Ebenda, S. 246-247. Gerald D. Feldman, The Great Disorder: Economics, Politics, and Society in the German Inflation, 1914-1924, Oxford 1983, S. 25. Norman Angell, The Great Illusion, London 1910. Reichsarchiv [Hg.], Der Weltkrieg 1914-1918, Kriegsrüstung und Kriegswirtschaft, Berlin 1930, S. 328. Stig Förster hat behauptet, wichtigen Mitgliedern des deutschen Generalstabs sei bewußt gewesen, daß der Krieg lange dauern würde. Siehe den Zeitungsartikel Mit Hurra und vollem Bewußtsein in die Katastrophe: Der Erste Weltkrieg und das Kriegsbild des deutschen Generalstabs, in: Frankfurter Rundschau, 8. September 1994. Ich bin nicht der Meinung, daß die vorgebrachten Argumente die »Illusion vom kurzen Krieg« widerlegen. Barry Eichengreen, Golden Fetters: The Gold Standard and the Great Depression, 1919-1939, Oxford 1991. Richard Rosecrance, Der neue Handelsstaat, Frankfurt am Main 1987. Eichengreen, Golden Fetters, S. 67-74. Florinski, End of the Russian Empire, S. 41-47. Für eine kurze Einführung in die Kriegsfinanzierung in den verschiedenen Ländern siehe Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg, 1914-1918, München 1973, Kap. 6. Eine ausführliche Darstellung des deutschen Systems findet sich bei Feldman, Great Disorder, Kap. 1. Theo Balderston, War Finance and Inflation in Britain and Germany, 1914-1918, in: Economic Review 41, 1989, S. 222-244.
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I. Politische Sozialgeschichte Eichengreen, Golden Fetters, S. 77-78. Feldman, Army, S. 46-57. Ebenda, Kap. 2-4, und ders., Great Disorder, Kap. 2. Hardach, Der Erste Weltkrieg, S. 112-123. Zur österreichisch-ungarischen Kriegswirtschaft siehe Robert J. Wegs, Die österreichische Kriegswirtschaft 1914-1918, Wien 1979. Florinski, End of the Russian Empire, S. 35-37, 117-118. Jay M. Winter, The Great War and the British People, London 1985, S. 245. Jean-Jacques Becker, The Great War and the French People, New York 1985, insbes. S. 217-231. Florinski, End of the Russian Empire, S. 127-133. Giovanni Procacci, State Coercion and Worker Solidarity in Italy 1915-1918: The Moral and Political Content of Social Unrest, und Luigi Tomassini, Industrial Mobilization and State Intervention in Italy in the First World War: Effects on Labor Unrest, in: Leopold Haimson und Giulio Sapelli (Hg.), Strikes, Social Conflict and the First World War: An International Perspective, Mailand 1992, S. 145-177, 179-211, Zitat auf S. 157. Ebenda, S. 177. Zu Großbritannien siehe Keith Middlemas, Politics in Industrial Society: The Experience of the British System Since 1911, London 1979, Kap. 3-5, und Noel Whiteside, Concession, Coercion or Cooperation? State Policy and Industrial Unrest in Britain, 1916-1920, in: Haimson und Sapelli, Strikes, Social Conflict and the First World War, S. 107-121. Zu Frankreich siehe insbes. Gerd Hardach, Industrial Mobilization in 1914-1918: Production, Flanning and Ideology, und Alain Hennebicque, Albert Thomas and the War Industries, in: Patrick Friedenson (Hg.), The French Home Front, 1914-1918, Providence 1992, S. 57-132. Zu den Vereinigten Staaten siehe David M. Kennedy, American Political Culture in a Time of Crisis: Mobilization in World War I, in: Hans Jürgen Schröder (Hg.), Confrontation and Cooperation: Germany and the United States in the Era of World War I, 1900-1924 [Historisches Symposium in Krefeld zum Thema Deutschland und die Vereinigten Staaten, Bd. 2], Providence 1993, S. 213-228. Diese Argumente sind in bezug auf Deutschland ausführlicher dargestellt in: Gerald D. Feldman, Der deutsche organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914-1923, in: Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise. Studien zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 19141932 [Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 60], Göttingen 1984, S. 36-54, sowie in: War Economy and Controlled Economy: The Discrediting of >Socialism< in Germany during the First World War, in: Schröder, Confrontation and Cooperation, S. 229-252. Für eine komparative Erörterung siehe Gerald D. Feldman, Die Demobilmachung und die Sozialordnung der Zwischenkriegszeit in Europa, in: Geschichte und Gesellschaft 9, Nr. 2, 1983, S. 156-177.
Aus: Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1978², S. 96-105. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973
Jürgen Kocka
Klassengesellschaftliche Tendenzen und Gegentendenzen: das Verhältnis Land-Stadt, Generationen, Konfessionen und Minderheiten Die bisherige Analyse hat ergeben, daß die klassengesellschaftlichdichotomische Struktur der Wilhelminischen Gesellschaft im Krieg klarer als zuvor hervortrat, wenn auch einzelne Faktoren in die umgekehrte Richtung wirkten. Die gemeinsame Klassenlage sämtlicher Arbeitnehmer schälte sich klarer heraus, da Lohn- und Gehaltsdifferenzen in der Regel abnahmen und die Polarisierung der Einkommensstruktur sich wahrscheinlich verschärfte. In ihrer gemeinsamen absoluten und relativen Verarmung glichen sich die Lebenschancen der Lohn- und Gehaltsempfänger tendenziell aneinander an. Der Zugang zu Konsumgütern, Vergnügen, Freizeit, Erholung, Erziehung für die Kinder etc. verringerte sich nivellierend für alle Arbeitnehmer. Ihr Lebensstil wurde ähnlicher, ebenso wie ihre Arbeitsverhältnisse – man denke nur an den Abbau bisheriger Angestelltenprivilegien wie Arbeitsplatzsicherheit und Anciennitätsbezahlung im Krieg. Daraus und aus der allgemeinen Dominanz materieller, ökonomischer Kriterien in einer Phase größter Knappheit resultierte die abnehmende Bedeutung traditioneller, nichtökonomischer Statusmerkmale in der Fremd- und in der Selbsteinschätzung der Betroffenen. Zunehmend trat die ökonomisch bedingte Klassenzugehörigkeit, die Arbeitnehmereigenschaft, im Bewußtsein der Lohn- und Gehaltsempfänger in den Vordergrund und ermöglichte gemeinsame Interessen und Kooperationen, die gemeinsame Proteststellung gegen die Herrschenden und teilweise auch die gemeinsame Stellungnahme im Konflikt. Auf der anderen Seite vermieden die meisten Produktionsmittelbesitzer und ihre leitenden Angestellten die Degradierung der Masse der Abhängigen. Angesichts gemeinsam gefühlter Herausforderungen schliffen sich Differenzen und Divergenzen zwischen verschiedenen Kategorien von Unternehmern und Arbeitgebern ab: In ihrer Haltung, Politik und Organisation dominierte zunehmend der Ge-
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sichtspunkt der Klassenlage, nämlich der Besitz von Produktionsmitteln und die Verfügungsgewalt darüber, als allen gemeinsames Kennzeichen. Dies alles waren aber nur Tendenzen. Weder trat sozioökonomisch eine völlige Uniformierung innerhalb der beiden Lager ein, noch teilten alle Abhängigen ein gleiches, gar revolutionäres Bewußtsein. Lange tradierte, schichtenspezifische Unterschiede verschwanden nicht ganz, verschiedene Organisationen blieben auf jeder Seite bestehen, die sich verschärfenden Klassengegensätze und Klassenspannungen wurden nur sehr unvollkommen in Klassenkonflikte umgesetzt – und anderes mehr. Es zeichneten sich sogar Gegentendenzen ab. Einzelne besonders hoch verdienende Arbeiter und ökonomisch absinkende Handwerker bzw. Kleinkaufleute, die kriegsbedingte Differenzierung nach Branchen je nach ihrer Rüstungswichtigkeit, wohl auch die Zunahme regionaler Spannungen innerhalb des Unternehmerlagers – dies alles widerspricht den aus dem anfangs vorgestellten Klassenmodell abgeleiteten Erwartungen. – Dennoch, und obwohl die verschärfenden und die auflockernden Tendenzen nicht derart auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, daß sie quantitativ gegeneinander zu gewichten wären: Im Krieg näherte sich die deutsche Gesellschaft, soweit bisher untersucht, dem idealtypischen Modell einer Klassengesellschaft, von dem diese Untersuchung ausging, statt sich von ihm zu entfernen. Dieses Ergebnis wäre nun im Hinblick auf bisher nicht oder kaum berücksichtigte Wirtschafts- und Sozialbereiche (vor allem den ländlichen) zu überprüfen; es wäre zu fragen, ob in diesen ähnliche Polarisierungen nach Klassenkriterien abliefen wie im industriellen Bereich und wie im »Mittelstand«. Auch wäre gesondert und auf einer erweiterten Materialbasis zu untersuchen, ob tatsächlich (wie auf der Grundlage des Ausgangsmodells und der bisherigen Ergebnisse zu erwarten) andere, nicht-klassengesellschaftliche Gegensatz-, Spannungs- und Konfliktlinien (z. B. die zwischen den Konfessionen, den Generationen, zwischen Land und Stadt etc.) im Krieg relativ zu den Klassenlinien zurücktraten. Hierzu können nur einige wenige, sehr vorläufige Anmerkungen gemacht werden. Eine zunehmende Betonung klassengesellschaftlicher Strukturen innerhalb des landwirtschaftlichen Bereiches müßte sich in zwei überprüfbaren Veränderungen gezeigt haben: einmal in einer schärferen Unterscheidung und Spannung zwischen den landwirtschaftlichen Arbeitnehmern einerseits und den landwirtschaftlichen Arbeitgebern und selbständigen Besitzern andererseits; zum anderen in der Reduktion von sozialökonomischen Unterschieden, Interessendivergenzen, Spannungen und Konflikten innerhalb der Gruppe der landwirtschaftlichen Eigentümer aller Art.
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In den Publikationen des großagrarisch bestimmten Bundes der Landwirte während des Krieges und in den Monatsberichten der Stellvertretenden Generalkommandos spielten ländliche Klassenspannungen und -konflikte eine geringe Rolle; die Abwanderung der Landarbeiter in die besser bezahlende Industrie und der durch knapp eine Million Kriegsgefangene und ca. 500000 andere ausländische Arbeiter nur ungenügend ausgeglichene Arbeitskräftemangel überhaupt scheinen für die ländlichen Arbeitgeber ein größeres Problem gewesen zu sein als Arbeiterproteste. Diese fehlten jedoch nicht ganz. Im April 1917 berichtete das II. Armee-Korps (Stettin) von einer Verschärfung der Arbeiterverhältnisse auf dem Lande wegen unzureichender Ernährung und übermäßiger Anstrengung der nicht sich selbst versorgenden Arbeitskräfte. In den ersten Kriegsjahren »konnten den Schnittern aus den bisher belassenen Gerstenanteilen Zulagen gegeben werden, entweder in Gestalt von Gerstgrütze oder durch vermehrte Brotration, indem von dieser Gerste ein Zusatz von Mehl zum Brot gewährt wurde. Jetzt ist das zu Ende. Kohl und Wruken gibt es nicht mehr. Die noch vorhandene Gerste ist genommen. Kartoffeln und Brot reichen nicht aus, und so hungern tatsächlich die Schnitter auf dem Lande seit kurzem. Der Erfolg tritt täglich mehr zutage, es herrscht große Unzufriedenheit unter denselben, Arbeitseinstellungen haben stattgefunden und Militär hat eingreifen müssen, obwohl es zu ernstlichen Unruhen bisher noch nicht gekommen ist.«1 Wiederholt setzten sich Sprecher landwirtschaftlicher Verbände für die partielle Militarisierung der ländlichen Arbeiterverhältnisse ein, die aber primär auf eine maximale Ausbeutung der Kriegsgefangenen und gegen die durch das Hilfsdienstgesetz zwar verringerte, aber nicht völlig abgestellte Arbeiterfreizügigkeit abzielte2. Die gegenüber Friedenszeiten zunehmenden Kontakte mit Städtern und sozialistischen Ideen (vor allem an der Front, aber auch durch Berührung mit Aushilfsarbeitern aus der Stadt), die abnehmenden Reallöhne3, die Beschneidung der Freizügigkeit, die selbst auf dem Lande abnehmende Ernährung und die allgemeinen Lasten des Krieges dürften auch in der Landarbeiterschaft die Protestbereitschaft gegenüber ihren Herren erhöht haben. In den letzten Kriegsmonaten und in der Revolution traten entsprechende Ressentiments und Feindseligkeiten denn auch durchaus ans Licht4. Doch blieben solche Protestbereitschaft, Spannungen und Konflikte, so scheint es, selbst in den lohnarbeiterreichen ostelbischen Gebieten, erst recht in den primär klein- und mittelbäuerlichen Bezirken Mittelund Süddeutschlands in engen Grenzen und weit hinter dem zurück, was für den industriellen Bereich oben geschildert wurde. Dazu trugen traditionelle Eigenarten der ländlichen Arbeitsverfassung bei: Von den 3,2 Millionen landwirtschaftlichen Arbeitern (1907) waren 1,3 Millionen
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Knechte und Mägde, für die in der Regel noch keine Trennung von Arbeits- und Privatsphäre eingetreten war und die deshalb noch eng unter der Kontrolle und dem Einfluß ihrer Herrschaft standen; in bäuerlichen Bereichen galt auch der Tagelöhnerstatus vor 1914 noch nicht als Lebens- und Dauerstellung; kleiner Eigenbesitz war überdies mit ihm vereinbar; die Klassenscheidung hatte sich im ländlichen Bereich trotz des fortschreitenden Zerfalls des Patriarchalismus noch sehr viel weniger klar herauskristallisiert als in Industrie und Handel. Die Gesindeordnung, die gesetzliche Vorenthaltung der Koalitionsfreiheit für die Landarbeiter bis Kriegsende und andere rechtliche Vorteile der ländlichen Herren vor allem in den gutswirtschaftlichen Bezirken Ost-Elbiens, die Unkenntnis der Landarbeiter und das Fortwirken älterer Traditionen in Lebensführung und Orientierung stützten zudem die Herrschaftsgewalt des ländlichen Arbeitgebers in spezifischer Weise ab und verhinderten die gewerkschaftliche und sozialdemokratische Erfassung der Landarbeiter weitgehend bis zur Revolution. Schließlich ist zu beachten, daß die ländlichen Arbeiter, die immer noch zu einem großen Teil Naturalentlohnung erhielten, der Gefahr des Hungers sehr viel weniger ausgesetzt waren und besser versorgt wurden als viele Städter5. Spannungen und Konflikte zwischen einzelnen Kategorien und Gruppen landwirtschaftlicher Eigentümer und Unternehmer fehlten im Krieg nicht ganz. Klein- und Mittelbauern hegten mehrfach den Verdacht, daß die staatlichen Kontrollen, Bestandsaufnahmen und Beschlagnahmen gegen sie selbst schärfer angewandt würden als gegen die einflußreichen Großgrundbesitzer. Teilweise verschmolz dieses Mißtrauen mit regionalen Spannungen6. Auch in der Stellungnahme zu sozial- und allgemeinpolitischen Initiativen der zweiten Kriegshälfte – so zum Fideikommißgesetz, das im Januar 1917 im preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht wurde, letztlich einer weiteren rechtlichen Absicherung der Großgrundbesitzermacht in Preußen dienen sollte und große Erregung in die politische Debatte brachte7, wie auch zur Wahlrechtsreform, zur Parlamentarisierungsfrage und teilweise sogar zur Kriegszielagitation – lebten Vorkriegsdifferenzen zwischen dem großagrarisch dominierten Bund der Landwirte und anderen sehr viel kleineren, liberalen oder kleinbäuerlich-demokratischen Verbänden wieder auf8. Die Hauptklagen der kleinen und mittleren Bauern richteten sich jedoch ganz vorwiegend gegen Angriffspunkte und Mißstände, die auch von den Großgrundbesitzern bekämpft wurden und die nicht als Folge von deren Privilegien oder überlegenen Einflußchancen verstanden werden konnten. Die Klage über Arbeitskräftemangel angesichts der den ländlichen Bereich überdurchschnittlich scharf treffenden Einberufungen und die zunehmende Verbitterung über die äußerst vielfältigen, sich
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vermehrenden, als ungerecht und ineffektiv empfundenen Eingriffe der schnell wachsenden staatlichen Zwangswirtschaft standen überall in den Klagen und Protesten an erster Stelle. Der Mangel an Arbeits- und Futtermitteln, die Überarbeitung, die Mißgunst gegenüber den angeblich bevorzugten Städtern und der Ärger über die Kritik der städtischen Konsumenten an der Landwirtschaft kamen hinzu. Je später im Krieg, desto klarer rückte jedoch bei großen und kleinen Produzenten der Haß auf die bürokratischen Eingriffe in die Produktion und in die Verteilung landwirtschaftlicher Produkte eindeutig ins Zentrum der Unzufriedenheit. Angeblich zu niedrige Erzeuger-Höchstpreise angesichts steigender Selbstkosten und nicht kontrollierter Preise der vom Landwirt zu kaufenden Industrieprodukte; Verfütterungs-, Hausschlachtungsund andere Verbote, die schnell wechselten und deren Einhaltung teilweise nicht einmal durch schärfste polizeiliche Kontrollen gewährleistet werden konnte; Beschlagnahmen, die im Winter 1917/18 militärische Suchtrupps in die Bauernhöfe führten; eine Flut von Erhebungen und Verordnungen; die Sperrung der Mühlen; die schnelle Veränderung der Lieferbedingungen innerhalb des weitgehend verstaatlichten oder kommunalisierten Verteilungssystems; die Ohnmacht gegenüber Behörden, Kriegsstellen und Kriegsgesellschaften, die zugleich immer neu bewiesen, daß sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren und Landwirtschaft vom grünen Tisch aus zu betreiben schienen; auch die ungerechten örtlichen Unterschiede von behördlich diktierten Lieferbedingungen vor allem in der ersten Kriegshälfte – all diese und andere Konsequenzen einer Kriegswirtschaft, die das Marktprinzip im landwirtschaftlichen Bereich sehr viel rigoroser durch Planung, Verwaltung und Zwang zu ersetzen suchte als im gewerblichen, die allerdings nicht verhindern konnte, daß jenes Marktprinzip sich quasi durch die Hintertür, im Schleichhandel nämlich, dennoch wieder durchsetzte, verbitterten die Klein- und Mittelbauern in ganz ähnlicher Weise wie die Großagrarier im Bund der Landwirte9. Angesichts dieses zunehmend als zentrale und gemeinsame Bedrohung eingeschätzten staatlichen Interventionismus scheinen trotz anderweitig fortwirkender Differenzen landwirtschaftlicher Großgrundbesitz und bäuerlicher »Mittelstand« im Krieg in ähnlicher Weise enger zusammengerückt zu sein wie Industrie und Handwerk im gewerblichen, Groß- und Kleinhandel im kommerziellen Bereich10. Wenn somit also von einer gewissen Tendenz zur schärferen Durchzeichnung klassengesellschaftlicher Strukturen auch im ländlichen Bereich gesprochen werden kann, so stellt sich doch gleich die Frage, ob der in den Klagen der Bauern zum Ausdruck kommende Stadt-LandGegensatz nicht quer zu der klassengesellschaftlichen Frontlinie verlief,
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sie mithin modifizierte und schwächte. Hierbei ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden. Auf der Ebene der großen Kapitalbesitzer und Unternehmer schliff der Krieg die Divergenzen zwischen dem gewerblich-kommerziellen und dem agrarischen Bereich ab, ließ er Großindustrielle und Junker enger als vor dem Krieg zusammenrücken. Zwar hielt die Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte in die Stadt einen alten Konflikt zwischen industriellen und agrarischen Kapitalisten am Leben. Doch zum einen beseitigten die Hochkonjunktur des Krieges und die wie ein Hochschutzzoll wirkende Blockade einige zentrale Streitpunkte zwischen Großlandwirtschaft und Teilen der Industrie, insbesondere den Zankapfel der Zölle. Zum anderen kooperierten Großindustrie und Großlandwirtschaft in zunehmend geschlossener Phalanx und in klarer Absetzung von den großen Arbeitnehmerverbänden für einen Siegfrieden und für (im Detail durchaus kontroverse) annexionistische Kriegsziele11. Schließlich bildeten sie immer eindeutiger und vordringlicher eine gemeinsame Front im Kampf gegen die »staatssozialistischen« Eingriffe, für die »Freiheit der Wirtschaft« von staatlichem Interventionismus und für freies Unternehmertum. In diese Abwehrfront schwenkten die Agrarier, die noch zu Beginn des Krieges selbst für Höchstpreise, Beschlagnahmen und zentrale Verteilungsstellen (allerdings unter größtem Einfluß der landwirtschaftlichen Selbstverwaltungsorgane) argumentiert und damit ihre langjährige protektionistische, Markt-skeptische, freihandelsfeindliche und partiell antikapitalistische Politik fortgesetzt hatten, allerdings erst etwas später ein als die industriellen Sprecher12. Für den ehemals eher anti-marktwirtschaftlich und staatsprotektionistisch eingestellten BdL führte sein Vorsitzender Roesicke im Mai 1917 aus, es sei schlecht, wenn man »die zentralisierte Bureaukratie an die Stelle des dezentralisierten Verkehrs« setze. »... wenn der Kaufmann zum Bureaukraten wird, und der Bureaukrat zum Kaufmann, dann gibt es einen schlechten Klang.« Der Kampf gegen die »Einschränkungen der Bewegungsfreiheit des Landwirts, die Hemmung und förmliche Aufhebung seiner Selbständigkeit in der Wirtschaftsführung« wurde zu einem ganz zentralen Thema in der Argumentation der Agrarier seit 191713. Der Einsatz für einen Siegfrieden angesichts wachsender Bereitschaft der Massen für einen Verständigungsfrieden und die Abwehr der Interventionen eines sich allmählich parlamentarisierenden Staats verwirklichten immer klarer die häufig beschworene »Solidarität sämtlicher Erwerbsstände, wie sie Bismarck gewünscht hatte«14, die Solidarität der großen Unternehmer in Stadt und Land auf einer breiteren (nämlich den Bdl und den Hansa-Bund einschließenden) Basis, als es das »Kartell der schaffenden Stände« 1913 versucht hatte. Mit Annexionspolitik und
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Abwehr staatlicher Interventionen verknüpften sich zudem bei der überwiegenden Mehrheit der vereinigten Unternehmer – aber doch ohne einen eher konzessions- und reformbereiten, in Teilen der verarbeitenden Industrie, des Bankwesens und des Großhandels beheimateten kleinen linken Flügel (Bdl, Deutscher Bauernbund) – seit 1917 die Verurteilung der verfassungs- und sozialpolitischen »Neuorientierung«, insbesondere der zunehmenden Gewerkschaftsmacht, der Demokratisierung des preußischen Wahlrechts und der Steigerung der Reichstagsmacht15. Im hier benutzten Begriffssystem bedeutet diese zunehmende Kooperation der agrarischen und industriellen Kapitalbesitzer eine weitere, an frühere Koalitionen von »Eisen und Roggen« anknüpfende, sie erweiternde und intensivierende Betonung des Klassengesichtspunktes. Machtverschiebungen im Verhältnis der beiden Partner zueinander, die im Krieg wahrscheinlich zu einer stärkeren Betonung des »industriestaatlichen« Elements führten, wären gesondert zu untersuchen16. Dieser Tendenz zum Ausgleich zwischen städtischen und ländlichen Kapitalisten und damit zur stärkeren Durchzeichnung klassengesellschaftlicher Strukturen wirkte jedoch das oft bezeugte, in unteren und mittleren Schichten sozialpsychologisch bedeutsame Spannungsverhältnis Stadt-Land entgegen, das sich angesichts der Nahrungsnot und des städtisch-ländlichen Hungergefälles, der weit publizierten eigennützigen Handlungen von Landwirten (Hortung, Produktionsrückgang bei verringerten finanziellen Anreizen, etc.), angesichts des die Landwirte verärgernden Hamsterunwesens und der fühlbar eingreifenden, wenn auch wenig erfolgreichen staatlichen Kontrollen im Krieg zweifellos verstärkte und gewissermaßen quer zum Klassengegensatz verlief. Die Monatsberichte der Stellvertretenden Generalkommandos kamen immer wieder und mit starker Betonung auf die antistädtischen Ressentiments der Bauern und die antiländliche Feindseligkeit der städtischen Bevölkerung zurück. So berichtete das II. Armee-Korps im Herbst 1916 von dem wachsenden Mißtrauen der pommerschen Bauern gegen die Städter. Der General schrieb: »Es ist charakteristisch, was mir vor wenig Tagen eine Bauersfrau sagte, deren Mann Soldat ist. Sie meinte: Ich arbeite jetzt seit einem Jahr allein auf dem Hofe und habe zur Hilfe einen Gefangenen. Wenn ich abends müde nach Hause komme, muß ich den Viehstall ausmisten und morgens wieder früh auf, um die Kühe zu melken. Wenn mir jetzt die Butter genommen wird, verkaufe ich meine Kühe, die haben einen guten Preis. Ich behalte nur eine für mich, die kann man mir nicht nehmen, und ich habe weniger Arbeit. Ich kann bald nicht mehr. Ich werde mich nicht für die Berliner schinden, die kommen auch nicht und misten mir meinen Stall aus.«17 Wenig später berichtete das Kasseler Stellvertretende Generalkommando: »Die Gegensätze zwischen Stadt
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und Land verschärfen sich bedauerlicherweise immer mehr. Die gesamte städtische Bevölkerung, ohne Unterschied des Besitzes, schaut mit Neid auf die ländlichen Verhältnisse, wo offensichtlich die Lebensmittel, die der Städter besonders schmerzlich vermißt, Butter, Milch, Eier, Schweinefleisch, noch in vielleicht oft übertrieben dargestellten Mengen vorhanden sind und die Lebenshaltung gegenüber dem Frieden sich nur wenig geändert haben soll. Es werden vielfach Versuche gemacht, das Verständnis für die Not der städtischen Industriebevölkerung den landwirtschaftlichen Kreisen beizubringen.« Im selben Bericht kam ein hoher Hofbeamter aus Thüringen zu Wort: »Der große und der kleine Gutsbesitzer wie der Bauer, alle lassen sich in ihrem Verhalten nicht in erster Linie durch nationale, sondern durch enge, egoistische Beweggründe bestimmen. Nicht nur in Mecklenburg, Oldenburg, Holstein, wie überall in Thüringen, Provinz Sachsen, Franken, Posen, Schlesien habe ich – wenn auch natürlich gegen die Friedensverhältnisse Beschränkungen und große Schwierigkeiten eingetreten sind – im Vergleich zum Leben des Städters Wohlleben gefunden. Milch, Eier, Butter, kurz alle nötigen Nahrungsmittel waren mehr als ausreichend vorhanden. Nur ganz ausnahmsweise treffe ich auf dem Lande, besonders beim Bauern, das Verständnis, helfen zu müssen durch willige Abgabe des Überschüssigen, nein, vielmehr hämische Freude, daß der Städter betteln kommen muß. Noch immer fehlt also die Einsicht in den Ernst der Lage, noch immer herrscht eine gewisse Gleichgültigkeit. Soll man es glauben, daß der Besitzer eines größeren Rittergutes nur drei Schweine füttert, lediglich weil es ihm unbequem ist, mehr zu halten?« – Und der Karlsruher Stellvertretende General stimmt zu: »Die Meinung, daß Kartoffeln in der Hoffnung auf höhere Preise im Frühjahr zurückgehalten werden, hat sich bei der städtischen Bevölkerung festgesetzt und trägt wiederum zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land bei. Dieser Gegensatz ist überhaupt eine der bemerkenswertesten und betrübendsten Erscheinungen des Krieges.«18 Solche Zitate ließen sich beliebig oft wiederholen. Sie sprachen vom Neid der Landarbeiter, aber auch mancher Bauern auf die besser verdienenden Industriearbeiter und die Kriegsgewinne der Industriellen und Händler; von der Erbitterung der Bauern, wenn ihnen der Kaufmann in der Stadt gegen Ende des Krieges seine Waren nur gegen Naturalbezahlung überließ, während Städter noch mit Geld bezahlten; über die gegenseitigen Animositäten zwischen Landwirten und Städtern, die beim zunehmend zur Massenerscheinung werdenden »Hamstern« auftraten; von dem Ärger der Landwirte über die davonziehenden, kaum kontrollierten Preise nichtlandwirtschaftlicher Produkte und von dem Verdacht der Städter, daß Knappheit und hohe Lebensmittelpreise auch mit nachlas-
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senden Produktionsleistungen und Abgabe-Verweigerungen der Bauern zu tun hätten19. Solchen Spannungen lagen reale Interessenunterschiede zugrunde, die im Klassenunterschied nicht aufgehen. Doch ist zu bedenken, daß es sich hauptsächlich um einen Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten handelte, die Konsumenten in der großen Mehrzahl aber Arbeitnehmer und die Produzenten durchweg Eigentümer waren, das geschilderte Spannungsverhältnis sich also weitgehend in die deutlicher werdenden Klassenfronten einfügte, wenn es auch nicht als Moment der Klassenspannung erlebt wurde. Insbesondere die Bauern fühlten und verhielten sich in ihrer Abneigung gegen die Städter nicht primär als Produktionsmittelbesitzer und Arbeitgeber gegenüber den lohn- und gehaltsabhängigen Massen. Eher scheint für die unteren und mittleren ländlichen Schichten »die Stadt« bis zu einem gewissen Grade das Symbol oder der Ort der nicht verstandenen, aber als drückend erlebten Herrschaft gewesen zu sein, wo »die da oben« alle jene Entscheidungen fällten, die auch dem Landbewohner zwar nicht Hunger, jedoch große Lasten auferlegten20. Neben diesem massenwirksamen Aspekt der Stadt-Land-Spannungen überlebten und vertieften sich gar im Weltkriegs-Deutschland andere Spannungs- und Konfliktlinien, die nicht mit den stärker hervortretenden Klassenlinien in eins fielen. Neben regionalen Ressentiments wie der anti-preußischen Abneigung in einigen süddeutschen Gegenden21 und neben deutsch-polnischen Spannungen, die in den Ostprovinzen nach der Proklamation des Königreichs Polen zunahmen22, gilt dies insbesondere für den seit Ende 1915 immer virulenter werdenden Antisemitismus. Wie in anderen Krisen zuvor diente hierbei eine nichtklassengesellschaftliche Differenzierung, die sich im Zuge der fortgeschrittenen Assimilierung der Juden bis 1914 bereits weitgehend, wenn auch nicht ganz – man denke an die vom Gesamtdurchschnitt abweichende Berufsstruktur der jüdischen Minderheit – eingeebnet hatte, als Kanal und Ventil für sich selbst nicht verstehende, verzerrte Proteste, Aggressionen und Unzufriedenheiten, die aus Quellen resultierten, welche mit dem Angriffsobjekt, den Juden, nichts Ursächliches zu tun hatten23. So schrieb z. B. ein Landrat aus dem Bezirk des XXI. A.K., »daß die Bevölkerung ihrem Unmut darüber deutlich Ausdruck gegeben hätte, daß besonders bei den kriegswirtschaftlichen Einrichtungen, bei denen Geld zu verdienen sei, die Juden bevorzugt würden und daß der Krieg häufig als ein Geldkrieg bezeichnet würde. Äußerungen wie z.B.: Die Juden haben noch nicht genug verdient, deshalb hört der Krieg noch nicht auf, seien nicht selten. Die unsinnigsten Behauptungen würden dabei aber auch leichtgläubig als Wahrheit hingenommen. Nicht uninte-
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ressant dürfte sein, wie sich die Linien-Kommandantur Posen hierüber ausspricht. Sie schreibt: In der Stadt wie auf dem Lande ist eine immer stärker werdende anti-semitische Bewegung nicht zu verkennen. In den Städten verdienen die Juden an allen Lebensmitteln und an allen Gegenständen des täglichen Bedarfs, auf dem Lande tritt dem Besitzer bei der Abnahme von Vieh, Stroh, Kartoffeln, Getreide usw. als Kommissionär des Viehhandelsverbandes oder der zahlreichen Kriegsgesellschaften fast immer ein Jude entgegen, der mühelos und ohne Gefahr die sehr hohen Provisionen einsteckt!«24 Neben Kriegsgewinnen und Wucher wurde den Juden, nachdem die Wirkungen des Burgfriedens nachgelassen hatten, in aller Öffentlichkeit und völlig unberechtigt, Drückebergerei vor dem Militärdienst vorgeworfen, was im Oktober 1916 zu dem Entschluß des Preußischen Kriegsministeriums führte, eine Judenzählung unter Soldaten und Offizieren durchzuführen! Die Ergebnisse dieser »größte[n] statistische[n] Ungeheuerlichkeit, deren sich eine Behörde [bis dahin] schuldig gemacht« hatte (Franz Oppenheimer), wurden dann nicht veröffentlicht25. Schließlich wurden, insbesondere in der zweiten Kriegshälfte, liberale, demokratische und sozialdemokratische Friedens- und Reformforderungen als »jüdisches Gift«, die nachlassende Widerstandskraft der Bevölkerung als Folge der »jüdischen Zersetzung« denunziert26. So sehr dieser in Vorkriegstraditionen wurzelnde, unter dem Druck der Kriegsjahre deutlicher werdende Antisemitismus in breiten Kreisen, insbesondere des städtischen und ländlichen Mittelstandes, verbreitet gewesen sein und damit ein aktualisierbares Potential dargestellt haben mag, so wichtig ist es zu betonen, daß dieses Potential nur mit Hilfe von demagogischen Manipulationen aktiviert werden konnte. Und hier geschah im Krieg, so scheint es, eine entscheidende Ausweitung im Vergleich zur Vorkriegszeit: Antisemitismus wurde unter den brutalisierenden Wirkungen des Krieges und in der Angst vor der »demokratischen Flut« akzeptabler für Teile des Besitz- und Bildungsbürgertums, die bis dahin den aggressiven kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Antisemitismus eher stillschweigend toleriert als unterstützt und geteilt hatten. Deutlicher als bisher versuchten nun kleine Teile der in ihrer Machtstellung bedrohten Herrschaftsschichten, den Antisemitismus als antisozialistisches und antidemokratisches Manipulationsinstrument aufzubauen und einzusetzen, besonders als die Hoffnung auf eine sozialimperialistische Pazifizierung der inneren Konflikte durch äußere Expansion im Herbst 1918 zusammenbrach und zudem eine Militärdiktatur als Damm gegen die mobilisierten Massen keine Chance mehr hatte. In der Führungsspitze des in der Vaterlandspartei mit den mächtigsten Unternehmerverbänden zusammenarbeitenden Alldeutschen Verbandes, der die rechte Oppositi-
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on gegen die Regierungspolitik ideologisch und propagandistisch anführte, wurde der Antisemitismus als Kampfinstrument gegen Parlamentarisierung, Demokratie und Sozialismus kaltblütig benutzt und geschürt27. Zwar scheiterte noch der jetzt erstmals unternommene Versuch28, unter Vorwegnahme einiger faschistischer Herrschaftstechniken die Mobilisierung der Massen zu akzeptieren, aber u. a. mit Hilfe des Antisemitismus in eine antisozialistische, antiliberale und letztlich antidemokratische Richtung abzubiegen – dies gelang mit unkontrollierbaren Konsequenzen für die konservativen Herrschaftsgruppen selbst bekanntlich erst in den folgenden anderthalb Jahrzehnten, in denen sich die klassengesellschaftliche Transformation, wie sie hier für den Weltkrieg analysiert wird, und insbesondere die geschilderte begrenzte Linkswendung eines Teiles des Kleinbürgertums denn auch nicht fortsetzten, sondern mit dem Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung zunehmend verzerrt und quasi gebrochen wurden. Dieser Versuch zeigt aber, wie sehr der anschwellende Antisemitismus der Kriegsjahre, der zunächst quer zum Klassenkonflikt zu verlaufen scheint, doch zugleich als Mittel des Klassenkampfes von oben und als Mittel zu seiner Ablenkung und Zähmung im Interesse der Herrschenden zu verstehen ist. Dennoch: soweit solche Strategie Erfolg hatte, bzw. soweit der ja nicht völlig auf alldeutsche Manipulation zurückführbare »Sündenbock«-Mechanismus in Teilen der Bevölkerung dazu führte, erlittene Not und Übervorteilung in Richtung antisemitischer Ressentiments und Proteste abzulenken, soweit trug der Antisemitismus ähnlich wie andere Spannungen zwischen Regionen und andere Phobien gegen nationale oder ethnische Minderheiten dazu bei, daß sich keine ganz klaren Solidaritäten aufgrund von Klassenzugehörigkeit herauskristallisierten, daß sich die klassengesellschaftliche Struktur nicht voll durchsetzte, sondern von einem Gewirr anderer, sich überschneidender Fronten weiterhin bis zu einem gewissen Grade überlagert blieb. Dagegen traten andere im Frieden wirksame Differenzierungen und Konflikte im Krieg durchaus zurück: Der traditionelle Unterschied zwischen Jungen und Alten ließ nicht nur auf dem Gebiet der Verdienste, sondern auch in weniger leicht faßbaren sozialen Beziehungen nach. Insofern militärische Tugenden, wie physische Kraft und Stärke, im Krieg eine Aufwertung erfuhren und der Familienzusammenhalt sich lockerte, ließ die Abhängigkeit der Jugendlichen nach und änderten sich traditionelle, oft ritualisierte Formen der Respektbezeugung29. Das (natürlich begrenzte) Verblassen des Unterschiedes Jung-Alt zeigte sich auch in der abnehmenden Kohäsion und Homogenität der jugendlichen Subkultur, der Jugendbewegung, in der die allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen, vor allem politischen Trennungslinien stärker als bisher
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sichtbar wurden30. Ähnliches gilt wahrscheinlich für die Konfessionszugehörigkeit. Mindestens in der protestantischen Kirche verstärkte die Kriegszeit Konflikte, die gesamtgesellschaftliche Frontstellungen reflektierten31. Für die katholische Kirche bedeutete das relative Zurücktreten konfessioneller Merkmale stärkere Integration in die Gesamtgesellschaft32. Nicht-klassenmäßige Unterschiede lagen dem oft genannten Spannungsverhältnis Front-Heimat zugrunde33. Doch selbst in diesem machten sich trotz aller aus dem hohen Verlust an Menschen bedingten Aufstiegschancen und trotz der vielbeschworenen, auch sicher oft wirksamen Schützengrabengemeinschaft klassengesellschaftliche Spannungen bemerkbar, die ungefähr denen in der Heimat entsprachen34. Die ungleiche Behandlung und Ernährung von privilegierten Offizieren und kämpfenden Mannschaften an der Front gehörte in den Berichten der Fronturlauber und Kriegsversehrten zu den Themen, die die Stimmung in der Heimat ungünstig beeinflußten35. Anmerkungen 1
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Zusammenstellungen der Monats-Berichte der stellvertretenden Generalkommandos (MB) im Generallandesarchiv Karlsruhe, 15.4.1916-3.8.1917, hier Bericht v. 3.5.1917, 23. Vgl. O. v. Kiesenwetter, Fünfundzwanzig Jahre wirtschaftspolitischen Kampfes. Geschichtliche Darstellung des Bundes der Landwirte, Berlin 1918, 194; ähnlich auch der katholische bayerische Bauernführer Heim in: G. Heim u. S. Schlittenbauer, Ein Hilferuf der deutschen Landwirtschaft, Regensburg o.J. (1916), 68ff.; F. Münch, Die agitatorische Tätigkeit des Bauernführers Heim, in: K. Bosl Hg., Bayern im Umbruch, München 1969, 301-44, bes. 314. Vgl. auch F. Aereboe, Der Einfluß des Krieges auf die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland, Stuttgart 1927, 32-35. – Das HDG sah vor, daß Hilfsdienstpflichtige, die vor dem 1. Aug. 1916 in einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet hatten, nicht in einen anderen Zweig (auch nicht in einen anderen Hilfsdienstbetrieb) übernommen werden durften. Vgl. Aereboe, 126, 128. Vgl. Prinz Max v. Baden, Erinnerungen u. Dokumente, G. Mann u. A. Burckhardt Hg., Stuttgart 19682, 548, Anm. 1 über den »Bolschewismus« der Landarbeiter in Hinterpommern, die »schon seit Wochen die Aufteilung der herrschaftlichen Güter nach russischem Muster erörtern« (Mitteilung an Max v. Baden von Anfang November); weiterhin E. v. Oldenburg-Januschau, Erinnerungen, Leipzig 1936, 208f. zum »Geist der Auflehnung« in seinem Gutsbezirk im November 1918. Vgl. Aereboe, 124-29; W. Mattes, Die bayerischen Bauernräte, Stuttgart 1921, 33-36; vgl. auch den BdL-Funktionär Kiesenwetter, der sich Anfang
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1918 (233f., 238f.) scharf gegen die Ausdehnung der Vereinsgesetz-Novelle auf das Land wendet und dabei nicht erkennen läßt, daß Arbeiterkonflikte für seinen Verband schon zu dieser Zeit ein wichtiges Problem waren, zumal er mit dem Frh. v. Wangenheim auf einen »deutschen Frieden«, auf Annexionen und ihre sozial »versöhnlichen« Wirkungen hoffte. Vgl. neuerdings: H. Muth, Die Entstehung der Bauern- u. Landarbeiterräte im Nov. 1918 u. die Politik des Bundes der Landwirte, VfZ 21. 1973, 1-38. Vgl. den Bericht des Saarbrückener AKs in MB, 3.5.1917, 22 über tiefe Mißstimmung der dortigen Bauern gegenüber den Großgrundbesitzern des Ostens, die angeblich weniger ablieferten und das Nichtabgelieferte teurer verkaufen durften. – Bereits im Jan. 1917 berichtete das V. AK (Posen) über eine »in letzter Zeit wahrnehmbare Verschärfung der Stimmung der Bauern gegen die Grundbesitzer« (MB, 3.2.1917, 11). Vgl. auch Mattes, 56 zu Klagen bayrischer Bauern über Bevorzugung der größeren Eigentümer, vor allem der Fideikommißbesitzer. Vgl. Th. v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 2, Berlin 1921, 171 f. Vgl. etwa zum nationalliberal orientierten, sich im Krieg auf die FVP hin bewegenden »Deutschen Bauernbund«: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland 1, 415-421, bes. 418. – Mattes, 56-59, 63 zum katholischen Bayerischen Bauernverein und zu seinen gegen den unbeschränkten Großgrundbesitz gerichteten Forderungen; dessen linker Flügel um Gandorfer setzte sich im Juli 1918 für einen Verständigungsfrieden ein. Vgl. etwa die hauptsächlichen Angriffspunkte und Klagen bei Helm/Schlittenbauer, 5-19, 46-56, 61 ff. und die von ihnen wiedergegebenen Auszüge aus Briefen von fast durchweg klein- und mittelbäuerlichen Mitgliedern ihrer Organisation (91-120,127-35, bes. 118-20); die häufig wiederholten Schilderungen der ländlichen Stimmungen in den MB im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Bayer. Hauptstaatsarchiv München, Abt. IV, 3.8.1917-3.10.1918, z.B. 15.7.1918, 2f., 26; 8.9.1916, 5f.; 3.8.1917, 10ff.; 3.11.1917, 27ff.; 3.6.1918, 26f.; 3. 8.1918, 15ff.; auf der anderen Seite die Erinnerungen des radikalen Junkers Oldenburg-Januschau, 145-72; die BdL- offiziöse Kritik der Kriegswirtschaft bei Kiesenwetter, 173-232; und die Kritik des konservativen, dem BdL sehr nahestehenden Westarp, 365-431. Wir können hier weder die Einzelheiten der staatlichen Eingriffe noch die Berechtigung der landwirtschaftlichen Klagen und Kritik untersuchen. Vgl. vor allem A. Skalweit, Die deutsche Ernährungswirtschaft, Stuttgart 1927, u. Aereboe, 29-107, dessen Beurteilung der Kriegsverwaltungswirtschaft jedoch allzusehr von einem landwirtschaftlichen Interessenstandpunkt gefärbt zu sein scheint, welcher sich auch in der sachlich dennoch sehr erhellenden Analyse von v. Westarp durchhält. Bestätigend: E. Lederer, Die sozialen Organisationen, Berlin 1922, 144ff. Vgl. Kiesenwetter, 223ff.; Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, Bd. 1,122-49, bes. 145f.; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Ver-
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I. Politische Sozialgeschichte bände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland, 1897-1918, Köln 2076, 456ff., 465ff., 504ff.; oben S. 68f. Mit Westarp wird man von einer Wende der konservativen Politik in dieser Frage sprechen können, auf deren Ursachen es zurückzukommen gilt, vgl. Westarp, 386ff., 390f., 397, 406, 410-19. Die Wendung gegen die »Zwangswirtschaft« und den »Staatssozialismus« dominiert auch im Bericht des BdLDirektors Kiesenwetter von Anfang 1918, insbes. 188-89, 210f., 217-21, 230; vgl. weiter die Reden von Rötger (CVDI), Wangenheim und Roesicke (BdL) auf der »Kriegstagung des BdL« 1917, in: Bund der Landwirte. Kgr. Bayern 19. 1917, am 25.2. u. 4.3.; ebd. 20. 1918, am 28.7. (»Wer ist schuld an unserer Wirtschaftspolitik?«), am 29.9. u. 27.10.; weiter Oldenburg-Januschau, 145-72 u. 193-204, bes. 196 (seine Rede in der BdL-Versammlung im Zirkus Busch im Feb. 1918). Vgl. Kiesenwetter, 220 (Zitat Roesickes aus dem Reichstag vom 11.5.1917) und 210f. Vgl. die unter diesem Motto stehende gemeinsame Sitzung des Deutschen Handelstages, des Ka. d. Dt. Ind., des Dt. Landwirtschaftsrats und des Dt. Handwerks- und Gewerbekammertags am 28. Sept. 1914, nach: Deutsche Arbeitgeber-Zeitung 13. 1914, am 4. Okt. Ebd. 15. 1916, am 12. März zum sehr versöhnlich formulierten Gegensatz über die Arbeitskräfte. Vgl. auch MKdl Nr. 216. 17. Aug. 1918, 3165f.: Abdruck von »Landwirtschaft und Industrie. Eine zeitgemäße Betrachtung über ihre innigen Wechselbeziehungen«. Vgl. Kap. II, Anm. 210, und oben S. 68f.; Kiesenwetter, 249-258, bes. 256f. zu einer Eingabe vom Dez. 1917 gegen das allgemeine Wahlrecht in Preußen. Diese Eingabe wurde von den Verbänden des »Kartells« von 1913, nicht aber vom Ka. d. Dt. Ind., Bdl oder Hansabund unterzeichnet, die gleichwohl in der Kriegszielfrage und bei der Abwehr des staatlichen Interventionismus mit den »Kartell«-Verbänden gemeinsame Sache machten. Lederer (Soziale Organisationen, 114ff.) nahm die Aufrechterhaltung des großagrarischen Machtanteils an. R. Lewinsohn (Morus), Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin 1926,159ff. weist auf die Kriegsgewinne der Agrarier und ihre Entschuldung durch die im Krieg anlaufende Inflation hin. – Vgl. aber Aereboe, 84ff.; Grebler u. Winkler, 85 ff. zum Substanzverlust und zu langfristigen Schädigungen der Landwirtschaft im Krieg. H. Rosenberg, Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, 77 sieht den Krieg als Beginn des Abstiegs der Junker. Differenzierend: A. Günther, Die Folgen des Krieges für Einkommen u. Lebenshaltung der mittleren Volksschichten Deutschlands, in: Meerwarth u. a., 259ff. MB, 8.9.1916, 5. MB, 3.12.1916, 5, 6. Vgl. z.B. MB, 17.1.1917, 8; 3.3.1917, 15ff.; 3.6.1917, 18f.; 3.11.1917, 17; 3.4.1918, 17; 3.9.1918, 29.
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Deutlich in dem oben wiedergegebenen Zitat der pommerschen Bäuerin; vgl. auch K.-L Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges, Berlin 1968, 109-22, 151. Vgl. zum bayerischen Preußen-Haß, der durch das Auftreten reicher Touristen aus dem Norden gestärkt wurde: Ay, 108f., 119f., 134-48; vgl. auch MB, 3.9.1918; oben Kap. II, Anm. 298. Vgl. MB, 3.12,1916, 12f.; 17.1.1917, 6f.; 3.2.1917, 5; 3.3.1917, 5f.; 3.4.1917, 5; 3.5.1917, 7ff.; 3.9.1918, 14ff.; 3.10.1918, 11ff. Allgemein zum Zusammenhang zwischen (abnehmenden) realen Gruppendifferenzierungen zwischen Juden und Nicht-Juden einerseits und den aus ganz anderen Quellen resultierenden Aggressionen und Protestpotentialen andererseits vgl. E. G. Reichmann, Die Flucht in den Haß, Frankfurt o. J. MB, 3.2.1917, 7-8; ähnlich MB, 8. 9.1916, 3; 7.11.1916, 4; 3.12.1916, 10. Vgl. W. Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: W. E. Mosse Hg., Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971, 424-27, der überhaupt (409-42) ausführliches Material zum Antisemitismus im Krieg ausbreitet. Vgl. ebd., 438, pass. Vgl. ebd., 436-42; D. Stegmann, Zwischen Repression und Manipulation. Konservative Machteliten und Arbeiter- und Angestelltenbewegung 19101918. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der DAP/NSDAP, in: Achiv f. Sozialgeschichte 12. 1972, 396ff. – Zur Tradition antisemitischer Manipulation durch radikalkonservative Politiker: H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966, 12540. Zur DAAP und ihrem Scheitern: Stegmann, Repression, 394ff. Vgl. O. Baumgarten u. a., Geistige u. sittliche Wandlungen des Krieges in Deutschland, Stuttgart 1927, 15, 70ff.; zur Verengung der Verdienstunterschiede zwischen Jüngeren und Älteren vgl. oben S. 31. Weiter: W. Flitner, Der Krieg u. die Jugend, in: Baumgarten, 291 (zum partiellen Abbau des traditionellen Unterschieds Lehrer-Schüler). Ebd., 296-302, bes. 346; M. Buber-Neumann, Von Potsdam nach Moskau, Stuttgart 1957, 29ff. über die Politisierung des »Wandervogels«. Vgl. E. Foerster, Die Stellung der evangelischen Kirche, in: Baumgarten, 89148, 122 ff. Vgl. A. Rademacher, Die Stellung der katholischen Kirche, in: Baumgarten, 149-216, 179, 204ff. – Insofern beide Kirchen sich mit dem alten System weitgehend identifiziert hatten und z. T. propagandistische Funktionen für den Staat im Krieg übernommen hatten – für die katholische Kirche galt beides weniger als für die protestantische –, gehörten sie zu den Verlierern dieses Krieges. Wahrscheinlich ging der Einfluß von Geistlichen in den Oberschichten durch den Krieg zurück; vgl. A. Günther, Folgen, 116ff. – Zu den Kirchen als Propagandainstrumenten: E. Lederer, Zur Soziologie des Welt-
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I. Politische Sozialgeschichte kriegs, Archiv 39. 1915, 374; Ay, 89-94; W. Pressel, Die Kriegspredigt 1914 bis 1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands, Göttingen 1967; H. Missalla, »Gott mit uns«. Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914-1918, München 1968. Vgl. A. Mendelssohn-Bartholdy, The War and German Society, New Haven 1937, 6ff., 27. Das gilt mehr für die meist untätige Flotte als fürs Heer. Vgl. D. Horn, The German Naval Mutinies of World War I, New Brunswick, N. J. 1969; zum Heer: Archiv 41. 1916, 914f.; Baumgarten, 54; Ay, 102-09. Dies wird immer wieder in den MB betont, so 8.9.1916, 8; 3.11.1917, 24; 3.9.1918, 5; vgl. auch die Ausführungen Gröbers gegenüber Ludendorff, in: E. Matthias u. R. Morsey Bearb., Die Regierung des Prinzen M. v. Baden, Düsseldorf 1962, 228.
Aus: Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 19141918, Frankf./M. 1997, S. 92-126. © Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankf./M.
Susanne Rouette
Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik 1. Alte und neue Fragen: Perspektiven auf die Geschichte von Frauen im Ersten Weltkrieg Unter den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen aller kriegführenden europäischen Länder war die Ansicht weit verbreitet, dass der Erste Weltkrieg die gesellschaftliche Situation von Frauen in hohem Maße verändert, die Emanzipation stärker als in den Jahren und Jahrzehnten zuvor gefördert und so die Hierarchien zwischen den Geschlechtern verringert habe.1 Für die Geschichtswissenschaft bildeten diese Vorstellungen von einer gelungenen Mobilisierung der Frauen für den Krieg und einer damit einhergehenden, neuartigen 'emanzipatorischen' Vergesellschaftung lange Zeit kein Thema. Erst seit den siebziger Jahren, mit dem Vordringen sozialgeschichtlicher Ansätze, begann man allmählich, die Präsenz von Frauen in den Kriegsgesellschaften wieder wahrzunehmen und in die historischen Analysen einzubeziehen. Zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurden Frauen zunächst allerdings nur, wenn sie sich in den von Männern geprägten Bereichen bewegten: in der politischen Öffentlichkeit von Parlamenten, Parteien und Gewerkschaften oder in der außerhäuslichen Erwerbsarbeit. Zugleich ging man davon aus, dass die langfristigen Entwicklungstendenzen des politischen und ökonomischen Systems kriegsbedingt erheblich beschleunigt und damit die „Modernisierung" der kriegführenden Gesellschaften außerordentlich vorangetrieben worden seien. Da in der sozialgeschichtlichen Sichtweise der siebziger und frühen achtziger Jahre Modernisierung vielfach gleichgesetzt wurde mit einem Zuwachs an Partizipation und Demokratisierung, schien es nur folgerichtig, dieses Erklärungsmuster durch das bis dahin unhinterfragte (Vor-)Urteil vom Krieg als „Schrittmacher der Frauenemanzipation" bestätigt zu sehen. Die Erringung des Frauenwahlrechtes in Deutschland bzw. England diente daher ebenso als Beleg für eine emanzipationsfördernde Wirkung des Ersten Weltkrieges
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wie die nicht ernsthaft überprüfte Annahme, in den Jahren 1914 bis 1918 sei es zu einer dramatischen Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit gekommen, durch die sich auch langfristig neue Erwerbsbereiche für Frauen eröffnet hätten.2 Ein Durchbruch zu neuen Perspektiven gelang erst in den achtziger Jahren, als zentrale Annahmen der bisherigen Forschung in Frage gestellt und die Quellen einer neuen, kritischen Lektüre unterzogen wurden. 1981 verwiesen James McMillan für Frankreich und Gail Braybon für Großbritannien auf die anhaltende Dominanz konservativer Überzeugungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Position von Frauen und bestritten die These von der emanzipationsfördernden Wirkung des Krieges. In Theorie und Praxis sei vielmehr eine „Ideologie der Häuslichkeit" und damit das Modell der Hausfrau und Mutter nachdrücklich bekräftigt worden. Erwerbstätigen Frauen seien keine neuen Chancen eröffnet worden, die den Krieg überdauert hätten.3 Dieser Deutung entspricht eine neue Sicht auf das Frauenwahlrecht: Während in Frankreich eine Gesetzesinitiative für das Frauenstimmrecht 1922 scheiterte, erhielten Frauen in Großbritannien Anfang 1918 lediglich ein eingeschränktes Wahlrecht, das gerade diejenige Gruppe von Frauen, die die Kriegsarbeit von Frauen repräsentierte, die Rüstungsarbeiterinnen, ebenso wie viele Frauen aus der Unterschicht weiterhin ausschloss. Neuere Untersuchungen tendieren sogar zu der Auffassung, dass der Krieg die Einführung des Frauenwahlrechtes eher verzögert als beschleunigt habe. Und auch für Deutschland wird die Durchsetzung des Frauenwahlrechts Ende 1918 nicht mehr als Folge der Kriegspolitik, sondern als Ergebnis der Novemberrevolution interpretiert.4 Für den deutschen Fall ist schließlich von Ute Daniel die These vom Krieg als „Vater der Frauenemanzipation" grundsätzlich bestritten worden. Ihre Argumentation unterscheidet sich insofern von früheren französischen und britischen Studien, als sie sowohl den heuristischen wie den analytischen Stellenwert des Emanzipationsbegriffs für die Analyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen verneint. Weibliche Partizipation am und Mobilisierung für den Krieg hätten zwar möglicherweise Freiräume und Handlungsmöglichkeiten von Frauen erweitert, doch zugleich neue Belastungen und Beschränkungen mit sich gebracht. Politische Entscheidungsgewalt hätten Frauen mit ihrer Einbindung in die nationalen Kriegsanstrengungen nicht erhalten, vielmehr habe diese Einbindung die Kontrollmöglichkeiten über ihre Arbeit vermehrt. Daniel plädiert stattdessen nachdrücklich für eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive, die die Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsweisen der handelnden Subjekte weiblichen und männlichen Geschlechts,
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sei es auf der Ebene staatlichen und politischen Handelns, sei es auf der Ebene des Alltagslebens, in den Mittelpunkt stellt.5 Damit ist zugleich der Übergang von der Frauen- zu einer Geschlechtergeschichte des Ersten Weltkrieges markiert. Hatte sich die historische Frauenforschung zunächst vor allem darum bemüht, den Einfluss des Krieges auf die Lebensbedingungen und Erfahrungen von Frauen (wieder) sichtbar zu machen, versuchen neuere Studien, Frauengeschichte in ein Verhältnis zu anderen Bereichen historischer Forschung zu setzen. Joan Scott hat entsprechende Fragestellungen bereits Mitte der achtziger Jahre vorgestellt und dafür plädiert, die Kategorie des Geschlechts in zweifacher Hinsicht insbesondere auch für die Rekonzeptualisierung einer politischen Geschichte des Krieges nutzbar zu machen. Zu erforschen sei zum einen, ob der Krieg bestehende kulturelle Definitionen von Geschlecht verändert habe. Zum anderen müsse, ausgehend von der Beobachtung, dass Diskussionen über gesellschaftliche (Un-) Ordnung häufig als Diskussionen über die Ordnung der Geschlechter geführt würden, der Frage nachgegangen werden, wie Geschlechterdiskurse und politische Diskurse miteinander verflochten seien.6 Ins Zentrum der Betrachtung ist die Erkenntnis gerückt, dass die Massenmobilisierung für den Krieg vielfach als Bedrohung für die etablierte Ordnung der Geschlechterverhältnisse interpretiert wurde. Immer wieder wurde in den kriegführenden Gesellschaften der Ausnahmecharakter der kriegsbedingten Veränderungen beschworen und die Rückkehr zum Status quo ante propagiert.7 Viele sozialpolitischen Maßnahmen etwa dienten daher erkennbar sowohl der Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft wie auch der Stabilisierung der Familien, deren Bestand durch die Abwesenheit von Ehemännern und Vätern in hohem Maße als gefährdet erachtet wurde. Ob nun im einzelnen erfolgreich oder nicht, trug diese Ausdehnung staatlicher Interventionen auf den Bereich der häuslichen und außerhäuslichen (Re-)Produktion dazu bei, die vorhandene gesellschaftliche und individuelle Wertschätzung von Ehe und Familie zu betonen, die Aufgaben von Frauen als Müttern als vorrangig zu betonen und nicht zuletzt in der Reglementierung weiblicher Sexualität staatliche Kontrollmacht unter Beweis zu stellen.8 In ihrer Gesamtbewertung kommen die einschlägigen Studien trotz aller Unterschiede der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in Großbritannien, Frankreich und Deutschland bemerkenswerterweise zu erstaunlich ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der durch oder im Krieg herbeigeführten Veränderungen der Geschlechterverhältnisse. Sie konstatieren übereinstimmend zwar einschneidende Veränderungen in den Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen und Männern; zu-
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gleich hat der politische und soziale Wandel der Kriegsjahre offenbar aber keinen Abbau, sondern eine Neuformulierung normativer Geschlechterrollen und eine (Wieder- )Verfestigung der Geschlechterhierarchien zur Folge gehabt, die während des Krieges in Auflösung geraten schienen.9
2. Vom Frieden zum Krieg Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland zeigte sich die bürgerliche Frauenbewegung bei Kriegsbeginn nicht nur empfänglich für nationalistische Begeisterung und Propaganda, sondern sie trug vielfach auch selbst dazu bei. Zahlreiche ihrer Vertreterinnen beschworen die weibliche Teilhabe an der „Verteidigung des Vaterlandes", erklärten ihre Bereitschaft, Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit ruhen zu lassen, und deklarierten es als ihre Pflicht, sich nun ganz in den Dienst an „Nation" und „Volk" zu stellen. Nicht Angst und Sorgen um die in den Krieg ziehenden Männer gelte es nun zu zeigen, sondern freudigen „Opfermut" und patriotischen Tatendrang würdiger „Bürgerinnen", die sich ihrer nationalen Verpflichtungen bewusst seien.10 Das im August 1914 öffentlich inszenierte Pathos nationaler Einheit barg in sich weiterwirkende Sinnstiftungsangebote, die auch auf die Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse verweisen. Die von der Frauenbewegung beschworene gleichberechtigte Teilhabe am Krieg fand im Deutschen Reich in der Metapher vom „Burgfrieden der Geschlechter" ihren prägnanten Ausdruck. Ähnlich wie in anderen Länder vermittelt sie das Bild einer nationalen (Selbst-) Integration der Frauenbewegung, zugleich aber verweist sie auf tief greifende gesellschaftliche Auseinandersetzungen über die Geschlechterbeziehungen in der Vorkriegszeit zurück. Die gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz der europäischen Frauenbewegungen und die Diskussionen über einen neuen Platz von Frauen und Männern in der Gesellschaft waren vor allem im konservativen Lager zunehmend als bedrohlich empfunden worden und hatten eine ressentimentgeladene Ablehnung provoziert. Dieser Antifeminismus der Vorkriegszeit kann auch als Ausdruck einer „Krise der Männlichkeit", als negative Reaktion auf die nachdrückliche Bekräftigung einer neuen weiblichen Identität um die Jahrhundertwende interpretiert werden.11 Die Infragestellung von Männlichkeitskonzeptionen des 19. Jahrhunderts führte aber auch zur Propagierung einer 'neuen', virilen Männlichkeit, die in Deutschland wie in Großbritannien deutlich kriegerische Züge trug. Hervorzuheben ist, dass dieses Männlichkeitsideal sich bezog und auf Vorstellungen von Weiblichkeit antwortete, deren zentrale
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Komponente als „Mütterlichkeit" erfahren wurde und Männlichkeit damit als eine Männlichkeit von Söhnen, nicht von Ehemännern oder Vätern, definierte. Bemerkenswerterweise hatten die Diskussionen und Forderungen weiter Teile der deutschen wie der französischen Frauenbewegung seit dem 19. Jahrhundert ebenfalls ein Konzept von Mütterlichkeit entwickelt und propagiert, das jedoch andere Schwerpunkte in den Vordergrund stellte und für Frauen als Mütter neue soziale und politische Rechte einforderte. Die These von einer „Krise der Männlichkeit" bietet m. E. eine einleuchtende Erklärung für die im öffentlichen Diskurs des Kriegsbeginns so lautstark beschworenen und häufig unter Zuhilfenahme archaischer Bilder mythisch verklärten Geschlechterstereotype. Männlichkeit sollte sich im Kriegsdienst realisieren, in der Verteidigung der schon auf der sprachlichen Ebene deutlich als weiblich konnotierten Nation/ Heimat, die in den Frauen und Kindern ihre Verkörperung erfuhr und in den Körpern von Frauen auch als verwundbar oder angreifbar verstanden wurde.12 Das im Diskurs des Kriegsbeginns formulierte Programm von Weiblichkeit forderte entsprechend die traditionell als „mütterlich" erachteten, den Frauen qua 'Natur' zugeschriebene Fähigkeiten des Pflegens und der Fürsorge für andere ein – sei es in der Pflege verwundeter Soldaten, sei es in der Versorgung der in der Heimat zurückgebliebenen Angehörigen. Als Mütter und Krankenschwestern sollten Frauen die Kriegsanstrengungen unterstützen und so das Ideal dessen repräsentieren, wofür die Soldaten kämpften. Nicht eine Angleichung, sondern vielmehr eine stärkere Akzentuierung und damit einhergehend zumeist auch eine Hierarchisierung der Geschlechterdifferenz stand somit im Mittelpunkt des Diskurses über Weiblichkeit und Männlichkeit im Krieg.13 Gleichsam antithetisch barg dieser Diskurs jedoch auch die Wünsche und Forderungen vieler, vor allem jüngerer Frauen nach gleichartiger Teilhabe und nach Kameradschaft. Als Pieta und als „Schwester des kranken Kriegers" fanden diese Vorstellungen in der Bilderproduktion der Kriegszeit einen ikonenhaften Ausdruck, wurden diese Motive zu viel genutzten Bildern, mit denen sich Frauen und Männer über die Geschlechterordnung der Kriegszeit zu verständigen suchten.14 Anknüpfend an ihre Erfahrungen aus ehrenamtlicher Fürsorgearbeit und privater Wohltätigkeit, entwickelten die Frauenorganisationen bei Kriegsbeginn umfangreiche Aktivitäten, um ihren Wunsch nach Partizipation praktisch werden zu lassen. Zehntausende meldeten sich zur Kranken- und Verwundetenpflege; Strickstuben wurden eingerichtet, um „Liebesgaben" für Soldaten zu verfertigen; an Bahnhöfen reichte man durchreisenden Truppen Erfrischungen; Angehörige von Soldaten wur-
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den beraten und aus Spendenmitteln unterstützt; bedürftige Familien erhielten Geld-, Lebensmittel- und Kleiderspenden oder Mahlzeiten in öffentlichen Küchen; Beratungsbüros für die Angehörigen von Soldaten wurden eingerichtet u. a. m. Bereits im Juli 1914 hatte der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), die Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, Vorbereitungen getroffen und dann Anfang August für die Koordinierung der verschiedenen Aktivitäten den Nationalen Frauendienst (NFD) ins Leben gerufen, der sich den kommunalen Behörden als „Frauenheer der Hilfe" zur Verfügung stellte. Ganz im Sinne des proklamierten Burgfriedens schlossen sich der Katholische Frauenbund und in vielen Parteibezirken auch Vertreterinnen der sozialdemokratischen Frauenorganisationen dem NFD an. Die Aufgabengebiete des NFD waren vielfältiger Natur, wenn sie auch je nach lokalen Bedingungen variierten. Nicht zuletzt waren seine Aktivitäten abhängig von der Bereitschaft der jeweiligen Kommunalverwaltungen, Frauen in die Durchführung der den Kommunen obliegenden „Kriegsfürsorge" einzubeziehen und ihnen zuweilen auch Entscheidungsbefugnisse einzuräumen. Im Allgemeinen engagierte sich der NFD außerdem im Bereich der Lebensmittelversorgung, der Familienfürsorge und der Arbeitsvermittlung für Frauen. Aufklärungsund Beratungsarbeit sollten darüber hinaus der Mobilisierung der Frauen an der Heimatfront dienen. Stand in der ersten Kriegszeit die Propagierung 'kriegsgemäßer' Arbeit im Haushalt im Mittelpunkt (Thema: „Kriegsdienst in der Küche"), galt es im weiteren Kriegsverlauf auch, die staatliche Propaganda für den Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie zu unterstützen.15 In Großbritannien kam es zwar zu keiner vergleichbaren, übergreifenden Organisierung der Frauenbewegung für die Kriegsfürsorge, doch Ausmaß und Charakter der Aktivitäten waren in vieler Hinsicht ähnlich; die Unterschiedlichkeit der Organisationsformen scheint vorrangig auf die Vorbedingungen im Fürsorge- bzw. Wohlfahrtssystem beider Länder rückführbar zu sein. Umfassender noch als der NFD war die britische Frauenbewegung in der Unterstützung der Familien von Soldaten involviert. Die gesamte Verwaltung des staatlichen Unterstützungswesens wurde im Herbst 1914 von der Soldiers' and Sailors' Families Association (SSFA), einer wohl angesehenen philanthropischen Gesellschaft, aufgebaut und für fast zwei Jahre im Namen des Kriegsministeriums geführt. 1915 verfügte die SSFA über 900 lokale Zweigstellen mit rd. 50.000 freiwilligen Helferinnen, unter ihnen zahlreiche Mitglieder der Frauenbewegung. Zwar wurde die Verwaltung der Unterstützungsleistungen im Frühjahr 1916 einem neu gegründeten, mit Vertretern des Militärs, der Politik und von Wohltätigkeitsorganisationen besetzten
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Komitee, 1917 dann dem neu gegründeten Pensionsministerium unterstellt. Vor Ort waren es jedoch vielfach die alten SSFA-Gruppen, die weiterhin die praktische Arbeit leisteten, nun allerdings nicht mehr nach selbstbestimmten Grundsätzen, sondern nach staatlichen Regeln, die ihre früheren Entscheidungsbefugnisse erheblich beschnitten.16 Der Zusammenhang von Kriegsbejahung und Engagement in der Kriegsfürsorge, wie er für Teile der Frauenbewegung in Deutschland wie England zu belegen ist, darf jedoch nicht vorschnell verallgemeinert werden, wie nicht nur das Beispiel zahlreicher deutscher Sozialdemokratinnen verdeutlicht. Unter britischen Feministinnen gab es eine große Gruppe von Frauen, die aus ihren pazifistischen Überzeugungen keinen Hehl machte und sich trotzdem in der Wohlfahrtsarbeit engagierte, um kriegsbedingte oder durch den Krieg verschärfte soziale Probleme zu mildern und Arme und Bedürftige zu unterstützen.17 Solche Unterstützung wurde auch dringend benötigt, denn der Kriegsbeginn stürzte breite Bevölkerungsgruppen binnen kurzem in erhebliche ökonomische Probleme. In vielen Familien fielen Männer als Verdiener aus, weil sie als Soldaten Dienst taten. Auch wenn die Zahl der betroffenen Familien in Großbritannien wegen der noch nicht vorhandenen Wehrpflicht für Männer niedriger lag als im Deutschen Reich, war sie doch nicht unerheblich. Bis zum Jahresende 1914 hatten sich in Großbritannien rd. 1,6 Mio. Männer freiwillig zum Dienst in Heer und Marine gemeldet, im Deutschen Reich waren zu diesem Zeitpunkt etwa 5 Mio. Wehrpflichtige eingezogen worden. Zugleich machte sich aufgrund der Umstellungsprobleme der Wirtschaft binnen kurzem Massenarbeitslosigkeit breit; unter den Erwerbslosen waren Frauen aus verschiedenen Gründen überproportional vertreten. In den Domänen weiblicher Erwerbstätigkeit, den Konsumgüterund Dienstleistungsbranchen, wurde mangels Nachfrage oder wegen des Wegfalls von Auslandsmärkten die Produktion verringert oder ganz eingestellt. Nach den Zählungen der deutschen Gewerkschaftsverbände (die die weibliche Erwerbslosigkeit noch zu niedrig angeben) schnellte die Erwerbslosenrate im August 1914 von 2,9 % auf 19,9 % der männlichen und sogar 31,9 % der weiblichen Mitglieder empor. Zählungen für Großbritannien ergaben, dass im September 44,4 % der in der Industrie beschäftigten Frauen erwerbslos geworden waren oder kurzarbeiteten, während die entsprechende Rate der Männer bei 27,4 % lag. Die Erwerbslosenquoten der Männer lagen im Herbst 1914 nicht nur niedriger, sie sanken auch wesentlich schneller als bei den Frauen, vor allem, weil viele Männer durch ihre Einziehung oder durch eine freiwillige Meldung dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung standen.18
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Für die meisten der von Arbeitslosigkeit und/ oder Kriegsdienst der Männer betroffenen Frauen und Familien wurde der Verdienstausfall nur ungenügend durch staatliche Zahlungen aufgefangen. In Deutschland wie in Großbritannien war die Mehrzahl der Erwerbslosen zunächst auf nichtstaatliche Unterstützungen, Spendenmittel oder auf die Armenunterstützung angewiesen – eine Arbeitslosenversicherung existierte in Großbritannien nur für Arbeiter einiger Branchen, in Deutschland gar nicht. Hier gewährten allerdings Gewerkschaften und bald auch zahlreiche Kommunen eine Arbeitslosenunterstützung, Frauen und Familienangehörige von Soldaten erhielten seit Kriegsbeginn ferner staatliche Unterstützungsleistungen. Doch ebenso wie in Großbritannien, wo diese erst im Oktober 1914 eingeführt wurden, flossen die Gelder wegen der bürokratischen Prozeduren häufig erst mit einiger Verzögerung, und sie blieben in den meisten Fällen deutlich hinter dem früheren Verdienst zurück.19 Belastet wurden die Haushaltsbudgets zusätzlich durch den unmittelbar nach Kriegsbeginn einsetzenden Anstieg der Lebensmittelpreise. Dieser Absturz breiter Bevölkerungskreise in materielle Not zog schließlich auch der suggestiven Wirkung des „Augusterlebnisses" enge Grenzen.
3. Frauenerwerbstätigkeit Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit bildete lange Zeit die Basis für das vorherrschende Bild der Geschichte von Frauen während des Ersten Weltkrieges. Es war geprägt von der Annahme, dass zwischen 1914 und 1918 sowohl der Umfang weiblicher Erwerbstätigkeit in zuvor nicht gekanntem Ausmaß zugenommen habe, wie auch ihre Strukturen grundsätzlich und dauerhaft verändert worden seien. Durch neuere Untersuchungen ist dieses Bild auf verschiedenen Ebenen nachdrücklich in Frage gestellt worden. Quantitative Entwicklung20 Beispielhaft werden im Folgenden die Entwicklungen in Großbritannien und in Deutschland erläutert. Für das Deutsche Reich bieten die Mitgliederzahlen der Krankenkassen Angaben zur Beschäftigungslage. Sie zeigen zunächst einen massiven Rückgang der Versichertenzahlen infolge der Umstellungskrise zu Kriegsbeginn. Der Stand vom Juni 1914 wurde erst im Frühjahr des Jahres 1916 wieder erreicht, eine deutliche
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Zunahme über den Vorkriegsstand hinaus erst seit der Jahreswende 1916/17 registriert. Tabelle 1: Mitgliederbewegung bei den Krankenkassen 1914-1919 (Frauen) (1. Juni 1914 = 100) Stand 1914 1915 1916 1917 1918 1919 am 1. Januar o.A. 85,3 97,1 107,5 116,5 o.A. Februar 88,9 85,9 97,3 107,8 115,4 101,5 März 92,2 88,2 97,8 108,5 115,1 97,2 April 94,3 90,0 99,4 109,9 115,2 95,7 Mai 98,4 93,3 101,7 113,0 117,8 97,9 Juni 100,0 94,1 103,3 114,9 117,4 97,9 Juli 99,7 94,4 102,9 115,1 116,7 100,2 August 97,8 95,6 103,3 115,3 115,4 100,5 September 80,0 96,4 104,0 116,1 116,6 100,3 Oktober 80,6 96,4 104,4 116,6 116,0 100,4 November 83,6 98,1 106,1 117,5 110,7 100,9 Dezember 85,4 98,8 108,1 118,5 1 08.7 101,9 Quelle: Daniel, Arbeiterfrauen, 38.
Die wesentlich stärkere Veränderung des Frauenanteils an den Beschäftigten resultierte nicht in erster Linie aus einer Zunahme der Frauenerwerbsarbeit, sondern ist vor allem auf den Kriegsdienst der Männer zurückzuführen. Vergleicht man dagegen die Zuwachsrate der Jahre 1914 bis 1918 mit denSteigerungsraten der Vorkriegsjahrzehnte, so zeigt sich, dass der Krieg „eine verblüffend geringe Wirkung auf die quantitative Entwicklung der weiblichen Erwerbsarbeit" (Daniel) hatte. Denn die Krankenkassenstatistik verzeichnet zwar absolut zunehmende Mitgliederzahlen, doch flachten die Zuwachsraten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts deutlich ab, nämlich von über 30 % zwischen 1893 und 1897 auf 17 % zwischen 1914 und 1918. Für Großbritannien können aufgrund der Angaben des Handelsministeriums ebenfalls genauere Angaben zur Entwicklung der weiblichen Erwerbstätigkeit gemacht werden. Demnach nahm die Zahl erwerbstätiger Frauen während des Ersten Weltkrieges um rd. 1,35 Mio. oder 22,5 % zu (vgl. Tab. 4). Berücksichtigt man, dass in diesen Angaben die industriellen Branchen mit ihren hohen Zuwachsraten überrepräsentiert sind, und vergleicht mit der Vorkriegsentwicklung, dann deutet auch
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diese Rate auf ein eher moderates Wachstum weiblicher Erwerbstätigkeit zwischen 1914 und 1918 hin. Der Vergleich mit den Vorkriegsentwicklungen erlaubt im britischen Fall jedoch nicht so präzise Aussagen wie für das Deutsche Reich, da er auf die weniger genauen Zensusdaten gestützt werden muss. Insgesamt sind aber keine signifikanten Einwirkungen des Krieges auf den langfristigen Trend der Entwicklung erkennbar. In Großbritannien ist wie in vielen anderen europäischen Ländern auch ein leichter Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen seit der Jahrhundertwende zu konstatieren, doch gibt es keinen Hinweis, dass durch den Ersten Weltkrieg eine dauerhafte Veränderung dieses langfristigen Trends stattgefunden hat. Tabelle 2: Frauenerwerbsquote in Großbritannien, 1891-1931 Jahr 1891 Frauener- 34,4 werbsquote
1901 31,6
1911 31,9
1921 32,3
1931 34,2
Quelle: British Labour Statistics. Historical Abstract 1886-1968, London 1971, 207; J. Lewis, Women in England 1870-1950: Sexual Divisions and Social Change, Sussex/ Bloomington 1984, 147.
Insgesamt zeigt das vorhandene statistische Material, dass die frühere Annahme einer massenhaften Mobilisierung bislang nicht erwerbstätiger Frauen für die Kriegswirtschaft nicht länger haltbar ist. Woher kamen dann aber die Beschäftigten der Rüstungsindustrie? Es waren vor allem Frauen, die auch schon in der Vorkriegszeit erwerbstätig gewesen waren, etwa als Dienstmädchen, als Landarbeiterinnen oder als Arbeiterinnen in der Textilindustrie und im Bekleidungsgewerbe. Entsprechend der Zunahme weiblicher Beschäftigung in den Kriegsindustrien lässt sich in anderen Wirtschaftssektoren ein deutlicher Rückgang der weiblichen Beschäftigung nachweisen. Eine Aufschlüsselung der bereits oben benutzten deutschen Krankenkassenstatistik nach Industriezweigen belegt diese 'Verschiebungen' zwischen den einzelnen Branchen in eindrucksvoller Weise. Enorme Zuwachsraten wiesen die kriegsindustriellen Branchen (Metall-, Maschinen-, Elektro- und Chemische Industrie) auf, am ausgeprägtesten in der Maschinenindustrie, während besonders in den großen „Frauenbranchen", der Textilindustrie und dem Bekleidungsgewerbe, ein starker Rückgang zu verzeichnen war.
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Tabelle 3: Beschäftigung erwachsener Arbeiterinnen im Deutschen Reich nach Industriezweigen 1914-1918 (März 1914 = 100) Industriezweige
Sept. 1914 67,1 58,3 83,1 57,1 84,9 89,0 53,8 67,7
Industrie der Steine Metallindustrie Maschinenindustrie Elektroindustrie Chemische Industrie Textilindustrie Papierindustrie Leder- und Gummiindustrie Holz- und 24,6 Schnitzstoffgewerbe Nahrungs- und 139,7 Genussmittelindustrie Bekleidungsgewerbe 66,3 Vervielfältigungsgewerbe62,7
März 1915 67,4 117,4 309,8 102,3 92,7 108,1 78,9 57,3
März 1916 74,6 492,4 1414,8 299,7 171,8 66,9 101,3 57,8
März 1917 82,8 745,5 3381,7 856,4 314,0 66,9 136,7 89,1
März 1918 87,0 846,7 3520,4 813,8 436,2 62,6 149,8 96,8
89,9
148,5
109,5
115,7
133,2
155,7
159,0
146,5
74,7 82,5
83,4 84,9
58,1 82,1
55,5 90,1
Quelle: Bajohr, Hälfte der Fabrik, 125.
Weitere Angaben deuten in die gleiche Richtung: So sank im Deutschen Reich der Anteil der Dienstboten an den weiblichen Versicherten von 31 % auf 17 %, in Großbritannien ging er von 28 % auf ebenfalls 17 % zurück. Wenn auch nicht so detailliert nachvollziehbar wie für das Deutsche Reich, belegen die Erhebungen des britischen Handelsministeriums auch für Großbritannien massive Umstrukturierungen des weiblichen Arbeitsmarktes.
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Tabelle 4: Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit in Großbritannien Juli 1914 und Juli 1918, nach Branchen Wirtschaftssektor Juli 1914
Juli 1918
Zu- bzw. Abnahme
Selbständige oder 430 000
470 000
40 000
2 970 600 818 000 556 000 1 258 000 934 500 462 200
792 000 - 45 000 - 56 000 - 400 000 429 000 198 000
36,4 - 5,2 - 9,2 - 24,1 84,9 75,6
228 000 220 000
38 000 39 000
20,0 21,5
117 200 652 500
99 000 111 000
544,0 20,3
Arbeitgeber Industrie 2 178 600 Textil 863 000 Bekleidung 612 000 Häusliche Dienste 1 658 000 Handel etc. 505 500 Nationale und 262 200 Lokale Verwaltungen, einschl. Erziehung Landwirtschaft 190 000 Hotels und 181 000 Gaststätten, Theater etc. Transportwesen 18 200 Andere, inkl. 542 500 Freie Berufe und Heimarbeiterinnen Zusammen 5 966 000
7 311 000 1 345 000
Zu- bzw. Abnahme in % 9,3
22,5
Quelle: Report of the War Cabinet Committee on Women in Industry, London 1919, abgedr. in: Shepard B. Clough/ Thomas Moodie/ Carol Moddie (Hg.), Economic History of Europe. Twentieth Century, London/ Melbourne 1969, 47; Marwick, Woman at War, 166.
Die Abwanderung weiblicher Arbeitskräfte aus den traditionellen Frauenberufen wurde von der Öffentlichkeit jedoch kaum wahrgenommen. Damit erklärt sich auch das zunächst verblüffende Auseinanderfallen von zeitgenössischer Wahrnehmung und statistischem Befund über die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit während des Krieges. Registriert wurde vor allem das vermehrte Auftauchen weiblicher Arbeitskräfte in traditionellen „Männerbranchen" und auf traditionellen „Män-
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nerarbeitsplätzen". Überall schienen Frauen nun Arbeiten zu verrichten, von denen man vor dem Krieg geglaubt hatte, dass sie unmöglich von Frauen auszuführen seien. Man sah Frauen als Straßenbahnfahrerinnen und Briefträgerinnen, hörte von Kranführerinnen und Maschinenführerinnen, von Frauen, die Bohr- und Fräsmaschinen bedienten oder auf Werften und im Straßenbau arbeiteten. Die in der Vorkriegszeit bestehenden Grenzen zwischen Frauenarbeit und Männerarbeit schienen zunehmend aufgehoben. Solche Beobachtungen prägten die öffentliche Diskussion weitaus nachhaltiger als dies die übliche Arbeit von Frauen als Putzfrauen, Näherinnen oder Landarbeiterinnen vermochte. Auch der forcierte Anstieg der Beschäftigtenzahlen bei den weiblichen Angestellten blieb ein vergleichsweise unterbewertetes Phänomen, weil er bereits lange vor dem Krieg eingesetzt hatte und die Arbeitsbereiche als typisch weiblich galten. Die weibliche Beschäftigung in der Kriegsindustrie dominierte spätestens in der zweiten Kriegshälfte die öffentlichen Diskussion über die Erwerbsarbeit von Frauen. Es waren insbesondere die jeweiligen Regierungen, die im weiteren Kriegsverlauf zunehmend lautstärker die Notwendigkeit beschworen, weibliche Arbeitskräfte für die Kriegsindustrie zu mobilisieren und „Männerarbeit" durch „Frauenarbeit" zu ersetzen. Doch blieb der Erfolg dieser Mobilisierungsbemühungen wesentlich geringer als behauptet. Die Gründe hierfür sind sowohl in den Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten der staatlichen Arbeitsmarktpolitik wie auch in den Bedingungen der Frauenarbeit selbst zu suchen.
Arbeitsmarktpolitik und Mobilisierung von Frauen In beiden Ländern war man auf einen mehrjährigen Krieg nicht vorbereitet gewesen. Dass es für die weitere Kriegführung einmal notwendig sein würde, den militärischen Bedarf an Soldaten und den Arbeitskräftebedarf der Rüstungsindustrie in Einklang miteinander zu bringen, hatte im Herbst 1914 noch niemand für möglich gehalten. Ebenso wenig waren Vorbereitungen getroffen worden, um der sich unmittelbar nach Kriegsbeginn ausbreitenden Massenarbeitslosigkeit zu begegnen. Erst mit zunehmender Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion begann sich die Situation auf dem Frauenarbeitsmarkt zu entspannen, zunehmend fanden Frauen nun wieder einen Erwerbsarbeitsplatz, immer häufiger waren dies jedoch andere Arbeitsplätze als vor Kriegsbeginn. Insgesamt gesehen waren Frauen im ersten Kriegsjahr aber weiterhin überwiegend auf „Frauenarbeitsplätzen" beschäftigt. Die Versuche einzelner Unternehmer, Frauen für bisher von Männer ausgeübte Tätigkei-
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ten einzusetzen, stießen in Großbritannien nicht selten auf Widerspruch der Gewerkschaften, die sich mit der Begründung, „dass die Arbeit für Frauen nicht geeignet sei, und sie Lohndrückerei betreiben würden", der Einstellung von Frauen widersetzten. Solche Konflikte waren offenbar zu umgehen, wenn Frauen als direkte „Kriegsvertretung" ihrer Ehemänner oder Väter tätig wurden und damit dokumentierten, dass sie nach Kriegsende keinen Anspruch auf diesen Arbeitsplatz erheben würden. In beiden Ländern war dies besonders bei den kommunalen Verkehrsbetrieben der Fall, wurde aber auch aus anderen Unternehmen berichtet. Die staatlichen Bemühungen um eine systematische Mobilisierung von Frauen für die Rüstungsindustrie begannen in Großbritannien früher als in Deutschland, nämlich im Frühjahr 1915 gegenüber der Jahreswende 1916/17. Der entscheidende Anlass für die Entwicklung weit reichender staatlicher Eingriffe in das Arbeitsmarktgeschehen war in beiden Fällen die militärische Situation und insbesondere die Sicherstellung des menschlichen und materiellen 'Nachschubs' für die Front. Im Frühjahr 1915 wurde der britischen Regierung klar, dass sowohl ein massiver Ausbau der Rüstungsproduktion wie auch eine stärke Rekrutierung von Soldaten notwendig waren, um den Krieg mit Aussicht auf Erfolg weiterführen zu können. Die erforderlichen Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie sollten durch „dilution" gewonnen werden. Dieser Begriff bezeichnete ursprünglich den Ersatz von gelernten Arbeitskräften durch an- und ungelernte männliche sowie weibliche Arbeitskräfte, wurde aber bald schon zum Synonym für die Einführung von Frauenarbeit in allen Zweigen der Wirtschaft. Obwohl die Erwerbslosigkeit unter Frauen im Frühjahr 1915 noch recht hoch war, zielten die ersten Bemühungen zur Rekrutierung von Frauen für die Rüstungsindustrie auf bislang nicht erwerbstätige Frauen. Bei den Arbeitsnachweisen wurde ein Women's War Register angelegt, in das sich alle Frauen eintragen sollten, die eine Erwerbsarbeit in der Industrie, der Landwirtschaft oder in der Verwaltung aufzunehmen bereit waren. Doch der Erfolg blieb gering. Zwar ließen sich über 110. 000 Frauen bis zum Frühherbst 1915 registrieren, doch lediglich 5. 511 Frauen konnten tatsächlich vermittelt werden. Die Arbeitsnachweise waren mit einem solchen Andrang nicht nur überfordert, viele Frauen besaßen auch nicht die für die ausgeschriebenen Arbeitsplätze erforderlichen Qualifikationen; vor allem aber standen dem Arbeitskräfteangebot gar nicht genügend offene Stellen gegenüber, da zahlreiche Unternehmer männliche Arbeitskräfte bevorzugten, solange diese verfügbar waren. In dieser Situation sah sich die britische Regierung genötigt, Verhandlungen mit Gewerkschaften und Unternehmern der wichtigsten Indust-
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riezweige, allen voran der Maschinenindustrie, aufzunehmen, um in der Frage der dilution Fortschritte zu erzielen. In zahlreichen Branchen existierten detaillierte Abkommen mit den Gewerkschaften, die Art und Umfang der Beschäftigung von Frauen, ungelernten Arbeitern oder Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern festschrieben und so die Privilegierung der gelernten und organisierten, männlichen Arbeitskräfte sicherstellten. Um die Unterstützung der Gewerkschaften zu gewinnen, hatte die Regierung ihnen im März 1915 weitgehende Zugeständnisse in der Lohnfrage gemacht und zugleich festgeschrieben, dass alle Veränderungen in der Zugänglichkeit der Arbeitsplätze für Ungelernte und Frauen nur für die Kriegszeit Bestand haben würden. Auch sollten Frauen nicht tatsächlich die Arbeit gelernter Männer übernehmen, sondern lediglich Teilprozesse dieser Arbeit. Doch trotz aller Zugeständnisse blieb das Abkommen in der Praxis weitgehend wirkungslos, da der Widerstand der gelernten Arbeitskräfte und ihrer Interessenvertretungen gegen eine Ausweitung der Frauenarbeit vor Ort anhielt. Angesichts der im Frühjahr 1915 die britische Öffentlichkeit alarmierenden Munitionskrise griff das unter der neuen Koalitionsregierung eingerichtete Rüstungsministerium zu gesetzlichen Maßnahmen. Der im Juni 1915 verabschiedete Munitions of War Act enthielt unter anderem auch Bestimmungen, mit denen die bisherigen Einstellungsregeln der Gewerkschaften für die Kriegsindustrie außer Kraft gesetzt werden konnten. Um die hohen Fluktuationsraten und die gegenseitige Lohnkonkurrenz zwischen den Unternehmen zu verringern, wurde zugleich die Freizügigkeit der hier beschäftigten Arbeitskräfte in erheblichem Maße eingeschränkt. Männliche wie weibliche Arbeitskräfte konnten fortan nur noch mit einem Entlassungsschein des früheren Arbeitgebers den Betrieb wechseln, wollten sie nicht eine sechswöchige Einstellungssperre in Kauf nehmen. Noch im Sommer 1915 begann das Rüstungsministerium einen eigenen Apparat aufzubauen, der die dilution überwachen, den Arbeitskräftebedarf der Rüstungsindustrie ermitteln und seine Deckung sicherstellen sollte. Wie hoch das Ministerium das Konfliktpotential der beabsichtigten Umstrukturierung veranschlagte, zeigt sich darin, dass die Unternehmen immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen wurden, ein Einvernehmen mit den Gewerkschaften und den männlichen Beschäftigten über die geplanten Maßnahmen herzustellen. Anzeigenkampagnen des Rüstungsministeriums, bebilderte Broschüren und anderes Material sollten nicht nur die Betroffenen, sondern die gesamte Öffentlichkeit von der Notwendigkeit und zugleich vom Erfolg des Einsatzes der Frauenarbeit überzeugen. Trotz dieser Aktivitäten war den staatlichen Mobilisierungsmaßnahmen allerdings kein allzu großer Erfolg beschieden.
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Seit März 1917 ging die Regierung schließlich dazu über, Vertragsabschlüsse über bestimmte Rüstungsgüter mit einer Klausel zu versehen, dass 80 % der Arbeitskräfte weiblichen Geschlechts sein mussten – ungeachtet der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt nicht nur in der Presse, sondern auch im Ministerium selbst die Ansicht vertreten wurde, die Grenzen der Beschäftigung von Frauen in der Kriegsproduktion seien längst erreicht, die Möglichkeiten überschätzt worden. Wie in Großbritannien fehlte auch im Deutschen Reich bei Kriegsbeginn eine systematische Arbeitsmarktpolitik. Angesichts der anhaltend hohen Frauenerwerbslosigkeit – die Gewerkschaften meldeten noch zwei Jahre nach Kriegsbeginn Quoten von über 8 % unter ihren weiblichen Mitgliedern – bestand das arbeitsmarktpolitische Problem lange Zeit nicht darin, zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen, sondern Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Situation änderte sich erst Ende 1916 mit der Verabschiedung des Hindenburg-Programms grundlegend. Binnen kürzester Frist sollte nicht nur die deutsche Rüstungsproduktion massiv gesteigert werden, sondern man wollte auch große Gruppen neuer Arbeitskräfte mobilisieren, um mehr Männer als Soldaten an die Front schicken zu können. Allerdings war die Frage der Einbeziehung von Frauen in die vorgesehene Arbeitspflicht heftig umstritten. Plädierte die OHL mit dem Argument „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" für eine Einbeziehung der Frauen, so lehnte die Reichsleitung dieses nachdrücklich ab und konnte sich schließlich mit ihren Hinweisen auf die Arbeitsmarktlage und dem Argument durchsetzen, dass gegen eine Einbeziehung der Frauen „auch in wirtschaftlicher, sittlicher und sozialer Hinsicht die allerschwersten Bedenken" geltend zu machen seien. Doch gleichwohl prägte das Hilfsdienstgesetz bis Kriegsende die gesamte Arbeitsmarktpolitik des Reiches und war damit auch für die politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Frauenmobilisierung entscheidend. Um diese zu organisieren, wurden zwei Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung in das neu gegründete Kriegsamt berufen. MarieElisabeth Lüders und Agnes Harnack, beide an führender Stelle im BDF aktiv, sollten die systematische Erfassung der Frauenarbeit organisieren und für eine stärkere Verwendung weiblicher Arbeitskräfte sorgen. Um weibliche Arbeitskräfte in höherem Maße als zuvor mobilisieren zu können, sei es notwendig, so betonten sie, die Familien- und Hausarbeitsverpflichtungen von Frauen zu berücksichtigen. Nur wenn Frauen auf diesem Gebiet Unterstützung erhalten würden, seien sie für eine außerhäuslichen Erwerbsarbeit zu gewinnen. Entsprechend müssten vor allem Krippen, Kindergärten und Stillstuben geschaffen werden; darüber hinaus gelte es, die Arbeitsberatung und -vermittlung für Frauen zu ver-
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bessern und vor allem auszubauen. Nicht nur um die Arbeitsleistungen der mobilisierten Frauen zu erhöhen und zu 'verstetigen', sondern auch, um nicht „die Grundlagen der Volkskraft völlig zu zerstören", müssten darüber hinaus die betrieblichen Arbeitsbedingungen von Frauen verbessert werden. Um diese Aufgaben überhaupt in Angriff nehmen zu können, musste zunächst eine reichsweite Organisation aufgebaut werden. Dafür wurden im Kriegsamt unter Leitung von Lüders zunächst das Frauenreferat, zuständig für die Arbeitskräftemobilisierung, und die Frauenarbeitszentrale (FAZ), zuständig für Fürsorgemaßnahmen, eingerichtet, im Sommer 1917 beide Stellen schließlich zusammengelegt. Als lokaler und regionaler Unterbau wurden auch bei allen Kriegsamtsstellen Frauenreferate und Frauenarbeitshaupt- und -nebenstellen geschaffen, denen wiederum eine Vielzahl von Fürsorgevermittlungsstellen zur Seite standen. Anfang 1918 arbeiteten in diesem Apparat rund 1.000 Frauen, unter ihnen auch zahlreiche namhafte Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung. Diese komplizierte Organisationsstruktur lässt bereits die großen Schwierigkeiten erahnen, die einer schnellen und effektiven Umsetzung der geplanten Arbeitskräftemobilisierung im Wege standen. Auch wurde die dafür notwendige Zusammenarbeit von den anderen Dienststellen des Kriegsamts und seiner unteren Instanzen häufig verweigert. Nicht zuletzt waren es schließlich Unternehmer, aber auch männliche Arbeitskräfte und ihre Vertretungen, bei denen die Kriegsamtsmitarbeiterinnen mit ihren Vorstellungen von einer verstärkten Einbeziehung weiblicher Arbeitskräfte in den Produktionsprozess auf Ablehnung stießen. Letztere sahen in den weiblichen Arbeitskräften eine unliebsame Konkurrenz und fürchteten einen Lohndruck von schlechter bezahlten Frauen. Nur selten aber kam es in Deutschland darüber zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern. Denn mehr noch als in Großbritannien sahen viele Arbeitgeber durchaus keine Notwendigkeit, vermehrt Frauen zu beschäftigen, so lange noch Aussicht auf männliche Arbeitskräfte bestand. Sie scheuten kostenintensive Umstrukturierungsmaßnahmen und notwendige Anlern- und Ausbildungskosten angesichts einer bekannt hohen Fluktuation weiblicher Arbeitskräfte, deren Freizügigkeit durch ihre Nichteinbeziehung in das HDG fortbestand. Stattdessen zogen sie Kriegsgefangene und Ausländer als Arbeitskräfte vor, weil diese billiger und zudem oftmals besser qualifiziert waren, sich auch schlechter gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzen konnten. Im Herbst 1917 arbeiteten von den knapp 2 Mio. Kriegs- und Zivilgefangenen in Deutschland rund 800.000 in der Landwirtschaft, in der Industrie waren knapp 400.000 Kriegsgefangene beschäftigt. Dazu kamen bis 1917 noch einmal rund 660.000 freie und
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deportierte ausländische Arbeitskräfte, je zur Hälfte in der Industrie und in der Landwirtschaft. Den Bemühungen der Frauenreferate, neue Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren, blieben so insgesamt aus organisatorischen wie strukturellen Gründen enge Grenzen gesetzt. Doch auch aus anderen Gründen gelang ihnen nicht, das Arbeitsmarktverhalten von Frauen wesentlich zu verändern.
Arbeitsbedingungen und Arbeitsmarktverhalten von Frauen Welche Gründe waren für die betroffenen Frauen ausschlaggebend, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder dieses vielfach nicht zu tun? Und wie sahen die Bedingungen aus, unter denen sie erwerbstätig waren? Die weit überwiegende Mehrzahl der Frauen wurde aus finanziellen Gründen erwerbstätig. Arbeiterinnen waren auf den Verdienst angewiesen, um ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Angehörigen sicherzustellen. Angesichts fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten, langer Arbeitszeiten und der sich zunehmend zeitaufwendiger gestaltenden Hausarbeit vermieden Frauen mit kleinen Kindern allerdings eine außerhäusliche Erwerbsarbeit, so lange dies irgend möglich war. Sie zogen Heimarbeit, die in manchen Regionen aufgrund der Produktion für den Heeresbedarf vielfältige Erwerbsmöglichkeiten bot, aber auch stundenweise Putz- oder Waschstellen der Fabrik oder dem Geschäft vor. In der zweiten Kriegshälfte versuchten die Vermittlungsstellen für Heeresnäharbeiten daher zunehmend, alle Frauen, die sie für eine Arbeit in der Industrie oder der Landwirtschaft geeignet hielten, von der Heimarbeit auszuschließen. In Deutschland trugen darüber hinaus auch die Konditionen, unter denen Angehörige von Soldaten staatliche Unterstützung erhielten, dazu bei, Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Obwohl die Leistungen in der Regel hinter dem früheren Verdienst des Mannes zurückblieben, rechneten zahlreiche Kommunen den Arbeitsverdienst der Frauen teilweise, zuweilen auch ganz, auf die Unterstützung an. Aufgrund der niedrigen Frauenlöhne konnten daher erwerbstätige Frauen ihr Budget oft nur unwesentlich erhöhen, so dass sich die enormen Anstrengungen der Erwerbsarbeit nicht lohnten. Denn trotz der häufigen zeitgenössischen Hinweise auf hohe Verdienstmöglichkeiten in der Rüstungsindustrie darf nicht übersehen werden, dass diese Verdienste besonders im deutschen Fall mehrheitlich nicht mit den steigenden Lebenshaltungskosten Schritt hielten. Zwar sanken in den Kriegsindustrien die Realverdienste von Arbeiterinnen bis in den Herbst 1918 (87,9 % des Vor-
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kriegsverdienstes) weniger stark als in den Friedensindustrien (55,5 % im September 1918 gegenüber dem Stand vom März 1914); die Reallohnverluste von Frauen waren auch weniger ausgeprägt als bei den Männern; doch bedeutete die leichte Einebnung der Lohndifferenzen zwischen Frauen und Männern nur eine Angleichung nach unten, auf ein Lohnniveau, das sich wegen der ständigen Preissteigerungen zunehmend dem Existenzminimum annäherte. Der inflationsbedingte Verfall der Einkommen war in Großbritannien weniger ausgeprägt, aber auch hier stiegen die Lebenshaltungskosten während des Krieges enorm an. Bis zum Kriegsende erhöhten sie sich für die Familie eines gelernten Arbeiters um rund 67 %, für die Familien ungelernter Arbeiter sogar um 81 %. Auch wenn insgesamt die Reallohnverluste von britischen Arbeiterinnen und Arbeitern nicht so hoch waren wie die ihrer deutschen Kolleginnen und Kollegen (1918 betrug der durchschnittliche Reallohnverlust in Deutschland 23 %, in Großbritannien 15 %), war beiden Ländern doch gemeinsam, dass sich die Differenzen zwischen Frauen- und Männerlöhnen nur unwesentlich veränderten. Auch während des Krieges betrugen britische Frauenlöhne durchschnittlich nur die Hälfte der Männerlöhne. Und die höheren Verdienste, die Frauen während des Krieges erzielen konnten, waren meist teuer erkauft. Denn vielfach waren sie das Ergebnis deutlich verlängerter Arbeitszeiten unter oft gesundheitsschädlichen Bedingungen in der Rüstungsproduktion. Sowohl in Großbritannien wie in Deutschland war die Schutzgesetzgebung, der vor allem Fabrikarbeiterinnen unterlagen, seit Kriegsbeginn durch eine Vielzahl von Ausnahmegenehmigungen quasi außer Kraft gesetzt worden. Nach einer Erhebung des Deutschen Metallarbeiterverbandes von 1916 mussten 65,5 % der Arbeiterinnen täglich elf bis zwölf Stunden arbeiten, 5,4 % hatten gar eine tägliche Arbeitszeit von über zwölf Stunden. Wöchentliche Arbeitszeiten von über 70 Stunden waren in der Rüstungsindustrie keine Seltenheit. Gefährdet in ihrer Gesundheit waren in der Rüstungsindustrie erwerbstätige Frauen jedoch nicht nur durch die überlangen Arbeitszeiten, häufig waren sie zudem ohne ausreichende Schutzvorrichtungen explosiven oder giftigen Substanzen ausgesetzt. Am schlimmsten waren die Zustände dort, wo TNT verarbeitet wurde.21 Als „Kanarienvögel" und „Füllweiber, die innen aussehen wie außen", wurden Arbeiterinnen in der Sprengstoffproduktion verspottet, wenn sich durch das ständige Hantieren mit Prikrinsäure schon nach wenigen Wochen die Haut gelb und die Haare grün färbten. Die Berichte der deutschen Gewerbeaufsicht, bezeichnenderweise erst nach dem Krieg veröffentlicht, sind voll von Beispielen für die enormen gesundheitlichen Belastungen, denen
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erwerbstätige Frauen während des Krieges ausgesetzt waren. Dass unter diesen Bedingungen die Krankheitsziffern der Beschäftigten deutlich anstiegen, kann nicht weiter verwundern. In Großbritannien scheint sich, trotz der hohen gesundheitlichen Belastung in manchen Industriezweigen (nicht nur der Rüstungsindustrie), jedoch insgesamt gesehen der Gesundheitszustand von Frauen nicht verschlechtert zu haben. Dafür sind neben der besseren Versorgungslage im wesentlichen zwei Gründe zu nennen: Zum einen verbesserten Löhne und staatliche Unterstützungsleistungen zusammengenommen die Gesamteinkommen von Frauen deutlich und erlaubte ihnen eine bessere Ernährung; Arbeiterfrauen, die zuvor bekanntermaßen ihre eigene Ernährung zugunsten des Ehemannes und der Kinder eingeschränkt hatten, konnten sich – auch durch die Abwesenheit der Männer bedingt – während des Krieges reichlicher und besser ernähren. Zum anderen trug die Einführung von Kantinen und anderer Maßnahmen dazu bei, die hohen gesundheitlichen Belastungen von Frauen in der Rüstungsindustrie zu verringern. In die gleiche Richtung dürfte sich zudem die Verringerung der durchschnittlichen Arbeitszeiten in der zweiten Kriegshälfte ausgewirkt haben, nach 1916 wurden auch in Großbritannien zwölfstündige Schichten in der Rüstungsindustrie zunehmend seltener. Im Unterschied zur in Großbritannien seit 1915 praktizierten Betriebsbindung war es Arbeiterinnen in Deutschland weiterhin möglich, durch häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Spätestens seit 1916 waren daher enorm hohe Fluktuationsraten unter den weiblichen Beschäftigten zu verzeichnen. In manchen Betrieben musste wöchentlich etwa ein Drittel der weiblichen Belegschaft neu eingestellt werden. Ein höherer Lohn oder eine weniger lange Arbeitszeit, ein kürzerer Weg zur Arbeitsstelle oder der Wechsel der bisherigen Arbeitskollegin konnten den Ausschlag geben für die Entscheidung, den Betrieb zu wechseln. So war es nahe liegend, dass die für die Mobilisierung weiblicher Arbeitskräfte zuständigen Vertreterinnen des Kriegsamts die Steigerung der 'Arbeitsstetigkeit' zu einem vorrangigen Ziel ihrer Arbeit erklärten. Die fürsorgerische Betreuung von Rüstungsarbeiterinnen und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen galten als geeignete Mittel, nicht nur diesem Ziel näher zu kommen, sondern auch die Produktivität zu steigern. Vergleichbare Überlegungen hatten in Großbritannien bereits Ende 1915 das Rüstungsministerium dazu veranlasst, eine eigene Wohlfahrtsabteilung einzurichten und sogenannte Welfare Supervisors für die staatlichen Unternehmen einzustellen. Auch private Betriebe sollten diesem Beispiel folgen. 1917 waren bereits 600 weibliche Wohlfahrtsbeamte tätig, gegen Kriegsende war ihre Zahl auf rd. 1000 gestiegen.22 Das
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Aufgabengebiet dieser Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht war weit gespannt, es reichte von der Mitwirkung bei Einstellungen weiblicher Arbeitskräfte, über Maßnahmen zur Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Organisation von Freizeitaktivitäten in den großen Rüstungsbetrieben bis hin zur fürsorgerischen Betreuung der Arbeiterinnen. Nicht zuletzt sollten sie aber auch die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin überwachen und das Verhalten der Arbeiterinnen kontrollieren. Es ist daher wenig verwunderlich, dass den Supervisors bei allen Vorteilen, die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit sich bringen konnte, zugleich von Gewerkschaften wie Arbeiterinnen erhebliches Misstrauen entgegengebracht wurde.23 Ähnlich wie in Großbritannien stießen auch die deutschen Frauenreferate bei den Privatunternehmern zunächst auf weitgehende Ablehnung, als sie 1917 begannen, die Einstellung von Fabrikpflegerinnen zu propagieren, so dass diese zunächst vor allem in staatlichen Betrieben tätig wurden. In Deutschland waren es zumeist ehemalige Krankenschwestern, die von der FAZ in kurzen Kursen binnen weniger Wochen für ihre neue Tätigkeit ausgebildet wurden. Insgesamt waren Ende des Jahres 1917 etwa 750 Fabrikpflegerinnen in über 1.200 Betrieben mit rund 780. 000 Arbeiterinnen tätig. Angesichts der Tatsache, dass so eine Fabrikpflegerin im Durchschnitt über 1. 000 Arbeiterinnen zu betreuen hatte, sind gewisse Zweifel an ihren Wirkungsmöglichkeiten angebracht. Ansonsten war auch ihr Aufgabenfeld weit gespannt, es reichte von der Betreuung der Arbeiterinnen in persönlichen Angelegenheiten über die Beratung in Gesundheitsfragen, die Organisierung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis zur Lebensmittelbeschaffung sowie der Unterbringung und „Pflege des geselligen Zusammenschlusses unter den auswärtigen Arbeiterinnen". Doch auch über das Instrument der Fabrikpflege gelang es nicht, das Arbeitsmarktverhalten von Frauen im Sinne ihrer angestrebten Mobilisierung für die Kriegswirtschaft nachhaltig zu beeinflussen. Grundsätzlich trug die Arbeitsmarktpolitik der Kriegszeit weder in Großbritannien noch in Deutschland dazu bei, die Bedingungen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Wie insbesondere am Beispiel der britischen Gewerkschaften deutlich wird, wurden die bestehenden Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern allenfalls für die Dauer des Krieges gewisse Ausnahmen zugelassen. Weder verbesserten sich die Qualifikationsmöglichkeiten von Frauen, noch wurden ihre Löhne denen der Männer angeglichen. Und spätestens mit der Rückkehr der Männer in das Zivilleben bestanden weder in Großbritannien noch im Deutschen Reich Zweifel daran,
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dass diesen ein vorrangiges Recht auf die vorhandenen Erwerbsarbeitsplätze einzuräumen sei.24
4. Haushalt und Familie Die häusliche und familiäre Arbeit von Frauen während des Ersten Weltkrieges hat bislang weit weniger das Interesse der historischen Forschung gefunden als die weibliche Erwerbsarbeit. Auch in diesem Fall entspricht das historiographische nicht einem zeitgenössischen Desinteresse. Denn wie nie zuvor wurde im Ersten Weltkrieg die Arbeit von Hausfrauen und Müttern, ihr Verhalten sowie ihre Reaktionen auf die kriegsbedingten Veränderungen ihrer Lebenssituation kritisch rezipiert und kommentiert. Diese Ungleichgewichtigkeit hat Elisabeth Domansky als Ergebnis der Relevanzhierarchien eines vorwiegend männlich geprägten Wissenschaftsdiskurses interpretiert, die dem Bereich gesellschaftlicher Produktion weitaus mehr Interesse entgegenbrachte als dem Bereich gesellschaftlicher Reproduktion, obwohl sich gerade hier die Folgen des Krieges zuerst und nachhaltig zeigten.25 Aber auch der historischen Frauenforschung ist es nur allmählich gelungen, sich von diesem bias zu lösen. Stärker in das Blickfeld der Forschung gerieten dagegen die neue staatliche Sozialpolitik und neue Formen privater Fürsorge, die während des Ersten Weltkrieges eingerichtet oder ausgebaut wurden und in zunehmendem Maße auf die Zuständigkeitsbereiche von Frauen im Haushalt und in der Familie einzuwirken suchten. Wohnungs- und Bevölkerungspolitik, Fürsorge für Säuglinge, Kinder und Schwangere u. a. m. wurden vor allem im Kontext der Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Politik betrachtet und der Erste Weltkrieg als ein wichtiger Entwicklungsschritt in der Geschichte des entstehenden Wohlfahrtstaates interpretiert. Schon bald haben britische Historikerinnen und Historiker dieser 'history from above' allerdings eine andere Perspektive entgegengesetzt und danach gefragt, welche Auswirkungen die staatliche Politik für die von ihr betroffenen Frauen hatte und wie diese Politik von ihnen wahrgenommen wurde.
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Hauswirtschaft, Kriegswirtschaft und staatliche Politik Die Versorgungssituation mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern unterschied sich in Großbritannien und im Deutschen Reich deutlich voneinander. Während Großbritannien die Versorgung der Bevölkerung zwar nicht auf dem Vorkriegsstand halten, im wesentlichen aber doch sicherstellen konnte, verschärfte sich im Deutschen Reich die schon bald nach Kriegsbeginn einsetzende Lebensmittelknappheit im weiteren Kriegsverlauf immer mehr. In der zweiten Kriegshälfte litten zunehmend breitere Bevölkerungskreise an Hunger und dem Mangel an allen Gütern des alltäglichen Lebensbedarfs.26 Diese Entwicklungen führten nicht zuletzt zu einschneidenden Veränderungen der Hausarbeitsanforderungen und -belastungen. Die ersten Konsequenzen der illusorischen Kriegsplanung des Deutschen Reiches zeigten sich zunächst in den Haushaltskassen der privaten Verbraucher. Panikkäufe vieler Hausfrauen, Vorratsbeschaffungen der Kommunen, schließlich der Bedarf der Heeresverwaltungen und die Einschränkung ziviler Eisenbahntransporte zugunsten von militärischen ließen bereits in den ersten Kriegswochen die Preise aller wichtigen Konsumgüter rasch in die Höhe schnellen. Staatliche Stellen konnten zunächst lediglich Höchstpreise für bestimmte Lebensmittel festsetzen, nicht jedoch für eine ausreichende Belieferung der örtlichen Märkte sorgen. Das Instrument der Höchstpreisfestsetzung bildete den Ausgangspunkt für das ab 1915 sukzessive ausgebaute, allerdings höchst chaotische und zuweilen geradezu kontraproduktiv wirkende System staatlicher Konsumgüterbewirtschaftung, das sich in den weiteren Kriegsjahren zu einem innenpolitischen Problem allerersten Ranges entwickelte. Staatliche Stellen und Kommunalbehörden, denen ein Großteil der Bewirtschaftungsmaßnahmen oblag, gelang es nicht einmal, den sich zunehmend verschärfenden Mangel auch nur einigermaßen adäquat zu verwalten. Die staatliche Lebensmittelbewirtschaftung konnte nicht verhindern, dass der Konsumgütermarkt, der vor allem für die städtische Bevölkerung von höchster Bedeutung war, spätestens 1916 vollends zusammenbrach.27 Alle wichtigen Lebensmittel und Konsumgüter wurden rationiert und konnten, so überhaupt vorhanden, offiziell nur noch „auf Marken" bezogen werden. Beginnend mit der Rationierung von Brot und Mehl im Januar 1915 waren nach und nach auch Kartoffeln, Fleisch, Wurst, Speck und Fett, Milch und Milchprodukte, Zucker, Eier und Nährmittel rationiert worden, hinzu kamen Kleidung und Schuhe, Tee, Kaffee, Marmelade, Obst und Frischgemüse, Heiz- und Leuchtstoffe u.a.m.
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Immer öfter gelang es den kommunalen Lieferungsverbänden nicht, die festgesetzten Rationen auch tatsächlich zu beschaffen und zum Verkauf zu bringen. Zudem mussten die Verbraucher bei vielen Lebensmitteln erhebliche Qualitätsverschlechterungen hinnehmen, zahlreiche Produkte waren gar nur noch als „Kriegsersatz" zu bekommen. Die zugeteilten Lebensmittelmengen lagen weit unter dem durchschnittlichen Vorkriegsverbrauch.28 Kein Mangel herrschte dagegen auf dem Schwarzmarkt, doch diesen Ausweg konnten sich die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung meist nicht leisten. Umso bemerkenswerter sind Schätzungen, dass bei manchen Lebensmitteln 1918 zwischen 30 und 50 % der Gesamtmenge über den Schwarzmarkt umgesetzt wurden, wo die Preise um das Drei- bis Zehnfache über den offiziellen Höchstpreisen lagen.29 Seit dem Sommer 1915 wurden nicht nur Lebensmittel, sondern auch viele andere für die Kriegsproduktion benötigte Materialien in die staatliche Bewirtschaftung einbezogen und vorhandene Vorräte beschlagnahmt. Die Privathaushalte mussten Geschirr und Wirtschaftsgegenstände aus Kupfer, Messing, Nickel, Chemikalien, Gummi und Textilien abgeben und fortan mit minderwertigem Ersatz wirtschaften. Schließlich mangelte es an praktisch allen für den Haushalt wichtigen Dingen: Kohle, Gas, Strom, Petroleum, Reinigungsmittel und Seife, Textilien, Schuhe, Möbel etc. Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde es, auch nur die einfachsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Für das Durchkommen der Familien waren stärker noch als in der Vorkriegszeit die Arbeitsleistungen und die Kenntnisse von Hausfrauen von enormer Bedeutung. Denn sie waren dafür zuständig, Nahrungsmittel und andere notwendige Dinge zu beschaffen und das knappe Familienbudget durch eigene Mehrarbeit auszubalancieren. Schon die „üblichen" Arbeiten erforderten einen erheblichen höheren Zeit- und Kraftaufwand als vor dem Krieg. Für den Einkauf von Nahrungsmitteln musste stundenlanges Schlangestehen in Kauf genommen werden, die Zubereitung des Essens wurde wegen der schlechten Qualität und der in immer geringeren Mengen zur Verfügung stehenden Brennstoffe zunehmend schwieriger. Kleider und Schuhe mussten mit unzureichenden Materialien immer wieder repariert werden, da neue nicht zu beschaffen oder nicht zu bezahlen waren. Fehlende Reinigungsmittel erschwerten sowohl das Waschen von Wäsche wie auch das Putzen der Wohnungen. Wer nur irgend konnte, versuchte auf subsistenzwirtschaftlichem Wege die kargen Lebensmittelrationen aufzubessern. Selbst in Großstädten stieg die Kleinviehhaltung, v. a. Ziegen und Kaninchen, deutlich an, wurde in Gärten und auf Balkonen Gemüse angebaut. Die für zunehmend breitere Kreise der Bevölkerung von Kommunen und Wohlfahrts-
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organisationen eingerichteten „Kriegsküchen" waren trotz allem nicht sonderlich beliebt, sie wurden nur in absoluten Notsituationen genutzt. Denn der Besuch der Küchen wurde häufig als offenes Eingeständnis gewertet, dass man nicht mehr in der Lage sei, die Versorgung der Familie aufrechtzuerhalten. Unzufriedenheit und Erbitterung über die unzureichende Lebensmittelversorgung und über die Ungerechtigkeiten der Lebensmittelverteilung führten nicht nur zu häufig lautstarker Kritik an den staatlichen Bewirtschaftungsorganisationen, sondern veranlasste weite Kreise der Bevölkerung, zu individuellen und häufig auch nicht legalen Formen der Nahrungsmittelbeschaffung zu greifen. „Hamstern", die Beschaffung von Lebensmitteln bei Bauern unter Umgehung der staatlichen Vorschriften, wurde für die städtische Bevölkerung spätestens seit 1916 zur notwendigen Alltagspraxis. Staatliche Kontrolleure an Bahnhöfen oder „Kellerrazzien" nach illegal gehorteten Lebensmitteln konnten daran nichts ändern, sondern verstärkten nur die Widerstandsbereitschaft der Frauen und ihrer Familien. Auch wenn die Kriminalstatistiken nur die oberste Spitze dieser „Beschaffungskriminalität" abbilden, belegen sie doch einen erheblichen Anstieg der weiblichen Kriminalität, insbesondere bei Vermögensdelikten.30 Hatten schon seit 1915 erboste städtische Hausfrauen immer wieder lautstark und zuweilen auch durchaus handgreiflich gegen die ihrer Meinung nach auf Märkten und in Geschäften verlangten „Wucherpreise" protestiert, richteten sich ihre Proteste in der zweiten Kriegshälfte auch gegen die für die Lebensmittelversorgung zuständigen lokalen Verwaltungen. Immer öfter sahen sich staatliche Stellen mit Demonstrationen, Streiks und schließlich auch Forderungen nach einer Beendigung des Krieges konfrontiert. Die sich in den Jahren 1917 und 1918 häufenden Lebensmittelunruhen, vielerorts getragen von Frauen und Jugendlichen, brachten nicht nur die Unzufriedenheit und Verbitterung über die katastrophale Versorgungssituation zum Ausdruck, sondern ließen auch den Legitimitätsverlust der staatlichen Verwaltungen und Regierungen des kaiserlichen Deutschlands immer deutlicher erkennbar werden und wirkten daran mit, der Revolution den Weg zu bereiten. Für die vergleichsweise hohe Stabilität der britischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg war die bessere Versorgungssituation von nicht geringer Bedeutung. Zwar herrschte auch in Großbritannien in den letzten beiden Kriegsjahren, insbesondere aber 1917, Lebensmittelknappheit, aber die breite Masse der Bevölkerung musste nicht hungern. Auch als 1917 Preiskontrollen und Anfang 1918 schließlich Rationierungen für Zucker, Fleisch, Marmelade, Brot, Butter, Margarine, Schmalz sowie für Kohle eingeführt wurden, gelang es den britischen Behörden, ein ver-
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gleichsweise gut funktionierendes Bewirtschaftungssystem zu gewährleisten, so dass Protestaktionen gegen steigende Preise und zu geringe Löhne sich nicht in solchem Maße zuspitzten wie im Deutschen Reich. Problematisch insbesondere für städtische Arbeiterfrauen war sowohl in Großbritannien wie in Deutschland die Wohnsituation, die sich in beiden Ländern während des Krieges kontinuierlich verschlechterte. Zum einen kam der Wohnungsbau fast völlig zum Erliegen, zum anderen fehlte für die in so großer Zahl in die Rüstungszentren strömenden Arbeitskräfte ausreichender Wohnraum. Steigende Mieten waren die Folge. Im Deutschen Reich verhinderten wohl die von vielen Kommunen zusätzlich zu den Familienunterstützungen gezahlten Mietbeihilfen, dass sich aus diesem Anlass größere Unzufriedenheit formierte. In Großbritannien dagegen kam es seit Mai 1915 zu einer Serie vor allem von Frauen geführter Mietstreiks und Demonstrationen, die sich ausgehend vom Glasgower Werftarbeiterviertel Clydeside über das ganze Land ausbreiteten. Erst als sich Ende 1915 die Regierung schließlich angesichts der massiven Proteste zum Handeln gezwungen sah, wurden die Vorkriegsmieten gesetzlich festgeschrieben und so die Lage beruhigt. Trotz solcher Erfolge: Die primäre Zuständigkeit von Frauen für Haushalt und Familie wurde weder von ihnen selbst noch von der staatlichen Politik in Frage gestellt. Die Fähigkeiten von Hausfrauen, mit dem Vorhandenen auszukommen, zu improvisieren und zu organisieren, waren entscheidend für die Aufrechterhaltung der Heimatfront, und daraus resultierte auch die staatliche Aufmerksamkeit. Viele Frauen begriffen diese Fähigkeiten einer 'guten Hausfrau' aber vor allem als ein eminent wichtiges Moment ihrer weiblichen Identität. Davon zeugen nicht zuletzt die Feldpostbriefe, in denen sie ihren Ehemännern im Feld ihren Alltag und seine Schwierigkeiten detailliert schilderten. Insgesamt konnten die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit ebenso wie die Erfahrungen von Frauen, die Aufgabe einer 'Familienernährerin' zu meistern, eine Quelle wachsenden Selbstwertgefühls darstellen. Aber grundsätzlich wiesen diese Erfahrungen nicht in Richtung auf eine Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder gar der Geschlechterhierarchien.
Mutterschaft und Sozialpolitik Wie sehr staatliche Politik darauf achtete, die Geschlechterhierarchien nicht in Frage zu stellen, sondern auch und gerade in der Zeit der Abwesenheit der „Familienväter" zu stabilisieren, soll abschließend am Bei-
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spiel der im Ersten Weltkrieg ausgebauten Fürsorgeleistungen für Schwangere und Kinder gezeigt werden. Jenseits aller nationalen Unterschiede in den jeweiligen Sozial- und Fürsorgesystemen zeigt sich hier eine grundsätzliche Tendenz wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung: In Frankreich und in den USA ebenso wie in Großbritannien oder in Deutschland kam es während des Ersten Weltkrieges zur Einführung bzw. Ausweitung staatlicher oder staatlich finanzierter Programme und Leistungen für Schwangere, Mütter und kleine Kinder, die dazu beitrugen, die finanzielle Situation und gesundheitliche Versorgung dieser Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Zugleich jedoch trat „Vater Staat" den betroffenen Frauen nicht nur unterstützend, sondern immer auch kontrollierend gegenüber. Die zu beobachtende Kombination von 'Wohltat' und Kontrolle erweiterte auf der einen Seite die ökonomischen und sozialen Handlungsspielräume von Frauen, verengte auf der anderen Seite aber ihre Möglichkeiten der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, über Schwangerschaft, Geburt und das Aufziehen von Kindern.31 Diese Ambiguität sozialpolitischer Entwicklungen resultierte in hohem Maße aus ihrer Verknüpfung mit bevölkerungspolitischen Interessen, die sich unter dem Eindruck der in allen industrialisierten europäischen Ländern seit der Jahrhundertwende rückläufigen Geburtenrate formiert hatten und im Ersten Weltkrieg neue Aktualität erhielten, sich gerade auch im Deutschen Reich „zur Hysterie" steigerten.32 Die hohen militärischen Verluste, der Anstieg der Sterblichkeitsziffern unter der Zivilbevölkerung und die weiterhin sinkende Geburtenrate hatten 1916 erstmals im Deutschen Reich zu einem absoluten Rückgang der Bevölkerungszahlen geführt. Die sinkende Geburtenrate wurde nun nicht nur als Gefahr für die imperialistischen Kriegsziele, sondern auch für die zukünftige volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit interpretiert. Erstmals wurde so auf Reichsebene eine pronatalistische Politik konzipiert, die die Geburtenrate steigern und den demographischen Trend umkehren sollte. Zwar gelang die gesetzliche Fixierung einer staatlichen Bevölkerungspolitik bis Kriegsende nicht mehr; die breite öffentliche Diskussion über den „Wehrbeitrag der deutschen Frau"33 trug aber gleichwohl dazu bei, entsprechende Verhaltensanforderungen nachhaltig zu propagieren. Gesetzesentwürfe zielten mit repressiven Maßnahmen zum einen auf die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die sich während des Krieges sowohl im Militär wie auch unter der Zivilbevölkerung stark ausgebreitet hatten, sahen zum anderen ein Verbot der Einfuhr, des Handels und des Verkaufs von Mitteln der Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsunterbrechung sowie von Informationen darüber vor; schließlich sollte die Bestrafung von „Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung" verschärft werden.
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Das neue bevölkerungspolitische Engagement mündete jedoch nicht in einen entsprechenden Ausbau staatlicher Sozialleistungen für die von allen politischen Lagern in die Pflicht genommenen Frauen. Die bereits im Winter 1914 eingeführte Kriegswochenhilfe blieb die einzige staatliche Unterstützung für Schwangere und Wöchnerinnen. Seither erhielten nicht mehr nur diejenigen Frauen, die vor der Geburt ein halbes Jahr selbst versichert gewesen waren (also erwerbstätige Frauen), sondern auch alle Wöchnerinnen, deren Ehemänner eingezogen und bis zu ihrem Militärdienst krankenversichert gewesen waren, später noch weitere Gruppen, eine Unterstützung. Gezahlt wurden ein Entbindungs-, Wochen- und Stillgeld, letzteres allerdings nur, wenn die Frauen einmal wöchentlich eine entsprechende Bescheinigung der zuständigen örtlichen Fürsorgestelle vorlegten, sie also regelmäßig mit ihren Kindern in die Fürsorgestellen kamen. Die Leistungen erleichterten sicherlich die finanziellen Probleme vieler Frauen, erreichten jedoch in keinem Fall die Höhe eines durchschnittlichen Lohnes.34 Die vermeintlichen Erfolge der Kriegswochenhilfe stießen daher auch schon bald an ihre kriegsbedingten Grenzen. Unterernährung und Arbeitsüberlastung der Mütter unterminierten deren Gesundheit und Stillfähigkeit, die zunächst unter Vorkriegsniveau gesunkene Säuglingssterblichkeit stieg seit 1917 wieder an. Der weitere Ausbau der Schwangeren- und Säuglingsfürsorge blieb den Kommunen und privaten Wohltätigkeitsorganisationen überlassen. Diese hatten schon vor dem Krieg Lebensmittel und Wäsche verteilt, Säuglingspflegekurse erteilt, Frauen bei der Hausarbeit unterstützt oder ihnen vor und nach der Geburt eine Unterkunft geboten, Krippen und Kinderhorte oder Kinderspeisungen betrieben. Zwar wurden diese fürsorgerischen Aktivitäten nun vielerorts finanziell bezuschusst, doch gelang es nicht, das häufig vorhandene unkoordinierte Nebeneinander zu bündeln und zu koordinieren. So blieb es häufig dem Zufall überlassen, ob Schwangere, Mütter und ihre Kinder in den Genuss solcher Leistungen kamen.35 In keinem Fall waren zudem Kinderbetreuungseinrichtungen in ausreichender Zahl und in angemessener Ausstattung vorhanden, in denen erwerbstätige Frauen ihre Kinder hätten unterbringen können. Außerhäuslich erwerbstätige Frauen mit kleinen Kindern waren weiterhin hauptsächlich auf die Hilfe von Verwandten, Nachbarinnen und Freundinnen angewiesen, nicht selten aber waren sie gezwungen, während ihrer Abwesenheit die Kinder sich selbst zu überlassen. Unter ganz ähnlichen Prämissen wie im Deutschen Reich wurde auch in Großbritannien während des Krieges die staatliche Fürsorge für Mütter und Säuglinge intensiviert. Auch hier kam es vor dem Hintergrund bevölkerungspolitischer Befürchtungen zu massiven Propaganda-
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anstrengungen, die seit 1917 in einer jährlich veranstalteten, von über 90 Organisationen getragenen National Baby Week gipfelten.36 Unter dem Motto „Save the Babies" sollte die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Problem der Säuglingssterblichkeit und die Notwendigkeit gelenkt werden, insbesondere den Schutz nichtehelicher Säuglinge zu stärken. Eine der Reichswochenhilfe vergleichbare Unterstützung von Frauen vor und nach der Geburt wurde in Großbritannien jedoch nicht eingerichtet, der Empfängerinnenkreis von Wochenhilfsleistungen blieb deutlich geringer. Dagegen legte der Staat ein ähnlich starkes Gewicht auf die Aufrechterhaltung und den Ausbau der in den Vorkriegsjahren ebenfalls vor allem von privaten Wohltätigkeitsorganisationen und Frauengruppen geleisteten Säuglings- und Kinderfürsorge. Er übernahm nun die Hälfte der Kosten, um in den Kommunen die Einstellung von Fürsorgerinnen, den Auf- und Ausbau von Fürsorgezentren zu erleichtern sowie für mehr und besser ausgebildete Hebammen zu sorgen. Bis Kriegsende stieg die Zahl professioneller Fürsorgerinnen um mehr als das Doppelte, wenn auch viele von ihnen weiterhin nicht vom Staat, sondern von Wohlfahrtsorganisationen bezahlt wurden. Seit 1915 konnten die Kommunen 'Milchstellen' einrichten, in denen zu Selbstkostenpreisen Milch und Milchprodukte für Kinder verkauft wurde. Ebenfalls 1915 übernahm das Erziehungsministerium die Finanzierung von Säuglingspflegekurse, im folgenden Jahr wurde die seit 1907 bestehende Meldepflicht für Geburten ausgeweitet, damit die Fürsorgestellen entsprechende Hausbesuche vereinbaren und die Mütter zum Besuch der Säuglingsfürsorgestellen ermuntern konnten. Im selben Jahr wurden auch die Ausbildungsbestimmungen für Hebammen erheblich verschärft und auf einen Standard gehoben, wie er allerdings etwa in Preußen schon seit dem 19. Jahrhundert bestand. Schließlich wurde 1918 den kommunalen Behörden die Möglichkeit eingeräumt, mit Unterstützung von privaten Spenden Schwangeren- und Säuglingsheime zu errichten. Wie für das Deutsche Reich ist es auch für Großbritannien nicht einfach, die Wirkungen des neuen staatlichen Pronatalismus für Frauen zu gewichten und zu beurteilen. Insgesamt gesehen trugen die vielfältigen Anstrengungen sicherlich dazu bei, dass sich der Trend sinkender Säuglingssterblichkeit im Ersten Weltkrieg fortsetzte. Ihr eigentliches Ziel, nämlich eine Zunahme der Geburtenziffern, erreichte diese Politik jedoch ebenso wenig wie im Deutschen Reich. Insbesondere Arbeiterfrauen wussten nur zu gut, dass jedes Kind mehr die Einkommenssituation ihrer Familie verschlechterte und ihre eigene Gesundheit beeinträchtigte. Der im Ersten Weltkrieg beschleunigte Rückgang der Geburtenziffern, u. a. auch verursacht durch die kriegsbedingte Abwesenheit so vieler
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Männer, ist daher wohl tatsächlich einer der wenigen 'Gewinne' für Frauen. Anmerkungen 1
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Vgl. P. Umbreit/Ch. Lorenz, Der Krieg und die Arbeitsverhältnisse, Stuttgart u. a. 1928; M.-E. Lüders, Das unbekannte Heer. Frauen kämpfen für Deutschland 1914-1918, Berlin 1937; M. G. Fawcett, The Women's Victory and After: Personal Reminiscences 19111918, London 1920; kritisch S. E. Pankhurst, The Home Front. A Mirror to Life in England during the First World War, London 1932. Vgl. S. Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 19141945, Marburg 1979; U. v. Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, Stuttgart 1969; A. Seidel, Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg als Problem der staatlichen Sozialpolitik. Dargestellt am Beispiel Bayerns, Frankfurt/M. 1979; A. Marwick (III Anm. 16); ders. , Women at War. 1914-1918, Glasgow 1977. Vgl. J. F. McMillan, Housewife or Harlot: The Place of Women in French Society 18701940, Brighton 1981; G. Braybon, Women Workers in the First World War, London 1981. Vgl. St. C. Hause, More Minerva than Mars: The French Women's Rights Campaign and the First World War, in: M. R. Higonnet u. a. (Hg.), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven/London 1987, 99113; D. Beddoe, Back to Home and Duty. Women between the Wars, 19181939, London u. a. 1989; B. Clemens, Der Kampf um das Frauenstimmrecht in Deutschland, in: Chr. Wickert (Hg.), „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“. Die Kämpfe der Frauen in Deutschland und England um die politische Gleichberechtigung, Pfaffenweiler 1990, 113-15. Vgl. U. Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989. Vgl. J. Scott, Rewriting History, in: Higonnet u. a. (Anm. 4), 21-31. Vgl. Daniel (Anm. 5); E. Domansky, Der Erste Weltkrieg, in: L. Niethammer u. a., Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt/M. 1990, 285-319; R. Wall/J. Winter, Introduction, in: Dies. (Hg.), The Upheaval of War. Family, Work, and Welfare in Europe 1914-1918, Cambridge 1988. Vgl. K. Hausen, Die Sorge der Nation für ihre „Kriegsopfer“. Ein Bereich der Geschlechterpolitik während der Weimarer Republik, in: J. Kocka/H.-J. Puhle/K. Tenfelde (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat, München u. a. 1994, 719-39; B. Kunderus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; S. Pedersen, Gender, Welfare, and Citizenship in Britain during the Great War, in: The American Historical Review 95. 1990, 983-1006; S. Koven/S. Michel, Womenly Duties: Maternalist Politics and the Origins of
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I. Politische Sozialgeschichte Vgl. Daniel (Anm. 5), 28-34; D. Thom, Women and Work in Wartime Britain, in: Winter/Wall (Anm. 7), 301; I. O. Andrews, Economic Effects of the War upon Women and Children in Great Britain, New York u. a. 1918, 23. Vgl. Thane (Anm. 15), 95f.; Sachße/Tennstedt (Anm. 15), 37f. Vgl. die in den Anm. 2, 3, 5, 18 angemerkten Arbeiten. Vgl. A. Ineson/D. Thom, Women workers and TNT-poisoning, in: P. Weindling (Hg.), A social history of occupational health, London 1985, 89107. Vgl. A. Woollacott, Maternalism, Professionalism and Industrial Welfare Supervisors in World War I Britain, in: Women's History Review 3. 1994, 29-56, 36; Braybon (Anm. 3), 144ff. Women's Trade Union Review, April 1917, zit. nach G. Thomas, Life on all fronts. Women in the First World War, 19922, 11f. Vgl. G. Braybon/P. Summerfield, Out of the Cage. Women's Experiences in two World Wars, London 1987, 115-32; S. Rouette, Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg, Frankf. /M. 1993; dies, Nach dem Krieg. Zurück zur 'normalen' Hierarchie der Geschlechter, in: K. Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, 167-90. Domansky (Anm. 7), 298f. Vgl. KE 1, III. 2. Vgl. Daniel (Anm. 5), 183-215. Vgl. Kocka (KE 1, Anm. 50), 35: In Gewichts-% des Vorkriegsverbrauchs betrugen die rationierten Mengen 1916/17 bei Fleisch 31,2 %, bei Zucker 48,5 %, bei Kartoffeln 70,8 % und bei Schmalz 13,9 %. Vgl. Mai (KE 1, Anm. 1), 114. Vgl. Daniel (Anm. 5), 216-26. Vgl. neben Anm. 8 G. Bock, Weibliche Armut, Mutterschaft und Rechte von Müttern in der Entstehung des Wohlfahrtsstaats, 1890-1950, in: Duby/Perrot (Anm. 9), 427-83. Vgl. D. V. Glass, Population Policies and Movements in Europe (1940), repr. London 1967; C. Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994, 36-54. So die Formulierung in einem Artikel der „Frauenbewegung“; vgl. auch A. Grotjahn, Der Wehrbeitrag der deutschen Frau, Bonn 1915. Vgl. Daniel (Anm. 5), 156f. u. 221-23. Vgl. U. Frevert, „Fürsorgliche Belagerung“. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte u. Gesellschaft 11. 1985, 420-46; E. Wex, Die Entwicklung der Sozialen Fürsorge in Deutschland, 1914 bis 1927, Berlin 1929, 50-53. Vgl. J. Lewis, The Politics of Motherhood. Child and maternal welfare in England, 1900-1939, London 1980.
Politische Vierteljahresschrift 13 (1972), S. 84-105. © Nomos, Baden Baden 1972.
Gerald D. Feldman, Eberhard Kolb, Reinhard Rürup
Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917 – 1920)1 Einleitung Daß das politische Geschehen in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges durch Massenbewegungen der Arbeiterschaft entscheidend geprägt worden ist, steht außer Zweifel. Es genügt daher, die wichtigsten Massenaktionen zwischen 1917 und 1920 kurz in Erinnerung zu rufen: die sozialen Unruhen und „wilden" Streiks, die in den letzten Kriegsjahren ständig weiter um sich griffen und ihren Höhepunkt im politischen Massenstreik vom Januar 1918 fanden, an dem sich in Berlin über eine halbe Million, in ganz Deutschland mindestens eine Million Arbeiter beteiligten; die Umsturzbewegung vom November 1918, die weder geplant, noch von Partei- und Gewerkschaftsführungen organisiert worden war, dennoch aber Millionen mit sich riß und im ersten Anlauf einen überwältigenden Erfolg erzielte; die rasche Ausbreitung der Arbeiterund Soldatenräte als Repräsentanten der revolutionären Bewegung in allen Teilen des Reiches und im Frontheer; die Massendemonstrationen und Streikbewegungen während der Wintermonate, wozu auch der sogenannte Spartakusaufstand von Anfang Januar zu rechnen ist, der sich aus einer planlosen Massendemonstration von über 500 000 Arbeitern in Berlin entwickelte; die Sozialisierungsbewegungen, Massenstreiks und Aufstandsbewegungen, die im Frühjahr 1919 die wichtigsten Industriegebiete des Reiches erfaßten; die räterepublikanischen Experimente in einzelnen Städten und Gebieten; die Massenbewegungen innerhalb der alten und neuen Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen; schließlich der erfolgreiche Generalstreik im Kampf gegen den KappPutsch, bei dem 12 Millionen Arbeiter die Arbeit niederlegten. Eine systematische Analyse dieser Bewegungen sieht sich der Schwierigkeit konfrontiert, daß die Begriffe Masse und Massenbewegung nicht eindeutig definiert sind. Die bisher vorliegenden Beiträge zu einer Soziologie oder Psychologie der Masse helfen, abgesehen von
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einigen Überlegungen in Th, Geigers Studie über ,,Die Masse und ihre Aktion" von 1926, in unserem Zusammenhang kaum weiter. Die Begriffe Masse und Massenbewegung in der Geschichte der Arbeiterbewegung wie auch in der Geschichte der Revolution von 1918/19 lassen sich nicht auf der Basis allgemeiner massenpsychologischer oder -soziologischer Konzepte, sondern nur im Rahmen des je spezifischen politischen Kontextes hinreichend bestimmen. Auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung ist der Begriff der Massenbewegung nicht völlig eindeutig: man wird die in Partei und Gewerkschaften organisierte deutsche Arbeiterbewegung vor 1914 durchaus als eine Massenbewegung bezeichnen können, gleichwohl unterschied sich diese Bewegung erheblich von jenen neuen Massenbewegungen, die sich in den letzten Kriegsjahren und in den Revolutionsmonaten entwickelten. Während die organisierten und disziplinierten Massen vor 1914 von ihren Führern mobilisiert und in ihren Aktionen gelenkt wurden, war es das Kennzeichen dieser neuen Massenbewegungen, daß sie spontan und initiativ waren und den Führern ihren Willen aufzuzwingen suchten, statt sich weiterhin auf bloße politische Gefolgschaft zu beschränken. Sie durchbrachen den durch Partei und Gewerkschaft abgesteckten politischen und organisatorischen Rahmen, ja sie entstanden gerade als Ausdruck der Kritik oder Negation der traditionellen Form einer institutionalisierten sozialistischen Massenbewegung und stellten insofern in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung etwas qualitativ Neues dar. Massenspontaneität und aktivität richteten sich nunmehr gleichermaßen gegen die bestehenden Organisationen wie auch gegen die von diesen repräsentierte politische Strategie und Taktik. Man wird ganz allgemein sagen können, daß Massenbewegungen solcher Art nicht nur eine Krise des bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftssystems, sondern auch und vor allem der bestehenden Oppositionsformen deutlich machen. Sie sind zumindest potentiell revolutionär, da ihre Opposition die gegebenen Spielregeln durchbricht. Ihre Stärke liegt in der unmittelbaren Kritik, in der negativen Aktion, ihre Schwäche offenbart sich im Erfolg: sie sind entschieden in der Negation, aber unklar und unentschlossen im Hinblick auf das Neue – ihre ideologische und praktische Einheit zerfällt mit dem Erfolg. Im Mittelpunkt einer Analyse der Ursachen wie der Chancen einer solchen Massenbewegung müssen daher die Begriffe Spontaneität und Organisation stehen. Neben diesen Andeutungen über die historischen und systematischen Zusammenhänge des in unserem Thema gegebenen Begriffs der Massenbewegungen erscheint noch eine kurze Anmerkung zum Begriff der Masse angebracht. Auch dieser Begriff kann in unserem Zusammenhang sinnvoll nur in einer historisch-politischen, nicht aber in einer rein statis-
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tischen Dimension gefaßt werden. Wichtiger als die Zahl der Streikenden oder Demonstrierenden ist die Tatsache, ob sie als Repräsentanten eines Massenwillens Anerkennung finden oder nicht: eine zahlenmäßig kleine Gruppe revolutionärer Arbeiter und Soldaten muß in einer bestimmten Situation als Teil einer Massenbewegung angesehen werden, während große Menschenansammlungen in einer anderen Situation nur eine Summe von Individuen darstellen. Der Begriff der „revolutionären Massen" ist zwar nicht ganz unabhängig von Größenordnungen, aber er ist in erster Linie zweifellos nicht ein statistischer, sondern ein politischer Begriff. Die Soziologie der Massenbewegungen der deutschen Arbeiterschaft in dem hier zu diskutierenden Zeitraum ist alles andere als ausreichend erforscht. Über eine so entscheidende Bewegung wie die der Soldatenräte fehlen bislang noch spezialisierte Untersuchungen.2 Im folgenden wird daher das Schwergewicht auf die Analyse der allgemeinen sozioökonomischen Voraussetzungen (die freilich ebenfalls noch der Erforschung bedürfen) sowie der Erscheinungsformen, der Zielsetzungen und der Resultate der Massenbewegungen gelegt werden. Die leitende Fragestellung ist nicht soziologisch, sondern politisch: bestand am Ende des Ersten Weltkrieges eine Möglichkeit, auf der Grundlage dieser Massenbewegungen bzw. mit ihrer Hilfe eine stabilere demokratische – sozialistische oder liberal-soziale – Ordnung in Deutschland zu schaffen? Die Massenbewegungen interessieren im Rahmen einer solchen Betrachtung nicht nur als Teil einer Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sondern mehr noch als zentrales Element einer Geschichte der deutschen Revolution von 1918/19. Damit ist zugleich die Frage nach Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution – einer bürgerlich-demokratischen oder sozialistischen – aufgeworfen.
II. Sozioökonomische Voraussetzungen und Entwicklungen Die sozioökonomischen Gegebenheiten und Entwicklungen, die zwischen 1917 und 1920 die Entwicklung einer Massenbewegung der Arbeiterschaft in Deutschland förderten, trugen vielfach gleichzeitig dazu bei, das revolutionäre Potential einer solchen Bewegung zu begrenzen, einzuschränken und sogar zu zerstören bzw. die Kräfte der Konterrevolution zu stärken. Eine realistische Einschätzung der Massenbewegung und ihres politischen Potentials wird daher von einer Analyse der sozioökonomischen Bedingungen ausgehen müssen, in deren Rahmen sich diese Bewegung entwickelte. Der ambivalente Charakter der allgemei-
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nen sozioökonomischen Voraussetzungen für die Entwicklung einer proletarischen Massenbewegung in Deutschland war bereits vor dem Kriege deutlich. Das Deutsche Reich war der höchstindustrialisierte Staat auf dem Kontinent, und es war zugleich der Staat mit der größten und bestorganisierten Arbeiterbewegung in der Welt. Die Klassenstruktur der Gesellschaft war offenkundig, die sozialen und politischen Spannungen verschärften sich vor Kriegsausbruch zunehmend, insbesondere durch die wachsende Mobilisierung der politischen Rechten seit dem sozialdemokratischen Wahlsiege von 1912. Damit waren die wichtigsten sogenannten objektiven Voraussetzungen für die Entwicklung einer proletarischen Massenbewegung mit revolutionärem Ziel gegeben. Es fehlte jedoch auch nicht an gegenläufigen Entwicklungstendenzen. Ganz abgesehen von den hier nicht zu diskutierenden reformistischen und revisionistischen Entwicklungen innerhalb der organisierten Arbeiterschaft gab es deutliche Tendenzen einer ,,negativen Integration" der Arbeiterklasse in die bestehende Gesellschaft durch begrenzte soziale Reformen, wirtschaftliche Verbesserungen und eine gewisse politische Tolerierung. Obschon der Reallohn seit 1900 stagnierte, stieg doch der Nominallohn, und die Arbeitszeit wurde, wenn auch nicht wesentlich, kürzer: die Auswirkungen solcher Veränderungen auf das Bewußtsein der Arbeiterschaft sind schwer zu quantifizieren, verdienen aber sicher im Zusammenhang unserer Fragestellung Beachtung. Die Ambivalenz der allgemeinen sozioökonomischen Voraussetzungen kommt schließlich vor allem darin zum Ausdruck, daß in einer hochindustrialisierten Gesellschaft zwar die sogenannten objektiven Voraussetzungen zum Sturz des kapitalistischen Systems gegeben sind, zugleich aber die subjektiven Voraussetzungen insofern schwächer werden, als innerhalb der organisierten Arbeiterschaft und ihrer Führung angesichts der zunehmenden Kompliziertheit und Krisenanfälligkeit der industrialisierten Gesellschaft die bewußten und unbewußten Widerstände gegen eine revolutionäre Krise und die mit ihr verbundenen extremen sozialen Risiken immer stärker werden: je weiter die Industrialisierung fortgeschritten ist, desto mehr beginnt die Furcht vor dem Risiko, dem wirtschaftlichen und sozialen Chaos, den Willen zur Revolution zu lähmen. Der Krieg brachte nicht die Volksgemeinschaft, von der die Ideologen des Burgfriedens sich die Überwindung des Klassenkampfes erhofft hatten, er förderte vielmehr die Entwicklung weiterer Voraussetzungen für eine proletarische Massenbewegung und die Entstehung einer revolutionären Situation. Zunächst einmal änderte sich während des Krieges die Zusammensetzung der Arbeiterschaft grundlegend durch die Beschäftigung einer wachsenden Zahl von ungelernten und angelernten Arbeitern, insbesondere aber durch die Beschäftigung von Frauen und
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Jugendlichen. Die Frauen stellten 1913 ein Fünftel, bei Kriegsende aber ein Drittel der Gesamtarbeiterschaft; der Anteil der Jugendlichen tritt statistisch weniger markant in Erscheinung, er war aber von steigender Bedeutung gerade in lebenswichtigen Industriezweigen. Die Ersetzung älterer und erfahrener Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz durch un- oder angelernte Frauen und Jugendliche erhöhte das Moment der psychischen und politischen Labilität innerhalb der Arbeiterschaft beträchtlich. Noch wichtiger im Hinblick auf die entstehenden Massenbewegungen war allerdings die plötzliche und außerordentlich starke Ballung der Industriearbeiterschaft in einzelnen Betrieben oder Regionen. Bei Krupp z.B. stieg die Zahl der Arbeiter von 34 000 im Jahr 1914 auf 100 000 im Jahr 1918, während in der Maschinenfabrik Thyssen in Mülheim-Ruhr die Zahl der Beschäftigten von ursprünglich 3000 auf 26 500 stieg. Eine ähnliche Massierung von Arbeitern gab es auch in der Chemieindustrie, in Leverkusen und in Merseburg. In anderen Gebieten und Branchen nahm dagegen die Zahl der Beschäftigten stark ab, z.B. in der Textilund Nahrungsmittelindustrie. Die plötzliche Ballung von Arbeitermassen in riesigen Industriebetrieben, unter Zerstörung aller bisherigen sozialen, auch politischen Bindungen, schuf zwangsläufig einen günstigen Nährboden für Radikalisierungen und Massenaktionen. Es ist daher kein Zufall, daß Mülheim-Ruhr, Hamborn und Merseburg schon vor Ausbruch der Revolution Schwerpunkte radikaler Aktivität wurden, ebenso wie nur die riesigen Fabriken Berlins eine Basis für die großen Demonstrationsstreiks und die Arbeit der Revolutionären Obleute boten. Nimmt man Berlin und Mülheim als typische Beispiele, so zeigt sich darüber hinaus, daß die Massenaktionen ganz wesentlich aus dem Aufeinandertreffen einer radikalen lokalen Tradition und einem starken Zustrom un- und angelernter Arbeiter entstanden. Die Konzentration solcher Arbeitermassen in Betrieben, Gemeinden und Industriebezirken offenbarte und verschärfte eine Reihe von latenten Krisenmomenten. Die ohnehin angespannte Wohnungs- und Ernährungslage spitzte sich in den betroffenen Gemeinden immer schärfer zu. Die Unternehmer standen vor technischen, sozialen und organisatorischen Problemen, die durch den Verlust des alten Arbeiterstammes und die gleichzeitige Vervielfachung der Belegschaft entstanden. Auch die Gewerkschaften waren personell und strukturell nicht in der Lage, den Zustrom neuer Mitglieder aufzufangen und in der gewohnten Weise zu integrieren: es fehlten die Funktionäre, aber es fehlte auch ein den neuen Massenbetrieben angemessenes politischorganisatorisches Konzept. Gewerkschafts- und Parteiführer, vor allem in den höheren Rängen der SPD-Funktionäre, konzentrierten auch in dieser Situation ihre Bemühungen stärker auf die Disziplinierung als auf die Aktivierung der Arbeitermassen. Wachsende
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Teile der Arbeiterschaft, gerade in den Ballungsgebieten der Kriegswirtschaft, begannen daher, sich immer mehr der Führung durch die traditionellen Organisationen zu entziehen. Zahl und Charakter der Streiks während der letzten zwei Kriegsjahre machen deutlich, daß die Arbeiter immer öfter die Dinge selbst in die Hand nahmen oder aber militanten Oppositionsführern Folge leisteten. Ohne Zweifel war die Lebensmittelknappheit während des Krieges der wichtigste Auslöser militanter Arbeiteraktionen. Obwohl es einige spezifisch politische Streiks gab, war die kritische Häufung von Plünderungen, Unruhen, Demonstrationen und Streiks in erster Linie ein Resultat der Unfähigkeit, die Arbeiter ausreichend zu ernähren. Die Lebensmittelknappheit hatte zwei Aspekte: die absolute Knappheit führte zur physischen und psychischen Erschöpfung der Arbeiter, verringerte die Produktivität und erhöhte die allgemeine Reizbarkeit; darüber hinaus riefen die eklatanten Mißstände in der Organisation der Lebensmittelversorgung in wachsendem Maße Zweifel an Kompetenz und Effizienz der Zivil- und Militärbürokratie hervor. Gerade das Versagen auf diesem Gebiet trug entscheidend zum Verlust von Autorität und Legitimität des obrigkeitsstaatlichen Systems bei. Der schwarze Markt als offener Triumph der Korruption und die eklatanten Unterschiede in der Lebensmittelversorgung enthüllten in unmißverständlicher Weise den Klassencharakter der deutschen Gesellschaft. Die Verschärfung der politischen Forderungen und die deutlich in Erscheinung tretende Kriegsmüdigkeit während des Winters 1916/17 waren in erster Linie auf den Mangel an lebensnotwendigen Dingen zurückzuführen. In der Regierung wie auch in den Führungen von SPD und Freien Gewerkschaften verstärkte sich die Auffassung, daß man – wie General Groener es formulierte – den Arbeitern das Wahlrecht (in Preußen) geben müsse, wenn man ihnen schon kein Brot geben könne; die Politik partieller innenpolitischer Konzessionen seitens der Regierung erfolgte wesentlich unter diesem Gesichtspunkt. Die Lebensmittelknappheit, zusammen mit dem Mangel an Kohle, Kleidung und Wohnraum, bildete daher – verschärft durch Fehlleistungen und Mißwirtschaft von Regierung und Verwaltung – den Ausgangspunkt sowohl für die Bemühungen sozialdemokratischer und bürgerlicher Reformer wie auch für die Arbeit revolutionärer Gruppen in den sich radikalisierenden Massen. Es darf andererseits nicht übersehen werden, daß die Vitalität der Massenbewegungen und ihres revolutionären Potentials permanent geschwächt wurde durch die Kriegskonjunktur und die damit gegebene Möglichkeit, den Kampfgeist der Arbeiter durch Lohnerhöhungen wie auch durch besondere Lebensmittelzuteilungen zu verringern. Obwohl der durchschnittliche Reallohn um 35 % unter dem Vorkriegsniveau lag, wirkten die Lohnerhöhungen und Lebensmittelsonderzuteilungen in der
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Kriegsindustrie als ein Ventil von zwar kaum genau meßbarer, aber jedenfalls erheblicher Bedeutung. Zwischen 1914 und 1918 stieg der Tageslohn für Arbeiter in der Kriegsindustrie um 152%, für Arbeiterinnen um 186 %; die Lebenshaltungskosten stiegen allerdings noch schneller. Gleichzeitig wurden die unterschiedlichen Lohn- und Ernährungsverhältnisse innerhalb der Gesamtbevölkerung und auch innerhalb der Arbeiterschaft zunehmend schärfer empfunden. Bei den Arbeitern, die nicht in der Rüstungsindustrie beschäftigt waren und deren Löhne nur um 81 % bzw. 102 % stiegen, bei Gehaltsempfängern und zahlreichen anderen Gruppen entstanden Ressentiments gegen die Arbeiter in der Kriegsindustrie angesichts der von diesen genossenen relativen Vorteile. Die inflationäre Lohn-Preis-Spirale im Industriesektor forcierte somit eine Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft und damit eine Zersplitterung der Massenbewegung wie auch die Isolierung von potentiellen Verbündeten. Unzufriedenheit über den Krieg und die wirtschaftliche Lage war weit über die Arbeiterklasse hinaus verbreitet, dennoch blieb die Massenbewegung gegen Ende des Krieges im wesentlichen eine proletarische Bewegung mit nur sehr vereinzelter Unterstützung bei den Bauern und dem Mittelstand. Das Problem der Lebensmittelversorgung erweiterte die Kluft zwischen dem städtischen Proletariat und der Landbevölkerung; in den kleinbürgerlichen und mittelständischen Schichten überwog die Furcht vor einer Proletarisierung die objektiven Tendenzen zu einer Zusammenarbeit mit der sozialistischen Arbeiterschaft gegen das bestehende System; und schließlich löste auch der aus der Kriegswirtschaft resultierende relative Machtzuwachs der Gewerkschaften Ressentiments in bürgerlichen und bäuerlichen Schichten aus. Alle diese Tendenzen hemmten die revolutionierende Wirkung des Krieges in Deutschland und reduzierten das revolutionäre Potential der Massenbewegung. Die Revolution vom November 1918 war nicht verursacht durch die sozioökonomischen Bedingungen der Kriegszeit, sondern durch die militärische Niederlage, die daraus resultierende politische Krise und schließlich durch den Aufstand der Soldaten. Gleichwohl beeinflußten diese Bedingungen entscheidend Charakter und Verlauf der Revolution. Als das wichtigste Problem der revolutionären Übergangszeit wurde allgemein, neben der Lebensmittelversorgung, die Demobilisierung und der Übergang zur Friedenswirtschaft betrachtet. Politisch waren die allgemeinen Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich der militärischen und wirtschaftlichen Demobilmachung von ebenso großer Bedeutung wie der tatsächliche Verlauf. Während die konkreten Vorbereitungen für die wirtschaftliche Demobilisierung auf Grund der üblichen Ressortstreitigkeiten und wirtschaftlichen Interessenkonflikte erstaunlich
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gering waren, waren die Befürchtungen umso größer. Man erwartete eine nahezu untragbare Belastung von Wirtschaft und Verwaltung, ein potentielles Chaos und die Gefahr des Abgleitens in sogenannte „russische Zustände". Diese Erwartungen, die in allen wesentlichen Punkten von Regierungsvertretern, Wirtschaftsführern und Arbeiterführern geteilt wurden, hatten im Hinblick auf die Chancen revolutionärer Massenbewegungen zur Folge, daß insbesondere SPD- und Gewerkschaftsführer allen radikalen Maßnahmen entgegentraten und die Zusammenarbeit mit den „Fachleuten" für unentbehrlich hielten, während bürgerliche Politiker und Industrievertreter gerade angesichts dieser Befürchtungen eine wesentlich größere politische Flexibilität entwickelten, als zunächst zu erwarten gewesen wäre. In derselben Richtung wirkte dann freilich auch der tatsächliche Verlauf der Demobilisierung, obwohl oder gerade weil er den pessimistischen Erwartungen nicht entsprach. Der Selbstauflösungsprozeß des Millionenheeres löste ungeachtet mancher Probleme kein Chaos aus, er bewirkte keine Verschärfung der revolutionären Krise, sondern beraubte umgekehrt die revolutionäre Bewegung ihrer eigentlichen Machtbasis in den Soldatenräten. Als übertrieben erwies sich auch die Furcht vor der Massenarbeitslosigkeit. Tatsächlich nahm die Zahl der Arbeitslosen Ende 1918 und Anfang 1919 zu, und man kann in diesen Monaten auch eine Korrelation zwischen Arbeiterunruhen und Arbeitslosigkeit feststellen. Dennoch war die Arbeitslosigkeit, gemessen an den Umständen, keineswegs besonders hoch. Gewerkschaftsstatistiken, deren Ziffern vermutlich etwas niedriger liegen als dies bei der Erfassung aller Unbeschäftigten zum Ausdruck gekommen wäre, zeigen, daß der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit für die Arbeiter im Januar 1919 bei 6,2 % lag, für die Arbeiterinnen im Februar 1919 bei 8,0%. Im März betrug die Arbeitslosigkeit bei den Männern 3,6 % und bei den Frauen 4,8 %, im April waren es 4,8 % bzw. 6,8 %, im Mai 3,5 % bzw. 5,0 % und im November schließlich 2,7 % bzw. 3,8 %, womit die Arbeitslosenquote bei den Männern wieder unter dem Vorkriegsniveau (1913 – 2,9 %) lag. Die relativ höhere Arbeitslosigkeit der Frauen war darauf zurückzuführen, daß die heimgekehrten Soldaten vielfach auf Kosten der weiblichen Arbeitskräfte in den Wirtschaftsprozeß wieder eingegliedert wurden. Weitere Faktoren milderten das Arbeitslosenproblem: die Einführung des 8-Stunden-Tages fing zweifellos einen erheblichen Teil potentieller Arbeitslosigkeit auf; manche Unternehmen praktizierten auch eine vorübergehende Überbeschäftigung; und schließlich gelang es der Regierung, die Situation durch die Arbeitslosenunterstützung wesentlich zu entspannen. Ein System von ,,checks and balances" erzeugte somit trotz der extremen Belastung der wirtschaftlichen und sozialen Lage eine
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relative Stabilität. Die starke Güternachfrage schuf wachsende Beschäftigungsmöglichkeiten, während die Rohmaterialknappheit jene Produktionsverluste milderte, die durch Streiks verursacht wurden. Weder in der Produktion noch in der Versorgung der Bevölkerung entwickelte sich eine Krise, die auch nur im entferntesten das Ausmaß der gefürchteten „russischen Zustände" erreicht hätte. Die Entwicklung während des Krieges und besonders während der Revolutionsmonate im Winter und Frühjahr 1918/19 zeigt, daß es durchaus möglich ist, eine politische Stabilisierung auf einer relativ instabilen ökonomischen Basis zu bewirken – wenn nicht für die Dauer, so doch für die kritische revolutionäre Periode. Die Kriegskonjunktur ging nahezu nahtlos in eine Revolutionskonjunktur über, die es der Industrie ermöglichte, höhere Löhne, geringere Produktivität und unwirtschaftlichen Arbeitskräfteeinsatz durch höhere Preise aufzufangen. Im Dezember 1918 und Januar 1919 gaben die Unternehmer sehr häufig bei „wilden" Streiks und Protestaktionen nach, da sie es sich leisten konnten, die Revolution in eine Lohnbewegung umzufunktionieren – wobei sich ihre Interessen durchaus mit den kurzfristigen Zielsetzungen breiter Teile der Arbeiterschaft zu berühren schienen. Es gab zweifellos berechtigte Lohnforderungen der Arbeiterschaft, deren Reallohn sich zwischen 1919 und 1921 trotz aller Lohnerhöhungen dem Vorkriegsniveau nur bis auf 10 % näherte, auch ließen sich wirtschaftliche und politische Momente in den Streikbewegungen in der Regel nicht voneinander trennen. Darüber hinaus jedoch wurde von den Unternehmern ganz bewußt die Politik verfolgt, die politischen Zielsetzungen der revolutionären Massenbewegung in den kritischen Monaten durch wirtschaftliche Konzessionen zu unterlaufen. Von besonderer Bedeutung war diese Politik vor allem in der Schwerindustrie und in der Investitionsgüterindustrie, wo die revolutionäre Gärung am stärksten war. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß zwischen 1917 und 1919 die Streikaktivitäten sich vor allem auf die Großindustrie konzentrierten, während sich 1920 eine deutliche Verlagerung zu kleineren Betrieben und Industriezweigen vollzog. Dies ist offensichtlich so zu erklären, daß mittlere und kleinere Unternehmen sich die ständigen Lohnsteigerungen nicht mehr leisten konnten, die Politik der Großindustrie finanziell nicht durchzuhalten vermochten und deshalb den Arbeiterforderungen nicht länger nachgiebig, sondern militant begegneten. Die Arbeitsgemeinschaftspolitik war, das zeigte sich hier deutlich, ganz auf die Interessen der Großindustrie zugeschnitten, die relativ erfolgreich eine Politik der finanziellen und sozialen Konzessionen in Zeiten revolutionärer Krisen und allgemeiner politischer Instabilität verfolgte. Aufs ganze gesehen, erscheinen die Probleme der Massenbewegung in Deutschland am Ende des Ersten
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Weltkrieges typisch für die Probleme einer Revolution in einer hochindustrialisierten und -organisierten Gesellschaft, die zahlreiche Abwehrmechanismen gegen jede Form von revolutionärem Zusammenbruch entwickelt, die durch eine mehr oder weniger anarchistische Phase zu einer grundlegenden Neuordnung führen würde. Die gewollte und ungewollte „bürokratische Sabotage" der Revolution begann früh, und nicht zuletzt die positiven Leistungen der Arbeiter- und Soldatenräte in der Demobilmachung, der Lebensmittelversorgung, der Schleichhandelsbekämpfung und der Wohnraumverteilung trugen angesichts des gleichzeitigen Verlusts an politischer und militärischer Macht nicht unwesentlich zur Schwächung der Massenbewegung bei, ebenso wie auch die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften nicht nur durch ihre Politik, sondern auch durch ihre Organisationen, die einen Teil der revolutionären Energie absorbierten, dazu einen wesentlichen Beitrag leisteten. So lange die traditionellen Arbeiterführer mehr oder weniger die Lage beherrschten, wie es innerhalb des Bergarbeiterverbandes der Fall war, wurde die Militanz der Massenbewegung durch mangelnde Organisation und Führung wie auch durch wirtschaftliche Zugeständnisse der Unternehmer geschwächt. Als dann tatsächlich ein Führungswechsel stattfand, wie beim Metallarbeiterverband im Oktober 1919, kam er zu spät, um noch wesentliche Ergebnisse erzielen zu können – die Zeit optimaler politischer Möglichkeiten war auch im Rahmen der sozioökonomischen Gegebenheiten der Winter 1918/19, insbesondere die Monate November/Dezember. Zusammenfassend wird man sagen dürfen, daß die Ursachen für Verlauf und Scheitern der Massenbewegung in erster Linie im politischen und nicht im sozioökonomischen Bereich zu suchen sind. Nicht die objektiven wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern die subjektive Einschätzung dieser Verhältnisse war grundlegend für das Versagen der Mehrheitssozialisten, eine durchgreifende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vorzunehmen. Die Argumente, die gegen die Sozialisierung des Kohlenbergbaus und anderer Schlüsselindustrien gebraucht wurden – schlechter Zustand der Gruben infolge von Kriegsausbeutung, hohe Preise, Einfluß von ausländischem Kapital, niedrige Produktivität, schlechte Finanzlage – hätte man durchweg auch zugunsten der Sozialisierung verwenden können. In der Tat rechneten führende Industrielle wie etwa A. Vogler stärker mit der Sozialisierung der Kohlengruben als führende Sozialdemokraten. Im ganzen erwiesen sich in den Revolutionsmonaten Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Schwierigkeiten als nicht so bedeutsam wie die wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten, die sich aus der erhöhten Nachfrage und der Inflation ergaben. Die politische Allianz zwischen mehrheitssozialdemokratischer Führung und
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den Funktionsträgern der alten Ordnung erwies sich als stärker als jene wirtschaftlichen und sozialen Tendenzen, die eine Radikalisierung begünstigten. Die revolutionäre Massenbewegung verflachte teilweise zu einer Lohnbewegung: die wachsende politische Stabilisierung – ohne daß die Ziele der Massenbewegung in wesentlichen Punkten verwirklicht worden wären – erfolgte auf der Basis einer Inflationswirtschaft. Erst später sollte sich herausstellen, daJß diese Inflationswirtschaft nicht nur ein wichtiger Faktor der aktuellen Niederlage der Massenbewegung war, sondern auch eine Zeitbombe, indem sie einerseits 1922/23 zu dem katastrophalen Schwund des Reallohns der Arbeiter führte und andererseits die sozioökonomischen und psychologischen Voraussetzungen für eine Massenbewegung der radikalen Rechten schuf.
III. Phasen der Massenbewegungen Obwohl der Zeitraum zwischen 1917 und 1920 durchaus als historische Einheit begriffen werden kann, erscheint es im Hinblick auf die Massenbewegungen der Arbeiterschaft sinnvoll, Pauschalcharakterisierungen zu vermeiden und stattdessen die einzelnen Phasen innerhalb dieses Zeitraums schärfer herauszuarbeiten. Charakter, Ziele und Organisationsformen der Massenbewegungen waren nicht einheitlich, sondern änderten sich und sind in den einzelnen historischen Situationen jeweils neu zu bestimmen.
1) Vor Ausbruch der Revolution Die innenpolitische Entwicklung der Jahre 1917/18 ist gekennzeichnet durch eine rasch wachsende, nahezu alle Gesellschaftsschichten erfassende soziale Unruhe, die durch wirtschaftliche Not ausgelöst und durch das Unbehagen über die innenpolitische Stagnation und die anscheinend endlose Fortsetzung des Krieges potenziert wurde. Vor allem die ganz unzureichende Lebensmittelversorgung spielte, wie bereits angedeutet, eine bedeutsame Rolle als Mobilisierungsfaktor allgemeiner sozialer Unzufriedenheit und trug entscheidend zur allmählichen Erosion der politischen und sozialen Ordnung bei. Da sich die staatlichen Instanzen in den Augen der Bevölkerung als unfähig erwiesen, mit dem wichtigsten Problem, nämlich der Ernährungsfrage, fertig zu werden, setzte seit
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1917 ein schnell voranschreitender Prozeß des Autoritätsverlustes der alten Herrschaftsträger und der politischen Führungsschichten ein. Dieser Prozeß erstreckte sich auch auf die Einstellung breiter Arbeiterkreise gegenüber den etablierten Führungen der SPD und der Gewerkschaften: da diese in den Kriegsjahren zu einer Politik der partiellen Kooperation mit den Trägern der staatlichen Gewalt übergegangen waren, erschienen sie in den Augen vieler Arbeiter jetzt nicht mehr als die legitimen Sachwalter der Arbeiterinteressen, denen weiterhin die alleinige Kompetenz für die Interessenvertretung der Arbeiterschaft hätte anvertraut bleiben können. Mit der Kritik an Partei- und Gewerkschaftsinstanzen wuchs bei den Arbeitern und zum Teil auch bei den Angestellten die Bereitschaft, zur Lösung unerträglicher wirtschaftlicher Mißstände und akuter politischer Probleme selbst die Initiative zu ergreifen, wuchs die Bereitschaft zur spontanen Aktion. Auch die – angesichts der weitverbreiteten Kritik an der Gewerkschaftsführung zunächst paradox anmutende – Tatsache, daß die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften nach dem starken Rückgang in den ersten Kriegsmonaten seit 1917 erstmals wieder eine steigende Tendenz aufwies, wird man in dieser Perspektive als Indiz einer gegen Kriegsende zunehmenden Politisierung an der Basis werten müssen (Mitgliederentwicklung der Freien Gewerkschaften: 1. Halbjahr 1914 2,4 Mill.,2. Halbjahr 1914 1,6 Mill., 1915 1,1 Mill., 1916 0,9 Mill., 1917 1,1 Mill., Okt. 1918 1,4 Mill.). Wenn die sich allmählich und in den letzten Kriegsmonaten rapide verschlechternde Massenstimmung weit über die Arbeiterschaft hinaus andere Schichten und Gruppen erfaßte (Angestellte, Bauern, selbst Mittelstand und Beamte) und damit ein Nährboden entstand, auf dem breitgefächerte Protestaktionen gedeihen konnten, so wurden die konkreten Aktionen des Protestes gegen die Innen- und Außenpolitik des Regimes doch fast ausschließlich von der Arbeiterschaft getragen. Die Massenbewegung ist daher bis in den Oktober 1918 hinein ganz überwiegend eine Bewegung der Arbeiterschaft. Die Zahl der Streiks betrug noch 1916 nur 240, 1917 dagegen 562 und 1918 vor Ausbruch der Revolution 499 (Anzahl der verlorenen Arbeitstage 1916 0,25 Mill., 1917 1,86 Mill., bis November 1918 ca. 3,25 Mill., Gesamtzahl für 1918 5,22 Mill. – alle Angaben nach der offiziellen Streikstatistik). Obschon die Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Streiks für diesen Zeitraum sachlich kaum gerechtfertigt erscheint, sind die entsprechenden Daten für 1918 nicht ganz ohne Interesse: die offizielle Streikstatistik verzeichnet 348 wirtschaftliche und 151 politische Streiks vor Ausbruch der Revolution und 183 bzw. 90 für die Revolutionswochen bis zum Jahresende (diese Zahlen
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sind freilich unvollständig, was insbesondere für die Monate November/Dezember gilt). Diese Streikbewegungen, insbesondere die großen politischen Streikaktionen der Jahre 1917 und 1918, wurden gegen den erklärten Willen der Gewerkschaftsführung und der Mehrheitssozialdemokratie durchgeführt und selbst von der USPD nur halbherzig unterstützt. Ihre wesentlichen Merkmale lassen sich am Beispiel des Januarstreiks 1918 zeigen, der zur größten Massenaktion während der Kriegszeit wurde. a) Zwar leistete die kleine, gut organisierte Gruppe der Berliner Revolutionären Obleute aktive Vorarbeit, aber ihr standen keine Mittel für eine agitatorische Vorbereitung und nur sehr beschränkte organisatorische Möglichkeiten zur Verfügung, vor allem besaß sie keinerlei Druckmittel, um die Berliner Arbeiter wider deren Willen in einen politischen Streik zu treiben. Der Januarstreik muß deshalb als eine spontane, gegen den Willen der etablierten Führer unternommene Aktion der Arbeiterschaft gewertet werden. b) Es handelte sich um eine Bewegung von beachtlicher Breite, an der ein erheblicher Prozentsatz der deutschen Industriearbeiterschaft, vornehmlich in der Metallindustrie, beteiligt war. In Berlin befanden sich bereits am ersten Streiktag 400 000 Arbeiter im Ausstand; da sich sofort in verschiedenen anderen Städten des Reiches die Arbeiter dem Streik anschlossen, stieg die Gesamtzahl der Streikenden auf mindestens 1 Million. Diese Zahlen beweisen, daß nicht allein die Anhängerschaft der Revolutionären Obleute und des Spartakusbundes aktiv wurde: ungeachtet der sonstigen Parteibindungen fand sich ein großer Teil der Arbeiterschaft zu einer solidarisch-spontanen Massenaktion zusammen, die den Beteiligten das Gefühl vermittelte, daß trotz der erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Flügeln der Arbeiterbewegung an der Basis zumindest die „Einheit der Arbeiterklasse" noch bestehe (dieses Erlebnis sollte dann in den Wochen nach dem Novemberumsturz an Relevanz gewinnen). c) Daß auch die mehrheitssozialistischen Arbeiter sich der Bewegung anschließen konnten und großenteils anschlossen, ist nicht zuletzt auf die relativ gemäßigten politischen und wirtschaftlichen Streikforderungen zurückzuführen: sie gingen nicht über das hinaus, was die Mehrheit der Arbeiterschaft wollte (schleunige Herbeiführung des Friedens, bessere Lebensmittelversorgung, Aufhebung des Belagerungszustandes, Amnestierung politischer Gefangener, durchgreifende Demokratisierung). Die Herbeiführung eines Staatsumsturzes, verbunden mit einer tiefgreifenden Revolutionierung der sozialen Ordnung, wurde in dieser Phase nicht zum Programm einer Massenbewegung; dies blieb das poli-
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tische Ziel zahlenmäßig kleiner und für die Bewegung nicht repräsentativer radikaler Gruppen. d) Da die Gewerkschaftsleitung (und die Parteiführungen) dem Streik ablehnend gegenüberstanden, waren die Streikenden gezwungen, aus eigener Initiative ein Organ zu bilden, das ihre Aktion leiten und ihre Forderungen vertreten konnte. Daher wählten die Arbeiter Vertrauensleute, die unter dem Namen eines ,,Arbeiterrats" zusammentraten. Damit war – ebenso unter dem Zwang der Situation wie in Anlehnung an das Vorbild der russischen Februarrevolution – ein Organisationsmodell für das Leitungsgremium einer spontanen Massenaktion geschaffen. Um die Breite der Bewegung richtig zu beurteilen, muß man sich vor Augen halten, daß sich der Januarstreik wie die anderen Streikaktionen unter den Bedingungen des Belagerungszustandes vollzog – mit gravierenden Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit und unter der ständigen Drohung einer Militarisierung der Betriebe. Die Teilnahme an diesen Aktionen erforderte daher ein erhebliches Maß an Risikobereitschaft (nach dem Januarstreik wurden allein in Berlin 50 000 Teilnehmer am Streik, d.h. rund ein Zehntel aller Streikenden, zum Heer einberufen). Man wird deshalb folgern dürfen, daß von der vorhandenen sozialen Unruhe und politischen Unzufriedenheit im Streik selbst gleichsam nur die Spitze des Eisbergs sichtbar wurde, daß das reale Potential der für die Ziele der Bewegung bei Gelegenheit aktivierbaren Massen wesentlich größer war, als es im Januar 1918 den Anschein haben mochte. In Anlehnung an die Terminologie der Massensoziologie könnte man sagen, daß in dieser Massenbewegung von Anfang 1918 die „latente Masse" der mit den wirtschaftlichen und politischen Zuständen Unzufriedenen nur zu einem sehr begrenzten Teil zur „aktuellen Masse" der aktiv Beteiligten wurde. Dieses Potential wurde aber mobilisierbar, als im Verlauf des Notenwechsels mit Wilson im Oktober 1918 der Desintegrationsprozeß und Autoritätsverlust des alten Regimes ein rapides Tempo annahm. Jetzt wurde die Massenbewegung in Gestalt einer „Friedensbewegung" ein entscheidender Faktor des innenpolitischen Geschehens: eine außerordentlich breite, aber völlig unorganisierte, sich primär als Massenstimmung manifestierende Bewegung, deren soziale Basis weit über die politisch aktive Arbeiterschaft hinausreichte, deren Konsistenz aber gerade deshalb in jenem Augenblick in Frage gestellt war, in dem der Waffenstillstand abgeschlossen wurde und die divergenten innenpolitischen und sozialen Forderungen wieder in den Vordergrund traten. Diese kriegsmüden, oppositionellen Massen haben im November 1918 die Revolution zwar nicht ausgelöst, sie ermöglichten aber den raschen Erfolg der von den Matrosen und Soldaten getragenen Umsturzaktionen.
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2) November – Dezember 1918 Die Massenbewegung der November- und Dezemberwochen war eine spontan entstandene demokratische Volksbewegung, die sich im wesentlichen auf die Arbeiterschaft stützte, gelegentlich aber über diese soziale Basis hinausreichte (Bauern; Anteil von Bürgerlichen in den Soldatenund einzelnen Arbeiterräten). Ihre organisatorische Form fand sie in den Arbeiter- und Soldatenräten, die während der Novembertage allerorten improvisiert wurden: diese Räte repräsentierten die Massenbewegung dieser Wochen (was für die nächste Phase im Frühjahr 1919 nicht mehr mit gleicher Eindeutigkeit gesagt werden kann). Der spontane Charakter der Aufstandsbewegung vom November 1918, das Fehlen zentraler Lenkung und Anweisung führte dazu, daß diese Leitungsorgane der Massenbewegung auf recht unterschiedliche Weise zustandekamen, wobei die Kräfteverhältnisse innerhalb der Arbeiterbewegung der betreffenden Stadt eine wichtige Rolle spielten. Hervorzuheben ist jedoch, daß die Arbeiter- und Soldatenräte – von wenigen Ausnahmen abgesehen – durch demokratische Wahl oder Delegierung gebildet wurden, also die Bewegung in ihrer ganzen Breite repräsentierten und daher in der überwiegenden Mehrzahl nicht die Herrschaftsinstrumente von Minderheiten innerhalb der Gesamtbewegung darstellten. Die Soldaten wählten in den unteren Einheiten, bzw. in den Garnisonen ihre Soldatenräte; in der Heimat wirkte der örtliche Soldatenrat in der Regel eng mit dem örtlichen Arbeiterrat zusammen, die beiden Räte tagten häufig gemeinsam und fungierten daher als „Arbeiter- und Soldatenrat". Delegierte aller Soldatenräte einer Armee, bzw. eines Armeekorps kamen dann zu Delegiertenversammlungen zusammen und wählten einen Obersten Soldatenrat für den Bereich der jeweiligen Armee bzw. des jeweiligen Armeekorps. Bei der Bildung der Arbeiterräte lassen sich im wesentlichen vier Modelle nachweisen: 1. In zahlreichen größeren Städten gingen die Arbeiterräte aus Delegiertenwahlen in den Betrieben hervor. In den Großbetrieben und von den zu besonderen Wahlkörpern zusammengefaßten kleineren Betrieben und freien Berufen wurden Delegierte gewählt, die zu einer Delegiertenversammlung zusammentraten: dem „Großen Arbeiterrat" bzw. der „Vollversammlung der Arbeiterräte" (ca. 100 – 500 Personen, Vollversammlung der Groß-Berliner Arbeiterräte ca. 800 – 1000 Personen). Diese Versammlung, die nur von Zeit zu Zeit tagte, wählte aus ihrer Mitte sogleich einen geschäftsführenden Ausschuß (Vollzugsausschuß, Vollzugsrat, Exekutive, ca. 5 – 20 Personen), und dieses Gremium führ-
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te dann die eigentlichen Geschäfte des Arbeiterrats und entsandte seine Mitglieder oder andere Delegierte in die wichtigsten Behörden, damit sie dort eine Kontrolltätigkeit ausübten. 2. Sofern in den größeren Städten die Delegierten nicht auf der Basis der Betriebe und Berufsbranchen gewählt wurden, resultierte die Zusammensetzung des Arbeiterrats aus Verhandlungen zwischen den am jeweiligen Ort maßgebenden Partei- und Gewerkschaftsführern, die sich über die Aufschlüsselung der Sitze einigten und den einzelnen Organisationen die Auswahl der zu entsendenden Vertreter überließen. 3. In den Landgemeinden und kleineren Städten, wo Räte im allgemeinen erst nach dem 9. November gebildet wurden, wählte man in einer öffentlichen Versammlung einen Ausschuß, der im allgemeinen entsprechend den Vorschlägen der örtlichen Partei- und Gewerkschaftsführer zusammengesetzt war. 4. Bei den Arbeiterräten, die einige Wochen nach dem Staatsumsturz neugewählt wurden, um die in den Revolutionstagen improvisierten Räte zu ersetzen, fand meist eine regelrechte Stimmzettelwahl nach dem Verhältnissystem (meist auf der Basis der Wohnbezirke) statt. In den Wochen nach dem 9. November kam es zur Ausbildung einer gestuften Räteorganisation (Kreis – Regierungsbezirk – Provinz, bzw. Land). Wenn dabei auch die Initiative von den Führern ausging, die durch die Massenbewegung bereits in die Leitungspositionen der örtlichen Räte gebracht worden waren, so war die Schaffung einer überlokalen Räteorganisation doch ebenfalls ein überwiegend spontaner, durch praktische Erfordernisse bedingter Vorgang, der nicht durch Anweisungen zentraler Parteiinstanzen inauguriert wurde, sondern Ausdruck der Selbstorganisation der Massen war. Aus der Art, in der die Räte entstanden, ergeben sich wichtige Rückschlüsse auf die politische Grundströmung, die in der deutschen Arbeiterschaft während dieser Wochen dominierte. Zwei Momente sind vor allem hervorzuheben: a) Die spontane Improvisation von Räten, in denen im allgemeinen die Repräsentanten beider sozialdemokratischer Parteien – in den Leitungspositionen häufig sogar paritätisch – vertreten waren und zusammenarbeiteten, bezeugt das entschiedene Verlangen nach einer Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse (Massenbewegung = Räte = Einheit der Arbeiterklasse). b) Die Konstituierung von Leitungsorganen der Massenbewegung jenseits der bestehenden Partei- und Gewerkschaftsorganisationen war ein Ausdruck der Kritik an den traditionellen sozialistischen Organisationsformen (Trennung Partei/Gewerkschaften; Bürokratisierung und Oligarchisierung des Parteiapparats), z.T. auch an der von den sozialdemokratischen Parteiführungen betriebenen praktischen Politik. Diese
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kritische Einstellung gegenüber den traditionellen sozialistischen Organisationsformen hatte allerdings eine erhebliche Bandbreite: sie reichte von der grundsätzlichen Ablehnung einer Parteiorganisation bei den Syndikalisten bis zu dem Willen, aktiv innerhalb der Organisationen mitzuarbeiten und auf diesem Wege für eine Erneuerung zu wirken. Es darf nicht übersehen werden, daß in den Monaten nach dem Novemberumsturz die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften einen enormen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen hatten – auch diese Entwicklung ist ein Indiz für die außerordentliche politische Aktivierung der Massen in den Monaten nach dem Ausbruch der Revolution: die Massenbewegung drängte auch in die Parteien und Gewerkschaften hinein, man kann daher von einer Massenbewegung innerhalb der Parteien und Gewerkschaften sprechen. Dazu einige Zahlen: Mitgliederentwicklung der SPD/MSPD: März 1914 1,085 Mill., März 1917 0,243 Mill.; März 1918 0,249 Mill.: März 1919 1,012 Mill. – letztere Zahl ohne die Mitgliederzahlen der Bezirke Westpreußen, Posen, Kattowitz und Baden: diese Mitgliederzahl steigt dann bezeichnenderweise bis März 1920 (1,180 Mill.) kaum mehr. Mitgliederentwicklung der USPD: Oktober 1918 ca. 100 000, Januar 1919 über 300 000, danach weiteres starkes Ansteigen. Mitgliederentwicklung der Freien Gewerkschaften: unmittelbar vor der Revolution 1,453 Mill.; Ende 1918 2,866 Mill.; 31.3.1919 4,677 Mill.; Ende 1919 7,338 Mill. Die in der Massenbewegung dieser Phase vorherrschenden politischen Zielvorstellungen sind als überwiegend reformistisch und radikaldemokratisch zu bezeichnen. Zwar erstrebten die linksradikalen Gruppen von vornherein ein möglichst vehementes Weitertreiben der Revolution zur völligen Umgestaltung der staatlichen und sozialen Ordnung, aber sie stellten innerhalb der Gesamtbewegung dieser Wochen nur eine Minderheit dar, wie die Zusammensetzung der örtlichen Räte und dann des I. Rätekongresses deutlich unterstrich: ihr politisches Programm wurde daher nicht das Programm der Gesamtbewegung. Die Mehrheit der Rätemitglieder – und diese sind in dem Zeitraum November/Dezember als die Repräsentanten der Massenbewegung anzusehen – wollte nicht den abrupten und radikalen Bruch mit der bisherigen sozialdemokratischen Politik und allen bestehenden Institutionen, sondern eine zwar entschlossene, aber kontinuierliche Weiterentwicklung: parlamentarische Republik und Frieden, umfassende Reformen im Sinne einer allgemeinen Demokratisierung, Verwirklichung sozialpolitischer Forderungen. Ihr Programm war nicht die sozialistische Revolution, nicht die Diktatur des Proletariats, sondern radikale Reform kraft revolutionären Rechts; nicht Weitertreiben der Revolution, aber Sicherung und entschlossene politische Ausnutzung der errungenen Machtpositionen.
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Der Verlauf der Debatten auf dem 1. Rätekongreß und die auf dem Kongreß gefaßten Beschlüsse spiegeln diese politischen Zielvorstellungen der Massenbewegung: der Kongreß beschloß mit großer Mehrheit, die Wahl zur Nationalversammlung zum frühestmöglichen Termin stattfinden zu lassen, er faßte zugleich aber auch mit großer Mehrheit Beschlüsse über die Demokratisierung des Heeres und die Sozialisierung der hierzu reifen Industrien (Beschlüsse, die allerdings von den sozialdemokratischen Volksbeauftragten nicht ausgeführt wurden). Diesen Zielvorstellungen entsprach eine gemäßigte praktische Arbeit der Exponenten der Massenbewegung in den Räten. Sie postulierten die Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Rechtsstaatlichkeit und übten ihre Tätigkeit überwiegend in diesem Sinne aus, und sie waren auch bereit, bei der Bewältigung der akuten Tagesaufgaben mit den kooperationswilligen Trägern des alten Systems zusammenzuarbeiten. Fast überall begnügten sie sich mit einer Kontrolle der Verwaltung, die in von Ort zu Ort unterschiedlicher Form, unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Intensität ausgeübt wurde. Weder die Bildung der Räte als Vertretungsorgane der Massenbewegung noch die Übernahme von Kompetenzen und Aufgabenbereichen war Ausfluß von Theorie und Planung, dem Vorgehen der durch die Räte repräsentierten Massenbewegung lag keine systematisch konzipierte politische Strategie zugrunde. So ist es zu erklären, daß man nach dem Umsturz weitgehend auf eigene Initiativen verzichtete und stattdessen auf Initiativen der neuen Regierung wartete, von der man glaubte, sie werde das „Programm" der Massenbewegung, nämlich eine entschlossen durchzuführende Reformpolitik kraft revolutionären Rechts, so schnell wie möglich zu verwirklichen beginnen. Durch dieses Zögern ging wertvolle Zeit verloren, die alten Führungsschichten erhielten die Möglichkeit, sich von der Willenslähmung der Umsturztage zu erholen, sie gewannen – z.T. begünstigt durch die ineffektive Kontrollfunktion von Räteorganen – politische und seit Ende Dezember auch militärische Macht zurück. Die Arbeiter- und Soldatenräte verloren während dieses Zeitraums sukzessive jene Machtpositionen, die sie mit dem Novemberumsturz gewonnen hatten, und damit schwand auch die Möglichkeit einer tiefgreifenden und umfassenden inneren Neugestaltung auf der Grundlage einer revolutionären Massenbewegung. Das Spektrum innenpolitischer Gestaltungsmöglichkeiten reduzierte sich in den folgenden Monaten immer mehr. Die Massenbewegung hatte sich in den Arbeiter- und Soldatenräten zwar eine eigenständige Organisation geschaffen, aber es fehlte ihr ein klares strategisches Konzept und eine zentrale politische Führung, um der politischen Entwicklung auf die Dauer ihren Stempel aufdrücken zu können. Sie erhob zwar bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung Anfang
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Februar 1919 stets den Anspruch, Träger der politischen und militärischen Macht zu sein ( – war das vorübergehend auch tatsächlich – ), ordnete sich in der Praxis aber doch dem Führungsanspruch der von ihr eingesetzten Regierungen unter. Statt weiterhin treibende Kraft der Revolution zu sein, begnügte sie sich mehr und mehr mit der Unterstützung oder Kritik der Regierungen, die sich von Anfang an der Kontrolle durch die Massen bzw. die Arbeiter- und Soldatenräte zu entziehen suchten und sich stattdessen auf die Parteiorganisationen und die Bürokratie stützten. Die Massenbewegung verlor die politische Initiative, die Regierungen benutzten die Verbesserung ihrer Machtpositionen bereits nach wenigen Wochen, um Autorität und aktuelle Macht der Räte abzubauen. Bis etwa Mitte Dezember bot die Massenbewegung eine tragfähige Basis für eine entschiedene Reformpolitik, sie war jedoch auf Grund ihrer spontanen Entstehung, der improvisierten Organisationsstruktur und des ungelösten Führungsproblems nicht in der Lage, diese Politik selbständig durchzuführen. Da die Parteiführung der SPD, teilweise aber auch der USPD, nicht gewillt war, die ihr von den Massen zugedachte Führungsrolle auf der Basis der Kooperation mit den Räten zu übernehmen, und da der Massenbewegung andererseits die Radikalität fehlte, um auf die Dauer auch gegen die neuen Regierungen revolutionäre Änderungen durchzusetzen, blieb schließlich der Staatsumsturz vom November der Höhepunkt des Erfolges, statt zum Ausgangspunkt für einen Prozeß wirklich revolutionärer Umwälzungen zu werden. Die Massen hatten, wie R. Hunt kürzlich formulierte, „alles getan, was man von ihnen erwarten konnte": sie hatten sich spontan erhoben, das alte Regime gestürzt, und sie waren bereit, ihre Führer bei der Schaffung einer neuen, genuin demokratischen Ordnung mit vollem Einsatz zu unterstützen. Die Revolution scheiterte am Versagen der politischen Führung.
3) Januar bis Mai 1919 Die Massenbewegung in der ersten Jahreshälfte 1919 unterscheidet sich in Charakter und Zielsetzung wesentlich von der vorangehenden Phase. Die allgemeine politische Situation hatte sich entscheidend verändert: die USPD war aus der Regierung ausgeschieden, die SPD festigte das politische Bündnis mit der alten militärischen Führung und der Bürokratie und begann die im Interfraktionellen Ausschuß des alten Reichstages begonnene und auch in den Wochen nach dem Staatsumsturz nie völlig unterbrochene Zusammenarbeit mit den Liberalen und dem Zentrum wieder zu intensivieren. Die Machtfrage war zunächst entschieden zugunsten der sozialdemokratisch-bürgerlichen „Ordnungskoalition", ge-
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gen die Arbeiter- und Soldatenräte und ebenso gegen alle Versuche der radikalen Linken, die vor allem durch den Spartakusbund und einen Teil der linken USPD repräsentiert wurde, die Revolution weiterzutreiben. Die blutige Niederschlagung der Januarunruhen in Berlin besiegelte die im wesentlichen bereits vorher gefallenen machtpolitischen Entscheidungen. Die Arbeiter- und Soldatenräte der ersten Revolutionswochen waren zumindest vorübergehend im Besitz der Macht gewesen, ohne doch von ihr energischen Gebrauch zu machen; sie waren mehrheitlich gewissermaßen theoretisch und politisch naiv gewesen. Die nun folgende Phase ist gekennzeichnet durch den Verlust der Macht, aber auch den Verlust der Naivität. Seit dem Dezember begann eine Radikalisierung, die nur als Reaktion auf den bisherigen Verlauf der Revolution verstanden werden kann. Erst jetzt fand die Agitation kommunistischer, linkssozialistischer, vereinzelt auch anarchistischer Provenienz ein lebhafteres Echo, da zumindest ein Teil ihrer Thesen durch den Gang der Ereignisse bestätigt worden zu sein schien. Die Unruhen, Streiks und Erhebungen, auch die räterepublikanischen Experimente dieser Monate sind nichts anderes als ein Ausdruck des Protestes gegen den bisherigen Revolutionsverlauf und zugleich der verzweifelte Versuch einer Revision der bereits gefallenen politischen Entscheidungen. Während die Massenbewegung im November und Dezember sich als eine Volksbewegung verstand, die nicht in erster Linie Klasseninteressen wahrnehmen, sondern eine allgemeine Volksrevolution durchführen wollte, trat seit Januar der Klassenkampfgedanke in den Vordergrund der Massenbewegung. Die Sozialisierungsbewegung und die Wendung zur wirtschaftlichen Rätebewegung ist gewiß einerseits Ausdruck der Tatsache, daß die politischmilitärische Machtfrage zunächst entschieden schien, sie spiegelt aber gleichzeitig die erneute Hinwendung zu spezifisch proletarischen Klasseninteressen. Hatte in der ersten Phase der Revolution der Begriff der „Demokratisierung" im Vordergrund gestanden, so wurde nun aus dem Ausbleiben der erwarteten Demokratisierungsmaßnahmen die Notwendigkeit der Sozialisierung als Voraussetzung einer jeden Demokratisierung gefolgert. Mit dem Austritt der USPD-Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten Ende Dezember 1918 änderte sich der Charakter der Massenbewegung auch insofern, als der Polarisierungsprozeß zwischen den beiden sozialdemokratischen Parteien nicht ohne Auswirkung auf die – bis dahin trotz aller Spannungen noch relativ geschlossen auftretende – Massenbewegung blieb. Wie stark allerdings auch noch zu diesem Zeitpunkt in der Arbeiterschaft der Wille war, die Einheit der Arbeiterklasse zu bewahren, trat während des Januaraufstandes und unmittelbar danach
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deutlich in Erscheinung. In den Resolutionen der Belegschaften zahlreicher Berliner Großbetriebe (mit insgesamt mehreren hunderttausend Arbeitern) tauchte immer wieder die Formel auf, die Massen müßten sich ,,über die Köpfe der Führer hinweg" einigen. Diese Formel brachte im Augenblick der Krise noch einmal klar die tragende Grundströmung der Massenbewegung vom November/Dezember zum Ausdruck: das Verlangen nach Geschlossenheit und solidarischer Aktion der sozialistischen Arbeiterschaft. In den Arbeiter- und Soldatenräten war eine solche Aktionseinheit realisiert, und sie schienen zugleich den Ansatz zur Überwindung der Spaltung des organisierten Proletariats zu bieten. Seit dem Jahresbeginn 1919 änderte sich diese Situation jedoch entscheidend: während die radikalen Kräfte sich in der Massenbewegung jetzt immer stärker durchsetzen und diese zum Instrument ihrer politischen Zielsetzungen und Aktivitäten machen konnten, zogen sich die Anhänger der Mehrheitssozialdemokratie und viele Gewerkschaftsanhänger mehr und mehr aus der Massenbewegung zurück. Auch den Massenaktionen des Frühjahrs 1919 fehlt nicht das Element der Spontaneität, aber die politischen und auch parteipolitischen Bindungen wurden zunehmend eindeutiger. Die Massenbewegungen konnten zwar weder von der rasch anwachsenden USPD noch von der zahlenmäßig schwachen und organisatorisch ungefestigten KPD völlig instrumentalisiert werden, aber sie wurden doch immer stärker zur Parteisache. Selbst da, wo die positiven Bindungen zur USPD oder anderen Parteien bzw. Gruppen schwach waren, war doch die Frontstellung gegen die SPD bzw. die von der SPD geführten Regierungen eindeutig. Was die Bewegung an Radikalität, zum Teil auch an revolutionärer Dynamik gewann, verlor sie an Breite. Auch die Massenbewegung dieses Zeitraums verstand sich überwiegend als Rätebewegung. Diese Rätebewegung hatte jedoch, ungeachtet einer teilweisen personellen Kontinuität, mit der Bewegung der Arbeiter- und Soldatenräte fast nur noch den Namen gemein. Es waren nicht nur die Soldaten mit der Demobilmachung aus der Bewegung ausgeschieden, auch der Charakter der Rätebewegung hatte sich geändert. Die Arbeiter- und Soldatenräte hatten den größten Teil ihrer Macht und ihrer Funktionen verloren, die Frage der wirtschaftlichen Räte bzw. der Betriebsräte als Vorbereitung und Mittel einer Sozialisierung trat stattdessen immer mehr in den Vordergrund. Während die Arbeiter- und Soldatenräte ohne eigentliche theoretische Vorbereitung entstanden waren und erst durch ihre Existenz die Ausarbeitung rätetheoretischer Ideen provoziert hatten, begann sich das Verhältnis von Theorie und Praxis nun eher umzukehren: die Ausbildung einer systematischen Rätetheorie wurde zu
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einer wesentlichen Voraussetzung und zum Motor der neuen Rätebewegung. In dieser Phase begann die Räteidee zur einigenden Vorstellung der teils oppositionellen, teils revolutionären Massen zu werden. Von linken SPD-Führern wurde das Modell einer wirtschaftlichen Räteverfassung neben bzw. in einer parlamentarischen Gesamtverfassung ausgearbeitet: eine Kammer der Arbeit sollte neben das Parlament treten. Die Kommunisten vertraten ebenfalls die Räte-Forderung, aber stets mehr im Rahmen strategischer Konzepte zur Mobilisierung und Revolutionierung der Massen als im Hinblick auf eine Räteverfassung: sie interessierte weniger die systematische Theorie als die mögliche Instrumentalisierung der Räte im revolutionären Klassenkampf. Der Kern der Räteideologen und auch ihrer Gefolgschaft war in der USPD und vornehmlich auf deren linkem Flügel zu suchen. Der Kreis um Däumig und die Zeitschrift „Der Arbeiterrat" verfocht mit Entschiedenheit die sogenannte reine Rätetheorie, die eine Absage nicht nur an das Parlament, sondern auch an die Parteien und Gewerkschaften bedeutete. Diese Rätetheorie verstand sich als die Theorie einer revolutionären proletarischen Massenbewegung und zugleich als Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft. Sie ist als die eigentliche theoretische Leistung der Massenbewegung in Deutschland zwischen 1917 und 1920 anzusehen, indem hier versucht wurde, das Problem der Revolution und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft grundlegend neu zu durchdenken. Angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland ist sie zunächst Episode geblieben, ohne unmittelbare praktisch-politische Folgen und ohne direkten Einfluß auf die Entwicklung sozialistischer Theorie. Erst in den letzten Jahren hat sich unter dem Einfluß der Studentenbewegung ein erneutes Interesse an diesen Theorien gezeigt, eine eigentliche wissenschaftliche und politische Aufarbeitung steht jedoch noch immer aus. Auch die Aktionsformen der Massenbewegung änderten sich seit Anfang 1919. Es kam zu militanten Auseinandersetzungen im Zusammenhang der Sozialisierungsbewegungen im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland, der durchweg kurzlebigen Räterepubliken und umfassender Streikaktionen. Das durchgehende negative Charakteristikum dieses Zeitraums ist die systematische militärische Zerschlagung der Massenbewegung, die ihren Anfang mit dem sogenannten „Spartakusaufstand" nahm, dem dann rasch die militärischen Aktionen gegen Bremen usw. folgten, und die schließlich mit der blutigen Niederwerfung der Münchener Räterepublik Anfang Mai endete. Zu keiner Zeit hatten die revolutionären Massen während dieser Zeit die Chance eines dauerhaften Erfolges: die Aktionen blieben weiterhin spontan, unkoordiniert und ohne jede zentrale Führung. Andererseits waren sie aber stark genug, um
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ernste politische Krisen auszulösen und die Regierung bzw. die Nationalversammlung in der Frage der Sozialisierung und der Räte wenigstens zu formalen Zugeständnissen und Versprechungen zu zwingen. Erfolge erzielte die Massenbewegung auch an den Wahlurnen, wenn man die seit der Wahl zur Nationalversammlung erkennbare rasche und stetige Zunahme der Stimmen der USPD als Ausdruck der Massenbewegung interpretiert. Insbesondere bei den Kommunalwahlen gelang es der USPD in zahlreichen Städten (darunter Berlin und München) nicht nur, die SPD zu überflügeln, sondern stärkste Partei zu werden. Wenn man sich erinnert, daß Eisner, der als einer der wenigen wirklichen Massenführer der Revolutionszeit angesehen werden muß, Anfang Januar nur 2,5 % für die USPD in Bayern erzielen konnte, dann ist es zweifellos überraschend, daß wenige Wochen nach der Niederwerfung der Räterepublik die USPD bereits die stärkste Fraktion im Münchener Rathaus stellen konnte. Angesichts der unausgetragenen Spannungen innerhalb der USPD, des riesigen Mitgliederzuwachses und des Fehlens einer straffen Organisation muß die USPD selber mehr als eine Erscheinungsform der Massenbewegung denn als politische Partei im üblichen Sinne betrachtet werden. Die KPD war, gemessen an ihren personellen Mitteln, äußerst aktiv im Rahmen der Massenbewegung, übte aber zu keinem Zeitpunkt einen entscheidenden Einfluß aus. Syndikalisten und Unionisten begannen regionale Schwerpunkte, besonders an der Ruhr, auszubilden, so daß sie in bestimmten Gebieten durchaus als Repräsentanten der Massenbewegung anzusehen sind, obwohl ihr statistischer Anteil an der Bewegung und ihr politischer Einfluß nur sehr begrenzt waren. Schließlich ist das explosive Anwachsen der Freien Gewerkschaften nicht zu vergessen: auch dieses ist zweifellos ein Element der Massenbewegung, und es überrascht nicht, daß die oppositionellen Kräfte in den Gewerkschaften im Sommer 1919 etwa ein Drittel bis die Hälfte der Mitglieder auf ihrer Seite hatten.
4) Sommer 1919 bis Frühjahr 1920 Mit dem Frühsommer 1919 begann ein deutlicher Rückgang der Massenaktionen, insbesondere aller direkten politischen Umsturzversuche, nachdem der Ausgang der Frühjahrskämpfe und schließlich der Münchener Räterepublik unmißverständlich gezeigt hatte, daß unter den gegebenen Umständen eine erfolgreiche „zweite" Revolution nicht im Bereich des Möglichen lag. Die politischen Arbeiterräte waren – soweit sie überhaupt noch bestanden – bedeutungslos, sie wurden im allgemeinen spätestens im Herbst des Jahres aufgelöst. Die aktuellen politischen
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Auseinandersetzungen in der Rätefrage galten dem möglichen Ausbau eines wirtschaftlichen Rätesystems und der Vorbereitung eines Betriebsrätegesetzes (nachdem die Räte auf Grund des von der Massenbewegung erzeugten politischen Drucks in der Verfassung „verankert" worden waren): während vor allem von den USPD-Mitgliedern die Betriebsräte als Teil eines umfassenderen wirtschaftlichen Rätesystems und zugleich als Vorstufe und Organ einer Sozialisierung verstanden wurden, wollten SPD- und Gewerkschaftsführungen mit der gesetzlichen Regelung des Betriebsrätewesens gerade nicht einen Prozeß der permanenten Revolutionierung der Wirtschaftsverfassung auslösen, sondern vielmehr die in der Massenbewegung vorhandenen revolutionären Energien als Reformkräfte in die bestehende Wirtschaftsordnung integrieren – was u.a. auch bedeutete, daß die Betriebsräteorganisationen nicht selbständig neben den Gewerkschaften stehen, sondern diese nur ergänzen sollten. Eine Kette von wirtschaftlichen Streiks, darunter nun auch Eisenbahnerstreiks und Landarbeiterstreiks und vor allem der große Berliner Metallarbeiterstreik im Spätherbst des Jahres, machten deutlich, daß trotz einer gewissen politischen Resignation die Massenbewegung keineswegs tot war. An die Stelle demonstrativer Massenaktionen traten nun die Arbeitskämpfe einerseits und die fraktionellen Auseinandersetzungen innerhalb der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen andererseits. In einer Phase relativer Ruhe begann ein politischer Klärungs- und Differenzierungsprozeß, der die Gewerkschaften – im Oktober erlangte im Metallarbeiterverband, der wichtigsten Einzelorganisation, die bisherige Opposition die Mehrheit – , aber auch die USPD und die KPD und selbst Syndikalisten und Unionisten erfaßte und Abspaltungen ebenso wie vorübergehende Zusammenschlüsse zur Folge hatte. Die Gesamttendenz innerhalb der Arbeiterschaft ging in diesem Zeitraum immer noch nach links, wie sich an der Entwicklung der USPD und auch der Gewerkschaften aufzeigen läßt. Zu einer gewissen Reaktivierung der Massenbewegung kam es dann im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes, bei dessen Erarbeitung sich die gewerkschaftlichen Vorstellungen gegen die Konzepte der linken Rätetheoretiker durchgesetzt hatten. Zahlreiche Protestaktionen um die Jahreswende 1919/20 gipfelten schließlich im Januar 1920 in einer Massendemonstration vor dem Reichstag, bei der 42 Demonstranten getötet wurden. Der Generalstreik zur Niederschlagung des Kapp-Putsches Mitte März 1920 wurde schließlich zum vorläufigen Schlußpunkt – und in seinem Umfang auch zum Höhepunkt – der Massenbewegungen am Ende des Ersten Weltkrieges. Der Aufruf zur Arbeitsniederlegung wurde spontan und nahezu vollzählig befolgt: am 15. März streikten über 12
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Millionen Arbeiter und Angestellte. Im Unterschied zu fast allen vorhergehenden Aktionen befanden sich die Streikenden in Übereinstimmung mit ihren Partei- und Gewerkschaftsführungen: von der SPD-Führung bis hin zur KPD, die allerdings zunächst einen Tag lang gezögert hatte, war von allen Führungsgremien der Arbeiterbewegung zum Streik aufgerufen worden. Zum ersten Mal seit den Novembertagen des Jahres 1918 bildete sich wieder eine Aktionseinheit der Arbeiterklasse, die eindrucksvoll vor Augen führte, wie groß die Macht des organisierten Proletariats war, wenn es sich zur gemeinsamen Aktion zusammenschloß. Allerdings waren die Gegensätze nicht verschwunden. Obwohl an vielen Orten spontan gemeinsame Ausschüsse und Streikkomitees, teilweise auch Arbeiterräte und Vollzugsräte gebildet wurden, konnte man sich hinsichtlich der zentralen Streikleitung nicht einigen, so daß zwei Streikleitungen nebeneinander bestanden: Freie Gewerkschaften, Angestelltengewerkschaft und SPD einerseits, USPD, KPD, Revolutionäre Betriebsräte und die Berliner Gewerkschaftskommission andererseits. Die unterschiedlichen Zielsetzungen und Interessen traten sofort hervor, als das unmittelbare Ziel des Generalstreiks, die Niederwerfung des Putsches, binnen weniger Tage erreicht worden war. Während die SPDFührung den Streik sofort abbrechen wollte, waren die Streikleitungen, für die sich die Gewerkschaftsführung zunächst zum Sprecher machte, nicht dazu bereit, ehe nicht Garantien für eine politische Neuordnung gegeben seien, die die Wiederholung eines konterrevolutionären Putsches unmöglich machen würden. Die politischen Forderungen, von deren Erfüllung eine Beendigung des Generalstreiks abhängig gemacht wurde, waren: Entlassung der unmittelbar verantwortlichen Minister (vor allem Noske), Entlassung und Bestrafung der aufrührerischen Truppen, demokratische Neuorganisation des Heeres, Reinigung der Verwaltung und der Betriebe von reaktionären Kräften, Demokratisierung der Verwaltung, Sozialisierungsmaßnahmen, Verbesserung der Sozialgesetzgebung, Enteignung des Großgrundbesitzes, Aufbau eines Sicherheitsdienstes aus den Reihen der organisierten Arbeiterschaft. Das war in wesentlichen Punkten das Programm der Arbeiter- und Soldatenräte zu Beginn der Revolution gewesen – es wurde jetzt jedoch von der Gewerkschaftsführung aufgestellt, die es anderthalb Jahre zuvor bekämpft hatte. Das mag u.a. auch taktische Gründe gehabt haben, es spiegelte aber doch ganz deutlich die Einsicht, daß die politische und die soziale Basis der Weimarer Demokratie zu schwach war und dringend einer Erweiterung bedurfte. Die Aktionseinheit der Arbeiterklasse im Generalstreik schien nun die Chance einer Revision der Fehlentschei-
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dungen und Fehlentwicklungen, die Möglichkeit eines zweiten Anfangs zu bieten. Aber auch diese Chance wurde vertan, die Niederringung des KappPutsches wurde nicht zum Beginn einer demokratischen Erneuerung, sondern zum Anlaß einer weiteren blutigen Niederwerfung sozialistischer Massenbewegungen durch das Militär, zum Teil sogar durch eben dieselben Truppen, die den Putsch durchgeführt bzw. unterstützt hatten. Ein Versuch des Gewerkschaftsvorsitzenden Legien, die Bildung einer reinen Arbeiterregierung, die sich auf SPD, USPD und die Gewerkschaften gestützt hätte, durchzusetzen, scheiterte am hinhaltenden Taktieren der SPD und der Intransigenz des linken Flügels der USPD, obwohl die KPD sogar für den Fall einer solchen Regierungsbildung eine loyale Opposition zugesagt hatte. In den Verhandlungen über die inhaltlichen Forderungen der Streikenden kam es zu weitgehenden – allerdings, wie sich bald zeigte, kaum verbindlichen – Zusicherungen der Regierung (darunter u.a. die Zusage, daß bewaffnete Arbeiter, besonders im Ruhrgebiet, nicht angegriffen würden), so daß daraufhin von den Streikleitungen die Beendigung des Generalstreiks empfohlen wurde. In einigen Gebieten war die Bewegung jedoch nicht mehr in der Hand der Gewerkschaftsführung oder der USPD-Führung. Vor allem im Ruhrgebiet hatte die Streikbewegung sich unter dem Einfluß radikaler, vorwiegend kommunistischer Führer teilweise zu einer revolutionären Aufstandsbewegung entwickelt. Es war gelungen, eine Rote Armee von mindestens 50 000 Mann zu bewaffnen und damit die bis dahin größte revolutionäre militärische Macht (wenn man einmal von den, teilweise ja sehr gemäßigten, Soldatenräten von 1918 absieht) zu schaffen. Sie beherrschte in der Tat das Ruhrgebiet militärisch, bis sie schließlich Anfang April in einer Reihe von militärischen Auseinandersetzungen von Reichswehrtruppen blutig niedergeworfen wurde. Die Aufstandsbewegung war isoliert geblieben, die zunächst zu erwartende Unterstützung der Gewerkschaften, zumindest in der Abwehr der Reichswehrtruppen, war ausgeblieben, die entschieden revolutionären Kräfte waren zu schwach, während auf der anderen Seite die SPD-Führung bzw. die von der SPD geführte Regierung nicht zögerte, jeder weiteren Radikalisierung militärisch entgegen zu treten, nachdem inzwischen bei der Regierungsbildung die Entscheidung für eine weitere Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien und damit für eine nur wenig modifizierte Fortsetzung der bisherigen Politik gefallen war. Die Massen hatten mit dem Generalstreik eine eindrucksvolle Demonstration ihrer potentiellen Stärke gegeben, aber sie hatten schließlich doch nur einen Pyrrhus-Sieg errungen. Stattdessen setzte das Nachspiel zum Generalstreik, die Niederwerfung der Aufstandsbewegungen den
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vorläufigen Schlußpunkt unter die Massenbewegungen der letzten Jahre, die die politischen Auseinandersetzungen geprägt hatten, in den entscheidenden Augenblicken aber doch stets unterlegen waren. Im Frühjahr 1920 ging die letzte wirklich große Chance verloren – in der Folgezeit begannen Parteien und Gewerkschaften wieder eindeutiger das Feld zu beherrschen. Die USPD, als Partei der getreueste Spiegel der Massenbewegung in allen ihren Stärken und Schwächen, zerbrach noch im gleichen Jahr.
IV. Schlußbemerkungen Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland zwischen 1917 und 1920 sind aufs ganze gesehen gescheitert: es ist ihnen nicht gelungen, ihre wesentlichen Zielvorstellungen zu verwirklichen. Gewiß, es gab Erfolge – den Staatsumsturz im November 1918 und die Abwehr des Kapp-Putsches 1920, dazu manche lohn- und sozialpolitischen Verbesserungen – , aber es gelang nicht, jene soziale Republik in Deutschland zu schaffen und solide zu verankern, die von einem Teil der Massenbewegung als Ziel, von einem andern Teil wenigstens als Vorstufe zu einer sozialistischen Gesellschaft betrachtet wurde. Fragt man zusammenfassend nach den Ursachen dieses Scheiterns, so ist zunächst auf die mangelnde theoretische und politische Vorbereitung zu verweisen. Eine spontane Massenbewegung, deren Kern zweifellos aus der organisierten Arbeiterbewegung stammte, konnte sich weder auf ein strategisches Konzept, noch auf eine allgemeine Revolutionstheorie stützen, die der neuen Situation angemessen gewesen wäre. Das Organisationsproblem schien zwar im ersten Anlauf durch die Bildung der Räte gelöst, es gelang dann aber nicht, die Organisation der Massenbewegung so auszubauen, daß sie im Vergleich zu Parteien und Gewerkschaften, aber auch dem staatlichen Apparat, im Machtkampf ernstlich konkurrenzfähig geworden wäre. Damit blieb auch das Problem der zentralen politischen Führung ungelöst, die zweifellos vorhandenen revolutionären Energien verpufften angesichts des Mangels an Koordination und Führung. Die Massenbewegungen gerieten entweder ins Schlepptau der alten Organisationen bzw. der neuen Regierungen, oder aber sie verharrten in einer rein reaktiven Politik – fähig zur Kritik, zum Protest, ja selbst zum Sturz einer Regierung, aber kaum zur selbständigen konstruktiven Politik.
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Eine Voraussetzung für bleibende Erfolge der Massenbewegung wäre daher offensichtlich die Kooperation mit einer der bestehenden politischen Organisationen gewesen. In ihrer politischen Überzeugung stand im November/Dezember 1918 die Mehrheit der SPD, eine starke Minderheit der USPD nahe, während die KPD bzw. Spartakus nur in einigen Städten und Regionen eine größere Anhängerschaft hatte. Im Laufe des Jahres 1919 sympathisierte dann die große Mehrheit der inzwischen zahlenmäßig geschrumpften Bewegung mit der USPD. Im Frühjahr 1920 schließlich waren wieder alle Richtungen im Generalstreik vereinigt, und selbst in der Roten Armee waren außer Kommunisten und Unabhängigen auch SPD-Mitglieder zu finden. In der ersten Phase der Revolution hätte also die SPD/USPD-Koalition die politische Führungsrolle für die Massenbewegung übernehmen müssen – doch die SPD versagte sich dieser Aufgabe, und die USPD-Führung war ihr nicht gewachsen. Auch späterhin blieb die USPD als Partei viel zu sehr mit ihren inneren Problemen beschäftigt, um eine solche Führungsrolle übernehmen zu können. Die KPD verfügte im Laufe des Jahres 1919 noch weniger als während der ersten Revolutionsmonate über eine ausreichende Basis in der Bewegung, um die von ihr durchaus angestrebte Führungsrolle spielen zu können, Nicht an der mangelnden Bereitschaft der Massen, sondern am Führungsproblem ist schließlich auch die Massenaktion vom März 1920 gescheitert: 12 Millionen Arbeiter und Angestellte streikten, aber es gelang den Führungsgruppen nicht, diese gewaltige politische Energie effektiv für eine politische Neugestaltung in Deutschland einzusetzen. Eine Analyse der Massenbewegung zwischen 1917 und 1920 führt somit zu dem Ergebnis, daß – abgesehen von allen objektiven Schwierigkeiten, die sich aus der militärischen Niederlage, der Versorgungslage usw. ergaben – für eine sofortige sozialistische Revolution der sogenannte subjektive Faktor fehlte. Die ganz überwiegende Mehrheit der Massenbewegung war verfassungspolitisch zunächst auf das parlamentarische System fixiert und glaubte an die Möglichkeit von Reformen und die Vermeidbarkeit einer Revolution im Sinne der Diktatur des Proletariats. Erst im Verlauf der Entwicklung 1918/19 und als deren Ergebnis setzte innerhalb der Massenbewegung ein Radikalisierungs- und Lernprozeß ein, der die subjektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution verbesserte, jedoch nur im gleichen Tempo, in dem die objektiven Voraussetzungen sich durch das Wiedererstarken restaurativer und reaktionärer Kräfte, insbesondere des Militärs, verschlechterten. Verantwortlich für das Scheitern der Massenbewegung und damit für das Steckenbleiben der Revolution 1918/19 sind zweifellos in erster Linie die SPD-Führung und die USPD-Führung. Es muß jedoch hervor-
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gehoben werden, daß auch die KPD nicht unwesentlich zu diesem Scheitern beigetragen hat – nicht dadurch, daß sie die Massen zu radikalisieren versuchte, sondern dadurch, daß sie alle ihre Bemühungen darauf konzentrierte, die Regierung der Volksbeauftragten zu stürzen, ohne zu erkennen, daß eine Schwächung dieser Regierung zu diesem Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen nicht der sozialistischen Revolution, sondern den bereits wieder erstarkenden Kräften der Reaktion zugute kommen mußte. Darüber hinaus trifft die KPD-Führer ein gut Teil der Verantwortung dafür, daß die Massenbewegung in militärische Auseinandersetzungen geriet, die angesichts der gegebenen Machtverhältnisse nur mit einer Niederlage enden konnten. Eine mit politischem Instinkt und Sinn für politische Realitäten vorgenommene Analyse der Situation hätte 1918/19 auch die radikale Linke zu dem Schluß führen müssen, daß in diesem historischen Augenblick jede gegen die Machtpositionen und das Wiedererstarken der reaktionären Kräfte gerichtete Politik zunächst und vor allem darauf abzuzielen hatte, die demokratische Revolution zum Erfolg zu führen und gegen alle konterrevolutionären Gefahren zu sichern. Anmerkungen 1
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Der vorliegende Beitrag hat der VII. Linzer Konferenz (Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung) vorgelegen; das Hauptthema dieser Konferenz, die vom 14. bis 18. September 1971 stattfand, lautete „Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft am Ende des Ersten Weltkrieges“. Der Text ist für den Druck nur leicht überarbeitet worden; auf die Hinzufügung von Anmerkungen und Literaturhinweisen glaubten wir verzichten zu müssen, um nicht den Charakter der Ausarbeitung als eines einführenden Diskussionsbeitrages zu verfälschen. Zur Diskussion vgl. die Tagungsberichte von H. Biegert/J. Bergmann, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung Nr. 14, Dez. 1971, S. 97-104, und Susanne Miller, in: Die Zukunft 23/24, Dez. 1971, S. 27-29. Eine Orientierung über den gegenwärtigen Forschungsstand nebst reichhaltiger Bibliographie bietet der im Druck befindliche Band: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, hg. von E. Kolb (in der Reihe: Neue Wissenschaftliche Bibliothek), Köln 1972. Inzwischen liegt das Manuskript der auf der Grundlage außergewöhnlich umfangreicher Quellenstudien erarbeiteten Berliner Dissertation von Ulrich Kluge vor: Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19 (1971).
Aus: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München u. Zürich 1992. S. 146-67. © Piper Verlag GmbH, München
Wilhelm Deist
Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918? In den frühen Morgenstunden des 21. März 1918 eröffnete die deutsche Artillerie mit 6600 Geschützen auf einer Frontbreite von ca. 80 km – zwischen Arras und La Fére – das Feuer auf die Stellungen der dort kämpfenden britischen Armeen. Mit dieser genau geplanten, sich bis zum Trommelfeuer steigernden, stundenlangen artilleristischen Vorbereitung begann die mit hohen Erwartungen verbundene »Michael«"Offensive. Ihr Ziel sollte es sein, vor dem Aufmarsch der amerikanischen Armee in Westeuropa gegenüber den alliierten Armeen in Frankreich und Belgien den entscheidenden militärischen Sieg zu erringen. Die deutsche Planung lief darauf hinaus, sich vor allem gegen die britischen Streitkräfte zu wenden, sie von den französischen zu trennen und ihnen schwere Niederlagen beizubringen, weil man annahm, »daß England wohl eher dem Frieden geneigt« sein würde.1 Es war die 3. Oberste Heeresleitung, d. h. die Dioskuren Hindenburg und Ludendorff, die für das strategische und operative Kalkül, das der Offensive zugrunde lag, verantwortlich war. In der Situation des Reiches und seiner Verbündeten an der Jahreswende 1917/18 war jede strategische Entscheidung mit hohen Risiken verbunden. Die Lage der Mittelmächte war gekennzeichnet durch die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der alliierten Blockade, durch die abzusehende Erschöpfung der personellen und materiellen Ressourcen, und auch durch die zwar ungewissen, daher aber um so größeren Erwartungen, die sich auf den bevorstehenden Friedensschluß im Osten und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten richteten.2 Das Risiko bestand demnach vor allem darin, daß die OHL mit ihrer Entscheidung über nicht mehr regenerierbare Ressourcen disponierte. Es charakterisiert die Stellung der 3. OHL im Herrschaftsgefüge des Kaiserreiches, daß ihre Entscheidung, das verfügbare Potential strategisch offensiv einzusetzen, in den militärische und politische Verantwortung tragenden Kreisen nie ernsthaft und kritisch beraten worden ist. Das von außen an die OHL herangetragene Projekt einer politischen Offensive als Alternative, das
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allerdings das Kriegsziel Belgien zur Disposition stellte, hatte keine Chance, denn die OHL setzte ausschließlich auf den militärischen Sieg.3 Nach dem Urteil eines kompetenten Kritikers wurde das militärische Kalkül »von der rational nicht begründeten Vorstellung, daß eine siegreiche Entscheidung herbeigeführt« werden könne, völlig überlagert.4 Ein weiteres Risiko der Entscheidung für eine offensive Kriegführung war die Schwächung der Nebenfronten im Osten, Südosten und Süden des Reiches. Allein 33 Divisionen wurden zwischen November 1917 und März 1918 aus diesen Gebieten abgezogen. Auf diese Weise konnte zwar die personelle Überlegenheit der Alliierten an der Westfront ausgeglichen werden, aber die materielle Unterlegenheit, z. B. hinsichtlich der Zahl der Flugzeuge, der Geschütze und vor allem der Tanks, blieb bestehen.5 Dem suchte die OHL dadurch zu begegnen, daß sie das verfügbare Angriffspotential in dem für die Offensive ausgewählten Raum konzentrierte, nicht nur durch die Massierung der Artillerie, sondern auch durch die Verwendung besonders ausgebildeter und besser ausgestatteter sogenannter »Mob.-Divisionen«. Trotz aller Anstrengungen gelang es aber nicht, auch nur diese »Mob.-Divisionen« mit einer ausreichenden Anzahl von Pferden auszustatten, während die Alliierten über eine enorme Zahl (100000) gummibereifter Lastkraftwagen verfügten.6 Aus diesen Hinweisen läßt sich die Größe des militärischen Risikos ablesen, das die OHL mit der Offensive auf sich nahm. Als in den Morgenstunden des 21. März die Truppen der 17., 2. und 18. Armee, ihre Stärke belief sich auf insgesamt 1386177 Mann7, zum Angriff antraten, herrschte in den Regimentern eine zuversichtliche Stimmung. Das war erstaunlich nach den zermürbenden Erfahrungen eines 31/2jährigen, mit aller zerstörerischen Gewalt geführten Stellungskrieges! Manche Beobachter fühlten sich an die Augusttage des Jahres 1914 erinnert.8 Das war um so bemerkenswerter, als die Armee zumindest seit den Materialschlachten des Jahres 1916 sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozeß befand, der bereits zu gefährlichen Bruchlinien in der ursprünglichen, so fest und klar umrissenen Struktur geführt hatte und in den später sogenannten »Mißständen« seinen Ausdruck fand.9 Der Gedanke an die Offensive, die Erlösung aus dem abstumpfenden und tödlichen Alltag des Stellungskrieges, schien den nagenden Groll über diese »Mißstände«, d.h. über Ungerechtigkeiten aller Art, zu überdecken. Die dem einzelnen Soldaten und der Gruppe bewußt werdende und erkennbare systematische Vorbereitung der Offensive durch die höheren Stäbe, der mit größter Präzision erfolgende Aufmarsch insbesondere auch der Artillerie in den Nächten vor dem 21. März vermittelte Zuversicht und Optimismus. Über allem aber stand die motivierende Kraft der Vorstellung, daß mit dieser letzten Anstrengung
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II. Neue Militärgeschichte
endlich und endgültig ein Ende des Krieges, der Frieden herbeigezwungen werden könne. Das »Ziel heißt: Frieden«! So brachte es ein 20jähriger Offizieranwärter auf eine kurze Formel.10 In dieser generellen Zielsetzung bestand Übereinstimmung zwischen der militärischen Führung und den Geführten. Doch diese Übereinstimmung verkehrte sich in ihr Gegenteil, sobald es um die nähere, konkrete Bestimmung dessen ging, was mit dem allgemeinen Begriff verbunden wurde.11 In dem Märztagen allerdings spielte dieses Problem für die Soldaten der Front keine Rolle, auf das Gelingen der Offensive richteten sich alle Hoffnungen. Bei dieser ausgeprägten Erwartungshaltung mußte natürlich der schließliche Mißerfolg der »Michael«- und aller weiteren Offensiven bis in den Juli 1918 hinein einen Stimmungseinbruch hervorrufen, der von Enttäuschung, Fatalismus und Verzweiflung gekennzeichnet war. Nachdem am 27. März bei einem Regiment der Befehl eingetroffen war, aufgrund des sich versteifenden Widerstandes des Gegners und der Erschöpfung der eigenen Angriffskraft mit dem stellungsmäßigen Ausbau der erreichten Linie sofort zu beginnen, heißt es in der entsprechenden Regimentsgeschichte12: »Wie ein Alpdruck wirken alle diese Anordnungen auf Offz. und Mann. Wieder Stellungskrieg?« Es ist die These dieses Beitrages, daß von diesem Zeitpunkt an die sich mit unterschiedlicher Stärke verbreitende Hoffnungslosigkeit der Soldaten an den Angriffsfronten sich zu einem verdeckten Militärstreik ausweitete – ein Vorgang, der sich über Monate hinzog. Dieser verdeckte Militärstreik kam in sehr unterschiedlichen Verhaltensformen der Soldaten zum Ausdruck, war in keiner Weise gesteuert oder organisiert und erfaßte natürlich nur einen Teil, allerdings einen erheblichen Teil des Westheeres. Die Verschlechterung, die Aussichtslosigkeit der militärischen Lage und ihre Konsequenzen für den Soldaten ließen zugleich auch die alten »Mißstände« zu einem Faktor der Verweigerung werden.13 Will man sich die Situation des Soldaten an der Front vergegenwärtigen, so ist zunächst ein Blick auf die Verluste angezeigt, die diese knapp acht Monate auf deutscher Seite forderten. Zunächst ein Blick auf die Verluste der an der »Michael«-Offensive beteiligten Armeen in den Tagen zwischen dem 2LMärz und dem 10. April.14
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Ist-Stärke 21.3.1913 17. Armee 478255 2. Armee 405353 18. Armee 502589
Gefallene + Vermißte 1 19992 17517 20355
Verwun dete 2 61101 56233 64360
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Erkrankte
Summe
3 21028 18844 24320
1-3 102121 92594 109038
Zum Vergleich: Die Armeen mit den höchsten Verlusten in der Anfangsphase des Krieges – zwischen dem 21. August und dem 10.September 1914 – waren die 5. und 6. Armee.15 Ist-Stärke 21.8.1914 440252
Gefallene + Vermißte 1 23403
Verwun dete 2 40831
Erkrankte
Summe
3 26831
1-3 91065
Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, daß von den Verwundeten und Erkrankten ein Teil nach relativ kurzer Zeit wieder dienstfähig zur Truppe zurücktrat16; dennoch vermitteln sie einen Eindruck von der erschreckenden Höhe der Verluste in einem Zeitraum von nur 21 Tagen. Die Verluste trafen natürlich vor allem die »Mob.-Divisionen«, in denen sich die Angriffskraft der Armee konzentrierte. Immer wieder wird in den Berichten die Höhe der Offizierverluste hervorgehoben17, die proportional über denen der Mannschaften lagen und wiederum in erster Linie bei den »Mob.-Divisionen« zu verzeichnen waren. Betroffen waren vor allem die Bataillons-, Kompanie- und Zugführer, d. h. jene Gruppe des Offizierkorps, auf die nach allgemeinem Urteil die für die Kohäsion der Truppe entscheidende moralische Autorität übergegangen war.18 Die Dimension der Verluste wird aber erst dann deutlich, wenn man sie über den Zeitraum vom 21. März bis zum 11. November verfolgt. Bis zum 31. Juli liegen die exakten Zahlen des Sanitätsberichts für den »westlichen Kriegsschauplatz« vor.19
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IstStärke 1 Februar 3762717 März 3882655 April 3795581 Mai 4004476 Juni 3842433 Juli 3582203
II. Neue Militärgeschichte
Ge fallene 2 1705 31429 36218 16626 20372 20269
Ver miBte 3 1147 19680 17734 6816 13362 42776
Ver wundete 4 30381 180898 190380 115132 129614 132054
Er krankte 5 213221 245047 253729 268490 354457 637308
Summe Gesamtausfall 4+5 243602 37703 425945 235544 444109 257176 383622 114504 484071 209435 769362 160896
Generalleutnant a. D. v. Kühl hat vor dem Untersuchungsauschuß des Deutschen Reichstages für die Zeit vom 18. Juli bis zum 11. November 1918 die Zahl der Toten und Verwundeten mit 420000, die der Gefangenen und Vermißten mit 340000 angegeben.20 Doch ohne Berücksichtigung der Erkrankten vermitteln diese Zahlen kein zutreffendes Bild. Legt man die durchschnittlichen Monatsverlustzahlen des Kriegsjahres 1917/18 für den westlichen Kriegsschauplatz zugrunde21, so ergibt sich für die knapp 31/2 Monate folgendes Bild: IstStärke 1
Ge fallene 2 53025
Ver mißte 3 51142
Ver wundete 4 334330
Er Summe krankte 5 4+5 948462 1282792
Legt man dagegen die für August vom Sanitätsbericht mitgeteilten Zahlen zugrunde22, so verschiebt sich das Bild noch einmal nicht unerheblich: IstStärke 1
Ge fallene 2 61292
Ver mißte 3 326130
Ver wundete 4 386631
Er Summe krankte 5 4+5 986895 1373026
Auch das höhere, von den August-Zahlen ausgehende Ergebnis für die Schlußphase des Krieges dürfte noch unter den tatsächlichen Verlustzahlen liegen., da selbst der Sanitätsbericht feststellt, daß in »den folgenden Monaten [...] sich diese Verluste noch ganz erheblich gesteigert haben« dürften, »denn ein Blick auf den Gefechtskalender zeigt, daß in dieser Zeit auf der ganzen Westfront schwere Rückzugskämpfe
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stattfanden und daß nicht nur mehr einzelne Armeen zeitweise kämpften, sondern alle Armeen in unausgesetzten Kämpfen waren«.23 Nach den Angaben des Reichsarchiv-Werkes24 standen Ende 1917 noch 612000 Mann in der Heimat zur Verfügung, hinzu kamen knapp 500000 Mann, die zwischen Februar und Juli 1918 vom östlichen Kriegsschauplatz abgezogen worden waren. Der Jahrgang 1900 mit knapp 400000 Mann stand erst im Herbst 1918 zur Verfügung. Die kontinuierliche Abnahme der Ist-Stärke der Armee an der Westfront von Mai bis August zeigt, daß die Ersatzmöglichkeiten weitgehend erschöpft waren, daß die Verluste in zunehmendem Maße überwogen. Nimmt man, aufgrund der Zahlen von Mai bis August, eine monatliche Verringerung der Ist-Stärke um 200000 Mann an, so wäre diese bis zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes auf ca. 2,6 Millionen Mann gefallen. Die Meinung des Obersten Bauer, enger Mitarbeiter des Generals Ludendorff, daß »gegen Ende kaum mehr als 3/4 Millionen Infanteristen in der Kampflinie gestanden haben«, ist demnach nicht aus der Luft gegriffen.25 Das Bild, mit dem Ludwig Beck, damals Major im Stab der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, die entstandene Situation kennzeichnete26, daß nämlich die Front nur noch einem »Spinnwebennetz von Kämpfern« glich, gewinnt schon vor dem Hintergrund dieser Zahlen an Plausibilität. Die Erosion der Kampfkraft und der andauernde, gravierende Substanzverlust der Armee bildeten jedoch nur den Rahmen, in dem sich die Entwicklung hin zum verdeckten Militärstreik vollzog. Es waren die äußeren Lebensbedingungen und deren Rückwirkungen auf die innere Einsteilung der Soldaten, die einen Teil von ihnen in das Lager der »Drückeberger«, die schon seit Herbst 1917 von den Militärbehörden beobachtet wurden27, überwechseln ließ. Der Angriff am 21. März war mit Zuversicht und sehr großen Erwartungen begonnen worden; die Ergebnisse der ersten Tage schienen im allgemeinen diesen Erwartungen zu entsprechen. Die ersten Tage brachten dem Soldaten aber auch Eindrücke, die ihm seine eigene Situation drastisch vor Augen führten. Die angreifenden Regimenter stießen auf britische Vorratslager mit Lebensmitteln und Textilien, von denen sie kaum mehr zu träumen gewagt hatten. Von der außerordentlich prekären Versorgungssituation der Mittelmächte konnte auch das Feldheer auf Dauer nicht verschont bleiben. Die Verpflegung wurde schon vor der Offensive als kaum ausreichend empfunden28, und während der ersten Tage fiel vielfach die warme Verpflegung aus, weil die Feldküchen nicht nachkommen konnten.29 Und nun standen die Soldaten »fassungslos«, wie es in einem Bericht heißt, vor dem Überfluß.30 Nicht nur die Corned-Beef-Büchsen wurden zur Attraktion, sondern auch Stiefel, Regenmäntel, Pelzwesten, ja sogar Unterwäsche.31
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II. Neue Militärgeschichte
Die vorsichtig angedeuteten alkoholischen Exzesse bei derartigen Gelegenheiten hat es sicher auch gegeben, doch ihre Bedeutung erscheint minimal gegenüber dem durch die Lager allgemein vermittelten Eindruck einer enormen materiellen Überlegenheit des Gegners. Und diese Überlegenheit machte sich auch militärisch in dem Moment des Stockens, des Erlahmens des Angriffsschwungs besonders geltend. Der Gegner hatte den deutschen Angriff in einem für ihn günstigen Gelände und entsprechenden Stellungen gestoppt. Allein daraus ergab sich für die erschöpften deutschen Verbände eine außerordentlich schwierige Lage.32 Hinzu kam, daß sie den feindlichen Gegenangriffen in den ersten Tagen des erneuten Stellungskrieges in weiten Bereichen des Angriffsraums ohne die Unterstützung der eigenen Artillerie und unter den demoralisierenden Wirkungen der häufigen und massenhaften Angriffe der alliierten Luftgeschwader standhalten mußten. Trotz aller Bemühungen der militärischen Führung war es nicht gelungen, den Raum der Somme-Schlacht des Jahres 1916 zwischen Péronne und Bapaume für den Nachschub schnell passierbar zu machen. Weder die Artillerie noch die Verpflegung konnten dem Sturmlauf der Regimenter folgen. Die »Somme-Wüste« hinterließ im übrigen bei allen Einheiten, die sie querten, einen niederdrückenden Eindruck, der sich noch steigerte, wenn aus der Front abgelöste Einheiten in dieser Wüste biwakieren mußten und sich auf einen neuen Einsatz vorbereiten sollten.33 Die Offensive hat die drei entscheidenen Lebensbedingungen des Soldaten, nämlich Lebenssicherung, Behausung, Verpflegung34, nicht verbessert, sondern zwar in unterschiedlichem Maße, aber dennoch entschieden verschlechtert. Das mögliche, ersehnte Äquivalent dieser Verschlechterung, d.h. das Ende des Krieges, war nach dem Mißerfolg der »Michael«-Offensive in weite Ferne gerückt. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, daß einzelne Einheiten Befehle, Angriffsbefehle einfach nicht mehr ausführten.35 Die Verweigerung nahm ihren Anfang. Während der zweiten Offensive, die vom 9. -29. April von der 4. und 6. Armee in Flandern gegen den beherrschenden Höhenzug des Kemmel durchgeführt wurde, zeigten sich dieselben Phänomene, Bereits wenige Tage nach Angriffsbeginn meldete der Generalstabschef der 6. Armee, Oberst v. Lenz, am 14. April der Heeresgruppe36: »Die Truppen greifen nicht an, trotz Befehlen. Die Offensive hat sich festgelaufen.« Für die Offensive waren 55 Divisionen eingesetzt worden, von denen 11 bereits an der »Michael«-Offensive beteiligt waren.37 Oberst v. Thaer berichtet über diese Divisionen in seinem Tagebucheintrag vom 18. April38:»Wir haben jetzt hier für diesen Angriff zwischen dem Kemmel und Bethune recht viele Divisionen, die eben erst in der März-Offensive mitgemacht haben, bei dieser nochmals ihre besten Offiziere und Leute verloren
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haben und nun notdürftig aufgefüllt sind mit Personal, das leider immer weniger Wert wird. Ich muß sagen, daß mir vielfach die Truppe wenig gefällt, die jetzt hier eingesetzt wurde. Es kommt bei Offizieren und Leuten die große Enttäuschung zum Ausdruck, daß die große lange erwartete März-Offensive sich festgefahren hat [...] Sie hatten zu sehr darauf gehofft, daß dieser große Schlag den Krieg im März beenden würde. Man hatte daraufhin noch einmal allen Schneid und alle Energie zusammengerissen. Nun ist die Enttäuschung da und sie ist groß. Das ist der Hintergrund, warum auch artilleristisch gut vorbereitete Angriffe sich totlaufen, sobald unsere Infanterie über die stark vertrommelte Zone hinauskommt.« In den Worten der beiden Obersten werden zum erstenmal die Symptome des verdeckten Militärstreiks deutlich erkennbar: Der Soldat reagiere nicht mit offener Befehlsverweigerung, sondern mit der Verweigerung des geforderten Risikos. Und in den Regimentsgeschichten finden sich Bestätigungen für diesen Sachverhalt: So wenn sich für Stoßtruppunternehmen keine Freiwilligen mehr meldeten oder hierfür zunächst der Einsatz der Offiziere verlangt wurde.39 Ein Leutnant umschrieb die innerhalb weniger Wochen völlig veränderte Grundstimmung folgendermaßen40: »Wie wirds weitergehen? Nein, diese Frage bleibt unausgesprochen; sie ist nur in den Mienen des Frontsoldaten eingegraben. Er wird stumpf; der seelische Auftrieb von vor wenigen Wochen ist dahin. Er vergißt daher selbst die menschlichen Pflichten gegenüber den Gefallenen; Zugführer und Sanitäter müssen erst daran erinnert werden.« Die erneut zunächst überaus erfolgreiche Offensive gegen den Chemin-dames und gegen Reims von Ende Mai bis Anfang Juni änderte an der Gesamtlage und an der Befindlichkeit der Soldaten nichts. Die umfassende und präzise artilleristische Eröffnung der Offensive hat zwar noch einmal eine kurzfristige zuversichtliche Stimmung aufkommen lassen, doch der Angriffsschwung erlahmte rasch. Wie prekär die Situation bereits geworden war, läßt sich an der Tatsache ablesen, daß von den 36 Angriffsdivisionen allein 27 bereits die März-Offensive durchgestanden hatten.41 Wiederum bildeten die Verpflegungslager der Alliierten einen besonderen Anziehungspunkt für die vorrückenden Truppen. Der Oberbefehlshaber der 3. Armee, Generaloberst v. Einem, urteilte nach Beendigung der Offensive sehr hart, aber nicht ohne Berechtigung42: »Ein Motiv für die Tapferkeit unserer Infanterie in der Offensive ist die Plünderungssucht.« An dem Faktum von Plünderungen während der Offensive ist nicht zu rütteln, und auch der Alkohol floß in Strömen.43 Wie sehr die militärische Führung sich dieses Problems bewußt war, zeigte sich in dem Vorschlag einer Gardedivision, besondere Beutekommandos bei
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den Bataillonen zu bilden, um das Beutemachen in geordnete Bahnen zu lenken.44 Folgenreicher war die Rücknahme von mehreren Bataillonen, die am 28. Mai bis in den Stadtkern von Soissons vorgedrungen waren, auf das Nordufer der Aisne, weil die höhere Führung Plünderungen der in der Stadt vermuteten Lebensmittelvorräte und entsprechende Ausschreitungen in der Nacht befürchtete.45 Die Führung war sich der Truppe nicht mehr sicher! Die Kämpfe im Juni in und um die in den Offensiven gewonnenen Linien waren hart und verlustreich, gekennzeichnet durch Hunger und Erschöpfung. Die Position der eigenen Stellungen war zum Teil äußerst ungünstig und die artilleristische Überlegenheit des Gegners in jeder Hinsicht niederdrückend. Die eigene Artillerie war geschwächt und hatte ihre Präzision – auch durch die Überbeanspruchung des Materials – weitgehend verloren. Die Hinweise auf die demoralisierende Wirkung des Beschusses durch die eigene Artillerie häufen sich in den Berichten aus den Sommermonaten.46 Die große zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners zeigte sich noch auf einem anderen Gebiete, dem des Flugwesens. Die alliierten Geschwader begnügten sich nicht mit dem Bombenkrieg gegen das Hinterland, sondern unterstützten den Bodenkampf sehr wirkungsvoll, als Artilleriebeobachter oder im direkten Einsatz gegen Stellungen und Verbindungswege der Deutschen. Der Alltag des Frontsoldaten an den Brennpunkten des Kampfgeschehens wurde bestimmt durch Hunger und Erschöpfung, durch die allgegenwärtige tödliche Bedrohung, In dieser Situation mußten die schon im Mai vereinzelt auftretenden Grippeerkrankungen sich zu einer Epidemie ausweiten.47 Die hohe Zahl der Erkrankungen im Juni und Juli spricht eine deutliche Sprache. Auch wenn man annehmen kann, daß ein großer Teil der Erkrankten wieder zur Truppe zurückkehrte, so ist doch ihre generelle personelle Schwächung durch diese Epidemie unverkennbar. »Ausharren ohne Glauben und ohne Hoffnung – nur aus Pflichtgefühl, das ist die letzte, die größte Forderung« – so charakterisierte Werner Beumelburg48 die Situation des Frontsoldaten im Juni 1918. Nur wenige Soldaten werden die »letzte, die größte Forderung« bewußt als verpflichtend empfunden haben. Das Pflichtgefühl war bereits erschüttert, und viele haben andere Konsequenzen aus der treffend geschilderten Situation gezogen. Trotz aller Anstrengungen war es während der Mai-Offensive nicht gelungen, Reims zu erobern, das als Eisenbahnknotenpunkt für die Versorgung der bis zur Marne vorgedrungenen Divisionen von besonderer Bedeutung war. Deshalb begann am 15. Juli ein erneuter Angriff auf einer Frontbreite von 100 km nach dem bisher bewährten Verfahren. Insgesamt 50 Divisionen waren an der Operation beteiligt.49 Bereits zwei Tage später hatte sich der Angriff nach geringem Geländegewinn
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festgelaufen, der Gegner hatte sich mit Erfolg auf die Angriffstaktik der Deutschen eingestellt. Wiederum einen Tag später, am 18. Juli, erfolgte der französische Gegenschlag aus den Wäldern von Villers-Cotterêts heraus, und damit gewann der alliierte Oberbefehlshaber, General Foch, die Initiative, die er sich bis zum 11. November, dem Tage des Waffenstillstandes, nicht mehr aus den Händen nehmen ließ. Von diesem Moment an befand sich das deutsche Heer der Westfront in der Defensive, die bald – seit dem 8. August – nur noch in verlustreichen Rückzugskämpfen aufrechterhalten werden konnte. Spätestens mit Beginn der alliierten Gegenoffensive wurde das »Drückebergertum«, der verdeckte Militärstreik, zu einem militärischoperativ relevanten Phänomen. Nichts bringt dies besser zum Ausdruck als der am 20. Juli vorgetragene Vorschlag des Generals V. Loßberg, des Chefs des Generalstabes der 4. Armee, wie man der alliierten Offensive und Überlegenheit effektiv und kräftesparend begegnen könne.50 Loßberg setzte sich gegenüber Ludendorff, der ihn gerufen hatte, unter anderem für den Ausbau rückwärtiger, tiefgegliederter operativer Verteidigungszonen ein, für den alle im Osten und Westen frei werdenden Verbände eingesetzt werden sollten. Diese sollten aber auch »das Heeresgebiet gegen das Heimatgebiet« abriegeln, »die große 'Zahl der sogenannten Drückeberger« einfangen und »sie wieder zu Zucht und Ordnung« bringen. Welchen Umfang die »Drückebergerei« zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte, läßt sich naturgemäß nicht einmal annäherungsweise bestimmen, Erich-Otto Volkmann51 nimmt für die letzten Monate des Krieges an, daß sich 750000 bis 1000000 Mann auf diese oder jene Weise dem Frontdienst entzogen haben, wobei auch er eine umfassende Definition des Begriffs schuldig bleibt. Sobald man die zum Teil personell überbesetzte Etappe und das Millionenheer der Reklamierten52 unter dieser Perspektive betrachtet, weitet sich der Begriff ins Uferlose aus. Bei den Frontsoldaten, die sich zu diesem Schritt entschlossen hatten, handelte es sich ganz existenziell um Lebenssicherung, und sie benützten dazu die unterschiedlichsten Wege, die ihnen die Riesenorganisation des Feldheeres bot. Bei der ständig steigenden Zahl von Verwundeten und Erkrankten, die »alle bisherigen Erfahrungen überstieg«53, ergaben sich vor allem bei der Versorgung der marschfähigen Leichtverwundeten und Leichterkrankten für den Sanitätsdienst unüberwindliche Schwierigkeiten. Nach einem Erfahrungswert waren etwa 40% der Verwundeten und Erkrankten als marschfähig zu bezeichnen54, danach fielen in den Monaten März bis Juli knapp 1 Million Mann in diese Kategorie. Dieser Strom war von den Sanitätsdienststellen in vielen Fällen nicht mehr zu bändigen. Es ist bekannt, daß einzelne Leichtkrankenzüge in Richtung Heimat regelrecht
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gestürmt wurden und ihre Fahrt nach eigenem Fahrplan begannen.55 Die Sanitätsdienststellen sahen sich bereits im April gezwungen, mit Hilfe der Armee diesen Strom durch doppelte Postenketten in die gewollten Bahnen zu lenken.56 Die Bahnstationen waren daher auch in dieser Hinsicht neuralgische Punkte. Der Chef des Generalstabes der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht hat nach dem Krieg festgestellt, daß es den Kommandobehörden selbst an diesen Orten nicht gelungen sei, gegen die »Drückebergerei« effektiv vorzugehen.57 Auch bei dem Transport mit der Eisenbahn zur Front spielte das Phänomen der »Drückebergerei« seit dem Herbst 1917 eine nicht unerhebliche Rolle. Bei den Ersatztransporten aus der Heimat – es wurden auch aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Soldaten wieder eingesetzt58 – oder bei den Truppentransporten von der Ost- zur Westfront war ein Schwund von 10-20% keine Seltenheit.59 Das Untertauchen in der Etappe oder in Belgien bereitete offenbar keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.60 Im Bereich der Front nahm die Verweigerung naturgemäß andere Formen an. Die durch die vier Offensiven bedingte Verschiebung zahlreicher Verbände sowie – ab August – das von der Not diktierte Auseinanderreißen von Verbänden bzw. die Bildung immer neuer »Kampfgruppen« führte zu einem spürbaren Anwachsen der »Versprengten«. Über die zahlenmäßige Größe dieses Faktors sind nicht einmal Vermutungen möglich, da Gruppen von »Versprengten« immer wieder auch kämpfenden Einheiten zugeführt wurden. Jedenfalls war es in den letzten Wochen des Krieges öfters notwendig, die nachts vorrückenden Feldküchen vor fremdem Zugriff zu schützen.61 An der Front selbst blieb die Desertion zum Feind beschränkt auf einzelne und kleine Gruppen, denn die Durchführung des Entschlusses war mit tödlichen Gefahren verbunden.62 Dagegen wuchs ab August die Zahl der Vermißten/Gefangenen ganz erheblich. Natürlich war dies bei den erfolgreichen Offensiven der Alliierten nicht anders zu erwarten, doch manche Gruppe – »ohne Glauben und ohne Hoffnung« – hat sich auch überrollen lassen63, um dem »stumpfsinnige(n) gegenseitige(n) Massenmord«64 für sich ein Ende zu machen. Diesseits der deutschen Front kam es nach dem 18. Juli immer wieder zu Situationen, in denen Einheiten den Rückzug selbständig antraten oder ihn beschleunigten. Schwerer wog, daß Einheiten auch schlicht den Befehl zum (Gegen)Angriff oder zum Vorrücken in die Stellungen verweigerten.65 Die Darstellungen bei Köppen66 und bei Zöberlein67 haben einen durchaus realen Hintergrund. Es scheint aber auch Fälle gegeben zu haben, in denen einzelne Soldaten abrupt den Entschluß faßten, für sich den Krieg zu
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beenden, und aus der Stellung abrückten68; der seelische Druck der Hoffnungslosigkeit war zu stark geworden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung im Frontbereich – die Verhältnisse in der Etappe bleiben hier weitgehend unberücksichtigt69 – besteht kein Zweifel daran, daß unter den Soldaten der Westfront eine Verweigerungshaltung sich in einem stetig wachsenden Maße ausdehnte, die als verdeckter Militärstreik zu bezeichnen ist. Ludwig Beck, damals Major im Stab der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, hat kurz nach der Revolution festgehalten70, daß die Truppe seit Mitte Juli »einfach nicht gehalten« habe, »weil sie nicht wollte«. Die ersten Symptome dieses Nicht-mehr-Wollens hatten sich bereits mit der Erschöpfung der Angriffskraft bei der »Michael«-Offensive Ende März gezeigt. Die höhere militärische Führung und die OHL waren darüber informiert, doch zogen sie in ihrem Handeln daraus keine Konsequenzen und blieben dem verdeckten Militärstreik gegenüber letztlich machtlos. Das gilt insbesondere für Ludendorff, der trotz der Erschütterung über die Umstände der Niederlage der 2. Armee am 8. August bei Amiens sich zu keiner der aussichtlosen Lage angemessenen Reaktion entschließen konnte. In einem Erlaß, in dem der Erste Generalquartiermeister den Leistungen zweier Divisionen am 8. August besondere Anerkennung zollte, lautete der erste Satz: »Die Ablösungsbedürftigkeit einer Truppe ist in keinem Fall ausschlaggebend für ihre Kampfkraft.« Wenige Tage später lag die durchschnittliche Bataillonsgefechtsstärke der Regimenter einer Brigade dieser beiden Verbände zwischen 86 und 184 Mann.71 Damit ist in etwa die Situation der Fronttruppen in den Wochen bis zum Waffenstillstand umschrieben. Bei der allgemeinen und andauernden alliierten Offensive war die Ablösung jeweils nur von sehr kurzer Dauer, und nur wenige Verbände wurden zur »Auffrischung« an die noch ruhige Oberrheinfront verlegt. Die Lage des Soldaten wurde durch die herbstlichregnerische Witterung und die ungenügende Ernährung noch zusätzlich erschwert. Der allgemeine Erschöpfungszustand schlug sich in einer steigenden Zahl von Erkrankungen nieder.72 Diese Truppe kämpfte gegen einen Gegner, dessen Überlegenheit an Personal und Material überwältigend war. Insbesondere den seit dem Juni massenweise eingesetzten Tanks und den Flugzeugen stand der Soldat mehr oder weniger wehrlos gegenüber, das Maschinengewehr war seine wichtigste und wirkungsvollste Waffe. Da die personellen Ressourcen erschöpft waren, der Ersatz – wenn überhaupt verfügbar – als unzuverlässig eingestuft wurde, sanken die Gefechtsstärken der Regimenter, Bataillone und Kompanien auf nie gekannte Größen. Kompaniegefechtsstärken von 30 Mann schienen für eine abgelöste Truppe nichts Ungewöhnliches zu
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sein73, abgekämpfte Regimenter bestanden noch aus 200 Mann74, aus 4 Kompanien zu je 30 Mann75, aus 8 Offizieren, 8 Unteroffizieren und 69 Mann76 oder schließlich aus 3 Offizieren und 30 Mann77! Der Zustand eines Korps im Verband der 2. Armee in der nominellen Stärke von 7 1/3 Divisionen ist für Anfang Oktober überliefert78: Die InfanterieGefechtsstärke des Korps belief sich auf insgesamt 2683 Mann mit 83 schweren und 79 leichten Maschinengewehren. 2050 Mann standen als Reserve zur Verfügung bei einer Frontbreite von 6,5 km. Wenn es dennoch dem Gegner nicht gelang, die Front tatsächlich zu durchstoßen, so machen diese Zahlen deutlich, daß hierfür in der Tat ein dünnes »Spinnwebennetz von Kämpfern« (L. Beck) verantwortlich war. Die Oberste Heeresleitung verfügte Anfang November an der Westfront nur noch über knapp 1 Dutzend Divisionen, die als »voll kampffähig« bzw. »kampfkräftig« bezeichnet wurden.79 Die militärische Niederlage war an der Front schon lange vor dem Waffenstillstand zur Realität geworden, als solche erfahrbar und teilweise auch angenommen. »Im Feld unbesiegt« war in jeder Weise eine Erfindung der Heimat. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß das Phänomen der »Drückebergerei« gerade für diese letzten Wochen des Krieges in den Aufzeichnungen besonders häufig erwähnt wird. Die zu Anfang genannte Zahl von 750000-1000000 Mann, die sich dem Risiko der Front verweigerten, erscheint als eine annähernd realistische Einschätzung. Der verdeckte Militärstreik war zu einer Massenbewegung geworden, die sich unter den Bedingungen des Prinzips von Befehl und Gehorsam im Kriege nur außerordentlich vorsichtig und verdeckt bemerkbar machen konnte. Am Anfang stand, wie bei den Massenbewegungen der Arbeiterschaft jener Jahre80, der tiefgehende Autoritätsverlust der etablierten Gewalten aufgrund der eklatanten »Mißstände«. Gefördert wurde die Bewegung ferner durch die Zusammenballung großer Massen »unter Zerstörung aller bisherigen sozialen, auch politischen Bindungen«. Spontaneität und Aktivität mußten sich angesichts der Regeln militärischer Disziplin in engen Grenzen halten. Andererseits gilt für diese Massenbewegung unter den Soldaten noch mehr als für die der Arbeiterschaft, daß ihre Stärke sich »in der unmittelbaren Kritik, in der negativen Aktion« und ihre Schwäche sich »im Erfolg« offenbarten. Die sich seit April ausbreitende Hoffnungslosigkeit und die horrenden Verluste provozierten geradezu eine immer massivere Verweigerung, deren einziges Ziel es war, die Lebenssicherung mit dem Ende des Krieges zu erreichen. Revolutionär war sie nur insofern, als sie dem Garanten des bestehenden Herrschaftsystems, der Armee, allmählich die Basis entzog81, wobei die politischen Strömungen der Heimat nur eine sekundäre Rolle spielten. Der verdeckte Militärstreik in den Armeen an der West-
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front bildete gleichwohl eine der entscheidenden Voraussetzungen der Revolution und bestimmte deren Formen und Inhalte mit. Anmerkungen 1
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Zur militärischen Lage der Mittelmächte 1917/1918, zur Genese und Ausformung der Planung der Frühjahrsoffensive vgl. Der Weltkrieg 1914-1918. Im Auftrag des OKH bearb. von der Kriegs- geschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, Bd. 14, Frankfurt 1956; sowie Hans Meier-Welcker, Die deutsche Führung an der Westfront im Frühsommer 1918. Zum Problem der militärischen Lagebeurteilung, in: Die Welt als Geschichte, 21 (1961), S. 164-184. Zum Forschungsstand insgesamt vgl. Bruno Thoß, Weltkrieg und Systemkrise. Der Erste Weltkrieg in der westdeutschen Forschung 19451984, in: Neue Forschungen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1985, S. 31-80. Vgl. auch meinen Beitrag zur Jochmann-Festschrift: Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Bd. 1, Hamburg 1986, S. 101-129, dessen These mit ergänzendem Material hier weiter abgestützt werden soll. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, 2. durchgeseh. Auflage Stuttgart 1980, S. 442ff. Zur Ostpolitik: Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 1966; Winfried Baumgart, Unternehmen »Schlußstein«. Zur militärisch-politischen Geschichte des Ersten Weltkrieges, Frankfurt 1970; Peter Borowsky, Deutsche Ukrainepolitik 1918. Unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsfragen, Lübeck 1970; Elke Bornemann. Der Friede von Bukarest 1918, Frankfurt 1978. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus in Deutschland, Bd. 4: Die Herrschaft des deutschen Militarismus und die Katastrophe von 1918, München 1968; Martin Kitchen, The Silent Dictatorship. The Politics of the German High Command under Hindenburg and Ludendorff, 1916-1918, London 1976, S. 157ff.; Kielmansegg, Deutschland [wie Anm.2], S. 629ff.; Eberhard Demm, Une Initiative de Paix avortée: Lord Lansdowne et le Prince Max de Bade, in: Guerres mondiales et conflits contemporains, Nr. 159/1990, S. 5-19. Meier-Welcker, Die deutsche Führung [wie Anm. 1], S. 166. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 26-50, 94-99. Ebda., S. 311, 351,41f. Exaktes Zahlenmaterial findet sich in: Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege 1914/1918, bearb. in der Heeres- Sanitätsinspektion des Reichswehrministeriums, Bd. 3: Die Krankenbewegung bei dem Deutschen Feld- und Besatzungsheer, Berlin 1934, S. 57; vgl. die Zahlentafeln zu dem Bericht in demselben Band.
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Vgl. Deist, Der militärische Zusammenbruch [wie Anm. 1], S. 109f. – Nach dem fast vollständigen Verlust der Akten des Feldheeres sind die in den 20er und 30er Jahren entstandenen Regimentsgeschichten eine Quelle, die – kritisch gelesen – manche interessanten Informationen zum Alltagsleben der Soldaten vermitteln kann. Für die Zwecke dieses Beitrages sind mit Hilfe der Beilagen 34 und 38 a-i des Bandes 14 von »Der Weltkrieg« [wie Anm. 1] die Regimenter herausgesucht worden, die bei den Offensiven mehrfach eingesetzt worden waren. Nicht alle entsprechenden Regimentsgeschichten standen zur Verfügung, schließlich konnten insgesamt 36 ausgewertet werden. Der Einfachheit halber wird im folgenden nicht der volle bibliographische Titel, sondern jeweils die Regimentsbezeichnung sowie die Seitenzahl genannt. – In bezug auf den 21.März wird von »Ergriffenheit« (I. Garde-Regiment z. F., S. 169), von »feierlichem Emst« (10. bayer. Infanterie-Regiment, S. 294) gesprochen, die Stimmung wird als »hervorragend« (Infanterie-Regiment Nr. 41, S. 239), als vergleichbar mit dem August 1914 (Reserve-InfanterieRegiment Nr. 37, S. 309) bezeichnet. Genaue Schilderung der Vorbereitungsphase in: Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 212, S. 474ff. Reserve-InfanterieRegiment Nr. 46, S. 191, berichtet ein Leutnant aber auch, daß zwei Unteroffiziere hinter jeder Kompagnie als Feldpolizei agierten. Vgl. den Beitrag von Martin Hobohm in diesem Band. Philipp Wirkop (Hrsg.), Kriegsbriefe gefallender Studenten, München 1928, S. 341 (Brief vom 14.3.1918). Vgl. hierzu Deist, Der militärische Zusammenbruch [wie Anm. 1], S. 108f., 119f. 3. Garde-Regiment z. F. (Tagebuch v. Loebell), S. 360 (3.4.); InfanterieRegiment Nr. 15, S. 331; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 334; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 434; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 211, S. 285; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 247, S. 170. Vgl. Deist, Der militärische Zusammenbruch [wie Anm. 1], S. 106, insbesondere Anm. 78. Sanitätsbericht [wie Anm. 7], Bd. 3, S. 57. Ebda., S. 36 und 38. Vgl. hierzu die Ausführungen des Sanitätsberichtes [wie Anm. 7], Bd. 3, S. 33. Ebda., S. 59; die in fast allen Regimentsgeschichten angegebenen Verlustzahlen nach den einzelnen Kampfabschnitten sprechen eine deutliche Sprache, vgl. auch Infanterie-Regiment Nr. 459, S. 182. Deist, Der militärische Zusammenbruch [wie Anm. 1], S. 106f. Sanitätsbericht [wie Anm. 7], Bd. 3, S. 143 der Anlage; bei dem »Gesamtausfall« handelt es sich um die Gesamtzahl der Gefallenen und Vermißten sowie der nicht bei der Truppe oder in den Lazaretten wieder dienstfähig gewordenen Verwundeten und Erkrankten. Albrecht Philipp (Hrsg.), Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. 4. Reihe im Werk des Untersuchungsausschusses, Bd. 6, S. 4.
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Nach den Berechnungen im Sanitätsbericht [wie Anm. 7], Bd. 3, S. 143 der Anlage. Ebda., S. 60. Ebda., S. 60f. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 29; Sanitätsbericht [wie Anm. 7], S. 16, sowie S. 143 der Anlage. Max Bauer, Der große Krieg in Feld und Heimat, 2. Aufl. 1921, S. 232f. Bauer gibt für Ende August eine Million »Drückeberger und Fahnenflüchtige«, für Ende September bereits 1 ½ Millionen an. Im Juli beziffert er die Infanterie »am Feinde« mit ¾ Millionen, Ende September mit 1 ¼ Millionen Mann. Klaus-Jürgen Müller, General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933-1938, Boppard 1980, S. 326 (Brief vom 28.11.1918). Wilhelm Deist (Bearb.), Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, Düsseldorf 1970, Nr. 458, S. 1226, Anm. 1; sowie Philipp, Die Ursachen [wie Anm. 20], Bd. 6, S. 14ff. Auch Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 434, erwähnt das Phänomen. Infanterie-Regiment Nr. 470, S. 116. Zu den offiziellen Verpflegungsrationen vgl. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 31, Anm. 1. Der Kaloriensatz pro Tag war auf 2500 gefallen. Vgl. die Berichte über die mangelhafte oder ausbleibende Verpflegung während der Offensive: I. Garde-Regiment z.F, S. 176; 2. Garde-Regiment z.F, S. 90; 4. Garde-Regiment z.F, S. 321; Infanterie-Regiment Nr. 41, S. 255; Infanterie-Regiment Nr. 130, S. 76; Infanterie-Regiment Nr. 353, S. 175; ReserveInfanterie- Regiment Nr. 210, S. 431; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 248, S. 165. Vgl. Infanterie-Regiment Nr. 135, S. 152f. In der Mehrzahl der durchgesehenen Regimentsgeschichten wird diese besondere Beute entsprechend erwähnt. 3. Garde-Regiment z. F. (Tagebuch v. Loebell), S. 350. In der Geschichte des Infanterie-Regiments Nr. 120, S. 98, heißt es: »Wie die durch die anhaltende Kampfzeit in ihrer Bekleidung gar arg heruntergekommenen Leute sich auf die aufgestapelten neuen Wäschestücke stürzten und mangels geeigneter Lokalitäten sich einfach unter Gottes freiem Himmel und sozusagen angesichts des Feindes in aller Hast von Kopf bis Fuß neu einkleideten, das war eine köstliche Szene und wäre der Feder eines Busch würdig gewesen. Nachrückende Truppen fanden die Umgebung des Depots buchstäblich mit abgelegten Wäschestücken gepflastert.« Vgl. als Beispiel den Befehl der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht für die 17. und 2. Armee Anfang April; Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 302. Als Beispiel aus den Regimentsgeschichten: Infanterie-Regiment Nr. 13, S. 296; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 52, S. 475; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 434; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 211, S. 285; Reserve-
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Infanterie- Regiment Nr. 227, S. 470ff.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 248, S. 165ff. 10. bayr. Infanterie-Regiment, S. 304ff.; Infanterie-Regiment Nr. 41, S. 250; Infanterie-Regiment Nr. 46, S. 395; Infanterie-Regiment Nr. 353, S. 170-175; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 314, S. 321ff.; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 52, S. 469f.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 232, S. 137ff.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 246, S. 290; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 247, S. 174; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 248, S. 163. Siehe hierzu die sehr informativen Ausführungen von einem Oberarzt d. R., Die Zermürbung der Front, in: Kriegshefte der Süddeutschen Monatshefte, Oktober 1918 bis März 1919, S. 176-92. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 326 (26.3.); ReserveinfanterieRegiment Nr. 52, S. 480 (5.4.). Der Weltkrieg [wie Anm. l.], S. 283; Kronprinz Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch, hrsg. von Eugen v. Frauenholz, Bd. 2, Berlin 1929, S. 382 (14.4.). Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 300. Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O.H.L., hrsg. von Siegfried A. Kaehler, Göttingen 1958, S. 182. Infanterie-Regiment Nr. 459, S. 201; Infanterie-Regiment Nr. 470, S. 173f. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 46, S. 199. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 330. Deist, Militär und Innenpolitik [wie Anm. 27], Nr. 458, S. 1226, Anm. 1(24.6.). 3. Garde-Regiment z. F. (Tagebuch v. Loebell), S. 379f.; Infanterie-Regiment Nr. 135, S. 162ff.; Infanterie-Regiment Nr. 109, S. 254f.; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 110, S. 266; Reserve- Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 483f.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 247, S. 171; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 315, S. 315f. Kronprinz Rupprecht, Mein Kriegstagebuch [wie Anm. 36], Bd. 3, S. 326 (1.6.); 1. Garde-Regiment z. E, S. 182 (29.5.). Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 212, S. 559; in »Der Weltkrieg« [wie Anm. 1] wird dieser Vorgang nicht erwähnt. I. Garde-Regiment z.F, S. 186; 3. Garde-Regiment z.F. (Tagebuch V. Loebell), S. 391ff.; Infanterie-Regiment Nr. 15, S. 346ff.; Infanterie-Regiment Nr,20, S. 404ff.; Infanterie-Regiment Nr. 130, S. 88ff,; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 37, S. 358ff.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 109, S. 259ff.; Reserve-Infanterie- Regiment Nr, 212, S, 598ff.; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 247, S. 183ff. 1. Garde-Regiment z. F., S. 188f.; 3. Garde-Regiment z. F. (Tagebuch v. Loebell), S. 396; 13. bayer. Infanterie-Regiment, S. 94f.; Infanterie-Regiment Nr. 13, S. 307; Infanterie-Regiment Nr. 20, S. 105; Infanterie-Regiment Nr. 98 (Gedenkschrift), S. 9f.; Infanterie-Regiment Nr. 130, S. 90f.; InfanterieRegiment Nr. 353, S. 200; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 370; Re-
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serve-Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 467; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 211, S. 302, Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 227, S. 493. Werner Beumelburg, Sperrfeuer um Deutschland, Oldenburg 1929, S. 465. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 447. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 488; Fritz von Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege 1914-1918, Berlin 1939, S. 346. Philipp, Die Ursachen [wie Anm. 20], Bd. 11/11, S. 66. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 516f. Sanitätsbericht [wie Anm. 7], Bd. 2, S. 757. Ebda., S. 61. Ebda., S. 758. Ebda., S. 755-8, 765-7, 774, 776, 780, 782,784f., 787-9. Philipp, Die Ursachen [wie Anm. 20], Bd. 3, S. 209ff.; sowie Bd. 6, S. 4f.; Hermann v. Kühl, Der Sommer 1918 an der Front, in: Süddeutsche Monatshefte 21 (1924), Heft 7, S. 37ff. Infanterie-Regiment Nr. 130, S. 40f. Deist, Militär und Innenpolitik [wie Anm. 27], Nr. 458, S. 1226, Anm. 1; Philipp, Die Ursachen [wie Anm. 20], Bd.6, S. 14ff.; Kronprinz Rupprecht, Mein Kriegstagebuch [wie Anm. 36], Bd. 2, S. 396,402, 413, 415, 427. Vgl. etwa auch die Darstellung von Hans Zöberlein, Der Glaube an Deutschland, München 1941, S. 721ff. 1. Garde-Regimentz.F., S. 212;2. Garde-Regimentz. K, S. 105f.; 3. GardeRegiment z. F. (Tagebuch v. Loebell), S. 438; Infanterie-Regiment Nr. 135, S. 194ff.; Infanterie-Regiment Nr. 15, S. 378; Infanterie-Regiment Nr. 58, S. 242; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 507; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 211, S. 330; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 232, S. 188-192. Vgl. die Schilderung von Dominik Richter, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914-1918, hrsg. von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich, München 1989, S. 371ff. Vgl. die Schilderung einer derartigen Situation bei Edlef Koppen, Heeresbericht, Reprint 1976, S. 449f.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 416. Formulierung Gerhard Ritters in einem Brief vom 16.5.1917 in: Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 203. In den Regimentsgeschichten wird das Problem ab Juni 1918 sehr deutlich angesprochen: Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 341 (April); ReserveInfanterie-Regiment Nr. 210, S. 462 (20.6.); Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 232, S. 153f. (29.6.); Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 211, S. 306 (8.7.), 312f. (23./ 25.7.); Infanterie-Regiment Nr. 135, S. 194ff. (21.7.); für die folgenden Monate wird das Phänomen in dieser oder jener Form in nahezu allen Regimentsgeschichten erwähnt. Köppen, Heeresbericht [wie Anm. 63], S. 423ff. Zöberlein, Der Glaube [wie Anm. 60], S. 835. Vgl. entsprechende Darstellungen bei Köppen, Heeresbericht [wie Anm. 63], S. 457ff.; Ernst Johannsen, Vier von der Infanterie, Hamburg 1929, S. 96f.;
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Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 270f.; Infanterie-Regiment Nr. 470, S. 189. Vgl. hierzu Heinrich Wandt, Etappe Gent. Streiflichter zum Zusammenbruch, Berlin 1920. Müller, General Ludwig Beck [wie Anm. 26], S. 326. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 52, S. 524ff. Die Sollstärke eines Bataillons war vor der März-Offensive auf 850 Mann festgelegt worden, vgl. Der Weltkrieg [wie Anm. 1], S. 26. Vgl. 1. Garde-Regiment z.F, S. 213; 4. Garde-Regiment z.F, S. 381; 10, bayer. Infanterie-Regiment, S. 357; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 37, S. 429; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 210, S. 501, 508; Reserve-InfanterieRegiment Nr. 227, S. 529; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 232, S. 184. Infanterie-Regiment Nr, 20, S. 470f.; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 52, S. 578; Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 60, S. 195. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 211, S. 329f. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 52, S. 578. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. III, S. 222. Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 52, S. 581. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Nachlaß Otto v. Below N87/2, Bericht des Kommandierenden Generals des 51. Korps, Generalleutnant Hans v. Below, vom 12.10.1918. Die Stärke einer normalen Infanterie-Division lag Ende März 1918 zwischen 11 und 13000 Mann, vgl. Sanitätsbericht [wie Anm. 7], Bd. 2, S. 57ff. Philipp, Die Ursachen [wie Anm. 20], Bd. 6, S. 321ff. (aus den Akten des Heeresarchivs). Vgl. hierzu Gerald D. Feldman/Eberhard Kolb/Reinhard Rürup, Die Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917-1920), in: Politische Vierteljahresschrift, 13 (1972), S. 84ff. Vgl. hierzu Deist, Der militärische Zusammenbruch [wie Anm. 1], S. 119f.
Geschichte und Gesellschaft 22. (1996), S. 473-503. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Bernd Ulrich
Militärgeschichte von unten. Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert „Eine Militärgeschichte von unten" ist der Untertitel eines Sammelbandes zum „Krieg der kleinen Leute", den der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette 1992 herausgegeben hat.1 Beide Titel des Buches, mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen, klingen griffigprogrammatisch; ' und so sind sie auch gemeint. Die Militärgeschichte – das ist ihre Botschaft – wurde bisher immer nur in der Perspektive von oben betrieben; sie beschränkte sich auf die Analyse von Schlachten, die Taten einzelner Heerführer und eine mehr oder weniger vom Objekt faszinierte Darstellung der eingesetzten Waffen. Zwar wird von Wette zu Recht konzediert, daß die auch nach 1945 zunächst fortgesetzte, schließlich seit den sechziger Jahren sozialgeschichtlich modifizierte „Generalstabshistorie" in ihren innovativen Varianten dazu diente, „ein einseitiges und apologetisches Geschichtsbild zu korrigieren, das in den Jahren zuvor ... durch Offiziersmemoiren, militaristische Kriegsromane und in gewissem Sinne auch durch die Millionen von ,Landserheftchen' und ähnlichen populären Kriegsdarstellungen geprägt worden war."2 Überdies könne man sich angesichts der besonderen, institutionellen Bedingungen militärisch organisierter Systeme, die durch den von oben nach unten gegebenen Befehl gekennzeichnet sind, in der Untersuchung der „Bewegungsabläufe... weitgehend darauf beschränken, die Denkstrukturen der militärischen Elite, ihre Lagebeurteilungen, ihre Befehlsgebung und nicht zuletzt – ihre geschichtliche Selbstdarstellung zu erforschen."3 Zugleich aber hätten die geschichtspolitisch notwendigen Fixierungen und die sich gleichsam aus der hierarchischen Struktur des Militärs selbst ergebene Fokussierung auf dessen leitendes Personal verhindert, endlich der „Geschichte der Mannschaftssoldaten" in ihrer Bedeutung gerecht zu werden.4 Einer Geschichte, der es vor allem mit Hilfe von Feldpostbriefen auf die Spur zu kommen gelte; namentlich für die zwei Weltkriege stellen sie die „einzige einigermaßen authentische Quelle" dar.5
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So verdienstvoll diese Hinweise auf Forschungslücken sind, zu deren Auffüllung Wolfram Weites Sammelbände und Beiträge viel beigetragen haben – sie hinterlassen mehr Fragen als sie Antworten zu geben vermögen. Warum sollte z. B. die sozialgeschichtlich motivierte Rekonstruktion militärischer Funktionseliten, bei der es im Kontext der „Beherrschbarkeit des militärischen Instruments" auch um „die Macht über die ,kleinen Leute' in Uniform" geht, auf eben deren Erfahrungen und Extremerlebnisse verzichten?6 Gerade in der beständigen Rückübersetzung von militärischen Strukturen in menschliche und unmenschliche Fallgeschichten, mithin in der Beleuchtung jenes Terrains, auf dem im wechselseitigen Bezug die national-kriegerische zur privaten, persönlichen Geschichte wird, liegen die Chancen der „Militärgeschichte von unten".7 Genauer zu betrachten ist vor allem der zentrale Antrieb der neueren „Militärgeschichte von unten". Er besteht in der von Wolfram Wette und anderen, mittlerweile auch schon weniger emphatisch vorgetragenen Forderung,8 den „kleinen Mann" in Uniform und seine Alltagserfahrungen im Kriege, wie sie etwa im Feldpostbrief faßbar werden, endlich wiederzuentdecken. Die „Schweigsamkeit ,der vielen'" wurde in diesem Zusammenhang als „zudiktierte, vielfach zugleich auferlegte" beklagt, der Feldpost der Rang einer „unentdeckten historischen Quellengattung" zugeschrieben9 oder von ihr – darin den ersten, „aufklärungspädagogisch aufgeladenen" Kriegsalltagsdarstellungen verpflichtet10 – die identifikatorische Rückversetzung in die „alltägliche Erlebniswelt unserer Eltern und Großeltern" erhofft.11 All das gewiß in der guten Absicht, die Generalstabsperspektive zu relativieren, das subjektive Wahrnehmungspotential von Feldpostbriefen mit den objektiven Geschichtsabläufen zu konfrontieren und dabei Abweichungen, aber auch Überschneidungen zu registrieren. Die Entdeckerfreude läßt freilich allzu leicht vergessen, was nicht oft genug wiederholt werden kann: Es gibt hier im eigentlichen Sinne nichts wieder- oder gar neu zu entdecken. Selbst innerhalb der Pädagogik war die Perspektive von unten – in Augenzeugenberichten, in Feldpostbriefen – von Bedeutung, lange vor ihrer friedensmotivierten „Wiederentdekkung". Im Nationalsozialismus etwa konnte sie auf eine zwischen den Kriegen konzipierte, sich progressiv verstehende Pädagogik zurückgreifen, die das „Erlebnis des Krieges" als Mittel und Medium didaktischer Vermittlung favorisierte. Im Vordergrund stand dabei die möglichst „wirklichkeitsgetreue Anschauung". Das konnte nach 1933 – wie übrigens auch schon während des Ersten Weltkriegs – den Nachbau von Schützengräben im Werkunterricht, den Auftritt von Veteranen als Zeit-
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zeugen im Geschichtsunterricht oder eben die Lektüre von Feldpostbriefen im Deutschunterricht zur Folge haben.12 Können schließlich nicht auch „Offiziersmemoiren", jedenfalls die von subalternen Frontoffizieren, „militaristische Kriegsromane und ... Landserheftchen" in der Perspektive von unten verfaßt sein?13 Verdanken sie nicht gerade diesem Erzählduktus ihre suggestive, oft kriegsverherrlichende, meist apologetische und immer vorgeblich authentische Aussagekraft? Weniger suggestiv und im Klartext gesagt: Die Perspektive von unten, zumeist gekoppelt an das vermutete Bedürfnis des Publikums nach authentischer, „wahrer" Kriegs- und Militärschilderung, ist zumindest im 20. Jahrhundert durchgängig Teil der Kriegsdarstellung gewesen, bis heute. Vor diesem Hintergrund muß sich die „Militärgeschichte von unten" mit der Geschichte ihres eigenen Anspruchs und Erkenntnisinteresses befassen, bevor sie in die methodischen und thematischen Verhandlungen ihrer Zukunft eintreten kann. Dazu im folgenden ein paar vorläufige, gewiß ergänzungsbedürftige Anmerkungen. Sie konzentrieren sich auf die Ursprünge, die Quellenproblematik und die Perspektiven der „Militärgeschichte von unten" und innerhalb dieser Bereiche auf die Feldpostbriefe als eine ihrer maßgeblichen empirischen Grundlagen.
I. Ursprünge. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs geriet der soldatische Augenzeuge in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Es schien zunächst, vor allem das Foto und der Film seien kongeniale Medien dieser Augenzeugenschaft, fähig, sie gültig abzubilden. Ihr rasch genutzter militärischer Teil – Luftaufnahmen für die genaue Sondierung im Vorfeld gezielter artilleristischer Angriffe etwa14 – wurde ergänzt durch ihren dokumentarischen Charakter in der Widerspiegelung des Krieges. Ungeachtet technischer Probleme – war ein Krieg, der vor allem im Westen bald durch die Artillerie und Maschinenwaffen geprägt wurde und ein quasi leeres Schlachtfeld produzierte, überhaupt fotografier- und filmbar15 – erfreuten sich Film und Foto breiten Zuspruchs. Was von „Photokamera und Kinematograph" in diesem Krieg erwartet werden konnte, faßte ein Zeitgenosse in die Worte, daß dieses technische Gerät „der beste Geschichtsschreiber, weil der unbestechlichste, unbeeinflußbarste dieses Krieges hätte werden können."16 Der Konjunktiv deutet allerdings schon an, was zeitgleich – ungeachtet der ebenfalls beklagten, durch Kriegsfotos und -filme befriedigten Schau- und Sensationslust eines Massenpublikums17 – zumindest für einige Filmkritiker unübersehbar geworden war: Der „Filmkrieg" war immer auch schon ein künstlicher, verfälschender, in den regelmäßigen „Kriegswochen-Schauen" der Kinos „zwischen sentimentalen und eroti-
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schen Alltagsquark" gezwängt, selbst in „Prachtalben mit angeblichen ,Wirklichkeitsbildern'" durch nachgestellte Szenen seines faktischen Wertes beraubt.18 Die Klage über den ästhetischen Verfall von Foto und Film ging einher mit der Entzauberung seiner kriegsdokumentarischen Verläßlichkeit als einer mehr oder weniger planvollen Manipulation, deren schlimmste Auswüchse natürlich immer dem jeweiligen Feind zugeschrieben wurden. „Trotz aller Wirklichkeitshascherei" blieben Foto und Film „nur ein armseliges Schattenbild der Wirklichkeit, das zu irrigen Vorstellungen über die Dinge verleitet."19 Zum ersten Mal in solcher Intensität und Quantität kam in diesem Kontext der Feldpostbrief zu gewichtigen Ehren. Die von ihm unübersehbar ausgehende Faszination speiste sich freilich aus der gleichen Quelle wie die des Films und Fotos im Dienste des Krieges. Denn im Grunde verbarg sich hinter dem Bedauern, im nur scheinbar unbestechlichen Zelluloid das Medium des unbestechlichen Augenzeugen nun doch nicht gefunden zu haben, ein immens starkes Bedürfnis nach ihm. Ein Bedürfnis, das inmitten einer von Zensur, Lüge und Propaganda durchtränkten und verzerrten öffentlichen Meinung noch wuchs und durch den Feldpostbrief befriedigt werden mochte. War er es nicht, durch den der Front eigentlich Stimme und Gewicht gegeben wurde? Und das in einem „Volkskrieg", in dem mitzureden „moralisch jeder den Anspruch" hatte?20 Feldpostbriefe konnten bieten, was die „Nervenkitzelmaschinen" Kamera und Fotoapparat (noch) nicht zu leisten imstande waren:21 einen nicht bloß kalt-mechanischen, womöglich allein dem materiellen Profit und der Propaganda geschuldeten, sondern seelenvollen Abdruck der „Kriegswirklichkeit". Und zwar durch jene, die ihr zumindest in diesem Krieg noch, wenigstens auf deutscher Seite, in erster Linie als Täter und Opfer ausgesetzt waren – die Soldaten. Schließlich vermochten die eindrucksvollsten Filme und Fotos kaum etwas auszusagen „über die seelischen Vorgänge, die sich im Innern der handelnden Personen abspielen."22 Eine Erwartung, in deren Horizont Feldpostbriefe alsbald „weniger als historische Quellen denn als psychologische Zeugnisse" gesehen wurden. „Sie bekunden uns vor allem anderen", wie der Psychologe Georg Wunderle es 1914 formulierte, ein daraus gewinnbares Profil der erwünschten Kriegsseele gleich mitliefernd, „das unerschütterliche Gottvertrauen und die starkmütige Vaterlandsliebe unseres herrlichen deutschen Heeres."23 Das Verständnis von Augenzeugenschaft, das hier durchschimmert, scheint naiv. In groben Strichen wird der individuellen Wahrnehmung, dem persönlichen, authentischen Erlebnis des Krieges eine von dunklen Interessen geleitete, von propagandistischen Absichten bestimmte oder durch die Erfordernisse eines technischen Mediums modellierte Wahr-
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nehmung des Krieges kraß gegenübergestellt. Wo blieben dabei etwa jene Widersprüche, die im Spannungsfeld äußerer, beispielsweise durch die Erziehung geprägter, subjektiver Erwartungen und den tatsächlichen Erfahrungen des Einzelnen im Maschinenkrieg schnell zutage traten? Durften die daraus resultierenden Desillusionierungen überhaupt ihren brieflichen Niederschlag finden? Wurde andererseits nicht schon der Versuch dadurch obsolet, daß er sich womöglich in der sprachlichen Umsetzung an längst vergangenen Kriegserfahrungen orientierte, orientieren mußte? War nicht überhaupt die Zeit des Briefes (wieder einmal) vorbei?24 Und damit nicht auch die des brieflichen Augenzeugen, dessen Präsenz sich in dem Maße atomisierte, in dem das Schlachtfeld zum kaum einsehbaren Niemandsland geriet? Die massenhafte Verbreitung von Feldpostbriefen blieb von solchen Erwägungen völlig unberührt. Namentlich der Abdruck erster Feldpostbriefe in den Zeitungen und die Publikation rasch arrangierter Sammlungen machte die Zeugenschaft des Soldaten zum Thema.25 Die Briefe von der Front schienen für einen gleitenden Übergang vom „August"zum Kriegserlebnis zu bürgen, „unberührt ... durch literarische Vorbilder".26 An die Stelle der Fiktion, die vor allem in Form der Kriegslyrik dem begeisterten Aufbruch Stimme und Gewicht verliehen hatte, traten mit den Briefen nun mehr und mehr Texte, die eine authentische Innenansicht der Schlachten und vom Alltag der Soldaten zu geben versprachen. Damit wurde zugleich die traditionelle Perspektive von oben in der Abbildung des Krieges durch die von unten ergänzt. Es begann, was zeitgenössisch spektakulär die „Herrschaft des Feldpostbriefes" genannt wurde.27 In deren Schatten überwog, allen frühen und in vielen Belangen ineffizienten Wirkungen der Pressezensur zum Trotz, die bereitwillige Nutzung von Feldpostbriefen, weil sie der „Aufrechterhaltung der in der Bevölkerung herrschenden Begeisterung ... förderlich" schienen.28 „Wie ein Mann", so heißt es etwa überzeugt in der Einleitung einer Sammlung, sei das Volk dem Kaiser „mit heller Begeisterung" gefolgt: „Und kaum ist die Mobilmachung pünktlich und ruhig wie ein aufgezogenes Uhrwerk abgeschnurrt, so folgen auch schon Taten, wie sie die Geschichte noch nicht verzeichnet hatte". Der Feldpostbrief jedoch bringe sie zur Anschauung.29 Gerade in der ersten Phase des Krieges fand das Weltgeschichte-Machen des Gelehrten seine Ergänzung im Dabei-SeinDürfen des Kriegsfreiwilligen. Dies aber konnte bekenntnishaft nicht primär im Kontext der „Ideen von 1914" dokumentiert werden, sondern weitaus wirkungsvoller in den Feldpostbriefen, die der Ideologie vorderhand die authentisch-subjektive Grundierung verliehen. Spätestens hier zeigte sich, daß Feldpostbriefe zum wichtigen Bestandteil jener fiktiven, aber für viele doch blendend-attraktiven Legierung geworden
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waren, die aus der Verschmelzung subjektiver und nationaler Identität hervorging oder doch hervorgehen sollte. Ihrer bedurfte der „Volkskrieg" für seine Rechtfertigung offensichtlich ebenso dringend wie kurz zuvor der Akklamationen der Straße. „Die absolute Bejahung des Krieges aus der Notwendigkeit heraus" mußte, wie es ein zeitgenössischer Kritiker im Hinblick auf die Wirkungsweise des Feldpostbriefes charakterisierte, „volksgemäßer umgestaltet [werden] zu einer Bejahung aus dem Schicksal und Willen des Einzelnen heraus."30 Aufmerksamen Beobachtern der Geschehnisse entging die damit einhergehende massive Vermarktung des Krieges nicht, die seine subjektive, aufs Sensationelle abzielende oder doch dafür einsetzbare Illustrierung zum verkaufsfördernden Inhalt hatte. Gewohnt kritisch und unbeeindruckt von der propagierten Begeisterung notierte der Krupp-Direktor Wilhelm Muehlon bereits am 19. August 1914 in sein Tagebuch: „Zu einer wahren Pest in der öffentlichen Meinung sind die Briefe der Feldzugsteilnehmer geworden, die unsere Zeitungen veröffentlichen, ohne irgend eine Kritik walten zu lassen ..., als ob sie sich des Unfugs nicht bewußt wären. Prahlerische, aufgeregte, unwissende Soldaten schreiben natürlich das ungereimteste Zeug, sei es über Eroberungen, sei es über Grausamkeiten. Sie vermischen Selbsterlebtes sorglos mit gerüchtweise Verlautbartem, sowie namentlich mit dem, was auch sie nur in Zeitungen gelesen haben."31 Das journalistische Anerbieten, ein Gemisch aus Erlebnissen, Gerüchten und wiederum Angelesenem einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, war zugleich allerdings auch – und das sollte nicht vergessen werden – die Reaktion auf ein überreiches Angebot. Viele drängte es offenbar, ihr persönliches Kriegserlebnis, mitgeteilt in Briefen, nicht allein auf den wenig publizitätsträchtigen Bereich privater Korrespondenz zu beschränken, sondern einen über den mit den Angehörigen hinausgehenden, öffentlichen Schulterschluß mit der Nation zu suchen. Jene, die sich gedruckt sehen wollten, lösten mit der Masse ihrer zur Veröffentlichung eingeschickten brieflichen Elaborate mitunter kuriose Verwicklungen aus. So wird aus den ersten Monaten des Krieges von der Presseabteilung des XIII. Stellv. Gen. Kdos. berichtet, daß sie „von Schriftleitungen, die aus ihrem Leserkreis mit dem Verlangen um Veröffentlichung von Briefen oft bedrängt wurden, mehrmals um Nichtgenehmigung wertloser Mitteilungen geradezu gebeten" wurde.32 Daß die Generals-Perspektive sich diffus aufzufächern begann in die ausgesuchten, oft auch eingestanden unkritischen Blickwinkel der persönlich direkt Beteiligten – ob aus schlammigen Schützengräben oder von der in den Etappen aufgefahrenen „Gulaschkanone" aus33 -, konnte in der ersten Zeit des Krieges seine Entstellung bis hin zur „frisch-
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fröhlichen" Unkenntlichkeit kaum verhindern. Zwar verheimlichte diese vorgetäuschte Authentizität keineswegs und durchgängig den Terror des Krieges. Allerdings durfte die selber erlittene Unbill, die eigene Härte und Abstumpfung legalisierte, nicht fehlen. „Schrecknisse von grausamer Furchtbarkeit werden mitgeteilt", versprach das Geleitwort einer Edition, aber so, „als ob sich das alles von selbst verstände."34 Ihre Funktion fanden die brieflichen Abbildungen des Kriegsterrors in der publikumswirksamen Verdeutlichung, daß aus dem „August" allmählich das „Kriegserlebnis" sich formte, also das von Jubelrufen und Blumengebinden begleitete Gemeinschaftspathos sich nun auch unter Granatenbeschuß und Schmerzenschreien zu bewähren hatte. Dafür „raucht" das „Blut der Kämpfer zwischen den Zeilen".35 Kurz: Das in ihnen Mitgeteilte sollte nicht konstitutiv für die realen Auswirkungen des Krieges sein, sondern für deren Überwindung. Solange der Krieg für kurze Zeit als pure Fortsetzung der Vorkriegsgegenwart mißverstanden werden konnte, wog das Gewicht des feldpostbrieflichen Augenzeugen in der öffentlichen Meinung entsprechend schwer.36 Sobald freilich das radikal Neue, so Unverhoffte wie Traumatische dieses Krieges sich abzeichnete und auswirkte, mithin das vermittelte Reservoir von Erwartungen an diesen Krieg sich erkennbar in bloßer „Phrase, Pose und Schminke" zu erschöpfen begann, verschob sich auch die Bedeutung des Augenzeugen.37 Zwar wurde auch weiterhin die subjektive Sicht des Krieges von unten geschätzt. Doch bestand die berechtigte Befürchtung, daß die zunehmend kritischen Stimmen der Front in den Briefen eine Bedeutung über die private Erbitterung hinaus gewinnen und zusammen mit den sogenannten „Jammerbriefen"38 der Daheimgebliebenen alsbald die Ausmaße einer die Motivation zusätzlich belastenden Wechselwirkung annehmen konnten. Tatsächlich wurde der Widerspruch zwischen offizieller, der Abbildung des heroischen Krieges verpflichteter Nutzung und der ins Private abgedrängten Empörung, Klage oder Angst in dem Maße unübersehbar, in dem sich die antizipierte authentische Widerspiegelung des Erlebten immer krasser von den eigentlichen Realitäten der Front und deren Wirkungen in der Heimat zu unterscheiden begann.39 Appelle in der Presse an das nationale Verantwortungsgefühl der Briefeschreiber und an das Lektüreverhalten der Empfänger in der Heimat sowie Zensurmaßnahmen griffen ineinander, um diese Entwicklung wenn schon nicht zu verhindern, so doch zu kontrollieren. Es war genau diese Lage, in der auch militär-, oder wie es zeitgenössisch richtig heißen muß, kriegsgeschichtliche Interessen sich der Perspektive von unten bemächtigten.40 Das Bemühen, die Sammlung und Veröffentlichung von Feldpostbriefen durch Verlage, Zeitungen und
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Einzelpersonen in den Griff zu bekommen, muß vor allem im Zusammenhang jener Versuche gesehen werden, schon während des Krieges mit der Arbeit an einem amtlich-offiziellen, militärgeschichtlichen Werk des Weltkriegs zu beginnen. Nach der Mobilmachung hatte man die eigentlich für die offizielle Kriegsgeschichte zuständigen Abteilungen im Generalstab – Bereich Oberquartiermeister Kriegsgeschichte und zwei kriegsgeschichtliche Spezialabteilungen – aufgelöst. Bereits im Verlaufe des Herbst 1914 jedoch kam aus dem Armee-Oberkommando der österreichisch-ungarischen Bundesgenossen der Vorschlag, „gemeinsam ,der großen Öffentlichkeit möglichst bald eine kurz gefaßte, populär gehaltene, authentische Darstellung der Ereignisse zu bieten', um die aus Geheimhaltungsgründen nur sehr allgemeine amtliche Berichterstattung zu ergänzen und auch einer sonst wahrscheinlich sofort einsetzenden privaten Geschichtsschreibung einen Riegel vorzuschieben."41 Mit „privater Geschichtsschreibung" war auch das Sammeln, womöglich Edieren und Publizieren von Feldpostbriefen gemeint. Dem „einen Riegel vorzuschieben" schien notwendig, weil der Krieg als gleichsam briefliches Privatissimum seinen belehrenden und kriegsmotivierenden Charakter verloren hatte. Vor diesem Hintergrund reagierte der Chef der 2. OHL, v. Falkenhayn, auf das österreichische Ansinnen zustimmend. Für Deutschland sei „kein wissenschaftliches Werk, sondern [eine] Zusammenstellung in großen Zügen, vielleicht unter Hervorhebung patriotischer Einzeltaten" vorzubereiten. Noch im Herbst 1914 wurde daraufhin im Großen Hauptquartier eine „Kriegsnachrichten-Stelle" installiert, die unter der Leitung des ehemaligen Chefs der kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Generalstabes, v. Freytag-Loringhoven, die Arbeit beginnen sollte.42 Zusammen mit der zugleich eingerichteten „Prüfungsstelle für Kriegsakten" hatte sie zudem die dafür grundlegende Aufgabe, die in der Armee bis hinunter zu den Bataillonen geführten Kriegstagebücher zu verwalten, zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen.43 Auch wenn v. Freytag-Loringhovens Auffassungen über das zu schreibende Werk von der v. Falkenhayns abwichen und es zu einer Zusammenarbeit mit der k. u. k. Armee nicht kam,44 ließen erste Auswirkungen doch nicht lange auf sich warten. Insbesondere die Herausstellung „patriotischer Einzeltaten", auf die in der Frühphase des Krieges zudem sogenannte „patriotische Schenkungen" als Geldpreise ausgesetzt waren,45 nahm nun ihren der Absicht nach kriegsbefördernden Anfang. Unter der Überschrift „Heldentaten" veröffentlicht und durch das Wölfische Telegrafen Büro zensiert verbreitet,46 wurden diese „Ehrentafeln" oft unter Verwendung von Feldpostbriefen etwa in den „Schützengrabenzeitungen" –
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es gab in der deutschen Armee im Verlaufe des Krieges insgesamt 46 dieser Periodika, davon 28 allein an der Westfront47 – und in kleineren Blättern jener Städte und Provinzen publiziert, aus der die in Rede stehenden „Helden" stammten. Die Arbeit der neu gegründeten „Kriegsnachrichten-Stelle" machte sich hinsichtlich der Feldpostbriefe aber vor allem in einem Schreiben bemerkbar, das Mitte März 1915 vom Stellvertretenden Generalstab an alle Kriegsministerien und Stellvertretenden Generalkommandos verschickt worden war. Hier wurde angeregt, „Feldpostbriefe und sonstige Aufzeichnungen von Kriegsteilnehmern ausschließlich durch den stellvertretenden Generalstab zu sammeln, weil die ernste Gefahr vorliegt, daß aus ihnen gewichtige militärische Interessen schädigende Mitteilungen in die Öffentlichkeit gelangen."48 Diese Anregung hatte unterschiedliche Interpretationen, Ergänzungen und Realisierungen zur Folge. Im Stuttgarter Stellvertretenden Generalkommando etwa wurde der alsbald nachgereichte Vorschlag des Stellvertretenden Generalstabes, alle „Feldpostbriefe und Aufzeichnungen, die nach Form und Inhalt besonders wertvoll sind und deren Veröffentlichung in der Tagespresse oder in Zeitschriften durch Aufrechterhaltung der in der Bevölkerung herrschenden Begeisterung der nationalen Sache förderlich ist, zu sammeln, bearbeiten zu lassen und bald der einen, bald der anderen Zeitung zur Verfügung zu stellen", schnell als mittlerweile völlig unrealistisch erkannt und „nicht weiter verfolgt".49 Statt dessen wurde aber der im Schreiben angeregte grundsätzliche Hinweis zum Sammeln von Feldpostbriefen umgesetzt, allerdings für den Stuttgarter Korpsbereich an das Kriegsarchiv bzw. die kriegsgeschichtliche Abteilung des Württembergischen Kriegsministeriums delegiert. „Kriegstagebücher und Feldpostbriefe", so heißt es im daraufhin verfaßten Aufruf, „waren für die Geschichtsschreibung eines Krieges stets neben den amtlichen Berichten die ergiebigste und unentbehrlichste Quelle."50 Zwar wurde im Februar 1917 die Arbeit an einem Generalstabswerk des Krieges eingestellt, aber nach einer Verfügung vom Frühjahr des Jahres als Ersatz damit begonnen, die Reihe „Der große Krieg in Einzeldarstellungen" vorzubereiten. Nach ihrem Verleger auch „StallingHefte" genannt, fungierte als Herausgeber und betreuende Institution eine Sektion der Abteilung Illb (Nachrichten- und Pressewesen) bei der OHL. Von den volkstümlichen, auf eine populäre Darstellung des Krieges von unten abzielenden Heften – durch die Armeeführung abgesegnet und damit einen halbamtlichen Charakter erhaltend – erschienen bis Kriegsende noch neun Ausgaben in großer Auflage. Abgesehen von den ersten beiden Heften, in denen u.a. dem Langemarck Mythos Vorschub geleistet wurde (Heft 10, O. Schwirk, Die Schlacht an der Yser und bei
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Ypern im Herbst 1914,1918), wurden durchweg siegreiche Schlachten an der Ostfront abgehandelt.51 Damit holte man allerdings nur nach, was seit Beginn des Krieges auf dem Buchmarkt und im weiteren Verlauf vor allem durch die halbamtlichen Buch- und Broschüreveröffentlichungen verschiedener Armeen oder der in ihrem Bereich publizierten Front- und Schützengrabenzeitungen schon praktiziert worden war: die Darstellung des Krieges aus der Sicht ausgesuchter Betroffener, durchsetzt mit Feldpostbriefen, Gedichten, Zeichnungen und Fotografien.52 Feldpostbriefe als „Offenbarung der Seele"53 konnten dazu dienen, aus privaten Entblößungen kollektiv vermittelbare und um des „Durchhaltens" willen auch bald benötigte seelische Dispositionen selektiv zu destillieren. Deren Attraktivität bemaß sich an ihrer Fähigkeit zur Integration in den – dem heißen zur Seite gestellten – kalten Krieg um die Sinnstiftung des Kampfes. Zwar hatte sich gegen Ende des Krieges in den Briefen und den teils der Zensur entgangenen, teils vor Kontrollen versteckten Aufzeichnungen ein „in Jahren angespeichertes Material" angesammelt, „dessen Veröffentlichung nur einen entsetzten Schrei der Empörung oder eisiges, erstarrtes Schweigen hervorrufen würde."54 Doch entfaltete der Blick von unten nur kurz, nach den Jahren der Nutzung im kriegsverlängernden Sinn, seine aufklärende, demaskierende Kraft. In den folgenden Jahren dagegen sollte die schon während des Krieges praktizierte, nun parallel zur politischen Nachkriegspolarisierung vollzogene Inanspruchnahme der Stimme von unten die Oberhand gewinnen.55
II. Quellen. Feldpostbriefe als historische Quellen in einer „Militärgeschichte von unten" zu nutzen, scheint vor diesem Hintergrund nicht unproblematisch; ihre Rolle als alltägliches Medium der Kommunikation, das gleichermaßen der emotionalen Stabilisierung getrennter Familien wie der davon abhängigen Stärke soldatischer Kampfmotivation diente, war seit dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit eng verquickt mit der rhetorischen Repräsentation des existentiell erlebten Krieges. Unter anderem mit Feldpostbriefen sollten die aus der chaotischen Erfahrungs- und Gefühlswelt des Krieges gewonnenen Angebote zur Überwindung seiner Schrecken gleichermaßen stabilisiert wie volkspädagogisch ästhetisiert werden.56 Auf dieser Folie ist in der Tat zu fragen, ob der Feldpostbrief nicht eben jene „Verbindung von Kriegsrealität und Nahperspektive" herstellt, die den „Krieg mythisierte"?57 Festzuhalten bleibt zunächst, daß der feldpostbriefliche Beitrag zur Ideologisierung, Mythologisierung und Psychologisierung des Krieges in den Jahren 1914-18 und ihrer Verarbeitung in der Zwischenkriegszeit
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nicht verhindert hat, daß sie nach 1945 für die Forschung58 und als Editionsobjekt attraktiv blieben oder es im Zuge der verstärkt rezipierten und angewandten Alltagsgeschichte wieder wurden.59 Nach frühen Feldpostbriefsammlungen des Ersten Weltkriegs nach 1945,60 stehen Editionen mittlerweile ganz im Zeichen der Friedenserziehung: wenn nicht bedingt durch die feste, bereits im Vorkrieg geprägte klassenkämpferische Position der Autoren,61 oder durch die naiv-anrührende Diktion von Briefeschreibern, die nicht wissen, was und wie ihnen geschieht,62 dann durch das Aufzeigen vergangener, wie auch immer zum Teil verblendeter, ideologisch überformter oder ganz aufs Private gerichteter, unpolitischer Wahrnehmungen des Krieges.63 Insgesamt beginnt seit Anfang der achtziger Jahre das Interesse an der Erfahrungswelt der kleinen Leute im Krieg wieder zu wachsen. Generell konzentriert es sich aber eher auf den Zweiten Weltkrieg. Erste Versuche, ein Remake der bekanntesten Sammlung des Ersten Weltkriegs (P. Witkop (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten) für den Zweiten Weltkrieg aufzulegen, werden nach Anfängen nicht weitergeführt.64 Daneben wurden und werden aber immer wieder Feldpostbriefe und Tagebücher von Schriftstellern und Künstlern publiziert.65 Damals wie heute – wenngleich mit unterschiedlichem Erkenntnis- und Nutzungsinteresse – resultiert ihr Quellenwert aus der „unmittelbaren Nähe zum Geschehen", lassen sie doch „meist sehr deutlich die Stimmung spüren, aus der heraus sie verfaßt wurden."66 Diese Begründung findet sich im Kern bereits bei Hanna Hafkesbrink. Sie hat nach 1945 die erste wissenschaftliche Auswertung edierter Feldpostbriefe des Ersten Weltkriegs unter dem Motto vorgenommen: „Where do we feel the heartbeat of a people more directly than in their letters."67 Feldpostbriefe werden in der Folge zur Untersuchung „komplexer Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge einzelner Menschen im Krieg" genutzt.68 Die Briefe ermöglichten, so die Annahme, einen Zugang zu lebensgeschichtlich bedeutsamen, „biographischen Krisen" und erlaubten einen Blick auf die „alltagsweltlichen ,Theorien'" ihrer Autoren in der Konfrontation mit einer veränderten Umwelt und deren Auswirkungen auf den Menschen im Krieg.69 So wird darauf verwiesen, daß sich die in den Briefen feststellbaren „seelischen, emotionalen oder rationalen Krisen" an ihren Rändern mit dem Erscheinungsbild psychischer Erkrankungen überlappen. Namentlich an den „Kriegsneurosen" des Ersten Weltkriegs und ihrer raschen Verbreitung seien die Krisensymptome ablesbar.70 Der Hinweis ist wichtig, hätte aber zumindest kurze Verweise auf die bisherige, historisch nutzbare Forschung zur Verortung individueller und kollektiver Krisen, die dadurch ausgelösten Identitätsverschiebungen
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und deren gesellschaftliche Auswirkungen im Umkreis des Ersten Weltkriegs verdient. Gerade an der Geschichte der Neurose (Unfall-, Versicherungs- und schließlich Kriegsneurose) kann gezeigt werden, daß es „weniger rein wissenschaftliche Analyse als vor allem forensischer und – besonders im Krieg – politischer Druck war", der ihre Definition bestimmte.71 Wer von „Kriegsneurosen" spricht, müßte mithin die militärischen Erfordernisse und Normierungen einer Gesellschaft im Krieg berücksichtigen. Ihr Einfluß auf die Diagnose und Therapie der Kriegsneurotiker sowie auf die damit verbundene Darstellung und Einschätzung ihrer „biographischen Krisen" verbietet es, das Thema Kriegsneurose anders als kultur- und wissenschaftsgeschichtlich reflektiert zu nutzen. In einem eher ideengeschichtlichen Ansatz ist von geisteswissenschaftlicher Seite – freilich ohne die eben genannte medizinhistorische Analyse zu rezipieren – schon früh dafür plädiert worden, daß „Sinndeutungen der Wirklichkeit samt deren Institutionalisierungen ... ihren Ursprung in der Psyche bzw. im Bewußtsein konkreter Menschen" haben.72 Diese Überlegungen mündeten bald in die Forderung, der psychischen Dimension des Kriegserlebnisses nachzugehen und Krankengeschichten, psychologische, zeitgenössische Erhebungen, psychiatrische Gutachten sowie Briefe und Tagebücher als Quellengrundlagen zu verwenden. Sie allein könnten „indirekt die seelische Dimension des Geschehens selbst zeigen."73 Orientiert am psychohistorischen Entwurf Robert Jay Liftons und der damit verbundenen Symboltheorie – in der die „Fähigkeit des Unterbewußten und Bewußtseins zur Symbolisierung" vorausgesetzt wird74 –, sollen die „Veränderung kultureller Werte, sozialer Mythen und symbolischer Codes" ebenso untersucht werden wie die „damit verbundene Entwicklung der Einzelpersönlichkeit." In diesem Kontext rückt die „Erfahrung der Absurdidät der Existenz" vor allem an der Westfront des Ersten Weltkriegs in den Mittelpunkt.75 Allerdings, das grundsätzliche Problem dieses Ansatzes – die Gefahr, von persönlichen, zumal bei Künstlern auch als Widerstand aufgefaßten und gelebten Krankengeschichten auf kollektive Befindlichkeiten rückzuschließen, ohne die sozialen, ökonomischen und kulturellen Zusammenhänge ausreichend in Rechnung zu stellen – blieb damit durchaus bestehen.76 Vor diesem Hintergrund kam den Arbeiten Eric J. Leeds sowie denen von Paul Fusseil, die zumindest im anglo-amerikanischen Raum eine enorme Breitenwirkung entfalteten, besondere Bedeutung zu. Vor allem Fussell analysierte auf der Quellengrundlage autobiographischer englischer Kriegsliteratur den Soldaten und dessen Erlebnis im Kontext der ihn umgebenden Kultur und Gesellschaft.77
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Auch Leed interessieren die Veränderungen der Persönlichkeit im Ersten Weltkrieg und die Abhängigkeiten dieser Entwicklung von Konventionen und überlieferten Symbolen. Jede Untersuchung der vom Krieg geformten Identitäten müsse davon ausgehen, daß ihre Prägungen jenseits aller normalen sozialen Erfahrung geschah. Darum sei es so schwierig, sie intellektuell nachzuvollziehen und mit „normalen" soziologischen oder psychologischen Methoden zu analysieren. Das vielfach in der Kriegsliteratur betonte Geheimnis des Erlebnisses versperre den Zivilisten den Zugang und bewahre es auch in der Nachkriegszeit vor Erosionen.78 Insbesondere Leeds instruktives 5. Kapitel („An Exit from the Labyrinth – Neuroses and War") sowie der Ansatz Fussells, die soziale Funktion und kulturelle Vorprägung der Selbst- und Fremdwahrnehmung im Krieg in den Mittelpunkt zu stellen, übernahmen in der Folge eine Vorreiterrolle für eine Reihe von Arbeiten, die sich nun ganz auf die Kriegsneurosen und die „shell-shock" Opfer konzentrierten.79 Doch weder Leeds noch – ausdrücklich – Fussell nutzen für ihre Arbeiten umfänglich oder überhaupt Feldpostbriefe. Gerade die temporäre Unmittelbarkeit der brieflichen Aufzeichnungen und die Nähe der Autoren zu den Ereignissen sowie ihre Verstrickung in ein noch nicht abgeschlossenes historisches Geschehen, dessen Ende offen ist, könnten in diesem Kontext den Wert des Feldpostbriefes ausmachen. Es kann eingewendet werden, daß damit die Geschichte oder doch ein Ausschnitt ihres alltagsgeschichtlichen Teils im Ersten Weltkrieg völlig mit der Quelle identifiziert wird, die davon berichtet. Damit würde dann jeder Feldpostbrief zu der (Kranken-)Geschichte, um deren Interpretation es doch geht.80 Zu klären wäre, ob und in welchem Ausmaß die unmittelbare Interpretation und sogar das bloße Registrieren der Ereignisse in Feldpostbriefen schon vermittelt sind. Natürlich ist das ein schnell vorgebrachter Einwand, dessen Umsetzung generell schwierig, fast unmöglich ist, und wahrscheinlich nur anhand der literarischen Darstellung des Krieges eingelöst werden kann.81 Vor allem in der Nachfolge einer von Peter L. Berger und Thomas Luckmann entworfenen „Theorie der Wissenssoziologie" und ihrem alsbald Programmcharakter erlangenden Obertitel „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" ist in der Alltags- und Sozialgeschichte versucht worden, über die Definition individuellsubjektiver Sinnsuche und Wahrnehmung als sozialem Konstrukt, diesem Problem gerecht zu werden. In neueren Publikationen zu Feldpostbriefen des Ersten Weltkriegs ist direkt von einer „Konstruktion der Kriegswirklichkeit" die Rede. Erläutert wird dies mit dem Hinweis darauf, daß „die Zeitgenossen – bewußt oder unbewußt – Erfahrungsund Deutungsmuster, Typisierungen, Problemlösungen oder Handlungsrechtfertigungen, die sie im Laufe ihres Lebens gelernt und erprobt hat-
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ten, die ihnen also gesellschaftlich vermittelt worden waren", verwendeten.82 Tatsächlich muß betont werden, daß auch der unmittelbare Zugang zu vergangenen Lebenswelten, wie sie sich im Feldpostbrief widerspiegeln, ein vielfach gebrochener ist. Wer ihn benutzt, darf nicht vergessen, daß der Akt des Briefeschreibens selbst schon Konstruktion ist. Zum ersten Mal vollzog sie sich während des Ersten Weltkrieg in einem Kontext, in dem der Augenzeuge und sein briefliches Zeugnis zum Indikator authentischer Wahrnehmung des Krieges gemacht wurde.83 (Vgl. I.) Darüber hinaus können etwa Auswirkungen der äußeren Zensur die Abfassung der Briefe beeinflussen.84 Hinzu treten jene oft nur schwer nachweisbaren der inneren Zensur.85 Hier haben Untersuchungen zum Sprachstil von Feldpostbriefen erste Ergebnisse gebracht. Auf der Grundlage zumeist edierter deutscher Feldpostbriefe von den Einigungskriegen bis zum Zweiten Weltkrieg ist die These vertreten worden, daß wesentlich „sozialpsychische (Erwartungshaltungen, Dispositionen) Konventionen" bei Absendern und Empfängern zum Tragen kamen, die zusammen mit emotional gesteuerten, sich vor allem aus der psychischen Belastung (Todesangst, Entbehrungen usw.) speisenden „Sprachhandlungsstrategien" die Abfassung von Kriegsbriefen prägten. Primär in der Schilderung frontnaher Stressituationen lauteten die „Konversationsmaximen der Kriegsbriefe ... – überspitzt ausgedrückt – Fehlinformation, Lüge, Irrelevanz, Unklarheit, Undeutlichkeit"; dies aber hätte „fünf emotive Sprachhandlungsstrategien" nach sich gezogen: „Verschweigen, Verharmlosung, Poetisierung, Phraseologisierung und Imagepflege."86 Solche sprachlichen Verbrämungen vornehmlich in Briefen von der Front sind sicherlich vorgekommen und konnten sich gleichsam wie Patina über die „tatsächlich" erlebte Kriegsrealität legen sowie die eigene Rolle als Täter und Opfer verklärend imaginieren. Sie beruhigten die Empfänger, erweckten Zuversicht und Hoffnung und bestätigten das vom Soldaten erwartete Verhalten.87 Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß eben dies von kritischen Zeitgenossen bereits während des Ersten Weltkriegs erkannt wurde; es geriet zum kritischen Beleg dafür, daß publizierte Briefe nicht authentisch genug in der Abbildung des Krieges sein konnten, „weil sie ganz abhängig waren von den Phrasen vergangener Kriege und der soldatischen Erinnerung der Väter. Nicht wie der Krieg war, wurde geschrieben, sondern wie er hätte sein müssen nach Wunsch und Meinung aller Soldatenherzen. Man sah, was gesehen werden sollte, und schrieb den Feldpostbrief, wie man ihn in der Heimat erwartete."88 Viele verfaßten ihre Briefe gewiß so, wie es Paul Fussell für englische Feldpostbriefe des Ersten Weltkriegs mit einer
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ironischen Kurzformel charakterisiert hat: „The trick was to fill the page by saying nothing and to offer the maximum number of clichés."89 Doch abgesehen davon, daß es im Kontext von „Sprachhandlungsstrategien" immer auch bewußt geplante Möglichkeiten gab, den Angehörigen zumindest eine Ahnung der realen Verhältnisse und der eigenen Empfindungen zu vermitteln,90 werden damit die einengenden Wirkungen der Postzensur91 unterschätzt und jene wenigen herangezogenen Beispiele, die Erlebtes aus der Todeszone der Front zu formulieren suchen, in ihrer Hilflosigkeit bei der Abbildung der Schrecken überschätzt. Es stellt sich zudem die Frage, ob für die Erforschung von bestimmten, an gesellschaftliche Konventionen, Erfahrungen und Erwartungen der Briefautoren und Empfänger gekoppelten Stilmerkmalen von Feldpostbriefen eine im Ansatz unterschiedslose Untersuchung von in ihrem Charakter völlig unterschiedlichen Kriegen sinnvoll ist. Denn natürlich hat der preußisch-französische Krieg, an dem gegenüber den zwei Weltkriegen ein weitaus geringerer Teil der Bevölkerung überhaupt beteiligt war, eine ganz andere Kriegssemantik, mithin auch unterschiedliche „Konversationsmaximen" und „Sprachhandlungsstrategien" ausgebildet92 – ein Phänomen im übrigen, das auch innerhalb jedes einzelnen Krieges seine Bedeutung hat. Was im August/September 1914 in Briefen noch verschwiegen oder verharmlost wird, konnte womöglich 1916 offen gesagt werden oder diente gar der Imagepflege. Einen wichtigen Hinweis gibt schon Fusseil: Vor dem Ersten Weltkrieg hätte jeder in England (und mutmaßlich auch, wenngleich mit den entsprechenden nationalen Schattierungen, in Deutschland und Frankreich) gewußt, „what Glory was, and what Honor meant. It was not until eleven years after the war that Hemingway could declare in ,A Farewell to Arms' that abstract words such as glory, honor, courage, or hallow were obscene beside the concrete names of villages, the numbers of roads, the names of rivers, the numbers of regiments and the dates'. In the summer of 1914 no one would have understood what on earth he was talking about."93 Anzumerken ist allerdings: ob tatsächlich jedermann beispielsweise mit dem bis dahin traditionellen Ehrbegriff etwas anzufangen wußte, wie es Fussell hier voraussetzt, ist doch mehr als zweifelhaft. Gewiß waren nicht durchweg alle in den Krieg ziehenden und eingezogenen Soldaten so unschuldig und von harmlos-verklärten, am „ritterlichen" Krieg orientierten Vorstellungen durchdrungen, wie die von Fussell vor allem herangezogenen Schriftsteller des Erlebnisses. Freilich läßt sich mit einem literarisierten Bild der Generation von 1914 der Desillusionierungsprozeß nach der Konfrontation mit dem Maschinenkrieg pointierter herausarbeiten. Immerhin – ob Feldpostbriefe gegenüber erzählter Le-
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bensgeschichte im Interview, in der womöglich deutend umgedeutet wird, den Vorteil haben, als „authentische Zeugnisse aktueller Lebenserfahrungen" deren „unmittelbare Interpretation" zu enthalten,94 erscheint vor diesem Hintergrund zumindest fraglich. Die immer wieder betonte Unmittelbarkeit des Feldpostbriefes in der Quellenaussage geht womöglich einher mit dem Verlust der den Überblick bietenden Distanz. Daher ist die These geäußert worden, daß sich im nachträglich geführten narrativen Interview in der Person des „Biographen" (des Interviewten) der Vorteil der Unmittelbarkeit mit dem der Distanz verbinde: „... mit der Distanz verfügt er über die Voraussetzung, zeit- und lebensgeschichtlich relevante Schwerpunkte zu setzen, mit der Fähigkeit zur unmittelbaren Rückerinnerung gelingt es ihm, in der Vergegenwärtigung das Erlebte nah heranzuholen und von neuem lebendig zu machen."95 Doch lassen sich mittlerweile, unabhängig von methodischen Erwägungen, Interviews in ausreichend großer Zahl nur noch mit soldatischen Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs durchführen.96 Freilich kann gerade vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs die angenommene Stärke des Interviews – es ermöglicht dem Befragten „bewußt oder unbewußt eine Auswahl dessen zu treffen, was sich für das eigene Leben als tatsächlich wichtig erwiesen hat"97 – angesichts der Verstrickung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen zur Schwäche geraten, weil es Verdrängungen fördert. Hier böten Feldpostbriefe mutmaßlich ein Korrektiv. Ihre Untersuchung „kann dabei behilflich sein, den Mantel der Barmherzigkeit des selektiven Gedächtnisses etwas beiseite zu schlagen", ohne daß dabei „gleich ein umstandslos authentisches Zeugnis vergangener Erfahrungen" herauskommt.98 Die bei den Untersuchungen des individuellem Kriegserlebnisses auftretenden methodischen Probleme vermehren sich, wenn der Schritt zu den kollektiven Kriegserlebnissen gewagt wird,99 es mithin das Ziel ist, in der Erforschung des Frontalltags oder des sozialen Bewußtseins der Soldaten auf der Basis populärer Zeugnisse über das womöglich rein Impressionistische hinauszukommen und zu einer breiter angelegten sozial- oder mentalitätsgeschichtlichen Darstellung zu gelangen. Für den Ersten Weltkrieg heißt das: Existiert überhaupt so etwas wie das Kriegserlebnis der akademischen Jugend, der Arbeiter oder der Bauern?100 Welche besonderen Eigenschaften hätte es jeweils, wo ließen sich eindeutige Trennungen, wo Überschneidungen feststellen? Diese Fragen müßten fortgeführt werden auf der religiösen, politischen, generationsbezogenen oder der zumindest im Ersten Weltkrieg noch so wichtigen landsmannschaftlichen und ethnischen Ebene: ob ein Soldat aus Preußen oder aus Sachsen, Bayern oder Württemberg kam, ob er Pole, Elsässer, Däne oder „Reichsdeutscher" war, spielte eine Rolle für die Wahrneh-
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mung.101 Dieser wiederum müßten – idealerweise – Wahrnehmungsfilter vorgeordnet werden, die durch Elternhaus, Erziehung, Berufsausbildung, Lesestoffe etc. mehr oder weniger gefärbt wurden und innerhalb national unterschiedlicher „Konventions- und Erwartungssysteme (...) weitgehend bestimmen, was von den objektiven Phänomenen in die Erfahrung des Einzelnen dringt (...).“102 Daneben wären die besonderen hierarchischen Funktionalisierungen des Menschen als Soldat und deren Einflüsse auf die Wahrnehmung des Krieges zu bedenken. Das würde die Dienstgradstaffelungen umfassen – ein Offizier nimmt gemeinhin den Krieg aus einer anderen Perspektive wahr als ein einfacher Soldat oder Unteroffizier,103 ein Stabsoffizier wieder anders als ein subalterner Frontoffizier. Aber auch die Dauer und vor allem der Ort des Einsatzes spielten eine Rolle: die durch Stellungskrieg und Trommelfeuer geprägte Westfront führte zu anderen Kriegserlebnissen als die weniger materialabhängige, zudem streckenweise noch durch den Bewegungskrieg gekennzeichnete Ostfront. Aber wo überhaupt lag die Kampfzone, der eigentliche Ort der Front und wo begann das, im Ersten weit mehr als im Zweiten Weltkrieg davon geschiedene Etappengebiet? Da eine Definition nicht allein für die Wahrnehmungsweisen relevant ist, sondern in Form der „Front- oder Kampfzulage" zur Rente von Kriegsteilnehmern eine sozialpolitische Dimension besaß und zudem seit 1934 über die Zuerkennung des „Ehrenkreuzes für Frontkämpfer" entschied, verfügen wir in dieser Frage für die Jahre 1914/18 über eine offizielle Bestimmung. Im Oktober 1934 legte das Reichsarchiv für diese „Kampfzone" einen analog zur Waffenentwicklung sich verändernden Raum fest, „den vorn die vorderste Kampflinie, hinten eine dieser parallel laufende Linie begrenzte, deren Abstand in den Jahren 1914 und 1915: 10 Km / im Jahre 1916: 15 Km / in den Jahren 1917 und 1918: 20 Km betrug."104 Eine fragwürdige Definition, deren genaue Begründung – mutmaßlich die zunehmende Reichweite und Treffergenauigkeit der schweren Artillerie – unbekannt bleibt. Für eine Geschichte des Soldaten müßte sie durch jene ergänzt werden, die Marc Bloch für den kurz hinter der vordersten Linie beginnenden Raum vorgeschlagen hat: „,Zone der Legendenbildung'". Das durch die Propaganda in den Zeitungen und durch die Zensur ihrer Briefe geweckte Mißtrauen der Soldaten gegenüber jeder Art von Schriftlichkeit fand ein Ventil in zeitgemäßen Legenden, Mythen und Gerüchten – den eigentlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen an der Front.105 Und könnte sich nicht auch in den Feldpostbriefen als dem Medium des Augenzeugen kaum so sehr das „wirkliche" Geschehene widerspiegeln als vielmehr das, „was man zu seiner Zeit im Bereich der Wahrnehmung für selbstverständlich hielt?"106
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Diese Frage kann nicht zuletzt für den Vergleich Erster/Zweiter Weltkrieg im Rahmen der „Militärgeschichte von unten" bedeutsam sein. So hat eine Analyse des „,touristischen'" Blicks in den Feldpostbriefen deutscher Soldaten, „mit dem diese Land und Leute betrachteten", signifikante Unterschiede der Wahrnehmung im Ersten und Zweiten Weltkrieg offengelegt.107 „Während im Ersten Weltkrieg die negativ wertenden Adjektive fast ausschließlich dem Land, äußeren Umständen, Verhältnissen galten, wurden sie im Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der eigenen Empfindungen überwiegend, hinsichtlich der ,Sauberkeit' fast ausschließlich auf die Bevölkerung bezogen, bis zu so drastischen Wörtern wie , abstoßend' und ,ekelhaft'. Hier wurden nicht mehr vornehmlich Verhältnisse markiert, sondern Menschen denunziert."108
III. Perspektiven. Der Blick auf die öffentlichkeitswirksamen Ursprünge und die Skizzierung der Quellenproblematik einer „Militärgeschichte von unten" zeigen eines deutlich: ihre Perspektiven können nur im engen Bezug zu einer ihrer Hauptquellen – den Feldpostbriefen – und deren Geschichte sowie den daraus erwachsenen Problemen entwickelt werden. Als Medium des Augenzeugen, das eigentlich die Wahrheit über den Krieg von unten zutage fördern sollte, war der Feldpostbrief seit dem Ersten Weltkrieg in den von vornherein politisch-moralischen Kampf um seine Darstellung, und Auslegung miteinbezogen. Schon im Moment seiner Entstehung konnte er seinen Authentizität verheißenden Quellenwert verlieren. Diesen für die heutige „Militärgeschichte von unten" einfach zu postulieren, hieße unter den Auspizien eines bloß oberflächlich gewandelten Erkenntnisinteresses zu wiederholen, was dem Feldpostbrief während des Ersten Weltkriegs und danach, immer als Inbegriff der Stimme von unten, abverlangt wurde: Authentizitätslieferant zu sein für eine dem Heroischen verpflichtete Abbildung des Krieges und fragmentarischer, ausgesuchter Erfahrungshintergrund für die auf den kommenden Krieg zielende Konstruktion des Erlebnisses. Die heutige „Militärgeschichte von unten" kann sich jedoch nicht darauf beschränken, der Perspektive von oben in reiner Addition die „menschliche Dimension" hinzuzufügen. Auf diese Weise verkäme sie, namentlich für den Bereich des Zweiten Weltkriegs, schlimmstenfalls zu einer Art moralischem Schondeckchen, unter dem „Mitschuld gleichsam durch Mitleiden aufgewogen" werden würde.109 Damit aber wären die Weichen für eine moderne „Militärgeschichte von unten" falsch gestellt. Sie liefe nicht zuletzt Gefahr, auf einem vorwiegend durch Film, Fernsehen und populäre oder populärwissenschaftliche Publikationen beherrschten Feld mit untauglichen Mitteln einer vorgeblich authentischen Kriegs-Berichterstattung nachzueifern. Die mediale Mixtur aus „Infor-
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mationsbedürfnis, Voyeurismus oder Abenteuerlust"110 um die alltagsgeschichtlich kaschierte Suche nach den „wirklichen Menschen ,von unten'" zu vermehren, kann nicht ihre Aufgabe sein.111 Die Bedeutung des Feldpostbriefes erschöpft sich nicht in seinen möglichen Aussagen über das wahre, authentische Erlebnis des Krieges. Sie ist vielmehr zugleich untrennbar mit seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte verwoben. Feldpostbriefe konnten vom Beginn des Ersten Weltkriegs an immer schon beides sein: Medium einer freilich pädagogisch, kulturell, sozial und militärisch wiederum beeinflußten Selbstmobilisierung von unten und vieltausendstimmiges Echo eines alles Bekannte oder auch nur Erahnte überbietenden Vernichtungskrieges und dessen Auswirkungen auf den Frontalltag, der den sozialen, schließlich verbrecherischen Wertekanon der zivilen Gesellschaft reproduzierte. Die damit schon anklingenden Mehrdeutigkeiten feldpostbrieflicher Aussagen lassen sich auch und gerade auf der Ebene der Briefe selbst finden. Ähnlich wie Soldaten nie allein nur Opfer, sondern immer auch Täter waren und sind, changieren auch ihre feldpostbrieflichen Zeugnisse zwischen teils völlig entgegengesetzten Aussagen über Charakter und Verlauf ihrer Kriegserfahrungen, mitunter in ein und demselben Brief. Der eher touristische Blick auf den Krieg konnte sich mit dem auf seine psychischen Auswirkungen verbinden, aggressive Bekundungen über den Feind sich mit Rudimenten humaner Emotionen mischen, nachgestammelte Sinngebungsversuche von Erkenntnissen über die erlebte grelle Sinnlosigkeit abgelöst werden. Im Spannungsfeld des selbst erfahrenen Krieges und der Bedürfnisse, Ansprüche und Interessen, die an den Charakter seiner Abbildung gestellt werden und ihn prägen, entsteht die Wahrnehmung des Krieges. In diesem Sinne waren etwa die Feldpostbriefe des Ersten Weltkriegs gleichermaßen Indikatoren für eine Krise, für den Protest und politisch instrumentalisierbare Texte im Vorfeld der deutschen Diktatur. Erst in der steten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erwartungs- und Interpretationskontexten, in deren Horizont etwa nationalpädagogische, militärische oder kriegspsychologisch motivierte Ansprüche an Feldpostbriefe herangetragen wurden oder sich im Bewußtsein ihrer Verfasser als in den Krieg mitgebrachtes Wissen ablagerten, läßt sich ihre Aussagekraft wiedergewinnen. Eine Untersuchung der sich daraus ergebenden Themen für eine „Militärgeschichte von unten" – der Vorgang der Selbstmobilisierung etwa, die Verarbeitung des Todes und des Tötens im Krieg, die Radikalisierungen des Krieges, kurz: die „Vergesellschaftung der Gewalt"112 – ist notwendiger denn je.
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W. Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992. Vgl. ders., Militärgeschichte von unten, in: B. Jaspert (Hg.), Geschichte von unten. Modelle alternativer Geschichtsschreibung, Hofgeismar 1990, S. 130-49. – Dieser Aufsatz entstand im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Projektes Wette, Krieg, S. 12, 13. Zu den Memoiren deutscher Offiziere vgl. F. Gerstenberger, Strategische Erinnerungen. Die Memoiren deutscher Offiziere, in: H. Heer u. K. Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 620-33; zur Kriegsliteratur den konzisen Überbück in: U. Baron u. H.-H. Müller, Die Weltkriege im Roman der Nachkriegszeiten, in: G. Niedhart u. D. Riesenberger (Hg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 u. 1945, München 1992, S. 300-18; zu den Landserheften: K. F. Geiger, Jugendliche lesen Landser-Hefte. Hinweise auf Lektürefunktionen u. -Wirkungen, in: G. Grimm (Hg.), Literatur u. Leser, Stuttgart 1975, S. 324- 41. Wette, Krieg, S. 12. Ebd., S. 13 Ebd., S. 20. Ebd., S. 12, S. 18. Daß und wie dies möglich ist, haben mittlerweile nicht allein die Arbeiten von Omer Bartov oder Christopher Browning gezeigt: C. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 u. die „Endlösung“ in Polen, Hamburg 1993 (1992); O. Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus u. die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995 (1992). Vgl. auch M. Geyer, „Es muß daher mit schnellen und drakonischen Maßnahmen durchgegriffen werden“. Civitella in Val di Chiana am 29. Juni 1944, in: H. Heer u. K. Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg, S. 208-40. Meisterhaft gelingt es Geyer auf verschiedenen Erzähl- und Analyseebenen – aus der Perspektive der Witwen der von deutschen Soldaten ermordeten Männer, aus jener der beteiligten deutschen Soldaten und ihren Briefen, auf der Ebene des sozial-, mentalitäts- und militärgeschichtlichen Kontextes – die „Geschichte einer Kriegführung“ zu exemplifizieren, „in der Gewalt ein Mittel der Selbstbestätigung geworden ist.“ S. 224. Vgl. für den freilich ganz anderen Zusammenhang des Ersten Weltkriegs, aber ähnlich eindrucksvoll: A. Kramer, „Greueltaten“. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien u. Frankreich 1914, in: G. Hirschfeld u.a. (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 85-114. Der propagandistische Mißbrauch von Feldpostbriefen, allerdings primär im 2. Weltkrieg, wird stärker betont in: A. Golovchansky u. a. (Hg.), „Ich will raus aus diesem Wahnsinn.“ Deutsche Briefe von der Ostfront 1941-1945. Aus sowjetischen Archiven, Wuppertal 1991, Nachwort der deutschen Herausgeber/Ute Daniel, Jürgen Reulecke, S. 301 ff.; J. Dollwet, Menschen im Krieg, Bejahung – und Widerstand?, in: Jb. für Württembergische Landesge-
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schichte 13. 1987, S. 279-322; O. Buchbender u. R. Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945, München 1982, S. 25ff.; V. Kretschmer u. D. Vogel, Feldpostbriefe im 2.Weltkrieg: Propagandainstrument u. Spiegelbild von Kriegsauswirkungen, in: Sowi H. 2/1990, S. 103-10. Für den 1. Weltkrieg vgl. u.a.: P. Knoch (Hg.), Kriegsalltag. Die Rekonstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung u. der Friedenserziehung, Stuttgart 1989; G. Niedhart u. D. Riesenberger (Hg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918/ 1945, München 1992. A. Lüdtke, Soldatenbriefe – Heimatbriefe, in: Sowi H. 2/1990, S. 133f., S. 133; P. Knoch, Feldpost – eine unentdeckte historische Quellengattung, in: Geschichtsdidaktik, 1986, S. 154-77. G. Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel, in: G. Hirschfeld u.a. (Hg.), S. 11-24, S. 15. Humburg, Die Bedeutung der Feldpost für die Soldaten in Stalingrad, in: W. Wette u. G. R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad – Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt 1992, S. 68-79, S. 79. Vgl. ders., Deutsche Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg – Eine Bestandsaufnahme, in: D. Vogel u. W. Wette (Hg.), Andere Helme – andere Menschen? Heimaterfahrung u. Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen 1995, S. 13-36, S. 29. Vgl. R. Ibel (Hg.), die Stimme der Toten. Ein Vermächtnis, aus der Reihe: Das Reich im Werden. Arbeitshefte im Dienste politischer Erziehung, Frankfurt 1936; s. a. W. Reyer, Der Frontsoldat als nationalpolitischer Erzieher, in: Pädagogische Warte H. 4/1935, S. 149-54. Zur Geschichte des anschaulichen Beobachtungsunterrichts: D. Langewiesche u. H.-E. Tenorth (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918-1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989. Vgl. den leider viel zu wenig beachteten Aufsatz von K. Moser, Kriegsgeschichte und Kriegsliteratur. Formen der Verarbeitung des Ersten Weltkrieges, in: MM 2. 1986, S. 39-52. Moser zeigt eindrucksvoll, daß und inwieweit die Kriegsliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre mit der in ihr vorherrschenden Perspektive von unten „in breiter Front in die Domäne der Historiographie“ einbrach und damit zum „Symptom“ wurde „für den Beginn einer gewandelten Herangehensweise an die nahe Vergangenheit des Krieges“, S. 43. A. Büttner, Die Photographie aus der Luft im Kriege, in: Die Umschau 19. 1915, S. 528 ff. Vgl. vor allem die wie immer anregende Analyse bei B. Hüppauf, Modern Warfare and its Representation in Photography and Film, in: Krieg u. Literatur/War and Literature 8. 1992, S. 63-84. Vgl. ders., Kriegsfotografie, in: W. Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 875-910. O. T. Stein, Der Krieg im Kino, in: Die Gegenwart 88. 1916, S. 42ff., S. 44. Vgl. B. Hüppauf, Kriegsfotografie an der Schwelle zum neuen Sehen, in: B.
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Loewenstein (Hg.), Geschichte u. Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, S. 205-33. Einen Überblick zum historisch bedeutsamen Wahrnehmungsfeld der Kamera im Krieg bietet: J. Lewinski, The Camera at War. A History of War Photography from 1848 to the Present Day, New York 1978. Eine Kritik, die schon vor dem Krieg eine wichtige Rolle in der Beurteilung des neuen Mediums, namentlich des Kinos spielte: „Das Kino wandte sich an breite Massen, in der ersten Zeit vor allem an die großstädtischen Unterschichten. Es artikulierte deren ästhetische Präferenzen und Perspektiven, orientierte sich damit an einer für das etablierte Denken und dessen Bildungskonzepte nur als Negativfolie bedeutsamen Größe.“ J. Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909- 1914, Leipzig 1992, S. 7. O. T. Stein, Krieg im Kino, S. 43. J. Gaulke, Kunst u. Kino im Krieg, in: Die Gegenwart 88. 1916, S. 618 ff., S. 619. W. Bauer, Der Krieg u. die öffentliche Meinung, Tübingen 1915, S. 12. H. Häfker, Der Ruf nach Kunst (1913), in: J. Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 89-97, S. 96; R. Gaupp, Die Gefahren des Kino (1911/12), in: ebd., S. 64-69, S. 69. J. Gaulke, Kunst u. Kino im Krieg, S. 620. G. Wunderle, Das Seelenleben unter dem Einfluß des Krieges, Eichstätt 1914, S. 21. Der Abgesang auf den Brief begleitet seine Geschichte von jeher. Sie wurde – und wird bis in unsere Tage hinein – kontinuierlich als eine des Verfalls charakterisiert. Nicht nur in dieser Einschätzung stilbildend war vor 1914 das imposante Werk von G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Berlin 1889-1891. (…) Allein in der Kriegssammlung der ehemals Königlichen Bibliothek Berlin – heute die „Kriegssammlung 1914“ der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz – sind 97 Editionen und Einzelpublikationen von Feldpostbriefen für die Jahre 1914-18 aufgeführt, wovon 57 bereits in den ersten beiden Kriegsjahren erschienen. Aus einer Anzeige für eine Feldpostbriefedition, abgedruckt in: P. Witkop (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916. W. v. Hollander, Die Entwicklung der Kriegsliteratur, in: Die neue Rundschau, 1916, S. 1274-79, S. 1275. „Die Herrschaft des Feldpostbriefes reicht noch hinein in die Zeit des beginnenden Stellungskrieges und erhält frische Blutzufuhr durch die erstaunliche Schilderung des Schützengrabenlebens mit seinen vermeintlichen Humoren.“ Ebd. (…) HStA/MA Stuttgart, M 77/2, Denkschriften Stellv. Gen. Kdo. XIII. AK, Bd. 14, Abt. IId: Denkschrift über die Erfahrungen bei der Mobilmachung im Jahre 1914 und während des Krieges betr. Vorbereitung der Mobilmachung, Organisation usw. (März 1918), Bl. 50.
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H. Leitzen (Hg.), Der Große Krieg 1914/15 in Feldpostbriefen, Wolfenbüttel 19153, S. 4. W. v. Hollander, Die Entwicklung der Kriegsliteratur, S. 1275. W. Muehlon, Ein Fremder im eigenen Land. Erinnerungen u. Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908-1914, hg. u. eingel. von W. Benz, Bremen 1989, S. 143. Vgl. auch S. 191, 192, Eintrag v. 6.9.1914, in dem Muehlon anläßlich einer Eisenbahnfahrt über die Zuverlässigkeit mündlicher und brieflicher Berichte von Soldaten reflektiert. „Auf das Zeugnis dieser Leute werden heutzutage die ungeheuerlichsten Anklagen gegen die feindliche Kriegführung gegründet; ihre Feldpostbriefe, die von Heldentaten, oder anders ausgedrückt, von barbarischer Einfalt strotzen, werden gesucht und veröffentlicht als Dokumente zu einer künftigen Einzelbeschreibung des Feldzuges.“ S. 192. (...) HStA/MA Stuttgart, M 77/2, Denkschriften Stellv. Gen. Kdo. XIII. AK, Bd. 14, Abt. IId: Denkschrift über die Erfahrungen bei der Mobilmachung im Jahre 1914, Bl. 49. „Es ist selbstverständlich“, so der Feldpostbriefverfasser Eberhard Baumann, „daß ich alles, was für einen größeren Kreis sich nicht eignet, zurückhalte. Dazu gehört alles rein Persönliche sowie alles Kritische.“ Feldbriefe u. Kriegstagebuchblätter von Lic. theol. E. Baumann/Domprediger, mit 26 Kunstbeilagen und zwei Übersichtskarten, Halle 1916, Vorwort. Briefe aus dem Felde 1914/15. Für das deutsche Volk im Auftrage der Zentralstelle zur Sammlung von Feldpostbriefen im Märkischen Museum zu Berlin, hg. von Professor Dr. O. Pniower; Kustos des Märkischen Museums u. a., Oldenburg i. Gr. 1916, Geleitwort, S. 2. So Hans Leitzen in der von ihm edierten Sammlung: Der große Krieg 1914/15 in Feldpostbriefen, Wolfenbüttel 19153, S. 7. „Daß Geschichte Gegenwart ... Gegenwart Geschichte wird“, das schien im November 1914 dem Literaturwissenschaftler und Journalisten Oskar Bie das „Gewaltigste“, das Erstaunlichste am Feldpostbrief; er „erhielt Zeugniswert“. O. Bie, Feldpostbriefe, in: Die Neue Rundschau 15. 1914, Berlin, S. 1602-06, S. 1602. Im Grunde begegnet uns in diesem Verständnis vom Augenzeugen jenes der Frühen Neuzeit. „Die Authentizitätssignale“, so Reinhart Koselleck, „blieben an der Augenzeugenschaft, womöglich der handelnden und beteiligten Personen haften ...“ Die Erfahrungen des Kriegs-Augenzeugen waren so ungebrochen wie gegenwärtig. „Die Geschichte als fortlaufende Gegenwart“ aber, so Koselleck, „lebt von deren Augenzeugen ...“ R. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 176-207, S. 182-83. W. v. Hollander, Die Entwicklung der Kriegsliteratur, S. 1275. So werden in einem vertraulichen Nachrichtenblatt des Stellv. Gen. Kdo. 2. AK die Briefe deutscher Frauen an die Front genannt, nachdem sie von den Alliierten – gefangenen oder getöteten deutschen Soldaten abgenommen – auf Flugblättern über den deutschen Linien abgeworfen worden waren. Ver-
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traulich! Nachrichtenblatt der Ausschüsse für volkstümliche Belehrung und Unterhaltung, hg. v. Stellv. Gen. Kdo. 2. AK, Presseabteilung, Nr. 1-6 (3-6), Stettin 1917/18. Beispiele dafür in: B. Ulrich u. B. Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen u. Dokumente, Frankfurt 19952. Zur Begrifflichkeit vgl. R. Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?, in: MM 1. 1967, S. 21-30. MA Potsdam, Best. 15.17, W-10/50061, Kurze Darstellung der Entstehung des Weltkriegswerkes 1914/18, der angewandten Forschungsmethoden u. der dabei gewonnenen Erfahrungen, Teil A, Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres, Oktober 1944 (Ms.), S. l. MA Potsdam, Best. 15.17, W-10/50061, Kurze Darstellung der Entstehung des Weltkriegswerkes 1914/18, der angewandten Forschungsmethoden ..., S. 2. Freytag-Loringhoven gehörte dann als Generalquartiermeister der 2. OHL von März 1915 bis Sommer 1916 an. Nach dem Krieg ist er bis zu seinem Tod (1925) u. a. Mitglied in der dem Reichsarchiv übergeordneten Historischen Kommission und nimmt hier Einfluß auf die Konzeption des Weltkriegs-Werkes. MA Potsdam, W-10/50627, E. Otto, Die Kriegstagebücher im Weltkriege (Ms.), auch in: Archiv für Politik u. Geschichte, H. 12/Dezember 1925. – Auf diese Weise bildete sich schon während des Krieges allmählich ein Kriegsarchiv heraus, das zum „Grundstock“ für das spätere Reichsarchiv (ab 1919) werden sollte. MA Potsdam, Best. 15.17, W-10/50061, Kurze Darstellung der Entstehung des Weltkriegswerkes 1914/18, ..., S. 2. v. Freytag-Loringhoven „schwebte“ entgegen v. Falkenhayns Vorstellung einer populären, schnell zu erarbeitenden Schrift „etwas ähnliches wie ein Generalstabswerk vor – wenn auch in volkstümlicher Form -, das man erst nach Kriegsende nach nochmaliger Überprüfung erscheinen lassen könnte. Diese Auffassung und häufiger Wechsel der Bearbeiter bewirkten, daß bis zur Übernahme der Obersten Heeresleitung durch Hindenburg und Ludendorff Ende August 1916 amtliche kriegsgeschichtliche Veröffentlichungen über den Weltkrieg nicht erschienen.“ Ebd. Diese „patriotischen Schenkungen“ kamen von Einzelpersonen, Firmen und vor allem von den nationalen Verbänden. So setzte etwa der Ortsverband Dresden des Deutschen Flottenvereins jener Besatzung eines deutschen Kriegsschiffes 6000,- Mark aus, „die das erste größere englische Kriegsfahrzeug (Linienschiff, Kreuzer oder größeres Torpedoboot) nimmt oder vernichtet“. Dieses Ziel war der Firma Weise & Monski, Pumpen und Maschinenfabrik Halle a.S., 3000,- Mark wert. BA Potsdam, Reichskanzlei 1914/ 18, Nr. 2398, Schreiben Staatssekretär Reichs-Marine-Amt v. 26.8.1914 an Reichskanzler, betr. Genehmigung patriotischer Schenkungen, Bl. 177 Rs. Vgl. H.-D. Fischer (Hg.), Pressekonzentration u. Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg. Texte u. Quellen, Berlin 1973. Reprint des Zensurbuches für die Deutsche Presse/Ausgabe 1917, S. 194-275, S. 213, „Ehrentafeln“.
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W. Nicolai, Nachrichtendienst, Presse u. Volksstimmung im Weltkrieg, Berlin 1920, S. 66f., S. 66. Aufgaben Verbreitung u. Wirkung der Armeezeitungen sind bisher für Deutschland kaum erforscht. Vgl. K. Kurth, Die deutschen Feld- u. Schützengrabenzeitungen des Weltkrieges, Leipzig 1937, der eine tendenziöse Übersicht bietet. Anne Lipp (Tübingen) bereitet zum Thema Armeezeitungen eine Diss. vor. HStA/MA Stuttgart, M 750, Schreiben Preußisches KM (v. Wandel/Stellv. Preuß. Kriegsminister) v. Dez. 1915 (Tagesdatum fehlt) an Preuß. Innenminister. Das Schreiben gibt den Wortlaut der Anregung des Stellv. Generalstabes sinngemäß wieder. Es wurde laut Verteiler auch an alle Stellv. Gen. Kdos. verschickt, wo es in der Regel an die Zensur- und Aufklärungsoffiziere weitergeleitet wurde. HStA/MA Stuttgart, M 77/2, Denkschriften Stellv. Gen. Kdo. XIII. AK, Bd. 14, Abt. IId: Denkschrift über die Erfahrungen bei der Mobilmachung im Jahre 1914 ..., Bl. 49/50. Ebd., Bl. 50 u. HStA/MA Stuttgart M 1/11, Bd. 43, Aufruf zur Einreichung von Feldpostbriefen an das Kriegsarchiv des KM. In dem Aufruf heißt es weiter: „Das Kriegsministerium wendet sich ... an alle Kreise Württembergs, an jeden einzelnen, der im Besitz unmittelbarer Berichte aus dem Felde ist, mit der Bitte, diese wertvollen Beweisstücke aus großer Zeit dem Kriegsarchiv des Ministeriums in beglaubigter Abschrift oder in Ur-schrift zu übersenden.“ Vgl. R. Brühl, Militärgeschichte u. Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1816-1945, Berlin 1973, S. 215ff., S. 276f.; H. Cron, Die Organisation des deutschen Heeres im Weltkriege, Berlin 1923, S. 13 ff., S. 177ff. Vgl. auch MA Potsdam, Best. 15.17, W-10/50061, Kurze Darstellung der Entstehung des Weltkriegswerkes 1914/18, der angewandten Forschungsmethoden u. der dabei gewonnenen Erfahrungen ..., S. 2-3. Die Autoren waren Kriegsberichterstatter und schriftstellernde Soldaten, meist Offiziere bzw. zur Armee eingezogene Autoren. Vgl. z.B. B. Kellermann, Der Krieg im Argonnerwald. Mit einem Geleitwort von Kronprinz Wilhelm, Berlin 1916. Auch Fritz v. Unruhs Roman über Verdun (Opfergang, 1918), entstand ursprünglich als Auftragsarbeit (Februar 1916) der OHL, um durch die Schilderung der Schlacht vor Verdun die Soldaten und ihre Angehörigen zum weiteren Durchhalten zu motivieren. Das Ergebnis entsprach aber nicht den Vorstellungen, das Buch konnte erst nach dem Krieg erscheinen, der Autor entging als preußischer Gardeoffizier nur knapp der kriegsgerichtlichen Verurteilung. Vgl. L. Harig, Verdun ist keine Taube, in: FAZ v. 26.6.1985. Harig gibt u.a. einen knappen Einblick über die Entstehungsgeschichte des Buches. Wie „authentizitätsverbürgende epische Genres literaturfähig wurden“, skizziert in einem ausgezeichneten Überblick H.-H. Müller, Der Krieg u. die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 11-19, S. 13. Vgl. auch T. Schneider, Endlich die
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,Wahrheit' über den Krieg. Zu deutscher Kriegsliteratur, in: Text + Kritik. Zs. für Literatur, H. 124: „Literaten u. Krieg“, Oktober 1994, S. 38-51. (…) G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, Bd. 2, S. 290 f. Anon., Die Zermürbung der Front (von einem Oberarzt d. R.), in: Süddeutsche Monatshefte/Kriegshefte, Okt. 1918-März 1919, S. 176-92, S. 178. „Die Konzentration auf den kämpfenden Einzelnen“ konnte „sowohl zur Glorifizierung des ,Deutschen Helden' (...) oder von ,Männlichkeit, Kameradschaft und Liebe zum Vaterland' (...) als auch umgekehrt, zur Ehrung des leidenden ,namenlosen Soldaten' (...), funktionalisiert werden“. Insgesamt hatte die „neue Perspektive ... keineswegs zwingend einen kritischen historischen Zugriff auf den Krieg zur Folge.“ K. Moser, Kriegsgeschichte u. Kriegsliteratur, S. 45 f. Vgl. auch R. Woods, Die neuen Nationalisten u. ihre Einstellung zum Ersten Weltkrieg, in: Krieg u. Literatur/War and Literature, Nr. 1/1989, S. 59-80. Vgl. B. Ulrich, Feldpostbriefe des Ersten Weltkrieges – Möglichkeiten u. Grenzen einer alltagsgeschichtlichen Quelle, in: MM 53. 1994, S. 73-83. „Indem sie (die Nahperspektive, B. U.) den nicht nur täuschenden, sondern auch kontrollierenden Blick von oben denunzierte, hat sie den Kampf zum Selbstzweck werden lassen.“ So eine der Thesen von Herfried Münkler, Schlachtbeschreibung: Der Krieg in Wahrnehmung und Erinnerung. Über „Kriegsberichterstattung“, in: ders., Gewalt u. Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt 1992, S. 176-207, S. 192 u. passim. Allerdings ist die These Münklers, die „Nahperspektive“ mythisiere den Krieg, ja, camoufliere die leidende, passive Haltung der Opfer „als höhere Form der Aktivität“ nur begrenzt stichhaltig. Zu bedenken wäre, daß das gewiß vorhandene Mythisierungspotential der Perspektive von unten in Krieg und Nachkrieg sich erst durch die ersichtlich allgemeine Folgenlosigkeit ihrer Darstellung im Hinblick auf die Kriegsverkürzung bzw. -Verhinderung entfalten konnte. H. Münkler, S. 207 u. passim. Erst jüngst haben es Manfred Hettling und Michael Jeismann unternommen, die Editions- und Rezeptionsgeschichte der bekanntesten Feldpostbriefsammlung des Ersten Weltkriegs zu untersuchen: Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: G. Hirschfeld u.a. (Hg.), S. 175-98. Als markantestes Ergebnis der Studie kann hervorgehoben werden, daß vor allem die temporäre und inhaltliche Vagheit des in den Briefen reflektierten Opferbegriffs ihre Instrumentalisierung forcierte. Einerseits ist der „Verweis auf die Einlösung des Sinns (des Opfers, B. U.) in der Zukunft“ feststellbar, andererseits eine Beschränkung seines Sinns auf die pure „Bereitschaft zum Opfer“ (S. 189). Es ist „gleichsam in politischer Hinsicht zweckfrei – und damit wiederum politisch frei besetzbar“ geworden (S. 190). Eine Entwicklung, die seit Ende der siebziger Jahre verstärkt auch auf dem belletristischen Erinnerungs- und Dokumentationsliteratur-Markt zu beobachten war. Eckhard Henscheid bemerkt dazu: „In den letzten Jahren kam es zu einer ziemlichen Schwemme von häufig fotoüppig dekorierter Dokumentationsliteratur über das Proleten- und Subalternenleben des 18., 19. und frühen
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20. Jahrhunderts: Briefe, Tagebücher, Autobiographien von nicht geringem Erkenntniswert, überzogen von anheimelnder historischer Patina. Man sollte sowas jetzt langsam genug sein lassen und vor allem das allzu Fashionable meiden, das der Form selber droht – ...“ E. Henscheid, Flausen im Kopf (Kurzrezension), in: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Bd. XII, hg. v. J. P. Reemtsma u. B. Rauschenbach, Zürich 1985, S. 196. R. Maier/Baden-Württembergischer Ministerpräsident, Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg 1914-18, Stuttgart 1966. D. Kachulle, (Hg.), Die Pöhlands im Krieg. Briefe einer sozialdemokratischen Bremer Arbeiterfamilie aus dem 1. Weltkrieg, Köln 1982. E. Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm.“ Briefe einer Soldatenfrau, Weinheim, Basel 1986. F. Schumann (Hg.), „Zieh Dich warm an!“ Soldatenpost u. Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen. Chronik einer Familie, Berlin 1989. W. Bähr u. H. W. Bähr (Hg.), Kriegsbriefe gefallener Studenten 1939-45, Tübingen 1952. Vgl. H. Dollinger (Hg.), Kain, wo ist dein Bruder? Was der Mensch im 2. Weltkrieg erleiden mußte, dokumentiert in Tagebüchern und Briefen, Frankfurt 1983; W.- D. Mohrmann, Der Krieg ist hart u. grausam hier! Feldpostbriefe an den Osnabrücker Regierungspräsidenten 1941–44, Osnabrück 1985; M. Tremper (Hg.), Briefe des Soldaten N., Berlin 1988; I. Hammer u. S. zur Nieden, (Hg.), Sehr selten habe ich geweint. Briefe u. Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin, Zürich 1992. F. Marc, Briefe aus dem Feld, neu hg. v. K. Lankheit u. U. Steffen, München 1982; M. Beckmann, Briefe im Kriege 1914/15, München 1984; A. Stramm, Briefe an Neil und Herwarth Waiden, Berlin 1988; H. Barbusse, Briefe von der Front. An seine Frau 1914-17, Leipzig 1987, oder das von K.-H. Janßen u. G. Stein edierte Kriegstagebuch von Hermann Löns, Leben ist Sterben, Werden, Verderben, Kiel 1986. In der DDR gab der bekannte Kinderbuchautor A. Görtz Teile seiner Briefe und Tagebucheintragungen heraus (Stichwort: Front. Tagebuch eines jungen Deutschen 1938-42, Halle, Leipzig 1987). Görtz konfrontiert in der Tradition Edlef Köppens Antikriegsroman „Heeresbericht“ (1930) seine privaten Aufzeichnungen mit offiziellen Wehrmachtsberichten. K. Latzel, Vom Sterben im Krieg. Wandlungen in der Einstellung zum Soldatentod vom siebenjährigen Krieg bis zum II. Weltkrieg, Warendorf 1988, S. 18. Vgl. auch ders., Die Zumutungen des Krieges u. der Liebe. Zwei Annäherungen an Feldpostbriefe, in: R Knoch (Hg.), Kriegsalltag, Stuttgart 1989, S. 204-21. H. Hafkesbrink, Unknown Germany. An inner Chronicle of the First World War based on Letters and Diaries, New Häven 1947, S. VIII. Solche und ähnliche Begründungen fanden sich freilich auch schon während des Ersten Weltkriegs und seiner erinnernden Aufbereitung während der Weimarer Republik. P. Knoch, Feldpost – eine unentdeckte historische Quellengattung, in: Geschichtsdidaktik 11.1986, S. 154-71, S. 158. Die mögliche Nutzung des Feld-
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postbriefes für „eine Geschichte des sich wandelnden inneren Zustandes der Armee im Laufe der Kriegsjahre“ gerät dabei allerdings aus den Augen. Sie bleibt weiterhin „ein Desiderat der Forschung.“ W. Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der „Dolchstoßlegende“, in: ders., Militär, Staat, Gesellschaft, München 1991, S. 211-33, S. 216. – Peter Knoch, der über eine umfangreiche Privatsammlung von Feldpostbriefen und Tagebüchern des Ersten und Zweiten Weltkriegs verfügte, war in verschiedenen Beiträgen bemüht, populäre Quellen für die Forschung und die Didaktik des Geschichtsunterrichtes nutzbar zu machen. Peter Knoch konnte sein Werk leider nicht vollenden, – er starb Anfang 1994; seiner Sammlung und seinen Publikationen verdanken vor allem jüngere, am Kriegsalltag interessierte Historiker viel. Die Feldpostbriefsammlungen Knochs befinden sich heute – wie die des ebenfalls früh verstorbenen Reinhold Sterz – in der Bibliothek für Zeitgeschichte/Stuttgart. P. Knoch, Kriegserlebnis als biographische Krise, in: A. Gestrich u. P. Knoch (Hg.), Biographie – sozialgeschichtlich, Göttingen 1988, S. 87f. Ebd., S. 87. Allerdings stellt Knoch aus einem Korpus von 60 Briefsammlungen nur zwei „Fälle“ vor. Bedeutsam sind hier zunächst die Arbeiten der Medizinhistorikerin Esther Fischer- Homberger, zentral: Die Traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern u. a. 1975, S. 8 u. passim. Einen eher ideologiekritischen Ansatz, ohne Fischer- Homberger zu rezipieren, verfolgt K. H. Roth, Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen. Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen „Kriegsneurotiker“ 1915-1945, in: 1999 3. 1987, S. 8-75. Vgl. auch I. Eschebach, Kriegs- u. Revolutionshysteriker, in: Maison de Santé, ehemalige Kur- und Irrenanstalt. Ausstellungskatalog, hg. vom Bezirksamt Schöneberg/Berlin 1989, S. 93-98. G. Komo, „Für Volk und Vaterland“. Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen, Münster 1992. Paul Lerner (History Dept. Univ. of Columbia/New York) hat kürzlich nachdrücklich darauf hingewiesen, wie groß die Heilerfolge der deutschen Militärpsychiatrie waren. Der ärztliche Diskurs über die Therapien sei zwar einer der Kontrolle gewesen, aber er war „also a discourse of healing. To be sure, the methods involveld were often brutal and inhumane, but ... in most cases médical treatment brought an end to débilita ting symptoms and enabled patients to return to work“. P. Lerner, Rationalizing the Therapeutic Arsenal: German Neuropsychiatry in First World War, S. 28. Unveröff. Ms. Lerner bereitet eine größere Arbeit über die Militärpsychiatrie des Ersten Weltkriegs und ihre Folgen in der Weimarer Republik vor. K. Vondung, Probleme einer Sozialgeschichte der Ideen, in: ders. (Hg.), Das wilhelminische Bürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 5-19, S. 14. U. Linse, Das wahre Zeugnis. Eine psychohistorische Deutung des I. Weltkrieges, in: K. Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der I. Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 90-114, S. 95; vgl. auch ders., „Saatfrüchte sollen nicht gemahlen wer-
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den!“ Zur Resymbolisierung des Soldatentodes, in: ebd., S. 262-74. Hier sind die Tagebücher der Käthe Kollwitz aus dem I. Weltkrieg die Quellengrundlage. U. Linse, Das wahre Zeugnis, S. 90; R. J. Lifton, On Psychohistory, in: ders. u. E. Olson (Hg.), Explorations in Psychohistory. The Wellfleet Papers, New York 1974, S. 21-41. U. Linse, Das wahre Zeugnis, S. 91, S. 98. Vgl. etwa als ein Beispiel das von Oskar Maria Graf, der an der Ostfront des Ersten Weltkriegs eines Tages den Befehl erhält, einem Pferd die Haut abzuziehen, den Befehl verweigert und nach mehreren Strafen schließlich den Gang in die Militärpsychiatrie antritt. O. M. Graf, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt, Berlin 1928, S. llOff. („Idiot“). Zentral: E. J. Leed, No Man's Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge 1979; P. Fussell, The Great War and Modern Memory, New York 1975. E. J. Leed, No Man's Land, S. 4, 12. Vgl. P. J. Lynch, The Exploitation of Courage: Psychiatric Care in the British Army 1914-1918, London (Phil, diss.) 1977; R.D. Richie, On History of „Shellshock“, San Diego (Phil, diss.) 1986; M. Stone, The Military and Industrial Roots of Clinical Psycho- logy in Britain 1900-1945, London (Phil, diss.) 1985; P.J. Leese, A social and cultural history of shell-shock ..., London (Phil, diss.) 1989. Vor allem Leese nutzt auch Briefe als Quellen, um die Sicht der psychischen Opfer selbst in den Blick zu bekommen. Vgl. Koselleck, Standortbindung u. Zeitlichkeit, S. 176-207, S. 204f. Vgl. Fussell, The Great War. P. Knoch, Erleben u. Nacherleben: Das Kriegserlebnis im Augenzeugenbericht u. im Geschichtsunterricht, in: G. Hirschfeld (Hg.), S. 199-219, S. 200. Allerdings könne der damit verbundene Interpretationsanspruch im vorliegenden Text, der „eine kurze erste Bilanz“ darstellt, kaum eingelöst bzw. erst für jenen Zeitpunkt in Aussicht gestellt werden, zu dem ein „genügend großer Archivbestand aufgebaut sein wird“ (S. 212). Das ändert m. E. allerdings nichts daran, daß der Feldpostbrief potentiell „wahrheitsfähig“ bleibt. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Instrumentalisierung des Kriegserlebnisses bleibt jedoch die Frage im Mittelpunkt, welche dieser „Wahrheiten“ in der Darstellung des Krieges parallel zur politischen Entwicklung favorisiert wurden. Im übrigen kann mit H. J. Schröder natürlich nüchtern gefragt werden, „welchen Vorteil es hat, wenn geschichtliche Wirklichkeit, historische Wahrheit und Erkenntnis schlechthin als Konstruktion oder Fiktion begriffen werden“. Und er antwortet im Hinblick auf die Analyse narrativ-biographischer Interviews: „... für die konkrete Auseinandersetzung mit historischen Inhalten, für die konkrete Analyse“ wäre „damit nicht sonderlich viel gewonnen ...; es sei denn, man zieht aus der Konstruktions- und Fiktions-Erkenntnis den (bequemen) Schluß, Quellenkritik, Verifizierung, Plausibilitätsprüfung usw. seien in der Geschichtsforschung oder Soziologie von vornherein sinnlos.“ H. J. Schröder, Die gestoh-
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lenen Jahre. Erzählgeschichten u. Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Welt-- krieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992, S. 221 (S. 218-26). Vgl. für den Ersten Weltkrieg: B. Ulrich, Feldpostbriefe im Ersten Weltkrieg. Bedeutung u. Zensur, in: P. Knoch (Hg.), Kriegsalltag, S. 40-83. Für den Zweiten Weltkrieg: O. Buchbender u. R. Sterz (Hg.), Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939- 1945, München 19832, S. 13-24. Immer wieder finden sich in Feldpostbriefen Hinweise darauf, daß der Verfasser nicht über bestimmte Ereignisse schreiben kann oder will bzw. nicht allen Angehörigen seine Schilderungen zumuten mag: „Sage Hanne und Mutter auch nichts von dem hier Geschriebenen. Die machen sich nur unnütze Gedanken. Ich werde stets nur harmlose Berichte geben“, teilte der Landwehrmann Julius Boldt seinem Bruder am 30.8.1914 mit. E. Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“, S. 53. I. Schikorsky, Kommunikation über das Unbeschreibbare. Beobachtungen zum Sprachstil von Kriegsbriefen, in: Wirkendes Wort 42. 1992, S. 295-315, S. 301. Vgl. auch dies., Private Schriftlichkeit im 19. Jh. Untersuchungen zur Geschichte des alltäglichen Sprachverhaltens ,Kleiner Leute', Tübingen 1990. Vgl. auch K. Löffler, Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirküchkeit des Krieges, Bamberg 1992. Die Autorin vertritt u.a. die These, daß Kriegsbriefe kaum im Stande seien, die soziale Realität der Front wiederzugeben, sondern vielmehr und vor allem der Stabilisierung emotionaler Verbindungen mit den Angehörigen dienen. Schikorsky, Kommunikation, S. 313. W. v. Hollander, Die Entwicklung der Kriegsliteratur, S. 1275. Ähnliche Einschätzungen finden sich auch in der autobiographischen Erinnerungsliteratur. Percy Ernst Schramm z.B. führt zur Schreibsituation in seiner Familie während des Ersten Weltkriegs – sein Vater war als Offizier an der Front – aus: „Man wollte sich so gern wechselseitig verstehen, aber konnte sich nicht verstehen, weil das Leben an der Front und das zu Hause zu weit auseinanderklafften. Das heißt: alle Familienbriefe aus den Jahren 1917/18 legen nicht mehr unmittelbarstes Zeugnis ab, sind vielmehr aus bester Gesinnung zweckentfremdet', so stilisiert, wie das durchhalten' das erforderlich machte. Im Felde war jetzt die ,Tarnung' Trumpf; gleichzeitig vervollkommneten sich nunmehr sowohl die Alten als auch die Jungen in der Kunst, ihr Inneres zu verhüllen – aus bester Absicht.“ (P. E. Schramm, Neun Generationen. 2 Bde., Bd. 2, Göttingen 1964, S. 493f.). P. Fusseil, The Great War, S. 182. Und er zitiert Robert Graves, der als Offizier Tausende von Briefen zensieren mußte und auf der Grundlage dieser Erfahrung einen Modellbrief dieser nichtssagenden Art kreierte: „This comes leaving me in the pink which I hope it finds you. We are having a bit of rain at present. I except you'll have read in the papers of this latest do. I lost a few good pals but happened to be lucky myself. Fags are already welcome, also socks“. Ebd.
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Nachdem Isa Schikorskys Aufsatz mit einem kurzen Artikel in der FAZ vorgestellt worden war (Ausg. v. 13.1.1993, „Sprache in Kriegsbriefen. Was man gut nennt“), hat eine Leserbriefschreiberin auf eine Möglichkeit hingewiesen: „Ich kann mich gut erinnern, daß es Soldaten gab, die mit ihren Angehörigen gewisse Formulierungen vereinbart hatten, die als Harmlosigkeit gelesen werden konnten, ohne bei Fremden Anstoß zu erregen, jedoch für die Empfänger eine andere Bedeutung hatten.“ (FAZ v. 22.1.1993, „Verschlüsselt in Kriegsbriefen“.) Fussell gibt, rekurrierend auf einen literarischen Text, einen Begriff davon, wie äußere und innere Zensur ineinandergriffen: „... Lieutenant Geoffry Skene tries several times to write his uncle what actually going on. He tears up his first version, fearing the censor will stop it. He tears up the second, too, fearing that it will give his uncle ,the horrors'. And he tears up the third because he finds that it too frivolously juxtaposes the emptying of latrines and the digging of graves“. P. Fussell, The Great War, S. 183. Isa Schikorsky hält als Ergebnis ihrer Studie fest, daß vor allem die „Sprachhandlungsstrategien“ „zeitübergreifend langfristig wirksam blieben“ und allenfalls ein „Rückgang der poetischen Elemente“ und „Änderungen der politisch-ideologischen Ausdrucksweisen“ registrierbar wären. (I. Schikorsky, Kommunikation, S. 313). Dem könnte entgegengehalten werden, daß sich im gleichen Zeitraum (1870/71-1945) eine starke Veränderimg, quasi eine „Umwertung aller Werte“ vollzog, die sich auch in der Sprache der Feldbriefe widerspiegelte und in ihren Wirkungen auf „Sprachhandlungsstrategien“ berücksichtigt werden müßte. P. Fussell, the Great War, S. 21. P. Knoch, Kriegserlebnis als biographische Krise, in; A. Gestrich u. P. Knoch (Hg.), Biographie, S. 88. Fussell merkt lakonisch an: „Clearly, any historian would err badly who relied on letters for factual testimony about the war.“ P. Fussell, The Great War, S. 183. H.J. Schröder, Die gestohlenen Jahre, S. 115 (S. 113-16). Allerdings, „in Bezug auf die Erforschung vergangener Wert- und Gefühlshaltungen wären „Briefe und Tagebücher“, weil zeitgleich dazu, „ergiebiger und zuverlässiger als Autobiographien oder biographische Interviews.“ Ebd., S. 228. Zu den praktischen Problemen lebensgeschichtlicher Interviews vgl. L. Niethammer u.a., Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991, Einleitung; M. Jäger, Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41/92, 2. Okt. 1992, S. 25-36; F. Schütze, Biographieforschung u. narratives Interview, in: NP 3. 1983, S. 283-94. In diesem Zusammenhang kann seit Anfang der achtziger Jahre auch eine Neubelebung der historischen Biographie verzeichnet werden. Vgl. H.-J. v. Berlepsch, Die Wiederentdeckung des ,wirklichen Menschen' in der Geschichte. Neue biographische Literatur, in: AfS 29. 1989, S. 488-510, und den Überblick bei C. Gradmann, Geschichte, Fiktion u. Erfah-
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rung – kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in: IAfS 17. 1992, S. 1-16. 96 Helmut Kopetzky dürfte eine der letzten Chancen zur Befragung von Soldaten des Ersten Weltkriegs genutzt haben: In den Tod – Hurra! Deutsche Jugendregimenter im 1. Weltkrieg, Köln 1981. Der Wert von Kopetzkys Befragung englischer und deutscher Zeugen liegt nicht in der Analyse, sondern in den O-Tönen der Interviews selbst: Radiofeature im SFB III v. 4.11.1984. Vgl. auch den eindrucksvollen Dokumentarfilm „Verdun“, den u.a. German Werth 1984 für das Fernsehen herstellte. Hier werden Augenzeugen der Schlacht befragt, darunter Kurt v. Unruh. Vgl. G. Werth, Verdun. Die Schlacht u. der Mythos, Bergisch-Gladbach 1982. 97 H. J. Schröder, Die gestohlenen Jahre, S. 115. 98 K. Latzel, „Freie Bahn dem Tüchtigen!“ – Kriegserfahrungen u. Perspektiven für die Nachkriegszeit in Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg, in: G. Niedhart u. D. Riesenberger (Hg.), Lernen aus dem Krieg?, München 1992, S. 331-43, S. 438f., S. 331. 99 Diese Probleme werden besonders deutlich bei der Frage nach einem gemeinsamen gesellschaftlichen Bewußtsein, das durch Kriegserlebnisse geprägt wird, indem es sie verarbeitet. Dies setze, so Reinhart Koselleck eine kollektive Mentalität voraus. „Damit erhebt sich die Frage, wieweit jeweils die Gemeinsamkeit reicht, die alle Betroffenen und Handelnden zugleich erfaßt hat – und wo muß differenziert werden, je nach dem Grad unterschiedlicher Betroffenheit und unterschiedlicher Voraussetzungen der Bewußtseinsprägung? Der gemeinsame Krieg wird nicht von allen gemeinsam erfahren.“ Koselleck plädiert für eine analytische Trennung von synchronen, während des Krieges selbst wirksamen Bewußtseinsprägungen und den dazu diachronen der Kriegserinnerung. Das daraus entwickelte, anspruchsvolle Untersuchungsprogramm wird anhand des Totenkultes als einer gemeinsamen Antwort auf die Verheerungen des Krieges exemplifiziert. R. Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: W. Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, S. 324-43, S. 324f. Vgl. R. Koselleck u. M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderae, München 1994. Ähnlich in der methodischen Sache, wenngleich natürlich mit völlig anderer Zielsetzung und ohne die heuristisch-empirische Zuspitzung auf den Totenkult, argumentierte streckenweise schon der Militärpädagoge Erich Weniger. Ihm geht es um „die Struktur von Erlebnis, Erinnerung und Überlieferung und um ihren Zusammenhang selbst.“ E. Weniger, Das Bild des Krieges. Erlebnis, Erinnerung u. Überlieferung, in: Die Erziehung 1. 1929, S. 121, S. 5. Vgl. auch ders., Kriegserinnerung u. Kriegserfahrung, in: Deutsche Zeitschrift 48. Jg. des Kunstwartes, 1935, S. 397-405.(…) 100 Erste wichtige Ansätze zum „Leben an der Front“ von Arbeitern und Bauern bei K.- L. Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges, Berlin 1968. Einen tiefen Einblick in den Kriegsalltag einer Stadt – vermittelt u. a. durch Feldpostbriefe – und den seiner Soldaten bei V. Ullrich, Kriegsalltag. Hamburg im Ersten Weltkrieg,
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Köln 1982. Eine konsequent auf Briefen und militärischem Aktenmaterial basierende Studie hat Benjamin Ziemann vorgelegt: Front u. Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Diss. Bielefeld 1995; ders. u. C. Brocks, „Vom Soldatenleben hätte ich gerade genug.“ Der Erste Weltkrieg in der Feldpost von Soldaten, in: R. Rother (Hg.), Die letzten Tage der Menschheit. Bilder des Ersten Weltkrieges, Berlin 1994, S. 109-20. Neuerdings zur Situation von Arbeitern in der Armee: W. Kruse, Krieg u. nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993, S. 184-94. 101 „Daß es kein einheitliches Kriegserlebnis gegeben hat, ist eigentlich selbstverständlich. Die verschiedenen Epochen des Krieges haben verschiedenen Erlebnisgehalt“, erkannte schon der Militärpädagoge Erich Weniger 1929. E. Weniger, Das Bild des Krieges, S. 12. 102 P. Fussell, Der Einfluß kultureller Paradigmen auf die literarische Wiedergabe traumatischer Erfahrungen, in: K. Vondung (Hg.), Kriegserlebnis, S. 175-87, S. 175. Vgl. P. Fussell, The Great War. Es gehe darum, so Fussell in der Einleitung zu „The Great War“, „to understand something of the simultaneous and reciprocal process by which life feeds materials into literature while literature returns the favour by conferring forms upon life.“ (S. IX) Fussell untersuchte auf der Basis englischer Romane und Memoiren über den Ersten Weltkrieg unter kulturhistorischen Prämissen und auf der Gestalttheorie fußend die nationalen Wahrnehmungsfilter – die „kulturellen Paradigmen“ -, die sich zwischen Ereignis und Verarbeitung schoben. Es gibt, so seine These, keinen teilnehmenden Betrachter des Ersten Weltkriegs, der nicht im Banne meist „unbewußter Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata“ gestanden hätte, „die ihn nur das sehen und erinnern ließen, wozu er kulturell konditioniert war.“ (Fussell 1980, S. 176). Diese kulturellen Vorprägungen wurden u. a. wiederum durch die Geschichten erfindenden und Bildtraditionen prägenden Dichter geschaffen. (…) 103 Vgl. B. Hüppauf, „Der Tod ist verschlungen in den Sieg.“ Todesbilder aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, in: ders. (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur u. Gesellschaft, Königstein 1984, S. 55-91. Hüppauf schildert u. a. die Besonderheiten der Offiziersperspektive. 104 Bundesarchiv Potsdam, Reichsarchiv 15.06, Nr. 1, Bl. 269/Rückseite (Schreiben des Präsidenten Reichsarchiv v. 19.10.1934). 105 M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, München 1985, S. 86, S. 83 ff. Bereits im Ersten Weltkrieg war dies ein Untersuchungsfeld für H. Bächthold, Deutscher Soldatenbrauch u. Soldatenglaube, Straßburg 1976, ND seiner Studie von 1917; F. Langenhove, Wie Legenden entstehen. Franktireur-Krieg u. Greueltaten in Belgien, Zürich 1917. – Blochs Beobachtungen machen nochmals deutlich, daß man sich bei der Erforschung des Kriegserlebnisses nie auf populäre Zeugnisse wie Feldpostbriefe allein verlassen darf. „Schlechtestenfalls“, so der englische Militärhistoriker John Keegan in gewohnter Lakonie, „sind sie von Interesse, um reihenweise An-
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thologien von ,Augenzeugenberichten' unter Titeln wie Jedermann im Krieg zu produzieren (ehrlicher wäre: Der Historiker als Abtipper)“. J. F. Keegan, Die Schlacht, S. 33 f. Vgl. auch G. R. Ueberschär, Stalingrad – eine Schlacht des Zweiten Weltkrieges, in: ders. u. W. Wette (Hg.), Stalingrad. Mythos u. Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt 1992, S. 18-42, S. 18. 106 M. Bloch, Apologie, S. 84. „Sind nicht vielmehr Kriege das, was wir aus ihnen machen – wie Steine und Bäume, wie Napoleon und die griechische Geschichte?“ So fragte 1933 der Soziologe Kenneth Burke in seinem bemerkenswerten Aufsatz „Krieg, Reaktion und Widerspruch“, in: ders., Die Rhetorik in Hitlers ,Mein Kampf und andere Essays zur Strategie der Überredung, Frankfurt 1967, S. 68-92, S. 72. 107 K. Latzel, Tourismus u. Gewalt. Kriegswahrnehmungen in Feldpostbriefen, in: H, Heer u. K. Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg, S. 447-59, S. 448. 108 Ebd., S. 453. Die in diesem Aufsatz vorgestellten Ergebnisse sind Bestandteil einer von Klaus Latzel vorgelegten Dissertation über soldatische Kriegserfahrungen in den zwei Weltkriegen. Sie soll demnächst erscheinen. 109 U. Baron u. H.-H. Müller, Die „Perspektive des kleinen Mannes“ in der Kriegsliteratur der Nachkriegszeiten, in: W. Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes, S. 344- 62, S. 357. Vgl. auch O. Bartov, Hitlers Wehrmacht. 110 T. Schneider, Endlich die ,Wahrheit' über den Krieg. Zu deutscher Kriegsliteratur, S. 47. (…) 111 So die Cover-Werbung für: W. Wette u. G. R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad. 112 Vgl. M. Geyer, Der zur Organisation erhobene Burgfrieden, in: K.-J. Müller u. E. Opitz (Hg.), Militär u. Militarismus in der Weimarer Republik. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg am 5. und 6. Mai 1977, S. 15-100, S. 27. Geyer sieht in der „Vergesellschaftung der Gewalt“ die „hauptsächlichen Konsequenzen“ des durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen „säkularen Wandel(s) des Krieges und der Kriegführung“. Ebd. (…)
Aus: Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2006, S. 353-363. © Klartext Verlag, Essen
Uta Hinz
Fazit: Gefangen im Großen Krieg 1. Propaganda: Krieg ohne Grenzen Kriegsgefangenschaft war bis 1914 bestenfalls ein militärisches Randgebiet, dessen Organisation in Deutschland weder geplant noch vorbereitet wurde. Ihre Bedeutung und Funktion schien in keinerlei Zusammenhang mit der Kriegführung in einem künftigen Konflikt zu stehen. Dieses Kriegsbild, nach dem auch kriegsgefangene feindliche Heeresangehörige als außerhalb der Kriegführung stehend betrachtet wurden, fand seinen Ausdruck in den vor 1914 völkerrechtlich implementierten Grundsätzen des Kriegsgefangenenrechts. Es bildete den Hintergrund dafür, daß viele Staaten, darunter die europäischen Großmächte, sich auf eine Kodifizierung rechtsverbindlicher Grundsätze der Gefangenenbehandlung verständigen konnten: Alle Staaten und Armeen hatten ein Interesse am Schutz ihrer Heeresangehörigen im Falle einer Gefangennahme. Auch die an der Kodifizierung des Haager Kriegsrechts beteiligten Militärs erhoben daher kaum Einwände, vor allem weil sie in einer solchen Selbstverpflichtung zur Begrenzung militärisch sinnloser Kriegsgewalt keinen Eingriff in ihre Handlungsfreiheit sahen. Zwischen dem Gefangenenproblem und der militärischen Grundkategorie der sogenannten Kriegsraison lagen in der Wahrnehmung der Vorkriegszeit Welten. Schon die ersten Kriegsmonate unterwarfen eine solche Wahrnehmung von Kriegsgefangenschaft indes einem grundlegenden Wandel. Allein die Tatsache, daß diese jetzt Massenschicksal war, führte dazu, daß die Thematik in den Blickpunkt von Politik und Öffentlichkeit geriet. Die internationale Debatte um legitime und illegitime Kriegführung katapultierte das ehemals randständige Problem ins Zentrum der Kriegspropaganda. Nahezu jede Kritik an Mißständen oder Verstößen gegen das neue Reglement sowie dessen normative Grundsätze menschlicher Gefangenenbehandlung verquickte sich untrennbar mit den gängigen Propagandatopoi von Zivilisation und Barbarei und lieferte dem Kriegs-
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diskurs neues Material. Als typisches und strukturbildendes Beispiel hierfür kann der Konflikt um die Fleckfieberepidemien in deutschen Kriegsgefangenenlagern zur Jahreswende 1914/15 gelten. Seiner Struktur folgten alle späteren Propagandaschlachten um die Gefangenenfrage; ob es sich um die Ernährung handelte oder um vorgeblich barbarische Strafpraktiken. Gerade dieser Diskurs über die Behandlung des kriegsgefangenen Gegners zeigt, wie stark der Erste Weltkrieg im Bereich der Propaganda bereits auf dem Weg zu einem totalen Krieg war, der über die traditionellen Bereiche von Militär und Diplomatie weit hinausreichte. Alle kriegführenden Gesellschaften mobilisierten und operierten mit totalen Feindbildern. Jede Meldung über einen tatsächlichen oder vermeintlichen Mißstand im Gefangenenwesen wurde als Teil eines Rachefeldzugs gegen die nach völkerrechtlicher Definition außerhalb von Kriegführung und Feindschaft stehenden kriegsgefangenen Soldaten gedeutet. Barbarei war der Schlüsselbegriff, jede Grausamkeit wurde vorstellbar. Auch wenn viele der dabei gezeichneten Szenarien – wie das Bild an Pfähle gebundener Soldaten – den Eindruck eines Rückfalls in vormoderne Barbarei evozierten, entstand daraus sukzessive ein neues und erweitertes Kriegsbild: das einer systematisch organisierten, ebenso schrankenlosen wie illegitimen Kriegführung abseits der Schlachtfelder. Diese Totalisierung von Kriegsbildern blieb in der Kriegsgefangenenfrage nicht allein auf die Erweiterung von Feindvorstellungen und deren propagandistischer Instrumentalisierung beschränkt. Sie mündete in manchen Bereichen in einen Prozeß wechselseitiger Brutalisierung der Gefangenenbehandlung. So muß die festgestellte Eskalation der Repressalienpraxis als direkte Folge dieser Entwicklung gelten. Kollektive Strafaktionen, von der Zurückhaltung von Paketen- und Hilfslieferungen bis hin zur Verlegung Kriegsgefangener in die Armeezone, häuften sich. Die Entgrenzung des Kriegsbildes trug so direkt zu einer Erosion des traditionellen Kriegsbrauchs sowie des neuen Völkerrechts bei. Sie konterkarierte die Wirksamkeit der Haager Grundsätze schon bei deren erster Bewährungsprobe, beraubte das gewohnheitsrechtliche Gegenseitigkeitsprinzip seiner disziplinierenden Funktion und verkehrte es vielfach in ein Mittel zur Verschärfung von Kriegshandlungen. Auch Interventionsversuche neutraler Staaten sowie humanitärer Organisationen scheiterten immer wieder an der Unüberwindlichkeit radikalisierter Feindvorstellungen. Die fundamentale Bedeutung dieses Prozesses propagandistischer Totalisierung zeigt sich an dessen Wirkmächtigkeit bis weit hinein in die Nachkriegszeit. Die politische und publizistische Auseinandersetzung um die Gefangenenbehandlung der Kriegszeit war mit dem Waffenstill-
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stand längst nicht beendet. Verletzungen des Gefangenenrechts beschäftigten die Pariser Friedenskonferenz1 ebenso wie die noch immer aufgebrachte internationale Öffentlichkeit. Im politischen Konflikt zwischen Alliierten und Deutschen um die Auslieferung und Bestrafung von Kriegsverbrechern Anfang der 1920er Jahre2 blieb es weitgehend bei Anklage und Gegenanklage. Der Kriegsdiskurs setzte sich in der Präsentation von Propagandamustern fort, nach denen sich jeweils nur der Gegner Verletzungen des Gefangenenrechts schuldig gemacht habe. Das Auswärtige Amt startete angesichts einseitiger alliierter Sanktionsdrohungen publizistische Gegenoffensiven: Eine eigens eingerichtete Kommission unter der Leitung von Major Otto von Stülpnagel sammelte und veröffentlichte alles irgend verfügbare Material über Kriegsrechtsverletzungen der Entente.3 Eine offene juristische Aufarbeitung der Vergangenheit fand in Deutschland nicht statt. Als der USPD-Abgeordnete Cohn im Dezember 1919 vor der Nationalversammlung eine umfassende Aufklärung über die Behandlung Kriegsgefangener in den deutschen Lagern sowie deren Arbeitseinsatz hinter der Front forderte, wurde ihm nach den Stenographischen Berichten „von rechts“ das klassische Argument der deutschen Kriegspropaganda zugerufen: „Und was ist unseren Gefangenen passiert?“4 Für DVP wie DNVP stellte nicht nur die alliierte Auslieferungsforderung, sondern jegliche Untersuchung deutscher Kriegsvergehen eine gezielte Demütigung Deutschlands durch die Kriegsgegner dar.5 Unterstützung fanden diese Parteien in der sich als national bezeichnenden Publizistik. Eine Untersuchung der Kriegsverbrecherfrage vor deutschen Gerichten war auch für sie eine „Zumutung, die uns die endgültige Sklaverei der Sieger bringen soll“.6 Ein Bollwerk gegen jede Selbstkritik war erwartungsgemäß das Militär selbst, in dessen Reihen die Bestrafung ehemaliger „Kameraden“ als eine „Fortsetzung des Krieges mit den Waffen der Rechtsprechung über den Friedensschluß hinaus“7 angesehen wurde. Eine populäre deutsche Gesamtdarstellung zum Weltkriege formulierte 1923: „Das Kriegsgefangenenwesen war ein Feld, auf dem im Weltkriege erbitterte geistige Kämpfe ausgefochten wurden. Hin und her wurden die schwersten Vorwürfe geschleudert, und mit allen Mitteln seiner riesigen Propaganda hat der Bund der Feinde versucht, auch die Behandlung der Kriegsgefangenen zur geistigen Isolierung und Niederkämpfung Deutschlands zu benutzen. [...]“8
Noch der 1927 publizierte, 800 Seiten umfassende WUA-Bericht über Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts ließ kein Propagandastereotyp der Kriegszeit aus.9 Erst zehn Jahre nach Kriegsende war schließlich eine nüchterne Auswertung der Kriegserfahrungen möglich, die 1929 im
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Rahmen der Genfer Konventionen zu einer Revision und erheblichen Erweiterung des Kriegsgefangenenschutzes im nun 97 Artikel umfassenden „Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen“ führte.10 So nachhaltig negativ diese propagandistische Ausdehnung des Kriegsbildes die Kriegsgefangenenfrage im Großen Krieg durchdrang und prägte, so klar ist sie analytisch von der faktischen Entwicklung des Gefangenenwesens zu trennen. Denn die Art der sich vollziehenden Funktionsveränderung von Kriegsgefangenschaft in Deutschland hat sich in der vorliegenden Untersuchung als gerade nicht deckungsgleich mir dem öffentlichen Kriegsdiskurs erwiesen. Entscheidender als die skizzierte Entgrenzung abstrakter Feindbilder wirkte dort der sich innerhalb von vier Jahren vollziehende Strukturwandel der Kriegführung selbst.
2. Strukturwandel des Krieges: Kriegsgefangenschaft zwischen Tradition und Umbruch Das deutsche Lagerwesen war kein monolithischer Block; ein Befund, der bereits gegenläufige Entwicklungen zwischen 1914 und 1918 erklärt. Eine wichtige systemimmanente Ursache lag in der beschriebenen Dezentralität des Systems, das aus einem Mosaik von Lagern und Arbeitskommandos sowie aus einem extrem zersplitterten Verwaltungskomplex bestand. Aus dieser Struktur resultierte ein nie auflösbares Spannungsverhältnis zwischen Planung und Praxis, das beträchtliche Spielräume und in manchen Bereichen eine erhebliche Eigendynamik zuließ. Da man sich im deutschen Militär bis 1914 mit dem Problem Kriegsgefangenschaft konzeptionell wie organisatorisch kaum beschäftigt hatte, mußte bei Kriegsbeginn eine Infrastruktur erst aufgebaut und unter dem Druck des Krieges über die konkrete Umsetzung des Haager Gefangenen rechts verfügt werden. Zwar wurde mit dem Unterkunftsdepartement beim Preußischen Kriegsministerium eine Planungs- und Koordinationsstelle zur Vereinheitlichung des Gefangenenwesens in allen deutschen Armeekorpsbezirken bestimmt. Deren Vorgaben entfalteten jedoch erst nach Monaten der Improvisation ihre Wirkung. Trotz der dann ab 1915 produzierten Flut von Richtlinien und Grundsätzen durch Kriegsministerien und Generalkommandos führte gerade die gleichzeitige Öffnung und Ausdifferenzierung des Lagerwesens in unzählige Ar-
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beitslager und -kommandos erneut zu einem in manchen Teilbereichen erheblichen Kontrollverlust. Die mehr durch den Kriegsbrauch als durch das Haager Kriegsrecht legitimierten neutralen Institutionen waren noch weniger in der Lage, die Gefangenenbehandlung in Deutschland umfassend zu kontrollieren. Ihre seit 1915 durchgeführten Inspektionen in den Stammlagern stellten zwar zweifellos den wichtigsten humanitären Fortschritt im Bereich des Kriegsgefangenenwesens 1914-1918 dar. Aufgrund der Dimension und Ausdifferenzierung des Lagersystems waren dieser Außenkontrolle jedoch ebenso enge Grenzen gesetzt wie durch ihre dauerhafte Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft der Kriegsparteien. Raum für unterschiedliche Entwicklungen im deutschen Kriegsgefangenenwesen ließ darüber hinaus das Fehlen einer inhaltlichen Gesamtkonzeption zu Kriegsbeginn. Anhand der überlieferten Erlasse des Berliner Ministeriums an die Militärstellen im Reichsgebiet läßt sich kaum eine längerfristige Leitlinie zur Behandlung feindlicher Heeresangehöriger ablesen. Allein die Maßgabe, die Gefangenenbehandlung sei stets an den Interessen der kriegsgefangenen deutschen Soldaten auszurichten, wies im Kriegsverlauf ein hohes Maß an Kontinuität auf. Die im Zweiten Weltkrieg so entscheidende rassistisch motivierte Aufspaltung des Gefangenenwesens nach Nationen fehlte dagegen im Ersten Weltkrieg fast gänzlich. Daß bei den lokalen und ministeriellen Stellen der Militärverwaltung (wie auch in der deutschen Öffentlichkeit) durchaus ein Denken in nationalen und kulturellen Hierarchien die Sicht auf unterschiedliche Nationen in den Lagern prägte, wurde besonders im Hinblick auf die deutliche Geringschätzung der russischen Kriegsgefangenen aufgezeigt. Dieses setzte sich jedoch im Einflußbereich der Heimatbehörden gerade nicht in eine geplante oder gezielte Ungleichbehandlung um. Die Behandlung der kriegsgefangenen Soldaten blieb weitgehend unabhängig von ihrer Nation; es sei denn, politisch motivierte Propagandaprojekte oder das Gegenseitigkeitsprinzip waren im Spiel. Abweichungen von dieser Linie fanden sich allerdings im letzten Kriegsjahr und zuvor bereits im Einflußbereich der Obersten Heeresleitung. Diese nutzte gerade die russischen Gefangenen (wie auch z. B. die kriegsgefangenen Rumänen) rücksichtslos als Ersatzheer an Kriegsarbeitern aus und mißachtete völkerrechtliche Vereinbarungen ebenso kategorisch wie humanitäre Grundsätze. Die Tendenz einer – wenn auch noch nicht nachweislich rassistisch motivierten – Aufspaltung des Gefangenenwesens nach Nationen zeigt sich am ehesten in diesem Subsystem des deutschen Gefangenenwesens, welches dringend weiterer Forschungsarbeiten harrt.
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Gerade die konzeptionelle Offenheit eines zunächst reinen Verwahrungssystems ließ allerdings breiten Raum für die Entwicklung unterschiedlicher Ansätze und Zielsetzungen im Kriegsverlauf. Organisation und Konzeption des Gefangenenwesens erfolgten in Konfrontation mit einer sich fundamental wandelnden Kriegsrealität; unter dem Einfluß eines sukzessive erweiterten Kriegsbildes, dessen Kern eine über das Schlachtfeld hinausreichende Neudefinition der sogenannten „Kriegsraison“ bildete. Eine kohärente Gefangenenpolitik entstand daraus bis Kriegsende nicht. Selbst auf der Ebene kriegsministerieller Planung konkurrierten teils kaum miteinander vereinbare Interessen: So stand z. B. die Ernährungsfrage einerseits unter dem zunehmenden Einfluß einer politischen Instrumentalisierung im Kontext der alliierten Blockade sowie innenpolitischer Verteilungskämpfe, geriet aber andererseits unter den wachsenden Druck der Forderung nach einer Steigerung der Gefangenenarbeitskraft. Der Arbeitseinsatz wiederum unterlag einem Interessenkonflikt zwischen kriegswirtschaftlichen Zielsetzungen und den daraus resultierenden Gefahren für die kriegsgefangenen Deutschen. Der Prozeß der Ausdifferenzierung des Gefangenenwesens und die zunehmenden Zielkonflikte führten indes keinesfalls nur in einen völligen Widerstreit konzeptioneller Planungen oder bloßes organisatorisches Chaos. Wie gezeigt, bildete die Ökonomisierung des Krieges 1914-1918 einen roten Faden, entlang dessen sich ein grundlegender Wandel im Denken über die Bedeutung von Kriegsgefangenschaft vollzog. In diesem Umbruch liegt auch der Schlüssel zum Verständnis zunächst widersprüchlich anmutender Entwicklungen: einer in einigen Bereichen auffälligen Beharrungskraft traditioneller Vorstellungen zur Behandlung des gefangenen Kriegsgegners, der in anderen Feldern eine schließlich völlige Erosion vor 1914 bestehender Anschauungen zum Status Gefangener gegenüberstand.
Kontinuität und Tradition Eine im gesamten Kriegsverlauf überraschende Kontinuität herrschte in den Bereichen Unterbringung und immaterielle Fürsorge sowie insbesondere im militärischen Rechts- und Disziplinarwesen vor. Wenn es dort zu Verstößen gegen das Haager Gefangenenreglement kam, dann vor allem in der lokalen Praxis. Entscheidend dafür war, daß diese Aspekte des Lagerwesens von den übergeordneten Militärstellen im ganzen Kriegsverlauf nie in Verbindung mit der Kriegführung und den sogenannten Kriegsnotwendigkeiten gesehen wurden. Sie blieben gleichsam außerhalb des Sogs eines erweiterten Kriegsbegriffs.
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In den Stammlagern blieb es bis 1918 insgesamt bei den 1915 mit erheblichem Aufwand entwickelten Organisationsformen und Standards. Wenn die in den Haager Bestimmungen geforderte Gleichstellung der fremden Soldaten mit den deutschen Heeresangehörigen vielfach nicht eingehalten wurde, so lag dies in Organisationsproblemen und nicht in einer grundsätzlichen Mißachtung der Grundsätze einer menschlichen Gefangenenbehandlung begründet. Ministerien und regionale Militärverwaltung waren gleichermaßen, wenn auch erst ab 1915 erfolgreich, bemüht, eklatanten Mißständen vor Ort durch teils minutiöse Vorgaben zur baulichen Ausgestaltung der Lager zu begegnen. Der Umsetzung des Haager Grundsatzes, nach dem Gefangene nicht mehr als Feinde, sondern mit Menschlichkeit zu behandeln seien, entsprach gleichermaßen die Gleichbehandlung verwundeter Kriegsgefangener sowie die Förderung religiöser, karitativer und kultureller Lagereinrichtungen. Auch wenn letztere stets an das utilitaristische Gegenseitigkeitsprinzip gebunden blieben und nach dem Willen der Kriegsministerien humanitäre Erleichterungen letztlich den kriegsgefangenen deutschen Soldaten zugute kommen sollten, so zeigten zumal die Lagerverwaltungen vor Ort vielfach ein gewisses Verständnis für die psychischen Belastungen eines jahrelangen Gefangenendaseins. Insbesondere im Kriegsjahr 1915 führte dies zu einer Humanisierung des bestehenden Systems und einer regelrechten Blüte der Lagerkultur. Selbst mit der Ausdifferenzierung des Lagersystems blieben diese Errungenschaften den Gefangenen in begrenztem Umfang erhalten; sie überlebten alle Strukturveränderungen des deutschen Gefangenenwesens bis Kriegsende. Im genuin militärischen Bereich von Disziplin und Strafpraxis lassen sich im Verlauf der Kriegsjahre ebenfalls nur begrenzt Verschärfungen der Kriegsgefangenenbehandlung feststellen. Die völkerrechtliche Forderung nach juristischer und disziplinarischer Gleichstellung der Kriegsgefangenen mit den eigenen Heeresangehörigen wurde überwiegend eingehalten, Rechtsgrundlagen und deren praktische Anwendung in manchen Punkten sogar abgemildert. Das politische Interesse an Erleichterungen für die deutschen Kriegsgefangenen trug dazu erheblich bei. Obwohl innerhalb der disziplinarischen Praxis vor Ort eine erhebliche Grauzone von Strafwillkür und Schikanen bestand, so waren die Bilder barbarischer Soldatenquälerei in der alliierten Kriegspropaganda doch weit überzogen. Trotz einer mit zunehmender Kriegsdauer steigenden Zahl von Delikten militärischen Ungehorsams, trotz massiver Beschwerden seitens der lokalen Bewachungsstellen und auch angesichts eines eklatanten Kontrollverlusts im Bereich der Gefangenenbewachung blieb es weitgehend bei den im deutschen Reglement vorgesehenen Disziplinarbestimmungen. Dies galt selbst bei einem ebenso häufigen
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wie heiklen Delikt wie dem Fluchtversuch. Zum Schutz der deutschen Kriegsgefangenen, aber auch aufgrund der Einschätzung, aus feindlichem Gewahrsam zu entweichen sei eher ehrenhaft als strafwürdig, drang das Berliner Unterkunftsdepartement auf eine konsequente Einhaltung der Haager Bestimmungen. Erst die Einführung des neuen Deliktes der „Arbeitsverweigerung“ weichte die in diesem Sektor vorherrschenden, traditionell militärischen Kategorien auf Der Arbeitszwang war in den letzten beiden Kriegsjahren unzweifelhaft das Einfallstor eines erweiterten Kriegsbildes im disziplinarischen Bereich. Eine noch stabilere Kontinuitätslinie bildeten die Regelungen zur Militärgerichtsbarkeit über Kriegsgefangene. Schon vor der Kodifizierung des Haager Gefangenenreglements war im Deutschen Reich die militärrechtliche Gleichstellung der Kriegsgefangenen mit den eigenen Heeresangehörigen festgelegt worden. Hieraus erwuchs für die fremden Soldaten auch im Krieg ein dauerhaft hohes Maß an Rechtssicherheit. Delikte waren ebenso eindeutig definiert wie Verfahrensfragen und Sanktionen. Zudem ergaben sich im Krieg durch bilaterale Vereinbarungen sogar einige Abmilderungen der Rechtspraxis; so etwa durch die zwischen Deutschland und Frankreich getroffenen Abkommen zur Aussetzung schwerer gerichtlicher Strafen ab 1916. Die einzige gegenläufige Tendenz zeigte sich bei der Verschärfung der Rechtsgrundlagen für Sabotagedelikte. Im Zuge der Sabotagehysterie wurden 1917 alle juristischen Mittel ausgeschöpft, um zur Abschreckung der Gefangenen auch weiterhin Todesstrafen aussprechen zu können. Die Sanktionspraxis seitens der Kriegsgerichte konnte in diesem Rahmen fast ausschließlich für den XIIL Armeekorpsbezirk näher beschrieben werden. Am Beispiel Württemberg ließ sich eine Zunahme kriegsgerichtlicher Verurteilungen ab dem Jahr 1916 nachweisen, die allerdings vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl von Gefangenen und deren langer Verweildauer zu sehen ist. Es zeigte sich an der Strafpraxis württembergischer Kriegsgerichte allerdings auch, daß die dem Angeklagten zustehenden Rechtsmittel gewährt und ebenso die vorgeschriebenen Strafzumessungen des Militärstrafgesetzbuchs angewandt wurden. Die Gerichtsherren zeigten zwar bei der Ahndung von Ungehorsam und Widerstand gegen deutsche Vorgesetzte wenig Verständnis fiir die besondere Lage der fremden Heeresangehörigen, urteilten indes strikt nach den Buchstaben des deutschen Militärrechts. Den militärrechtlichen Bereich durchdrang somit ebenso wie den der Lagerorganisation dauerhaft die Sichtweise vom Kriegsgefangenen als einem Soldaten mit Pflichten, aber auch Rechten.
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Radikalisierung und Umbruch Die beschriebene Beharrungskraft völkerrechtlicher und insbesondere traditionell militärischer Vorstellungen bei der Behandlung kriegsgefangener Soldaten galt dagegen weder für das zentrale Problem der Ernährung noch bei der Entwicklung des Arbeitseinsatzes. Die militärische Tradition – einschließlich des utilitaristischen Gegenseitigkeitsprinzips – und die Bestimmungen der HLKO wirkten dort gerade nicht begrenzend. Insbesondere die ökonomische Totalisierung des Krieges veränderte zunehmend den Status der Kriegsgefangenen und führte schließlich zu einer Strukturveränderung des gesamten deutschen Gefangenenwesens. Die Ernährung der Kriegsgefangenen in Deutschland war seit 1915 nicht nur ein heftig umstrittener Punkt innerhalb der propagandistischen Auseinandersetzung um die unmenschlichste Gefangenenbehandlung. Bereits in der frühen Kriegszeit geriet sie in einen unauflöslichen Zusammenhang mit den Fragen des Wirtschaftskrieges: als dauerhaft schwierigstes Organisationsproblem der deutschen Verwaltungsstellen, zugleich aber auch als wesentlicher Faktor der Kriegsökonomie. Festzuhalten ist, daß die deutsche Verpflegung in den Lagern spätestens ab 1916 unzureichend war. Waren zunächst mangelnde Kontrollen für eine vielfach qualitativ schlechte Verpflegung verantwortlich, so wirkte sich seit dem Kriegsjahr 1916 die Nahrungsmittelknappheit in Deutschland immer negativer aus. 1915 eingeleitete Maßnahmen einer wissenschaftlichen Ernährungsplanung waren zu diesem Zeitpunkt des Krieges durch die notwendige Verwaltung eines zunehmenden Mangels bereits wieder obsolet geworden. Wenn auch mit deutlichen Abstufungen zwischen den Arbeitskommandos und den ausschließlich durch die Heeresverwaltung belieferten Stammlagern, beherrschte die Mangelwirtschaft sukzessive alle Teilbereiche des Lagersystems. Sie führte zu einer regelrechten Klassengesellschaft des Hungers unter den kriegsgefangenen Nationen. Durch umfassende Hilfslieferungen z. B. an französische und englische Gefangene hatten diese unter der Situation bis kurz vor Kriegsende selbst in den Stammlagern vergleichsweise wenig zu leiden. Am schlechtesten war dagegen die Lage jener Soldaten, die aus ihren Heimatstaaten kaum unterstützt wurden. Dies galt ausgerechnet für die mit Abstand größte Gruppe in den deutschen Lagern: die russischen Gefangenen. Die gesundheitlichen Folgen von Mangelernährung waren anhand des überlieferten Zahlenmaterials kaum zu quantifizieren. Zu belegen ist allerdings eine signifikant höhere Mortalität unter den nicht durch Hilfslieferungen unterstützten Nationen; ebenso eine bei ihnen – wie bei der deutschen Zivilbevölkerung – höhere Sterblichkeitsrate in-
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folge von Krankheiten wie Tuberkulose. Festgestellt wurden sichtbare Zeichen von Mangelernährung zudem durch neutrale Beobachter bei Kriegsende. Die durch sie beschriebenen Fälle von Hungerödemen wurden allerdings nie zahlenmäßig erfaßt. Die Ernährungsfrage wurde hier jedoch nicht allein aus dem Blickwinkel faktischer Kriegsnot dargestellt. Verweist sie doch zugleich auf die Genese und Wirkung eines politisch wie vor allem ökonomisch erweiterten Kriegsbildes in der Kriegsgefangenenfrage. War bereits zu Beginn des Krieges die Gleichstellung der Kriegsgefangenen mit den Soldaten des eigenen Heeres kaum ein Thema in den Ernährungsplanungen des Berliner Unterkunftsdepartements, so erfolgte nach und nach eine Politisierung und Ökonomisierung der Ernährungsfrage. Im Zuge ihrer Instrumentalisierung gegen die sogenannte „Hungerblockade“ der Alliierten wurden eigene völkerrechtliche Verpflichtungen zunehmend ignoriert und statt dessen die Ernährungssituation von deutscher Bevölkerung und kriegsgefangenen Heeresangehörigen permanent gegeneinander aufgerechnet. Not kannte dabei zunehmend kein humanitäres und rechtliches Gebot mehr, den kriegsgefangenen Feinden sollte es nicht besser gehen als der Zivilbevölkerung in Deutschland. Die zweite, ökonomische Radikalisierung des Kriegsbildes in der Ernährungsfrage stand in direktem Zusammenhang mit der schrittweisen Reduktion der Kriegsgefangenen zu einer kriegswirtschaftlichen Verfügungsmasse: Alle Verwaltungsmaßnahmen, auch die zur Verpflegung, hatten eine möglichst umfassende Ausnutzung der Gefangenenarbeitskraft zum Ziel. Zwar begründete dieses Interesse die überwiegend erfolglosen Bemühungen, eine Verbesserung der Verpflegung für arbeitsfähige Soldaten zu erreichen. Die Motivation war jedoch eine ökonomische Kriegsraison, die rechtlich-humanitäre Kategorien gänzlich verdrängt hatte. Den Dreh- und Angelpunkt eines fundamentalen Strukturwandels der Kriegsgefangenschaft in Deutschland bildete folglich deren bereits seit Anfang 1915 ministeriell geplanter Arbeitseinsatz in nahezu allen Bereichen der deutschen Kriegswirtschaft. Der Topos einer über allem Recht stehenden Kriegsraison konkretisierte sich hier im Argument von den ökonomischen Erfordernissen der Kriegsführung. Noch während 1915 die Praxis der Gefangenenbeschäftigung in ihren ersten Anfängen steckte, wurde der Begriff der nach zeitgenössischem Völkerrecht verbotenen Kriegsarbeit im Einvernehmen militärischer und ziviler Ministerien so weit umdefiniert, daß er schließlich nahezu jeden industriellen Einsatz Kriegsgefangener legitimierte. Dies war ein eklatanter und vorsätzlicher Bruch mit den Grundsätzen des Haager Gefangenenrechts und dessen Schutzbestimmungen. Ein fundamentaler Wandel im Status der Kriegsgefangenen vom militärischen Verwahrungsobjekt zur menschlichen
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Kriegsressource war damit – wenn auch zunächst noch theoretisch – eingeleitet. Der Übergang vom Gedankenspiel zur konsequenten Umsetzung erfolgte dann ab Frühjahr 1916, deutlich vor der Amtsübernahme der 3. OHL. Schon zu diesem Zeitpunkt des Krieges formulierte der Leiter des Gefangenenwesens im Preußischen Kriegsministerium jenen Grundsatz, der den Arbeitseinsatz und damit das gesamte Kriegsgefangenenwesen immer umfassender prägen sollte: Im totalen Krieg um „Sein oder Nichtsein“ gelte ausschließlich das Gesetz: „Not kennt kein Gebot“. Jeder nur irgend arbeitsfähige Gefangene wurde ab 1916 aus den Stammlagern in die Arbeitskommandos gebracht und alle Soldaten nach dem Grad ihrer „Arbeitsfähigkeit“ kategorisiert, die bürokratisierten Klassifizierungsbestimmungen sukzessive verschärft. Immer mehr durchdrang die Beschäftigungsfrage auch alle übrigen Organisationsbereiche des Gefangenenwesens: die nach Arbeitsfähigkeit abgestuften Ernährungsbestimmungen ebenso wie die immer schärferen Weisungen zur Ahndung jeglicher Form von „Arbeitsverweigerung“. Die Praxis dieses militärischen Zwangsarbeitssystems blieb allerdings hinter der Radikalität seiner Planung vielfach zurück, selbst in der Phase der versuchten Totalmobilisierung der „Heimatfront“ unter der 3. OHL. Das riesige System der Arbeitskommandos war, zumal im quantitativ größten – landwirtschaftlichen – Beschäftigungsbereich, kaum je militärisch kontrollierbar. Und obgleich im industriellen Sektor, besonders in den Bergwerken, die Reichweite der Umsetzung dem formulierten Grundprinzip sehr nahe kam, so zeigte die Praxis des Arbeitseinsatzes, daß positive Anreize einer Steigerung der Arbeitsleistung oft dienlicher waren als bloße Repression: Nur ein Mindestmaß an physischer Fürsorge und Motivation konnte die geforderte Leistung garantieren. Wenn so ausgerechnet das Primat des Arbeitseinsatzes Radikalisierungstendenzen im deutschen Gefangenenwesen partiell wieder abbremste, so war es doch deren strukturelle Ursache. Die verabsolutierte Kategorie der ökonomischen Kriegsnotwendigkeiten und die auf deren Basis eingeleitete Funktionsveränderung des Kriegsgefangenenwesens war 1918 schließlich so weitreichend, daß ungeachtet des Separatfriedens im Osten mehr als eine Million kriegsgefangener russischer Soldaten zu militärischer Zwangsarbeit in Deutschland festgehalten wurden – trotz ihrer völlig unzureichenden Ernährung. Diese Entscheidung muß als Kulminationspunkt der Radikalisierung im Verantwortungsbereich militärischer Heimatbehörden gelten. Die Grenzen zwischen einer militärischen Institution und ökonomischer Sklaverei wurden im letzten Kriegsjahr gänzlich fließend. Allein die Kriegsniederlage stoppte diesen Prozeß, unter dessen Auswirkungen die russischen
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Kriegsgefangenen noch bis weit über das Kriegsende hinaus zu leiden hatten.
3. Großer Krieg – „totaler Krieg“? Setzt man die skizzierten Entwicklungen im deutschen Kriegsgefangenenwesen in Bezug zum eingangs skizzierten Modell einer Totalisierung der Kriegführung, so lassen sich für den untersuchten Teilbereich der Kriegsgeschichte 1914-1918 einige Ergebnisse thesenhaft zusammenfassen. Totalisierung stellte sich im Fall der Kriegsgefangenschaft insbesondere als Prozeß der Entgrenzung dar, als das Durchbrechen definierter Normen und Regeln von hoher Verbindlichkeit. Schließlich bestand bereits vor 1914 mit der HLKO ein teils normativ, teils utilitaristisch fundiertes Regelwerk zur Beschränkung bzw. „Zivilisierung“ von Kriegsgewalt. Der Verlauf der beschriebenen Prozesse einer Ausdehnung und Radikalisierung von Kriegsbild und Kriegführung waren dabei weder einheitlich noch linear. Gemessen am Kodex der HLKO lassen sich bei der Behandlung des kriegsgefangenen Gegners in Deutschland durchaus Konstanten und nicht durchbrochene Grenzen von Kriegsrecht und militärischer Tradition feststellen. Kriegsgefangene waren bis 1918 im Verantwortungsbereich der deutschen Heimatbehörden keine rechtund schutzlosen Objekte. Insofern war der Erste Weltkrieg in der Gefangenenfrage keinesfalls ein totaler Krieg, der jegliche kriegsrechtliche oder humanitäre Norm außer Kraft setzte. Der innerhalb der zeitgenössischen Debatte immer wieder formulierte Vorwurf einer gezielten Kriegführung gegen wehrlose Soldaten bestätigte sich anhand der gesichteten militärischen Überlieferung nicht. Auch eine Übertragung von Haß und Feindschaft auf die kriegsgefangenen gegnerischen Soldaten fand sich kaum. Eine grundlegende normative Trennung der neuzeitlichen Kriegsrechtslehre, nach der ein Kriegszustand zwischen Staaten von individueller Feindschaft zu trennen sei, wurde noch aufrechterhalten. Die festgestellte Erosion oder gar Auflösung zuvor definierter kriegsrechtlicher Grenzen hatte insofern in der Gefangenenfrage wenig mit einer Radikalisierung oder gar Totalisierung von Feindvorstellungen zu tun, stand vielmehr in direktem Zusammenhang mit dem (ökonomischen) Strukturwandel des Krieges. Tendenzen einer Totalisierung im Sinne des eingangs skizzierten Konzepts lassen sich im deutschen Kriegsgefangenenwesen des Weltkrieges gleichwohl ausmachen. Sowohl der Versuch einer umfassenden Mobilisierung als auch die Ausdehnung des Kriegsbegriffs in neue Be-
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reiche veränderten es ebenso signifikant wie den Status der Kriegsgefangenen. Kriegsgefangenschaft war bis 1914 zwar kein ziviler, allerdings alles andere als ein kriegsrelevanter Bereich. Im Krieg erfaßte dann aber der Versuch einer Totalmobilisierung aller gesellschaftlichen Ressourcen über die sogenannte „Heimatfront“ auch die Organisation von Kriegsgefangenschaft. Die den Schützengräben entronnenen Soldaten gerieten so – zumindest in Deutschland – in Gefangenschaft an eine neue Front. Wie sich dieser Prozeß vollzog, wurde hier anhand zweier Schlüsselbegriffe nachgezeichnet, die sowohl die faktische Ausdehnung der Kriegführung als auch die damit untrennbar verbundene Erweiterung des Kriegsbegriffs als solchem betreffen. Auch in der Kriegsgefangenenfrage trifft zunächst der Begriff der Ökonomisierung den Kern des im Krieg erfolgten Strukturwandels. Die Wende zu einer faktischen Ökonomisierung der Kriegsgefangenschaft fand im Bereich der Gefangenenbeschäftigung spätestens 1916 statt, dem Jahr der großen Materialschlachten. Der strukturelle Umbruch erfolgte aber bereits früher, in der ministeriellen Debatte über die Legitimität und Notwendigkeit eines unbeschränkten Arbeitseinsatzes. Die Büchse der Pandora war geöffnet: Fortan wurden die Grenzen zwischen Front und Heimatfront ebenso fließend wie die Beschränkung des Kriegsbegriffs auf den militärischen Bereich obsolet. Als zweiter Schlüsselbegriff, der insbesondere die Entgrenzung des gesamten Kriegsbildes im militärischen Denken widerspiegelt, muß der Topos der sogenannten Kriegsraison oder Kriegsnotwendigkeit gelten. Diese zeitgenössische Formel ist deshalb bedeutsam, weil sich an ihr traditioneller Kriegsbrauch ebenso brach wie modernes Völkerrecht, und durch sie nahezu jede geschriebene oder ungeschriebene kriegsrechtliche Regel im „Notfall“ außer Kraft gesetzt wurde. Zentral erscheint vielmehr der fundamentale Bedeutungswandel, den dieser innerhalb der militärischen Tradition fest etablierte Begriff im Weltkrieg erfuhr. In dem Maße, wie der Krieg in der Wahrnehmung der Militärs zum Überlebenskampf um „Sein oder Nichtsein“ wurde, war die militärische Kategorie der Kriegsraison auf nahezu alle militärischen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Subsysteme übertragbar. Eine zumindest theoretisch schrankenlose Vorstellung bezüglich der Erfordernisse der Kriegführung, ein in diesem Sinne totaler Kriegsbegriff, formte sich aus und legitimierte letztlich die Militarisierung der gesamten „Heimatfront“. Gerade in dieser Ausdehnung der Definition des Militärischen und „militärisch Notwendigen“ liegt insofern ein zentraler Mechanismus der Totalisierung des Kriegsbildes 1914-1918, welcher den Struktur-
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wandel der Kriegführung – wie jenen der Kriegsgefangenschaft – in Deutschland erst ermöglichte. Der Erste Weltkrieg erscheint gerade aus diesem Blickwinkel erneut als Zäsur, auch wenn die zuletzt beschriebenen ideologischen Totalisierungsprozesse nicht bis zur letzten Konsequenz in praktisches Handeln umgesetzt wurden. Für die Geschichte der Kriegsgefangenschaft in Deutschland bildete er eine Phase des Umbruchs, während derer sich insbesondere im militärökonomischen Bereich bereits Züge einer totalen Kriegsideologie entwickelten. Mit allen Mitteln einer modernen militärischen Verwaltungsmaschinerie wurden Menschen zur Kriegsressource degradiert, ob mit oder ohne Waffe. Ein gleichsam seiner militärischen Schranken entledigtet Begriff der Kriegsraison sowie die Vorstellung nahezu grenzenloser Verfügungsmacht über militärisches wie ziviles „Menschenmaterial“ – dies waren zwei wesentliche Elemente der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen 1
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Dazu z. B. A. Kramer, Versailles, deutsche Kriegsverbrechen und das Auslieferungsbegehren der Alliierten 1919/20, in: Wolfram Wette und Günter R. Überschär (Hg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 72-84, hier S. 76-78. Vgl. Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982; James F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War, Westport(Conn. 1982; Friedrich K. Kaul: Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 14,1 (1966), S. 19-32; Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, S. 85-98; Kramer, Versailles, in: S. 72-84. Vgl. Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage, S. 138f, Anm. 74. Die 1921 bereits in vierter Auflage erschienene „Materialsammlung“ von Otto von Stülpnagel unterscheidet nichts von den zur Kriegszeit so zahlreich veröffentlichten Rechtfertigungsschriften: Zunächst „entlarvte“ sie jeden Vorwurf einer völkerrechtswidrigen Gefangenenbehandlung in Deutschland als raffiniert inszenierte Propaganda gegen eine rundum „ehrenhafte“ deutsche Kriegführung, um dann die „barbarischen Verbrechen“ an deutschen Gefangenen minutiös aufzulisten (Vgl. Stülpnagel, Die Wahrheit über die deutschen Kriegsverbrechen, S. VII-X, S. 405ff.).
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Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 331: Stenographische Berichte, 113.-137. Sitzung (Oktober 1919-Januar 1920), 129. Sitzung (13.12.1919): Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen, S. 4041-4048, Rede des Abgeordneten Dr. Cohn (USPD), S. 4042. Ebd., Bd. 327: Stenographische Berichte, 27.-52. Sitzung (März-Juli 1919), 51. Sitzung (9.7.1919): Erste, zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, S. 1407-1419, Erklärung des Abgeordneten Dr. Traub für die DVP-Fraktion, S. 1412. So die „Kreuz-Zeitung“, zitiert nach: Kaul, Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher, S. 27. B. Schwertfeger: Leipzig – das Brandmal des eigenen Landes, in: MilitärWochenblatt, 106 (1921), Nr. 10 (3.9.1921), S. 202-204, S. 204. Zu den erheblichen organisatorischen Anstrengungen, durch alliierte Anklagen bedrohte deutsche Heeresangehörige untertauchen zu lassen: Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage, S. 246-250. In einer Sitzung von Nachrichtenoffizieren hieß es schon am 12.7.1919: „Wer Dreck am Stecken hat, soll verschwinden“ (Ebd., S. 246). Clemens Plassmann: Die Fürsorge für die Kriegsgefangenen. 1. Die völkerrechtlichen Grundlagen des Kriegsgefangenenwesens im Jahre 1914, in: Max Schwarte (Hg.): Der Große Krieg 1914-1918 in zehn Bänden, Bd. 10: Die Organisationen der Kriegführung. Dritter Teil: Die Organisation für das geistige Leben im Heere, Leipzig 1923, S. 147-158, S. 147. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Nationalversammlung des des Deutschen Reichstages 1919-1928, hg. Im Auftrage des Reichstages, Berlin 1925-1930, Reihe 3, Bd. 3.1/3.2: Verletzungen des Kriegsgefangenenrechts. Ergänzt wurde nur der Aspekt einer völkerrechtswidrigen Fortsetzung des Krieges gegen deutsche Kriegsgefangene, vor allem durch Frankreich. Dazu hieß es dort in Bd. 3.2, S. 696: „Frankreich hatte keine Repressalien mehr zu befürchten und der Sadismus konnte sich hemmungslos auswirken.“ Vgl. Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929, abgedruckt in: Franz J. Scheidl, Kriegsgefangenschaft von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Eine völkerrechtliche Monographie, Berlin 1943, S. 549-578.
Aus: Marcel van der Linden u. Gottfried Mergner (Hg.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, 73-88. © Duncker & Humblot, Berlin
Wolfgang Kruse
Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen Nur wenige historische Vorstellungen haben eine so allgemeine Verbreitung gefunden wie der Glaube, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Deutschen Reiches den Ersten Weltkrieg mit enthusiastischer, nationalistischer Kriegsbegeisterung begrüßt hat. Der tiefen Verankerung dieser Vorstellung im Bewußtsein sowohl der historischen Fachwissenschaft als auch der interessierten Öffentlichkeit steht jedoch ein auffälliger Mangel an empirischen Untersuchungen über die Stimmung und das Verhalten der Bevölkerung bei Kriegsbeginn gegenüber, wie sie für Frankreich bereits vor einigen Jahren Jean-Jacques Becker mit sehr relativierenden Ergebnissen vorgelegt hat1. Abgesehen von wenigen alltags- und lokalgeschichtlich orientierten Ansätzen, wurde in der Bundesrepublik das Phänomen der Kriegsbegeisterung bislang auch von der kritischen Sozialgeschichtsschreibung zumeist nur beeindruckt registriert und primär nach ihren langfristigen Ursachen und ihrer inhaltlichen Verarbeitung in der Weltkriegsideologie gefragt. Demgegenüber möchte ich hier auf die trotz der militaristischen Gesellschaftsstrukturen des Kaiserreiches und ungeachtet aller Versuche zur Ausbildung einer „Kriegsmentalität"2 keineswegs selbstverständlichen Entstehungszusammenhänge der Kriegsbegeisterung, ihre auch nach Kriegsbeginn durchaus noch vorhandenen Grenzen sowie ihre nicht in erster Linie auf den Krieg, sondern vor allem auf die kriegführende Gesellschaft bezogenen ideologischen Strukturen hinweisen.
1. Die Entstehungszusammenhänge der Kriegsbegeisterung In den Quellen wird immer wieder deutlich, daß die Tatsache des Krieges wie eine Erlösung gewirkt haben muß. Trotzdem ist gegenüber der weit verbreiteten Erklärung, es habe sich dabei um die langersehnte
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Befreiung von einer als banal und inhaltsleer empfundenen Friedenswelt durch das reinigende Abenteuer eines Krieges gehandelt, große Skepsis angebracht. Einige frustrierte Intellektuelle wie die oft zitierten Dichter Georg Heym und Thomas Mann mögen aus diesem Grund den Krieg herbeigewünscht und seinen Beginn bejubelt haben3, nicht aber die große Mehrheit der Bevölkerung, die dem Krieg noch in seiner unmittelbaren Entstehungsphase distanziert bis ablehnend gegenüberstand. Zwar kam es nach dem Bekanntwerden des österreichischungarischen Ultimatums an Serbien am 25. Juli in vielen Städten des Deutschen Reiches zu Demonstrationen für den Krieg, die zumeist von Studenten und anderen Angehörigen der „besten und besseren Gesellschaftsklassen"4 getragen wurden. Für eine Beurteilung der allgemeinen Stimmung der Bevölkerung vor Kriegsbeginn sind jedoch die sozialdemokratischen Antikriegsversammlungen und -demonstrationen, die ebenfalls noch in der letzten Juliwoche durchgeführt wurden, von wesentlich größerer Bedeutung. Sie hatten zwar eine geringere Publizität, aber sie wiesen mit etwa einer Dreiviertel Million Menschen eine weit größere Massenbeteiligung auf. Der „Vorwärts" konnte so noch am 29. Juli mit Recht feststellen: „Der absurde Schwindel, daß das Volk in seiner Mehrheit von Kriegsbegeisterung befallen sei, wurde (...) von der Arbeiterschaft gründlichst zuschanden gemacht."5 Auch in bürgerlichen Kreisen war die Kriegsstimmung zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig dominierend. Nachdem es am vorangegangenen Abend in der Berliner Innenstadt zu einem „Sängerkrieg"6 zwischen sozialdemokratischen und chauvinistischen Demonstranten gekommen war, die sich gegenseitig mit ihren Liedern zu übertönen versucht hatten, bemerkte die konservative Berliner Tageszeitung „Die Post" jedenfalls voller Enttäuschung: „Von den Zehntausenden, die auf den ,Linden' auf- und abzogen, war doch nur ein kleiner Teil national gesinnt oder wagte es zu bezeugen."7 Das immer wieder beschworene Erlösungsgefühl hatte offensichtlich nicht den direkten Wunsch nach der Flucht in den Krieg zur Ursache. Wie aber konnte sich die zuerst noch ablehnende bis distanzierte Haltung der Bevölkerungsmehrheit innerhalb weniger Tage in offene Kriegsbegeisterung verwandeln? Die Menschenmengen, die in den letzten Julitagen in den Innenstädten zusammenströmten, wurden vor allem von ihrem Informationsbedürfnis angetrieben. In einer Gesellschaft, die weder Rundfunk noch Fernsehen kannte, waren die hier verteilten Extrablätter und die Depeschenmeldungen der Zeitungsbüros die einzige Möglichkeit, um die neuesten Nachrichten über den Verlauf der immerhin die Gefahr eines Weltkrieges heraufbeschwörenden europäischen Krise zu erhalten. Die
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sozialdemokratische „Fränkische Tagespost" beschrieb dementsprechend das Geschehen in der Nürnberger Innenstadt am 25. und 26. Juli folgendermaßen: „Die Menschen auf den Straßen werden immer zahlreicher. Vor den Geschäftslokalen der Zeitungen, vor dem österreichisch-ungarischen Konsulat ballen sie sich zu Knäueln zusammen. Man wartet auf Depeschen, auf Extrablätter. (...) Endlich erscheint im Schaufenster das erste Telegramm. Was wird es bringen? Alles drängt nach vorn. Schnell werden die wenigen Zeilen überflogen. Dann geht es los, um die Nachricht weiter zu verbreiten. (...) Bald wieder füllen sich die Straßen. Auf und ab wogt die Menge, die immer zahlreicher wird, in der inneren Stadt. Da erscheinen die ersten Extrablätter. Gierig werden sie mit den Blicken verschlungen. (...) Während des ganzen Vormittages, über den Mittag hin, den Nachmittag hindurch bis in den Abend hinein das gleiche lebhafte Bild in der Stadt. Die Menge wogt und geht, aber sie verläuft sich nicht. Man will sich kein Telegramm entgehen lassen."8 Es handelte sich tatsächlich zuerst weniger um Kriegsbegeisterung als vielmehr um eine wachsende Erregung, die die verunsicherten Menschen ergriff. Der „Vorwärts" schilderte die Situation in Berlin etwas später zusammenfassend so: „Auf- und abwogenden Menschenströmen glichen in diesen Tagen die Straßen Berlins. Und wer trotz der folgenschweren Ereignisse noch etwas ruhiges Blut bewies, mußte seine ganze Energie aufbieten, um nicht hineingezogen zu werden in diese sich von Stunde zu Stunde steigernde Erregung. Es war, als ob eine allgemeine Suggestion die Gemüter ergriff und in den Strudel menschlicher Leidenschaft zu ziehen versuchte. Und wenn dieses Menschenmeer Berlins hier und da wieder auf kurze Zeit zu verebben schien, stieg sofort die Brandung von neuem, sobald die Presse durch Extrablätter die Straßen mit alarmierenden Nachrichten überschüttete."9 Eine fast ausnahmslos kriegstreiberische bürgerliche Presse, immer neue Extrablätter und nicht zuletzt zahllose Falschmeldungen trugen in der Tat dazu bei, die Erregung weiter zu steigern. „In ganz ungeheuerlicher, unglaublicher Weise", klagte die sozialdemokratische „Volkszeitung" aus Düsseldorf am 31. Juli, „ist in den letzten Tagen die Bevölkerung planmäßig in eine Aufregung hineingehetzt worden, die zur Besinnungslosigkeit führt, führen soll, um die Volksmassen den Plänen gewisser Kreise gefügig zu machen. Mit gewissenlosen Hetzartikeln und erlogenen Nachrichten wird versucht, dem Volke die Meinung beizubringen, als ob es jeden Tag von Rußland und Frankreich mit Krieg überzogen werden könnte. Dadurch soll die Bevölkerung hier in Deutschland in eine Kriegsstimmung hineingehetzt werden . . ."10 Durch die kriegstreiberische Propaganda wurde nicht nur die Ideologie des Verteidigungskrieges vorbereitet. Sie verdichtete auch die wach-
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sende Erregung zu einer immer unerträglicher werdenden Anspannung. Es entstand, wie der spätere Kommunist Karl Grünberg treffend erklärte, eine „Atmosphäre des Hangens und Bangens, des Schreckens ohne Ende, in der das Ende mit Schrecken förmlich als eine Erlösung empfunden werden mußte"11. Die konservative Tageszeitung „Tägliche Rundschau" beschrieb dementsprechend die Reaktion der wartenden Massen auf die Erklärung des Zustandes drohender Kriegsgefahr und die Verhängung des Belagerungszustandes in Berlin am 31. Juli folgendermaßen: „,Na endlich!.' Wie ein Erlösungsschrei geht's durch die Menge. Kein Jubel wird laut, kein Hoch wird laut, alle Mienen sind ernst – die unheimliche Spannung, die auf ganz Berlin lastet, löst sich in einem befreiten Aufatmen: Also doch!"12 Der Krieg hatte damit jedoch immer noch nicht definitiv begonnen, die Spannung begann bald wieder aufs Neue anzusteigen. Gustav Roethe, Professor für deutsche Philologie an der Berliner FriedrichWilhelm-Universität, stellte die Stimmung des folgenden Tages, des 1. August 1914, etwas später so dar: „Aber noch brütete die Spannung; noch harrten wir und zweifelten und starrten uns mit stummer, ernster Frage an. Da endlich die Erlösung, die Kunde der Mobilmachung .. ."13 Nachdem bereits die vorangegangenen Jahre unter dem bedrückenden Eindruck einer ständig wachsenden Kriegsgefahr gestanden hatten, ließ dieses Erlösungsgefühl nun, wie die freiprotestantische „Christliche Welt" betonte, „den an sich entsetzlichen Krieg nach jahrelanger Spannung wie eine Wohltat"14 erscheinen. Gleichzeitig mündete die bisherige Angst vor dem Krieg in eine so haßerfüllte Pogromstimmung gegen alles, was fremdartig erschien, daß in dieser Situation selbst für die revolutionäre Sozialistin Rosa Luxemburg „der Schutzmann an der Straßenecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war"15. Allerdings war die nunmehr die Öffentlichkeit des Kaiserreiches vollständig beherrschende nationalistische Kriegsstimmung keineswegs die einzige Reaktionsform auf den Kriegsbeginn. Der „Vorwärts" beschrieb die Stimmung während der Verkündung der Mobilmachung in Berlin jedenfalls aus einem anderen Blickwinkel als die bürgerliche Presse: „Die Spannung löste sich als bekannt wurde, die Mobilmachung sei angeordnet. Wenn auch der Beifall der Kriegslüsternen stark hervortrat, so konnte dem aufmerksamen Beobachter doch nicht entgehen, wie vielen mit der Bekanntmachung der letzte Strohhalm ihrer Hoffnungen entglitt und tiefernste Sorge aufs Antlitz trat."16
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2. Die Grenzen der Kriegsbegeisterung Dem Glauben an eine allgemeine nationalistische Kriegsbegeisterung liegen in der Tat nicht zuletzt ideologisch geprägte Vorurteile zugrunde. Wie beispielsweise anhand der weit übertriebenen Zahlenangaben und der verklärenden Berichterstattung über die Kriegsfreiwilligen gezeigt werden kann17, wurde von Kriegsbeginn an mit propagandistischen Intentionen ein idealisierendes Bild von der vermeintlich begeisterten Opferbereitschaft der Bevölkerung gezeichnet. Dieses Propagandaklischee hat das öffentliche Bewußtsein über den Ersten Weltkrieg bis heute tiefgehend geprägt. Nicht nur die Heroisierung des Krieges durch die nationalistische Rechte der Weimarer Republik und durch den Nationalsozialismus hat zu seiner Perpetuierung maßgeblich beigetragen. Auch die sozialdemokratische Abwehr der marxistisch-leninistischen Arbeiterverratsthese hat einer Überbetonung der Kriegsbegeisterung Vorschub geleistet. Und nicht zuletzt ist die darin enthaltene Vorstellung vom Irrationalismus und Fanatismus der Massen ein Topos, den gerade die Intellektuellen, die in der Regel die Geschichte schreiben, oft verinnerlicht haben. Gegen diese dominierenden ideologischen Traditionen ist vor allem einzuwenden, daß der geringe Forschungsstand bislang kaum verallgemeinerbare Aussagen über die Stimmung und das Verhalten der Bevölkerung im Deutschen Reich bei Kriegsbeginn zuläßt. Eine intensive Aufarbeitung müßte zuerst einmal die ausgefahrenen Bahnen des traditionellen Geschichtsverständnisses verlassen und sich wieder den Quellen zuwenden. Darüber hinaus ist es notwendig, nach prägenden gesellschaftlichen Kategorien wie Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Konfession, Region, Alter und politischer Orientierung zu differenzieren. Als Ergebnis der bisherigen Ansätze ideologiekritischer Forschung kann vorerst jedoch die begründete Annahme festgehalten werden, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Reaktionen auf den Kriegsbeginn vor allem in der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft18, aber auch bei vielen anderen Menschen keineswegs dem von den Medien entworfenen Bild allgemeiner nationalistischer Begeisterung entsprachen. So hielt z. B. der dänische Abgeordnete im deutschen Reichstag Hans Peter Hanssen am 2. August, nachdem er zuvor während der Bahnfahrt nach Berlin die-Presseberichte über die dort vermeintlich herrschende Begeisterung gelesen hatte, in seinem Tagebuch erstaunt den Eindruck fest: „The opposite is evidently the truth, judging by what I have had ample opportunity to see on the way here to the hotel."19 Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Angst waren die in der veröffentlichten Meinung zumeist verschwiegenen Gefühle, die unmittelbar
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bei Kriegsbeginn viele, wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Menschen beherrschten. „Die meisten Menschen waren niedergeschlagen, als wenn sie am folgenden Tag geköpft werden sollten", notierte etwa der junge Hamburger Sozialdemokrat Wilhelm Heberlein nach der Verkündung der Mobilmachung am 1. August in seinem Tagebuch20. Sein Bremer Genosse Wilhelm Eildermann fügte am selben Tag die Beobachtung hinzu: „Die katzenjämmerlichste Stimmung herrscht, die ich je gesehen habe. Mütter, Frauen und Bräute und die übrigen Angehörigen bringen die jungen Männer zum Zuge und weinen. Alle haben das Gefühl, es geht direkt zur Schlachtbank."21 Nicht nur Sozialdemokraten äußerten sich in dieser Weise. „Zur Begeisterung", berichtete etwas später ein protestantischer Pfarrer aus einer württembergischen Bauerngemeinde, „hat sich in den ersten Tagen und unter der Wucht des Neuen niemand aufgeschwungen, außer sie wäre alkoholisch gezüchtet worden, und davon sah man nur verschwindende Ausnahmen."22 Ein anderer Pfarrer schilderte die Stimmung in einem Arbeiterdorf bei Frankfurt a. M. sogar folgendermaßen: „In der letzten Juliwoche war im Dorfe alles voll Sorge. Bei der Mobilmachung, als das letzte Fädchen Hoffnung auf Frieden zerschnitten war, wurde es noch stiller und Verzweiflung setzte ein. Keine Begeisterung, keine patriotischen Gesänge."23 Wohl zurecht stellte der sozialdemokratische „Volkswille" aus Hannover am 8. August 1914 zusammenfassend fest, in Deutschland habe „in den Tagen, als der Kriegszustand erklärt, die Bereitschaft der Truppen angeordnet wurde und dann am Sammelband die Kriegserklärungen folgten, in weiten Volkskreisen große Niedergeschlagenheit geherrscht"24. In der Folgezeit setzte vor allem die durch den Krieg ausgelöste materielle Not breiter Schichten der Bevölkerung der Begeisterung schon frühzeitig enge Grenzen. Bereits in der Entstehungsphase des Krieges hatten Panikreaktionen zu langen Menschenschlangen vor Sparkassen und Geschäften geführt. Nach Kriegsbeginn wurden die den Hamsterkäufen zugrundeliegenden Befürchtungen durch ein rapides Anwachsen der Arbeitslosigkeit, Lebensmittelteuerungen und mangelnde Unterstützungsleistungen für die Familien der Einberufenen noch übertroffen. Zwar gab es unter dem Eindruck der ersten Siegesmeldungen auch in den Berliner Arbeitervierteln nun Siegesfeiern und nationalen Flaggenschmuck zu bestaunen; bereits die ersten polizeilichen Stimmungsberichte aus den proletarischen Stadtvierteln im Norden und Osten der Reichshauptstadt vom 22. August 1914 stellten jedoch gleichzeitig nüchtern fest, daß die allgemeine Stimmung der Bevölkerung eher gedrückt war25. Und ein Pfarrer aus dem Arbeiterviertel Moabit urteilte: „Die eigentliche Begeisterung – ich möchte sagen, die akademische
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Begeisterung, wie sie sich der Gebildete leisten kann, der nicht unmittelbare Nahrungssorgen hat, scheint mir doch zu fehlen. Das Volk denkt doch sehr real, und die Not liegt schwer auf den Menschen. "26 Wie bedrückend gerade im August 1914 die alltägliche Lebensrealität vieler Menschen aussah, und welche Niedergeschlagenheit in vielen Haushalten herrschte, das verdeutlicht noch einmal eine Tagebuchnotiz Wilhelm Heberleins vom 16. August: „Wegen Einberufung der Genossen muß ich Parteibeiträge kassieren – Wohnungselend, Kummer verlassener Frauen, Arbeitslosigkeit, Mutlosigkeit, vereinzelt gefaßte Menschen."27 Es handelte sich hierbei keineswegs um ein Stimmungsbild, das nur auf SPD-Mitglieder zutraf. Selbst die zu Anfang sehr wohl kriegsbegeisterte und auch weiterhin nationalistisch eingestellte Hamburger Kolonialwarenhändlerin Johanna Boldt schrieb bereits Ende Oktober an ihrem im Felde stehenden Mann: „Wenn doch nur dieser schreckliche Krieg erst zu Ende wäre! Nichts wünschen die Menschen mehr herbei als das Ende dieses unseligen Krieges."28 Es wäre sicherlich interessant, die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Haltung gegenüber dem Krieg zu untersuchen. Zu warnen aber ist davor, unterschiedliche Grade der Zustimmung zum Krieg bei Männern und Frauen vorauszusetzen. Auch Frauen konnten sich an der „Heimatfront" für den Krieg begeistern, während gerade die Erfahrungen der Soldaten kaum dazu geeignet waren, Begeisterung hervorzurufen. Soweit diese zu Anfang überhaupt vorhanden war, fand sie spätestens in der Konfrontation mit der Realität des Krieges ein schnelles Ende. So faßte die sozialdemokratische „Schwäbische Tagwacht" bereits am 15. September 1914 den Inhalt der ersten Feldpostbriefe folgendermaßen zusammen: „Aus Gründen der militärischen Zensur ist es uns unmöglich, alle Grauen des Krieges wiederzugeben. Manches ist nur angedeutet. In allen Briefen kehrt aber, oft ganz unvermittelt, wie ein Warnschrei das Wort wieder: Der Krieg ist etwas Entsetzliches!"29 Wie dieser Warnschrei klingen konnte, wenn er nicht durch den Filter der Zensur abgeschwächt wurde, verdeutlicht ein Brief des Berliner Arbeiters Carl Franke. Dieser schrieb am 7. Dezember 1914 an seine Eltern, „daß ich mich augenblicklich in einer solchen Verfassung befinde, daß ich am liebsten mein Gewehr am Schädel setzen möchte, um diesem elenden Dasein ein Ende zu machen, wenn ich nicht Frau und 4 Kinder hätte. (...) Das Schlimmste ist die Behandlung und das Essen, Ausdrücke wie Schweinebande, Halunken, Zigeunerbande usw. sind tägliche Ereignisse. (...) Wir alle, die wir im Gefecht lagen und liegen, haben einmütig einen Wunsch, der heißt Schluß, Schluß so schnell wie möglich und nach Hause zu unseren Lieben."30
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Weder das vielbeschworene Erlebnis der „Schützengrabengemeinschaft" noch die affirmative Verarbeitung der „Stahlgewitter" im Stil Ernst Jüngers entsprachen in der Tat den prägenden Erfahrungen der Mehrheit der Soldaten. Der preußisch-deutsche Militarismus zeigte seine menschenverachtenden Züge keineswegs nur gegenüber den Kriegsgegnern. Angesichts der zahllosen Fälle von Soldatenmißhandlungen und Terrorurteilen der Kriegsgerichte, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit in der Budgetkommission des Reichstages zur Sprache gekommen waren, stellte im Juli 1915 ein kritischer sozialdemokratischer Abgeordneter voll Sarkasmus fest, „die ,leidenschaftliche Hingabe des Volkes an seine große Sache' offenbarte sich als das verzweifelte Keuchen und Stöhnen Wehrloser, die an den Ketten einer barbarischen Disziplin auf die Schlachtbank geschleppt wurden."31 Wie entsetzlich darüber hinaus das Kriegsgeschehen selbst war, hatte kurz zuvor der in Flandern liegende Sozialdemokrat M. André zum Ausdruck gebracht, als er auf die Durchhalteparolen des rechtssozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wolfgang Heine mit der Aufforderung reagierte, diesen doch einmal an die Front zu schicken. „Wenn er dann tagelang im Schmutz wie das liebe Vieh oder in einem Unterstand mit mehreren Kameraden zusammengekauert liegen würde, wo in einer Stunde Hunderte von Granaten über einen hinwegsausen, wo in Folge des Luftdrucks das ganze Nervensystem erfaßt und erschüttert wird und noch das Jammern und Wehklagen der Verwundeten, ihre Bitte um Hilfe in ihrer Todesangst das allerhärteste Gemüt erregen und man liegt da und kann ihnen nicht helfen, und nicht zuletzt das eigene marternde Gefühl an Frau und Kinder, welche nicht versorgt sind, wenn der Ernährer nicht wiederkommt, dann würde auch Heine sagen, was wir alle sagen: ,So'n Blödsinn. – So'n Wahnsinn, so eine Verrücktheit, so ein Hundepack, und würde es jemand wagen, in solcher Erregung von Zorn zu sagen: ,Den Frieden zu verlangen ist die Zeit noch nicht gekommen', wer weiß, was dann eintreten würde."32
3. Die ideologischen Strukturen der Kriegsbegeisterung Trotz ihrer eindeutigen Grenzen war die Begeisterung des Kriegsbeginns jedoch nicht bedeutungslos. Zwar war sie für die Kriegsführung in direkter Weise gar nicht notwendig. Aber das „Augusterlebnis" erhielt unter den Etiketten „Geist von 1914" und „Ideen von 1914" eine ideologische Ausgestaltung, die der wachsenden Ablehnung des Krieges durch vielfältige Formen der Sinnstiftung entgegen zu wirken vermochte. Dabei handelte es sich m. E. nicht primär um den oft betonten Versuch,
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einen Sinn des an sich sinnlosen Krieges zu konstruieren. Die Sinnstiftung des Krieges basierte vielmehr in erster Linie auf einem durch die Zusammenhänge des Kriegsbeginns vermittelten, das bereits beschriebene Erlösungsgefühl mit Inhalten füllenden Sinnerlebnis, das bald in vielfacher Weise zum Ausdruck gebracht wurde. „Wir sind uns wieder gewiß geworden", „jetzt fühlen wir uns genesen", „alles bekommt nun wieder einen Sinn" oder auch „jetzt sind wir nichts als deutsch"33, diese Metaphorik eines nationalen Heilungsprozesses durchzog insbesondere die frühen Äußerungen der Weltkriegsideologie. Sie verweist ex negativo jedoch nur um so deutlicher auf die krisenhafte Situation, in der sich nicht nur das protestantische Bildungsbürgertum als Hauptproduzent der „Ideen von 1914" befand34, sondern die auch in allgemeinerer Weise das Kaiserreich mit seinen ungelösten verfassungs- und gesellschaftspolitischen Problemen auszeichnete35. So wie der Krieg vor diesem Hintergrund nicht zuletzt ein sozialimperialistisch motivierter Versuch der Herrschaftseliten zur Stabilisierung der bedroht erscheinenden Gesellschaftsordnung war, so fand das Bedürfnis nach einer Krisenlösung im „Geist von 1914" seinen allgemeineren ideologischen Ausdruck. Die dabei formulierten Vorstellungen waren höchst aufschlußreich für den problematischen Charakter des in Deutschland herrschenden politisch-sozialen Bewußtseins: „Der ,Geist von 1914' hatte", wie Reinhard Rürup treffend formuliert hat, „in allen seinen Ausprägungen eine entschieden antiliberale Spitze", die oft schon erkennen ließ, „in welchem Maße die Gesellschaft in der Schlußphase des Kaiserreiches bereits für faschistische Krisenlösungen vorbereitet war."36 Im Zentrum des „Augusterlebnisses" stand das bald zur Wiedererlangung einer spezifisch deutschen Form nationaler Volksgemeinschaft hochstilisierte Erlebnis der neugewonnenen Einheit des deutschen Volkes, zu dem Wilhelm II, seine berühmte Burgfriedensparole beitrug, er kenne nun keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Die nationale Einheit schien sich in den die Straßen füllenden Menschenmengen zu realisieren, in der Mobilmachung Form zu gewinnen und durch den obrigkeitsstaatlichen Burgfriedensschluß organisatorische Dauerhaftigkeit zu erhalten. Hatte man bislang die innere Zerrissenheit des Reiches durch scharfe nationale, religiöse, soziale und politische Gegensätze als eine wachsende Bedrohung erfahren, so schien sich nun, aufs Neue durch „Eisen und Blut", die langersehnte zweite, „innere" Reichsgründung zu vollziehen. Die „Tägliche Rundschau" beispielsweise jubelte: „Dieser Krieg ist ein Zauberkünstler und Wundertäter. Er führt die Weifen zu feurigem Reichsbekenntnis, er läßt den Fluch von Zabern ersticken im Jubelbrausen, mit dem das reichsländische Volk die preußischen Truppen begrüßt. Er läßt die Polen besinnlich werden und über die
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Theorie vom kleineren Übel nachdenken, und er vollbringt das größte aller Wunder: Er zwingt die Sozialdemokratie an die Seite ihrer deutschen Brüder. Er schafft eine einheitliche Front von Heydebrand bis Scheidemann. "37 Das Pathos der nationalen Einheit war in sich allerdings ebenso widersprüchlich, wie die Gesellschaft bislang von Gegensätzen zerrissen war. Es basierte inhaltlich vor allem darauf, daß die unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen nun ihre je eigenen Wert- und Zielvorstellungen auf die vermeintlich geeinte Nation projezierten. Während von etablierter Seite das Bekenntnis der bisherigen inneren Gegner zur herrschenden Ordnung bejubelt wurde, sahen die bislang ausgegrenzten und unterdrückten Gruppen von der Frauenbewegung über nationale und religiöse Minderheiten bis zu den Sozialdemokraten in dem Einheitserlebnis gerade ein Versprechen auf nationale Anerkennung und Gleichberechtigung. Die dominierende Tendenz der Weltkriegsideologie aber war gegen die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsentwicklung mit ihren beschleunigten Wandlungsprozessen, sozialen Umschichtungen und Konflikten sowie nicht zuletzt auch den mit ihr verbundenen Emanzipationsbewegungen gerichtet. Wie sehr vor allem das Bildungsbürgertum unter dem Eindruck stand, daß durch die „deutsche Erhebung von 1914"38 seine kulturpessimistischen Klagen über Technisierung und Materialismus, Bindungslosigkeit und Wertezerfall, Interessenherrschaft und gesellschaftliche Oberflächlichkeit hinfällig geworden seien, wird in dem das reale Kriegsgeschehen begleitenden „Kulturkrieg" zwischen deutschen und westeuropäischen Künstlern und Gelehrten vielfach deutlich. Während die bislang in bezug auf die deutsche Gesellschaft kritisierten „Zersetzungserscheinungen" nun ausschließlich einer als minderwertig abqualifizierten westlichen Zivilisation zugesprochen wurden, schien das deutsche Volk zu den traditionellen Tugenden des „deutschen Wesens", zu Pflichterfüllung, kultureller Innerlichkeit und einer gemeinschaftlichen Ordnung zurückgefunden zu haben. Hatte die „englische Krankheit" des Liberalismus vor dem Kriege auch „den deutschen Volkskörper bereits befallen"39, so schien es nun, als habe „der ungeheure Wirbel des jüngsten Schicksals (. ..) den Alp noch einmal gebannt von der Schwelle unseres Volkes"40. Die repressiven gesellschaftspolitischen Implikationen des sich primär gegen den Westen abgrenzenden Versuchs nationaler Identitätsfindung waren nicht zu übersehen. Die dem westlichen, individualistischdemokratischen Freiheitsbegriff entgegengestellte Idee einer spezifisch deutschen, volksgemeinschaftlich eingebundenen Freiheit beinhaltete im Grunde nicht viel mehr als eine idealisierende Verbrämung von Kon-
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fliktfeindlichkeit und Unterordnungsbereitschaft. Dies wurde in der Definition des Theologen Adolf v. Harnack besonders deutlich: „Was heißt denn Freiheit? Das mit Freude und ganzer Hingebung und unbehindert tun, was man tun soll, das tun wollen, was man tun muß."41 Ebenso auf die Unterdrückung gesellschaftlicher Konflikte zielte die volksgemeinschaftsorientierte Lehre ab, die aus dem nationalen Einheitserlebnis des Kriegsbeginns gezogen wurde. Der Philosoph Alois Riehl beispielsweise proklamierte: „Fort aber mit den Klassenkämpfen. Sie müssen von nun an unmöglich geworden sein. Wer künftig von solchen wieder reden wollte, den erinnere man an die ersten Augusttage des Jahres 1914."42 In dem durch die Ableitung der inneren Probleme und Feindbilder auf die Kriegsgegner bestärkten Gefühl der Veränderung lag auch die Basis für die entstehende Sinnstiftung des Krieges. Der Dichter Rudolf Borchardt z. B. stilisierte den Krieg zu einem Kampf um die dauerhafte Verwirklichung des „deutschen Wesens": „Wir flehen um den Sieg dessen, was wir Kultur nennen (...), über eine uns wesensfremde Gesittung, an die wir mit unseren schlechtesten Instinkten, mit unseren Überläufern, Kompromißlern, freien Geistern und anderen Hochvornehmtuern gefesselt waren."43 Das nationale „Heilungserlebnis" wurde jedoch keineswegs nur selbstbezüglich interpretiert, sondern es wurde auch zur Grundlage des jetzt vielfach beschworenen Gedankens einer „deutschen Mission". Am „deutschen Wesen" sollte in der Tat die Welt genesen. Gustav Roethe z.B. gab der Hoffnung Ausdruck, „daß dies starke, einige, geläuterte Deutschland ein Verjüngungsborn werden soll für die alternde Kultur ganz Europas."44 Und noch wesentlich offensiver hieß es in einer Erklärung, mit der sich fast alle mehr oder weniger namhaften deutschen Hochschullehrer gegen die von westlicher Seite erhobenen Vorwürfe zum preußischen Militarismus bekannten: „Unser Glaube ist es, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ,Militarismus' erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes."45 Zu den an traditionellen konservativen Werten orientierten Vorstellungen über die Grundlagen des „deutschen Wesens" trat eine spezifische Modernität hinzu, die nicht nur der Tatsache Rechnung trug, daß das Deutsche Reich längst ein moderner Industriestaat war, sondern die dem Krieg auch eine geschichtsphilosophische Begründung zu geben vermochte. Vielfach wurde der Kriegsbeginn als Untergang der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts und als Auftakt einer neuen, von Deutschland bestimmten Epoche der Weltgeschichte gefeiert. Der Historiker Friedrich Meinecke etwa stellte kategorisch fest: „Eine neue ge-
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schichtliche Epoche begann für die Welt und voran für das deutsche Volk mit dem 1. August 1914."46 Neben dem „Augusterlebnis" vermittelten vor allem die vermeintlich reibungslos ablaufende Mobilmachung und die bald einsetzenden Versuche zur Organisierung der Kriegswirtschaft und der „Heimatfront" den Eindruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Wandels. Der Nationalökonom Johann Plenge jubelte: „Wenn wir diesen Krieg in einem Erinnerungsfeste feiern werden, so wird es das Fest der Mobilmachung sein. Das Fest des 2. August! Das Fest des inneren Sieges – Da ist unser neuer Geist geboren: der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und aller staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit gleichem Anteil leben. Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!"47 Vor allem der Begriff der Organisation, der nach dem Urteil von Theodor Heuß zeitweilig „als ,deutsches Geheimnis' nur mit einem Ausrufezeichen gesprochen, geschrieben, gedruckt"48 wurde, galt bald als ein Symbol für die Überlegenheit der sich in Deutschland entwickelnden Gesellschaft der Zukunft. Unter der tatkräftigen Mithilfe einer Reihe auf dem äußersten rechten Parteiflügel stehender Sozialdemokraten49 wurde die militärische Formierung von Wirtschaft und Gesellschaft als ganz neuartige, die Organisationstendenzen des modernen Kapitalismus mit den Traditionen der preußischen Bürokratie verbindende Form staatlich organisierter Volksgemeinschaft interpretiert, in der die Probleme kapitalistischer Klassengesellschaft eine zugleich antiliberale und antimarxistische Lösung finden sollten. Ihr autoritärer Charakter allerdings konnte durch das Pathos der Einordnung nur oberflächlich überdeckt werden: „Schaffe mit, gliedere dich ein, lebe im Ganzen"50, proklamierte Plenge, und der germanophile schwedische Staatsrechtler Rudolf Kjellén erklärte mit größerer Deutlichkeit: „Eine große Umkehr braucht und erwartet jetzt die Gegenwart, eine Umkehr von den Ideen von 1789 zu dem neuen Stern von 1914, dem kalten, aber hellen Stern der Pflicht, der Ordnung, der Gerechtigkeit51. Angesichts einer solchen Perspektive konnte nun selbst die Revolution, bislang doch der Inbegriff für die zersetzende Kraft des Fortschritts, zu einem positiv besetzten Begriff werden, der gleichzeitig dem Krieg einen entschieden offensiven Sinn zu verleihen vermochte. „Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben", stellte Plenge fest, „wie die deutsche Revolution von 1914. Die Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte im 20. Jahrhundert gegenüber der zerstörenden Befreiung im 19. Jahrhundert. Darum liegt auch in all dem Geschrei über den neuen Napoleon ein ganz richtiger Anklang. Zum zweiten Mal zieht ein Kaiser durch die Welt als der Füh-
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rer eines Volkes mit dem ungeheuer weltbestimmenden Kraftgefühl der allerhöchsten Einheit. Und man darf behaupten, daß die ,Ideen von 1914', die Ideen der deutschen Organisation zu einem so nachhaltigen Siegeszug über die Welt bestimmt sind, wie die ,Ideen von 1789'."52 Mit der Niederlage des Deutschen Reiches schien für das nationalistische Deutschland vorerst jedoch „jene lange geschichtliche Nacht"53 anzubrechen, die Plenge voller Verblendung bereits im Falle eines unentschiedenen Ausgangs des Krieges heraufziehen sah; bis das Projekt einer weltbeherrschenden, deutschen „Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus"54 einige Jahre später in weit radikalerer Weise in die Realität umzusetzen versucht wurde. Als Plenge im Jahre 1916 gegen die prinzipielle Verwerfung der „Ideen von 1789" durch Kjellen unter bezug auf Hegel einwandte, daß die „Ideen von 1914" eher als ihre dialektische Überwindung aufgefaßt werden müßten, schien er die Problematik dieser Entwicklung vorauszuahnen: „Sonst wären die Ideen von 1914 unmenschlich ..."55 Anmerkungen 1
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Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre (Paris, 1977). Den bislang gelungensten Versuch einer Schilderung der Stimmung bei Kriegsbeginn in Deutschland mit ebenfalls bereits relativierenden Ansätzen bietet Günther Mai, Das Ende des Kaiserreiches. Politik und Kriegsführung im Ersten Weltkrieg. (München, 1987), S. 9 - 30 Jost Dülfer, Karl Holl (Hg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland (Göttingen, 1986). Vgl. allg. Roland N. Stromberg, Redemption by War. The Intellectuals and 1914 (Lawrence, 1982). Polizeibericht über die Berliner Prokriegsdemonstrationen am 26.7.1914: Staatsarchiv Potsdam (StA Potsdam), Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizeipräsidium, Nr. 11360, Bl. 13f. Vorwärts, 29.7.1914, S. 1 „Der Kriegsprotest des Proletariats“. Die von der bislang üblichen Angabe von knapp 500000 Teilnehmern abweichende Zahl basiert auf einer Erhebung, die ich im Rahmen meines Dissertationsprojektes über Sozialdemokratie und „Geist von 1914“ durchgeführt habe. Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 1 (Dresden,1928), S. 236. Zit. n. Vorwärts, 30.7.1914, 1. Beilage „Die Friedensdemonstration der Berliner Arbeiterschaft“. Fränkische Tagespost, Nürnberg, 27.7.1914, Beilage „Leben und Treiben in Nürnberg“. Vorwärts, 3.8.1914, S. 3 „Kriegsstimmung – gesteigerte Lebensmittelpreise“.
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Volkszeitung, Düsseldorf, 31.7.1914, S. 1 „Ein frevles Spiel mit des Volkes Gut und Blut“. Karl Grünberg, „Mobilmachung in Berlin“, in: Wolfgang Emmerich (Hg.), Proletarische Lebensläufe, Autobiographische Dokumente zur Entstehung der zweiten Kultur in Deutschland, Bd. 2 1914 – 1945 (Reinbek b. Hamburg, 1975), S. 94 - 97, hier S. 94. Tägliche Rundschau, 31.7.1914, S. 4 „Aus der Reichshauptstadt. Die Krise in Berlin“. Gustav Roethe, „Wir Deutschen und der Krieg“, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, gehalten von den Professoren an der Universität Berlin (Berlin, 1914), S. 15 - 46, hier S. 19 (Rede vom 3.9.1914). Zit. n. Karl Hammer, „Der deutsche Protestantismus und der Krieg“, Francia 2 (1975), S. 398 - 414, hier S. 400. „Die Krise der Sozialdemokratie. Von Junius“, in: Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke, hg. v. Inst. f. Marxismus-Leninismus b. ZK d. SED (IML), Bd. 4, Berlin 1983, S. 48 - 164, hier S. 52. Vorwärts, 2.8.1914, 2. Beilage „Vor und nach der Entscheidung“. Vgl. Bernd Ulrich, „Kriegsfreiwillige. Motivationen-Erfahrungen-Wirkungen“, in: August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, hg. v. d. Berliner Geschichtswerkstatt (Berlin, 1989), S. 232 - 242. Eine Reihe neuerer Lokal- und Regionalstudien hat die These von der Kriegsbegeisterung der Arbeiterschaft inzwischen verworfen oder relativiert. Vgl. vor allem Friedhelm Boll, Massenbewegungen in Niedersachsen 1906 1920. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung der unterschiedlichen Entwicklungstypen Braunschweig und Hannover (Bonn, 1981), S. 151 f.; Jürgen Reulecke, „Der erste Weltkrieg und die Arbeiterschaft im rheinischwestfälischen Industriegebiet“, in: ders. (Hg.), Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr (Wuppertal, 1974), S. 205 - 240; Karl-Dietrich Schwarz, Weltkrieg und Revolution in Nürnberg (Stuttgart, 1971), S. 106 - 114; Volker Ullrich, Die Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19, 2 Teile (Hamburg, 1976), Teil 1, S. 140 - 147. Hans Peter Hanssen, Diary of a Dying Empire, Translated by Oscar Osborn Winther (Bloomington, 1955), S. 13. Zit. n. Volker Ullrich, Kriegsalltag in Hamburg (Köln, 1982), S. 13. Wilhelm Eildermann, Jugend im Ersten Weltkrieg. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen (Berlin/DDR, 1972), S. 61. Monatsschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens, 1. Kriegsheft Oktober 1914, S. 23. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Jeffrey Verhey, University of California, Berkeley, der an einer Dissertation über den „Geist von 1914“ in Deutschland arbeitet. Ibid., S. 22. Volkswille, Hannover, 8.8.1914, S. 1 „Die Stimmung im Volke“. StA Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizeipräsidium, Nr. 15806, Bl. 44f. und 46f. Vgl. allg. die zumeist jedoch nur die zusammenfassenden Berichte des Polizeipräsidenten wiedergebende Quellenpublikation: Dokumente aus
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geheimen Archiven, Bd. 4. Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914 - 1918. Bearb. v. Ingo Materna u. Hans-Joachim Schreckenbach, unter Mitarbeit von Bärbel Holtz (Jena, 1987). Monatsschrift für Pastoraltheologie, 2. Kriegsheft November 1914, S. 50. Zit. n. Ullrich, Kriegsalltag, S. 21. Hier auch weitere Belege für Not und Verzweifelung großer Teile der Bevölkerung. Zit. n. Edith Hagener, „Es lief sich so sicher an Deinem Arm“. Briefe einer Soldatenfrau 1914 (Weinheim und Basel, 1986), S. 77. Als proletarischsozialdemokratisches Pendant mit massiver Ablehnung des Krieges vgl. den allerdings erst im Juli 1915 beginnenden Briefwechsel: Doris Kachulle (Hg.), Die Pöhlands im Krieg. Briefe einer sozialdemokratischen Bremer Arbeiterfamilie aus dem 1. Weltkrieg (Köln, 1982). Schwäbische Tagwacht, 15.9.1914, Kulturbeilage „Soldatenbriefe“. Als realistische Schilderung des Kriegserlebnisses eines einfachen Soldaten vgl. Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914 -1918. Hg. v. Angelika Tramitz und Bernd Ulrich (München, 1989). IML, Zentrales Parteiarchiv, EA 1112. Berner Tagwacht, 8.6.1914, S. 1 „Hinter den Kulissen in ,großer Zeit'„. Die hier angesprochene Thematik ist von der Forschung bislang noch kaum aufgearbeitet worden. Vgl. noch immer das Gutachten von Martin Hobohm, „Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918“, in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, 4. Reihe: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, II. Abt., Bd. 11, 1. Halbbd. (Berlin, 1929). Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Nachlaß Wolfgang Heine, Parteipolitik 4, Bl. 151 - 153. Der Brief vom 3.3.1915 wurde wahrscheinlich an Heine weitergegeben. In der Reihenfolge: Friedrich Meinecke, „Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914“, in: ders., Die deutsche Erhebung von 1914 (Berlin, 1915), S. 9 - 13, hier S. 29; Roethe, Wir Deutschen, S. 18; Werner Sombart, Händler und Helden, Patriotische Besinnungen (München und Leipzig, 1915), S. 119; Hermann Bahr, „Das deutsche Wesen ist uns erschienen“, in: Das Eiserne Buch. Die führenden Männer und Frauen zum Weltkrieg 1914! 15 (Hamburg, 1915), S. 76f. Diesen Aspekt betont besonders Klaus Vondung, „Deutsche Apokalypse 1914“, in: ders. (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen (Göttingen, 1976), S. 151 - 171; ferner ders., „Geschichte als Weltgericht“, in: ders. (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen (Göttingen, 1980), S. 62 - 84. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871 -1918, (Göttingen, 19804).
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Reinhard Rürup, „Der ,Geist von 1914' in Deutschland. Kriegsbegeisterung und Ideologisierung des Krieges im Ersten Weltkrieg“, in: Bernd Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft (Königstein/Ts., 1984), S. 55 - 91. Tägliche Rundschau, 5.8.1914, 1. Beilage „Von Heydebrand bis Scheidemann“. So Friedrich Meinecke, „Die deutschen Erhebungen“. Sombart, Händler und Helden, S. 99. Ernst Bertram, „Wie deuten wir uns“?, Mitteilungen der literarischen Gesellschaft Bonn, 10. Jg. (1915), Heft 1, zit. n. Eckart Koester, Literatur und Weltkriegsideologie. Positionen und Begründungszusammenhänge des publizistischen Engagements deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg (Kronberg/Ts., 1977), S. 252. Adolf v. Harnack, „Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen“, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, S. 147 - 168, hier S. 155 (Rede vom 29.9.1914). Vgl. allg.: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, gehalten am 18., 22. und 25.5.1917 im Berliner Abgeordnetenhaus (Gotha, 1917). Alois Riehl, „1813 - Fichte - 1914“, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, S. 191 - 210, hier S. 207 (Rede vom 23.10.1914). Rudolf Borchardt, Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr. Rede gehalten am 5.12.1914 zu Heidelberg (Heidelberg, 1915), S. 4. Roethe, Wir „Deutschen“, S. 45f. Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches vom 16.10.1914, abgedr. in: Annemarie Lange, Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution (Berlin/DDR, 19882), S. 648. Vgl. allg. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges (Göttingen, 1969). Friedrich Meinecke, „Geschichte und öffentliches Leben“, in: Ernst Jäckh (Hg.), Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung, Bd. 1 (Gotha, 1916), S. 18 - 26, hier S. 18. Johann Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft (Münster, 1915), S. 187f. Theodor Heuß, „Abschied von Marx“, in: Die Hilfe, 23. Jg. (1917), S. 106 109, hier S. 109. Zur ideologisierenden Verarbeitung der militärischen Formierung der Gesellschaft vgl. u. a. Dieter Krüger, Nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland (Göttingen, 1983). Vgl. Robert Sigel, Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe. Eine Studie zum rechten Flügel der SPD im Ersten Weltkrieg (Berlin, 1976). Johann Plenge, 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes (Berlin, 1916), S. 87. Rudolf Kjellen, Die Ideen von 1914 - Eine weltgeschichtliche Perspektive (Leipzig, 1915), S. 46. Plenge, Der Krieg, S. 171 f. Ibid., S. 187.
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Plenge, 1789 und 1914, S. 82. Ibid., S. 143. Zu Plenges Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Axel Schildt, „Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874 - 1963)“, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 35 (1987), S. 523 - 570.
Krieg und Literatur/War and Literature, Nr. 5/6 1991. S. 105-123. © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Bernd Hüppauf
Räume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft, Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg Bevor ich mich meinem leicht abseitig erscheinenden Thema im engeren Sinn zuwende, möchte ich die Frage stellen, warum und mit welcher Absicht sich nicht allein die von ihrem Fach her berufenen Militärhistoriker mit dem Thema "Krieg" beschäftigen, sondern Literatur- und Kulturgeschichte sich mit steigender Intensität von dem Thema "Krieg" und insbesondere dem Ersten Weltkrieg herausgefordert fühlen. In einem kritisch-emanzipatorischen Wissenschaftsverständnis scheint die Antwort auf diese Frage unzweideutig: in letzter Instanz wird jede Beschäftigung mit dem Krieg durch das Ziel legitimiert, ihn beherrschen zu lernen. Das Wissen über die Mechanismen des Entstehens von Krieg, die Regelmäßigkeiten seiner Abläufe, Strukturen und Elemente kriegerischer Gewalt und die Formen ihrer symbolischen Repräsentation wird in diesem Wissenschaftsverständnis entwickelt, um – wie Tilman Westphalens Eröffnungsreferat zitiert – "den Geist des Kriegs zu töten". Eine beachtliche Ahnenreihe dieses Begründungszusammenhangs läßt sich zusammenstellen, die von der Antike über die frühe Neuzeit bis zur Literatur des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus zur Friedensforschung der siebziger Jahre reicht und von der Voraussetzung ausgeht, daß über die Beherrschung des Begriffs "Krieg" dieser selbst der rationalen Kontrolle unterworfen werden könne. Die Skepsis gegenüber einer moralischen Dimension der Sozial- und Geisteswissenschaften und die Forderung nach klarer Trennung von methodisch geleiteter Forschung und Ethik hat offensichtlich den Test der wissenschaftlichen Praxis nicht bestanden. Forschung und Wissenschaft sind auf solch fundamentale Weise mit gesellschaftlicher Praxis verbunden und über ihre Anwendung im System von Technik und Ausbildung mit der Ebene normativen Handelns vermittelt, daß die Austreibung der Moral aus den Gesellschaftswissenschaften von illusorischen Ausgangshypothesen ausgeht. Über das Verhältnis von Wissen und politischer Praxis läßt sich, von dieser Grundposition ausgehend, die Forderung aufstellen, politische Einmischung in einer Form zu erlernen, in der man in dem denkbar
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höchsten Maße Gebrauch von der Kompetenz machen kann, die man durch seine spezielle Ausbildung erlernt hat.1 Mit dieser Absicht hat die Friedensbewegung versucht, aus der Geschichte der Kriege und gesellschaftlichen Aggression für zukunftsorientiertes Handeln zu lernen. Das Projekt einer Entzauberung des Kriegs, das ihm seine Existenzgrundlage im zivilisierten Denken und Fühlen zu entziehen sucht und ihn als den Gegensatz zur Zivilisation ächtet, liefert aufklärerischer Theorie des Kriegs seit je ihre moralische Begründung. Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795) lieferte diesem Projekt ein suggestives Motto und ein grundlegendes Argumentationsmuster, das den prosperierenden bürgerlichen Rechtsstaat als die Voraussetzung für das natürliche Absterben des Kriegs als Mittel der Konfliktlösung propagiert. In der Welt nach Nietzsche und Freud erforderte diese Argumentation allerdings komplizierte Ergänzungen und Reformulierungen. Abgestoßen durch die Orgie von Tod und Zerstörung des Ersten Weltkriegs meinte Virginia Woolf, die Vorstellung, aus Krieg sei je etwas Neues entstanden, sei ein Hirngespinst, das sich nur aus den Prinzipien einer der Maskulinität unterworfenen Geschichte erklären lasse.2 Mit der Ausgrenzung des Kriegs aus dem Bereich des Zivilisatorischen, seiner Identifizierung mit dem destruktiv Irrationalen und der Maskulinität waren der kritisch-emanzipatorischen sowie der feministischen Perspektive auf das Thema Krieg der Bezugsrahmen gegeben. Wir sympathisieren mit diesen Grundgedanken und wünschten, sie im Angesicht der Greuel und Verwüstungen der Kriege dieses Jahrhunderts festhalten zu können. Die Verknüpfung des theoretischen Diskurses mit der expliziten Handlungsnorm, das kriegerische Denken zu bewältigen, weckt moralische Anteilnahme, verstellt aber gleichzeitig den Blick auf die engen Beziehungen zwischen Krieg und dem Prozeß der Zivilisation. Aus dem starken und seit Kant immer wieder mit theoretischen Begründungen unterlegten Begehren nach einer Gesellschaft des "ewigen Friedens" spricht der Impuls aufgeklärter Humanität, zu dem es keine moralische Alternative und im Zeitalter der Nuklearbedrohung auch keine zweckrational argumentierende Gegenposition gibt. Kann aber der Bezugsrahmen historischer Erkenntnis im moralisch-normativen Sinn so konzipiert werden, daß das Streben nach einer friedfertigen Gesellschaft den erkenntnisleitenden Fluchtpunkt bildet, oder muß nicht vielmehr die theoretisch geleitete Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit von der Voraussetzung ausgehen, daß Krieg aus Formen gesellschaftlichen Handelns entspringt, die den strukturellen Bedingungen der modernen Zivilisation ebenso entsprechen, wie in diesen Bedingungen selbst die Erfahrungen von Krieg wirken. Max Scheler wies zu Recht auf die verschiedenen Wirklichkeitsebenen hin, die mit den Wendungen "ein Krieg
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bricht aus" und "ein Krieg wird erklärt" benannt werden.3 Während sich politisch-ökonomische Interessen und Diplomatie, die zu Kriegserklärungen führen, für das Projekt einer Entzauberung anbieten, entzieht sich der Zusammenhang zwischen Krieg und Zivilisation weitgehend dem Versuch, Wissen zur Grundlage "politischer Einmischung" zu machen. (…) Gegenüber den moralisch begründeten Voraussetzungen aufklärerisch-kritischer Diskurse über "Krieg" meldet sich seit einiger Zeit Skepsis, die sowohl von methodologischen Fragen als auch von praktischen Erfahrungen der Lebenswelt ausgeht. Die Abkehr von sozialstrukturellen Modellen der Historie ist mit einer Skepsis gegenüber der Voraussagbarkeit und Steuerbarkeit von Geschichte und gegenüber einem Theorie-Praxis-Modell verbunden, das letztlich die Beherrschbarkeit der Praxis durch Theorie voraussetzt. Die Wiederentdeckung der psychologischen und symbolischen Ebene der Geschichtskonstruktion ließ Fragen nach dem "ausbrechenden" im Unterschied zum geplanten und erklärten Krieg neu entstehen. In der Konzeption einer Geschichte als Kulturgeschichte nimmt der Krieg eine Position ein, die nicht durch ökonomische und strategisch-politische Zusammenhänge determiniert ist, die ihn vielmehr zu einem Element in der gesellschaftlichen Konstruktion von Erfahrungswirklichkeit macht. Sobald Krieg nicht unter der Voraussetzung eines exklusiven Gegensatzes zur Geschichte der Zivilisation gesehen wird, kann die Frage nach seinem Beitrag zur Konstitution des modernen Wirklichkeitsverhältnisses gestellt werden, ohne daß damit moralische Beurteilungen verbunden wären. In diesem Sinn wird seit einiger Zeit seine Bedeutung für die Befreiung der Frauen aus dem Gefängnis familiärer Rollen und der Enge von Erlebnisräumen beschrieben und gegen den dominierenden Konsensus in feministischer Anschauung des Kriegs gerichtet.4 Mit dieser Wendung ist durchaus keine Rechtfertigung des modernen Kriegs verbunden. Diese Beschreibungsmuster gehen aber sehr wohl von der Voraussetzung einer konstitutionellen Verbindung zwischen moderner Zivilisation und kriegerischer Destruktion aus und sind als praktische Konsequenzen eines Wandels des epistemologischen Bezugsrahmens zu verstehen. Mit der Erschütterung epistemologischer Prämissen und dem Wandel des Geschichtsbildes scheinen Erfahrungen mit dem praktischen Pazifismus eng verknüpft zu sein, die sich von den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg kontinuierlich bis zu den jüngsten Kriegen auf den Falklandinseln und im Nahen Osten ziehen und als Enttäuschung über die praktische Wirkungslosigkeit eines am Antikriegsideal orientierten Wissens bezeichnet werden können. Weder als System ethischer Sätze noch als Handlungsanleitung in der politischen Welt ist der Pazifismus den an ihn
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gerichteten Erwartungen gerecht geworden. Seine Potenz, emotionale Bindungen zu schaffen, hat ihn aber nicht auf eine Weise enttäuschungsfest gemacht, daß die wiederholte Erfahrung der Hilflosigkeit einer moralisch begründeten Position gegenüber der sich zweckrational gerierenden Politik, die latente Gewalt und offene Kriegsdrohung als ständiges Mittel bereithält, hätte folgenlos bleiben können. Das Beispiel der englischen Gesellschaft, die dem Pazifismus nach dem Ersten Weltkrieg entscheidende Impulse lieferte und in jüngster Vergangenheit ungeahnte Ausbrüche an Kriegsbegeisterung zeigte, gehört zu den ernüchternden Erfahrungen, die Zweifel an der moralisch begründeten Perspektive auf den modernen Krieg nähren. Das englische Beispiel läßt sich durchaus verallgemeinern. II Unter der Voraussetzung, daß Raum nicht an sich existiert, sondern sich in individuellen Tätigkeiten und sozialen Praktiken konstituiert und daher in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich strukturiert ist, ist davon auszugehen, daß die Destruktionsarbeit von Millionen Soldaten über mehr als vier Jahre hinweg und unter den Augen der ganzen Welt nicht allein ein "Bild der Zerstörung" von Objekten hinterlassen sondern auf die Erfahrung von Raum und Zeit selbst gewirkt hat. Raum (wie Zeit) wird im allgemeinen als selbstverständlich hingenommen und gehört zu den unbefragten Konstitutionselementen der Lebenswelt. Zum Thema expliziter Überlegungen wird er im modernen Philosophieseminar, nicht jedoch in den Briefen, Tagebüchern und anderen Quellen des Kriegsalltags. Ohne daß sich der Interpret daher auf explizite Äußerungen der Betroffenen stützen kann, ist er auf die Interpretation impliziter Elemente von Texten und Bildern der Kriegs- und Nachkriegszeit angewiesen und hat darüberhinaus ein beschränktes Material zur Verfügung. Aus den spezifischen Formen der sprachlichen und piktorialen Repräsentation von Landschaft und Beziehungen der Handelnden zur Umgebung, in der sie sich bewegen, muß die Geschichte des Raums in der Kriegszeit interpretiert werden. Die Formen dieser Beziehungen waren vielfältig und bestanden in der Art der Fortbewegung (in der Eisenbahn, in Lastwagen, auf Märschen, im gefährlichen Gang zwischen Front und Etappe, Rennen unter feindlichem Feuer, tagelangem Verharren im Graben, bewegungsloser Erstarrung unter feindlichem oder eigenem Trommelfeuer), im Zusammenwirken zwischen Mensch und Maschinen wie Geschützen, deren größte Reichweite etwa 25 km betrug, also den Raum bis zum Horizont ausfüllte, oder optischen Geräten der Wahrnehmung, Aufzeichnungen und Interpretation. Mit den Veränderungen der Kriegstechnologie und der
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Kampftechniken ändert sich die Repräsentation der Kriegsschauplätze, aber auch die Struktur der imaginierten Räume, also die Beziehungen zur Heimat, zum Haus, zum Frieden. Diese, aufgrund der Kriegserfahrung veränderten Raumkonzeptionen gerieten gelegentlich in Konflikt mit der konventionellen Perspektive, die sich bei Stäben und höheren Offizieren ohne direkte Fronterfahrung erhielt und in der nationalistischbellizistischen Nachkriegsliteratur gepflegt wurde. Innerhalb des theoretischen Rahmens einer Erfahrungsgeschichte läßt sich die Beobachtung, daß in den Formen der Vergesellschaftung, in kollektiven Riten, diskursiven Praktiken und Strukturen ästhetischer Erfahrung "Krieg" eine elementare Wirkung in der Konstitution der Moderne hat, schwerlich abweisen. Die Entwicklung von Literatur und Kunst seit etwa 1910 ist oft unter den Gesichtspunkten einer rapiden Steigerung von Komplexität und Fragmentierung der Erfahrungswelt im Zusammenhang mit einer radikalen Umstrukturierung von Zeit-RaumRelationen interpretiert worden. Die Begeisterung, mit der der Kriegsausbruch begrüßt wurde, läßt sich in diesem Zusammenhang auch auf die Erwartungen beziehen, Verhältnisse würden neu geordnet, das Leben werde wieder vereinfacht und die verwirrende Komplexität auf übersichtliche Beziehungen reduziert. War in der Vorkriegsgesellschaft die Erfahrung gemacht worden, daß das komplexe System der modernen Gesellschaft wie ein Irrgarten wirkte, in dem sich Orientierungen und Ziele verloren, so schien der Kriegsausbruch die Zeit stillzustellen oder gar zurückzuschrauben. Die Front organisierte die Orientierungen neu, schuf klare Zugehörigkeiten und Gegenpositionen. Die Berichte Ernst Tollers oder anderer aus dem nun 'feindlichen' Ausland zurückkehrender Deutscher geben ein klares Bild vom rapiden und radikalen Umbau der imaginierten Landkarten entlang der Freund-Feind-Linie. Die nun heraufkommende Zeit der Helden und Zeit der Opfer erschien in starkem Kontrast zur Friedenszeit der Normalität und Unauffälligkeit, in deren schwach konturierten Verhältnissen Biographien absorbiert und Konturierungschancen verloren zu sein schienen. Die Erwartung, aus dieser hoch organisierten und gleichzeitig fragmentierten Zeit herausspringen zu können, wirkte als Befreiung; romantischer Eskapismus brauchte nicht als individuelle Flucht gerechtfertigt zu werden, sondern die Befreiung vom steigenden Druck der Konformität und Komplexität wurde durch den Dienst am Vaterland zur nationalen Verpflichtung und war gesellschaftlich legitimiert. "Die Front" und "das Feld" wurden Begriffe, die diese gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen in den geographischen Raum projizierten. War Gewalt in den sozialen Beziehungen immer schon wirksam gewesen, so wurde sie jetzt offengelegt, war nicht mehr auf schwer durchschaubare Weise ein Element der diffusen Le-
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bensverhältnisse, sondern wurde auf geographische Räume verteilt. Diese Verräumlichung von Gewalt entlang einer sichtbaren Trennungslinie schien Gefühle allseitiger Unsicherheit und Orientierungslosigkeit der Vorkriegsgesellschaft in die einfache Struktur vormoderner Gefühlswelten zu überführen und konstruierte einen Raum in Analogie zu archaischen anthropologischen Karte, die sich zwischen Mensch und Barbar, Zivilisation und Chaos erstreckte. Bedrohung, Identitätsverlust und strukturelle Gewalt, die vor dem Kriegsausbruch als diffuse Elemente der Lebenswelt erfahren worden waren, konnten nun in einem räumlichen Sinn 'geordnet' und in einen 'fremden' Raum, nach 'außen' projiziert werden, dem gegenüber sich der 'Innenraum' der eigenen Gesellschaft dem Augusterlebnis der Einheit öffnete. Die vielbezeugte Spionenjagd und Xenophobie dieser Wochen war auch ein Element im Versuch, diese räumliche Verteilung säuberlich herzustellen und keine Verwischungen zwischen dem 'eigenen' und 'fremden' Raum durch die Anwesenheit des Fremden im Eigenen zuzulassen. Diese Verräumlichung komplexer sozialer Strukturen ermöglichte es nicht nur, die Sprache der Helden, geschlossenen Gemeinschaft und stabilen Identitäten wieder einzuführen, worauf sich die Kritik an der Kriegspolitik, der gelenkten Öffentlichkeit und der militärischen Kriegführung konzentrierte; vielmehr ermöglichte dieser Transformationsprozeß auch, den Krieg als die überschaubare Form von gesellschaftlichem Handeln und als Entlastung vom Komplexitätsdruck moderner Lebensstrukturen und symbolischer Vermittlungsverhältnisse zu definieren. Literatur und Kunst der Vorkriegsjahre machen sichtbar, wie die Grammatik, die das Leben strukturiert, nicht mehr verstanden wird. Soll deren gesteigerte Komplexität vereinfacht und das Ordnungssystem neu arrangiert werden, setzt der – leicht mit Gewalt verbundene – Versuch ein, ihre Tiefenstruktur auf Oberfläche zu projizieren. An Musils Verwirrungen des jungen Törleß läßt sich ablesen, wie eine Generation, der der Zugang zu einer komplexen, verwissenschaftlichten Welt verlorengeht, zur Gewalt als dem 'natürlichen' Mittel greift, diesen Zugang zu erzwingen. Die seit Ende 1914 vorherrschende Kriegswirklichkeit der erbitterten und lang anhaltenden Kämpfe um die kleinsten Stückchen Erde gaben dem Raum in diesem Krieg eine besondere Bedeutung und versetzten ihn im Gegensatz zu erstarrten Front in imaginierte Bewegung. "Durchbruch“ wurde die zentrale Metapher in der räumlichen Vorstellungswelt des Kriegs, in der die religiöse Tiefe dieses aus der pietistischen Sprache stammenden Wortes in karthographische Fläche übersetzt wurde. Die Ästhetisierung des Kriegs fand nicht allein im Werk der Futuristen statt, vielmehr verbanden diesen Krieg und die ästhetische Theorie der Zeit
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die Neigung, zeitliche Prozesse in räumliche Strukturen zu übertragen. Im tagelangen Bombardement blieb die Zeit stehen, und das Zeitnetz, das die Kriegsplanung über das riesige Schlachtfeld legte, transformierte den Zeitfluß in ein simultanes Raumgitter, dessen Einzelpunkte jederzeit in Bewegung gesetzt werden konnten, dessen Gesamtstruktur sich aber der Veränderung der Zeit entzog. Die Räumlichkeit dieses Kriegs war nicht in erster Linie die Folge des Denkens in Kategorien territorialer Eroberung, sondern ergab sich aus der Struktur des Schlachtfelds selbst, die im Widerspruch zu der durch Fortschritt und Beherrschung der Zeit charakterisierten Technologie stand, die dies Schlachtfeld erst ermöglichte. Die erstaunliche Wiederkehr des Weltkriegs in der Literatur (Jirgal) am Ende der zwanziger Jahre, die über die Grenzen der Literatur weit hinausreichte und die breite Öffentlichkeit erfaßte, läßt sich als ein Teil des Versuchs verstehen, den krisenhaften Zustand der eigenen Zeit im Rückgriff auf eine ihrer konstitutiven Phasen zu deuten. Der Zerfall der modernen Zivilisation mit sich selbst, die Erfahrung, daß das ihr Fremde in Wirklichkeit Teil ihres innersten Selbst war, da der auf technischem Fortschritt und gesteigerter Produktivität beruhende Prozeß der Zivilisation zugleich auch dem Entstehen ungehemmter Destruktivität Raum gab, läßt sich als Inhalt der komplexen Öffentlichkeitsarbeit am "Kriegserlebnis" sehen. Der Versuch, aus einer ethnologischen Perspektive auf die eigene Kultur deren enge Verknüpfung mit dem Krieg zu verstehen, spricht sich im Titel von Arnold Zweigs Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer aus. Gegenüber den annähernd 10 Millionen Toten und den Verwüstungen ganzer Landstriche verblaßten, sobald sie aus einer Perspektive 'von außen' gesehen wurden, die politischen und militärischen Kriegsziele (Wiederherstellung der belgischen Neutralität oder die Erzbecken von Longwy) bis zur Bedeutungslosigkeit. Aus der ethnologischen Perspektive erschien die europäische Zivilisation, die die bloße technische 'Machbarkeit' grenzenloser Destruktion offensichtlich in einer Art unkontrollierbarer Zwangshandlung in diesem Krieg in die Wirklichkeit umgesetzt hatte, in einem neuen Licht.5 Nietzsches These von der Zivilisation als einem Unterdrückungsmechanismus, von dem das Barbarische sich lediglich aus pragmatischen Gründen und temporär domestizieren läßt, schien sich bestätigt zu haben. Die These einer unauflösbaren Verschränkung zweier Räume: dem des Wilden jenseits der Grenzen Europas und dem der europäischen Zivilisation, verwirklichte sich in der Erfahrung einer Verschränkung von Produktion mit Destruktion in der modernen Zivilisation. Die um 1916 aufkommende Wendung "Wir Arbeiter der Zerstörung" und ein zugehöriges semantisches Feld, auf dem das Schlachtfeld als Fabrik, die Tätigkeit der Soldaten als in-
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dustrielle Arbeit und das Produkt ihrer Arbeit als Teil eines industriellen Leistungskomplexes bezeichnet wurden, schufen einen eigenen Diskurs der Inversion, der jedoch auf die Beziehung zum tradierten Diskurs von Fortschritt und Produktivität angewiesen blieb. Ein Müllhaufen liegt vor uns. Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du wieder werden, wir haben gebaut ein Herrliches Haus, nun geht hier kein Mensch weder rein noch raus. So kaputt ist Rom, Babylon, Ninive. Hannibal, Caesar, alles kaputt, oh denkt daran.6
Dies ist eine der vielen Destruktionsphantasien aus Döblins frühen Romanen. Destruktion ist das Thema, und es wird in einer Sprache der Destruktion vorgeführt. Die Trümmer vieler literarischer Häuser liegen hier wild durcheinandergewirbelt, von der Bibel über Volkspoesie zur saloppen Umgangssprache bilden die zertrümmerten Formen, Genres und unordentlichen Stilebenen in dem kurzen Ausschnitt einen Trümmerhaufen. Destruktion und Destruktivität als Haltung hat es, so scheint das Zitat zu belegen, immer schon gegeben, jedenfalls in der Geschichte Europas, wo sie sich bis in ihre Anfänge und an ihre Ränder in Kleinasien und Nordafrika verfolgen lassen. Aus dem Schutt, den die Archäologen ausgraben, wie aus der Lektüre der frühen Quellen, der Bibel, Homers, der Mythen der Antike und der Epen des Mittelalters läßt sich offensichtlich eine endlose Kette von Erzählungen der Destruktion und Destruktivität bis zur Literatur des Weltkriegs und über sie hinaus zusammenfügen: "alles kaputt, oh denkt daran". Dieses mythisierende, leicht hoffnungslose und gleichzeitig der Destruktion widerstandslos hingegebene, heitere Bild eines ewigen Einerleis, einer zyklischen Bewegung, in der der Zeitfluß aufgehoben ist und Fortschritt im Zeichen des Zerfalls zum Stillstand kommt ("[...] zur Erde sollst du wieder werden"), ist die eine Seite an Döblins Weltbild in der Zeit vom Wallenstein-Roman bis zum Alexanderplatz, vom Ersten Weltkrieg bis in die frühen Jahre des Exils. Dieses Bild ist repräsentativ für die Epoche und ist mit einer produzierend-reproduzierenden Haltung gegenüber der Wirklichkeit verschränkt, die in einem komplementären Verhältnis zur Destruktivität steht. Eine von den Imperativen des Überlebens gelöste Produktivität breitet sich so schrankenlos aus wie die Destruktivität und sorgt dafür, daß Schutt ausgegraben und ganze Städte restauriert oder neu gebaut, Trümmer zusammengefügt, verwüstete Landstriche begrünt und die Scherben geleimt werden. Rom, Babylon, Ninive, Hannibal, Caesar, alles wieder ganz und Teil eines unaufhörlich neue Zusammenhänge – vom Tourismus über die Wissenschaft zur
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Stadt- und Denkmalrestauration – produzierenden Systems. Die moderne Destruktion ist gewaltiger und umfassender als die der älteren Welten; ihr fehlt aber gleichzeitig die metaphysische Dimension, und sie ist – vor dem Hintergrund des möglichen endgültigen und unwiderruflichen Endes – weniger ernsthaft und auf eine nicht-moralisch Weise 'ästhetisch'. Die Destruktivität entwickelt mit dem Eintritt ins 20. Jahrhundert eine Qualität, die sie von den Destruktionen früherer Zeiten unterscheidet. Aus der Bedrohung durch eine auf Totalität zielende Zerstörung, die aus der Eigendynamik der Technologie selbst folgt und sich aus den Bindungen an moralische Kategorien von Schuld oder an Metaphysik gelöst hat, folgt ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, dessen mentale Strukturen sich in die Erfahrung des Ersten Weltkriegs zurückverfolgen lassen. Er lieferte in der Erfahrung der Moderne das Paradigma für die Verschränkung von entgrenzter Produktivität und Destruktivität in einem der kritischen Kontrolle entzogenen technologisch determinierten System. Erst in der Folge dieser Erfahrung konnte die Zerstörung Trojas oder Karthagos und konnten die vielen Zerstörungen der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit den Anschein gewinnen, sich vom modernen Krieg nicht zu unterscheiden und in die Nähe der modernen Disproportionalität zwischen Destruktion und politisch-moralischen Zielen rücken. Odysseus kann als Repräsentant einer "zynischen Kriegsführung", die das Ende des "heroischen Zeitalters" und den Beginn des Zeitalters der "Massenschlächterei" heraufführte, erst erscheinen,7 nachdem die Erfahrung des Totalen Kriegs gemacht worden war und ältere Begriffe von der "Gewalt des Kriegs" oder vom "absoluten Krieg", die noch Clausewitz, der erste Theoretiker des neuzeitlichen Kriegs, durchgehend gebraucht,8 verdrängt hatte. Erst als die Totalität technologisch induzierter Destruktion als ein 'natürlicher' Bestandteil in die moderne Welterfahrung eingegangen war, entstand die Denkmöglichkeit, Odysseus als den ersten Repräsentanten moderner Destruktion zu verstehen. Es braucht aber lediglich den Blick auf die Abenteuer der Heimkehr in der Odyssee, um zu sehen, daß der mit Sinn und Beziehungen ausgefüllte Raum gerade die moderne Erfahrung der Totalität technologischer Destruktion nicht zuläßt. Die zehnjährige Fahrt durch den Mittelmeerraum, die die wechselvolle Arbeit an der Entwicklung des Eigenbewußtseins repräsentiert, läßt sich, wie Horkheimer und Adorno im Rückgriff auf die mythische Reisemetapher gezeigt haben, als die Gewinnung des Raums verstehen, in dem Freiheit und Selbstbestimmung sich erst entfalten können. Selbst wenn dieser aus der Beherrschung der Natur entstehende Freiheitsbegriff den Keim der Unterdrückung und Zerstörung des Ichs bereits in sich enthält, liegt doch das Ende der Moderne hier
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noch in weiter Ferne. Die Transformation der Korrespondenz zwischen einem erlebnisgefüllten Raum und der diesen Raum erfüllenden Subjektivität in die bloße Gleichzeitigkeit beziehungsloser Fragmente, mit denen sich zynisch, wie Münkler meint, oder bloß funktional spielen läßt, entzieht sich der epischen Struktur des Homerischen Berichts. Der modernen Destruktionserfahrung sind auch Zeit und Raum unterworfen, und in der Verdichtung dieser Erfahrung im Weltkrieg zeigt sich die Inkompatibilität moderner und archaischer Kriegserfahrungen. Die Destruktivität dieses Jahrhunderts und die in ihr begründete Raumerfahrung läßt sich als Glied in einer langen Kette von Kriegen nicht angemessen verstehen, und die Entleerung des Raums der Moderne hat kein Vorbild in der älteren Literatur der Destruktion. Die Kluft, die den Ersten Weltkrieg von früheren Kriegserfahrungen trennt, folgt nicht aus den Innovationen der Waffentechnik, der Kommunikationstechnologien, der strategischen Konzepte oder der Massenheere. Diese Neuerungen waren alle früher bereits wirksam geworden und lassen sich von den Balkankriegen über den Amerikanischen Bürgerkrieg bis zu den Napoleonischen Kriegen zurückverfolgen "Modernität" des Ersten Weltkrieges ergab sich aus dem Zusammenwirken solcher Faktoren, das zu einer Grenzenlosigkeit der Kriegsmaschine führte, die nur noch ihren eigenen Gesetzen folgte und erst mit der totalen Erschöpfung der einen kriegführenden Seite zu arbeiten aufhörte. Dieser Erfahrung der Abwesenheit von Schranken und der keiner rationalen Steuerung zugänglichen Eigengesetzlichkeit des Destruktionsapparats entsprach die Zertrümmerung eines kohärenten und auf das wahrnehmende Ich zentrierten Raumes bei gleichzeitiger Verräumlichung der Orientierungsstrukturen, aus denen temporale und moralische Kategorien ausgetrieben wurden. Die Destruktionserfahrung sprengte nicht nur daher die Sinnpotentiale, weil sie den gegebenen Erfahrungshorizont weit überstieg und es keine Hermeneutik gab, die diese Ereignisse in einen bedeutungsvollen Erfahrungsraum der Zeit hätte aufnehmen können; vielmehr gehörte auch die Unterordnung moralischer Begründungsfragen und temporalen Orientierungswissens unter die Ordnungsmuster eines abstrakten Raumes, in dem die menschlichen Körper ebenso wie die Landschaft, in der sie sich bewegten, artifiziellen Konstruktionsgesetzen folgten, zur 'Modernisierung' der Erlebniswelt. Die Erfahrung, daß Destruktivität und Produktivität ununterscheidbar geworden waren und die Zerstörung einer alten, noch immer die Spuren ihrer römischen Besiedlung zeigenden Kulturlandschaft mit dem Entstehen einer neuen, zeitlosen und rein funktionalen Kriegslandschaft identisch war, gehört in die weit über den Waffenstillstand hinauswirkende Geschichte des Kriegs als einer Geschichte der modernen Zivilisation. In dem Maß, in
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dem der Krieg die hierarchische Ordnung von Produktion und Destruktion aufhob und das eine an die Stelle des anderen setzte, verschob sich das Zeit- Raum Verhältnis. Der Krieg unterwarf nicht nur die Disparatheit individueller und regionaler Zeiten einem vorbildlosen Schub an Gleichzeitigkeit, sondern transformierte diese vereinheitlichte Zeit in Räumlichkeit. III Das Entstehen der Wahrnehmung von Landschaft muß als historischer komplexer Prozess gedacht werden. Joachim Ritter hat in einem einflußreichen Aufsatz gezeigt,9 auf welche Weise die Ausbildung moderner Subjektivität komplementär zur Konstruktion von Raumstrukturen, die durch Konsistenz, Kohärenz und Rationalität geprägt sind, gedacht werden muß. In dieser Sicht bedingen sich die kognitiven und affektiven Eigenschaften der Subjektivität sowie die Strukturen der ausgedehnten Welt auf eine Weise, daß Landschaft sich als das Produkt einer spezifischen Konstitutionsleistung der Wahrnehmung ausbildete. Auf Ritters Sicht, die zuletzt von Groh und Groh kritisiert und weiterentwickelt wurde, kann hier nicht näher eingegangen werden. Ich beziehe mich in der folgenden kurzen und vereinfachenden Skizze auf die ausgedehnte Literatur, die sich im Anschluß an Ritters Argumente mit dem Zusammenhang von Landschaft und moderner Subjektivität beschäftigt hat. Die Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts läßt eine Optik erkennen, in der Landschaften als geschlossene Kulturräume entstehen, die über lange Zeiträume hinweg sich organisch entwickelt haben und jenseits aller Brüche und Verwerfungen der politischen und sozialen Geschichte Kontinuität und Kohärenz repräsentieren. Die Landschaft aus Feldern, Wiesen, Dörfern, Wegen und zugehörigen Wanderern, Ausflüglern oder Bauern, die sich in überschaubaren Zusammenhängen bewegen, bilden einen Resonanzboden für die Seele und im Lauf des Jahrhunderts, mit zunehmender Urbanisierung und Landschaftszerstörung, eine Entlastung von Zwängen der industriellen Welt und eine Heimat für die zunehmend verwundete Seele. Diesem Bild von Landschaft lag selten die Opposition zwischen Natur und Gesellschaft zugrunde. Dennoch wurde es zunehmend als ein Zufluchtsort vor den Folgen der Industrialisierung gesucht und war damit zugleich der Bedrohung durch die Modernisierung ausgesetzt: wachsende Städte, Straßen, Eisenbahntrassen, Telefonleitungen oder industrialisierte Landwirtschaft bedrohten die jahrhundertealte Kulturlandschaft. Landschaft ähnelte mehr und mehr den Stätten industrieller Produktion, so daß ihre affektiven Qualitäten und ihre magischen Kräfte schwanden. Wie läßt sich der Ort des Ersten Weltkriegs in dieser Entwicklung bestimmen?
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Es gibt, vor allem aus der Frühphase des Kriegs, Fotos, Bleistiftskizzen und Lithographien, in denen Landschaft dazu dient, den Krieg als eine Fortsetzung der Lieblingsbeschäftigungen der Wander- und Jugendbewegungen erscheinen zu lassen: Soldaten in Alleen oder auf blühenden Wiesen und in den Kornfeldern des Augusts, beim Biwak oder vor Flußlandschaften. In der Nähe dieser jugendbewegten Bilder, die allein durch Pickelhauben und Uniform den Krieg signalisieren, stehen Darstellungen, in denen Landschaft den idealen Rahmen für die Erhaltung und Erneuerung von Bildern des Heldentums in der Tradition des 19. Jahrhunderts bildet: der Verwundete mit weißer Binde in heiterer Sommerlandschaft, der spähende und angriffsbereite Soldat in einer Baumgruppe, das Feldgeschütz, umgeben von eifrigen Soldaten, vor grünen Hügeln. Tagebücher und Briefe liefern den sprachlichen Kontext und sprechen von physischen Anstrengungen und Herausforderungen durch lange Märsche und das Leben unter freiem Himmel. Soldaten berichten davon, wie sie unter der Augustsonne schwitzen und dursten, aber auch braun und kräftig werden. Selbst ältere Freiwillige klagen weniger über die Strapazen als daß sie mit Genugtuung von den Veränderungen ihrer Lebensrhythmen und ihrer Körper berichten. In einer beachtlichen Zahl von Texten stellen sich Soldaten als Touristen dar, die fremde Länder und Landschaften, oft mit dem wichtigsten Gegenstand des Touristen, der Kamera, ausgestattet, aus der Perspektive des neugierigen Reisenden wahrnehmen und dokumentieren wollen. Wir wissen, daß die erste Phase des Kriegs, zu dem diese Haltungen gehören, bald, in strategischer Hinsicht nach genau 36 Tagen, am 6. September 1914, an ihr Ende kam und ein neuer Krieg begann. Mit ihm tauchen langsam und später in großen Quantitäten, neue und bis dahin nie gesehene Bilder auf. Es dauerte einige Zeit, bevor ein erstes Verständnis der Dimension und der Implikationen dieser neuen Bilder von Landschaft sich entwickelte, und Versuche, sich in dieser neuen Landschaft zurechtzufinden, lassen sich in der Literatur- und Geistesgeschichte bis weit in die Nachkriegszeit verfolgen. (…) In Archiven und Alben finden sich einzelne Fotos und gelegentlich Fotoserien, die, etwa von Mitte 1915 an, die Veränderungen des Raums sichtbar machen, in dem sich Soldaten bewegen und das Kriegsgeschehen abläuft. Fotos zeigen Dörfer vor und nach dem Artilleriebeschuß, bis zu dem Stadium, in dem auf dem unkonturierten Schwarz im unteren Teil des Fotos keine Spur mehr auf die frühere Existenz eines Dorfes hinweist. In einem Brief von der Westfront lesen wir:
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Alle Bäume zerschossen, die ganze Erde metertief zerwühlt von schwersten Geschossen, und dann wieder Tierleichen und zerschossene Häuser und Kirchen, nichts, nichts auch nur annähernd brauchbar! Und jede Truppe, die zur Unterstützung vorgeht, muß kilometerweit durch dieses Chaos hindurch, durch Leichengestank und durch das riesige Massengrab.10
Wie in diesem Brief aus der frühen Phase des Kriegs erscheint in diversen Dokumenten oft der Begriff "Chaos", auch Wörter wie "Auflösung", "Ende der Welt" oder "Wüste(nei)" werden häufig verwandt. Überwältigung, Schock und Verstörung sind die Formen der Reaktion, die sich in Begriffen der klassischen Erziehung (Titanen, Demiurg) oder der bloßen Alltagssprache spiegeln. Die Zeit von Gas, Panzern, Flammenwerfern, Luftbombardements, tagelangem Trommelfeuer, gewaltigen Sprengungen und ähnlichen genialen Erfindungen stand noch bevor und mit ihnen die Gewöhnung an die gewaltigen Formen der Zerstörung, die in späteren Briefen lediglich in beiläufiger Sprache erwähnt wird. Bilderserien, über längere Zeiträume hinweg aufgenommen, zeigen Waldregionen, die langsam sich lichten, bis lediglich Baumstümpfe übrig bleiben, die durch fortgesetztes Bombardement auch verschwinden und schließlich nur noch eine unkonturierte Fläche aus Schwarz und dunklen Grautönen: zerwühltes Erdreich, Schlamm, durchsetzt mit Resten der Kampfhandlungen, übrig lassen. Von einem Ende kann auch dann noch nicht die Rede sein, wie wir aus Briefen von Soldaten wissen, die davon berichten, wie auch dieser Schlamm wieder und wieder umgewühlt wird von Explosionen, die Reste von Waffen und Geschossen, Ausrüstungsgegenständen und die in der Erde verwesenden Körper in die Luft schleudern, bevor sie wieder in der Konturlosigkeit versinken. Diese Bewegungen der Absurdität entziehen sich der Abbildbarkeit in Fotos oder Ölbildern. "Dies war ein Graben," meint Süßmann, während sie auf jenen Fleck zusteuerten, der Dorf Douaumont hieß, stattliche Häuser besaß und eine Kirche. Jetzt ist da nichts mehr als überall sonst: gezackte Erde. Und dieser Erde beginnt zu stinken; süßlich und faulig [...], dann wieder brandig, schweflig, krank. Süßmann [...] deutet die Gerüche, die von oberflächlich Begrabenen herrühren, von altem Kot, ungenügend zugeschüttet, von den Giftgasgranaten, die das Land hier durchtränkt haben, von Brandgeschossen, von Haufen verrotteter Konservenbüchsen. [...] Er erklärt [...], daß bei Sonne und Wind dies alles noch viel stärker stinke, mit Staub vermischt dann und den Gerüchen dieses ganzen verwesenden und zerpulverten Gefildes, das sich von hier aus etwa zweieinhalb Kilometer bis zu den Franzosen hindehne und dann noch einmal ebenso weit bis zum inneren Frontgürtel von Verdun.11
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Der Erste Weltkrieg lieferte die erste Anschauung von totaler Destruktion von Landschaft und ein Beispiel für unbegrenzte Herrschaft von Technologie über Natur und Raum. Die allmähliche Verwüstung von Landschaften in der Folge der Industrialisierung und Urbanisierung hatte bereits im 19. Jahrhundert zu dramatischen Bildern und heftigen Protesten geführt. Nun hinterließ die totale Zerstörung in der Folge des modernen Krieges apokalyptische Bilder im kollektiven Gedächtnis Europas. Nachdem diese Art der Zerstörung einmal erlebt worden war, konnten Landschaften nicht mehr mit den Augen der Zeit vor 1914 gesehen werden. Verstörende Bilder der Destruktion und, mehr als sie, das Wissen, daß Landschaften eine zeitlich begrenzte Existenz haben, radikaler noch, daß das möglicherweise aprupte Ende jeder Landschaft von willkürlichen oder interessegeleiteten Entscheidungen weniger ab hing, wurde Teil der kollektiven Erfahrung. Die Kriegslandschaft folgte bestimmten Prinzipien, die Lewin in einem kurzen Aufsatz unter Anwendung phänomenologischer Beobachtungskategorien erläutert.12 Sie hatte keinen offenen Horizont und war nach einer Seite gerichtet. Lewin spricht davon, wie aus der "Friedenslandschaft" eine Gefahrenzone, angefüllt mit "Gefechtsgebilden" wird, in der "der einzelne Soldat auch sich selbst als Gefechtsgebilde erlebt".13 Der Wanderer und sein Horizont, von Homer über die Romantik zu Nietzsche und Husserl beziehungsreiche Metapher für das Gewinnen von Erfahrung und Identität, für emotionales und kognitives Inbesitznehmen von Welt, war aus diesem Raum ausgeschlossen. Ein Mensch nimmt sich mit, wenn er wandert. Doch ebenso geht er hierbei aus sich heraus, wird um Flur, Wald, Berg reicher. Auch lernt er, buchstäblich, wieder kennen, was Verirren und was Weg ist [...]. Die Wanderung ist dem Geschichtlichen selber verwandt, sowohl in der rückwärts erblickten wie vor allem auch in der nach vorwärts mitgemachten Abfolge und Reihe.14
Nichts davon erhielt sich in der neuen Landschaft der Front. Die Bewegung der Körper der Soldaten durch den Raum der Front hinterließ, sobald sie sich an die dortigen Lebensbedingungen gewöhnt hatten und zu 'Frontsoldaten' geworden waren, weder Spuren in ihrer Innenwelt noch Spuren im äußeren Raum. Ihre Bewegungen waren Routine, stete Wiederholung, konnten und mußten eingeübt werden. Hinter der Front wurden Übungslandschaften errichtet, die der wirklichen Front aufs Haar glichen und dem Soldaten ermöglichten, jede Bewegung bis ins Detail zu trainieren. Das Ende eines durch Körperbewegung erfahrbaren Raums kann nicht radikaler gedacht werden als in dieser Austauschbarkeit von Mikroräumen, die alle identische, kleine Repertoires an forma-
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lisierten Bewegungen forderten und gemeinsam das hunderte von Kilometern lange, hoch formalisierte und technisierte Labyrinth der Frontlandschaft konstituierten.15 Die Uniformität dieses Riesenraumes wurde in der Abwesenheit einer zugrundeliegenden Struktur durch Gleichförmigkeit und Simultaneität hergestellt, so daß diese Einheit zugleich die Atomisierung in unverbundene Segmente bedeutete. So weitgehend diese Tendenz der Front zur Vereinheitlichung des Raumes bei gleichzeitiger Atomisierung die Realität außerhalb der Front reflektierte, radikalisierte und, auf militärische Gewalt gestützt, für die gesellschaftlichen Praktiken der Nachkriegszeit durchsetzte, so unvermeidlich führte sie doch auch dazu, kleine Räume für Abweichungen zu öffnen. Die lokalen Verbrüderungen zu Weihnachten 1914, regionale Insubordinationen oder die lokalen Meutereien von 1917 und 1918 standen mit der räumlichen Fragmentierung in engem Zusammenhang. Die Tendenz zur Uniformierung bei gleichzeitigem Zerfall begründender Strukturen entließ aus sich auch die Regionen der Nonkonformität, die in späteren Zeiten bedeutend werden sollten. Aber diese Abweichungen hatten mit dem Kennenlernen von "Verirren" und "Weg", von dem Bloch im Zusammenhang mit der Bewegung durch Landschaft sprach, keine Gemeinsamkeit. Die Kriegslandschaft machte andere Formen der Wahrnehmung nötig. In Analogie zu Methoden der modernen Naturwissenschaften war die Optik der Wahrnehmung auf Abstraktion und ein Wissen gegründet, "das unsere sinnliche Erfahrung im Sinn eines Vorstoßes" überschreitet, wie Szilesi unter Zuhilfenahme eines militärischen Begriffs über die moderne Physik schreibt. An die Stelle des transzendental subjektiven Entwurfs tritt das jeweilige Erfahren von einem bestimmten Schema der Realität des Zusammenwirkens von unbekannten Momenten. Den Physiker interessiert das Schema dieses Ineinandergreifens.16
Die Dekonstruktion sinnlichen Verhaltens gegenüber der Natur und der ihm entsprechenden Welten symbolischer Repräsentation führte zum Entstehen einer 'realeren Realität', die einen leeren und anschauungslosen Raum voraussetzt. Am Wandel der Landschaft läßt sich dieser Bruch ablesen. Deren unsichtbaren Elemente werden wichtiger als die sichtbaren, und Techniken, ihre verborgene Struktur zu entschlüsseln, wurden überlebensnotwendig. Verwüstet und ohne Sinn, wie sie der 'natürlichen Perspektive' erschien, hatte die Landschaft der Front doch das Element rigider Regelmäßigkeiten und innerer Logik. Dem Ohr war die unsichtbare Logik oft zugänglicher als dem Auge. Davon berichten die Quellen der Horchpos-
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ten. Mag diese Erscheinung eher an archaische Praktiken erinnern und an Indianer in der Dunkelheit denken lassen, so entwickelte sich mit rasanter Geschwindigkeit die Luftbildtechnik: neue Kameras, Befestigungs- und Auslösemechanismen sowie Techniken der Interpretation, die immer weitgehend auf optische Hilfsmittel und Entzerrungsapparate angewiesen waren. Die Regelhaftigkeiten der aus der totalen Zerstörung einer 'natürlichen' Landschaft hervorgegangenen artifiziellen Landschaft waren nur dem geschulten und ausgerüsteten Blick zugänglich. Die Disposition für den 'natürlichen' Blick dagegen wirkte in diesen Interpretationsverfahren nur störend und mußte durch den konstruierenden Blick des "Vorstoßes" ersetzt werden. Einige allgemeine Implikationen dieser Erfahrung für die Konzeption von Raum will ich unter den Begriffen "Abstraktion" und "Konstruktion" kurz behandeln. Es ist oft ausgesprochen worden, daß die Besonderheit der Moderne in ihrem spezifischen Verhältnis zu Raum und Zeit zu suchen sei, wobei den beiden Kategorien unterschiedliche Bedeutung zugesprochen wird. In seinen Überlegungen zur Postmoderne spricht Frederic Jameson von einer "Krise in der Erfahrung von Raum und Zeit" und vermutet, daß die Bedeutung, die zu Beginn des Jahrhunderts der Relativierung von Zeit zukam, sich später auf die Erfahrung von Raum verschoben habe, die sich auf eine Weise verändere, daß sie die gegebenen Möglichkeiten der Beschreibung übersteige. Wir besitzen noch nicht die Wahrnehmungsausstattung, die der neuen Art von Hyperraum entspräche, teilweise, weil unsere Wahrnehmungsgewohnheiten in der älteren Art von Raum ausgebildet wurden, die ich den Raum der hohen Moderne genannt habe.17
Die Anfänge der veränderten Raumerfahrung und ihre Tendenz, über Zeit zu dominieren, lassen sich jedoch, so meine ich, bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgen und sie ist insbesondere mit der Kriegserfahrung verknüpft. Der Name "Weltkrieg" selbst läßt sich als ein Indiz für diese Entwicklung verstehen. Während in seiner Anfangsphase vom "Völkerringen", "Krieg" oder "großen Krieg" die Rede war, setzte sich in Deutschland relativ früh und umfassend, in England und Frankreich später und weniger ausschließlich das Wort "Weltkrieg" durch. Im Unterschied zum heute gebräuchlichen Verständnis im rein geographischen Sinn hatte das Wort zunächst einen anderen Inhalt. Der Krieg wurde, vor allem in Deutschland, auf eine Weise bedrohlich und für die eigene Existenz entscheidend empfunden, daß die ganze Welt auf dem Spiel zu stehen schien. In diesem Sinn wird der Begriff bereits in den ersten Wochen
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nach Kriegsausbruch benutzt, lange bevor geographisch gesprochen tatsächlich die ganze Welt, mit wenigen Ausnahmen, sich im Kriegszustand mit den Mittelmächten befand. Indem die Westmächte nicht nur ihre eigenen Kräfte sondern auch die ihrer Kolonien mobilisierten, schien die deutsche Kultur und Identität der Bedrohung durch eine ganze Welt der Andersartigkeit ausgesetzt zu sein. Der Krieg wurde, unabhängig von den Kriegserklärungen einzelner Regierungen, zu einer existenziellen Krise, die in den imaginierten Raum der Welt als Ganzer projiziert wurde. In oft nicht weniger pointierter, jedenfalls im Prinzip vergleichbarer Weise wirkte diese Verräumlichung einer Existenzbedrohung im Weltmaßstab auch in Frankreich, England und Australien. In diesen Gesellschaften wurde ebenfalls sehr früh das Bild einer totalen Infragestellung der eigenen Existenz und Lebensart konstruiert und setzte sich – trotz der aus heutiger Sicht leicht absurd erscheinenden Aspekte – in der Öffentlichkeit höchst erfolgreich durch. Wenn Schiller vom Dreißigjährigen Krieg meinte, er habe Europa erst eigentlich konstituiert, so läßt sich vom Krieg von 1914 bis 1918 sagen, daß er, radikaler und abrupter als der Begriff des Marktes und der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die dem größten Teil der Welt noch lange Zeit fremd blieben, einen Vorstellungsraum lieferte, in dem "die Welt" durch die Strukturen der Moderne und ihre Simultaneität sich selbst bildete. Während die ökonomischen Zwänge der kapitalistischen Produktion und Konsumtion sich im Lauf des Jahrhunderts die ganze Welt zu unterwerfen suchten und dabei immer wieder – von China bis Iran und von den utopischen Sozialisten zu den grünen Fundamentalisten – auf Widerstände stießen, schuf die Destruktivität der Moderne im Weltkrieg eine Region der gewaltsamen Vereinheitlichung. Mit der Destruktionsdrohung, die die moderne Technologie nie zuvor in dem Maß hatte sichtbar werden lassen wie in den pulverisierten Landschaften Frankreichs und Belgiens, entstand im Zeichen des Kriegs ein weltweiter Raum, der die kulturellen Existenzkrisen des Kriegsbeginns transzendierte und die zugehörigen Gegensätze in sich aufsaugte, die allenfalls als vordergründige politisch-ideologische Kampfmittel am Leben blieben. In der Destruktion ganzer Regionen und ihrer Landschaften ließ sich nicht nur 1 l . der Höhepunkt technologischen Fortschritts und die daraus folgende totale Herrschaft der Moderne über die Natur erfahren, sondern auf dem Höhepunkt dieser fragwürdigen Entfaltung des Fortschrittsglaubens machte sich auch schon die Überwindung dieser Tradition bemerkbar. Die Künstlichkeit und Beweglichkeit einer artifiziellen Konstruktion, deren Räumlichkeit alle Elemente aufsaugte, die sie selber transzendieren würden, machte den Schritt über die Grenze der Moderne
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und nahm Elemente postmoderner Ästhetisierung vorweg. In Fotoalben, die während des Weltkriegs und der Nachkriegszeit angelegt wurden, finden sich Luftbilder neben anderen Erinnerungsfotos aus dem Krieg. Auf diesen bräunlichen oder leicht bläulichen Abzügen ergeben die Zickzacklinien der Gräben, zusammen mit geraden Linien (Verbindungsgräben oder Straßen), grauen Kreisen und Vierecken (betonierte Unterstände), hellen Wölkchen (Gasschwaden) inmitten der aufgelockerten schwarzen Fläche (zerschossene Erde) hoch ästhetische abstrakte Muster. Die abstrakte Landschaftsmalerei oder Man Rays Rayographien, Aerographien und Staubarrangements auf Glasplatten weisen keine kunstvolleren geometrischen Anordnungen auf. Diese neue abstrakte und ästhetisierte Landschaft, in der die leidenden und sterbenden Soldaten, bedingt durch den Abstand der Kameras vom Boden, unsichtbar blieben, machte eine neue Art der Wahrnehmung nötig und schuf nicht nur einen spielerischen Umgang mit den Gegenständen im Sichtfeld, sondern setzte auch einen beweglichen und entleerten Raum voraus, der keine Korrespondenzen zur Subjektivität, dem moralischen Ich oder der Transzendenz mehr ermöglichte. Nicht nur aus den Abstraktionen der Luftbilder spricht diese neue ästhetische Sprache des Raums sondern auch aus Fotos vom Niemandsland. In ihrer grauschwarzen Leere sind Menschen oft nur durch Attribute wie die runde Kontur von Stahlhelmen oder die typische Form eines Maschinengewehrs repräsentiert. Im Raum einer totalen Beziehungslosigkeit erscheinen diese Formen wie die Elemente eines Puzzles oder Brettspiels, die beliebig oder nach Regeln, die außerhalb der durch sie selbst definierten Sphäre keine Gültigkeit beanspruchen, verschoben werden können. 1914 hatte sich an den Kriegsausbruch die Hoffnung auf Befreiung von der Enge und Komplexität gesellschaftlichen Lebens geknüpft. Eingezwängt und ohne Raum für die eigene Entwicklung flüchtete Ernst Jünger in die weiten Räume eines ungezähmten Kontinents und wollte sich in Afrikanischen Spielen versuchen. Diese Hoffnung übertrug er nach dem Scheitern seines Versuchs mit der Fremdenlegion wie viele andere jugendliche Bürger dieser Generation auf den Ersten Weltkrieg. Für sie war der Angriff auf den äußeren Feind gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Enge der Vorkriegsgesellschaft. Die Erwartung, für sich durch den Krieg unbesetzten Raum zu gewinnen, Freiräume für ein anderes Leben zu erobern, erwies sich schnell als illusorisch. Die Reaktionsformen auf diese Erfahrung waren vielfältig. Der zu gewinnende Raum ließ sich metaphysisch interpretieren. In Walter Flex' Wanderer zwischen beiden Welten schafft der tote Körper im Heldengrab solch einen Raum der imaginierten Freiheit. Läßt sich der ursprünglich real gedachte Raum nur noch erhalten, indem er in die
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Transzendenz verschoben wird, spielt sich in der Immanenz eine andere und radikalere Verschiebung ab. In ihr sorgte der Krieg für das Entstehen von Verhältnissen, die den Körper auf umfassende Weise eroberten. Der "Neue Mensch" unter dem Stahlhelm, hart und amoralisch, wurde, um Foucaults Sprachgebrauch aufzunehmen, als die kleinste unteilbare räumliche Einheit des sozialen Systems – allerdings ohne die Mitwirkung organisierter Zwangsanstalten – aus der geschichtlichen Bewegung herausgedrängt und in der Mythenbildung der Nachkriegszeit so gemodelt, daß er ins Territorium totaler Herrschaft eingegliedert werden konnte. In den Kämpfen vor Verdun, an der Somme und in den folgenden Materialschlachten schuf die Gewalt des Kriegs die Voraussetzungen dafür, den menschlichen Körper zum Material zu machen, das sich 'stählen' und auf eine Weise prägen ließ, daß es sich in die vorgeformten Bewegungen in Kampfformationen, Marschkolonnen und andere eng begrenzte Räume sozialer Praktiken einfügte. Räume für Abweichungen und Eigenzeit, die sich unter den Bedingungen des Kriegs selbst noch hatten gewinnen lassen, schrumpften in der Nachkriegswelt, deren Machtstruktur sich aus der Kombination einer Militarisierung nach dem Muster der Frontlandschaft und einer Mythisierung kollektiver Mentalitäten radikalisierte. Erst aus dem entleerten Raum konnte durch die Verbindung mit kollektiver Mythenbildung die völlige Bindungslosigkeit entstehen, in der alles möglich ist. Keine Grenze, kein Verbot, keine Hemmung konnte sich vor den Anforderungen der Kriegslandschaft, wie sie sich in der Vorstellungswelt der Nachkriegszeit herstellte, erhalten. Aus dieser Erfahrung der Fremdheit im eigenen Lebensraum entstand eine Mentalität, die den wahrlich ernsten Krieg mit dem Spielerischen und den Höhepunkt der Zivilisation- und Fortschrittsgläubigkeit, ohne den dieser erste moderne Krieg nicht möglich gewesen wäre, mit dem Perspektivismus einer modernen Ästhetik verband, in der Fortschritt und Zivilisation wechselnden Haltungen von Kritik, Verachtung, Zynismus oder Gelächter übergeben wurden. Anmerkungen 1
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Horst Eberhard Richter. „Kann ich als Psychoanalytiker zur Arbeit für den Frieden beitragen? Peter Passet, Emilio Modena (eds.). Krieg und Frieden aus psychoanalytischer Sicht. Basel; Frankfurt/M., 1983, 112-131, 127. Virginia Woolf. Three Guineas. Max Scheeler. Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. 1915.
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vgl. etwa Nancy Huston. „The Matrix of War: Mothers and Heroes“. Susan R. Suleiman (ed.). The Female Body in Western Thought; Jean Bethke Elshtain. „Women as Mirror and Other: Toward a Theory of Women, War, and Feminism“. Humanities for Society 5 (1982), 2, 29-44; Sandra M. Gilbert. Soldier's Heart: Literary Men, Literary Women, and the Great War. 1987. vgl. Sigmund Freuds Briefwechsel mit Albert Einstein: „Warum Krieg?“ (1932) und ders. „Das Unbehagen in der Kultur (1929)“. Sigmund Freud Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt, 1974, 191-286. Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. Ölten, 1961, 181f. vgl. Herfried Münkler. Odyssee und Kassandra. Frankfurt/M., 1990, 78-88. Carl v. Clausewitz. Vom Kriege. 1982, bes. Erstes und Zweites Buch. Zum Unterschied zwischen den Begriffen „absoluter Krieg“ und „totaler Krieg“ vgl. Hans-Ulrich Wehler. „'Absoluter’ und 'totaler' Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff“. Politische Vierteljahresschrift 10 (1969), 220-228. Joachim Ritter. „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“. J.R. Subjektivität. Frankfurt/M., 1974, 141-163. Philip Witkop. Kriegsbriefe gefallener Studenten. München, 1928, Brief vom 05.11.1914. Arnold Zweig. Erziehung vor Verdun. 1935, 190. Kurt Lewin. „Kriegslandschaft“. Zeitschrift für angewandte Psychologie. Hg. v. William Stern und Otto Lipmann. Leipzig, 1916, 440-447; vgl. auch die Kapitel über „Schlachtenlandschaft“ in Flandrische Erde in Stimmungen und Bildern von Soldaten der 4. Armee. Stuttgart; Berlin, 1917. ebd., 444f. Ernst Bloch. Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt, 1963, Bd. 1, 63. vgl. das aufschlußreiche Dokument des Hauptmanns Laffargue, der aus eigener Fronterfahrung eine Denkschrift über die Vorbereitung von Soldaten zum Sturm durch Körpertraining verfaßte: André Laffargue. Etude sur l'attaque dans la période actuelle de la guerre... Paris, 1916. zit, nach Walter Schulz. Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen, 1972, 107. Frederic Jameson. „Postmodernism or the cultural logic of late capitalism“. New Left Review 146, 53-92, 89.
Aus: Siegfried Quandt u. Horst Schichtel (Hg.), Der Erste Weltkrieg als Kommunikationsereignis, Gießen 1993, S. 76-94. © Fachjournalistik Justus-Liebig-Universität Gießen
Ute Daniel
Informelle Kommunikation und Propaganda in der deutschen Kriegsgesellschaft »Wir machen dem hohen Senat der Stadt Hamburg den Vorschlag: Wir wollen unsere Männer und Söhne aus dem Krieg wieder haben und wollen nicht länger noch hungern – es muß Frieden gemacht werden. Der hohe Senat muß uns darin beistehen, sonst machen wir was anderes.« Aus dem Brief »mehrerer Hamburger Kriegerfrauen« an den Hamburger Senat vom 11. August 19161
Die sozialgeschichtliche Analyse der sogenannten »Heimatfront« des Ersten Weltkriegs in Deutschland stößt sehr schnell auf Zusammenhänge und Entwicklungsdynamiken, die ohne Auseinandersetzung mit den kommunikativen Aspekten der Kriegsgesellschaft weder beschrieben noch verstanden werden können. Dies gilt vor allem für die Frage nach den Entstehungszusammenhängen der staatlichen Propaganda des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der in der zweiten Kriegshälfte unübersehbaren sozialen Spannungen, die die »Heimatfront« zunehmend zu einem Nebenkriegsschauplatz machten, auf dem die Zivilbevölkerung – und zwar insbesondere die Frauen und Jugendlichen – ihre Opposition gegen den Krieg und gegen die Obrigkeiten demonstrierte. Dieser immer vehementere soziale Protest war die Antwort auf die drängenden materiellen Entbehrungen und existentiellen Gefährdungen der Kriegszeit, allem voran die Nahrungsmittelknappheit und das Massensterben der Männer an den Fronten als unmittelbare Ursache.2 Verlauf und Dynamik dieser nichtorganisierten Proteste und Aktionen werden jedoch erst verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund der besonderen Kommunikationssituation analysiert, die der Erste Weltkrieg auf innenpolitischem und sozialem Gebiet herbeiführte: Sie war – so die dem Folgenden zugrundeliegende erste These – durch ein gesteigertes, kriegsbedingtes Informationsbedürfnis der Bevölkerung gekennzeichnet (beispielsweise hinsichtlich der Nahrungsmittelversorgung, der militärischen Entwicklung und der Sorge um die zum Militär eingezogenen Männer), das von dem durch die obrigkeitliche Zensur und Kontrolle aller institu-
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tionalisierten Informationskanäle ausgedünnten und zunehmend unter Glaubwürdigkeitsverlust leidenden Angebot an Informationen nicht mehr befriedigt wurde.3 In dieser Situation scharfer sozialer Spannungen bei gleichzeitiger Ungewißheit über die »wirkliche« Lage, die durch den Ausfall der kontrollierten Medien als glaubwürdiger Informationsträger entstanden war, entwickelte sich, spontan, ungelenkt und unlenkbar, ein Netz informeller Kommunikation,4 das das gesamte Reichsgebiet umspannte und auch die Fronten einbezog. In ihm wurde eine Gegenöffentlichkeit hergestellt, die in Form von Gerüchten, Parolen, Witzen und Legendenbildungen den Krieg und seine Begleiterscheinungen kommentierte, analysierte, karikierte und vor allem kritisierte. Als Antwort auf diese subversive Kommunikation der Bevölkerung entstanden, so die zweite These, die ersten Überlegungen und Praxisversuche umfassender gelenkter Wirklichkeitskonstruktionen als neues staatliches Aufgabenfeld. Zu den wichtigsten Umschlagplätzen der informellen Kommunikation wurden neben dem im Krieg stark anwachsenden Briefverkehr zwischen Familienmitgliedern und Bekannten die ebenfalls durch die Kriegsverhältnisse bedingten Ansammlungen von Menschen: Schlangen vor Läden und Behörden, Anschlagwände mit dem ausgehängten Heeresbericht und Eisenbahnabteile, in denen Frauen auf Hamsterfahrt und Soldaten auf Heimaturlaub die Gelegenheit zum Meinungs- und Erfahrungsaustausch nutzten. Frauen und Fronturlauber galten den Behörden als die wichtigsten Quellen und Zuträger in diesem informellen Kommunikationssystem.5 Wirkungsvolle Gegenmittel standen den Behörden bei der Bekämpfung dieser Flut von Gerüchten und anderen Kolportageformen des volkstümlichen Wissens vom Krieg nicht zur Verfügung. Offizielle Dementis in der Tagespresse hätten ihrer weiteren Verbreitung nur Vorschub geleistet. Gesetzliche Maßnahmen griffen nicht, da die Behörden kaum jemals der Verbreiterinnen von Gerüchten und defaitistischen Bemerkungen habhaft werden konnten. Darüber hinaus erwies sich schon die juristische Formulierung des Delikts als problematisch. Einige stellvertretende Generalkommandos hatten zwar das Gerüchteerzählen – zumindest soweit es sich um die militärische Lage betreffende Gerüchte handelte – unter Strafe gestellt. Doch waren die geltenden Bestimmungen entweder so weit gefaßt, daß sie das Verbreiten aller unwahren Kriegsnachrichten unter Strafe stellten, während doch, wie das bayerische Kriegsministerium monierte, »wohl nur alarmierende unwahre Kriegsnachrichten verboten sein sollen«6. Oder aber sie bedrohten nur »leichtfertiges« Ausstreuen von Gerüchten und ließen damit »absichtsloses« Gerüchteerzählen straffrei. Oder aber sie stellten alle falschen
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Gerüchte unter Strafe statt nur die falschen Kriegsnachrichten und waren in dieser Form kaum noch anwendbar. Zumindest aber unter Beobachtung wollten die Behörden die volksinterne Kommunikation halten. Seit 1916/17 galt für Gerüchte u.a. de facto eine Anzeigepflicht, wie sie sonst nur beim Auftreten ansteckender Krankheiten üblich war.7 Stellvertretende Generalkommandos und Gemeindebehörden begannen daraufhin, über die in ihrem Beobachtungsgebiet auftretenden Gerüchte minutiös Buch zu fahren. Ihre Aufzeichnungen vermitteln einen guten Überblick über die inhaltlichen Aussagen zu Krieg und Kriegsverhältnissen, die in Gestalt von Gerüchten, Witzen, Sprüchen oder auch gereimt als volkseigene Kleinkunst in der Bevölkerung kursierten. Wie die behördliche Berichterstattung belegt, transportierte die informelle Kommunikation weit mehr als nur Nachrichten: In ihr wurden vielmehr bildhafte und aussagekräftige Einzelphänomene beschrieben, die – völlig unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – jeweils in nuce die Wahrnehmung von der Kriegsgesellschaft als ganzer widerspiegelten und verfestigten. Hauptthemen der informellen Kommunikation waren die militärische Entwicklung, der Stand der Nahrungsmittelversorgung und die politischen Verhältnisse. Die »Militärberichterstattung« meldete angebliche oder wirkliche Erfolge bzw. Mißerfolge bestimmter militärischer Aktionen und die Zahl von Toten, die sie gefordert hatten, und sie berichtete – im Gegensatz zu ihrem offiziellen Gegenstück – häufig über die Verhältnisse in der Etappe. Die Berichte wußten von den ungeheuerlichsten Prassereien der Etappenoffiziere, die mit Nahrungsmitteln veranstaltet würden, welche eigentlich den Frontkämpfern zustanden.8 Besonders dicht war die informelle Berichterstattung über die Ernährungslage der Zivilbevölkerung, die von den Behörden als besonders unruhestiftend gefürchtet war. Auch sie funktionierte nach dem Prinzip, der Realität der Kriegsgesellschaft gerade denjenigen zusätzlichen Stich ins Absurde zu verleihen, der dem berichteten Sachverhalt die Aussagekraft einer Karikatur verlieh. Sie meldete, daß in Großstädten wie München, Wien oder Berlin täglich Hunderte von Menschen an Hunger stürben und die Leichen mit Möbelwagen oder Straßenbahnen weggeschafft werden müßten,9 während Bauern und Kommunalverbände Lebensmittel zuhauf horteten oder verkommen ließen. So seien etwa auf dem Marsfeld in München 30.000 faule Eier vergraben worden,10 und es wurde – als bewirtschaftungspolitische Abwandlung der Legende vom fliegenden Holländer – angeblich ein ganzer Eisenbahnzug voll fauler Eier auf seiner geheimen Fahrt durch Deutschland beobachtet.11 Sogar der bayerische Innenminister Brettreich fragte im März 1917 persönlich beim Bezirksamt Wolfratshausen an, ob dort, wie Gerüchte kolportiert
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hatten, tatsächlich zur Zeit 800.000 Eier gehortet würden, weil der Kommunalverband darauf warte, daß die Million voll würde.12 Besonders große Verbitterung erregten die sich häufenden Behauptungen, der und jener habe als Kriegsgefangener in England seine eigenen Mehlsäcke (oder andere Naturalien großen Nährwerts) abladen müssen oder habe nach der Versenkung eines englischen Schiffs Eierkisten, Mehlsäcke etc. mit der Aufschrift »Kommunalverband Schwabmünchen« (hier war jeweils der Name der Kommune einzusetzen, in der das Gerücht geradekursierte) auf dem Wasser schwimmen sehen.13 Die Volksmeinung schlußfolgerte daraus bzw. nahm von vornherein an, geschäftstüchtige deutsche Händler oder Behörden trieben mit dem perfiden Albion einen schwunghaften Lebensmittelhandel. Meldungen über die politischen Verhältnisse enthielten u.a. die volkstümliche Erklärung dafür, daß der Krieg immer noch andauerte. Der Krieg sei in Wirklichkeit schon längst verloren, hieß es in Bayern im Sommer 1917, »die Großen wollen nur noch massenhaft Leute hinmachen, damit sie hernach keine Revolution bekommen«14. Eine andere Variante besagte, »daß nach den herausgegebenen Zusammenstellungen erst 45 % der Menschen durch den Krieg kaput [sie] wurden und solange kein Frieden geschlossen werde, bis 75% hingemacht sind. So muß es kommen.«15 Andere wieder wollten wissen, daß Deutschland schon 1916 hätte Frieden haben können, wenn nicht die Fabrikanten der Kriegsindustrie Einspruch erhoben hätten, »weil sie noch nicht genug verdient hätten, um die erwachsenen Kosten decken zu können«16. Durch das Medium der informellen Kommunikation, in dem Aspekte der wahrgenommenen Kriegsrealität bis zu einem Grad hypostasiert wurden, der die zunehmend als bedrohlich und irrwitzig erlebte Totalität der Kriegsgesellschaft bestätigte, »verhetzte« die Bevölkerung sich weit nachhaltiger selbst, als dies der Agitation der organisierten Kriegsopposition – USPD und Spartakus – möglich war. Dieses Medium radikalisierte die den Entbehrungen der Kriegszeit ausgesetzte Bevölkerung bis zu dem Punkt, an dem die Unzufriedenheit in kollektives Handeln umschlug und zu spontanen Unruhen führte. Die volkseigene Gegenöffentlichkeit produzierte und verstärkte nicht nur die entsprechende Grundstimmung, sondern lieferte oftmals auch erst die Anlässe für Lebensmittelunruhen und Streikbewegungen, die dann ab Ende 1915, verstärkt seit 1916 an der Tagesordnung waren. Oft begannen diese Episoden kollektiven Handelns mit dem Gerücht, bei einem bestimmten Bäcker gebe es Brot ohne Brotmarken, Eier oder anderes. Schnell fanden sich dann an der bezeichneten Stelle größere Menschenmengen ein, die schließlich, wenn ihre Hoffnungen enttäuscht wurden, die Läden plünderten oder zur Stadtverwaltung zogen und damit eine ganze Kettenreaktion weiterer
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Episoden spontanen Handelns auslösten. Derartige Unruhen führten ihrerseits zu zahlreichen neuen Gerüchten, die durch Berichte über die zahlreichen Toten, welche bei der Niederschlagung der und der Demonstration, des und des Streiks auf den Straßen geblieben seien, den Volkszorn auf den Siedepunkt erhitzten. Hausfrauen und Arbeiterinnen waren diejenigen, die die größte Neigung dazu an den Tag legten, handgreiflich zu werden, und die die weit überwiegende Mehrheit an Streikenden und – gemeinsam mit Jugendlichen und Schulkindern – an Demonstranten stellten. Diese sozusagen alltägliche, von Frauen und Jugendlichen geprägte, sich spontan auf der Straße oder im Betrieb anbahnende Form sozialen Protests war die für den Ersten Weltkrieg typische – nicht die im engeren Sinn politischen Streikbewegungen und Demonstrationen, die 1917 und vor allem 1918 hinzukamen; nahezu durchweg von den alltäglichen Lebensbedrängnissen motiviert, in deren Kritik breite Schichten der Bevölkerung übereinstimmten, wurden sie in der zweiten Kriegshälfte zu einem ubiquitären und permanenten Störfaktor, der die Behörden das Fürchten lehrte und die Regierbarkeit der Städte in Frage stellte. Die bedrohliche Entwicklung der Volksstimmung veranlaßte die Behörden zu außerordentlichen Maßnahmen. Um »in stetiger Kleinarbeit die Hand an den Pulsschlag des Volkes«17 legen zu können, überzogen sie das Reich mit einem Netz von Beobachtungsstationen. Zivil- und Militärbehörden bis zum letzten Garnisonskommando und zur kleinsten Gemeinde hinab mußten in der zweiten Kriegshälfte alle wichtigen Entwicklungen und Ereignisse melden, die über die Volksstimmung Aufschluß geben konnten. Zur Überwachung der Kommunikation in Eisenbahnabteilen, die als Brutstätten des »Miesmachertums« galten, wurde eine Organisation der Eisenbahnüberwachung geschaffen, die regelmäßig über erlauschte Gespräche und Klosprüche Bericht zu erstatten hatte.18 Für die Abwehrabteilung des Stellvertretenden Generalstabs war »eine Unmenge bezahlter und unbezahlter Spitzel aller Gesellschaftskreise«19 tätig. Eine der umfassendsten Meinungsforschungsaktionen leitete im Auftrag der Militärregierung in München ein Professor der Kunstwissenschaft in die Wege, der beim Bahnpostamt als Unteroffizier mit der Briefzensur beschäftigt war. Mit der Absicht, die Regierenden besser über die Stimmung der Bevölkerung unterrichten zu können und gleichzeitig der Nachwelt das Material zu sozialpsychologischen und volkskundlichen Studien zu übermitteln, führte er bei der Münchener Postzensur einen Briefabschriftsdienst ein. Von den täglich beim Bahnpostamt I in München durchlaufenden Sendungen wurden über 70.000 überprüft und nach dem Kriterium der Repräsentativität exzerpiert. Auf diese
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Weise gelang es, aus dem Briefverkehr einen repräsentativen Querschnitt durch die Wahrnehmungsmuster zu gewinnen, die die Briefschreiberinnen im Krieg und vom Krieg entwickelten Meinungen, die nur der »Abklatsch von Zeitungsmeldungen« waren, wurden »anhand des einschlägigen Stils« ausgeschaltet. Was übrig blieb, war wie erhofft ein realistischer Einblick in die allgemeine Stimmungslage – »wobei man leider sagen muß, daß der Gesamteindruck von der geistigen Verfassung unseres Volkes, den man aus dem längeren Lesen dieser Briefe gewinnt, im ganzen nicht gerade sehr erhebend genannt werden kann.«20 Die leider nur zu einem Teil erhaltenen Briefauszüge21 geben einen sehr lebhaften Einblick in die Wahrnehmungsweisen von Schichten, die in »normalen« Zeiten für die Historiker wegen der fehlenden schriftlichen Uberlieferung sprachlos bleiben – dies zumindest verdankt man der Trennung von Angehörigen durch den Krieg, die den Briefverkehr zu einem Massenkommunikationsmittel machte.22 Der genaue Kenntnisstand, den sich die Behörden solcherart über die Volksstimmung verschafften, führte zu der dringenden Forderung nach Gegenmaßnahmen. Lehrte die Bevölkerung in der Kriegszeit die Regierenden, ihre Stimmung »als ein militärisches Kriegsmittel schlechthin«23 zu betrachten, so lernten diese daraus, welche geschichtsmächtige Kraft die staatliche Lenkung von Wahrnehmungsmustern haben könnte: »The war had taught the value of propaganda if nothing else.«24 Der deutschen Bevölkerung, diagnostizierte das Kriegspresseamt im September 1917, fehle es noch »an einem starken, das innere Leben des einzelnen völlig beherrschenden nationalen Selbstbewußtsein«; sie gleiche »guten und braven Kindern, denen aber täglich gesagt werden muß, was sie zu tun haben«25. Regierungen, Militär und Behörden entdeckten die gesamtgesellschaftliche Sinnstiftung als in dieser Form neues Aufgabengebiet. Die defaitistische Haltung, die in der Bevölkerung gegenüber dem Krieg und dem ihn führenden Staat eingenommen wurde, konnte nicht unterdrückt werden. Vielmehr mußte ihr eine positive Sinnstiftung gegenübergestellt werden, die geeignet war, affirmativen Wahrnehmungsmustern Geltung zu verschaffen. Vor allem der gefährlichsten Bestandteile der volkseigenen Kriegswahrnehmung sollte sich die »Aufklärung« bzw. der »vaterländische Unterricht«, wie die termini technici der Obrigkeit für ihr neues Aufgabengebiet hießen, annehmen: der Ansicht, im Frieden würden die Verhältnisse besser; der mangelnden Identifikation des einzelnen mit dem großen Ganzen der Kriegsgesellschaft; und vor allem der überwältigenden Erfahrung von Sinnlosigkeit, die das Elend des Kriegs in den Augen der Mehrheit darstellte.
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Wenigstens zwei der am konsequentesten weitergedachten Entwicklungen derartiger Sinnstiftungskonzeptionen sollen hier kurz umrissen werden; auch wenn sie während des Kriegs keine praktische Anwendung fanden, dokumentieren sie höchst eindrucksvoll das zeitgenössische Experimentieren mit dem in dieser Reichweite neuartigen Medium staatlicher Selbstdarstellung und Propaganda. Die Anregung, die Person des Kaisers als Identifikationssymbol für die Bevölkerung einzusetzen, machte der Präsident des Kriegsernährungsamts, von Batocki, im März 1917. Ein talentierter Journalist müsse zu diesem Zweck dem Kaiser beigegeben werden, der ausschließlich dafür zuständig sein sollte, Anregungen zu Aktionen zu geben, die die Volksnähe des Kaisers demonstrierten. Von Batocki schlug zwei mögliche Aktionen vor: Der Kaiser solle nach Berlin kommen und dort Menschen aus allen Volkskreisen empfangen; und Gelegenheiten wie der »Heldentod« des Prinzen Friedrich Karl müßten mit »systematischem Geschick« ausgenutzt werden.26 Als zweites Beispiel sei das Expose »Die Freiheit in Deutschland« genannt, dessen Verfasser – mit großer Wahrscheinlichkeit Friedrich Naumann – es im Oktober 1917 an den Reichskanzler richtete.27 Es forderte »die bewußte Aufrichtung der deutschen Legende« im Inland, die das Gegenbild zur »Legende von der deutschen Unfreiheit«, die die Gegner Deutschlands als Kriegsagitation benutzten, zeichnen sollte. Auch der deutsche Staat müsse, ebenso wie in den Feindstaaten die Bekämpfung des deutschen Kaiserreichs als Inkarnation der Unfreiheit zur Mission erhoben worden war, seiner Bevölkerung die Botschaft vermitteln, wofür sie kämpfte und Entbehrungen ertrug. Die westlichen Feindstaaten besäßen jeweils eine »Art von Nationalmusik« – die Franzosen die Idee der Freiheit, die Engländer das Ideal der Unantastbarkeit des Individuums -, die sie nun gemeinsam mit amerikanischen Ingredienzen zu einer »Art politischer Weltreligion« verschmolzen hätten, »von der die Mitteleuropäer und besonders wir Deutschen ausgeschlossen sein sollen. Dadurch wird der materielle Krieg zur Gesinnungsangelegenheit im Stile alter Religionskriege.« Die Deutschen müßten vor allem gegenüber der französischen Bevölkerung nachziehen und ihre eigene Freiheitsidee ausprägen: »Die Zeitlage verlangt eine Geschichtsdarstellung unter dem Gesichtspunkte der freiheitlichen Volksentwicklung.« Sie müsse sich auf die Zeit der Befreiungskriege, die Paulskirche 1848/49 und die Verkündigung des allgemeinen Wahlrechts 1871 für das Reich und jetzt im Krieg für Preußen stützen. Dadurch könne den gegnerischen »Verleumdungen, als seien wir das wilde Tier im Garten Gottes«, die spezifische deutsche Botschaft gegenübergestellt werden, mit der die Bevölkerung sich identifizieren könne: daß Deutschland der einzige
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Staat sei, dessen Bevölkerung freiheitliche und soziale Rechte durch den Staat und nicht gegen den Staat errungen habe. In der Regel aber setzte die behördliche »Aufklärung« der Kriegszeit ihre Aufgabe pragmatischer: die »Bearbeitung des Volkes«28 mit allen Mitteln. »An die Arbeiterfrauen heranzukommen«29 war dabei eine der wichtigsten Zielsetzungen. Organisatorisch federführend waren bei der »Aufklärung« im Heer der Stellvertretende Generalstab, für die Agitation unter der Zivilbevölkerung in Preußen die stellvertretenden Generalkommandos; in Bayern, das seit 1916 eine vom Reich unabhängige Organisation aufbaute, unterstand sie dem Innenministerium und damit im Gegensatz zu Preußen den Zivilbehörden. Die Vorgehensweise war überall recht ähnlich. Die Militär- und Zivilbehörden warben Personen aller Bevölkerungskreise an, die als Meinungsmultiplikatoren wirken sollten. Besonders war ihnen dabei an der Mitwirkung nichtstaatlicher Organisationen jedweder Zielrichtung gelegen, da von ihnen eine jede, » – mag sie politisch oder unpolitisch, wissenschaftlich, religiös, sozial oder wirtschaftlich sein – ... ein Körper [ist, U.D.], durch dessen Adersystem sich ein Strom von Vertrauen und Zuversicht in alle seine Glieder leiten läßt, wenn nur die Führer es wollen«.30 So waren schließlich Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Handelskammern und Vaterlandspartei, Frauenvereine und sozialpolitische Vereinigungen, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband, die Kirchen, Lehrer, Professoren, Künstler und viele andere damit beschäftigt, am Heimatort oder auf Vortragsreisen die allgemeine Stimmung zu heben. Die Mitarbeit von Frauen und Frauenorganisationen wurde besonders gefordert, da man sich von ihnen einen besseren Zugang zur weiblichen Bevölkerung erhoffte. Schließlich sollten ebenfalls die von der Bevölkerung selbst ernannten Vertrauensträger in diesem Sinne nutzbar gemacht werden. Da die Fronturlauber der Bevölkerung als »unbedingte Autorität für alles, was den Krieg betrifft«, galten, sollte die »geradezu unheimliche Macht ..., die die Erzählungen des Feldsoldaten in der Heimat ausüben«, dafür eingesetzt werden, den Durchhaltewillen zu stärken, statt ihn zu unterminieren. Zu diesem Zweck wurden »gebildetere« und »zuverlässige« Soldaten gegen Gewährung eines Sonderurlaubs dazu veranlaßt, Aufbauendes zu äußern.31 Die Behörden gaben solchen und ähnlichen Methoden der indirekten Meinungsmanipulation nicht zuletzt deswegen den Vorzug vor zentral gesteuerten Massenaktionen und einer einheitlichen Propagandaorganisation, weil die meinungsbildende Macht des Staates infolge des großen Mißtrauens der Bevölkerung in die Obrigkeit und deren Absichten nicht mehr weit trug: Es gelte,
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»... mit allem, was vom Staat ausgeht, nicht an die Öffentlichkeit heranzutreten, denn das, was wir mit der ganzen Aufklärung in der Heimat bezwecken, ist nichts anderes als die Gegenwirkung gegen gewisse Auffassungen, die ein Teilbestand der Massenpsychologie sind, die der Krieg hervorbringt. Wie soll man dem entgegentreten auf anderem Wege als dem der Massensuggestion? Diese kann man aber niemals ausüben auf jemanden, der mit einem gewissen Widerwillen gegen die Aufklärung ausgerüstet ist, und das ist jeder, sobald ihm zum Bewußtsein kommt, daß die Belehrung von Amtswegen [sie] kommt.«32
Die Arbeit dieser Vielzahl von V-Leuten wurde durch den Einsatz von Flugblättern und Plakaten – ausdrückliches Vorbild waren hier die Agitationsmittel der Linken –, Diavorträgen, Orchester- und Theateraufführungen, Wanderkinos, Rednerschulungen und die Verteilung von Argumentationshilfen unterstützt. Ein stellvertretendes Generalkommando unterhielt sogar eine eigene Schauspieltruppe, die das Land bereiste, und viele von ihnen führten auch Reiseveranstaltungen durch, in deren Verlauf Bauern Industriewerke und städtisches Elend oder aber Zivilisten einen Vorführschützengraben an der Front besichtigen konnten. 1918 wurde von der Reichsregierung die »Zentralstelle für Heimataufklärung« eingerichtet, die in Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberverbänden, dem Büro für Sozialpolitik und dem »Kulturbund deutscher Gelehrter und Künstler« die behördlichen und anderen Propagandaaktivitäten koordinieren und intensivieren sollte.33 Brennpunkte der propagandistischen Aktivitäten wurden die Werbefeldzüge, in denen die Bevölkerung zur Zeichnung der Kriegsanleihen bewegt werden sollte. Als die Stimmung sich trotz aller dieser Aktivitäten immer weiter verschlechterte, kamen schließlich doch Bemühungen in Gang, ein gewisses Maß an zentralisierter Organisation herzustellen. Das 1915 eingerichtete Kriegspresseamt erwies sich jedoch keineswegs als das vom Reichstagsabgeordneten Erzberger geforderte »geistige Kriegsernährungsamt«: seine Bemühungen auf dem Gebiet der Propaganda waren so wenig erfolgreich, daß es gegen Kriegsende das Verdikt des Abgeordneten Müller-Meiningen auf sich zog, es stelle »eine der traurigsten Erscheinungen der ganzen Kriegszeit« dar. Dem Drängen der Heeresleitung folgend, endlich etwas Entscheidendes gegen die schlechte Stimmung an der »Heimatfront« zu unternehmen, da diese sonst auf das Heer überzugreifen drohe, traf die Reichsregierung schließlich Maßnahmen auf dem Gebiet der staatlichen Filmpolitik. Die Jahre 1917/18 markieren den Ubergang von der bis dahin betriebenen prohibitiven zu einer manipulativen staatlichen Filmpolitik. Hatten die Behörden sich in der Vorkriegszeit und auch noch in den ersten beiden Kriegsjahren mit Lichtspieltheatern und dem neuen Medi-
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um Film vorrangig unter dem Gesichtspunkt auseinandergesetzt, daß diese in ihren Augen eine Gefahr für den sittlichen Zustand der Jugend darstellten, entdeckten sie nun »die außerordentliche Macht des Films« bei der »Beeinflussung der Masse«34.Bereits 1916 hatte das preußische Kriegsministerium die private »Deutsche Bioscop-Gesellschaft« beauftragt, unterhaltsame antifranzösische Filme zu produzieren, ohne daß die Beteiligung der Regierung an diesem Unternehmen bekannt werden sollte. Auch die »Deutsche Lichtspielgesellschaft«, hinter der der Großindustrielle Alfred Hugenberg stand, produzierte mit Regierungsbeteiligung patriotische Filme.35 Im Jahr 1917 wurde dann das Bild- und Filmamt (Bufa) gegründet, das sich aus der Abwehrstelle des Auswärtigen Amtes entwickelte und dessen Zielsetzung es war, »den Film im nationalen Interesse so zu verwenden, daß er einmal aufklärend wirkt und zum anderen in der Lage ist, in geeigneter Weise das Gefühl der Bevölkerung zu beeinflussen«36. Ende 1917 folgte die Gründung der Universum-Film-AG (Ufa), durch die der amtliche Charakter der Filmforderung verborgen werden sollte. Auf die Geschäftsführung dieser Aktiengesellschaft hatte das Reich maßgeblichen Einfluß.37 Die ersten Schritte auf dem Gebiet des Propagandafilms ließen an Qualität noch viel zu wünschen übrig. Der Eindruck der ersten BufaFilme auf die Aufklärungsoffiziere »war kein unbedingt befriedigender«; die Frontszenen seien sentimental und nachgestellt und sollten nach ihrer Empfehlung auf keinen Fall Soldaten vorgeführt werden.38 Und entnervte Kinobesitzer klagten, es sei vom Besucher »zu viel verlangt, wenn derselbe 3/4 Stunden lang oder noch länger einschlagende Granaten, Schützengräben, ausgestorbenes Gelände, Gefangene etc. ansehen soll«39. Ein Anfang war jedoch gemacht, und in der Zwischenkriegszeit sollte sich die Ufa zum beherrschenden Unternehmen der deutschen Filmindustrie entwickeln. Die vielfältigen Initiativen auf dem Gebiet der Meinungsmanipulation riefen zwar schließlich auch die deutsche Reklamewirtschaft auf den Plan, die hier völlig neue Professionalisierungschancen witterte.40 Die Zeit war jedoch zu kurz, und das Gelände staatlicher Propaganda noch zu unerkundet, als daß merkliche Wirkung auf die Volksmeinung hätte ausgeübt werden können. Die negative Haltung der Bevölkerung erwies sich gegenüber allen Versuchen, sie zu beeinflussen, als resistent, vor allem »weil die Frauen und Jugendlichen größtenteils jeder Aufklärung unzugänglich sind und jeden diesbezüglichen Versuch mit dem Schlagwort >Stimmungsmacher< ablehnen«41. Bei den besonders aufwieglerischen Frauen und Jugendlichen schade »Aufklärung« eher als daß sie Nutzen bringe, klagte ein bayerisches Bezirksamt, weil sie »vielmehr nur zur Gegenagitation [reize, U.D.], die dann williges Gehör finde«42.
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Auch den innerhalb der Militär- und Zivilbürokratie für die Propaganda Verantwortlichen war bewußt, daß die Weiterentwicklung der staatlichen Meinungsmanipulation erst in der Nachkriegszeit ihre Wirksamkeit voll entfalten können würde. Die inhaltlichen und organisatorischen Maßnahmen und Überlegungen darüber, wie den Regierungen und Behörden der Zugang zur Ebene der Wirklichkeitskonstruktion »von unten« eröffnet werden könnte, wurden daher auch schon im Hinblick auf die Nachkriegszeit konzipiert. Dann sei, wie immer wieder betont wurde, die staatliche Propaganda sogar besonders wichtig, da die bislang gedämpften Gegensätze – das ist vor allem auf die dann nicht mehr auf den »Burgfrieden« verpflichtete Sozialdemokratische Partei gemünzt – aufeinander prallen würden. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, sei es erforderlich, daß »ein möglichst großer Teil unserer Bevölkerung bewußten Anteil am Zusammenleben nimmt ... In dieser Beziehung das Wissen vom Staat ... zu klären, ist nach wie vor die stärkste Aufgabe der Zivilaufklärung.«43 Die Technik, »das Wissen vom Staat zu klären« oder, in der Sprache des Philosophen Ernst Cassirer, den Mythos vom Staat planmäßig zu erzeugen, nahm im Ersten Weltkrieg ihren Ausgang. Die Blütezeit ihrer Nutzanwendung zog dann mit der Vorbereitung und der Durchführung des Zweiten Weltkriegs herauf. »Die neuen politischen Mythen«, schrieb Ernst Cassirer 1944/45 im Hinblick auf das nationalsozialistische Deutschland, »wachsen nicht frei auf. [...] Sie sind künstlich erzeugte Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt. [...] Künftig können Mythen im selben Sinne und nach denselben Methoden erzeugt werden, wie jede andere moderne Waffe – wie Maschinengewehre oder Aeroplane. [...] Es hat die ganze Form unseres sozialen Lebens geändert. [...]Selbst die furchtbarsten Systeme des Despotismus begnügten sich damit, den Menschen bestimmte Gesetze des Handelns aufzuzwingen. Sie kümmerten sich nicht um die Gefühle, Urteile und Gedanken der Menschen. [...] Nun gingen die modernen politischen Mythen auf ganz andere Art vor. Sie begannen nicht damit, bestimmte Handlungen zu fordern oder zu verbieten. Sie unternahmen es, die Menschen zu wandeln, um imstande zu sein, ihre Taten zu regulieren und zu beherrschen. Die politischen Mythen handelten auf dieselbe Weise wie eine Schlange, die versucht, ihre Opfer zu lähmen, bevor sie sie angreift. Die Menschen fielen ihnen zum Opfer ohne jeden ernsten Widerstand. Sie wurden besiegt und unterworfen, bevor sie sich klargemacht hatten, was eigentlich geschah.«44
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Zitiert nach Volker Ullrich: Kriegsalltag. Hamburg im Ersten Weltkrieg, Köln 1982, S. 56. Siehe hierzu Ute Daniel: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989, S. 167-232. Der folgende Beitrag stellt die gekürzte und überarbeitete Fassung des 4. Kapitels »Der Kampf um die Sinnstiftung des Kriegs« dar; ebd., S. 233-255. Im August 1918 konnte der Leiter der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes, Deutelmoser, nur noch feststellen: »Den Behörden glaubt heute bei uns fast kein Mensch mehr etwas, am wenigsten, wenn sie amtlich aufmunternd sprechen.« Der Leiter der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes zur Propagandafrage, 19.8.1918, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Band 2, Berlin o.J., S. 287. Informelle Kommunikation ist hier definiert als vom institutionalisierten Kommunikationssystem unabhängige interpersonale Ketten oder Netze, in denen Gerüchte, Witze, Parolen etc. verbreitet werden; siehe hierzu Franz Dröge: Der zerredete Widerstand. Soziologie und Publizistik des Gerüchts im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf 1970, S. 12 und passim, sowie Winfried B. Lerg: Das Gespräch. Theorie und Praxis der unvermittelten Kommunikation, Düsseldorf 1970, S. 88-171. Siehe hierzu z.B. Hauptstaatsarchiv/Kriegsarchiv München (im folgenden: HStA/Kr): MKr 2330-2348, passim. HStA/Kr, MKr 2331: Aktennotiz der Abteilung R des bayerischen Kriegsministeriums vom 26.2.1917 (Hervorhebung im Original). Ebd.: Kriegspresseamt Berlin 13.1.1917 an Militärstellen des Heimatgebiets. Der Anregung eines als ehrenamtlichen V-Mannes tätigen Arztes, der über die Unmenge kursierender Gerüchte in Verzweiflung geriet, »für die Vertrauensmänner, die absolut zuverlässig sind, eine offizielle Auskunftsstelle für Gerüchte zu schaffen«, wurde allerdings nicht entsprochen; Karl Ludwig Ay: Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkriegs, Berlin 1968, S. 181. Siehe z.B. HStA/Kr, MKr 12842: Monatsbericht des Stellv. Generalkommandos I. Bayerisches Armeekorps München für Oktober 1916, S. 2. Siehe z.B. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 2398: Monatsbericht des Stellv. Generalkommandos München für November 1917 und für Mai 1918. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1723: Bericht über Eisenbahn-Gerüchte vom 5.7.1917. »Münchener Post« vom 20.6.1916. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1951: Bezirksamt Wolfratshausen an Regierung Oberbayern 24.3.1917. Der bayerische Innenminister Brettreich sah sich genötigt, diesen Gerüchten mit dem Argument entgegenzutreten, »daß Mehlsäcke weder gefüllt noch leer
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schwimmen«; HStA/Kr, MKr 2335: Innenminister an Vaterländische Volkshilfe 24.8.1917. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1723: Bericht über Eisenbahngerüchte vom 5.7.1917. HStA/Kr, MKr 2333: Bericht eines Polizisten an seine Dienststelle vom 12.6. 1917. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1970: Bezirksamt Rosenheim an Stellv. Generalkommando 19.10.1918. HStA/Kr, MKr 2336: Kriegspresseamt an Leiter des Vaterländischen Unterrichts, 26.10.1917. Die Eisenbahnüberwachung entstand 1915/16 auf der Ebene der einzelnen stellvertretenden Generalkommandos und überzog seit 1917 das ganze Reich; HStA/Kr, MKr 11484, passim. HStA/Kr, MKr 2339: Denkschrift des bayerischen Kriegsministeriums vom März 1918. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1943: Ausarbeitung des Stellv. Generalkommandos München (ohne Datum): »Leitsätze für die Briefabschriften« von Adolf Schinnerer. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1979 (Exzerpte für März 1917). Die durchschnittliche Zahl von Feldpostsendungen pro Tag wird für den Ersten Weltkrieg inkl. der innerhalb des Heeres gewechselten auf 15-20 Mio. geschätzt; Otto Riebicke: Was brauchte der Weltkrieg? Tatsachen und Zahlen aus dem deutschen Ringen 1914/18, Leipzig 1936, S. 111. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps 1373: Bayerisches Kriegsministerium an Kommandeure der mobilen Formationen 11.8.1917. Albrecht Mendelssohn-Bartholdy: The War and German Society. The Testament of a Liberal, New York 1971, S. 76. Zur Organisationsgeschichte der Presse- und Propagandapolitik im Ersten Weltkrieg, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. u.a. W.(alter) Nicolai: Nachrichtendienst, Presse und Volksstimmung im Weltkrieg, Berlin 1920; Walter Vogel: Die Organisation der amtlichen Presse- und Propagandapolitik des Deutschen Reiches von den Anfangen unter Bismarck bis zum Beginn des Jahres 1933, Berlin 1941; Kurt Koszyk: Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1968; Heinz Dietrich Fischer (Hg.): Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin 1973; Klaus W. Wippermann: Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Köln 1976, S. 21-48; Dirk Stegmann: Die deutsche Inlandspropaganda 1917/18. Zum innenpolitischen Machtkampf zwischen OHL und ziviler Reichsleitung in der Endphase des Kaiserreichs, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 12 (1972), S. 75-116; Gunther Mai: »Aufklärung der Bevölkerung« und »Vaterländischer Unterricht« in Württemberg 1914-1918, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 36 (1977), S. 199-235; Gary D. Stark: Cinema, Society, and the State: Poli-
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cing the Film Industry in Imperial Germany, in: ders. u. Bede Karl Lackner (Hg.): Essays on Culture and Society in Modern Germany, Arlington/Texas 1982, S. 122-166. HStA/Kr, MKr 2335: Kriegspresseamt an bayerisches Kriegsministerium 19.9. 1917. Zentrales Staatsarchiv Potsdam (im folgenden: ZStA Potsdam), Reichskanzlei 2398/10, Bl. 224 f.: Notiz von Batockis an Reichskanzler vom 18.5.1917. ZStA Potsdam, Reichskanzlei 2398/11, Bl. 61-78. Einem handschriftlichen Zusatz zufolge stammt die Ausarbeitung »von einem deutschen Offizier«. Friedrich Naumann als Verfasser nennt Hans Thimme: Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland, ihre Wirkung und ihre Abwehr, Stuttgart/Berlin 1932, S. 241 f. HStA/Kr, MRr 2334: Dr. A. Messmer von der »Vaterländischen Volkshilfe« München am 28.7.1917 an das Pressereferat des bayerischen Kriegsministeriums: »Aufklärung zur Hebung der Volksstimmung«, S. 1. ZStA Potsdam, Reichsministerium des Innern 12475, Bl. 112: Besprechung über Aufklärung im Kriegspresseamt 18.5.1917. ZStA Potsdam, Reichsministerium des Innern 12298, Bl. 185 ff.: Richtlinien für den Aufklärungsdienst in der Heimat vom 10.3.1918, S. 6 f. HStA/Kr, Stellv. Generalkommando I. Bayerisches Armeekorps München 1722: Stellv. Generalkommando XIII. Armeekorps Stuttgart 19.7.1917. Hauptstaatsarchiv München (im folgenden: HStA München), MInn 66330, S. 3: Protokoll der Auiklärungssitzung im Kriegspresseamt Berlin vom 10.12. 1917 (der Vertreter des bayerischen Kriegsministeriums, Oberstleutnant von Kreß, über die bayerische Propaganda). Siehe hierzu Wippermann: Politische Propaganda (s.o., Anm. 24), S. 21-48. Bericht über die Tagung vom 7.-10.8.1917 in Berlin. Kriegspresseamt Berlin 1917, S. 9. Vgl. dazu Stark: Cinema (s.o., Anm. 24), S. 161. Vortrag Dr. Wagners vom Bufa »Das Bild- und Film-Amt und seine Aufgaben«, gehalten am 7.8.1917 vor den Teilnehmern der Aufklärungstagung in Berlin vom 7.-10.8.1917, in: Bericht (s.o., Anm. 34), S. 17. HStA/Kr, MKr 2341: Reichsamt des Innern 12.3.1918 an Bundesregierungen u.a. HStA/Kr, MKr 2334: Bericht des bayerischen Teilnehmers über die Sitzung des Kriegspresseamts mit den Aufklärungsoffizieren 6.-9.8.1917. Eingabe eines Münchener Kinobesitzers vom Herbst 1917, zit. nach Ay: Entstehung (s.o., Anm. 7), S. 65. »Solange die deutsche Werbearbeit [gemeint ist die Propaganda, U.D.] nicht bewußt zusammengefaßt, von einem weitblickenden tüchtigen Fachmann einheitlich geleitet wird, sind die einzelnen auseinanderfallenden Teile eben nur Teile und kein Gesamtwerk ... Werbefachleute sind in leitende Stellungen unserer Nachrichtenämter heranzuziehen«, hieß es in den »Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute« vom September 1918, zitiert nach Robert Lebeck u. M. Schütte: Propagandapostkarten I, Dortmund 1980, S. 7 ff.
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Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg, RM3/4670: Monatsberichte vom 3.8. 1917. HStA/Kr, MKr 12849: Monatsbericht des Stellv. Generalkommandos I. Bayerisches Armeekorps München für Juli 1918, S. 2. HStA/Kr, MKr 2342: Tagung der Leiter des Vaterländischen Unterrichts bei den Stellv. Generalkommandos 15./16.5.1918 im Reichstag, S. 10 des Protokolls. Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, Zürich 1949, S. 367 f., 374. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch die ebenso vernichtende wie zukunftsweisende Kritik, die Adolf Hitler in »Mein Kampf« an der Propaganda des Ersten Weltkriegs übte. Siehe zur Entwicklung der staatlichen Propaganda im 19. und 20. Jahrhundert demnächst: Ute Daniel u. Wolfram Siemann (Hg.): Propaganda, Frankfurt/M. (erscheint voraussichtlich 1993).
Aus: Anne Schmidt, Belehrung – Propaganda – Vertrauensarbeit. Zum Wandel der amtlichen Kommunikationspolitik in Deutschland 1914-1918, Essen 2006, S. 225-46. © Klartext Verlag, Essen
Anne Schmidt
Entwicklungen in der politischen Bildsprache In den vorangegangen drei Untersuchungsteilen wurde gezeigt, wie sich Konzepte und Praxis amtlicher Kommunikationspolitik während des Ersten Weltkriegs entwickelten. Dabei wurde unter anderem erkennbar, dass die visuelle Kommunikation für die Politik an Bedeutung gewann. Im Folgenden möchte ich exemplarisch zeigen, auf welche Weise sich die politische Bildsprache im Krieg veränderte. Der allgemeine Befund, dass im Krieg Entwicklungen, die sich bereits in der Vorkriegszeit abzeichneten, beschleunigt wurden, dass neben zukunftsweisenden Verschiebungen wirkungsmächtige Traditionen die Kommunikationspolitik in Deutschland prägten, lässt sich anhand konkreter Medienanalysen bestätigen. Auf drei Tendenzen werde ich mich konzentrieren: auf den Trend, nationale Identität zunehmend biologistisch und Feindschaft verstärkt rassistisch zu deuten sowie auf das Bemühen moderater Traditionalisten, Modernisten und Reformisten, mittels visueller Massenmedien das politische Führungspersonal möglichst „volksnah“ zu präsentieren.1
Das nationale Selbstbild im Ersten Weltkrieg Im Januar 1917 brachte das Kriegspresseamt ein von Franz Stassen entworfenes Plakat heraus, das dem Publikum eine relativ konventionelle Deutung nationaler Zugehörigkeit anbot (Abb. I).2 Das Plakat visualisiert beispielhaft traditionalistische Vorstellungen von nationaler Identität und politischer Ordnung.3 Formal besteht das Plakat aus zwei Teilen: einem Bild und einem etwas kleineren Schriftteil. Das Bild zeigt im Vordergrund die Dreiviertelfigur einer geharnischten Germania. Ihr Körper ist nach links gewandt, mit zornig entschlossenem Blick eilt sie vorwärts und schaut dabei nach rechts, am Betrachter vorbei in die Ferne.
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Abb. 1: Franz Stassen, An das deutsche Volk! (1917), DHM, Inv.-Nr. P 77/518.1-2
Ihre nach oben gestreckte linke Hand ist zur Faust geballt, in ihrer Rechten hält sie ein erhobenes blankes Schwert. An ihrer linken Seite gleitet ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen und ausgestreckten Krallen. Im Hintergrund ist eine endlose Menschenmenge zu sehen, die sich geschlossen hinter der Germania versammelt hat. Man erkennt Frauen und Männer, Junge und Alte und, durch ihre Kleidung markiert, Vertreter verschiedener Berufsgruppen. Die Figur der Germania, Sinnbild der deutschen Nation, verkörperte im Kaiserreich in offiziellen Darstellungen drei eng aufeinander bezogene Vorstellungsbereiche. Sie stand zum ersten für das unter monarchischer Führung geeinte Deutschland. Zum zweiten repräsentierte sie – oft in Abwehrstellung zu außenpolitischen Gegnern – Wehrhaftigkeit und militärische Stärke. Zum dritten personifizierte sie die deutsche Nation schlechthin; sie repräsentierte das „ewige Deutschland“, die „eine und unteilbare Nation“.4 Alle drei Bedeutungsebenen werden auf Stassens Plakat aktualisiert. Die vielen Menschen im Bildhintergrund stehen für die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft, für Alters- und Geschlechterdifferenzen, für das Partikulare und das Besondere. Das Plakat behauptet den absoluten Vorrang nationaler Identität, andere Zugehörigkeiten, so die Aussage, seien lediglich als Teile eines größeren Ganzen zu begreifen. Um die Gültigkeit dieses Postulats zu unterstreichen, bediente sich der Künstler verschiedener Mittel: Die Germaniafigur dominiert allein durch ihre Größe das Bild und überragt die Menschenmenge erheblich. Ihre Platzierung im Bildzentrum und im Bildvordergrund unterstreicht ihre Bedeutung. Sie hebt sich deutlich vom Hintergrund ab und wurde besonders sorgfältig und detailliert ausgeführt. Die starke Untersicht verleiht der Figur zudem etwas Monu-
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mentales und unterstreicht ihren Überlegenheitsanspruch. Schließlich erscheint die Figur als eigentlicher Akteur des Geschehens. Sie wird in Bewegung gezeigt, die leichte Diagonalkomposition, ihre ausholende Armbewegung, die wehenden Haare verleihen der Figur etwas Dynamisches, während die Menschenmenge hinter ihr wie ein statischer Block wirkt. Stassens Plakat hat Aufforderungscharakter. Die abgebildete Menschenmenge und der Betrachter des Bildes befinden sich auf gleicher Augenhöhe; zwischen ihnen wird keine Distanz aufgebaut. Im Gegenteil: Die Darstellung legt nahe, dass der Betrachter Teil der repräsentierten Menschenmenge ist, und stellt so klar, was von ihm erwartet wird: Er soll sich so verhalten wie die abgebildeten Personen auch, sich hinter die Germania stellen, sich in die nationale Gemeinschaft einordnen und seine übrigen Loyalitäten, die durchaus noch als relevant anerkannt werden, zurückstellen. Eine deutlich abweichende Konzeption nationaler Identität bot dagegen ein im März 1917 von der Reichsbank veröffentlichtes Plakat an (Abb. 2).5 Das von Fritz Erler entworfene Plakat zeigt das Brustbild eines einfachen Infanteristen in Felduniform im Schützengraben, zwischen Stacheldraht und Holzbarrieren, mit umgehängter Gasmaske, Handgranaten und einem Stahlhelm, der das Gesicht überschattet. Der angeschnittene Oberkörper ist leicht nach rechts gewandt, mit seiner linken Hand hält sich der Soldat an einem Holzpfosten fest. Das markante, angespannte Gesicht des Infanteristen wirkt etwas gedrungen, seine Lippen sind fest geschlossen, sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Der starre Blick in die Weite, die leuchtend blauen Augen und die Körperhaltung verleihen dem jugendlichen Soldaten einen konzentrierten, wachsamen und gespannten Ausdruck. Er strahlt zugleich Ruhe, Disziplin und Entschiedenheit aus. Die leichte Untersicht und die starken Kontraste zwischen der dunklen Farbgebung der Figur und dem hellen Hintergrund verleihen ihm etwa Heroisches. Die Härte des Kriegs, angedeutet durch Stacheldraht, Gasmaske, Handgranaten und Stahlhelm, kann ihn offensichtlich nicht erschüttern. Unbeeindruckt von der Realität des Stellungskriegs erfüllt er seine Aufgabe. Erlers Plakat zeigt zunächst ein Idealbild des Soldaten. Darüber hinaus avancierte die Darstellung zum Vorbild und Sinnbild für die deutsche Nation: „Auf den Strassen der Stadt ist heute das von erster Künstlerhand entworfene Werbeblatt zu sehen: Der Mann im Stahlhelm im Schützengraben neben dem zerschossenen Stacheldraht, in Erwartung neuer, schwerer Kämpfe, mit brennendem Auge und harter Entschlossenheit hinschauend gegen den Feind. Ebenso brauchen auch wir daheim dieselbe Entschlossenheit und dieselben brennenden Augen, um das
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Schlachtfeld zu halten, das uns anvertraut ist.“6 Das Bild des Infanteristen schien den Entscheidungsträgern offensichtlich angemessen, um die außenpolitische Situation des Deutschen Reichs insgesamt zu charakterisieren. Doch es sollte noch mehr kommunizieren: Künstler, Kritiker und Auftraggeber interpretierten das Bild als Repräsentation genuiner Wesensmerkmale des Deutschen, die sich in der Physiognomie, im physischen Erscheinungsbild und in der Haltung des Infanteristen erkennen lassen würden.7 Mit dem Plakat hatte Erler eine visuelle Ausdrucksform gefunden, nationale Zugehörigkeit biologistisch zu deuten. Parallel dazu wurden auf Erlers Plakat andere Identitäten, die Stassen zwar als untergeordnet, aber dennoch als existent dargestellt hatte, völlig ausgeblendet. Verweise auf die soziale oder regionale Herkunft, auf konfessionelle Zugehörigkeit und den zivilen Beruf fehlen völlig. Erlers Darstellung definierte nationale Zugehörigkeit ausschließlich, indem sie interne Differenzen negierte.
Abb. 2: Fritz Erler, Helft uns siegen! (1917), DHM, Inv.-Nr. P 57/1438.4.
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Konzeptionelle Veränderungen gingen dem Wandel im Ausdrucksrepertoire voraus. Schon seit der Jahrhundertwende war man in Deutschland zunehmend auf der Suche nach einer angeblich natürlichbiologischen Substanz nationaler Gemeinschaft. Man konstruierte ein in der nordischen Mythologie verwurzeltes deutsches Wesen, das bis in Körperbau und Physiognomie identifizierbar sei, und suchte nach Darstellungsformen, um diese Ideen zu kommunizieren.8 Mit dem Bild des Infanteristen hatte man eine solche offensichtlich gefunden. So tauchte der Soldat als Verkörperung der deutschen Nation in den kommenden Jahren auf zahlreichen amtlichen Plakaten auf Trotz verschiedener Variationen wiesen die dargestellten Soldaten ein identisches Bündel von Merkmalen auf: Stets bekam das Publikum muskulöse Jünglinge mit markanten, leicht gedrungenen, glatt rasierten Gesichtern und hartem, entschlossenem Blick zu sehen. Gleichzeitig verschwanden ältere Repräsentationen des Nationalen – wie die Germania und der Deutsche Michel – mehr und mehr von der Bildfläche. Offensichtlich schienen sie den Entscheidungsträgern immer weniger adäquat, um ihre Konzepte vom Deutsch-Sein zu kommunizieren.9 Es waren nicht nur moderat traditionalistische Beamte in der Reichsbank und im Reichsschatzamt, die ihre Vorstellungen des Nationalen durch das Bild des Infanteristen besser repräsentiert sahen als etwa durch den Michel oder die Germania. Die Darstellung des Infanteristen wurde vor allem von Modernisten adaptiert und verbreitet. Außerdem übertrugen sie zentrale Aspekte des neuen Soldatenbildes – Physiognomie, physische Erscheinung und Haltung – auf das Bild des sozialistischen Arbeiterhelden. Dieses gehörte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum festen Bestandteil der Ikonografie der Arbeiterbewegung. Modernisten tilgten die sozialen und politischen Markierungen aus den Darstellungen, ergänzten sie durch Merkmale des neuen Soldatentypus und kreierten das Bild des nationalen Arbeiterhelden.10 Es war ihr Identifikationsangebot an die Arbeiterschaft, das zugleich der gesamten Zivilbevölkerung als Vorbild dienen sollte. Auch diese Darstellungen deuteten nationale Zugehörigkeit biologistisch. Sie negierten interne Differenzen und markierten gleichzeitig die Grenzen nach außen überdeutlich.11 Den biologistischen Deutungen des Nationalen visuell Ausdruck zu verleihen, gelang den Akteuren nicht mit allen Bildmedien gleich gut. Während sie für die Plakate – wenn auch nicht durchgehend – eine Bildsprache entwickelten, die diesen ideologischen Verschiebungen Rechnung trug, gelang ihnen dies für die Fotografie nicht. Neben technischen Problemen lag dies vermutlich an der Dominanz tradierter Sehgewohnheiten und ikonografischer Standards. Am Beispiel einer Reihe von
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Fotografien, die das Bild- und Film-Amt zum Thema Industrie herausgab, lässt sich diese Beobachtung verdeutlichen.12 Die Aufnahmen aus der Industrie, die das Bild- und Film-Amt im Ersten Weltkrieg in Form von Lichtbildern, Aushangs- und Pressefotografien verbreitete, wurden nur in Ausnahmefällen von den dort beschäftigten Fotografen selbst gemacht. In der Regel wandten sich die Mitarbeiter des Amts an große Unternehmen und baten diese, ihnen Sammlungen der Werksfotografie zur Verfügung zu stellen.13 Die Werksfotografie, die seit den 1860er Jahren Verbreitung fand, war ein wichtiges Mittel unternehmerischer Öffentlichkeitsarbeit. Sie diente der Selbstdarstellung, sollte die Potenz, den Erfolg und die Modernität des jeweiligen Unternehmens und seine nationale Bedeutung sichtbar unter Beweis stellen.14 Werksfotografie war Auftragsarbeit. Vorgaben zu Funktionsund Verwendungsabsichten ließen Fotografen, die meist anonym blieben, keine großen gestalterischen Spielräume. Lange vor Ausbruch des Kriegs waren bestimmte Bildtraditionen fest etabliert.15 Die im Krieg von offizieller Seite verbreiteten Industriefotografien unterscheiden sich in ihrer Bildsprache nicht von der konventionellen Werksfotografie. Die amtlichen Entscheidungsträger wählten allerdings aus dem Gesamtrepertoire bestimmte Motivgruppen, vor allem Arbeitsbilder, aus. Die Aufnahmen zeigen entweder Arbeiter, die allein gewaltige Maschinen bedienen, oder Menschen, die in enger Zusammenarbeit mit Kollegen einen bestimmten Arbeitsschritt ausführen. Schließlich eröffnen Übersichtsaufnahmen dem Betrachter den Blick in weiträumige Werkshallen, in denen zahlreiche Menschen ihre Arbeit verrichten. Man hat es hier durchweg mit gestellten und sorgfältig arrangierten Bildern zu tun, die nicht das Interesse der Betrachter an den arbeitenden Menschen und ihrem Alltag wecken sollen, sondern an den Maschinen, den Arbeitsvorgängen und Produktionsprozessen.16 Die Aufnahmen sollten den betrieblichen Mikrokosmos als Welt der pulsierenden Arbeit und als hierarchisch geordnete, harmonische Einheit präsentieren.17 Diese intendierte Lesart wurde im Produktionsprozess den Bildern eingeschrieben.18 Dabei wurden ganz bestimmte Mittel eingesetzt: Der Blick der fotografierten Arbeiter ist fast nie auf den Betrachter gerichtet, und das nicht nur, weil die Bilder besonders authentisch wirken sollten. Der direkte Blickkontakt zwischen dargestellten Arbeitern und den Adressaten der Bilder hätte die Aufmerksamkeit auf die arbeitenden Menschen gelenkt, und eben dies sollte vermieden werden. Statt auf den Betrachter ist der konzentrierte Blick der Arbeiter meistens auf die Maschinen oder den Arbeitsprozess gerichtet, die Linie des Blicks fungiert als Vektor, der die Aufmerksamkeit des Betrachters in dieselbe Richtung lenken soll. Gesten, etwa Zeigegesten der Aufseher, konnten
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hier verstärkend eingesetzt werden. Auch die vom Betrachter abgewandte und den Maschinen zugewandte Körperhaltung der Arbeiter dient dazu, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das zu lenken, was die Bilderproduzenten für wichtig erachteten. Durch den abgewandten Blick der repräsentierten Arbeiter und ihre entsprechende Körperhaltung wird der Betrachter in die Rolle eines unsichtbaren Zuschauers versetzt, dem ,objektiv’, ,neutral’ und unpersönlich Einblick in das Unternehmen gewährt wird.19 Auch die Bildausschnitte sind nicht geeignet, die arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt zu rücken. Close-ups oder medium shots wurden vermieden; long shots und very long shots waren die Regel. Persönliche Gesichtszüge der Arbeiter oder eine ihre Gefühle widerspiegelnde Mimik sind auf den Fotografien nur schwer oder gar nicht zu erkennen, häufig sind die Gesichter nicht mehr als weiße Flächen. Die auf diese Weise unpersönlich dargestellten Arbeiter bleiben namenlos, sie werden nicht als unverwechselbare Individuen repräsentiert.20 Die perspektivische Gestaltung, die Hell-Dunkel-Kontraste, die Schärfe des Fokus und die Größe der abgebildeten Partizipanten dienten ebenfalls dazu, die arbeitenden Menschen zu marginalisieren. Dass diese Darstellungen aus der Industriewelt nicht unbedingt geeignet waren, das Leitbild des nationalen Arbeiters zu kommunizieren, wurde Modernisten offensichtlich bald klar. Zunächst versuchten sie mit Hilfe schriftlicher und mündlicher Texte – Bildunterschriften und Vortragstexten – die Lektüre der Bilder im gewünschten Sinn zu steuern. In den vom Kriegspresseamt verfassten Vorträgen, die die Lichtbilderreihen erläuterten, wurde der Arbeiter überwiegend als aktiv und tatkräftig, als mutig, stolz und selbstbewusst charakterisiert. Er wurde als herausragender Repräsentant des „deutschen Geistes“ beschrieben, als ein Mensch voller Energie und kreativer Schaffenskraft, dem keine Aufgabe zu groß war, der sich zum Wohl der nationalen Gemeinschaft aus freien Stücken und innerer Überzeugung der harten Disziplin des industriellen Arbeitsalltags unterwarf. Neben dem Soldaten, und diesem partiell gleichgestellt, wurde der Industriearbeiter zur genuinen Verkörperung des Deutschen und zur Heldenfigur stilisiert, an dem sich alle Deutsche ein Vorbild nehmen sollten.21 Dass sich die konventionellen Industriefotografien gegen eine so radikale Uminterpretation sperrten, dass die Bild-Text-Kompositionen inkonsistent waren und widersprüchliche Geschichten erzählten, scheinen Modernisten erkannt zu haben. Gegen Ende des Kriegs beriet man in Besprechungen und auf Tagungen, wie die Bilder aussehen müssten, damit das Leitbild des nationalen Arbeiters widerspruchsfrei kommuniziert werden könne.22 Allerdings gelang es den Akteuren in den wenigen Monaten bis Kriegsende nicht mehr, für das Medium Fotografie eine Sprache zu entwickeln, die geeignet war,
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das modernistische Konzept vom nationalen Arbeiter in der Fotografie zu transportieren.23 Nimmt man abschließend die visuellen Repräsentationen nationaler Identität, die im amtlichen Auftrag produziert und verbreitet wurden, insgesamt in den Blick, dann lässt sich zwar eine verstärkte Neigung zu biologistischen Selbstdeutungen beobachten, gleichwohl war das Gesamtangebot an nationalen Selbstbildern keineswegs einheitlich, sondern heterogen und teilweise durchaus widersprüchlich. Ältere, traditionelle Vorstellungen und moderne Tendenzen wirkten hier neben- und ineinander.
Feindbilder Parallel zur zunehmend biologistischen Bestimmung des nationalen Selbstbildes stießen bei allen Kommunikationspolitikern rassistische Begründungen von Feindschaft verstärkt auf Akzeptanz.24 Allerdings waren es hauptsächlich Modernisten, die nach einer Bildsprache suchten, um rassistische Vorstellungen von Feindschaft auch visuell zu kommunizieren. Hierzu bediente man sich vor allem der Fotografie, wobei man weitgehend auf tradierte Repräsentationsmuster zurückgriff, diese jedoch in andere Kontexte stellte und somit teilweise neue Bedeutungen hervorbrachte. Es waren in erster Linie Fotografien von Kriegsgefangenen, die die Mitarbeiter im Bild- und Film-Amt und der Graphischen Abteilung auswählten, um der deutschen Bevölkerung den Feind vorzuführen.25 Diese Darstellungen lassen sich in drei Gruppen unterteilen: Zunächst verbreitete das Bufa Aufnahmen, die Gefangene in großen Massen zeigen (Abb. 3 u. 4).26 Man sieht endlose Kolonnen marschierender Soldaten oder riesige Menschengruppen, die nahezu das gesamte Bild ausfüllen. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird nicht auf einzelne Personen gelenkt, diese verschwinden in der namen- und gesichtslosen anonymen Masse. Die Aufnahmen wurden stets aus einer größeren Entfernung gemacht.
Abb. 3: Bufa, „Die ersten englischen Gefangenen treffen in einer Sammelstelle in St. Quentin ein“ (o.D.), BayHStA/IV, BS-DGr.Schi., Nr.77.
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Abb. 4: Bufa, „4000 englische Gefangene in einer Sammelstelle vor Arras“ (o.D.), BayHStA/IV, BS-D-Gr.Schl., Nr. 82.
Die Fotografen wählten dabei entweder einen erhöhten Standpunkt und neigten dann zu Frontalaufnahmen, oder sie fotografierten die Menschen aus einem seitlichen Blickwinkel und dann in der Regel aus einer leichten Untersicht. Beide Verfahren dienten dazu, die Distanz zwischen Betrachter und den zu Betrachtenden zu betonen und verstärkten optisch den Eindruck, dass es sich auf den Abbildungen um eine enorme Anzahl Gefangener handelt. Zweitens bekam das Publikum Porträts von Gefangenengruppen zu sehen (Abb. 5). In der Regel waren dies Ganzkörperansichten, zumeist stehender, gelegentlich auch sitzender Menschen, deren Gesichtszüge, physische Erscheinung, Kleidung und Haltung deutlich erkennbar sind. Die Aufnahmen wurden von den Fotografen sorgfältig arrangiert, die fotografierten Personen genau ausgewählt. Selten tauchen auf diesen Bildern Europäer oder europäisch stämmige Menschen auf, für gewöhnlich präsentieren die Bilder außereuropäischer Soldaten, meistens Asiaten oder Afrikaner. Auffällig ist der extrem distanzierte Blick, mir dem die Menschen aufgenommen wurden. Für die Fotografen waren sie nicht als Individuen interessant, sondern als Typen fremder Völker. Entsprechend wurden sie in einer statischen Pose vor neutralem Hintergrund aufgenommen. Perspektive und Bildkomposition suggerieren nüchterne Objektivität. Die Kluft zwischen dem Fotografen und den Fotografierten, zwischen Siegern und Besiegten, drückt sich schließlich auch im Gesichtsausdruck und in der Haltung der abgebildeten Menschen aus. Ihre Minen spiegeln Skepsis, Misstrauen und Furcht wider, sie wirken abwartend, verunsichert und unzugänglich.
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Drittens nahmen die Bufa-Fotografen Brust- oder halbfigürliche Porträts einzelner Gefangener auf (Abb. 6). Diese wurden frontal oder im Profil vor einem monochromen Hintergrund abgebildet und zeigen ausschließlich Soldaten außereuropäischer Herkunft. Die Gruppendarstellungen wie auch die Einzelporträts folgten Bildmustern der anthropologischen Fotografie. Die naturwissenschaftlich-biologisch orientierte Anthropologie hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fotografie als wichtiges Werkzeug entdeckt. Mit ihr sollte die Fremdartigkeit der „Anderen“ genau und objektiv abgetastet und vermessen werden. Zugleich wollten Ethnologen – aber auch Kolonialbeamte, Reisende und Berufsfotografen – mit Hilfe der Kamera Persönlichkeit und Charakter des Menschen erforschen. Man ging davon aus, dass sich diese Merkmale in den Gesichtszügen und in der physischen Erscheinung einer Person widerspiegelten.27 Die auf den anthropologischen Fotografien abgebildeten Menschen waren ausschließlich als Merkmalsträger und typische Vertreter ihrer Rasse interessant, nicht als Individuen. Anthropologen nutzten das Medium zur typologischen Inventarisierung und Katalogisierung der Weltbevölkerung und hatten längst dezidierte Regelkataloge für das fotografische Verfahren aufgestellt.28 Stets dienten die Aufnahmen auch dem Zweck, in Abgrenzung zu den Kulturen Asiens, Afrikas und Amerikas die Identität der Europäer zu definieren und entsprechende Grenzen klar zu markieren. Dabei nahm man sich und die „Anderen“ in binären Oppositionen wahr: dem aktiven, rationalen, zivilisierten und fortschrittlichen Europäer stellte man den passiven, emotionalen und rückständigen Wilden gegenüber.29
Abb. 5: Bufa, „Typen der unzähligen Gefangenen: Russen, Chinesen, Perser, Kirgisen (o.D.)“, BA Koblenz, Sachthematische Bildersammlung.
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Die Bufa-Fotografen reproduzierten die anthropologischen Bildmuster. Ob ihnen dies bewusst war oder ob die vor 1914 massenhaft verbreiteten anthropologischen Fotografien ihre Sehgewohnheiten so geprägt hatten, dass ihnen diese Art der Darstellungen des „Anderen“ einfach selbstverständlich erschien, muss an dieser Stelle offen bleiben. Die anthropologische Fotografie zeigt Bilder von Fremden, nicht von Feinden, auch wenn die Grenzen durchaus fließend waren.30 Die Mitarbeiter des Bild- und Film-Amts und der graphischen Abteilung hingegen verwendeten die Bilder ausschließlich, um ihre Vorstellungen von Feindschaft zu visualisieren. Vor allem durch massive textliche Einbettung versuchten sie, die Bildbedeutungen und die Bildlektüre im gewünschten Sinn zu steuern.
Abb. 6: Bufa, „Einige Typen der ,Kulturträger’ der Entente aus den letzten Kämpfen in der Champagne. Senegalesen“, (Juni 1917), BA Koblenz Sachthematische Bildersammlung.
In den Vorträgen, in denen die Bilderserien erläutert wurden, war die Rede von „halb tierischen Gestalten“, die man jetzt millionenfach als Gefangene sähe, deren eigentliches Ziel es sei, das Deutsche Reich in Schutt und Asche zu legen, die Menschen in Deutschland zu versklaven und sich zu Herren über die Deutschen zu erheben.31 Das Publikum hörte von „wilden Völkerschaften“, die ins Feld zögen, um das „deutsche Kulturvolk“ zu vernichten.32 „Barbarenstürme“ kämen aus den Weiten des Ostens; „asiatische Wellen“ und „Halbwilde“ würden Europa unter das russische Joch zwingen wollen; „Hunnen“, „Mongolen“, „Tataren“ und „Kosaken“ würden zu einem „ungeheuerlichen Pogrom gegen das Abendland“ rüsten. Diese wünschten sich mit „blutdürstigen Instinkten des Barbaren dies entsetzliche Blutvergießen der Weltgeschichte“.33 Fotografien und Texte sollten sich in ihrem Informationsge-
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halt wechselseitig ergänzen, die Bild-Text-Produkte sollten dem Publikum möglichst anschaulich und drastisch ein apokalyptisches Bedrohungsszenario vor Augen führen. Eine Dramatisierung der Feindvorstellungen, eine Steigerung des Bedrohungsgefühls versuchten Modernisten darüber hinaus durch die Auswahl und Zusammenstellung der Fotografien zu erreichen. Für die Lichtbildervorträge wie für die Aushangsfotografie kombinierte man anonyme Massenaufnahmen von Gefangenen, die nahezu ausschließlich Europäer zeigen, mit Porträts und Gruppenaufnahmen nichteuropäisch aussehender Soldaten. Aufnahmen, die weiße Briten, Franzosen und Amerikaner individuell erkennbar abbildeten, wurden hingegen in diesem Kontext selten gezeigt. Das erkennbare Gesicht des Feindes war somit das des Nichteuropäers. Diese Bildauswahl legte die Interpretation nahe, dass sich Deutschland als einzige europäische Macht in einem Krieg gegen fremde Völker befinde, und erlaubte eine rassistische Definition des Feindes. Engländer und Franzosen bezichtigte man der „Verunreinigung des europäischen Krieges“ und der „militärischstrategische(n) Rassenschande“.34 Sofern weiße britische, französische und amerikanische Soldaten auf den Fotografien doch auftauchten, wurden sie gemeinsam mit außereuropäischen Soldaten festgehalten (Abb. 7). Letzte Bastion europäischer Kultur und rassischer Reinheit, diese Botschaft sollten die Fotoserien transportieren, sei das deutsche Kaiserreich, das sich im Krieg gegen den Ansturm fremder Rassen zu behaupten habe. Vereinzelt wurden Fotoporträts außereuropäischer Soldaten auch auf Bildplakaten abgebildet, im Allgemeinen aber wurde der außereuropäische Feind auf amtlichen Plakaten nicht visualisiert. Rassistische Gräuelplakate, wie sie Anfang der 1920er Jahre vor allem anlässlich der französischen Besetzung des Ruhrgebiets verbreitetet wurden, wurden während des Kriegs von amtlicher Seite nicht in Auftrag gegeben. Vermutlich konnten sich hier Traditionalisten durchsetzen, die kaum gegen die rassistischen Feindvorstellungen als solche protestierten, wohl aber grundsätzliche Bedenken gegenüber einer emotionalen Dramatisierung der Politik äußerten.
Abb. 7: Bufa: „Eine Gruppe Gefangener aus den Kämpfen zwischen Cheuny-Coucy-le Chateau: Weiße und farbige Engländer und Franzosen“ (o.D.), BA Koblenz, Sachthematische Bildersammlung.
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Modernisten hatte da weniger Bedenken. Zwar brachten sie in eigener Verantwortung keine Plakate oder Flugblätter mit rassistischen Gräueldarstellungen heraus, sie sorgten aber dafür, dass entsprechendes Material, das von privater Seite produziert wurde, auch von amtlichen Stellen und Einrichtungen verbreitet und genutzt wurde.35
Führerrepräsentationen Eine weitere Entwicklung im Bereich amtlicher Öffentlichkeitsarbeit und visueller Kommunikation ist zu beobachten: Visuelle Massenmedien wurden zunehmend genutzt, um die politische Führungselite zu popularisieren. Welcher Bildmedien und visueller Ausdrucksformen sich die drei unterschiedlichen Akteursgruppen dabei bedienten, wo Innovationen beobachtbar sind und wo Tradiertes dominierte, möchte ich an drei Beispielen zeigen. Im Herbst 1917 publizierte das Nachrichtenbüro der Reichsbank ein von Bruno Paul entworfenes Plakat, das mit dem Brustporträt Paul von Hindenburgs für die Zeichnung der siebten Kriegsanleihe warb (Abb. 8). Die Medienauswahl zur Darstellung des Chefs der Obersten Heeresleitung war mehr als ungewöhnlich.
Abb. 8: Bruno Paul, „Die Zeit ist hart, aber der Sieg ist sicher“ (Herbst 1917), DHM, Inv.-Nr. P 1987/395.
Angehörige der Herrscherhäuser sowie militärisches und politisches Führungspersonal wurden vor 1917 in Deutschland auf Bildplakaten – dem Medium der Reklame und der sozialistischen Opposition – grund-
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sätzlich nicht abgebildet. Doch während die Verantwortlichen der Kriegsanleihewerbung sich einerseits des Plakats bedienten, setzten sie sich andererseits bewusst durch die formale Gestaltung von der Plakatkunst der Vorkriegszeit ab und stellten ihr Produkt in einen anderen Traditionszusammenhang. Bruno Paul verzichtete auf eine flächige, auf Fernwirkung bedachte Darstellung und auf intensive bunte Farben. Stattdessen realisierte er seine Kreidezeichnung in zurückhaltenden Beige-, Grau- und Schwarztönen. Das Plakat, das auch als Gedenkblatt verbreitet wurde, zeigt den Generalfeldmarschall im Profil. Die weiche Binnenmodellierung, die harten Umrisslinien der Zeichnung, die rund angeschnittenen Schultern verleihen dem Plakat einen Reliefcharakter. Die Darstellung erinnert an Münzporträts oder an Abbildungen monumentaler Büsten und knüpfte damit ganz bewusst an traditionelle Formen der Herrscher- und Führerrepräsentation an.36 Auf dem Plakat wird der Sieger von Tannenberg als väterliche Führerfigur dargestellt. Untersicht und medium shot betonen die würdevolle Autorität des populären Militärführers und setzen den Betrachter in die Position des respektvollen Bewunderers. Durch den ernsten, festen Blick in die Ferne, der unerschütterliche Ruhe und Sicherheit repräsentiert, wird der Eindruck der Überlegenheit des Führers gesteigert. Im Gesicht sind Spuren des Alters zu erkennen, sie verweisen auf seine Erfahrungen und seinen Weitblick. Die aufrechte Haltung drückt Entschlossenheit aus. Die starke Schulterpartie, der fleischige Nacken, der kantige und leicht untersetzte Charakterkopf verleihen der Figur etwas Kraftvolles und Standhaftes. Alles in allem vermittelt die monumentale und idealisierte Gestalt den Eindruck, dass dieser Mann ,wie ein Fels in der Brandung’ steht, seine Sache fest im Griff hat und man sich zuversichtlich seiner Führung anvertrauen kann. Zunächst verwundert es, dass die Verantwortlichen im Nachrichtenbüro Hindenburg und nicht den Kaiser als Integrationsfigur auswählten. Wilhelm II. tauchte im Krieg auf keinem amtlichen deutschen Bildplakat auf Offensichtlich hielt man es nicht für angemessen, den Kaiser auf einem Plakat darzustellen. Auch der große Prestigeverlust des Kaisers wird bei der Auswahl eine Rolle gespielt haben. Hindenburg ließ sich besser als starker, verlässlicher Führer inszenieren. Für ihn sprachen seine große Popularität über Partei- und soziale Grenzen hinweg, die Bewunderung und Verehrung, die ihm die Bevölkerung aufgrund seiner militärischen Erfolge entgegenbrachte, das ungebrochene Vertrauen vieler Deutscher in seine militärischen Fähigkeiten und nicht zuletzt sein bildtaugliches Äußeres, das etwa Erich Ludendorff fehlte. Die Figur Hindenburg schien am ehesten geeignet, das Establishment positiv zu repräsentieren und damit für dessen Akzeptanz zu werben, zugleich die
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Menschen hinter sich zu versammeln und sie für den Krieg, in diesem Fall insbesondere für die Anleihezeichnung, zu mobilisieren. Auch in modernistischen Kreisen versuchte man durch die massenmediale Präsenz Hindenburgs im öffentlichen Raum, die Gesellschaft zu integrieren und zu mobilisieren. Allerdings lassen sich zwischen traditionalistischen und modernistischen Repräsentationsformen Unterschiede beobachten. Während Traditionalisten die Distanz zwischen Führer und Geführten betonten, indem sie auch bei der Gestaltung moderner Bildmedien auf Muster der überlieferten Herrscherikonografie zurückgriffen, versuchten Modernisten gezielt, Hindenburg als Volksführer mit ,Anfassqualitäten’ aufzubauen. Bereits im Frühjahr 1917 hatte das Bufa eine Lichtbilderserie mit dem Titel „Unser Hindenburg“ zusammengestellt.37 Schon das Possessivpronomen im Titel des Vortrags suggeriert eine Verbundenheit zwischen Heerführer und Bevölkerung. Die ersten sieben Bilder der Reihe dienen dazu, Hindenburg als Mensch vorzustellen. Man sieht das Familiengut, Hindenburgs Geburtshaus, die Anstalt, in der er als Jugendlicher erzogen wurde, und seine Stube, die er als junger Kadett bewohnte. Der Zuschauer lernt die persönliche Geschichte des Generalfeldmarschalls kennen, wird vertraut mit seiner Vergangenheit und seiner Herkunft. Auch die darauf folgende Sequenz dient diesem Zweck, sie erfüllt jedoch eine weitere Funktion. Die Aufnahmen zeigen ein Porträt des Neunzehnjährigen aus dem Jahr 1866, seinen beschädigten Helm aus der Schlacht von Königgrätz sowie Hindenburg als Kriegsteilnehmer im deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Die Geschichte des Kaiserreichs und die Biographie des Feldmarschalls werden miteinander verwoben, die Gründung des Deutschen Reichs zu einer Jugendtat Hindenburgs stilisiert. Die folgenden 40 Diapositive sind der Zeit des Ersten Weltkriegs vorbehalten. Sie präsentieren den nunmehr 64jährigen als erfahrenen und siegreichen Militärführer, der zurückgekehrt ist und das Reich aus großer Bedrängnis führt. Die Meta-Erzählung knüpft deutlich an den Kyffhäuser-Mythos an. Gleichzeitig sollen die einzelnen Bilder dem Betrachter den Eindruck vermitteln, als könne er dem Generalfeldmarschall ganz konkret bei der Verrichtung seines Tagwerks zuschauen. Man sieht Hindenburg nacheinander an verschiedenen Orten: in Berlin, im Großen Hauptquartier, beim österreichisch-ungarischen Armeeoberkommando und an der Ostfront. Überall dort, wo es Probleme gibt, scheint er präsent zu sein und verantwortungsvoll in die Geschicke einzugreifen. Andere Aufnahmen zeigen ihn mit den Herrschern des Reichs, mit Wilhelm IL oder Angehörigen der kaiserlichen Familie sowie mit wichtigen Vertretern weiterer deutscher Herrscherhäuser und
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zusammen mit dem österreichischen Kaiser. Auf diese Weise werden Geschlossenheit der deutschen Herrschaftselite und Eintracht mit den Verbündeten dokumentiert. Die Zusammenstellung der Aufnahmen scheint jedoch einen zusätzlichen Subtext zu transportieren: Die meisten Bildtitel erwähnen, dass die Fürsten des Reichs dem Chef der 3. OHL einen Besuch abstatten. Fast könnte der Eindruck entstehen, als ob Paul von Hindenburg den Großen des Reichs eine Audienz gewähren würde, er nicht nur der Chef der Militärführung sei, sondern die Geschicke des Staates und der Nation insgesamt lenke. Eine nächste Bildgruppe gewährt Einblick in die militärische Planungszentrale: Hindenburg wird in seinem Arbeitszimmer gezeigt, beim Kartenstudium, mit seinem Generalquartiermeister Erich Ludendorff und im Kreise hoher Offiziere. Bilder eroberter Städte, Panoramaaufnahmen der Gegend um Tannenberg und der Masurischen Seen, Fotografien zerstörter Waffen und eingenommener Befestigungen sowie von Kriegsgefangenenmassen sollten dann dem deutschen Publikum noch einmal eindringlich vor Augen führen, zu welchen Leistungen der Militärführer fähig sei und klarstellen, dass mit Hindenburg der militärische Sieg des Kaiserreichs außer Frage stand. Der Lichtbildervortrag kann als Versuch interpretiert werden, die modernistische Prämisse umzusetzen, Politik müsse sich „volkstümlich“ geben, die elitäre Selbstdarstellung der Herrschaftselite müsse überwunden und die Kluft zwischen Staatsführung und Bevölkerung verringert werden. Betrachtet man die einzelnen Aufnahmen des Vortrags isoliert und löse sie aus ihrem Wirkungskontext, dann erscheinen sie konventionell. Sie reproduzieren weitgehend tradierte Sichtweisen und Perspektiven. Modernisten schufen also keine neue Bildsprache, um ihre Vorstellung von volkstümlicher Führerschaft zu kommunizieren. Sie wählten vielmehr aus dem vorhandenen Bildrepertoire aus, stellten die Bilder auf bestimmte Art neu zusammen und versuchten, die Interpretationen durch schriftliche und mündliche Bildkommentare zu steuern. Auch in diesem Fall entstanden teilweise recht widersprüchliche Produkte, die nicht immer konsistent erscheinen. Im Oktober 1918 wurde schließlich ein illustriertes Flugblatt herausgebracht, das unter reformistischem Einfluss entstand. Das von Paul Brockmüller entworfene Blatt wurde anlässlich der neunten Kriegsanleihe verbreitet und warb um das Vertrauen der Bürger, indem es über die Umgestaltung des politischen Systems informierte und auf die Regierungsumbildung unter Prinz Max von Baden aufmerksam machte. Seine Überschrift lautet: „Die neuen Männer“ (Abb. 9). Die Vorderseite zeigt in drei Reihen elf applizierte Brustporträts. Dargestellt sind der neue Reichskanzler und seine Staatssekretäre. Unter jeder Zeichnung
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erscheinen Name und Position des Porträtierten. Die Gesichter sind in der Regel dem Betrachter frontal zugekehrt, ihre Oberkörper leicht zur Seite gewandt. Bei den Porträts wurde auf eine herrschaftliche Pose und eine Monumentalisierung verzichtet, stattdessen orientierte sich der Grafiker an bürgerlichen Formen visueller Selbstdarstellung: Die Abbildungen erinnern stark an die bürgerliche Porträtfotografie. Lediglich das Konterfei des Reichskanzlers wurde leicht untersichtig realisiert, jedoch weniger in der Absicht eine hierarchische Beziehung zwischen ihm und dem Betrachter zu postulieren, als seine politische Bedeutung als Regierungschef herauszustreichen. Aus diesem Grund ist sein Porträt zentral platziert und erscheint doppelt so groß wie das der übrigen Regierungsmitglieder. Die Staatssekretäre befinden sich hingegen auf gleicher Augenhöhe mit dem Betrachter. Zum überwiegenden Teil schauen sie ihn an, wenden sich direkt an ihn. Dass sich das Regierungspersonal in dieser Form an die Menschen wandte, sich den Bürgern quasi vorstellte und sie über wichtige Regierungsumbildungen unmittelbar informierte, ist im Kaiserreich nicht üblich gewesen. Das Flugblatt warb um Vertrauen in die neue Regierung. Es klärte die Bürger über einschneidende Veränderungen auf, bemühte sich um Transparenz und distanzierte sich durch die bewusst bürgerliche Darstellung des politischen Personals vom Repräsentationsstil des Kaiserreichs. Doch das Flugblatt kommunizierte nicht nur den Bruch mit dem Bisherigen, gleichzeitig sollte es vermitteln, dass die neue Regierung durchaus in der Kontinuität des Kaiserreichs stand.
Abb. 9: Paul Brockmüller, „Die neuen Männer“ (Oktober 1918), DHM, Inv.-Nr.: 1987/174.2
Die schwarz-weiß-rote Farbgebung, die Farben des Kaiserreichs, und die Typographie, die Fraktur-Schrift, sollten diesen Gedanken verdeutlichen.
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Die exemplarischen Untersuchungen der Medienprodukte bestätigen, was die Analysen in den drei Hauptteilen der Arbeit gezeigt haben: Für die deutsche amtliche Kommunikationspolitik markierte der Erste Weltkrieg weniger einen radikalen Bruch, als eine Zeit des Übergangs. Auf unterschiedlichen Ebenen kündigten sich Veränderungen an, die jedoch erst in den 1920er Jahren und teilweise noch später voll zur Geltung kamen. Anmerkungen 1
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Im Folgenden wird nach den visuellen Ausdrucksmöglichkeiten gefragt, die die offiziellen Bilderproduzenten für adäquat hielten, um ihre Konzepte und Ideen zu kommunizieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Akteure sich innerhalb des visuellen Systems, das nicht als starr begriffen wird, für verschiedene Artikulationsmöglichkeiten entscheiden konnten und die Image maker an der Realisierung des visuellen Sprechakts aktiv und kreativ Anteil hatten. Es geht also zunächst um die intendierten Lesarten der Bilderproduzenten und nicht um die tatsächlichen Interpretationen durch die Adressaten. Allerdings gehe ich davon aus, dass im Produktionsprozess den Bildmedien Lektürepositionen eingeschrieben wurden, die die Interpretationen des Publikums vorstrukturierten. Dieser Gedanke, der in den theoretischen Beiträgen über die Medienaneignung gelegentlich zu kurz kommt, scheint mir wichtig zu sein. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Bilder – wie Texte auch – immer mehrdeutig und Missverständnisse an der Tagesordnung sind. Vor allem aber heißt das nicht, dass die Menschen, wenn sie die Botschaften der Produzenten richtig verstanden, diese auch akzeptiert haben. Dazu: Gunther Kress/Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Disign, London 1996, S. 15-42, 182ff.; Stuart Hall: Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen, in: ders.: Ausg. Schriften, hg. V. Nora Räthzel, Berlin 1989, S. 126-149; Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley u. a. (Hg.: Cultural Studies. Grundlagentete zur Einführung, Lüneburg 1999. S. 92110; Stuart Hall, The Work of Representation, in: ders. (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practises, London 1997, S. 13-74. Franz Stassen, An das deutsche Volk! (1917), DHM, Inv.-Nr. P 77/518.1-2. Für die Bildanalysen waren in methodischer Hinsicht u. a. folgende Arbeiten anregend und hilfreich: Kress/Leeuwen, Images; speziell für die Analyse von Bildplakaten: Frank Kämpfer, „Der rote Keil“. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin 1985: Manfred Hagen, Das politische Plakat als zeitgeschichtliche Quelle, in: Geschichte und Gesellschaft, 4 (1978), S. 412-436; für die Fotografie einführend: Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 65-87. Modernistisches Denken hatte sich offenbar zu diesem Zeitpunkt im Kriegspresseamt noch nicht voll durchgesetzt. Zudem fehlte es anscheinend an ei-
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nem visuellen Vokabular, um modernistischen Entwürfen nationaler Identität Ausdruck zu verleihen. Dieses entwickelte sich, wie im Folgenden noch gezeigt wird, ansatzweise erst in den folgenden Jahren. Zur Darstellung und symbolischen Bedeutung der Germania vgl.: Lothar Gall: Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1993; Zeller, Frühzeit, S. 53-58; Gerhard Brunn: Germania und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Zum Zusammenhang von Symbolen und Wir-Gefühl, in: Rüdiger Voigt (Hg.): Politik der Symbole. Symbole der Politik, Opladen 1989; Ursula E. Koch: Marianne und Germania in der Karikatur. Eine Ausstellung, in: Marie-Louise von Plessen (Hg.): Marianne und Germania 1789-1889. Frankreich und Deutschland zwei Welten – eine Revue, Berlin 1996, S. 83-115. Fritz Erler, Helft uns siegen! (1917), DHM, Inv.-Nr. P 571438.4. Zu dem Plakat vgl. auch: Detlef Hoffmann, Das Volk in Waffen. Die Kreation des deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Annette Gracuyk (Hg.), Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, Berlin 1996, S. 83-100; aus geschlechterspezifischer Perspektive: Schmidt, „Kämpfende Männer – liebende Frauen“. Geschlechterstereotype auf deutschen Propagandaplakaten des Ersten Weltkrieges, in: Sophia Kremlein (Hg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918, Osnabrück 2000, S. 217-253. So Reichsbankpräsident Havenstein, zit. n. Deutschlands Finanzkraft und Wirtschaft, Berliner Börsen Zeitung, 31.3.1917, BA Berlin, R 2501/397. Fritz von Ostini: Fritz Erler, Bielefeld/Leipzig 1921, S. 130ff. Inge Baxmann: Der Körper der Nation, in: Etienne Francois u. a (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 353- 365, hier: S. 357f; als Oberblick: Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991, S. 121-154; vgl. auch Klaus von See: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994. Als theoretischer Oberblick: Philipp Sarasin: Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der imagined communities, in: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 150-176. „Ich würde es begrüßen, wenn Deutschland nicht mehr als Michel mit der Schlafmütze dargestellt würde. Sollen wir denn ewig zu gestehen, daß wir Schlafmützen sind?“ Mit dieser Randbemerkung informierte Siegfried Graf von Roedern, Staatssekretär des Reichsschatzamts, das Nachrichtenbüro der Reichsbank, dass er den Michel als nationale Allegorie nicht mehr für zeitgemäß hiek. Reichsbank/Nachrichtenbüro, Schreiben an das Reichsschatzamt, 21.8.1917, BA Berlin, R 2/42106, Bl. 400. Wie der Michel, der den Deutschen vor allem als treuherzig und bieder repräsentierte, verlor im Krieg auch das Bild der Germania an Bedeutung. Zur Ikonografie der Arbeiterbewegung vgl. Ursula Zeller, Die Frühzeit des politischen Bildes in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, S. 138-154.
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Inge Baxmann: Der Körper der Nation, in: Etienne Francois u. a. (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich im 19. Und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 353-365 Von den 120 Diaserien, die das Bild- und Film-Amt im Frühjahr 1917, wenige Wochen nach seiner Gründung, teilweise mit Erläuterungen und Begleitvorträgen im Angebot hatte, beschäftigten sich 35 mit dem Thema Industrie. Wenig später, im Dezember 1917, bot das Bufa allein 13 Lichtbilderserien zum Thema Rüstungsindustrie an und weitere 82 Serien ganz allgemein zur Industrie. Ais bildwürdig galten allerdings nur Betriebe, die direkt oder indirekt für kriegsnotwendig erachtet wurden. Die Serien bestanden aus 14-200 Bildern, oftmals wurden Fotografien mehrfach, d.h. in verschiedenen Serien verbreitet. Insgesamt wuchs das Angebot von Lichtbilderserien seit der Gründung des Bufa zügig an. Bild- und Film-Amt, Lichtbilderliste o.D. (Frühjahr 1917), BA-MA Freiburg, RM 5/3760, Bl. 172-175; Bild- und Film-Amt, Lichtbilderliste, 14.12.1917, BayHStA/IV, Archivakten 196. Bufa, Schreiben an das Reichsmarineamt, 27.6.1917, BA-MA Freiburg, RM 5/3760, Bl. 266; Bufa, Schreiben and das Reichsmarineamt, 11.5.1918, BAMA Freiburg, RM 5/3761, Bl. 140; vgl. auch die Schreiben der Presseabteilung des Admiralstabs v. September 1918 an verschiedene Unternehmen, in: BA-MA Freiburg, RM 5/3761. Zur Geschichte der Werksfotografie: Klaus Tenfelde: Geschichte und Fotografie bei Krupp, in: ders. (Hg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 305-320; Alf Lüdtke: Gesichter der Belegschaft. Porträts der Arbeit, in: Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp, S. 67-87. Ebenso wenig wie die Industriefotografien wurden die Aufnahmen vom ländlichen Leben von amtlichen Fotografen gemacht. Vielmehr lieferten Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche Archive, Fotosammlungen der Heimatbewegung und der Erwachsenenbildung sowie Privatsammler, Amateur-, Kunst- und gelegentlich auch Berufsfotografen den amtlichen Einrichtungen wie dem Bild- und Film-Amt in Berlin oder die Bayerische Film- und Lichtbilderstelle das entsprechende Bildmaterial. Bufa, Druckschrift, o.D., BA Berlin, R 901, ZfA/1030, Bl. 185f, hier: Bl. 185; Münchener Polizeipräsident, Protokoll der Sitzung vom 29.11.1917, BayHStA, MInn 66329, S. 1-8; Regierungsbaumeister Rattlinger/Professor Jakob, Bericht, 7.12.1917, BayHStA, MA 97624. Zu den Gebrauchsweisen der Werksfotografie: Jäger, Photographie, S. 96103; Bodo von Dewitz: „Die Bilder sind nicht teuer und ich werde Quantitäten davon machen lassen!“ Zur Entstehung der Graphischen Anstalt, in: Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp, S. 41-66; Lüdtke, Gesichter; Tenfelde, Geschichte; Alf Lüdkte: Industriebilder – Bilder der Industriearbeit? Industrieund Arbeiterphotographie von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre, in: Historische Anthropologie I (1993), S. 394-430; Kerstin Lange: Die Bilder der AEG. Material, Sprache und Entstehung, in: Lieselotte Kugler (Hg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. 9-22. Lange, Bilder, S. 20ff.
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Kerstin Lange, Menschen am Arbeitsplatz, in: Lieselotte Kugler (Hg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. 93-126; Dewitz, Entstehung, S. 41; Heinz Reif: „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“ – Das Werksleben jenseits der Fabrik in der Fotografie bei Krupp, in: Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp, S. 105-122, hier: S. 107f; Jürgen Hannig: Fotografien als historische Quelle, in: Tenfelde (Hg.), Bilder von Krupp, S. 269-288. Dewitz, Anstalt, S. 59; Lüdtke, Gesichter, S. 70. Bilder sind immer mehrdeutig; gleichzeitig ist es ein zentrales Anliegen der Kommunikatoren ihre gewünschten Lesarten den Bildern im Produktionsprozess einzuschreiben; Auftraggeber/Produzenten suchen durch die Bilder selbst die Interpretationen der Rezipienten vorzustrukturieren. Dabei spielen Vorannahmen über Kompetenzen der Rezipienten, formale und inhaltliche Stilmittel, Codes, Konventionen, Werte und Normen eine zentrale Rolle. Dazu: Kress/van Leeuwen, Images, S. 119 ff.; Hall, Kodieren. Zur Funktion des Blickes bei der Strukturierung der Betrachtungsweise von Bildern: Kress/Leeuwen, Images, S. 121 ff. Zur Konstituierung sozialer Distanz durch Bildausschnitte: Kress/Leeuwen, Images, S. 130 ff. Fotografien von Industriearbeitern und Industriearbeit, die nicht von Bürgern, sondern von Arbeitern selbst gemacht wurden, entstanden erst in den zwanziger Jahren. Zur Arbeiterfotografie u. a.: Wolfgang Ruppert: „Von Rembrandt die Lichtführung“. Arbeiterphotographie, in: ders. (Hg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur, München 1986, S. 359-368. O.A. (vermutlich Kriegspresseamt), Erläuterungen „Der Sieg der Deutschen Technik“ o.J. (Ende 1917), BayHStA/IV, Archivakten 198. Stellv. Generalkommando IX AK, Bericht über den Lehrgang über Fragen der Kriegsaufklärung in Hamburg, 6.-8.6.1918, BayHStA/IV, StellvGenKdo I AK 2373, S. 54f. Auch die Aufnahmen, die die Bufa-Fotografen von den Soldaten machten, waren nicht besonders geeignet, anthropologische Konzepte nationaler Identität zu kommunizieren. Auffällig ist, dass die fotografischen Repräsentationen des Soldaten in vielem an die Arbeitsfotografie erinnern. Bildtraditionen, die im Rahmen der Werksfotografie entwickelt worden waren, bestimmten zunächst ebenfalls die Ikonografie der Soldatenaufnahmen. Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Selbst- und Fremd- bzw. Feindbildern: Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hamburg 1994; Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymetrischer Gegenbegriffe, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 211-259; Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992; Michael Jeismann: Was bedeuten nationale Stereotypen für nationale Identität und politischen Handeln?, in: Jürgen Link/Wulf Wüfling (Hg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991, S. 84-93; Münkler, Feindbilder. Zur Verbreitung rassistischer Feindbilder im Ersten
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Weltkrieg: Aribert Reimann: Der großte Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Essen 2000, S. 210ff.; Sven Oliver Müller: Die Nation als Wille und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, , S. 134ff.; Christian Koller: Feind – Bilder. Rassen- und Geschlechterstereotype in der Kolonialtruppendiskussion Deutschlands und Frankreichs 1914-1923, in: Karen Hagemann/Stefanie SchülerSpringorum (Hg.): Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 150-167. Neben den hier untersuchten Bildern vom Feind, wurden auch Aufnahmen verbreitet, die verwundete feindliche Kriegsgefangene zeigen, die von deutschen Sanitätern versorgt werden. Diese Bilder hatten primär die Funktion, den alliierten Vorwurf, die Deutschen führten den Krieg auf sehr grausame Weise, zu entkräften. Da sie für die Feindbildkonstruktion nur von sekundärer Bedeutung sind, werden sie im Folgenden nicht näher analysiert. Zur Brutalität der deutschen Kriegführung in Belgien: John N. Horne/Alan Kramer: German atrocities 1914. A History of Denial, New Haven 2001. Zu den Veröffentlichungen in der Presse: Eisermann, Pressephotographie, S. 105. Eisermann interpretiert diese Darstellungen nicht als Feindbilder, sondern als Versuche, die militärischen Leistungen der deutschen Armee unter Beweis zu stellen. Dies war nicht die einzige und vielleicht auch nicht die dominante Lesart, wie im Folgenden gezeigt werden soll. John Pultz: Der fotografierte Körper, Köln 1995, S. 26. Michael Wiener: Ikonographie des Wilden. Menschen-Bilder in Ethnographie und Photographie zwischen 1850-1918, München 1990, S. 112ff. Zur anthropologischen Fotografie: Wiener, Ikonographie; Pultz, Körper, S. 20-26; Michael Schindlbeck (Hg.): Die ethnographische Linse. Photographien aus dem Museum für Völkerkunde Berlin, Berlin 1989; Elizabeth Edwards (Hg.): Anthropology and Photography 1860-1920, New Häven 1992; Hartmut Krech: Lichtbilder vom Menschen. Vom Typenbild zur anthropologischen Fotografie, in: Fotogeschichte 4 (1984), H. 14, S. 3-15; Gunnar Schmidt: Mischmenschen und Phantome. Francis Galtons anthropologischen Fotoexperimente, in: Fotogeschichte II (1991), H. 40, S. 13-30. Zur Unterscheidung von Fremd- und Feindbildern: Sven Reichardt: Feindbild und Fremdheit – Bemerkungen zu ihrer Wirkung, Bedeutung und Handlungsmacht, in: Benjamin Ziemann (Hg.): Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 250-271; Hans-Michael Bernhardt: Voraussetzungen, Struktur und Funktion von Feindbildern, in: Christoph Jahr u. a. (Hg.): Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20 Jahrhundert, Berlin 1994, S. 9-24. Major Schweitzer, Die Front im Lichtbild (Lichtbildervortrag) (5.2.1917), hg. v. Kriegspresseamt, BayHStA, MInn 66328. Pressechef des Reichskanzlers, Schreiben an Friedrich Naumann betr. Propaganda zur Verwendung farbiger Truppen, 16.8.1918, BA Berlin, R 43/2440, Bl. 134.
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Rudolf Stratz, Vortrag für Lichtbildervortrag „Rußland“ (1917), hg. v. Kriegspresseamt, BayHStA/IV, Stellv. GenKdo I. AK 2385. Reimann, Krieg, S. 213. So empfahlen die vom Kriegspresseamt herausgegebenen Mitteilungen für die Aufklärungs- und Werbearbeit zur 9. Kriegsanleihe den stellvertretenden Generalkommandos ausdrücklich die Flugblätter, die der Jos. Huber Verlag in Diessen herausgab. Diese Flugblätter nehmen die rassistischen und gewalttätig-sadistischen Darstellungen der Kolonialtruppen der 1920er Jahre vorweg. Martin Warnke: Das Bild als Herrschaftsbestätigung, in: Funkkolleg Kunst, hg. v. Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, Studienbegleitbrief 7, Weinheim 1985, S. 51-92; Harald Keller: Das Nachleben des antiken Bildnisses von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, Freiburg i. Br. 1970. Bufa, Unser Hindenburg. 50 Lichtbilder, o.D. (1917), BayHStA/IV, Archivakten 198; Bufa, Lichtbilderliste des Bild- und Film-Amts, o.D. (vermutlich April 1917), BA-MA Freiburg, RM 5/3760, Bl. 172-175. Als volksnaher Führer sollte nicht allein Hindenburg aufgebaut werden, sondern auch der Kaiser und andere Fürsten und Militärführer.
Auswahlbibliographie Neuere Einführungen, Handbücher, Gesamtdarstellung und Aufsatzsammlungen Bauerkämper, Arndt u. Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914-1918, Göttingen Becker, Jean-Jacques u. Gerd Krumeich, Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914-1918, Essen 2010 Becker, Jean.Jacques (Hg.). Les sociétés européennes et la guerre de 1914-1918, Nanterre 1990 Ders. (Hg.), Guerre et cultures 1914-1918, Paris 1994 Berghahn, Volker R., Der Erste Weltkrieg, München 2003 Chickering, Roger, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002 (Orig. Cambridge 1998) Ders., Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 19141918, Paderborn u. a. 2009 Ders. u. Stig Förster (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front 1914-1918, Cambridge u. a. 2000 Coetzee, Frans u. Marilyn Schevin-Coetzee (Hg.), Authority, Identity and the Social History of the Great War, Providence u. Oxford 1995 Duppler, Jörg (Hg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999 Mark Hewitson, Germany and the Causes of the First World War, Oxford u. New York 2004 Hirschfeld, Gerhard u. a. (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 2003 Ders. u. a. (Hg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch …“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993 Janz, Oliver, 14. Der Große Krieg, Frankf./M. u. New York 2013 Joll, James, Die Ursprünge des Ersten Weltkrieges, München 1988 (Orig. London u. New York 1984) Julien, Elise, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2013 Kramer, Alan, Dynamics of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Cambridge 2007 Kruse, Wolfgang, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009 Leonhard, Jörn, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014 Michalka, Wolfgang (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München u. Zürich 1994 Mommsen, Wolfgang J., Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002 (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17) Ders., Der große Krieg und die Historiker. Neue Wege der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg, Essen 2002
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Auswahlbibliographie
Ders. (Hg.), Kultur und Krieg. Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, München 1994 Rauchensteiner, Manfried, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz u. a. 1993 Segesser, Daniel Marc, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2010 Stevenson, David, With Our Backs to the Wall. Victory and Defeat in 1918, London u. a. 2011 Strachan, Hew, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München 2004 (Orig. Oxford u. a. 2001) Thoss, Bruno u. Hans-Erich Volkmann, (Hg.) Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn u. a. 2002 Ulrich, Bernd u. Benjamin Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit, Frankf./M. 1994 Winter, Jay M. u. a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002 Winter, Jay M. u. Antoine Prost (Hg.), The Great War in History. Debates and Controversies 1914 to the Present, Cambridge 2005 Autorinnen und Autoren: Ute Daniel, Dr. phil., Jg. 1953, Professorin für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig Wilhelm Deist, Dr. phil., 1931-2003, Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und Honorarprofessor an der Universität Freiburg Gerald D. Feldman, Dr. phil., 1937-2007, Prof. für Geschichte an der Universität Berkeley Uta Hinz, Dr. phil., Jg. 1968, Wissenschaftliche Angestellte bei der MaxWeber-Gesamtausgabe, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Bernd Hüppauf, Dr. phil., Jg. 1942, em. Professor für Germanistik an der New York University Jürgen Kocka, Dr. phil., Jg. 1941, em. Professor für Geschichte der Industriellen Welt an der Freien Universität Berlin Eberhard Kolb, Dr. phil., Jg. 1933, em. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität zu Köln Reinhard Rürup, Dr. phil., Jg. 1934, em. Professor für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin Susanne Rouette, Dr. phil., 1956-2004, war Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Geschlechtergeschichte der Ruhr-Universität Bochum Anne Schmidt, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung, Berlin Bernd Ulrich, Dr. phil., Jg. 1956, freiberuflicher Historiker, Berlin