Der »Dschungel von Calais«: Über das Leben in einem Flüchtlingslager 9783839447345

Seit fast zwei Jahrzehnten ist das Gebiet um den französischen Hafen von Calais ein Durchgangsort für Tausende von Migra

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Der »Dschungel von Calais«: Über das Leben in einem Flüchtlingslager
 9783839447345

Table of contents :
Cover
Inhalt
Thomas Müller: Eine Vorbemerkung zur deutschsprachigen Ausgabe – Die Aktualität des Jungle
Eine Außengrenze im Inneren
»Der Dschungel« und die Jungles von Calais
Geographien der Aufmerksamkeit
Die Möglichkeit einer migrantischen Stadt
Calais ohne Jungle
Ein neuer Jungle in einem veränderten Kontext
Danksagung
Einführung. Ein Buch zum besseren Verständnis
Für eine lange Geschichte des Jungle
Europa und die Migrationsfrage
Calais, Sinnbild der Krise – und der europäischen Solidarität
Kapitel 1. Chronik einer Irrfahrt: Die Region von Calais, 1986-2016
1986-1997: Die Gleichgültigkeit der französischen Behörden
1997-1999: Die Aufmerksamkeit stieg
1999-2002: Der Moment von Sangatte
2002: Der Beginn britischer Kontrollen im Hafen von Calais
Die langen Jahre der Vertreibung
2009 – ein neues Medienereignis:»Die Schließung des Jungle von Calais«
Das Netz der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen
Ein Lichtstreif am Horizont
Der Anstieg der extremen Rechten
Seit September 2014: Konzentrieren, zerstreuen, kontrollieren
In Calais
Eine fast unmerkliche Änderung der staatlichen Politik
Die Politik der Ausgrenzung
Vom Bidonville-Camp zum Bidonville-Lager
Um Dünkirchen (Dunkerque) herum
In Paris
Die Lage in Belgien und in den Niederlanden
Kapitel 2. Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen
1999 – 2002: Sangatte
März 2015: Jungles, Camps und Hausbesetzungen
April 2015 – Oktober 2016: Der Jungle oder »Die Kunst, Städte zu bauen«
Der Prozess eines Städtebaus
Der südliche Teil
Der nördliche Teil
Die Gemeinschaftseinrichtungen
Architektur der Gastunfreundlichkeit
Das Bidonville war eine Stadt
Kapitel 3. Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum
Eine Gesellschaft in der Prekarität
Wie man sich im Bidonville einrichtete
Wirtschaftliches und soziales Leben
Eine Stadt wurde erschaffen
Kapitel 4. Der Jungle der Solidaritäten
Calais, kosmopolitische Schnittstelle der Solidaritäten
In den anderen Camps
Das Camp von Norrent-Fontes und die Vereinigung Terre d’Errance
Das »humanitäre Lager« von Grande-Synthe:Lokale und europäische Solidaritäten
Mobilisierungsnetzwerke: Vom Lokalen zum Globalen
Lokale Unterstützungsnetzwerke für die Migrant_innen
NGOs und professionelle Vereinigungen
Neue transnationale Solidaritäten: Die accidental activists
Kapitel 5. Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen
»Der größte Slum Europas«
Eine spektakuläre »Unterbringungs«-Operation
Die Zerstreuung
Nach der Schleifung: Rückkehr und Zurückweisung
Fazit. Das Ereignis Calais
Das Camp – Hypertrophie der Grenze
Die Kosmopolitik des Jungle
PostskriptÜber die Autor_innen und wie dieses Buch geschrieben wurde

Citation preview

Michel Agier Der »Dschungel von Calais«

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Michel Agier mit Yasmine Bouagga, Maël Galisson, Cyrille Hanappe, Mathilde Pette und Philippe Wannesson

Der »Dschungel von Calais« Über das Leben in einem Flüchtlingslager Unter Mitarbeit von Madeleine Trépanier, Céline Barré, Nicolas Lambert, Sara Prestianni und Julien Saison Mit einer Vorbemerkung von Thomas Müller Aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Freund

Mit Unterstützung des Programms Babels (EHESS) der Agence Nationale de la Recherche (ANR, Frankreich) für die Übersetzung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Originally published in French by Les PUF, 2018. This edition is published by arrangement with Polity Press Ltd., Cambridge. Translated from Michel Agier et al., The Jungle. Calais’s Camps and Migrants, translated by David Fernbach © Polity Press, 2019 Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Thomas Müller, Aachen »Blick über den ›Jungle‹, im Hintergrund die Schnellstraße zum Fährhafen, April 2016« Korrektorat: Lea Pioch, Paderborn Übersetzung aus dem Französischen: Wolfgang Freund Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4734-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4734-5 https://doi.org/10.14361/9783839447345 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Thomas Müller: Eine Vorbemerkung zur deutschsprachigen Ausgabe – Die Aktualität des Jungle .. 9 Eine Außengrenze im Inneren .......................................................................... 12 »Der Dschungel« und die Jungles von Calais ...................................................... 14 Geographien der Aufmerksamkeit ..................................................................... 18 Die Möglichkeit einer migrantischen Stadt .......................................................... 21 Calais ohne Jungle ....................................................................................... 23 Ein neuer Jungle in einem veränderten Kontext................................................... 27 Danksagung ............................................................................................... 33 Einführung Ein Buch zum besseren Verständnis ............................................... 35 Für eine lange Geschichte des Jungle .............................................................. 36 Europa und die Migrationsfrage....................................................................... 38 Calais, Sinnbild der Krise – und der europäischen Solidarität..................................42 Kapitel 1 Chronik einer Irrfahrt: Die Region von Calais, 1986-2016 ............................ 51 1986-1997: Die Gleichgültigkeit der französischen Behörden ...................................52 1997-1999: Die Aufmerksamkeit stieg .................................................................54 1999-2002: Der Moment von Sangatte ............................................................... 56 2002: Der Beginn britischer Kontrollen im Hafen von Calais.................................... 57 Die langen Jahre der Vertreibung..................................................................... 58 2009 – ein neues Medienereignis: »Die Schließung des Jungle von Calais« ............................................................ 61 Das Netz der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ............................................. 63 Ein Lichtstreif am Horizont............................................................................. 68 Der Anstieg der extremen Rechten.................................................................... 71

Seit September 2014: Konzentrieren, zerstreuen, kontrollieren ................................ 75 In Calais............................................................................................... 76 Eine fast unmerkliche Änderung der staatlichen Politik ................................. 77 Die Politik der Ausgrenzung ..................................................................... 77 Vom Bidonville-Camp zum Bidonville-Lager ................................................. 78 Um Dünkirchen (Dunkerque) herum .......................................................... 80 In Paris ............................................................................................... 82 Die Lage in Belgien und in den Niederlanden ...................................................... 83 Kapitel 2 Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen ................................. 87 1999 – 2002: Sangatte .................................................................................... 87 März 2015: Jungles, Camps und Hausbesetzungen .............................................. 89 April 2015 – Oktober 2016: Der Jungle oder »Die Kunst, Städte zu bauen« ................ 101 Der Prozess eines Städtebaus..................................................................102 Der südliche Teil .................................................................................. 103 Der nördliche Teil ................................................................................. 107 Die Gemeinschaftseinrichtungen............................................................. 108 Architektur der Gastunfreundlichkeit ........................................................109 Das Bidonville war eine Stadt ......................................................................... 112 Kapitel 3 Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum .................... 119 Eine Gesellschaft in der Prekarität ...................................................................120 Wie man sich im Bidonville einrichtete..............................................................124 Wirtschaftliches und soziales Leben................................................................. 127 Eine Stadt wurde erschaffen ......................................................................... 135 Kapitel 4 Der Jungle der Solidaritäten...................................................... 139 Calais, kosmopolitische Schnittstelle der Solidaritäten........................................ 139 In den anderen Camps...................................................................................149 Das Camp von Norrent-Fontes und die Vereinigung Terre d’Errance................ 150 Das »humanitäre Lager« von Grande-Synthe: Lokale und europäische Solidaritäten ...................................................... 153 Mobilisierungsnetzwerke: Vom Lokalen zum Globalen ..........................................155 Lokale Unterstützungsnetzwerke für die Migrant_innen ...............................156

NGOs und professionelle Vereinigungen .................................................... 158 Neue transnationale Solidaritäten: Die accidental activists ............................159 Kapitel 5 Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen ............... 163 »Der größte Slum Europas«........................................................................... 163 Eine spektakuläre »Unterbringungs«-Operation .................................................169 Die Zerstreuung ........................................................................................... 175 Nach der Schleifung: Rückkehr und Zurückweisung............................................ 180 Fazit Das Ereignis Calais ............................................................... 185 Das Camp – Hypertrophie der Grenze .............................................................. 186 Die Kosmopolitik des Jungle ...........................................................................190 Postskript Über die Autor_innen und wie dieses Buch geschrieben wurde ................... 195

Thomas Müller: Eine Vorbemerkung zur deutschsprachigen Ausgabe – Die Aktualität des Jungle

Die deutsche Aktivistin Amy Non beendete einen Bericht über ihre Erlebnisse in Calais mit einer fiktiven Geschichte aus der Zeit um das Jahr 2065. »Es regnet in Calais. Die Wolken hängen tief und es ist alt [sic!], windig, unangenehm am traurigsten Ort der Welt.« In dieser deprimierenden Umgebung steht ein Mahnmal. Es erinnert »an die Verbrechen, die über Jahrzehnte an Menschen verübt wurden« und bildet den Mittelpunkt einer Gedenkveranstaltung. Auch die Enkel der heutigen Calaiser Bürgermeisterin sind unter den Teilnehmer_innen, allerdings haben sie »ihre Namen ändern« lassen, denn die politische Situation hat sich gewandelt und sie sind offenbar beschämt über die Ereignisse im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts. Calais ist in dieser Szene zu einem Gedenkort für die Opfer europäischer Grenzregime geworden. Wie das Denkmal aussieht, bleibt vage, aber auf jeden Fall handelt es sich um »einen großen schwarzen Pflock«: »Ein hässliches Ungetüm«, das sich »seltsamerweise irgendwie harmonisch in das Stadtbild fügt« und an dessen Sockel »eine Tafel mit der Zahl der Opfer von Europas Grenzen« montiert ist.1 Die Idee eines Denkmals, das wie ein Pflock im Körper der Stadt steckt, erinnert an Gedenkstätten für Staatsverbrechen, sei es, dass sie in Kontexten des Krieges, der Besatzung, der Diktatur oder des Kolonialismus verübt wurden. Das Denkmal verleiht der darin inhärenten Gewalt Ausdruck, indem es die Normalität des umgebenden Raums durchbricht, negiert, angreift; das Verstörende und Schockierende der Inszenierung soll eine Vorstellung des

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Amy Non, Calais, Calais (o.O.u.Verl., 2015), https://calaismigrantsolidarity.files. wordpress.com/2015/10/calais_calais_de.pdf, S. 63 (12.8.2019).

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Der »Dschungel von Calais«

Gewaltakts evozieren, dessen gedacht wird. Die migrantischen Camps in Calais waren Orte, die europäisch sozialisierte Besucher_innen häufig verstörten und schockierten, wenn sie diese zum ersten Mal betraten. Amy Non schildert in ihrem Bericht ihren eigenen psychischen Zusammenbruch, den sie erlebte, nachdem sie längere Zeit im Zentrum des politischen Konflikts in Calais zugebracht hatte und zuletzt mit dem Tod eines äthiopischen Freundes konfrontiert war. »Calais hat ihn umgebracht, Europa zugeschaut.«2 Die Calaiser Camps waren insofern Orte außerhalb der europäischen Selbstbeschreibungen als Wirkungsbereich universaler Menschenrechte und legalen staatlichen Handels – Orte suspendierter Normalität, eine Außengrenze im Inneren, ein Pflock. Aber dies stimmt nur zum Teil. Calais war und ist nicht nur der Ort eines zugespitzten institutionellen Rassismus und eines quasi verstetigten Ausnahmezustandes, sondern ebenso ein Ort der Solidarität und der ständigen Neuerfindung des Lebens unter Bedingungen, die Grenzerfahrungen im wörtlichen Sinne waren. Calais und der »Dschungel«, wie der prekäre Lebensort der Migrant_innen bezeichnet wurde, standen in einer vielschichtigen und ambivalenten Beziehung zueinander. Als Amy Non ihren Bericht schrieb, waren die in diesem Buch analysierten Dynamiken noch in vollem Gange und der »Dschungel« der Jahre 2015/16, der im Zentrum der Analyse steht, erst im Entstehen begriffen. Statt eines Denkmals, das vielleicht einmal retrospektiv an ihn erinnert, hat er eine Art kollektives und dezentrales Archiv hervorgebracht, das neben materiellen und immateriellen Zeugnissen, neben schriftlich fixiertem und mündlich tradiertem Wissen, neben politischen und medialen Diskursen, neben intellektuellen und künstlerischen Interventionen auch Denkmäler umfasst. Allein Banksy fertigte mehrere Wandbilder in oder in Bezug auf Calais und stellte außerdem Gebäude und Baumaterial des Dismaland – einer dystopischen Freiluftausstellung im britischen Ferienort Sumerset – zur Verfügung, die dann in den »Dschungel von Calais« aufgingen.3 Von Banksys Werken ist heute nur noch eines sichtbar. Es befindet sich an einem Gebäude der Nationalpolizei am Strand von Calais und zeigt, wie ein Kind mit dem Fernrohr zur britischen Küste blickt. Das Kind ist mit einem Koffer unterwegs, was es als Flücht-

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Ebd., S. 29f. Zum Kontext vgl. auch Natasha King, No Borders: The Politics of Immigration Control and Resistance (London: Zed, 2016), S. 114, 122. Vgl. exemplarisch Lindsey Bever, »Banksy is Turning His ›Dismaland‹ into a Shelter for Refugees«, Washington Post (28.9.2015).

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

ling kenntlich macht, und auf dem Fernrohr lauert ein Geier.4 Im März 2019 stand das Bild im Mittelpunkt einer Gedenkveranstaltung, mit der migrantische und europäische Aktivist_innen an die Grenztoten der Europäischen Union erinnerten. Diese Veranstaltung machte den Beginn einer neuen migrantischen Selbstorganisation in Calais öffentlich, worauf wir am Ende dieser Vorbemerkung noch zurückkommen werden. Sucht man in Calais darüber hinaus Spuren des in diesem Buch beschriebenen Geschehens, so findet man zunächst getilgte Erinnerungen: beseitigte Graffiti in der Innenstadt, unzugänglich gemachte Plätze ehemaliger Camps, wieder in die äußerste Peripherie des Stadtraums verdrängte Migrant_innen, aber auch: anhaltende Räumungen ihrer Schlafstätten und Treffpunkte, Behinderungen humanitärer und solidarischer Hilfe, anhaltende Polizeigewalt und nicht zuletzt einen kontinuierlichen Ausbau der physischen und administrativen Elemente des Grenzregimes. Gleichwohl leben nach wie vor Männer, Frauen und Kinder ohne gültige Papiere in der Stadt und versuchen von dort aus unter Lebensgefahr, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen. Und auch von den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und Solidaritätsnetzwerken, die im »Dschungel« aktiv waren, arbeiten die wichtigsten bis heute.5 Wer Calais heute – ich beziehe mich auf das Jahr 2019 – besucht, erkennt rasch, dass die Geschichte des »Dschungels« nicht mit dessen Räumung im Jahr 2016 endete. Vielmehr gibt es einen neuen »Dschungel von Calais«, doch auch dazu später mehr.

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Das Bild hat nach Mitteilung der Vertreter_innen des Künstlers keinen spezifischen Titel; die autorisierte Bezeichnung lautet Banksy, Calais, 2015. Ein weiteres Werk in Calais zeigte die Figurengruppe von Eugène Delacroix‘ Revolutionsgemälde Die Freiheit führt das Volk auf einem sinkenden Flüchtlingsfloß. Das Wandbild The Son of a Migrant from Syria am Eingang des Calaiser Jungle ist weiter unten beschrieben. Ein weiteres Werk bildete gegenüber der französischen Botschaft in London die Figur der Cosette aus dem Roman Die Elenden von Victor Hugo in einer Wolke aus CS-Gas ab und verfügte mittels QR-Code über ein Link zu einem Video, das den massiven Einsatz dieses Reizgases gegen den Jungle dokumentiert. Zu nennen sind u.a. der landesweite katholische Verband Secours catholique, die seit mehr als zehn Jahren bestehenden lokalen Vereinigungen Salam und Auberge des Migrants, letztere mit ihren Partnerorganisationen Help Refugees (Choose Love), Utopia 56, Legal Shelter, Community Kitchen, Refugee Info Bus u.v.m. sowie dem Projekt Human Rights Observers, weiterhin die Hilfsorganisation Care4Calais, die Gruppen Calais Migrant Solidarity und Calais Research Network sowie die aufgrund ihrer Mandatierung durch staatliche Behörden umstrittene Hilfsorganisation La Vie active.

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Der »Dschungel von Calais«

Eine Außengrenze im Inneren Die Seegrenze, die nördlich von Calais inmitten des Ärmelkanals verläuft, definiert den Hoheitsbereich zweier Staaten, die durch eine lange Geschichte der Kooperation, der Konflikte, des Grenzverkehrs und der Grenzüberschreitungen miteinander verbunden sind und bereits früh Ideen einer europäischen Einigung entwickelt hatten, wenngleich diese nie ganz zur Deckung gelangen sollten;6 auch der Brexit ist letztlich Teil und Ausdruck dieser Beziehung. Calais selbst ist derjenige Ort, an dem die Landmassen beider Staaten einander so nahe kommen, dass die andere Seite bei klarem Wetter zu sehen ist. Die mit Abstand größten Ströme von Reisenden und Gütern zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien verlaufen durch Calais. Eine dieser Verkehrsanlagen unterquert den Ärmelkanal in Form eines Tunnels und stellt damit eine unterseeische Landverbindung her. Der Bau des Kanaltunnels (1987-94) fiel zeitlich mit der Konstituierung der Europäischen Union – in einer Phase beinahe euphorischer Europadiskurse – zusammen und wurde durchweg als Symbol dieses Europas rezipiert; die Benennungen des Bauwerks als Eurotunnel und der Zugverbindung als Eurostar brachten dies demonstrativ zum Ausdruck. Doch auch für das Thema dieses Buches erwies sich der Tunnel als konstitutiv. Die Organisation der im Tunnel verlaufenden Staatsgrenze bildete den historischen Ausgangspunkt eines Grenzregimes, dessen Produkt der »Dschungel« wurde. Es basierte auf dem Prinzip der Vorverlagerung der britischen Grenzkontrollen auf französisches Staatsgebiet (und umgekehrt) und entsprach damit im Kleinen jener Logik der Externalisierung und Exterritorialisierung der Grenze, nach der die EU seit Beginn des 21. Jahrhunderts ihre südliche Außengrenze auf das Mittelmeer, die Sahara und die SahelRegion ausweitete. Das französisch-britische Grenzregime ist dennoch nicht im supranationalen EU-Recht, sondern in den zwischenstaatlichen Verträgen von Sangatte (1991, mit Zusatzprotokoll von 2000), Le Touquet (2003) und Sandhurst (2018) geregelt und wird in einer Reihe weiterer Papiere konkretisiert. Von diesen enthalten das Verwaltungsabkommen von Evian (2009, mit dem martialischen Titel Strengthening the Fight against Immigration) und die gemeinsame Erklärung Managing Migratory Flows in Calais (2015) des französischen Innenministers und späteren Premierministers Bernard Cazeneuve 6

Vgl. Frank Niess, Die europäische Idee: Aus dem Geist des Widerstands (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001), S. 59-70.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

und seiner britischen Amtskollegin und späteren Regierungschefin Theresa May detaillierte Programme zum Umgang mit der informellen migrantischen Bevölkerung in Nordfrankreich.7 Materieller Ausdruck dieses Grenzregimes sind monströse Sicherheitsarchitekturen, die heute das Betriebsgelände des Kanaltunnels, seinen Verladebahnhof Fréthun und den Fährhafen von Calais umgeben sowie die dorthin führenden Straßen begleiten: kilometerlange weiße Hochsicherheitszäune mit Klingendraht und Sensorik, zuweilen zu mehrfach gestaffelten Systemen angeordnet und zuletzt durch Mauern erweitert. Im Kern der EU gelegen, hat sich eine Landschaft in Analogie zur EU-Außengrenze herausgebildet. Zwischen dem Abbau des Eisernen Vorhangs und der Errichtung des ungarischen Grenzzauns im Jahr 2015 waren dies die einzigen Anlagen dieser Art in Mittel- und Westeuropa. An keiner anderen Binnengrenze der EU starben so viele Menschen im Zusammenhang mit der Grenzpassage wie an dieser. Als Michel Agier das französische Original dieses Buches vorlegte, waren 197 Todesfälle nachgewiesen (siehe Abb. 4). Kurz vor Drucklegung der deutschen Übersetzung Ende 2019 war die Zahl schon auf etwa 275 gestiegen. Allein in der Zeit seit der Räumung des »Dschungels« im Oktober 2016 starben, soweit bekannt, 79 Migrant_innen und ein EU-Bürger.8 In dieser Zahl enthalten sind 39 Vietnames_innen, die am 23. Oktober 2019 tot im Laderaum eines Kühlcontainers entdeckt wurden, der über den belgischen Hafen Seebrügge (Zeebrugge) nach Großbritannien geschleust worden war. Während dieser im Gesamtkontext untypische Fall hohe mediale Aufmerksamkeit erfuhr, bleibt weitgehend im Dunkeln, dass 40 Migrant_innen bei anderen Versuchen zur Grenzpassage oder aufgrund ihrer Lebenssituation im Grenzraum starben. Dies entspricht im Durchschnitt etwa einem Todesopfer jeden Monat. Die meisten dieser Menschen starben im Zusammenhang mit dem Frachtverkehr, etwa indem sie von Fahrzeugen erfasst wurden, von Lastwagen stürz7

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Vgl. hierzu ausführlich Thomas Müller, Uwe Schlüper, Dynamiken der Jungles: Calais und das europäisch-britische Grenzregime, Edition bordermonitoring.eu, Bd. 3 (München: bordermonitoring.eu, 2018), S. 17-42, 134-37. Bei dem ums Leben gekommenen EU-Bürger handelt es sich um einen polnischen Fahrer, der bei einem Auffahrunfall bei Calais tödlich verunglückte, als Migrant_innen den Autobahnverkehr anzuhalten versuchten. Die Zahlen beruhen auf einer von Calais Migrant Solidarity geführten Liste (Calais Migrant Solidarity: »Deaths at the Calais Border«, https://calaismigrantsolidarity.wordpress.com/deaths-at-thecalais-border/) sowie der sehr sorgfältig gepflegten Zeitleiste: http://timeglider.com/ timeline/65ecd96fa599a9c6(beide 28.11.2019) und den dort verlinkten Quellen.

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Der »Dschungel von Calais«

ten, in Laderäumen erstickten oder zerquetscht wurden, oder im Zug- und Fernbusverkehr verunglückten; andere ertranken bei Versuchen, den Kanal in Booten oder schwimmend zu durchqueren, wurden Opfer von Gewaltverbrechen oder nahmen sich selbst das Leben. Ein zweijähriges Kind starb an einer Schussverletzung durch einen belgischen Polizisten.9 Exilierte berichten zudem von einer Zunahme von Vermisstenfällen seit dem Frühjahr 2019. Was Calais im Kontext der ›europäischen Migrationskrise‹ der Jahre 2015/16 kennzeichnete, war daher immer auch die Präsenz eines Geschehens, das in den Augen der Öffentlichkeit sonst der Außengrenze und dem Außenraum der EU zugeordnet wurde. Die mit Symbolorten dieser Krise assoziierten Bilder von Zeltcamps, elenden Lebensumständen und improvisierter Hilfe waren in Calais unvermittelt und unmittelbar im Zentrum Europas sichtbar. Der in diesem Buch vor allem analysierte »Dschungel« der Jahre 2015/16 lag direkt neben der Schnellstraße, die als Teil der Europastraße 40 zum Fährhafen führt und über die ein Großteil der jährlich rund 9 Millionen Fährpassagiere anreist; es dürften ihn also mehr Europäer_innen zumindest flüchtig gesehen haben, als jeden anderen ›Brennpunkt‹ der ›Migrationskrise‹, sei es Lampedusa, Idomeni oder Lesbos. Der »Dschungel« hat im Fokus der Öffentlichkeit gestanden und selbst Öffentlichkeit generiert, und ist insofern zu einem Symbol- und Erinnerungsort geworden.

»Der Dschungel« und die Jungles von Calais Es gab gleichwohl nicht nur einen, sondern viele »Dschungel von Calais«. Ihre Existenz erstreckt sich in historischer Hinsicht über den Zeitraum von den späten 1990er Jahren bis in die Gegenwart (und, soweit absehbar, noch in die kommenden Jahrzehnte hinein) sowie in geographischer Hinsicht über ein Gebiet von Nordspanien im Westen bis zur deutsch-belgischen Grenze im Osten. Wenngleich Calais immer den Mittelpunkt dieses Migrationsraumes bildete, gab oder gibt es auch bei Dünkirchen (Dunkerque), im Großraum Paris, in Brüssel und in einem guten Dutzend weiterer Kommunen Camps, die mit Calais interagierten und zwischen denen Binnenmigrationen bestanden.

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Der »Fall Mawda« löste in Belgien ein breites Echo aus und wurde Gegenstand politischer und juristischer Aufarbeitung; vgl. Michel Bouffioux, »Mort de Mawda: »Il n’y a pas eu d’injonctions, je suis catégorique«, Paris Match (20.12.2018). Siehe auch die Website www.justicepourmawda.be (19.8.2019).

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

In der Regel handelte es sich um improvisierte, informelle Niederlassungen von Exilierten, die sich auf der Reise nach Großbritannien befanden, jedoch über keine legale Einreisemöglichkeit verfügten oder zu verfügen glaubten. Immer entstanden die Camps in Reichweite möglicher Migrationspfade nach Großbritannien, also der Fährhäfen und der Infrastruktur des Frachtverkehrs (Parkplätze, Raststätten, Tankstellen) entlang der Autobahnen. Ihre Bewohner_innen stammten zumeist aus den bekannten Konflikt- und Kriegsgebieten bzw. Diktaturen des subsaharischen östlichen Afrika sowie des Mittleren und Nahen Ostens: Sudan, Äthiopien, Eritrea, Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran, Syrien und einige andere Staaten. Ihre Gründe für die Wahl des Ziellandes waren (und sind) plausibel. Ein sehr wichtiger Faktor war die Beherrschung der englischen Sprache, oft verbunden mit der Anwesenheit von Angehörigen, Freunden oder Communities in Großbritannien, aber auch kulturellen Affinitäten, dem Wunsch nach einer Ausbildung oder einem Studium, oder der Erwartung, dort ohne Papiere leben und arbeiten zu können. In der öffentlichen Wahrnehmung dominierten diese Transitmigrant_innen, doch repräsentierten sie den »Dschungel« um 2015/16 nicht mehr vollständig. Vielmehr waren nun Menschen hinzugekommen, die Calais als möglichen Zugang in das französische Asylsystem nutzten, während eines anhängigen französischen Asylverfahrens obdachlos geworden waren, im »Dschungel« die Gemeinschaft mit ihresgleichen suchten oder sich erst noch orientierten. Darüber hinaus trieb die Dublin-IIIVerordnung (also die zentrale Rechtsetzung der EU zur Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Durchführung von Asylverfahren) viele Geflüchtete dazu, in Calais das Verstreichen der sogenannten Überstellungsfrist abzuwarten, während der sie in das Land ihrer Erstregistrierung abgeschoben werden konnten. Eine solche innereuropäische Abschiebung macht das Erreichte zunichte und kann je nach Zielland eine existenzielle Bedrohung darstellen. Auch traumatische Erfahrungen konnten ausschlaggebend dafür sein, dass eine Person an Großbritannien als dem einmal fixierten Ziel festhielt, und die in Calais erlebte Gewalt und Demütigung durch die Polizei hatte für viele einen völligen Vertrauensverlust in den französischen Staat zur Folge,10 sodass die Passage nach Großbritannien für sie einer Flucht aus Frankreich gleichkam. In jüngster Zeit nahm außerdem die Zahl derjenigen zu, deren Asyl10

Vgl. zu diesem Aspekt Human Rights Watch, »›Like Living in Hell‹: Police Abuses against Adult and Child Migrants in Calais«, Juli 2017, S. 36-39, https:// www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/france0717_web_3.pdf (21.8.2019).

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Der »Dschungel von Calais«

verfahren in anderen Staaten, insbesondere in Deutschland, gescheitert war. Sie alle waren (und sind) darauf angewiesen, eine gewisse Zeit zu überbrücken, bis ihnen eine selbstorganisierte Grenzpassage glückte, sie die Dienste eines Schleusers in Anspruch nehmen konnten, sie einen Asylantrag in Frankreich stellten, sich eine andere Perspektive eröffnete oder sie sich dauerhaft in der sogenannten Illegalität einrichteten, um als Papierlose (Sans-papiers) in Frankreich zu bleiben oder als »Nomaden«11 in ein anderes europäisches Land weiterzureisen. Michel Agier hat diese Situation treffend als ein Leben in der Grenze im Sinne eines verstetigten Dazwischenseins oder auch als ein Gefangensein in der »Grenzfalle« beschrieben.12 Als Inbegriff dieser Situation setzte sich seit den ausgehenden 2000er Jahren die Bezeichnung Dschungel/Jungle durch und fand Eingang in den Sprachgebrauch sowohl der Exilierten als auch der Calaisiens – der Bürger_innen von Calais –, aber auch in die Sprache der Hilfsorganisationen und Solidaritätsgruppen, der Politik, der Medien, der Forschung, der Kunst und sogar der Polizei und des Rechtsextremismus. Der Begriff war eine Eindeutschung des französischen und englischen Worts jungle, das wiederum auf die paschtunische Bezeichnung djangal oder dzhangal zurückging, was mit Wald übersetzt werden kann. In einem Waldstück in einem Industriegebiet namens Zone des Dunes hatten paschtunischsprachige Geflüchtete vor mehr als zehn Jahren ein Camp so genannt. Mehrere nach- und nebeneinander existierende Camps hießen in den Folgejahren ebenfalls Jungle, manchmal mit Namenszusätzen, die sich auf die Herkunft der Bewohner_innen oder den Standort des Camps bezogen (so lag etwa der Tioxide Jungle auf einem Gelände neben der Firma Tioxide). Eigentlich also ein pragmatisch gewählter, situativ variierter und zudem in mehreren relevanten Sprachen verständlicher Ortsname, gingen die Jungles von Calais als »der Dschungel von Calais« (immer im Singular, oft in Anführungszeichen oder mit dem Zusatz sogenannt) in den deutschsprachigen Mediendiskurs ein. Diese Übersetzung aber machte aus dem Camp im Wald einen Zustand wie im Dschungel und schloss damit an kolonial und kulturindustriell fabrizierte Bilder des Wilden, Exotischen, Chaotischen, Bedrohlichen, Unzivilisierten, Abenteuerlichen und – man denke etwa an die als Dschungelcamp bekannte Unterhaltungssendung – des Ekelerregenden an. Vor

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Selbstbezeichnung eines äthiopischen Aktivisten gegenüber dem Verfasser im Mai 2019. Vgl. Michel Agier, Borderlands: Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition (Cambridge: polity, 2016), S. 58-79.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

diesem Hintergrund werde ich im Folgenden zwischen dem Jungle (im Sinne eines Ortsnamens und eines bestimmten Siedlungstyps) und »dem Dschungel« als dessen mediale Repräsentation unterscheiden. Diese Unterscheidung kommt der Intention Agiers und seiner Mitautor_innen entgegen und wird daher auch in der Übersetzung ihres Werkes aufrechterhalten. Agiers Buch analysiert das Phänomen der Jungles in seiner vollen historischen und geographischen Dimension, richtet den Fokus jedoch auf jenen spezifischen Jungle, der auf dem Höhepunkt der sogenannten Migrationskrise der Jahre 2015/16 zum Inbegriff des »Dschungel von Calais« wurde und eine enorme mediale Aufmerksamkeit erfuhr. Dieser größte und außergewöhnlichste aller Passageorte der Calaiser Migrant_innen existierte von April 2015 bis Oktober 2016 und durchlief in dieser kurzen Spanne einen Urbanisierungsprozess, sodass auf dem Territorium von Calais gleichsam eine zweite Stadt zu entstehen begann. Genau diese Qualität seiner Entwicklung aber ist im deutschsprachigen Diskurs kaum je zur Kenntnis genommen worden. Als sie sich vollzog, war der »Dschungel von Calais« fest mit Vorstellungen der Illegalität, des Kontrollverlustes und der sowohl humanitären als auch sekuritären und politischen Krise assoziiert. Er erschien als Grund für die ökonomischen Probleme der Stadt Calais, Ärgernis der Einheimischen, Bedrohung der Lastwagenfahrer_innen, Symptom erodierender Staatlichkeit und Auslöser rechtsextremer Wahlerfolge, sodass der Ruf nach einem entschlossenen Ein- und Durchgreifen (und alternativ nach humanitärer Intervention) nur logisch erschien. Diese Semantiken verstellten den Blick auf das Neuartige dieses New Jungle, wie manche ihn auch nannten. Er war eben kein informell oder ›illegal‹ entstandenes Camp, sondern ein von den französischen Behörden zugleich zugewiesener, moderierter, exkludierter und schließlich zerstörter Raum. Direkt neben dem Hauptverkehrsweg nach Großbritannien und unmittelbar vor den Grenzbefestigungen gelegen, beherbergte er zeitweise mehr als 10 000 Bewohner_innen und entfaltete ein komplexes soziales, politisches, ökonomisches, kulturelles und religiöses Leben. An seiner Entwicklung nahmen Tausende europäischer Staatsbürger_innen Anteil – etwa als freiwillige Helfer_innen, politische Aktivist_innen, Künstler_innen, Architekt_innen, Autor_innen, Mediziner_innen, Lehrer_innen, Handwerker_innen oder Forscher_innen – und banden ihn so auf zahlreichen Ebenen in die europäische Zivilgesellschaft ein. Agier spricht in diesem Zusammenhang vom »Ereignis Calais«.

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Der »Dschungel von Calais«

Geographien der Aufmerksamkeit Verbleiben wir für einen Augenblick bei der Rezeption des Jungle im deutschen Sprachraum. Wenn Agier vom »Ereignis Calais« spricht und damit die paradigmatische Bedeutung meint, die der Jungle als Handlungsort und Referenzraum einer ganzen Welle zivilgesellschaftlicher Solidarität entfaltete, so erreichte diese Mobilisierung Deutschland nur marginal. Natürlich reisten auch von hier aus Frauen und Männer als freiwillige Helfer_innen oder politische Aktivist_innen nach Calais oder Dünkirchen, und manchmal erschien es lokalen und überregionalen Medien wert, über sie zu berichten. Amy Nons eingangs zitierter Bericht handelt von einem solchen Aufenthalt in Calais13 und markiert zugleich den Beginn einer deutschsprachigen Literatur über den Jungle der Jahre 2015/16. Und natürlich leuchteten auch deutsche Journalist_innen und Fotograf_innen Calais genauer aus. Hamed Khamis arbeitete den empathischen Bericht seiner Calais-Reise zu einem ersten deutschsprachigen Buch aus.14 Christoph Oeschger legte einen beeindruckenden Fotoband vor15 und Tobias Müller fügte seine im Zeitraum von zehn Jahren entstandenen Reportagen in eine kritische Gesamtschau des Umgangs mit Migrant_innen on the move ein.16 Was in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch dominierte, war ein anderer Ereigniskomplex, der sich im Laufe des Jahres 2015 aus den Fußmärschen der Geflüchteten durch die Länder des Balkan, ihrem Eintreffen im bayerischen Grenzgebiet, ihrem gewaltsamen Zurückhalten am griechischen Grenzort Idomeni und schließlich dem sogenannten Flüchtlingsdeal mit Recep Tayyip Erdoğan zusammensetzte, während die »Kölner Silvesternacht« zur Jahreswende 2015/16 als eine Art Gegen-Ereignis eine völkisch-konservative Regression einleitete. Sukzessive verschob sich der Blick zudem auf das Mittelmeer mit seinem multiplen Charakter als Migrationsraum und Grenzbarriere sowie als Arena politischer Kämpfe um die Zurichtung Europas als Festung und die Spielräume zivilgesellschaftlicher Seenotrettung. Indem sich die mediale und politische Aufmerksamkeit nach Südosten und Süden richtete, strukturierte eine politische Geographie den Diskurs, die definiert war von der dreifachen Dynamik rasch entstehender und sich rasch 13 14 15 16

Siehe Fußnote 1. Hammed Khamis, I am not Animal: Die Schande von Calais (Berlin: Frohmann, 2016). Christoph Oeschger, Theyʼve Made us Ghosts (Zürich: Cpress, 2017). Tobias Müller, Hier draußen an der Grenze. Repressive Elendsverwaltung auf europäischen Migrationsrouten Hamburg: VSA, 2018), S. 9-14, 23-30, 61-68, 85-108.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

anpassender Routen einerseits, ihres Durchkreuzens durch reaktiv errichtete Grenzsperren, -zäune und Hafenschließungen andererseits sowie schließlich eines effektiven Managements der ›Masse‹, die es im Verlauf der ›Krise‹ nach Deutschland geschafft hatte, und des ›Restes‹, der danach noch kam. Calais lag gleichsam außerhalb dieser diskursiven Geographie: Seine Dynamik entfaltete keine raumgreifende Wirkung wie auf dem Balkan, im Mittelmeer oder in der Sahara, sondern konzentrierte sich auf einen einzigen, festen und scheinbar bereits hinlänglich vermessenen Ort. Sie bedingte keine Krise des europäischen Grenzregimes, ja, tangierte es nicht einmal, und schien nicht mit der Dramatik der Bootspassagen und der Seenotrettung verbunden zu sein. Umgekehrt fehlte in der politischen Geographie des Südostens das Spezifische des Jungle, nämlich seine an einem fixen Ort sichtbar gewordene Urbanität, und sei es nur, weil die Dauer des Camps von Idomeni zu kurz bemessen war und die allmähliche Urbanisierung des Lagers Moria auf der Insel Lesbos zu spät einsetzte, um von den Diskursen der Jahre 2015/16 noch erfasst zu werden. Auch in der deutschsprachigen Forschung blieb Calais ein Randthema. An ihrem Beginn steht ein Essay von Stefan Mörsch, der auf einer guten Kenntnis der lokalen Situation beruht und mit einem künstlerischen Projekt einhergeht: der detailgenauen Abbildung paradigmatischer Gebäude der Jungles in Form von Modellen.17 Der Münchener Verein bordermonitoring.eu ermöglichte etwas später die Veröffentlichung einer ersten monographischen Darstellung und eines Berichts über die Zeit nach der Räumung des Jungle, die ich gemeinsam mit Uwe Schlüper und Sascha Zinflou erstellte.18 Mit letzterem arbeitete ich außerdem die These der Urbanität des Jungle weiter aus.19 Keigh Bee untersuchte zur gleichen Zeit die Militarisierung des Grenz-

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Stefan Mörsch, »Der Jungle von Calais«, in: Amalia Barboza [et al.] (Hg.) Räume des Ankommens: Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht (Bielefeld: transcript, 2016), S. 206-16. Müller, Schlüper, Dynamiken (wie Anm. 7); Thomas Müller, Uwe Schlüper, Sascha Zinflou, Querung des Kanals: Calais, der Brexit und die Bootspassagen nach Großbritannien, Edition bordermonitoring.eu, Bd. 5 (München: bordermonitoring.eu, 2019). Siehe auch Thomas Müller, »Raum und Grenze des Jungle von Calais«, in: Andreas Fickers [et al.] (Hg.), Jeux sans frontières? Grenzgänge der Geschichtswissenschaft (Bielefeld: transcript, 2017), S. 95-108. Thomas Müller, Sascha Zinflou, »Die Urbanität des Jungle: Calais und die Möglichkeit einer migrantischen Stadt«, movements (2018), H. 2, S. 129-60.

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Der »Dschungel von Calais«

regimes.20 Didier Fassin, Anthropologe wie Agier, ging im Rahmen der Frankfurter Adorno-Vorlesung des Jahres 2016 auf den Jungle ein und fand damit einigen medialen Widerhall.21 Agier selbst reflektierte in einem Beitrag für die Zeitschrift des Potsdamer Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung über den Begriff des Lagers. Dessen gegenwärtige Bedeutung erschließe sich, so argumentierte er, nicht aus der Reduktion auf Situationen des Elends oder in Kategorien der Hilfe, noch weniger in Analogie zu den totalitären Lagerregimen des 20. Jahrhunderts, sondern viel eher aus genau jenen Mischformen von Camp und Lager, wie sie an Orten wie dem Jungle sichtbar würden und deren spezifische und kosmopolitische Lebensform es möglichst genau zu erfassen gelte.22 Sichtbar wurde der Jungle in Deutschland im Jahr 2019 nicht zuletzt in der Präsentation von Werken Ai Weiweis in Düsseldorf, die durch seinen Dokumentarfilm Human Flow kontextualisiert wurden,23 sowie im Kinofilm Roads von Sebastian Schipper,24 der, in eine fiktionale Handlung eingebettet, ein präzises Abbild der gegenwärtigen Situation gibt. Den Jungle im Wissen um seine Not und Unsicherheit als einen dennoch humanen Ort zu begreifen, nach seinem Potenzial als Laboratorium von Kosmopolitismus und Urbanität zu fragen, ihn als einen Ort des Ankommens und des Lebens im Transit ernst zu nehmen, über die Reduktion der ihm unbestritten innewohnenden Risiken nachzudenken und seine relative und ambivalente Autonomie zu verstehen und zu verteidigen, war wohl in der einen oder anderen Form das Anliegen all dieser dokumentarischen, theoretischen und künstlerischen Beiträge, wurde jedoch nicht Teil der hegemonialen politischen Diskurse. Gleichwohl warf der Jungle sehr konkret die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort Exilierter in einem Jahrhundert der Migration oder, was sich immer deutlicher abzeichnet, ihrer gewaltsamen Verhinderung auf – und umriss zugleich eine mögliche und in einem empirischen Sinne realistische Antwort. Nimmt man dies ernst, so erscheint der Jungle eben nicht

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Keigh Bee, »Calais und die Grenzindustrie: Profiteure der EU-Migrationspolitik«, IMIAnalyse Nr. 5/2017, Hg. Informationsstelle Militarisierung e.V., www.imi-online.de/download/IMI-Analyse2017-5-Calais-web.pdf (19.8.2019). Didier Fassin, Das Leben: Eine kritische Gebrauchsanweisung. Übs. Christine Pries (Berlin: Suhrkamp, 2017), S. 61-68. Michel Agier, »Betriebsamkeit der Hilfe – Länge des Wartens: Zur Temporalität in den Lagern der Gegenwart«, Zeithistorische Forschungen, 15 (2018), S. 498-508. Ausstellung Ai Weiwei der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, 18.5.–1.9.2019; Human Flow, Regie: Ai Weiwei, Deutschland 2017. Roads, Regie: Sebastian Schipper, Deutschland 2019.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

als ein »Dschungel«, den es zu zivilisieren gelte, sondern lässt im Gegenteil die Möglichkeit einer migrantischen Stadt von relativer Autonomie im Kern Europas aufscheinen.

Die Möglichkeit einer migrantischen Stadt Sich mit dem Jungle zu beschäftigen, bedeutet vor diesem Hintergrund, an die Grenzen dessen zu gelangen, was im hegemonialen Diskurs über den Ort denkbar ist, den Exilierte und Papierlose außerhalb der staatlichen In-/Exklusionsverwaltung, gleichwohl aber innerhalb der Gesellschaft einnehmen dürfen, können und sollen. Das Faktum der ungeplanten und ungewollten Urbanisierung des Jungle definiert den gesellschaftlichen Ort der Migration in Europa mithin grundlegend anders.25 An einem solchen Ort greifen gängige Denk- und Handlungsmuster, mit denen Migration narrativ vermittelt, politisch verhandelt und administrativ gemanagt wird, nicht mehr (oder erst wieder nach einer gewaltsamen Intervention). Das Fremde ist dort nicht fremd, gleichwohl ist die Gesellschaft in hohem Maße divers. Ein Apriori, an dem sich gesellschaftliche Integration bemessen ließe, existiert nicht, sehr wohl hingegen das Erfordernis von Konvivialität und Kohabitation. Eine Administration, die über Aufnahme und Ausschließung entscheiden und einen bestimmten rechtlichen Status zuweisen, befristen oder entziehen könnte, existiert nicht, sodass voraussetzungslos stets das Überleben Aller zur Disposition steht und zu regeln ist. Die staatlichen Behörden griffen nicht befriedend und stabilisierend in das innere Leben dieses Ortes ein. Sie schlossen ihn vielmehr aus dem staatlichen Rechtsraum aus und stellten in seinem Inneren keine Sicherheit her, sodass es an den Bewohner_innen selbst war, ihre individuellen und kollektiven Konflikte in irgendeiner Weise zu regeln. Mit der Verstädterung des Jungle wurde zudem eine Form prekärer Urbanität im Zentrum Europas erkennbar, die auf globaler Ebene seit einigen Jahrzehnten die vorherrschende und dynamischste Form der Urbanisierung darstellt26 und im Deutschen meist mit dem Wort Slum umschrieben wird.

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Vgl. hierzu und zum Folgenden Müller, Zinflou, Urbanität (wie Anm. 19). S.a. Dan Hicks, Sarah Mallet, Lande: The Calais Jungle and Beyond (Bristol, Chicago: Bristol UP, 2019). Vgl. Mike Davis, Planet der Slums, Übers. Ingrid Scherf, 2. Aufl. (Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2011); Julien Damien, Une monde de bidonvilles: Migrations et urbanisme informel (Paris: Seuil, 2017).

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Der »Dschungel von Calais«

Irreguläre und informelle Formen der Urbanisierung waren aber auch den europäischen Städten des 19. und 20. Jahrhunderts nicht fremd. Agier und seine Mitautor_innen beschreiben den Übergangszustand zwischen camp und cité mit dem im Deutschen nicht gebräuchlichen Wort bidonville, vergleichbar etwa mit dem englischen shantytown. Der Begriff leitet sich von den als Material für Behelfsbauten verwendeten Eisenkanistern (frz. bidon) ab und bezeichnete in den 1930er Jahren informelle Siedlungen bei Algier, Tunis und Casablanca, nach dem Zweiten Weltkrieg dann Baracken- und Hüttensiedlungen in der Peripherie kontinentalfranzösischer Großstädte. Sie beherbergten zeitweise etwa 75 000 Menschen – meist Luftkriegsopfer gefolgt von Arbeitsmigrant_innen – und verschwanden in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, als ihre Bewohner_innen beispielsweise in die neu errichteten Wohnkomplexe der Banlieus umgesiedelt wurden.27 Indem die Autor_innen auf den Begriff des Bidonville rekurrieren, ordnen sie den Jungle also einem doppelten Kontext zu: der globalen Transformation des Städtischen einerseits und einer gekappten Entwicklungslinie der ›eigenen‹ französischen Städte andererseits. Um diese Einordnung des Jungle in die europäische Geschichte erkennbar zu halten, haben wir den Terminus Bidonville in der vorliegenden Übersetzung beibehalten. Was mich bei einer Untersuchung des Jungle-Geländes kurz nach der Räumung am meisten erstaunte, war die Vehemenz, mit der der Boden von allen sichtbaren Spuren der fortgeschafften Exilierten gesäubert und eingeebnet worden war. Offenbar war es den politischen Akteur_innen wichtig gewesen, nicht einfach nur die Bestandteile der Siedlung abzutransportieren, sondern den Ort in eine Tabula rasa zu verwandeln und ihn dann neu zu codieren. Der Architekt und Mitautor dieses Buches Cyrille Hanappe sprach in einem Kommentar für die Zeitung Libération von einem »Urbizid« im Sinne der systematischen Zerstörung eines komplexen Gemeinwesens.28 Die Neucodierung erfolgte schrittweise und ist wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen. Zunächst wurde das geleerte Areal im Januar 2017 zur Sperrzone erklärt. Während der südliche Teil des Gebiets bis heute als Brache daliegt, ist der nördliche durch ein EU-gefördertes Renaturierungsprojekt inzwischen mit einer vollkommen neuen Topographie versehen worden und bietet als scheinbar natürlich entstandenes Dünenareal nun Zugvögeln – oiseaux migrateurs im 27 28

Vgl. Muriel Cohen, Marie-Claude Blanc-Chaléard, »Schwellen zur Stadt: Die Bidonvilles im Frankreich des 20. und 21. Jahrhunderts«, dérive (2018) 71, S. 24-31. Cyrille Hanappe, »Les leçons urbaines de la jungle«, Libération (6.3.2016).

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

Französischen – anstelle der migrierenden Menschen Schutz. Was die Wüstung des Jungle heute vor allem aussagt, ist die scheinbare Unmöglichkeit einer migrantischen Stadt in Calais. Danach stand die frühzeitige Räumung jedes neu entstehenden Camps im Mittelpunkt des behördlichen Handelns, als solle ein potentieller neuer Jungle bereits im Keim wieder erstickt werden. Insofern blieb der Jungle als negativer Bezugspunkt polizeilichen Handelns in Calais gegenwärtig. Die im Jahr 2017 abgeschlossene Analyse Agiers und seiner Mitautor_innen reicht bis zu diesem Punkt. Was aber geschah seitdem?

Calais ohne Jungle Es stimmt nicht ganz, dass die Spuren dieses urbanen Jungle vollständig getilgt sind. Erhalten geblieben ist die mit Graffiti übersäte Brücke an seinem Rand, über die die Schnellstraße in Richtung Fährhafen führt und unter der die rue des Garennes schnurgerade durch das Industriegebiet Zone des Dunes auf das Stadtzentrum zuläuft. Die Brücke hatte das Portal gebildet, durch das man den Jungle betrat, und der an ihr angebrachte Schriftzug London Calling war zu seinem Symbol geworden. Der Schriftzug wiederum umgab Banksys Werk The Son of a Migrant from Syria, das den Unternehmer Steve Jobs als einen Flüchtling darstellte, der den ersten Apple-Rechner mit sich trägt. Bei der Entstehung des Bildes schien sich Jobs zwischen den Zelten des Jungle zu bewegen. Nach der Räumung blieb er wie ein Denkmal zurück, wurde nach einiger Zeit von Unbekannten übersprüht, dann mit Edding-Strichen in einen Mann mit Bierkasten verwandelt und danach ein weiteres Mal übersprüht. Auch das Denkmal wurde also getilgt, bevor der Künstler XVALA es 2019 zu einem Denkmal für das zerstörte Denkmal umarbeitete. Dennoch bietet die Brücke einen guten Nullpunkt, um die heutige politische Geographie Calaisʼ zu vermessen, und die andauernde Veränderung des Banksy-Murals stellt eine gute Metapher für die ständige Neukonfiguration der Situation dar, aus der 2019 dann eine neue Dynamik erwachsen sollte.29 Das Gelände des ehemaligen Jungle offenbart sich von diesem Punkt aus als eine Sicherheitszone. Sie verschließt den Raum zwischen der Hafenschnellstraße und einem Jagdgebiet, das die nur wenige hundert Meter 29

Zum Folgenden vgl. ausführlich Müller, Schlüper, Zinflou, Querung (wie Anm. 18) sowie die dort angegebenen Quellen. S.a. Hicks, Mallet, Lande (wie Anm. 25).

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Der »Dschungel von Calais«

entfernte Küste kilometerweit begleitet und an dessen Zaun mehrsprachige Schilder vor Schüssen und Fallen warnen. Entlang der Schnellstraße wiederum waren die Hochsicherheitszäune bereits zur Zeit des Jungle durch eine Mauer verlängert worden. Mit der Mauer verlagerten sich diese Versuche der Geflüchteten, auf die Fahrbahn und in einen Lastwagen zu gelangen, um einige Kilometer. Dort, wo sie endet, entstand Anfang 2019 das vielleicht groteskeste Bauwerk der Calaiser Grenze: eine hohe Betonmauer rund um das Grundstück einer von Lastwagenfahrer_innen frequentierten Tankstelle. Wer die Mauer sieht, ohne ihren Zweck zu kennen, würde hinter ihr ein Gefängnis vermuten oder an Berlin vor 1989 denken. Der wichtigste Schauplatz aber ist die Zone des Dunes. Wie bereits erwähnt und von Agier genauer analysiert, spielt sich ein großer Teil des Migrationsgeschehens seit nunmehr zwanzig Jahren in diesem weitläufigen Industriegebiet und seinen zahlreichen Brach- und Waldparzellen ab, von denen eine, der Dubrulle-Wald, namensgebend für die Jungles war. Auf einem Brachgelände zwischen diesem Wald und einer kleinen Seitenstraße namens rue des Verrotières entwickelte sich nach der Räumung des Jungle der größte und wichtigste Treffpunkt der Exilierten; allmählich und in einem schnellen Wechsel von Räumung und Wiederaufbau entstanden hier auch kleine Zeltcamps. Gleichzeitig nutzten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen dieses Gelände, um Wasser und Lebensmittel sowie andere Versorgungsgüter, Informationen und WLAN zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck hatten sie – wie im vorletzten Kapitel dieses Buches geschildert – juristisch gegen Verbote durch kommunale und staatliche Behörden vorgehen müssen und im Sommer 2017 vor dem Staatsrat, dem obersten Gericht Frankreichs, Recht erhalten. Gleichzeitig hatte das Gericht die Behörden verpflichtet, selbst die Grundversorgung zu gewährleisten und menschenwürdige Unterkünfte bereitzustellen. Da diese widerwillig organisierten Hilfen unterdimensioniert waren oder an das Verlassen des Grenzraums gekoppelt wurden, blieben die lokalen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die sich zur Zeit des Jungle professionalisiert oder überhaupt erst gebildet hatten, maßgeblich für die Versorgung der Geflüchteten. Indem sie sich den neuen Bedingungen anpassten und beispielsweise mobile Teams einsetzten, die seitdem regelmäßig die Aufenthaltsorte der Exilierten anfahren, stellten sie Orte des Respekts in einem Raum fabrizierter Feindseligkeit her. Der Wert des Treffpunkts an der rue des Verrotières lag daher nicht nur in der Bereitstellung materieller Güter. Er war vielmehr ein Ort, an dem Musik gehört und Fußball gespielt wurde und der

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

angesichts der Suspension normalen menschlichen Daseins im Schatten der Grenze einen prekären und limitierten Raum der Normalität eröffnete. Die bis heute anhaltende und noch keineswegs an ihr Ende gelangte Ausdehnung der Grenze charakterisiert Michel Agier als Hypertrophie, was in der Medizin das unverhältnismäßige und pathologische Wachstum eines Körperteils beschreibt.30 Die hier umrissene Entwicklung ist Teil dieser Hypertrophie der Grenze. Sie erfolgt nicht nur entlang der Verkehrswege und über Passageorte wie den Jungle und den Treffpunkt an der rue des Verrotières hinweg, sondern zugleich in das prekäre Dasein, ja selbst in die Körper und Seelen der Exilierten hinein. Die vielfach dokumentierte Polizeigewalt zielt in der Post-Jungle-Phase nicht nur auf das Fernhalten von den verbliebenen Migrationspfaden, den Entzug von Raum und das Verdrängen in die Peripherie oder, wie Agier es weiter unten nennen wird, in die Ritzen und Zwischenräume der Stadt. Indem in einem manchmal wöchentlichen und manchmal täglichen Rhythmus, meist in den frühen Morgenstunden, die Schlafplätze der Migrant_innen zerstört, ihre Zelte unbrauchbar gemacht, ihre Decken und Schlafsäcke mit Reizgas kontaminiert, ihre Mobiltelefone zerstört, ihre Körper verletzt, und indem zugleich die Hilfeleistungen der Zivilgesellschaft erschwert und behindert werden,31 sind ihnen vitale und regenerative Ressourcen wie Ruhe und Schlaf entzogen. Neben zivilgesellschaftlichen Initiativen und internationalen Menschenrechtsorganisationen32 hat u.a. der Défenseur des droits, eine unabhängige Behörde der Französischen Republik zum Schutz der Grundrechte, eindringlich hierauf hingewiesen.33 Wenn wir den Jungle als Stadt im Ausnahmezustand begreifen konnten, haben wir es 30 31

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Siehe die Überlegungen im Schlusskapitel dieses Buches. Vgl. u.a. Eleonore Vigny, »Calais: The Police Harassment of Volunteers, Study from 1st November 2017 to 1st July 2018«, Hg. Auberge des Migrants [et al.], https:// helprefugees.org/wp-content/uploads/2018/08/Police-Harrassment-of-Volunteersin-Calais-1.pdf; Auberge des Migrants [et al.], »Les expulsions de terrain à Calais et Grande-Synthe: 1er août 2018 – 1er juin 2019«, www.laubergedesmigrants.fr/wpcontent/uploads/2019/06/Les-Expulsions-de-Terrain-a-Calais-et-aĚ-Grande-SyntheFR-2.pdf (alle 19.8.2019). Human Rights Watch, »Like Living« (wie Anm. 10); Amnesty International, »Targeting Solidarity: Criminalization and Harassment of People Defending Refugee and Migrant Rights in Northern France«, 26.5.2019, https://www.amnesty.org/download/ Documents/EUR2103562019ENGLISH.PDF (alle 19.8.2019). Défenseur des droits, »Exilés et droits fondamentaux: Trois ans après le rapport de Calais, decembre 2018«, https://www.defenseurdesdroits.fr/sites/default/files/atoms/files/rapport_calais-num-14.12.18_0.pdf (19.8.2019).

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Der »Dschungel von Calais«

nunmehr mit einem Ausnahmezustand ohne den relativen Schutz zu tun, den diese Stadt als Regenerationsraum immer auch bot. Betrachten wir die Entwicklung in ihrem zeitlichen Ablauf, so zeigt sich eine relativ konstante Situation seit dem Winter 2016/17, bevor ab Ende 2018 einige wesentliche Veränderungen eintraten. Während dieser Zeit lebten in Calais meist um die 400 bis 700 Exilierte (manchmal bis zu 1000, hin und wieder auch nur 300), hinzu kamen eine vergleichbare Zahl in der Kleinstadt Grande-Synthe bei Dünkirchen, größere Gruppen in Brüssel und Paris und weitere verstreut in kleinen Camps. Dabei veränderte sich die Zusammensetzung der exilierten Bevölkerung laufend: mal stellten afghanische, mal äthiopische, eritreische oder iranische Staatsangehörige die Mehrheit. Diese Veränderungen resultierten u.a. aus Binnenmigrationen zwischen Calais, Dünkirchen, Paris und Brüssel. Bereits zur Zeit des Jungle war ein Teil seiner afghanischen Bewohner_innen nach Grande-Synthe gewechselt, wo bis dahin hauptsächlich irakische Kurd_innen lebten. Nach der Räumung des Jungle besiedelte ein Teil der Sudanes_innen, die dort zuletzt die größte Gruppe gebildet hatten, den Brüsseler Maximilian-Park, wo sie zeitweise eine Hüttensiedlung ähnlich des Jungle errichteten und bemerkenswerte Solidarität durch die Stadtgesellschaft erfuhren. Bis heute werden dort hunderte sudanesische und eritreeische Menschen in Bürger_innenasylen, also von Einwohner_innen des Großraums Brüssel in ihren privaten Wohnungen, beherbergt. Sowohl in Calais, als auch in Grande-Synthe und Brüssel nahm der Anteil derjenigen zu, die nach einem gescheiterten Asylverfahren aus Deutschland gekommen waren, wo manche mehrere Jahre lang gelebt und die deutsche Sprache erlernt hatten. Die Ende 2018 stark gestiegene Anzahl der Iraner_innen wiederum resultierte wohl vor allem aus einer zeitweilig leichten Einreisemöglichkeit über Serbien und ging mit der Etablierung eines neuen Migrationspfades zur Querung des Ärmelkanals einher: Bootspassagen, von denen noch die Rede sein wird. Die Verknappung der gangbaren Migrationspfade bewirkte in der PostJungle-Phase ein anhaltend hohes Preisniveau seitens der Schleuser_innen, sodass viele Migrant_innen von dieser Dienstleistung ausgeschlossen bleiben und über Monate, manchmal Jahre hinweg nach ihrer Gelegenheit suchen. Manche greifen daher zu hochriskanten Techniken bis hin zu Versuchen, den Kanal zu durchschwimmen. Ein irakischer Mann, der in Deutschland vergeblich Asyl gesucht hatte und dessen Leiche am 23. August 2019 bei Seebrügge

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

gefunden wurde, trug eine Schwimmweste aus leeren Plastikflaschen.34 Zwei weitere Iraker, deren Leichen am 14. Oktober 2019 am Strand von Le Touquet gefunden wurden, hatten in einem unmotorisierten Boot die Kanalquerung versucht.35 Ein anderer Effekt ist die stärkere oder erstmalige Nutzung entfernt gelegener Fährhäfen, etwa in der Normandie und der Bretagne sowie in den spanischen Städten Bilbao (wo ein Camp entstand) und Santander. In Belgien dehnte sich der Migrationsraum entlang der Europastraße 40 von Ostende über Brüssel weiter nach Lüttich und zum belgisch-deutschen Grenzübergang Lichtenbusch bei Aachen aus. Die dort zuständige Bundespolizeiinspektion berichtete im Sommer und Herbst 2018 über mehrere Fälle, bei denen meist äthiopische Migrant_innen versucht hätten, in Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen. Insofern berührt die Ausweitung des Migrationsraums auch Deutschland, wenngleich in marginalem Ausmaß, auf punktuelle Weise und beschränkt auf den äußersten Westen. »Calais Jungle is not ›finished‹, it has spread far and wide«, beschrieb Chiara Lauvergnac die Situation im August 2019.36

Ein neuer Jungle in einem veränderten Kontext Während der Jungle als Stadt verschwunden ist, war er knapp drei Jahre später als Camp wieder existent. Er entstand schleichend aus kleinen Camps unter den fortwirkenden Bedingungen ständiger Räumungen und Vertreibungen, und es ist nicht einmal gewiss, ob er bei Erscheinen dieses Buches noch an seinem jetzigen Ort und in seiner jetzigen Form existieren wird. Heute, Ende 2019, befindet er sich in der Zone des Dunes unweit des geräumten Jungle der Jahre 2015/16, setzt sich aus verschiedenen Camps zusammen, erstreckt 34

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Vgl. »Irakischer Flüchtling ertrinkt im Ärmelkanal«, Spiegel online (27.8.2019), https:// www.spiegel.de/politik/ausland/aermelkanal-irakischer-fluechtling-ertrinkt-trotzschwimmweste-aus-plastikflaschen-a-1283792.html; C alais Migrant Solidarity, »Another Person Missing in the Channel« (21.8.2019), https://calaismigrantsolidarity. wordpress.com/2019/08/21/another-person-missing-in-the-channel/ sowie die dort verlinkten Medienquellen (beide 27.8.2019). Vgl. »Deux migrants retrouvés morts sur une plage du Pas-de-Calais«, Le Monde (14.10.2019), https://www.lemonde.fr/international/article/2019/10/14/deuxmigrants-retrouves-morts-sur-une-plage-du-pas-de-calais_6015503_3210.html (28.11.2019). Chiara Lauvergnac, »News from the Borders: Calais and Dunkirk«, 15.8.2019, https:// freedomnews.org.uk/news-from-the-borders-calais-and-dunkirk/ (21.8.2019).

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Der »Dschungel von Calais«

sich entlang einer Seitenstraße zu beiden Seiten in Wald- und Brachflächen hinein, nimmt eine bemerkenswerte Fläche in Anspruch und wird mit einer Selbstverständlichkeit als Jungle benannt, als hätte es nie die Zäsur der Schleifung gegeben. Im Zentrum des Jungle befindet sich ein Gelände, das nach einer Teilräumung im Herbst 2019 planiert und umzäunt worden ist und als vollständig leerer Raum in groteskem Gegensatz zu den umgebenden, nun noch weiter in die Zwischenräume des Industriegebiets vordringenden, Camps steht. Er besitzt nichts von den soziokulturellen Infrastrukturen und ökonomischen Nischen des alten urbanen Jungle, sondern ist ein Zeltcamp mit mehreren hundert Bewohner_innen unterschiedlicher Nationalität, deren Alltag hochgradig prekär ist. So ereignete sich der vorletzte vor Drucklegung dieses Buches dokumentierte Todesfall hier: ein nigerianischer Bewohner starb in der Nacht zum 1. November 2019 in seinem Zelt an einer Kohlenmonoxidvergiftung, die durch ein zum Kochen und Wärmen genutztes Feuer verursacht worden war. Gleichzeitig verhindern die etwa alle zwei Tage in den frühen Morgenstunden stattfinden Polizeiübergriffe, dass anstelle der (häufig gezielt zerstörten) Zelte geeignetere Behausungen wie etwa Hütten entstehen können. In dieser Prekarität gleicht der Jungle seinen Vorläufern in den 2000er Jahren. Anderes hat sich verändert: Viele der Menschen, die hier leben, sind aus Deutschland hierhin gekommen, nachdem ihr Asylverfahren gescheitert war oder sie keine Perspektive mehr darin sahen. Mehr als jeder frühere Jungle ist dieser neue damit auch Effekt und Spiegel der rechtlichen und gesellschaftlichen Verschärfungen, die Exilierte in Deutschland erleben.37 Diese Wiederkehr des Jungle als Camp ist Teil einer hoch komplexen Situation, die sich in den Jahren 2018/19 aus der Gleichzeitigkeit und Kulmination mehrerer Entwicklungslinien ergab, von denen einige völlig unerwartet waren und die Calais wieder zu einem eminent politischen Ort werden lassen. Sie konstituieren kein neues »Ereignis Calais« im Sinne Agiers, sehr wohl aber transformieren sie die Situation der Post-Jungle-Phase und markieren damit einen Wendepunkt. Diese neuen Entwicklungen fallen zeitlich mit den Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über den Brexit, mit den britischen Regierungskrisen um die gescheiterten Austrittstermine am 29. März und 31. 37

Hierin wirkt sich auch die zeitversetzte Ablehnung einer großen Zahl der ab 2015 begonnenen Verfahren aus, während vergleichbare Verschärfungen auch in Frankreich und anderen als liberal geltenden EU-Staaten stattgefunden haben.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

Oktober 2019 sowie mit dem Konflikt um ein mögliches No deal-Szenario zusammen. Da das französisch-britische Grenzregime jedoch weniger im supranationalen EU-Recht, sondern in zwischenstaatlichen Verträgen geregelt ist, bleibt es vom Brexit im Kern unberührt, wenngleich nach dem Austritt sicherlich Neujustierungen erfolgen werden und die grenzpolizeiliche Kooperation mit Frankreich für Großbritannien an Bedeutung gewinnen wird. Als Emanuel Macron und Theresa May am 18. Januar 2018 im britischen Sandhurst den Vertrag Concerning the Reinforcement of Cooperation for the Coordinated Management of their Shared Border unterzeichneten,38 bekräftigten sie damit die Geltung und Fortentwicklung der früheren Vereinbarungen über die Zäsur des Brexit hinaus. Der Vertrag war eingebettet in eine Anzahl weiterer Vereinbarungen größtenteils sicherheitspolitischer Natur, sodass Calais in den Kontext eines polizeilich-militärischen Dispositivs der Absicherung des für Großbritannien vitalen Verkehrsstroms über den Kanal gestellt ist. Darin deutet sich eine weitere Hypertrophie der Grenze an, zugleich aber auch ihr Dilemma: Denn weil der Frachtstrom elementar für die Versorgung, die Ökonomie und die soziale Stabilität der Insel ist, wird es nicht möglich sein, ihn anzuhalten; er wird mithin nie vollständig zu kontrollieren sein. Was aber, wenn die Wiedereinführung umfassender Zollkontrollen lange Rückstaus auf französischem Gebiet bewirken und auf diese Weise günstige Migrationsgelegenheiten schaffen sollte? Diese Frage bildet den Kern der meisten Spekulationen über und der Vorbereitungen auf den Tag des Brexit in Calais. Was am Ende geschehen wird, wird vielleicht erst nach Erscheinen dieses Buches absehbar sein. Für das Verständnis der Wendesituation ist dies jedoch insofern relevant, als dass hier ein mögliches Motiv für die sukzessive Erhöhung des polizeilichen Drucks im Laufe der Jahre 2018/19 liegt. Geschehen ist in diesem Zeitraum allerdings etwas nicht Erwartetes. Im Oktober und November 2018 wurde erstmals registriert, dass deutlich mehr Migrant_innen den Kanal in Booten überquerten.39 Zwar hatte es solche Passagen auch in den Vorjahren gegeben, doch waren diese punktuell erfolgt und aufgrund der nautischen Verhältnisse schwierig. Zur Jahreswende 2018/19 war unverkennbar, dass – erstmals überhaupt in dieser Region Europas – 38

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Treaty of Sandhurst: Treaty between the Government of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the Government of the French Republic Concerning the Reinforcement of Cooperation for the Coordinated Management of their Shared Border, Treaty Series No. 1 (2018) Cm 9568. Zu den Bootspassagen vgl. ausführlich Müller, Schlüper, Zinflou, Querung (wie Anm. 18), S. 47-60, 71.

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Der »Dschungel von Calais«

eine neue maritime Migrationsroute entstand. Im gesamten Jahr 2018 zählte das britische Innenministerium die ›illegale‹ Passage von 539 Menschen (davon allein 434 in den Monaten Oktober bis Dezember), von denen 227 durch die französischen Behörden abgefangen worden seien und demnach 312 Großbritannien erreicht haben. Nach einem Rückgang während der Wintermonate wurde deutlich, dass die Route mit der wärmeren Witterung wieder auflebte und sie damit nicht nur ein temporäres Phänomen war: Von Januar bis November 2019 passierten mindestens 1400 Migrant_innen den Kanal auf Booten, deren Zahl von 12 im Jahr 2017 und 71 im Jahr 2018 auf 240 im Jahr 2019 anstieg.40 Die Passagen erfolgten mit Hilfe halbwegs seetauglicher, motorisierter Schlauch- und kleiner Motorboote, wurden überwiegend von Schleuser_innen zu hohen Preisen organisiert und zunächst meist von Iraner_innen in Anspruch genommen; viele von ihnen waren 2018 auf dem Luftbzw. Landweg nach Europa gelangt und daher nicht durch die Überquerung des Mittelmeers traumatisiert. Anders als vielfach angenommen, scheint diese neu Migrationstechnik bislang sicherer zu sein als die Grenzpassage mithilfe von Lastwagen, Zügen, unmotorisierten Booten und Schwimmhilfen. Bis zum Sommer 2019 wurden keine Todesfälle bekannt, allerdings stürzte am 9. August 2019 eine Iranerin während einer Bergung von Bord und ertrank.41 Die Innenminister Frankreichs und Großbritanniens hatten bereits am 24. Januar 2019 mit einem gemeinsamen Aktionsplan reagiert,42 dessen zentrales Element die Rückschiebung der auf See Aufgegriffenen nach Frankreich ist – was bislang allerdings nur in geringer Zahl durchführbar war und die erhoffte Frustrationswirkung verfehlt hat. Währenddessen kulminierten im März 2019 mehrere Entwicklungen: Zunächst überwanden am 2. März zwischen 100 und 200 Exilierte unterschiedlicher Nationalität die Absperrung des Calaiser Fährhafens. Viele gelangten un-

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Vgl. »Dans la Manche, les tentatives de traversée continuent malgré l'hiver«, Info Migrants (26.11.2019), https://www.infomigrants.net/fr/post/21094/dans-la-mancheles-tentatives-de-traversee-continuent-malgre-l-hiver (28.11.2019); »How Migrants cross the Channel«, BBC 1.9.2918, https://www.bbc.com/news/av/uk-49530997/howmigrants-cross-the-channel-from-calais (3.9.2019). Vgl. »Body Found in Search for Missing Channel Migrant«, BBC 29.8.2019, https://www. bbc.com/news/uk-england-kent-49515772(3.9.2019) Joint Action Plan by the UK and France on Combatting Illegal Migration Involving Small Boats in the English Channel, 24.1.2019, https://assets.publishing.service. gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/773403/UK_ France_declaration_24_Jan_13.00.pdf(19.8.2019).

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

ter hohem Risiko auf eine Kanalfähre und versteckten sich auf ihr in der Hoffnung auf eine Passage, was einigen wenigen wohl auch gelang. Auch wenn es früher bereits koordinierte Anstürme, etwa auf das Gelände des Kanaltunnels, auf die Schnellstraße zum Fährhafen und auch auf den Hafen, gegeben hatte, so war dies die erste Aktion dieser Art und dieses Umfangs seit der Räumung des Jungle im Jahr 2016. Mit ihr manifestierte sich die Fähigkeit einer großen Anzahl Exilierter zu kollektivem Handeln, auch über die Trennungs- und Konfliktlinien hinweg, die sich in den Vorjahren zwischen den Herkunftsgruppen wieder vertieft hatten. Die Aktion realisierte zugleich ein Worst-caseSzenario der Polizei- und Grenzbehörden beider Staaten, denn das Grenzregime wurde hier an einem seiner am stärksten gesicherten und am meisten im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Punkte partiell durchbrochen, ohne dass die Behörden es im Vorfeld registriert oder vor Ort verhindert hätten. Da aber genau diese präventive Migrationsabwehr ein Kernstück der zwischenstaatlichen Vereinbarungen der vergangenen Jahre bildet, hohe Investitionen in diesen Bereich erfolgt sind und engmaschige Berichtspflichten an die Innenministerien bestehen, dürfte dieses Ereignis auch auf höchster politischer Ebene wahrgenommen worden sein.43 Zehn Tage später, am 12. März, räumten die Behörden den wichtigen Treffpunkt und Siedlungsplatz der Exilierten an der rue des Verrotières. Die Räumung war keine Reaktion auf die Fährbesetzung, sondern war lange zuvor von der Stadt Calais und einer privaten Firma als Grundstückseigentümer vorbereitet und am 22. Februar 2019 gerichtlich verfügt worden.44 Während anhaltender Proteste und Versuche der Wiederbesiedlung wurde das Areal mit einem massiven Metallzaun umgeben, woraufhin die Exilierten auf andere Plätze auswichen und schließlich der neue Jungle entstand. Vor dem Hintergrund dieser beiden Ereignisse trat am 26. März 2019 eine politische Organisation von Exilierten an die Öffentlichkeit: das Kollektiv Appel dʼAir. Es wurde hauptsächlich von afrikanischen Aktivist_innen gegründet, vertritt ein nationalitäten- und statusübergreifendes Selbstverständnis, bezieht europäische Aktivist_innen und Freiwillige ein und verfolgt eine Politik der Selbstermächtigung: »Die Exilierten wollen einen Dialog mit der französischen und englischen Regierung aufnehmen, um ihr Recht auf Mobilität

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Diese Darstellung bezieht eigene Recherchen in Calais ein und weicht insofern von der Medienberichterstattung ab. Tribunal de Grande Instance de Boulogne sur Mer, Requete aux fins d’expulsion, 22.2.2019 (Aushang am Ort der Räumung).

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Der »Dschungel von Calais«

und Niederlassung in Europa geltend zu machen. Sie wollen, dass ihnen echte und angemessene Lösungen vorgeschlagen werden«, lautet der zentrale Satz ihres in den Sozialen Medien veröffentlichten Gründungsmanifests.45 Als Ort ihrer ersten öffentlichen Kundgebung, bei der man der Grenztoten Europas gedachte und der weitere Aktionen folgen sollten, wählte man Banksys silhouettenhaftes Bild am Strand von Calais, auf dem, wie eingangs beschrieben, ein Kind (oder sein Schatten) nach Großbritannien blickt und der Tod lauert. Die Initiative Appel d’Air lässt sich als Versuch einer Rationalisierung der Situation im Sinne einer Transformation des Gewaltverhältnisses in einen politischen Aushandlungsprozess verstehen. Aufgrund der ständigen Fluktuation, des geringen Alters der meisten Betroffenen und der manchmal naiven Hoffnung auf eine rasche Grenzpassage bewirkte dies zwar keine kollektive und kontinuierliche Organisierung der Exilierten. Gleichwohl entfaltete die Gruppe eine politische Wirkung etwa im Verhältnis zu den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, in deren Entscheidungsprozessen die Exilierten nun stärker repräsentiert sind. Ihr zentrales und zutiefst demokratisches Projekt, nämlich das Erheben der eigenen Stimme frei von medialen Filtern und humanitärer Fürsprache, zeigt sich indes in einer Reihe größerer und kleinerer Interventionen. Die Entstehung der maritimen Migrationsroute nach Großbritannien, die partielle Durchbrechung des Grenzregimes an einem neuralgischen Punkt, die Wiederkehr des Jungle als multiethnisches Camp und die Artikulation einer Politik der Selbstermächtigung: Das Zusammentreffen dieser Entwicklungslinien offenbart eine Komplexität und Dynamik der heutigen Situation, die weit über das Kräftespiel um die Gewährung oder den Entzug der Ressourcen Raum, Wasser, Nahrung und Regeneration hinausreicht, wie es in den vergangenen Jahren alltäglich war und dies auch heute noch ist. Möglicherweise zeichnen sich erst jetzt die Konturen Calaisʼ ohne den Jungle in seiner urbanen, in diesem Buch analysierten Form ab. Dieser Jungle ist insofern und auch, weil die meisten heute in Calais lebenden Exilierten ihn nicht mehr persönlich erlebt haben, historisch geworden. Allerdings bleibt er als Erinnerungsort, Erfahrungsraum, Möglichkeit und nicht zuletzt als Archiv im einleitend umrissenen Sinne präsent. Ein Calais ohne Referenz auf

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Die auf Facebook veröffentlichte Gründungserklärung ist auszugsweise übersetzt in: Müller, Schlüper, Zinflou, Querung (wie Anm. 18), S. 66.

Die Aktualität des Jungle – eine Vorbemerkung

den Jungle als Stadt ist heute ebenso wenig denkbar wie das geltende Grenzregime ohne die Produktion des Jungle als Camp, als Lebensort innerhalb der hypertrophen Grenze. Er ist mithin auf mehreren Ebenen gegenwärtig und bleibt der dynamischer werdenden, hochpolitischen Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Grenzraum eingeschrieben.

Danksagung Die deutsche Ausgabe dieses Buches geht auf eine Anregung zurück, die Philippe Wannesson mir nach der Räumung des Jungle gab. Er war es auch, der mich mit Michael Agier in Verbindung brachte, der dann eine finanzielle Förderung durch das Programm Babels der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) an der École des Hautes Études en Sciences Sociales ermöglichte. Durch Vermittlung von Armin Heinen (RWTH Aachen) hat Wolfgang Freund sich bereit erklärt, die Arbeit des Übersetzens auf sich zu nehmen. Uwe Schlüper und Sascha Zinflou haben das Projekt beratend, Michael Volkmer und Gero Wierichs verlegerisch begleitet. Ihnen allen danke ich. Die französische Ausgabe war 2018 erschienen und bezog die Entwicklung bis 2017 ein. Um mit einer aktualisierenden Vorbemerkung den Bogen in die Gegenwart spannen zu können, waren einige Recherchen erforderlich, die Uwe Schlüper, Sascha Zinflou und ich im Rahmen einer Langzeitbeobachtung in Calais durchführten. Letztlich waren es unsere Gesprächspartner_innen – Exilierte in ihrer von »uns« mitverantworteten Lage ebenso wie erfahrene Angehörige der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen –, die ihre Beobachtungen, ihr Wissen und ihre Einschätzungen mit uns teilten. Für das Vertrauen, das sie uns entgegenbrachten, gilt ihnen in besonderem Maße Dank und Respekt.

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Einführung Ein Buch zum besseren Verständnis

Am 24. Oktober 2016 wurde der Jungle von Calais geräumt. Unter der Leitung des französischen Innenministeriums führte die Polizei zusammen mit Mitgliedern verschiedener zivilgesellschaftlicher Vereinigungen die Bewohner_innen des Bidonville-Lagers zu Bussen, die sie in Unterkünfte bringen sollten, deren Namen oder Orte sie nicht kannten. In drei Tagen wurden etwas mehr als 3000 Menschen umgesiedelt. Am dritten Tag begann die Zerstörung der während der achtzehnmonatigen Besetzung errichteten Behausungen und Gemeinschaftseinrichtungen. Am Ende der Woche gaben die Behörden bekannt, dass die »Schleifung« abgeschlossen sei. In Wirklichkeit dauerte die vollständige Zerstörung noch einige Tage länger. Übrig blieben nur noch die Container, die die Regierung ein Jahr zuvor im Jungle hatte aufstellen lassen. Diese wurden einige Wochen später abgebaut und fortgeschafft. Die Zerschlagung des Jungle wurde als großer Erfolg verkauft, doch wir müssen sie richtig einordnen. Sie fand zum Auftakt des Wahlkampfs in Frankreich statt, der Kampagne für die Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017, in dem die Regierung (vergeblich) versuchte, die schon seit längerem verloren gegangene Wählerschaft zurückzugewinnen. Gemäß der offiziellen Sprachregelung wollte die Regierung gleichzeitig »Entschlossenheit« und »Menschlichkeit« an den Tag legen. Aber vor allem wollte der Staat seine Fähigkeit demonstrieren, das öffentliche Ärgernis der Migrant_innen zu beseitigen und die Migrant_innen selbst und jegliches Überbleibsel ihrer Anwesenheit und Niederlassung in Calais verschwinden zu lassen. Indem er das Staatsgebiet vor unerwünschten Ausländern schützte, zeigte sich der starke Staat.

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Der »Dschungel von Calais«

Für eine lange Geschichte des Jungle Einige Monate später jedoch, Ende Januar 2017, mussten die Presse und die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen erkennen, dass sich noch immer Migrant_innen in Calais aufhielten. Diejenigen, die im Oktober nicht in die Busse steigen wollten, hatten sich in die Gegend um die Stadt abgesetzt und kehrten nun wieder zurück. Andere kamen von weither wieder zurück, nachdem ihnen klar geworden war, dass die Unterkünfte, in die sie nach der Räumung gebracht worden waren, die »Centres d’Accueil et d’Orientation« (Aufnahmeund Orientierungszentren, CAO), in eine Sackgasse geführt hatten; diese hatten weder die administrativen Hürden für einen Asylantrag gesenkt, noch sie davon abgebracht, nach England weiterwandern zu wollen. Die Geschichte der Calais-Migrant_innen endete nicht mit dieser »Räumung« im Oktober 2016 (die später in Kapitel 5 ausführlich erörtert wird). Es ist eine viel längere Geschichte, die in ihrem historischen und geographischen, ihrem europäischen und regionalen Zusammenhang wiedergegeben werden muss. Ebenso wichtig ist es zu verstehen, was in diesem Bidonville, oder besser gesagt: in dieser im Entstehen begriffenen Stadt (ville et cité), geschehen ist, die von der ganzen Welt »Der Dschungel« genannt wurde und in der bisweilen 10 000 Menschen lebten. Durch welche Mechanismen hat Europa, haben Frankreich und das Vereinigte Königreich diesen unsagbaren Ort »erfunden« und »fabriziert« – und ihn anschließend zerstört? Dieser Ort war so unsagbar, dass wir uns schließlich selbst noch mehr Angst machten, indem wir ihn »den Dschungel« nannten, das paschtunische Wort djangal aufgriffen (das in seiner ursprünglichen Bedeutung ein Fleckchen Wald beschreibt), es umdeuteten und neu definierten, es sozusagen verwestlichten, sodass es in der neuen europäischen und französischen Perspektive ein negativ besetzter, exotischer, beunruhigender Ort wurde, der uns ferner war als in der Wirklichkeit und uns weniger menschlich erschien. Das vorliegende Buch beschreibt das genaue Gegenteil. Dank seiner chronologischen und monographischen Recherche, durchgeführt von einem Team aus Forschenden, Studierenden und Akteur_innen aus den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen,1 bietet es Orientierungshilfen für das Verständnis dessen an, was in Calais seit mehr als fünfzehn Jahren vor sich geht und was 1

Das Buch entstand im Rahmen des von der Agence Nationale de la Recherche (ANR) unterstützten Forschungsprogramms »Babels – La ville comme frontière« (Babels – Die

Ein Buch zum besseren Verständnis

nicht aufhören wird, nur weil ein Lager aufgelöst und seine Bewohner_innen vertrieben wurden – Orientierungshilfen, die die Geschehnisse im Jungle zwischen April 2015 und Oktober 2016, also zwischen der Errichtung und der Zerstörung des Lagers, beschreiben und analysieren. Der globale Rahmen des Jungle ist das, was in Europa »die Migrationskrise« genannt wird. Aber ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Migrationskrise und der Entstehung und Entwicklung dieses Ortes lässt sich nicht finden. Was an der französischbritischen Grenze geschieht, hat seinen Ursprung in den 1990er Jahren. Dies muss in einen früheren lokalen und regionalen Zusammenhang gestellt werden: nämlich einerseits den der Geschehnisse an den Außengrenzen Europas seit dem Jahr 1995 und andererseits den der Errichtung des Schengen-Raumes (verbunden beispielsweise mit den Grenzen von Ceuta, Melilla oder Patras; s. Abb. 1). Gleichzeitig soll mit Calais als Fallstudie die exemplarische Situation der europäischen und allgemeinen Krise beschrieben werden. Das Lager Sangatte bei Calais war ein 1999 eröffnetes Aufnahmezentrum des Roten Kreuzes für humanitäre Notfälle. Im Jahr 2002 wurde es geschlossen. Mit seiner Schließung wollte die französische Regierung damals (schon) kundtun, dass »wir in Calais nicht mehr weiter zurückweichen werden«. Dennoch irrten weiter Tausende von Migrant_innen unterschiedlicher Generationen und Nationalitäten (Kosovar_innen, Kurd_innen, Afghan_innen, Eritreer_innen, Sudanes_innen, Iraker_innen, Syrer_innen usw.) in der Region von Calais und Dünkirchen (Dunkerque) umher. Trotz des 2003 in Le Touquet unterzeichneten französisch-britischen Abkommens, das die Migrant_innen auf dem französischen Territorium zurückhalten sollte, versuchten sie weiter, nach Großbritannien überzusetzen. Die Schaffung eines neuen Lagers in Calais, das bei seiner Errichtung im April 2015 schon »Bidonville des Staates« oder »New Jungle« genannt wurde, ist ein einzigartiges Zwischenspiel dieser langen Grenzgeschichte, die im Zusammenhang mit der außerordentlichen Ankunft von einer Millionen Migrant_innen in Europa im Jahr 2015 stand. Von Lesbos bis Calais, von Idomeni bis Ventimiglia2 entwickelten sich Hunderte

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Stadt als Grenze). Das Autor_innenteam dieses Buches wird im Anhang auf S. 195 vorgestellt. Anm. d. Übs.: Während der griechische Grenzort Idomeni medial hohe Aufmerksamkeit erfuhr, als dort großflächige informelle Camps entstanden, ist der italienisch-französische Grenzort Ventimiglia in Deutschland weniger bekannt. Er bildet eine wichtige Etappe auf der Migrationsroute von Italien nach Frankreich bzw. weiter nach Großbritannien.

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von C amps, Aufnahme- und Haftzentren, hot spots und andere Orte der Abschottung wie niemals zuvor an den Grenzen Europas sowie an den Rändern und in den Herzen der europäischen Städte.3

Europa und die Migrationsfrage Die Exklusionspolitik gegen unerwünschte Migrant_innen begann vor fünfundzwanzig Jahren mit dem »Schengen-Prozess«; die meisten Artikel des Schengener Abkommens sind der Umsetzung von Maßnahmen gewidmet, die die Einreise auf europäisches Territorium verhindern sollen. In Tampere beschloss der Europäische Rat im Oktober 1999, die diesbezüglichen Politiken der Mitgliedstaaten zu harmonisieren; hier wurden das Prinzip des »auswärtigen Eingreifens« und der »Externalisierung« sowie das Konzept einer »Partnerschaft mit den Herkunftsländern« begründet, durch die die Politik in den folgenden Jahren die Verwaltung von Migration und Asyl in die Länder Afrikas und des Nahen Ostens auszulagern suchte. Das Externalisierungsprinzip findet sich auf dem Programm des Haager Treffens des Europäischen Rats vom Oktober 2004 wieder, bei dem die Ausgestaltung und die Ziele der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik für die nächsten fünf Jahre festgelegt wurde, und im Vorschlag der britischen Regierung unter Tony Blair zur Einrichtung von Zentren zur Auswahl von Asylsuchenden in den Anrainerstaaten der EU. In den folgenden Jahren standen Fragen der Kontrolle und Kriminalisierung von Migrant_innen im Mittelpunkt der europäischen Politik, was sich entsprechend negativ auf deren Aufnahme und Integration auswirkte. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom März 2016 ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die europäische Politik abdriftet und die Externalisierung von Grenzkontrollen in Drittländer zum zentralen Punkt ihrer Agenda macht. Außerdem hat in den Mitgliedstaaten das Notfallmanagement Vorrang vor langfristigen Planungen und vor realen Maßnahmen, mit denen man die Jahr für Jahr dramatisch steigende Zahl von Todesfällen im Mittelmeer und Atlantik verringern könnte.4 3

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Vgl. Babels, De Lesbos à Calais : Comment l’Europe fabrique des camps, dir. Yasmine Bouagga, Bibliothèque des frontières (Neuvy-en-Champagne: Le Passager clandestin, 2017). Vgl. Babels, La Mort aux frontières de l’Europe : Retrouver, identifier, commémorer, dir. Carolina Kobelinsky, Stéfan Le Courant, Bibliothèque des frontières (Neuvy-enChampagne : Le Passager clandestin, 2017).

Ein Buch zum besseren Verständnis

Das Jahr 2015 war durch einen Anstieg der Zahl von in das Gebiet der Europäischen Union einreisenden Flüchtlingen gekennzeichnet; ihre Zahl erreichte in diesem Jahr mehr als eine Million. Darauf folgte eine kurze Phase, in der die Zielstrebigkeit dieser Flüchtlinge und die Interessen einiger EUMitgliedsstaaten die Tendenz umkehrten: Es entstand der so genannte »Balkankorridor«. Dieser Korridor eröffnete eine sichere und schnelle Durchreise von Griechenland nach Österreich und Deutschland. Als ab November 2015 in Idomeni an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland die Übertritte willkürlich beschränkt und nur noch Menschen syrischer und irakischer Herkunft durchgelassen wurden, schloss sich der Balkankorridor wieder. Anfang 2016 wurde diese Grenze endgültig abgeriegelt und der gesamte Balkankorridor (mit den Passagen Griechenland-Mazedonien-Serbien-Ungarn-Österreich und Griechenland-Mazedonien-Serbien-Kroatien-Slowenien-Österreich-Deutschland) wieder geschlossen. Die Flüchtlinge, die weiterhin hauptsächlich über die Ägäis in Griechenland ankamen, saßen auf griechischem Territorium in Aufnahmelagern (hot spots) fest, die von der griechischen Regierung unter dem Druck der EU errichtet worden waren und in denen unmenschliche Bedingungen herrschten, oder in provisorischen Camps an der Grenze bei Idomeni oder Piräus. Die Unterzeichnung des Pakts zwischen der EU und dem türkischen Nachbarn am 18. März 2016 stand im Einklang mit dieser Grenzschließung. Die Türkei verpflichtete sich, für die Beschleunigung von Visumsanträgen für türkische Staatsbürger_innen und für ein Finanzpaket von 6 Milliarden Euro im Gegenzug ihre Grenzen stärker zu kontrollieren und Asylsuchende wieder zurückzunehmen, deren Anträge überwiegend schon auf den griechischen Inseln abgelehnt wurden. Während infolge dieses Abkommens tatsächlich weniger Flüchtlinge auf dem griechischen Festland ankamen, verwandelten sich die griechischen Inseln, allen voran Lesbos, in einen gigantischen Wartesaal, fast in einen Limbus, in dem Tausende Menschen über Monate und Jahre der Klärung ihres weiteren Schicksals entgegensahen. In diesem Zusammenhang war Calais nur eine der Etappen auf diesen Monate oder gar Jahre andauernden Migrationsreisen, die – in Ermangelung einer echten Aufnahmepolitik – die Exilierten dazu zwangen, in über ganz Europa verstreuten Flüchtlingscamps Zuflucht zu suchen, sei es in Calais, Rom, Ventimiglia, Paris, Idomeni, Subotica, Patras oder an anderen Orten. In Calais fanden sich sowohl diejenigen wieder, die über Sizilien gekommen, als auch die, die auf dem Landweg oder über das griechische Meer eingereist waren.

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Diejenigen, die in Sizilien anlandeten – hauptsächlich Flüchtlinge vom Horn von Afrika oder aus den südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Staaten –, hatten, bevor sie nach Europa kamen, sehr oft unter Gewalt und extrem harten Lebensbedingungen gelitten. Ob in Mali, Niger oder im Sudan, mussten sie in den Gettos von Gao, Agadez oder Khartum ausharren und auf die Weiterreise nach Libyen warten. Die Wüste durchquerten sie dann auf Lastwagen, die von Leuten beladen wurden, welche nicht zögerten, durch die Reise geschwächte Menschen, die nicht mehr die Kraft hatten weiterzumachen, im Sand zurückzulassen. Für alle, die die Wüste durchquerten, war Libyen, das aus den Migrant_innen mittlerweile eine Einnahmequelle gemacht hat, das Land, in dem sie die meisten Gewalttaten erleiden mussten: Oft wurden sie bei ihrer Ankunft – in Koufra und Sebha – verschleppt, in Dutzenden über das ganze Land verteilten Haftstätten eingesperrt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Für Frauen war der Transit durch Libyen noch schmerzhafter; sie wurden oft Opfer von Gewalt durch Behörden und paramilitärische Gruppen, die das betreffende Gebiet kontrollierten. Dann, nachdem sie die Prüfungen des Mittelmeers überlebt hatten und sie – insbesondere nach der Umsetzung der Kontrollen an den hot spots im September 2015 – verpflichtet gewesen wären, sich in Italien registrieren zu lassen, entschieden sich viele Exilierte dazu, Italien wieder zu verlassen, um in ein anderes europäisches Land zu gelangen. Der Bahnhof Tiburtina in Rom war der Treffpunkt für Flüchtlinge vom Horn von Afrika, die von Sizilien zu den Grenzen bei Ventimiglia und Como durchzukommen suchten. Diejenigen, die nach Frankreich oder weiter nach Calais wollten, orientierten sich nach Ventimiglia; diejenigen, die in die Schweiz oder nach Deutschland wollten, fuhren nach Como oder Bozen. Die Politik der Binnengrenzschließung im Schengen-Raum führte zur Einrichtung inoffizieller Camps sowie provisorischer Lager des Roten Kreuzes, in denen Migrant_innen auf die Hilfe eines Schleusers (passeur) warteten, um ihre Reise fortsetzen zu können. Ob sie nun »Migrant_innen«, »Flüchtlinge« oder »Exilierte« genannt werden, die Bewohner_innen des Bidonvilles von Calais teilten die gemeinsame Erfahrung, ihre Herkunftsländer verlassen zu haben, um sich an einem sicheren Ort mit Zukunftsaussichten niederlassen zu können. Von denen, die Europa durchquert hatten, strandeten in Calais vor allem diejenigen, die versuchten, nach Großbritannien (wo sie oft Verwandte hatten oder eine Community bestand, oder wo sie einfach nur auf bessere Chancen zur Integration hofften) weiterzukommen, aber sich von der Grenze blockiert fanden. Zwi-

Ein Buch zum besseren Verständnis

Abb. 1: Das Europa von Schengen

schen 2014 und 2016 stieg deshalb die Zahl der Migrant_innen in den provisorischen Siedlungen an den Passageorten nach England in nie gekannter Weise, weil die Zahl der Flüchtlinge, die in die Europäischen Union kamen, insgesamt zunahm und gleichzeitig die britische Grenze besser gesichert wurde. Die am häufigsten vertretenen Nationalitäten waren Afghan_innen und Sudanes_innen, wobei letztere 2016 mehr als zwei Drittel aller Migrant_innen vor Ort ausmachten. Die migrantische Bevölkerung von Calais spiegelte die globalen Konfliktlagen wider, stellte jedoch weder einen Querschnitt derjenigen Menschen dar, die während dieser Zeit in Europa eingetroffen waren, noch derjenigen, die das Mittelmeer klandestin überquert hatten. Während auf Lesbos Syrer_innen in der Mehrheit waren, gab es nur wenige syrische Flüchtlinge in Calais, weil diese Deutschland oder die skandinavischen Länder bevorzugten. Desgleichen fanden sich in Calais praktisch keine Migrant_innen aus dem französischsprachigen Afrika, obwohl viele von ihnen an der italienischen Küste anlandeten, denn die französischsprachigen Afrikaner_innen beabsichtigten nicht, in Großbritannien Asyl zu beantragen. Mithin steckte nur ein (geringer) Anteil der Menschen, die in Europa Zuflucht

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suchten, in Calais fest. Außerdem veränderte sich mit den Routen aus dem Herkunftsland auch die demographische Zusammensetzung der Nationalitäten. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei und die Schließung der Balkanroute im Frühjahr 2016 reduzierten die Zahlen von ankommenden Afghan_innen, Syrer_innen und Kurd_innen. Andererseits hat die wetterbedingte Wiederbelebung der italienischen Mittelmeerroute im Sommer 2016 zu einer erheblichen Zunahme von Sudanes_innen, Eritreer_innen und Äthiopier_innen geführt.

Calais, Sinnbild der Krise – und der europäischen Solidarität Calais ist nur eine Etappe auf einer oft mehrere Monate bis Jahre andauernden Migrationsreise. Während dieser Zeit wurden diese Menschen on the move an der Passage mehrerer politischer und geographischer Grenzen gehindert. Die doppelte Hürde einer Meerenge von dreißig Kilometern Breite und einer Grenze, deren Sicherung 2015 noch verstärkt wurde, machte Calais zu einer Sackgasse, in der das Provisorische dauerhaft wurde und das Camp aufhörte, ein solches zu sein, ja wo es sogar eine Urbanisierung durchlief. Diese Transformation hat die entstehende Stadt paradoxerweise auch zu einer Etappe für manche Flüchtlinge gemacht, die in Frankreich um Asyl baten. Von einem Transitort nach England wurde das Bidonville von Calais zwischen 2015 und 2016 zu einem relativ gastfreundlichen Ort für Migrant_innen mit unterschiedlichem Status, da es in Frankreich keine anderen öffentlichen Aufnahme- und Transiteinrichtungen gab, die ihrer Situation gerecht geworden wären. Calais – Grenzstadt eines brüchig gewordenen Schengen-Raums, Transitort nach England an zunehmend externalisierten und sekurisierten Grenzen: Die Exilierten fanden dort vorübergehend Zuflucht, während sie auf die Überfahrt oder auf die Genehmigung ihres Asylantrags in Frankreich warteten. Calais war somit zu einer Grenzstadt in mehrerer Hinsicht geworden, in der europäische ebenso wie nationale und kommunale Politiken der Aufnahme oder Ablehnung von Migrant_innen und Flüchtlingen erprobt wurden. Sowohl von den Migrant_innen als auch von den lokalen Institutionen und der ansässigen Bevölkerung als Transitplatz betrachtet, wurde Calais in Bezug auf die Sicherheit und den Ausschluss von Fremden aus dem Stadtraum einer der restriktivsten Orte des Landes. Diese temporäre Transitzone hat sich auf Grund der Verstärkung der Grenzkontrollen und der Schaffung phy-

Ein Buch zum besseren Verständnis

sischer Barrieren (Klingendrahtzäune) an den Passageorten (Fährhafen und Kanaltunnel) verstetigt. Die Erfindung des Lagers, das offiziell »campement de la lande« (la lande: Heide- oder Ödland) genannt wurde, korrespondierte mit einer Strategie der öffentlichen Hand zur Verdrängung der Migrant_innen aus der Stadt. Dies wurde von den Akteur_innen der Hilfsorganisationen und von Freiwilligen umgesetzt, die hofften, die Lebensbedingungen der Exilierten an diesem neuen Ort verbessern zu können. Sieben Kilometer vom Stadtzentrum und vierunddreißig Kilometer von England entfernt, im Herzen einer geschlossenen Grenze gelegen und von einem Gefüge französisch-britischer Sicherheitsbehörden kontrolliert, war das Lager von Calais vor allem ein Ort der Extraterritorialität. Im April 2015 wurden die Migrant_innen und Flüchtlinge von Calais auf Ersuchen der Bürgermeisterin der Stadt (Mitglied der damals größten rechten Partei Frankreichs, Les Républicains) und nach Beschluss der französischen Regierung in dieses eine, abseits der Stadt tolerierte Lager umgesiedelt. Dies führte zu einer neuen Folge von Spannungen und Gewalt, aber auch zu Solidaritätsaktionen und zu einem sozialen, medialen und politischen Engagement, das Calais sowohl zu einem Sinnbild für eine Krise Europas angesichts des Zustroms von Migrant_innen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten machte, als auch zum Sinnbild eines solidarischen Europas, das sich offener für andere und für die Welt zeigte. Diese Solidarität ebnete bedeutenden intellektuellen Mobilisierungen den Weg. Es wurden mehrere Bücher in französischer und englischer Sprache über Migrant_innen und den Jungle von Calais veröffentlicht; sie verdeutlichen den besonderen Stellenwert, den diese spezifische Situation im Bereich der Wissensproduktion und des politischen wie auch künstlerischen Handelns erhalten hat. Durch seine Dynamik und seine Fähigkeit zur Transformation, durch seinen hohen Grad an Marginalität und Prekarität regte uns der Jungle von Calais zum Nachdenken an. Bei ihren Besuchen, ihren philosophischen Reportagen oder während ihrer langfristig angelegten Untersuchungen fanden Intellektuelle Material, an Hand dessen sie ihre Theorien zu Gast(un)freundschaft, Staatsbürgerschaft, Weltoffenheit, Globalisierung, zum Status von Ausländer_innen, zur nationalen Politik und zu prekärer Mobilität überprüften.5 Andere Arbeiten hatten die Form von Manifesten oder 5

Zu den philosophischen Werken über Calais gehören die Untersuchung von Sophie Djigo, Les migrants de Calais : Enquête sur la vie en transit, Contre-feux (Marseille: Agone,

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von künstlerischen, poetischen oder politischen Statements; zum Teil sind sie aus dem »Aufruf der 800«6 hervorgegangen. Diese Werke sind einzigartig; sie praktizieren verschiedene Formen des Schreibens und Bezeugens, sei es in Form von Fotographie, Film, Literatur, Philosophie, Comic sowie der Veröffentlichung von Worten oder Schriften der Migrant_innen.7

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2016) und der auf Europa bezogene Bericht von Fabienne Brugère und Guillaume Le Blanc, La fin de l’hospitalité (Paris: Flammarion, 2017). Die Überlegungen über den Jungle von Calais in einem Aufsatz über außerordentlich signifikante Räume auf globaler Ebene finden wir bei Michel Lussault, Hyper-lieux : Les nouvelles géographies de la mondialisation, La couleur des idées (Paris: du Seuil, 2017). Vgl. den auf Mediapart veröffentlichten Blog »La ›Jungle‹ et la ›ville‹«, hg. zwischen Februar 2016 und November 2017 v. Camille Louis und Étienne Tassin (https://blogs.mediapart.fr/edition/la-jungle-et-laville, editiert 14.2.2016 bis 2.11.2017, konsultiert am 10.8.2019) oder das dem Jungle von Calais gewidmete Dossier, »Migrants/Habitants : Urbanités en construction«, Multitudes : Revue politique, artistique, philosophique (automne 2016), n° 64. Im Oktober 2015 riefen 800 Filmemacher_innen, Schriftsteller_innen, Künstler_innen und Intellektuelle ihresgleichen auf, sich nach Calais zu begeben, um den Jungle zu unterstützen: »Jungle de Calais : L’appel des 800«, Libération (20.10.2015); www.liberation.fr/france/2015/10/20/Jungle-de-calais-l-appel-des-800_1407520 (21.10.2015, 20.6.2019). Vgl. Décamper : De Lampedusa à Calais, un livre de textes et d’images & un disque pour parler d’une terre sans accueil, dir. Samuel Lequête, Delphine Le Vergos, préf. Michel Agier (Paris : La Découverte, 2016). Vgl. den fotografischen Essay von Henk Wildschut, Ville de Calais (Guingamp: GwinZegal, 2017), und ferner den Roman von Delphine Coulin, Une fille dans la Jungle (Paris: Grasset, 2017). Im Rahmen des »Appells der 800«, hat die Zeichnerin Lisa Mandel zusammen mit der Soziologin Yasmina Bouagga den Comic Les nouvelles de la Jungle de Calais (Paris: Casterman, 2017) ausgeführt. Unter den Filmen, die im Zusammenhang mit dieser Solidaritätsbewegung entstanden sind, vgl. die von der Schauspielerin und Regisseurin Yolande Moreau realisierte Dokumentation Nulle part en France (arte : März 2016) mit dem Text des Schriftstellers Laurent Gaudé. Vgl. das Projekt »Réinventer Calais« (Calais wiedererfinden) auf der Webseite der Association Pérou, die die Arbeiten verschiedener Fotograf_innen, Dokumentarist_innen, Architekt_innen und Autor_innen zum Jungle von Calais vorstellt (vormals: https://reinventercalais.org/). Im Vereinigten Königreich haben Marie Godin, Katrine Møller Hansen, Aura Lounasmaa, Corinne Squire und Tahir Zaman (ed.) in Voices from the ,Jungle‹: Stories from the Calais Refugee Camp (London: Pluto, 2017) Texte von Migrant_innen zusammengetragen, die einige Wochen oder Monate im Jungle von Calais lebten. Die gesammelten Texte wurden im Rahmen eines Kurses vorbereitet, den eine Gruppe von Dozierenden der University of East London (UEL) im Jungle von Calais zum Thema »Life Stories in the Jungle« gegeben hat. Aus dem Projekt entstand eine Art Schreibworkshop. Einige Texte wurden direkt von Migrant_innen geschrieben, andere wurden von den Herausgeber_innen aus Interviews ausgeschrieben und manchmal

Ein Buch zum besseren Verständnis

Wir integrieren diese Fragestellungen, Mobilisierungen und Aussagen in unsere Diagnose dessen, was in Calais geschehen ist – das Ereignis Calais. Sie helfen uns, die Prozesse zu verstehen, wie ein Ort, der geschaffen wurde, um seine Bewohner_innen so unsichtbar wie nur irgend möglich zu machen, ja sie möglichst verschwinden zu lassen, zu einem Ort des Lebens und ausgesprochen hoher Sichtbarkeit wurde: zu einem Schauplatz politischer, urbaner und ästhetischer Fragen, die uns Europäer_innen neuartig erscheinen – ohne dass dieser Ort freilich seine Prekarität (d.h. die Gefahr, zerstört zu werden und damit ganz zu verschwinden) verloren hätte. Das vorliegende Buch unterscheidet sich jedoch von den genannten Arbeiten, da es sich in erster Linie um das Dokument einer Recherche und um ein Archiv der Gegenwart handelt. Ohne die Form einer Anklageschrift einzunehmen, will es ein kollektives anthropologisches Gutachten sein – ein Ansatz, der sich dem englischen Konzept der forensic anthropology annähert, ohne sich aber zu sehr auf die antike, biologische und physikalische Auffassung von Anthropologie zu beziehen. Unter »forensisch« verstehen wir »rechtlich« im Sinne von »Rechtsmedizin«, der Wissenschaft, die uns über die Ursachen und Vorgänge aufklärt, die zum Tode eines Individuums geführt haben. Die soziale, kulturelle und politische Anthropologie wird hier auf einen Ort, auf Gemeinschaften, auf eine Situation angewendet: Daher diagnostiziert dieses Buch die Ursachen, Prozesse und Auswirkungen des Lebens und des Todes des Jungle von Calais (April 2015 – Oktober 2016). Die sorgfältigen Beschreibungen und Analysen, die so nah wie möglich am Ort des Geschehens durchgeführt wurden, zielen darauf ab, sowohl den Verlauf der Ereignisse in Calais zu ermitteln, als auch allgemeinere Lehren daraus zu ziehen. In der Perspektive einer Anthropologie der zeitgenössischen Dynamiken und ausgehend von der Methodik der erweiterten Fallstudie (im Sinne des von Feldanthropolog_innen entwickelten extended case study der Manchester Schule8 ) möchten wir an diesem Fallbeispiel Wissen schaffen. Diese Methode ermöglicht es, Momente einer in ständiger Transformation befindlichen Welt einzufangen und festzuhalten: Ausgehend von einer präzisen, lokalisierten und datierten Situation gilt es, alle Erkenntnisstränge

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mit den Autor_innen überarbeitet. Auszüge der Transkriptionen und Texte wurden von den Herausgeber_innen vorgestellt und kommentiert; sie behandeln die Lebenswege der Flüchtlinge, ihre Gefühle zum Leben im Lager und ihre Zukunftshoffnungen. Vgl. besonders T[erence] M. S. Evens, Don Handelman (ed.), The Manchester School: Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology (New York; Oxford: Berghahn, 2006).

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aus jener Logik herzuleiten, die sie »produziert« hat, um die Gründe für eine globalere Veränderung, für einen neuen und sich entwickelnden Zustand der Gesellschaften – lokale ebenso wie globale –, für deren Transformationen, Herausforderungen und Perspektiven zu erklären. Auf dieser Ebene der Anforderungen und der Gleichzeitigkeit der Forschung mit der andauernden Bewegung der Gegenwart muss die Anthropologie reaktiv, kollektiv und multidisziplinär sein. Daher haben wir ein Team gebildet, um dieses Buch anhand historischer, architektonischer und stadtplanerischer, soziologischer und politischer Untersuchungen sowie mit Hilfe der Ethnographie und der teilnehmenden Beobachtung zu verwirklichen. Die Untersuchung geschah auch deshalb kollaborativ, weil sie Feldforscher_innen und Vertreter_innen der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zusammenbrachte, die sich vor Ort auskannten, seit mehreren Jahren mit dem Jungle (und seinen Vorläufern) vertraut waren und sich entschlossen, aus ihren Erfahrungen Wissen zu schöpfen. Dieses Buch ist insofern das Ergebnis einer kollektiven Befragung, bei der Feldforschung und die Reflexion lokaler Akteur_innen zusammenkamen. Im weiteren Sinne ist es Teil eines Versuchs, anthropologisches Forschen und Schreiben in einem Projekt zu erneuern, das die Transformationen der heutigen Welt in ihrer Tiefe zu verstehen sucht. Als Untersuchungsbericht aus erster Hand richtet sich dieses Buch an alle, die die Einzelheiten der allgemeinen Situation und ihrer Kontexte kennenlernen möchten. Es ist zugleich eine Geschichte der sich entwickelnden Gegenwart, weil es sich für das Zuvor und das Danach des Jungle interessiert. Dabei achten wir stets darauf, Calais nicht von seiner Umgebung zu trennen und besonders die etwa vierzig Kilometer entfernt bei Dünkirchen (Dunkerque) gelegene Stadt Grande-Synthe im Blick zu behalten, wo eine ganz andere urbane Erfahrung gemacht wurde. Calais ist nicht nur ein Ort des Camps/Lagers/Bidonvilles neben anderen in Nordfrankreich, in Europa und in der Welt. Diese verschiedenen Orte sind miteinander verbunden, sie bilden Netzwerke und lassen uns zu einem erweiterten Verständnis des Namens Calais gelangen, zu einer erweiterten Auffassung dessen, was Calais als »Verdichtung« eines globalen Wandels auf einem Planeten bedeutet, der zunehmend durch Exterritorialität und Politiken des Ausnahmezustands gekennzeichnet ist. Wir geben so genau wie möglich die Chronologie von zwanzig Jahren Migrationspolitik und Bevölkerungsbewegungen wieder, die zur Eröffnung und achtzehn Monate später zur Zerstörung des Jungle von Calais führten. Parallel dazu beschreiben wir die Bewegungen der Solidarität … und der Feindseligkeiten. Die lokale Rolle der scheinbar einflussreichen Rechtsextremen

Ein Buch zum besseren Verständnis

(viel wurde darüber gesprochen, dass die Bewohner_innen von Calais »fremdenfeindlich« seien) wird auf ihren tatsächlichen Stellenwert reduziert, der im Vergleich mit der migrantenfeindlichen Politik sowohl der Kommune als auch des Staates fast bedeutungslos erscheint. Im Gegenteil, seit Anfang der 2000er Jahre entwickelten sich viel stärker die Solidaritätsbewegungen in Calais; diese spielten eine wichtige Rolle für die (Über-)Lebensmöglichkeit von Migrant_innen in einer feindseligen Umgebung. Wir beschäftigen uns zudem mit den räumlichen und sozialen Formen, die in diesen Jahren ständigen Umherirrens zwischen besetzten Gebäuden und Camps in Calais erfunden wurden und die schließlich zu jenem Ort führten, der zunächst New Jungle genannt wurde. Darin wird deutlich, dass all diese Einrichtungen eine relative Autonomie genossen haben – eine nicht vorhergesehene und gegenläufige Folge ihrer Verdrängung durch die Behörden. Das erste Kapitel widmet sich einer genauen kontextabhängigen Chronologie der Ereignisse, die im April 2015 zur Entstehung und im Oktober 2016 zur Zerstörung des Lagers führten. Diese Beschreibung ist durch vier Schlüsselereignisse periodisiert: erstens von den 1980er Jahren bis zum SangatteMoment (1999-2002); zweitens von der Nach-Sangatte-Epoche bis 2015, wobei es auch um die Zunahme der Solidarität ebenso wie die der extremen Rechten gehen wird; drittens die Gründung und Entwicklung des Lagers Calais im Jahr 2015 und schließlich viertens der Zeitraum von dessen teilweiser Räumung im März 2016 bis zu seiner vollständigen Zerstörung und zur Zerstreuung der Migrant_innen im Oktober 2016. Diese Geschichte konnte durch Interviews und die Sammlung vorhandener Dokumentationen rekonstruiert werden, aber vor allem dank des aus den Erinnerungen jener Akteur_innen von Vereinigungen und Initiativen bestehenden Archivs, die als Mitautor_innen dieses Buches ihre eigene Rolle reflektierten und den langen Zeitraum von 1999 bis 2016 daher gleichermaßen zu bezeugen wie zu verstehen versuchten. Das Buch führt seinen deskriptiven, reflexiven und kritischen Ansatz fort, indem es aus dem Fallbeispiel des Jungle von Calais drei Hauptlektionen ableitet (Kapitel 2, 3 und 4). Diese berühren Fragen, die für das Verständnis neuer Modelle der Mobilität und Lokalität auf europäischer und globaler Ebene von wesentlicher Bedeutung sind. Die erste Lektion (Kapitel 2) betrifft die Infrastruktur von Orten der Mobilität. Das Kapitel entwickelt einen architektonischen und urbanistischen Blick; es beschreibt die Transformation und Gestaltung der von Migrant_innen geschaffenen Räume in den verschiedenen Camps der Stadt und im Lager von Calais selbst, wo eine spezifische

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Camparchitektur und ein prekärer Urbanismus erfunden wurden: ein Stadtentwurf, der zu weiteren Überlegungen über die aufnahmebereite Stadt im Kontext von Mobilität aufruft. Die zweite Lektion (Kapitel 3) ist eine Soziologie des Lebens in unsicheren Verhältnissen. Dieses Kapitel befasst sich mit dem täglichen Leben im Jungle von Calais in den Jahren 2015 und 2016: Verwandelt in ein Bidonville, in ein echtes urbanes Labor, ist er zu einem relativ gastfreundlichen Ort inmitten eines offiziell feindlichen politischen Kontextes geworden. Die Schlussfolgerungen dieser Überlegungen betreffen sowohl die Frage der urbanen Gastfreundschaft und der sozialen Selbstorganisation prekärer Orte als auch den Stellenwert und die Repräsentation städtischer Marginalität in reichen Ländern: Im Namen welcher Werte und in Bezug auf welches Stadtmodell wäre der Jungle von Calais denn »unwürdig«? Die dritte Lektion betrifft die Auseinandersetzung zwischen der Regierungspolitik der Ablehnung von Migrant_innen und Flüchtlingen einerseits und den Solidaritätsbewegungen der Bürger_innen auf lokaler und europäischer Ebene andererseits (Kapitel 4). Diese Solidarität hat zu einer Wandlung der lokalen europäischen Gesellschaften und des Raumes geführt, den Migrant_innen in ihnen einnehmen, so klein die Wandlung auch erscheinen mag. Wir können einander gegenüberstellen, was Städte mit Migrant_innen tun (Ablehnung hier, Willkommen dort) und was Migrant_innen aus der Stadt und ihren alteingesessenen Einwohner_innen machen. Angefangen von der allgemeinen und abstrakten Angst vor dem Anderen bis hin zur Beziehung mit dem Anderen, der da ist, der einen Namen trägt, Wissen austauscht und nie zu lernen aufhört, sprechen die Stadt Calais und ihr Lager zu uns immer von Gegenseitigkeit. Schließlich wollten wir ein Kapitel der Zerstörung des Bidonvilles/Lagers zwischen dem 24. und 31. Oktober 2016 widmen, wie es im Zusammenhang mit dem französischen Wahlkampf Gegenstand einer medialen und politischen Inszenierung wurde, bis einige Monate später die ersten Rückkehrer_innen nach Calais beobachtet werden konnten. Um es zusammenzufassen, kommen wir noch einmal auf die Bedeutung des Ereignisses Calais als politischer, medialer und symbolischer Gegenstand zurück. In der Tat stellen all die Empörung, die der Jungle hervorrief, all die körperlichen und moralischen Gewalttaten gegen seine Bewohner_innen und all die Arten von Solidarität (humanitäre und politische, individuelle und vereinsmäßige, von Calais’ Einwohner_innen, von britischen und europäischen Bürger_innen geleistete Solidarität) das Konzentrat von Fragen dar, die der-

Ein Buch zum besseren Verständnis

zeit ganz Europa durchziehen: Wie wird ein lokales, nationales und europäisches »Wir« definiert, das seine Beziehung zu den »Anderen« und zu sich selbst inszeniert? Welchen Platz räumt dieses »Wir« Ausländer_innen, Migrant_innen oder Flüchtlingen ein? Können wir und, wenn ja, wie können wir Gastfreundschaft ausgehend von den Lagern oder gegen sie neu erfinden? Welche Zukunft können wir uns an diesen Orten der Ausgrenzung und Ausnahme vorstellen, die am Ende als Aneignungen und neue politische Räumen erscheinen?

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Kapitel 1 Chronik einer Irrfahrt: Die Region von Calais, 1986-2016

Gehen wir zurück ins Jahr 1986. Damals untersuchte Amnesty International die Situation von Menschen, die an der britischen Grenze zurückgewiesen wurden und sich ohne Einkünfte in Calais auf der Straße befanden. Einige von ihnen schienen den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu entsprechen und hätten daher Asyl beantragen können. Angespornt durch Amnesty International, nahmen sich die Einwohner_innen von Calais der Sache an. Es war die Geburtsstunde des Vereins La Belle Étoile, der sich 1994 konstituierte. Dreißig Jahre später können wir nicht mehr sagen, ob es ein Zufall war, dass die Menschenrechtsorganisation genau zu jener Zeit Kenntnis von dem nicht ganz neuen Phänomen der Zurückweisung von Migrant_innen an der britischen Grenze erhielt, oder ob eher die Verstärkung der Grenzkontrollen und die Verschärfung der Einreisevorschriften auf britischer Seite bewirkten, dass diese zurückgewiesenen Menschen zahlreicher und immer stärker wahrnehmbar wurden. In jener Zeit waren die Bestimmungen zur Einreise in das Hoheitsgebiet der europäischen Länder im Allgemeinen weniger streng als heute und legal einzureisen, war viel leichter. Daher war die Zahl abgewiesener Personen klein. Die Geschichte von Calais war also nicht so sehr die Geschichte einer zunehmenden Migration, als vielmehr die Geschichte einer Grenze, die sich für bestimmte Gruppen von Menschen schloss, nämlich für solche aus Ländern, in denen Krieg und Diktaturen herrschten – allerdings nicht nur für diese. Außerdem wurde damals die britische Grenze noch auf der anderen Seite des Ärmelkanals, auf englischem Boden, kontrolliert. Der Tunnel unter dem Kanal existierte noch nicht. Der Hafen war noch nicht von Zäunen

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umgeben und die Bahn brachte die Passagiere direkt vor den Fährhafen, von dem sie nur noch der französische Zoll trennte. Das war vor dreißig Jahren. In diesen dreißig Jahren wechselten sich Zeiten hoher Sichtbarkeit und Zeiten relativen Vergessens ab. Unser Blick wurde in einem so hohen Maße von den Menschen und vor allem von ihren Ansammlungen, Hausbesetzungen, Bidonvilles, Jungle und institutionalisierten Lagern angezogen, dass die Ursachen, wie es zu dieser Situation gekommen war, in den Hintergrund traten. Momente starker Sichtbarkeit forderten die Behörden zum Handeln auf. Die Verwaltung rückte dann ins Scheinwerferlicht der Aktualität und setzte sich darin in Szene, manchmal mit Maßnahmen, die ihrerseits die Blicke auf sich zogen, und manchmal mit solchen, die ebenso relevant waren, aber unbeachtet blieben. Calais zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, während die Situation entlang der Küste von der Bretagne bis zu den Niederlanden – heute sogar von Spanien bis nach Deutschland –, und im Landesinneren entlang der großen Verkehrsrouten und in Paris, das zu einer Art »Vorort von Calais« wurde, nur diffus wahrgenommen wurde.

1986-1997: Die Gleichgültigkeit der französischen Behörden La Belle Étoile, der erste Verein, der an der Grenze gestrandete oder abgewiesene Migrant_innen unterstützte, bot materielle Hilfe und rechtliche Unterstützung an. Dazu arbeitete er mit anderen humanitären Vereinigungen zusammen, wie mit Cimade (Comité inter mouvements auprès des évacués, frei übersetzt: Bewegungsübergreifendes Komitee der Flüchtlingsarbeit) oder mit France Terre d’Asile, mit öffentlichen Einrichtungen wie dem Service social d’Aide aux Étrangers (SSAE, Sozialdienst für Ausländerhilfe) und den Centres d’Hébergement et de Réinsertion sociale (CHRS, Zentren zur Unterbringung und sozialen Wiedereingliederung). Der britische Verein Migrant HelpLine verständigte La Belle Étoile zum Beispiel, wenn schutzbedürftige Menschen in Dover am Eintritt in britisches Territorium gehindert worden waren. Zu jener Zeit kümmerten sich die Behörden nicht besonders um die Situation; sie waren weder hilfsbereit, noch feindselig, noch reagierten sie pauschal repressiv auf die Anwesenheit von Migrant_innen. Es war möglich, sich an öffentlich-rechtliche Einrichtungen oder an die Ausländerhilfe zu wenden. Einzelne Fälle waren besonders kompliziert, etwa wenn Personen, denen das Vereinigte Königreich die Einreise versagt hatte, von den französischen

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Behörden nicht auf französisches Territorium zurückgelassen wurden. Bis ihre Situation abschließend geklärt werden konnten, fuhren diese Menschen auf Fähren zwischen den beiden Grenzstellen hin und her. Seitdem zwingen Rückübernahmeabkommen das Land, aus dem die Person gekommen ist, zur Rücknahme, wenn die Einreise in das Nachbarland abgelehnt wurde. Seit dem Sturz der kommunistischen Regime ab 1990 können Staatsangehörige osteuropäischer Länder im Gebiet der Europäischen Union ohne Visum reisen. Sie wurden jedoch sehr oft an der britischen Grenze zurückgewiesen und fanden sich alsbald in Calais wieder. Es waren Gruppen, die mit dem Bus reisten und auf dessen Rückfahrt warten mussten, um in ihr Heimatland zurückzukehren. Aus Mangel an Geld, um sich ein Hotel leisten oder wieder nach Hause fahren zu können, schliefen manchmal Dutzende Menschen im Fährhafen. Aber weder staatliche noch städtische Einrichtungen nahmen sich dieser Situation an. Durch die Eröffnung des Kanaltunnels im Jahr 1994 entstand eine neue unterirdische Grenze zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Für einen Teil der britischen Öffentlichkeit war diese Verbindung zwischen Großbritannien und dem Kontinent das symbolische Ende ihrer Insellage und der damit verbundenen Sicherheit. Das 1991 unterzeichnete SangatteAbkommen1 war die symbolische Antwort auf diese Befürchtungen. Es regelt die Kontrolle dieser neuen Grenze und sieht vor, dass die Zugangskontrollen zum britischen Boden bereits vor dem Tunneleingang in Frankreich durchgeführt werden; in symmetrischer Weise finden französische Kontrollen auf britischem Boden statt. In der Praxis unterstützt diese Regelung den Verkehrsfluss. Sie war aber auch der erste Schritt hin zu einer Politik der Externalisierung der britischen Grenzkontrollen auf französischen Boden, die sich fortan immer stärker asymmetrisch entwickelte. Das Sangatte-Abkommen wurde 1993 noch durch ein trilaterales Abkommen zwischen Belgien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich über Kontrollen der von Brüssel zum Kanaltunnel fahrenden Züge ergänzt.

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Protocol between the Government of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the Government of the French Republic Concerning Frontier Controls and Policing, Co-operation in Criminal Justice, Public Safety and Mutual Assistance Relating to the Channel Fixed Link, unterzeichnet in Sangatte am 25. November 1993, Treaty Series no. 70 (1993), Cm 2366. Anm. d. Übs.: Der Name bezieht sich auf Sangatte, die Nachbargemeinde von Calais, in der sich von 1999 bis 2002 auch das unten beschriebene Lager befand.

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1997-1999: Die Aufmerksamkeit stieg Ab Ende der 1990er Jahre waren die beiden Nachbarstaaten Frankreich und Großbritannien gezwungen, sich stärker mit der Situation von gestrandeten oder an der britischen Grenze abgewiesenen Migrant_innen zu beschäftigen. Am 13. Oktober 1997 beantragten Roma aus der Tschechischen Republik und der Slowakei bei den britischen Behörden Asyl. Ihre Anträge wurden abgelehnt und sie wurden nach Frankreich abgeschoben, woher sie gekommen waren. Diese vierzig Menschen schliefen nun im Fährhafen von Calais. Unter dem Druck von La Belle Étoile stimmte nach einem Monat die Präfektur zu, in der Nähe des Hafens ein Gebäude zu beschlagnahmen, um sie unterzubringen. Es dauerte noch zwei weitere Monate, bis sich die französische und britische Regierung auf eine offizielle Lösung einigen konnten. Die Hälfte der Familien durfte ins Vereinigte Königreich einreisen, um dort ihren Asylantrag zu wiederholen, die übrigen sollten in Frankreich Asyl beantragen. Vor dem Hintergrund des Kosovo-Krieges stieg in den Jahren 1998 und 1999 die Zahl der flüchtenden Menschen merklich an. Zeitweise schliefen bis zu hundert Personen im Fährhafen, darunter immer mehr Familien. Die Lage in Calais verschärfte sich. Die CHRS und die Hotels waren immer seltener bereit, Migrant_innen aufzunehmen; auch für die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen wurde es immer schwieriger, Unterbringungslösungen zu finden. Auf Antrag der Industrie- und Handelskammer, die den Hafen verwaltet, verbot die Präfektur am 23. April 1999 die Übernachtung im Fährhafen: »Jegliche Nutzung der öffentlichen Abschnitte des Transmanche-Terminals im Hafen von Calais zu einem anderen Zweck als dem des Personenverkehrs ist VERBOTEN«. Die Migrant_innen schliefen nun in den Straßen und öffentlichen Anlagen der Stadt, vor allem im gegenüber des Rathauses gelegenen Parc Saint-Pierre. La Belle Étoile und die anderen Vereine, die sich im Kollektiv C’Sur (Collectif de Soutien d’Urgence aux Refoulés, Nothilfekollektiv für Abgeschobene2 )

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Die Gruppe erweiterte ihren Namen später zu Collectif de Soutien d’Urgence aux Refoulés et aux Réfugiés (C’Sur, Kollektiv der Nothilfe für Abgeschobene und Flüchtlinge). 2016 setzte es sich aus folgenden Organisationen zusammen: AC !, Action catholique ouvrière (Katholische Arbeiteraktion), Artisans du Monde (Handwerker der Welt), La Belle Étoile, Emmaüs, Ligue des Droits de l’Homme (LDH, Liga für Menschenrechte), Mission étudiante (Studentische Mission), Pastorale des Migrants (Migrant_innenseelsorge) und den französischen Grünen.

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zusammengeschlossen hatten, appellierten auf der Grundlage bereits begonnener Gespräche zur Unterbringung der Migrant_innen an die Behörden. Am folgenden Tag wurde eine Halle eröffnet, in der sich Schlafzelte, Sanitäranlagen und vorgefertigte Einrichtungen für die Aufnahme und Verpflegung befanden. Mit der Leitung wurde der Verein La Belle Étoile betraut. Die Halle war nur nachts geöffnet, und zwar von 18 Uhr abends bis 9 Uhr morgens. Sie war für 80 Personen ausgelegt, musste aber bald zwischen 120 und 200 aufnehmen. Am 1. Juni 1999 kündigte der Präfekt die Schließung der Halle für den 4. Juni an. Die Migrant_innen suchten erneut in alten Bunkern, in verlassenen Gebäuden oder in Parks Unterschlupf. Der Parc Saint-Pierre verwandelte sich in ein Bidonville. Nach verschiedenen Beschwerden forderte der Unterpräfekt unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung die Vereine auf, jegliche Hilfe für die Migrant_innen einzustellen. Das Kräftemessen zwischen den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und dem Staat ging weiter. Nach dem Besuch des Präfekten des Departments Pas-de-Calais am Ort des Geschehens beschloss der Innenminister, drei vorübergehende Aufnahmebereiche einzurichten: für Familien ein zum Krankenhaus gehörendes Gebäude, für illegale Einwander_innen, die ausgewiesen werden sollten, ein Ferienzentrum und für die übrigen alleinstehenden Frauen und Männer einen Hallenkomplex, der in der an Calais angrenzenden Gemeinde Sangatte für den Bau des Kanaltunnels verwendet worden war. Diese Einrichtungen, die im Laufe des Monats August in mehreren Abschnitten geöffnet worden waren, wurden am 31. August 1999 wieder geschlossen. Dies bedeutete Rückkehr in die Bunker, in die städtischen Parks, in verlassene Gebäude und auf unbesiedeltes Land. Doch das Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigungen und dem Staat drehte sich nun um. Anfang September versuchten diese gemeinsam mit etwa hundert Migrant_innen, die Hallenunterkunft wieder zu öffnen. Der Versuch scheiterte und alle zogen demonstrierend zur Unterpräfektur. Mit Blick auf den in der darauffolgenden Woche anstehenden Besuch des Abbé Pierre (1919-2007), des äußerst populären Gründers der Wohltätigkeitsorganisation Emmaüs, gab der Staat nach und willigte am 24. September 1999 in die Wiedereröffnung des Hallenkomplexes von Sangatte ein.

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1999-2002: Der Moment von Sangatte Im Windschatten des in den folgenden Jahren vom Roten Kreuz betriebenen Aufnahmezentrums Sangatte wurden die Grenzkontrollen verstärkt. Dies wiederum verstärkte die Zerstreuung der Migrant_innen entlang der Küste zwischen der Bretagne und Belgien sowie entlang der nach Calais führenden Autobahnen in der Nähe der Parkplätze, auf denen die Lkws auf ihrem Weg nach Großbritannien anhielten. Um dorthin überzusetzen, versteckte man sich meist auf Lastwagen, die den Ärmelkanal auf der Fähre oder über die Bahnstrecke durch den Tunnel querten. Die Kontrollen waren auf britischer Seite schon in den Vorjahren verschärft worden. Mit dem Immigration and Asylum Act von 1999 wurden sie durch ein Verfahren ergänzt, das auf subtile Weise eine Verstärkung der Fahrzeugkontrollen an französischen Häfen bewirkte. Die britischen Behörden beschlossen gegen die Transporteure eine Geldstrafe von 2 000 Pfund für jede Person, die versteckt in einem Fahrzeug aufgefunden würde. Verstärkte Kontrollen vor dem Einschiffen verlängerten daraufhin die Verladezeit. Die Verlangsamung der Wirtschaftstätigkeit verringerte die Wettbewerbsfähigkeit des Hafens. Die Hafenbeamten von Calais hingegen kehrten die Logik um und behaupteten, dass die Kontrollen den Transporteuren erlaubten, Geldbußen zu vermeiden und reibungslos zu wirtschaften. Daher vervielfachten die Industrie- und Handelskammern, die die Häfen der nordfranzösischen Küste betrieben, in den nächsten Jahren ihre Kontrollen. Im Jahr 2000 wurde der Hafen von Calais von einem 2,80 Meter hohen und mit einem Erkennungssystem ausgestatteten Zaun umgeben und vom städtischen Raum abgeschnitten. Überwachungskameras und KohlendioxidDetektoren wurden installiert, um Personen im Inneren von Lastwagen aufzuspüren. Die Versuche zur Grenzpassage, die vorher hauptsächlich am Hafen stattgefunden hatten, weiteten sich nun auf den Tunnel aus. Im Laufe des Jahres 2001 wurden die Zäune um dessen Gelände herum verdoppelt und mit rasierklingenscharfem Stacheldraht bestückt. Um die Sicht zu verbessern, wurden Bäume und Büsche abgeholzt. 2002 umgaben weitere Zäune die Lkw-Verladeflächen vor den Fähren und die britische Armee stellte einen Passive Millimeter Wave Imager (PMMW) zur Verfügung, um die Fahrzeuginnenräume zu scannen. Diese Hindernisse verlängerten den Aufenthalt vor dem Grenzübertritt, was die zunehmende Zahl von Migrant_innen in Calais zum Teil erklärt. Auch andere Häfen und gelegentliche Passagestationen verwandelten sich nun in

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Orte dauerhaften Aufenthalts, an denen Camps entstanden oder verlassene Bauten besetzt wurden. In der Folge rüsteten andere Häfen mit Kontrollanlagen auf, 2001 der Hafen von Dieppe und 2002 der Hafen von Cherbourg (Zäune, Kameras, Wärme- und CO2 -Detektoren). Bedingt durch die Verschärfung der Kontrollen vervielfachten sich Fälle von Polizeigewalt bei Festnahmen, ohne dass sich dieses Phänomen bereits so allgemein ausbreitete, wie es in den folgenden Jahren geschehen würde. Am 26. September 2002 kamen die Innenminister von Belgien, Großbritannien und Frankreich in Seebrügge (Zeebrugge) zu einer trilateralen Besprechung zusammen, um gemeinsame Einwanderungskontrollen zu etablieren. Die drei Minister betrachteten »die von ihnen beratenen Maßnahmen […] als einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einem integrierten Management der Außengrenzen der Europäischen Union«.3 Den europäischen Beamt_innen diente diese Grenze als Blaupause für künftige Verfahren. In den Jahren 2003-04 wurden die britischen Kontrollen auf die belgischen Häfen (Ostende und Seebrügge) und schließlich auf die Niederlande ausgeweitet.

2002: Der Beginn britischer Kontrollen im Hafen von Calais Die Entscheidung zur Schließung des Aufnahmezentrums von Sangatte fiel am 12. Juli 2002. Nach Aussage der französischen Regierung sollte dies »der ganzen Welt signalisieren, dass es sich nicht mehr lohne, in diese Halle am Ende der Welt zu kommen, weil es unter diesen Bedingungen für [... die Migrant_innen] keine Zukunft gebe«.4 Das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) begleitete die französischen und britischen Behörden bei diesem Vorhaben. Es führte bei den Exilierten eine Informationskampagne über das Asylrecht durch und war für die Registrierung von Personen zuständig, die im Rotkreuzzentrum von Sangatte untergebracht waren. Dieser Schritt ermöglichte es, die besonderen Fälle sogenannter schutzbedürftiger Personen (unbegleitete Minderjährige, von denen einige Familie in England hatten,

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Vormals: www.interieur.gouv.fr/rubriques/c/c2_le_ministere/c21_actualite/02_09_27_ sangatte. Innenminister Nicolas Sarkozy am Rande der Assises des libertés locales der Region Poitou-Charentes im Futuroscope bei Poitiers (Reuters, 9.11.2002).

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alleinstehende Frauen, Kranke, Verletzte usw.) zu identifizieren, die dann von der UN-Agentur bearbeitet wurden. Nach der Unterzeichnung eines dreiteiligen Plans durch die neue Regierung Afghanistans boten die französische Regierung und der UNHCR afghanischen Migrant_innen ein freiwilliges Rückführungsprogramm mit einem finanziellen Ausgleich von 2000 € pro Person (plus 500 € zusätzlich für jedes Kind) an. Nur elf Personen fanden sich bereit, sich nach Afghanistan zurückführen zu lassen. Von den zum Zeitpunkt der Schließung des Lagers Sangatte offiziell unterstützten 1268 Ausländer_innen wurden weitere 35 Personen in anderen europäischen Ländern (wieder) aufgenommen, fanden 200 in Frankreich Unterkunft und 1032 durften nach England einreisen; die britischen Behörden verpflichteten sich, die meisten Ausländer_innen aus dem Lager Sangatte zu übernehmen, darunter fast alle 893 Iraker_innen. Ab dem 5. November 2002 kamen Exilierte, die sich nicht registrieren lassen konnten, und Neuankömmlinge nicht mehr in das Sangatte-Zentrum hinein. An dessen Eingang waren Polizist_innen postiert, die alle Personen aussperrten, die nach der Registrierung durch den UNHCR keine Zutrittsbadges erhalten hatten. Um gegen diese Ausgrenzung zu protestieren, besetzten die Exilierten, unterstützt von Aktivist_innen und Freiwilligen der Vereine, mehrere öffentliche und private Bauten, insbesondere kirchliche Gebäude. Angesichts dieser Mobilisierung musste die Präfektur schließlich zulassen, dass die Migrant_innen, deren Badges ungültig geworden waren, wieder ins Zentrum zurückkehrten – alle anderen blieben jedoch ausgeschlossen. Ab Anfang Dezember 2002 nahm das Sangatte-Zentrum endgültig keine Neuankömmlinge mehr auf. Das Lager wurde am 31. Dezember offiziell geschlossen und die früheren Eurotunnel-Hallen wurden in den folgenden Tagen abgerissen.

Die langen Jahre der Vertreibung Mit der Schließung des Sangatte-Zentrums begann eine neue Phase der Externalisierung britischer Grenzkontrollen auf französischen Boden. Zunächst jedoch wurden bereits im Dezember 2002 unter den Namen Concorde und Ulysse Polizeieinsätze durchgeführt, zu denen sechs CRS-Kompanien (Compagnies républicaines de sécurité, Republikanische Sicherheitskompanien, vergleichbar mit der deutschen Bereitschaftspolizei) und zwei zusätzliche Staffeln abgestellt wurden, um »die sich aus der Schließung des Zentrums

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ergebende Störung der öffentlichen Ordnung zu beheben und um die Migranten aus der Region von Calais zu entfernen«5 . Der Polizeieinsatz Ulysses wurde in der Zeit nach der Schließung des Sangatte-Zentrums mehrmals wiederholt. Ziel war es, die Exilierten durch Massenverhaftungen aus der Region zu vertreiben. Diese Einsätze beinhalteten einen Kontrollaspekt für den Fall, dass der/die Exilierte ein Angebot zur vorübergehenden Unterbringung nutzte. Wenn der/die Betreffende sich weigerte oder zögerte, um Hilfe zur freiwilligen Rückkehr zu bitten, wurde ihm/ihr die Möglichkeit verweigert, einen Asylantrag zu stellen, und er/sie erhielt fast unmittelbar eine Abschiebungsanordnung. Im Dezember 2006 wurden die Exilierten am Ausgang der Unterbringungszentren festgenommen und direkt in Abschiebehaftzentren eingewiesen. Diese Logik von ständiger Belästigung und Abschreckung kam auch am 2. Januar 2003 in der Eröffnung eines Haftzentrums in Coquelles, einer Nachbargemeinde von Calais,6 zum Ausdruck. So liefen, wenn sie in den Straßen von Calais aufgegriffen wurden, von Abschiebung bedrohte Exilierte Gefahr, in Abschiebehaft genommen zu werden, und zwar selbst dann, wenn sie aus Ländern stammten, in denen Krieg herrschte und in die man sie praktisch nicht zurückschicken konnte. Auch von der »Dublin-Verordnung«7 betroffene Migrant_innen riskierten eine Ausweisung, die allerdings nicht immer wirksam wurde. Es konnte ebenfalls geschehen, dass sie freigelassen wurden und sich auf der Straße wiederfanden, um dann erneut festgenommen und möglicherweise wieder in Haft genommen zu werden. In die lange Liste polizeili-

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Direction départementale de la Police aux Frontières (DDPAF, Departementsdirektion der französischen Grenzpolizei), Bericht 2003. Anm. d. Übs.: Die Gemeinde Coquelles grenzt wie Sangatte und Fréthun westlich an Calais und ist wie diese ursprünglich ländlich geprägt. Das ausgedehnte Betriebsgelände der Eurotunnel-Gesellschaft und die zugehörigen Bahnanlagen nehmen große Teile der Gemeindegebiete insbesondere von Coquelles und Fréthun in Anspruch. Das Verwaltungshaftzentrum von Coquelles ist räumlich in diese Anlagen integriert. Anm. d. Übs.: Das ursprünglich als zwischenstaatlicher Vertrag geschlossene Dubliner Übereinkommen vom 15. Juni 1990 wurde auf dem Zeithorizont der hier geschilderten Ereignisse durch die EG-Verordnung Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003, genannt Dublin-II, ersetzt; am 26. Juni 2013 folgte die als Dublin-III bekannte und bis heute gültige EU-Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013. Gegenstand der Verträge bzw. Verordnungen sind u.a. die Zuständigkeit für Asylverfahren sowie die Verfahren, Kriterien und Fristen für Abschiebungen innerhalb des Gebiets der Vertrags- bzw. EU-Staaten.

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cher Abschreckungsmechanismen der Post-Sangatte-Phase war nun das Element »(Abschiebe-)Haft« aufgenommen. In direkter Folge der Schließung des Sangatte-Zentrums unterzeichneten am 4. Februar 2003 die französischen und britischen Regierungen ein neues bilaterales Abkommen: den Vertrag von Le Touquet,8 dessen Inhalt stark von diesem Kontext geprägt ist. Die Vereinbarung konkretisierte die Möglichkeiten bilateraler Grenzkontrollen für alle Seehäfen des Ärmelkanals und der Nordsee – ein neuer Schritt in der Logik der Externalisierung der britischen Grenze. Im Unterschied zu früheren Vereinbarungen waren die beschlossenen Maßnahmen von finanziellen und materiellen Beihilfen Großbritanniens abhängig. Der Vertrag von Le Touquet verallgemeinerte außerdem das im Jahr 2003 schrittweise eingeführte System, das die Transportunternehmen finanziell bestrafte, wenn ein Exilierter unter einem Lastwagen oder in einem Anhänger entdeckt wurde (2000 britische Pfund für jede entdeckte Person). Unmittelbar nach Sangatte suchten die vor polizeilicher Verfolgung geflohenen Exilierten gleichsam in den Ritzen der Stadt Zuflucht: Sie hausten in Bunkern (die, einmal von der Polizei entdeckt, zugemauert wurden), ließen sich in verlassenen Gebäuden nieder oder bastelten sich in Gebüschen und Waldstücken Behelfsunterkünfte aus Paletten und Planen. Nachdem sie zunächst in der Ortsmitte von Sangatte geblieben waren, zogen die Migrant_innen bald nach Calais weiter und dort vor allem in das Industriegebiet Zone des Dunes um, wo sich die Fabrik Tioxide sowie die Waldstücke bois Dubrulle und bois des Garennes befinden. Dieses Industriegebiet war einer der Orte, an denen sich bis 2015 Besetzungen und Campgründungen ablösten. Die Schließung des Sangatte-Zentrums verschärfte die Verstreuung der Exilierten auf andere Passageorte. Landeinwärts von Calais tauchten auf den Migrationsrouten der Menschen neue Zwischenstationen namens NorrentFontes, Angres oder Steenvoorde auf. Weiter im Süden wurde Paris zu einem Ort, an dem die Exilierten warteten und sich orientierten oder wohin sie sich zurückzogen, wenn der polizeiliche Druck in Calais zu stark geworden war. Kurz nach der Schließung von Sangatte ließen sie sich in Paris auf der place

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Treaty between the Government of the United Kingdom and the Government of the French Republic concerning the implementation of frontier controls at sea ports of both countries on the Channel and North Sea, unterzeichnet am 4. Februar 2001, Treaty Series Nr. 70 (1993), Cm 2366.

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Alban-Satragne nieder, wie die Aktivist_innen der in jenen Tagen gegründeten Gruppe Exilés du 10e  [Arrondissement] beobachten konnten.9 Mit der Zeit und mit zunehmender Vertreibung wurden andere öffentliche Plätze von Migrant_innen als Zufluchtsort eingenommen: vom Jardin Vuillemin bis zum nackten Boden unter der Hochbahnstation La Chapelle.

2009 – ein neues Medienereignis: »Die Schließung des Jungle von Calais« Die Verschärfung des Konflikts in Afghanistan seit 2005 zeigte sich in der gesteigerten Ankunft afghanischer Flüchtlinge in Europa, die auch an der britischen Grenze bemerkbar war. In Calais wurden diese im Herbst 2008 zum Objekt von Razzien, die in Inhaftierungen mündeten. Für ihre Abschiebung nach Afghanistan waren gemeinsame französisch-britische Flüge geplant. Hiergegen mobilisierten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Abschiebungen aufhob. Mit der Zunahme ihrer Zahl und mit der Veröffentlichung eines Berichts der Coordination française pour le Droit d’Asile (CFDA, Französische Koordinierung für Asylrecht) mit dem Titel La loi des Jungles (Das Gesetz der Jungles) im September 2008 wurde die Situation der Migrant_innen an der nordfranzösischen Küste nun auch öffentlich stärker wahrgenommen. Während des ganzen Jahres 2009 erzeugte die französische Regierung eine Folge von Medienberichten, die um mehrere Calais-Besuche des Ministers für Einwanderung und nationale Identität Éric Besson herum verfasst wurden. Am 27. Januar kam dieser nach Calais, »um sich ein Bild von der Lage zu machen«; er versprach, die Grenze »dicht zu machen« und verpflichtete sich, vor dem 1. Mai zurückzukehren, um »Lösungen vorzustellen«. Am 23. April kam er zurück und legte einen zweiteiligen Plan vor. Der erste Teil zielte auf »Entschlossenheit« ab und sah die »Schließung« der besetzten Gebäude und Camps bis Ende des Jahres vor. Der zweite Teil stand unter dem Leitwort »Menschlichkeit« und griff einige zwischen den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und dem Rathaus besprochene Punkte auf: Es sollten Möglichkeiten für die Ausgabe von Mahlzeiten, ein Tageszentrum und ein Ort für Duschen geschaffen werden; dieses sollte von den lokalen Behörden finanziert und der 9

Violaine Carrère, »Au square : Le Collectif de soutien aux exilés du 10e  arrondissement de Paris«, Vacarme (2003), n° 25, S. 112-16.

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Betrieb hauptsächlich auf freiwilliger Basis von den Vereinigungen gewährleistet werden. Hinzu kam die Eröffnung eines Büros zur Registrierung von Asylanträgen in der Unterpräfektur von Calais und eines zur Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr. Am 21. April wurden bei einer Razzia im afghanischen Camp 200 Personen in Polizeigewahrsam genommen und anschließend wieder freigelassen. Diese Operation wurde als »Testlauf« für das Niederreißen dessen präsentiert, was mittlerweile »Dschungel von Calais« hieß. Nach der Einrichtung des Büros zur Registrierung von Asylanträgen in der Unterpräfektur eröffnete der UNHCR gemeinsam mit France Terre d’Asile ebenfalls ein Büro in Calais. Die meisten Vereinigungen von Calais begannen nun damit, die Asylbewerber_innen bei ihren Behördengängen zu begleiten. Die Zahl der Migrant_innen in Calais stieg im Juli 2009 an und erreichte 1200 bis 1400 Menschen. Danach nahm sie rapide ab, als der Grenzübertritt nach Großbritannien im Sommer plötzlich erleichtert wurde. Dieser Rückgang war gleichermaßen auf die Vereinbarungen zwischen Libyen und Italien zurückzuführen, die den Menschen aus Ostafrika die Überfahrt über das Mittelmeer erschwerten, sowie auf die Neuorientierung eines Teils der Afghan_innen in Richtung Skandinavien. Der Zerstörung der Camps von Calais im Herbst 2009 waren Anfang Juli die Zerstörung des Bidonvilles von Patras in Griechenland und im August die Evakuierung der Pariser Camps um die Gare de l’Est vorausgegangen. Das Bidonville von Patras hatte zwölf Jahre bestanden; seine Zerstörung richtete die Wanderungsroute neu auf den Hafen von Igoumenitsa und auf die Landstrecke über den Balkan aus.10 In Calais wurden die Camps zwischen dem 22. September und dem 7. Oktober 2009 zerstört. Es begann mit der »Schließung« des Jungle von Calais, eines Bidonvilles, das auf einem unbebauten Grundstück im bereits erwähnten Industriegebiet errichtet worden war. Die von internationaler Medienberichterstattung begleitete Operation wurde vom Einwanderungsminister angekündigt, der sich am Nachmittag nach der Evakuierung der Bewohner_innen und während der Zerstörung der Siedlung auf das Gelände begab. Das Camp war 2008 im Zyklus der wiederkehrenden Zerstörungen entstanden, welche die Exilierten kontinuierlich zwangen, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Es hatte im Juli 2009 etwa 900 Menschen beherbergt und war Anfang September auf 600 Bewohner_innen zurückgegangen, von denen 10

Vgl. Michel Agier, Sara Prestianni, Je me suis réfugié là! Bords de route en exil (Paris: Donner lieu, 2011).

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es etwa die Hälfte in der Zeit zwischen der Ankündigung der Evakuierung und ihrer Ausführung verließen. Am Ende wurden 278 Personen festgenommen, die nach einer »Gesichtskontrolle« in Minderjährige und Erwachsene aufgeteilt wurden. Erstere wurden in aus diesem Anlass eröffnete Zentren gebracht, aus denen die meisten von ihnen in den folgenden Tagen wieder fortgingen. Die Erwachsenen und diejenigen, die von der Polizei für Erwachsene gehalten wurden, schickte man in über ganz Frankreich verstreute Haftzentren, wo fast alle wegen Verfahrensunregelmäßigkeiten von den Gerichten wieder in die Freiheit entlassen wurden. Nur neun Personen, die am 22. September und in den darauffolgenden Tagen verhaftet worden waren und die nach ihrer Ankunft in der Abschiebehaft keinen Widerspruch eingelegt hatten, wurden durch einen gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich organisierten Charterflug nach Afghanistan abgeschoben. Der Einwanderungsminister kehrte am 2. Oktober nach Calais zurück. Um mit seinem Besuch ein Zeichen zu setzen, wurde am gleichen Morgen das Camp der Sudanes_innen evakuiert und am Mittag die Besetzung der Eritreer_innen geschleift. Rund 600 dieser Migrant_innen waren vor Beginn der Vertreibungen in Calais anwesend. Ihre Zahl pendelte sich ab November auf etwa 400 ein. Schon einige Tage vor der Evakuierung vom 22. September 2009 bereitete eine nationale Inszenierung in den Zeitungen und auf den Fernsehbildschirmen dieses Ereignis vor und machte es zu einem Symbol für die Entfernung von Ausländer_innen und für den Schutz des Staatsgebietes: Überall konnte man Worte lesen und Bilder sehen, die uns eine beängstigende Welt am Rande der Gesellschaft vor Augen führten: »organisiertes Verbrechen«, eine »Mafia« von Schleusern und die Schrecken des Elends.

Das Netz der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen Die ersten Solidaritätsaktionen entstanden aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Mit steigender Zahl der an der Kanalküste in den 1990er Jahren gestrandeten Migrant_innen organisierten sich diejenigen vereinsmäßig, die ohne großes Aufsehen Hilfe leisteten, eine warme Mahlzeit kochten und manchmal auch Unterkunft bereitstellten. La Belle Étoile war die erste Vereinigung. Sie wurde 1994 mit dem Ziel gegründet, »jeden Ausländer, der sich bei seiner Durchreise durch die Region Calais in Schwierigkeiten befindet,

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Der »Dschungel von Calais«

Abb. 2: Der im September 2009 zerstörte »Jungle von Calais«, auch »Paschtunischer Jungle« genannt.

Foto: Sara Prestianni, Juli 2009

unentgeltlich moralisch und rechtlich […] zu informieren, zu beraten [und] zu unterstützen«. Nicht immer fanden individuelle Solidaritätsaktionen unter dem Dach der Vereinigungen statt: Die Zubereitung von warmen Mahlzeiten, das Aufladen eines Mobiltelefons, Unterbringung oder das Abheben von transferiertem Geld waren meist Aktionen Einzelner, die ohne Absprache mit anderen aus der mehr oder minder direkten Umgebung der Camps bzw. der Passage-

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orte geleistet wurden. Auf Grund der Verfolgung des so genannten »Solidaritätsdelikts«11 organisierten sich diese Menschen in Gruppen. Das Collectif de Soutien d’Urgence aux Refoulés (C’Sur) wurde im Winter 1997 geschaffen, um die Organisation von materieller und politischer Unterstützung für die aus der Tschechischen Republik stammenden und nicht auf englisches Territorium gelassenen Roma zu erleichtern. Es bestand aus La Belle Étoile, lokalen Gruppen der Heilsarmee, dem Comité catholique contre la Faim et pour le Développement (CCFD, Katholisches Komitee gegen Hunger und für Entwicklung), der Sektion Calais der Ligue des Droits de l’Homme (LDH, Liga für Menschenrechte) und der Association d’Entraide du Calaisis (AEC, Verein für gegenseitige Hilfe der Region von Calais). Anschließend traten andere Organisationen dem Kollektiv bei: die Scouts et Guides de France (die französischen Pfadfinder), der Secours catholique (Katholische Hilfe), die örtliche Sektion der Partei Les Verts (die französischen Grünen) und der Verein Salam. Der Name des Kollektivs C’Sur wurde in Collectif de Soutien d’Urgence aux Refoulés umgeändert. Der Austritt von Salam und des Secours catholique schwächte das Kollektiv – am Ende wurde es aufgelöst. Salam wiederum war 2003 mit dem Ziel gegründet worden, humanitäre Hilfe für Migrant_innen zu leisten, aber auch freiwillige Helfer_innen zu unterstützen, die für ihre Solidaritätsaktionen verfolgt wurden. Im Kontext heftiger Auseinandersetzungen mit der Verwaltung sowie eines internen Streits der Vereine über ihre künftige Haltung gegenüber den Behörden – die Mitgliedsvereine von C’Sur »streikten«, um den Staat zur Unterstützung der Migrant_innen zu zwingen; Salam verließ das Kollektiv, führte seine Aktivitäten aber fort – wurde 2008 aus einem Kern von Freiwilligen der übrigen Vereinigungen die Auberge des Migrants (Herberge der Migrant_innen) geboren. Das Auftauchen von Camps im Hinterland von Calais und an den wichtigsten Kanalhäfen bewirkte außerdem die Gründung weiterer politischer Initiativen und Gruppen, die sich zur Aufgabe machten, die in diesen Bidonvilles lebenden Exilierten zu unterstützen. Der Verein Itinérance

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Anm. d. Übs.: Der Begriff »Solidaritätsdelikt« (délit de solidarité) bezeichnet die Kriminalisierung von Hilfeleistungen für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. In Calais wurden und werden Hilfen wie etwa die Verteilung von Mahlzeiten, Zelten, Schlafsätzen oder das Bereitstellen von Duschen immer wieder als »Solidaritätsdelikte« kriminalisiert, allerdings stellte die Justiz wiederholt fest, dass die Hilfeleistungen nicht illegal, sondern sogar notwendig seien.

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wurde 2006 in Cherbourg geschaffen, 2008 die Terre d’Errance in NorrentFontes. 2009 entstanden Terre d’Errance in Steenvoorde und das Kollektiv Fraternité Migrants Bassin Minier 62 in Angres, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Jahr 2008 führte die Coordination française pour le Droit d’Asile (CFDA) eine umfassende Untersuchung zur gesamten französischen Nordküste durch und traf sich mit einer Reihe der dort tätigen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteure_innen. Diese Recherchearbeit brachte die Veröffentlichung des bereits genannten Berichtes La loi des Jungles hervor, der als Grundlage für die Vernetzung der verschiedenen Organisationen und von exilierte Personen vor Ort unterstützenden Aktivist_innen diente. Diese Dynamik spiegelte sich auch 2009 in der Schaffung des informellen Netzwerks Jungles wider, das eine Verteilerliste unterhielt und es den Beteiligten über öffentliche Versammlungen ermöglichte, sich kennenzulernen und auszutauschen. 2011 wurde beschlossen, dieses Netzwerk besser zu strukturieren; es wurde unter dem Namen Plateforme de Services aux Migrants (PSM, Plattform der Dienste für Migrant_innen) als Verein eingetragen. Vereinsziel ist es, »Erfahrungen, Mittel und Fähigkeiten zu vergemeinschaften, um die Rechte der Exilierten besser verteidigen zu können«. In Norrent-Fontes, einer kleinen Kommune 75 Kilometer südlich von Calais, gab es seit 2006/07 Migrant_innencamps. Obwohl sie regelmäßig von der Polizei zerstört wurden, kehrten die Exilierten immer wieder in die Region zurück, weil es in der Nähe einen Lkw-Parkplatz gab. Bei den Kommunalwahlen vom März 2008 wurde Marc Boulnois von der Partei Europe-Écologie/Les Verts (Europa-Ökologie/Die Grünen) zum Bürgermeister gewählt. Während seines Mandats beendete er die Logik der Vertreibung und probierte etwas Neues aus: Der Lokalpolitiker erlaubte den Exilierten, sich im Bereich eines Entwässerungsgrabens entlang eines Gemeindeweges zwischen zwei landwirtschaftlichen Parzellen anzusiedeln. Ihre Situation dort war immer noch prekär, aber sie brauchten vorerst keine Räumung mehr zu befürchten. Das Camp wurde schließlich im September 2017 doch geräumt. Ein paar Dutzend Menschen bauten in einem nahegelegenen Waldstück ein neues Camp auf. Doch die staatlichen Stellen verharrten in der Logik von Abschreckung durch Vertreibung. 2010 begann ein Kräftemessen zwischen dem Rathaus von Norrent-Fontes und dem Staat, der die Gemeinde zweimal (im Dezember 2010 und im November 2011) aufforderte, das Camp zu zerschlagen, was der Bürgermeister jedoch ablehnte. Diese Situation rief viele Menschen auf den Plan, darunter gewählte Gemeinderäte, die sich in informeller Weise orga-

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Abb. 3: Das Lager von Norrent-Fontes, 2016

Foto: Julien Saison

nisierten. Jenseits der Gemeindeverwaltung von Norrent-Fontes entwickelte sich in der Region ein Netzwerk zur Unterstützung des Bürgermeisters, das Réseau des Élus hospitaliers (REH, Netzwerk der gastfreundlichen Abgeordneten). In diesem Netzwerk fand man u.a. den Bürgermeister von GrandeSynthe Damien Carême, damals Mitglied der Sozialistischen Partei, die Bürgermeisterin von Angres Maryse Roger-Coupin von der Kommunistischen Partei Frankreichs und Hélène Flautre, Abgeordnete des Europaparlaments für Europe-Écologie/Les Verts. Ausgehend von diesem informellen Netzwerk, das entstanden war, um gegenüber staatlichen Angriffen wachsam zu sein, organisierte sich diese Gruppe von Amtsträger_innen als Verein mit der Aufgabe, »Gemeinden und Abgeordnete zu unterstützen, die im Einklang mit den Menschenrechten handeln […], insbesondere diejenigen Gemeinden, die Migrant_innen aufnehmen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten unter Mithilfe von Vereinen und Einwohner_innen für Migrant_innen und allgemein für Personen, die sich auf ihrem Gebiet in Schwierigkeiten befinden, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen garantieren.«12 Abgestoßen von der feindseligen nationa-

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Statuten des Vereins Réseau des Élus hospitaliers.

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len Migrationspolitik, wollte dieses Netzwerk eine andere Aufnahmepolitik initiieren. In Norrent-Fontes, Angres und Grande-Synthe bemühten sich die Bürgermeister_innen, diese Vision in die Praxis umzusetzen. Mit den Vereinigungen, die lokal versuchten, die Lebensbedingungen von Migrant_innen zu verbessern, wurde der Dialog aufgenommen und manchmal sogar eine echte Zusammenarbeit aufgebaut. In Norrent-Fontes wurde ein Hüttenlager errichtet und der Bürgermeister stellte regelmäßig einen Frischwassertank auf. In Angres tolerierte das Rathaus, dass ein städtisches Gebäude von Exilierten besetzt wurde. In Grande-Synthe wurden Zelte und Hütten gebaut und das Rathaus stellte im Winter eine Heizanlage zur Verfügung.

Ein Lichtstreif am Horizont Im Mai und Juni 2012 wechselte mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen die Regierung Frankreichs. Das änderte aber nichts an den Interventionsmethoden des Staates und seiner Behörden. Im September 2012 fanden in Calais mehrere Vertreibungen aus besetzten Gebäuden oder Camps statt und die Polizei nahm die Menschen fest. Einige von ihnen wurden in das Verwaltungshaftzentrum (Centre de Rétention administrative, CRA) gebracht; ihre Habseligkeiten wurden vernichtet oder beschlagnahmt. Man suchte aber keine Lösung für eine dauerhafte Unterbringung und die Migrant_innen saßen wieder auf der Straße. In dieser Situation ließ der Präfekt von Pas-de-Calais »einen runden Tisch zur Situation der Migrantenbevölkerung (population de migrants) im Departement Pas-de-Calais« einrichten.13 Mit dem Rundschreiben vom 26. August 201214 lud er einen Teil der Vereinigungen ein, »gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die die Situation verbessern und es allen ermöglichen könnten, gemäß den gesetzlichen Bestimmungen ihre Aufgaben zu erfüllen«. Zwischen Oktober 2012 und Dezember 2013 blieben die Treffen recht formell und erzielten keine wesentlichen Fortschritte. Jedoch gestattete dieses »Konzertie-

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Courrier de la préfecture du Pas-de-Calais, Einrichtung eines runden Tisches zur Lage der Migrant_innen im Pas-de-Calais, 28. Dezember 2012. Rundschreiben vom 26. August 2012 über die Antizipation und Begleitung der Evakuierungsoperationen der illegalen Camps.

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rungsforum« zumindest den Vereinigungen, den 2009 abgebrochenen Dialog mit der Verwaltung wieder aufzunehmen. Im Dezember 2013 saß der damalige Innenminister Manuel Valls in Calais einem Treffen dieses Dialogforums vor. Nachdem er beim Besuch der Polizeikräfte am selben Morgen Verstärkungen angekündigt hatte, versprach er den Akteur_innen aus den Vereinigungen, er wolle auf das Experiment »Haus der Migrant_innen« (Maison des migrants) eingehen,15 eine von einem Teil der Vereinigungen geplante und verfochtene Aufnahmeeinrichtung. Über den Direktor für sozialen Zusammenhalt im Departement Pas-de-Calais16 ließ der Innenminister diese Maßnahme erläutern. Sie ziele darauf ab, »über die Schaffung von Aufnahmeeinrichtungen für Migranten nachzudenken, in denen diese Personen sich ausruhen, sich behandeln lassen und über ihre Pläne nachdenken können, ob sie nach England weiterziehen, in Frankreich bleiben oder in ihr Herkunftsland zurückkehren wollen.«17 Unter diesem Gesichtspunkt befürworteten die staatlichen Stellen, in Absprache mit den Akteur_innen aus den Vereinigungen eine Diagnose zu erstellen, die es erlaube, sich ein Bild vom Zustand der migrantischen Camps in Nordfrankreich zu machen. Parallel zu diesen Gesprächen fiel im November 2013 die gerichtliche Entscheidung, eine Besetzung in der rue Victor-Hugo in Calais zu beenden. Das unbewohnte Haus war durch No Border-Aktivist_innen besetzt worden, um besonders schutzbedürftige Personen unter den Exilierten (Frauen, Kinder oder kranke und verletzte Männer) unterzubringen. Das vom Eigentümer angestoßene Räumungsverfahren mündete in einen Räumungsbefehl. Der Präfekt des Pas-de-Calais erklärte daraufhin, dass niemand vertrieben würde, wenn keine alternativen Unterkünfte bereitstünden. Damit begann eine neue Verhandlungsphase zwischen den staatlichen Einrichtungen, den Vereinigungen und den Aktivist_innen von No Border. Am Ende wurde die sozial engagierte Vereinigung Solid’R vom Staat gebeten, erneut die Verwaltung des Hauses zu übernehmen. In einem ersten Schritt halfen Sozialarbeiter_innen 15 16

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Anm. d. Übs: Nicht zu verwechseln mit der Auberge des Migrants, der seit 2008 bestehenden Vereinigung. Anm. d. Übs.: Die directions départementales de la Cohésion sociale (DDCS) waren dezentralisierte Ämter der Französischen Republik, die in den Präfekturen für Sozialpolitik zuständig waren. »Maisons des migrants : Un appel à candidatures pourrait être lancé aux communes du Calaisis«, La Voix du Nord (18.12.2013); www.lavoixdunord.fr/region/maisons-desmigrants-un-appel-a-candidatures-pourrait-ia33b48581n1785201 (10.4.2019).

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den Bewohner_innen des besetzten Hauses, bevor diese in ein anderes Gebäude umziehen konnten und das Haus wieder dem Eigentümer zur Verfügung gestellt wurde. Dieser neue, von den Sozialarbeiter_innen »Haus der Frauen« (Maison des femmes) genannte Ort konkretisierte das schlüssige Experiment eines Aufnahmeortes für Migrantinnen während ihrer Passage. Der günstige politische Kontext hielt nicht an. Nach den Europawahlen und den Gemeinderatswahlen im Frühjahr 2014, bei denen die an der Macht befindlichen Linken einen schweren Rückschlag hinnehmen mussten, verhärtete sich die Haltung der Regierung. Der Staat weigerte sich, weiter das Projekt zur Errichtung eines »Migrant_innenhauses« im betroffenen Gebiet zu verfolgen. Dagegen besagte in Calais die erste Entscheidung nach den Wahlen, die ohne Absprache vorgenommene Ankündigung vom 21. Mai 2014, dass mehrere Camps auch ohne Unterbringungslösung geschlossen werden sollten. Unter dem Vorwand, eine sanitäre Maßnahme gegen Krätze durchführen zu müssen, wurden die Bewohner_innen dreier Lager evakuiert und wieder auf die Straße gesetzt. Die Exilierten zogen wieder durch die Innenstadt von Calais und versammelten sich am Ort der Essensausgabe, einem Gelände in der Nähe des Hafens, das den Vereinigungen für die Verteilung von Nahrungsmitteln zur Verfügung gestellt worden war. Dieser Ort wurde zu einem Zufluchtsort für fast 500 Migrant_innen, die obdachlos geworden waren, und verwandelte sich in einen Ort des Lebens, an dem verschiedenste Gemeinschaften und Nationalitäten – nicht ohne Schwierigkeiten – nebeneinander existierten. Dieser Raum wurde desgleichen zu einem Ort der politischen Aktion: Nachdem sie hier mehrere Tage verbracht hatten, entschieden sich etwa 20 Menschen, in den Hungerstreik zu treten, um ihre Rechte zu verteidigen und ihre Situation zu legalisieren. Angesichts dieser Lage beharrte der Staat auf seiner Position und schlug lediglich das offizielle Asylverfahren vor, dessen Unterbringungssystem allerdings schon seit Langem durch den Mangel an Unterkünften überfordert war und einige Migrant_innen der Gefahr aussetzte, in ein anderes europäisches Land geschickt zu werden – dorthin wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten hatten und gemäß den Bestimmungen der Dublin-IIIVerordnung registriert worden waren. Zusätzlich leitete das Rathaus von Calais am 24. Juni 2014 ein Verfahren ein, um die Exilierten vom Gelände der Essensausgabe zu vertreiben. Mit einem großen Polizeiaufgebot wurde es am Morgen des 2. Juli geräumt. Betroffen waren ebenfalls drei von No BorderAktivist_innen besetzte Häuser, in denen obdachlose Asylbewerber_innen Zuflucht gefunden hatten. Potentielle Zeug_innen, ob Aktivist_innen, Vereins-

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vertreter_innen oder Journalist_innen, wurden von der Polizei auf Abstand gehalten. Den ganzen Tag über wurden auf dem Gelände der Essensausgabe die Personen selektiert. Busse, die direkt daneben geparkt waren, verließen einer nach dem anderen Calais. Frauen und Kinder wurden in Wohnheime gebracht, ohne dass deren Verwaltungen vorher darüber informiert worden wären. Mehr als 200 Männer wurden in Abschiebehaftzentren eingeliefert, die die meisten auf Grund staatlicher Verstöße gegen das ordnungsgemäße juristische Verfahren sofort wieder verlassen durften. Einige Busse fuhren Dutzende Kilometer hinaus und setzten ihre Passagiere mitten im Nirgendwo aus. Asylsuchende, die aus den besetzten Häusern der Innenstadt hinausgeworfen worden waren, saßen nunmehr wieder auf der Straße. Nur wenige Tage nach dieser von Gewalt und Improvisation geprägten Operation der »Zerstreuung« waren mehrere hundert aus unzureichenden Unterkünften geflohene oder aus den Abschiebehaftanstalten entlassene Migrant_innen abermals zurück in Calais. Als Antwort auf diese staatliche Operation veranstaltete das Netzwerk der Vereinigungen und der politischen Aktivist_innen am 12. Juli 2014 eine Demonstration von etwa 500 Personen, die damit endete, dass ein Haus und eine stillgelegte Fabrik der Firma Galoo besetzt wurden.

Der Anstieg der extremen Rechten Schon seit mehreren Jahren gab es in der Region Calais Feindseligkeit gegenüber der Anwesenheit von exilierten Personen. Während des »SangatteMomentes« drückte sich die Fremdenfeindlichkeit in Form eines unsignierten Flugblatts mit dem Titel »Willkommen bei Rot-Kreuz-Center Parcs« aus, das in stark sarkastischem Ton anprangerte, dass Migrant_innen »kostenlos in den Genuss von Gütern und Dienstleistungen [kämen], die von den Steuerzahlern aus Sangatte bezahlt« würden. Das Pamphlet schlussfolgerte: »In Ihren Rot-Kreuz-Center Parcs finden Sie Personen, die Ihre Reisen ins Ausland organisieren können!« Seit dem Sommer 2009 kontinuierlich präsent, beobachteten No BorderAktivist_innen, unterstützt von Antifaschist_innen aus der Region, in Calais die Gewalt gegen Exilierte. Sie berichteten von mehreren Angriffen, von denen einer im Herbst 2010 von einer Gruppe Rechtsextremer gegen sudanesische Exilierte verübt worden war. In diesem Fall wurden die Angreifer aus

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dem Skinhead-Milieu verhaftet, vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt.18 In der Regel aber wurden die Schuldigen nicht zur Rechenschaft gezogen, oftmals einfach deswegen, weil die exilierten Opfer vermieden, Anzeige zu erstatten, oder weil die Ermittlungen im Sande verliefen. Die schweren Gewalttaten waren von diskriminierenden Praktiken begleitet, die das tägliche Leben der Exilierten erschwerten. Mehrere Betreiber_innen von Cafés oder Geschäften begannen, unter dem Vorwand, keine Kundschaft verlieren zu wollen, Migrant_innen (und manchmal auch deren Unterstützer_innen) den Zutritt zu verweigern. Wenn eine Hausbesetzung durchgeführt wurde, kam es vor, dass Anwohner_innen mit Petitionen dagegen protestierten. Die Mehrheit der Bevölkerung von Calais jedoch stand der Anwesenheit von Exilierten am Rande der Stadt gleichgültig gegenüber. Seit 2013 gewann in Calais die Ausländerfeindlichkeit an Struktur und nahm mehr Platz im öffentlichen Raum und in der Debatte ein, was durch einige Stellungnahmen der Bürgermeisterin Natacha Bouchart, eines Mitglieds der Partei Les Républicains, noch unterstützt wurde. Am 23. Oktober 2013 veröffentlichte sie auf ihrer Facebook-Seite eine Nachricht, mit der sie die Einwohner_innen von Calais aufforderte, jedes besetzte Haus und jeden Besetzungsversuch anzuzeigen. Ein paar Wochen zuvor hatte sie der Presse zur »Problematik der Migranten« erklärt, dass die Stadt Calais »als Geisel genommen« worden sei.19 Zwei Tage später reagierte ein Einwohner von Calais positiv auf den Aufruf von Natacha Bouchart und eröffnete die Facebook-Seite »Sauvons Calais« (»Retten wir Calais!«). Dieses sich unpolitisch gebende informelle Kollektiv hatte vor, »gegen Einwanderung, gegen Migranten unterstützende Vereinigungen und gegen Ausländerfreundlichkeit zu kämpfen«. Es betrachtete sich als Anwalt der Unzufriedenheit Calais’ und forderte »die Ausweisung von Migrant_innen aus dem Gebiet von Calais«, »die Festnahme aller Personen, die illegale Einwanderer aufnehmen«, und »das Verbot der Vereinigung Salam und der ›No Border‹-Bewegung«.20 Da sie sich wachsender Beliebtheit in den sozialen Netzwerken erfreuten, beschlossen die Mitglieder der Gruppe »Sauvons Calais«, auf die Stra-

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Le phare dunkerquois (13.11.2010), vormals: www.lepharedunkerquois.fr/actualite/Faits_Divers/2010/11/13/groupe-nord-littoral-1307649.shtml. »Calais : Natacha Bouchart ›comprend‹ le maire de Croix et établit un parallèle entre Roms et migrants«, La Voix du Nord (17.9.2013). Anm. d. Übs.: Die zitierte Facebook-Seite von Sauvons Calais existiert heute nicht mehr.

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ße zu gehen. Am 7. November 2013 kamen mehrere Dutzend Menschen ihrem Aufruf nach und versammelten sich auf dem Platz vor dem Rathaus; sie trugen Transparente mit Aufschriften wie »Stoppt die Masseneinwanderung nach Calais« oder einfach nur »Ras-le-Bol!« (»Wir haben die Schnauze voll!«). Einer der stellvertretenden Bürgermeister begrüßte die Demonstrant_innen und diskutierte mit ihnen. Am 11. Januar 2014 organisierte die Gruppe eine zweite Demonstration, in der Parolen wie »Calais aux Calaisiens« (»Calais den Calaisern«) oder »On est chez nous« (»Das ist unser Zuhause«) verbreitet wurden. Etwa fünfzig Leute nahmen an der Demonstration teil. Mitte Februar 2014 besetzten Aktivist_innen für das Recht auf Wohnung ein kleines verlassenes Bauernhaus in Coulogne, einer Gemeinde am Rande von Calais. Ihr Ziel war es zu beweisen, dass es in Calais und in der näheren Umgebung ausreichend Wohnraum gebe, in dem auf der Straße lebende Menschen Unterkunft finden könnten. Diese Aktion wurde zur dritten Heldentat der Gruppe »Sauvons Calais«. Sehr schnell informiert, riefen sie ihre Mitglieder auf der Facebook-Seite zu einer Demonstration vor dem Bauernhaus auf. Anfangs nur ein Dutzend, kamen ein paar Tage später schon um die 70 Personen zusammen, um gegen diese Besetzung zu protestieren. Bei der Organisation von Nachtwachen trafen sich die Demonstrant_innen täglich wieder. Bei mehreren Gelegenheiten und manchmal vor den Augen der CRS-Polizist_innen wurden Steine oder gar Molotow-Cocktails auf das besetzte Haus geworfen und eines Nachts versuchten zwei Versammlungsteilnehmer, in das Bauernhaus einzudringen. Angesichts dieser Gefahren gaben die Aktivist_innen für das Recht auf Wohnung das Bauernhaus nach kaum einer Woche wieder auf. »Sauvons Calais« wurde in der Öffentlichkeit immer stärker wahrgenommen. Sein Diskurs radikalisierte sich zunehmend und die Gruppe ließ alle Masken fallen. Ihre Verbindung zum Front National und zu anderen rechtsextremen Gruppen wurde offenkundig. In den sozialen Netzwerken verbreitete sich ein Foto des Anführers von »Sauvons Calais«, auf dem er stolz das auf seine Brust tätowierte Hakenkreuz präsentierte. Aktivist_innen, die mit den Exilierten solidarisch waren, wurden physisch angegriffen. Nach und nach umgab sich das Kollektiv mit anderen rechtsextremen Gruppen: mit dem von Front National-Dissidenten gegründeten Parti de la France, der aufgelösten Bewegung L’Œuvre française oder dem Netzwerk Identités aus dem Umfeld des Bloc Identitaire. Bei einer Kundgebung im September 2014 unter einem Banner mit der Aufschrift »Schmeißt sie raus!« sprach ein Anführer vor 300 Leuten, darunter zu einer Gruppe von Skinheads, die SS-Tattoos oder

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T-Shirts zu Ehren der SS-Division Charlemagne trugen: »Schließt Euch zusammen, organisiert Euch in Euren Vierteln, lasst Euch das nicht gefallen! Lasst Euch nicht abschlachten, so wie sie es mit anderen getan haben! Verteidigt Euch – legitime Selbstverteidigung!«21 Im Oktober 2014 veranstaltete die Polizeigewerkschaft SGP-FO (Syndicat général de Police-Force Ouvrière = Allgemeine Polizeigewerkschaft des Gewerkschaftsverbandes Force Ouvrière) eine Demonstration, um gegen den »anhaltenden Zustrom von Migranten« zu protestieren, der »die lokale Wirtschaft in eine beispiellose Krise treibt und die Unternehmen bedroht.«22 Etwa 300 Personen ließen sich mobilisieren, darunter Polizeibeamt_innen, Landwirt_innen und Händler_innen, die hinter dem Transparent »Unterstützt die Polizei« marschierten. Allmählich erfüllte sich von selbst die Prophezeiung der Bürgermeisterin von Calais Natacha Bouchart: Durch das ewige Wiederholen der Interview-Aussage, dass »die Einwohner von Calais die Nase voll haben«, begannen diese, es selbst zu glauben. Neue und bisher eher unbekannte Akteure (Händler_innen, die Hafenleitung und Hafengewerkschafter_innen) griffen das »Thema Migranten« auf. Das Auftauchen einer offen fremdenfeindlichen Gruppe wie des »Sauvons Calais« auf der politischen Bühne hob den Stadtrat von Calais in die Position eines vermeintlich verantwortungsvollen und kompetenten Akteurs, der fähig sei, die Situation zu bewältigen. Der von »Sauvons Calais« eingenommene politische Standpunkt am äußersten rechten Rand erwies der Gruppe einen Bärendienst, denn er beschränkte ihre Reichweite auf ein bestimmtes politisches Publikum. Im Herbst 2015 feierte das Kollektiv sein zweijähriges Bestehen mit einer Kundgebung, die nur wenig Anklang fand. Das Kollektiv stieß gleichwohl viele andere Initiativen an. Zwischen November 2015 und Februar 2016 fasste der französische Zweig der islamophoben Pegida-Bewegung Fuß und organisierte Demonstrationen. Gleichzeitig wurden mehrere Facebook-Seiten erstellt, die sich als unpolitisch präsentierten und sich selbst zu »Sprechern« des »Wir haben’s satt« der Einwohner_innen von Calais ausriefen. Ende 2015, als der New Jungle schon seit mehreren Monaten bestand, wurde ein neues 21

22

Haydée Sabéran, »Calais : Les néonazis dans le viseur«, Libération (19.9.2014); www.liberation.fr/societe/2014/09/19/calais-impunite-pour-les-neonazis_1104308 (20.6.2019). Unité SGP, Police-Force Ouvrière, »Calais : Journée d’action … Le 13 octobre«, www. unitesgppolice.com/sites/default/files/pdf/2014-10-01_Rassemblement_Calais.pdf (20.6.2019) : »Le flux continuel de migrants entraine l’économie locale dans une crise sans précédent et les entreprises sont menacées.«

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Kollektiv namens »Les Calaisiens en colère« (Wütende Einwohner von Calais) gegründet. Es organisierte Diskussionsrunden, um die Anwohner_innen aus der Umgebung des Jungle und den CRS bei seinen Einsätzen zu unterstützen. Am 17. Dezember 2015 führten sie eine Demonstration zur Unterstützung der Anwohner_innen des Jungle durch, an der Mitglieder einer anderen rechtsextremen Splittergruppe teilnahmen, nämlich des Mouvement d’Action Sociale (MAS, Bewegung sozialer Tat), die wiederum den griechischen Neonazis von der Partei Goldene Morgenröte und den italienischen Neofaschisten von CasaPound nahe stand. Gleichzeitig tauchten Facebook-Auftritte von Calais libre (Freies Calais) und Reprenons Calais (Nehmen wir uns Calais zurück) auf, die ähnliche Reden schwangen und bald aus den sozialen Netzwerken wegen Aufhetzung zum Hass verbannt wurden. Mit dem Diskurs stieg die Zahl gewalttätiger und rassistischer Übergriffe gegen die Exilierten an. In der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 2016 wurden drei Migrant_innen syrischer Nationalität von sechs sich als Polizisten ausgebenden Männern mit Teleskopschlagstöcken attackiert. In der Nacht vom 10. auf den 11. Februar 2016 wurden in Loon-Plage in der Nähe von Dünkirchen (Dunkerque) vier Exilierte kurdischer Herkunft von sieben Männern angegriffen. Mehrere der Angreifer stammten aus Calais und gaben nach Angaben der Polizei zu, »nach Loon-Plage gekommen zu sein, um mit stumpfen Waffen Gewalt gegen Migrant_innen« auszuüben.23

Seit September 2014: Konzentrieren, zerstreuen, kontrollieren Ab Sommer 2013 beobachten wir einen erneuten Anstieg der Zahl exilierter Menschen an der Grenze zu Großbritannien, ab Sommer 2014 dann eine größere Ausbreitung der Camps an den Häfen von der Bretagne bis hinüber nach Belgien sowie landeinwärts entlang der Autobahnen und in der Nähe kleinerer Parkplätze in den Departments Nord und Pas-de-Calais, in der Picardie und in Belgien. Diese neue Situation führte in den Jahren 2014-16 zu einer Reihe neuer französisch-britischer Vereinbarungen, in denen die repressiven Maßnahmen des Jahres 2009 aufgegriffen und ausgeweitet wurden. Hinzu kamen von 23

»Sept personnes, dont cinq du Calaisis, interpellées à Loon-Plage : ,Ils étaient en chasse pour agresser des migrants‹«, La Voix du Nord (11.2.2016); www.lavoixdunord.fr/region/ sept-personnes-dont-cinq-du-calaisis-interpellees-a-ia33b0n3325030 (20.6.2019).

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britischer Seite weitere konkret bezifferte finanzielle Beihilfen und »humanitäre« Maßnahmen (darunter eine Rückkehrhilfe) sowie gemeinsame Vorstöße der EU-Institutionen zur Stärkung der Kontrolle an den EU-Außengrenzen. Allerdings unterschied sich der staatliche Umgang mit dieser Situation von Ort zu Ort. In Calais schuf die Umgruppierung der Migrant_innen auf einen einzigen Standort (im April 2015) eine komplexe Situation, den New Jungle, der aus einem staatlichen Lager (dem so genannten Containerlager) und einem Bidonville bestand. Bei Dünkirchen (in Grande-Synthe) und in Paris richteten die Kommunalverwaltungen Lager ein, in deren Betrieb sich der Staat erst in einem zweiten Schritt einmischte, dabei aber die Initiative übernahm. Diese lokalen Umgruppierungen bereiteten die weitere Zerstreuung der Migrant_innen über das gesamte französische Staatsgebiet mit Hilfe des Systems der Centres d’Accueil et d’Orientation (CAO, Aufnahme- und Orientierungszentren) vor. Andernorts fand gegenüber den kleineren Camps (Chocques, Dieppe, Cherbourg, Caen, Steenvoorde, Norrent-Fontes usw.) jene Vertreibungspolitik statt, die mit der Schließung des Sangatte-Zentrums im Jahr 2002 begonnen hatte.

In Calais In Calais lebten im September 2016 mehr als 10 000 Menschen an diesem komplexen Ort, an dem sich sowohl das Bidonville als auch die vom Staat eingerichteten Strukturen befanden, das Zentrum Jules-Ferry (Centre JulesFerry)24 mit einem tagsüber geöffneten Bereich für soziale Dienste und einem Zufluchtsort für Frauen und Kinder mit 400 Plätzen und dem erwähnten Containerlager mit 1500 Plätzen. Hier drückte sich der Wille der Behörden aus, die im Raum Calais anwesenden Migrant_innen aus der Stadt zu entfernen und an einem einzigen Ort zu konzentrieren, um sie so besser kontrollieren zu können.25 Ein Teil der humanitären Vereinigungen begleitete den Transfer der Menschen an diesen Ort so wie später auch dessen Co-Administration und Räumung; nicht selten geschah dies im Widerspruch zum Staat. 24

25

Anm. d. Übs.: Jules Ferry (1832-93) war französischer Bildungs- und Kolonialpolitiker; er gehörte dem linksrepublikanischen Lager an und war während der Dritten Republik Ministerpräsident. Zahlreiche französische Schulen und Jugendeinrichtungen sind auf Grund seiner Bildungsreformen nach ihm benannt. Philippe Wannesson, »Calais, les murs et la ville«, Raison présente, n° 202 (»Un monde emmuré«), (2. Trimester 2017), S. 67-75.

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Eine fast unmerkliche Änderung der staatlichen Politik Wie bereits gesagt, hatte die brutale Wiederaufnahme der Campräumungen am 28. Mai 2014 bewirkt, dass die Migrant_innen den für die Essensausgabe bereitgestellten Platz besetzten, der dann wiederum am 2. Juli desselben Jahres geräumt wurde. Daraufhin hatten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen mobilisiert und als Höhepunkt einer Demonstration eine große Besetzung – die Fabrik Galloo – mitten in der Stadt durchgeführt. Dies ist wahrscheinlich der Moment gewesen, an dem sich die Vertreter_innen des Staates die Frage stellten, wie man ein Einvernehmen mit den Vereinigungen erreichen könne, denn es musste eine Antwort auf die schon jetzt beträchtliche Zunahme der in Calais anwesenden Migrant_innen gefunden werden. Eine Forderung der Vereinigungen bestand darin, ein Grundstück zu beschaffen, von dem die Migrant_innen nicht mehr vertrieben würden, eine Voraussetzung für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Die Stadtverwaltung von Calais hingegen wollte, dass die Migrant_innen aus dem Stadtzentrum verschwinden. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden, um sie in der Nähe des ehemaligen Freizeitzentrums Jules-Ferry zu sammeln, in dem verschiedene Angebote (Duschen, Mahlzeiten, Zugang zu Pflege und Information) und eine Unterkunft für Frauen und Kinder finanziert würden. Die Migrant_innen von der Polizei vertreiben zu lassen, war leicht, um sie jedoch an einem Ort wieder zusammenzufassen, brauchte man die Hilfe der Vereinigungen. Diese stimmten zu, als man ihnen zusicherte, dass die Migrant_innen auf diesem Gelände »geduldet« würden, was die Vereinigungen so interpretierten, dass »sie nicht mehr vertrieben werden«.

Die Politik der Ausgrenzung Die Entfernung der Migrant_innen aus dem Stadtzentrum von Calais entsprach dem politischen Willen der Bürgermeisterin, die bereits eine aktive Politik zu deren Ausgrenzung aus dem städtischen Raum betrieb. Dies kam zunächst darin zum Ausdruck, dass es nicht mehr möglich war, städtische Räumlichkeiten für Aktivitäten im Zusammenhang mit der Flüchtlingssolidarität anzumieten. Es folgten der bereits erwähnte Aufruf zur Anzeige von Besetzungen und das Verbot eines interkulturellen Festivals. Im Herbst 2013 wurde Migrant_innen der Zutritt zu städtischen Fußballplätzen verboten. Zuletzt wurden im Herbst 2014 die Benutzungsregeln für die Mediathek und im

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Frühjahr 2015 für das Schwimmbad geändert, um Migrant_innen den Zugang zu verwehren. Im Vorfeld des Transfers der Migrant_innen im Frühjahr 2015 machte eine wachsende Zahl rechtsextremer Gruppen mit »Anti-Migranten«-Parolen Stimmung; wie auch die bereits erwähnten Demonstrationen von Polizei und Einwohner_innen bereitete dies die öffentliche Meinung darauf vor, die Migrant_innen auf Abstand zu bringen, was dann, als es geschah, wie selbstverständlich erschien.

Vom Bidonville-Camp zum Bidonville-Lager Das Gelände, auf das die Migrant_innen im April 2015 von den Vereinigungen gebracht wurden, war zur einen Hälfte eine alte Schuttdeponie, zur anderen eine sandige, zum Teil mit dornigen Büschen bedeckte und zum Teil sumpfige Fläche. Die einzige Wasserstelle befand sich ein paar hundert Meter entfernt am Eingang zum Zentrum Jules-Ferry. Das nächste Geschäft war zu Fuß eine dreiviertel Stunde entfernt. Zwischen Ende März und Anfang April 2015 siedelten sich dort rund 1500 Menschen an. Rasch schüttete die Gemeinde entlang der Straße, die östlich am entstehenden Bidonville vorbei zum Zentrum Jules-Ferry führt, Erde auf, um die Nachbarn zu beruhigen. Einige Wochen später baute der Staat entlang der Schnellstraße, die an der Westseite vorbei zum Hafen führt, eine doppelte Stacheldrahtbarriere auf.26 Faktisch hatte man die Migrant_innen unmittelbar an einem der Hauptverkehrswege zum Vereinigten Königreich untergebracht. Die Ansiedlung der Exilierten erfolgte unter so umfangreicher Mitwirkung der Vereinigungen, wie es sie an keinem der vorhergehenden Orte gegeben hatte. Man baute Hütten, aber auch eine Kirche und Moscheen, Schulen und andere Gemeinschaftsorte. Bald entstanden auch Geschäfte, dann Restaurants. Diese hatte es bereits in einigen früheren Camps gegeben, vor

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Anm. d. Übs.: Die Barriere bestand beiderseits der Fahrbahn aus zwei Hochsicherheitszäunen mit begehbarem Zwischenraum, allerdings endeten die Zäune bis zum Frühjahr 2016 auf der Hälfte des Jungle-Geländes und wurden erst danach erweitert. Eine der beiden Zaunreihen ist inzwischen demontiert und an anderer Stelle verbaut, sodass heute nur noch ein einfacher Sicherheitszaun mit aufgesetztem Klingendraht und Sensorik vorhanden ist.

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allem, wenn sie weit von der Stadt entfernt lagen. Aber an diesem Ort vervielfältigten sie sich infolge der Isolation und des Zuwachses der Bevölkerung rasant. Das Wachstum der Bidonville-Bevölkerung überstieg jedoch rasch die Kapazitäten und Reaktionsmöglichkeiten der unabhängigen Vereinigungen. Auch reichten die Angebote, die der Verein La Vie active (Das aktive Leben) in staatlichem Auftrag im Zentrum Jules-Ferry anbot, von Anfang an nicht aus. Bereits im Sommer 2015 griffen daher nationale NGOs ein. Die breite Medienberichterstattung über die sogenannte »Migrationskrise« und die allgemein feindselige Haltung der europäischen Regierungen führten außerdem dazu, dass eine große Anzahl von Freiwilligen, vor allem Brit_innen, aber auch Europäer_innen aus anderen Ländern zu Hilfe kamen. Nach und nach organisierten sie ihre Aktivitäten. Zur humanitären Hilfe kam die Schaffung neuer Gemeinschaftsorte im Bidonville hinzu (Schulen, eine Bibliothek, ein Theater, Zentren für Frauen und Kinder sowie für Jugendliche, ein Radio usw.). Mit der Räumung der letzten Camps, die bis Ende September 2015 im Zentrum von Calais übrig geblieben waren, gingen die Behörden zu einer immer stärkeren und sichtbareren Polizeipräsenz um das Bidonville über und ersetzten die seit der Schließung des Sangatte-Zentrums betriebene Politik der Vertreibung von einem Ort zum anderen durch eine Politik der Vertreibung »am Ort«, die sie mit der Teilzerstörung des Bidonvilles umsetzten. Diese Zerstörungen waren Teil der Logik von Kontrolle und Druck, mit der die Einwohner_innenzahl niedrig gehalten werden sollte. Ende September 2015 trafen sie zunächst den Teil des Bidonvilles, der sich unterhalb der Hafenschnellstraße27 ausgedehnt hatte. Im November folgte die Fläche, auf der das vom Staat finanzierte Containerlager errichtet werden sollte, im Januar 2016 ein 100 Meter breiter Streifen entlang der Hafenschnellstraße und einer angrenzenden Straße, dann im März die gesamte südliche Hälfte des Bidonvilles. Im November 2015 war der Staat zu einem Minimum an Anpassungen gezwungen, da die Lebensbedingungen allzu unmenschlich waren. Er beauftragte die international tätige NGO Acted mit der Durchführung der Ar-

27

Anm. d. Übs.: Die Schnellstraße verläuft oberhalb einer Böschung; etwa in der Mitte des Jungle-Geländes führt sie über eine Brücke, die wegen des dort angebrachten Wandbildes von Banksy zu einem medial präsenten Symbol des Jungle wurde. Gemeint ist die Ausbreitung der Siedlung in diesem Bereich.

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beiten. In Abstimmung mit der Präfektur und der Polizei übernahm Acted außerdem die Koordination der verschiedenen Akteure aus den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und die Leitung eines Rates von Vertreter_innen der verschiedenen Communities (conseil de représentants communautaires). Ab Mai 2016 verbot die Präfektur die Zufuhr von Baumaterial auf das Gelände, dessen Zufahrten von der Polizei kontrolliert wurden. Wann immer die Vereinigungen einen Neubau errichten wollten, mussten sie jetzt verhandeln. In wenigen Monaten verwandelte sich das von den Bewohner_innen und Vereinsvertreter_innen selbst geschaffene Bidonville in einen Ort, der aus drei Elementen bestand: erstens dem Zentrum Jules-Ferry mit seinem Tageszentrum und seiner 400 Plätze umfassenden Unterkunft für Frauen und Kinder; zweitens dem Containerlager mit 1500 Plätzen; beide vom Staat finanziert und von einer beauftragten Vereinigung (La Vie active) geführt; und drittens das Bidonville, in dem eine Form der Co-Administration mit dem Staat etabliert wurde, die wiederum von einer anderen, ebenfalls vom Staat beauftragten Organisation (Acted) koordiniert wurde. Hier aber entwickelte sich ein soziales, städtisches und kulturelles Leben von relativer Autonomie, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden.

Um Dünkirchen (Dunkerque) herum Bei Dünkirchen bestanden mehrere kleine Camps, in denen meist ein paar Dutzend Migrant_innen Schutz fanden; sie lagen in Loon-Plage, in der Nähe des dortigen Fährhafens,28 sowie in Grande-Synthe und Téteghem in der Nähe von Autobahnparkplätzen. Als der Parkplatz Téteghem geschlossen wurde, blieb das Camp bestehen. Die Migrant_innen wurden von ihren Schleusern mit dem Auto zu Parkplätzen in Belgien gefahren oder stiegen in Laster ein, die von Komplizen gesteuert wurden und auf der nahe gelegenen Autobahn anhielten. Das Camp von Loon-Plage wurde häufig zerstört. Die Lager von GrandeSynthe und Téteghem befanden sich hingegen auf Grundstücken, die der Gemeinde bzw. dem Gemeindeverband Dünkirchen gehörten. Im letzteren wurden im Frühjahr 2012 zur Verbesserung der Lebensbedingungen kleine

28

Anm. d. Übs.: Das Hafengelände von Dünkirchen (Dunkerque) nimmt einen breiten Teil der dortigen Küste in Anspruch und erstreckt sich nach Westen bis Loon-Plage, wo sich die für den Fährverkehr genutzten Anlagen befinden. Diese sind sowohl von Loon-Plage als auch vom benachbarten Grande-Synthe aus erreichbar.

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Hütten errichtet und grundlegende Ausstattungen bereitgestellt. Angesichts der steigenden Anzahl von Menschen im Camp richtete die Gemeindeverwaltung von Téteghem im November 2014 ein Containerlager mit 80 Plätzen ein, um die Zahl der Migrant_innen auf dem Gelände zu kontingentieren. Das alte Camp wurde zerstört. Dies verhinderte jedoch nicht, dass rund um das Containerlager kleinere Camps angelegt wurden und die Zahl der Menschen, die im Herbst 2015 schon mehrere hundert erreichte, noch weiter anstieg. Das Containerlager wurde am 18. November geschlossen und die umliegenden Camps zerstört. Das Camp in Grande-Synthe, das im Frühsommer 2015 etwa 80 Personen zählte, wuchs im Spätsommer und Herbst sehr schnell und erreichte im November die Zahl von über 2500 Personen. Die Gemeindeverwaltung plante zunächst, für den Winter beheizte Zelte und Container aufzustellen, um die immer zahlreicheren Menschen zu unterstützen, war aber schnell überfordert. Die materiellen Bedingungen auf dem extrem morastigen Gelände29 verschlechterten sich rapide, zumal die Polizei die Zulieferung von Zelten und Material für den Bau von Hütten blockierte. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen schlug daraufhin vor, auf einem anderen von der Gemeinde zur Verfügung gestellten Gelände ein Flüchtlingslager mit 2500 Plätzen gemäß internationaler Normen aufzubauen. Gegen den Widerstand des Staates öffnete dieses Lager Anfang März 2016. Die Zahl der Migrant_innen war inzwischen gesunken, sodass 1500 Menschen dort einzogen. Drei Monate später besuchte am 30. Mai 2016 der Innenminister in Begleitung des Wohnungsbauministers Grande-Synthe und kündigte an, dass der Staat den Betrieb des Lagers übernehmen würde. Die für den Betrieb zuständige Organisation wurde ausgetauscht: An die Stelle von Utopia 56 trat AFEJI, eine im Bereich der Integration tätige Vereinigung, deren Präsident 25 Jahre lang Bürgermeister von Dünkirchen (Dunkerque) und mehrere Male Minister in sozialistischen Regierungen der 1980er und 1990er Jahre gewesen war. Es wurde beschlossen, Neuankömmlinge mit Ausnahme von »besonders Schutzbedürftigen« auszuschließen und die Hütten in dem Maße zurückzubauen, in dem die Menschen das Lager verließen. Die Zahl der Anwesenden fluktuierte. In den darauffolgenden Monaten beeinträchtigte die Zerstörung 29

Anm. d. Übs.: Das Camp bildete sich auf dem Gelände einer ehemaligen Baumschule, das sich wohl infolge mangelhafter Entwässerungsgräben in einen Morast verwandelt hatte.

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des Jungle von Calais im Oktober 2016 das sensible Gleichgewicht der Bevölkerung im Lager Grande-Synthe: Zwischen November 2016 und März 2017 trafen mehr als 500 afghanische Migrant_innen an dem überwiegend von irakischen Kurd_innen bewohnten Ort ein. Dies erhöhte die Spannungen, die im April 2017 zur totalen Zerstörung des Lagers durch einen Brand führten.

In Paris Im Kontext der Migration in das Vereinigte Königreich wurde Paris zuweilen als der »Vorort von Calais« (la banlieue de Calais) bezeichnet. Genauer gesagt, war Paris für die Migrant_innen der Ort, an dem sie auf Grund des zentralisierten französischen Verkehrsnetzes ankamen, an dem sie sich informierten, sich orientierten, Kontakte aufnahmen und auf eine Fahrgelegenheit warteten. Manchmal war Paris auch der Ort, an dem sie sich für den Aufenthalt in Frankreich entschieden. In Bezug auf die britische Grenze erhöhten die Verschärfung der Kontrollen am Hafen von Calais (seit 2000) und am Kanaltunnel (seit 2001) sowie die Schließung des Sangatte-Zentrums (2002) die Bedeutung von Paris als Warte- und Rückzugsort insbesondere dann, wenn der polizeiliche Druck auf die Passageorte zunahm. Die Pariser Camps, die nach der Schließung des Zentrums von Sangatte auftauchten, spiegelten die Rolle der Stadt während der Migrationsreisen wider. Gleichermaßen resultierten sie aus der Politik der verschiedenen französischen Regierungen, Schutzsuchende (Minderjährige, Asylsuchende) auf die Straße zu setzen, Notunterkünfte zu überfüllen und die Aufnahme mit immer ausgeprägteren Formen der Segregation zu verknüpfen. Wie in Calais bestand diese Politik darin, die Migrant_innen durch die Zerstörung ihrer Camps (sei es mit oder ohne Verhaftungen) und durch ständige polizeiliche Schikane zu zerstreuen. Im Laufe des Jahres 2015, zeitgleich zum Medienrummel um die verstärkte Ankunft von Migrant_innen in Europa und die damit einhergehende Solidaritätsbewegung, verteilte man die Exilierten von Paris nach der systematischen Zerstörung der Camps auf mehr oder minder prekäre Unterkünfte im gesamten Gebiet der Île-de-France und darüber hinaus. Diese Unterkünfte wiederum wurden nach und nach verstetigt und schließlich in das System der CAO integriert, das seinerseits geschaffen wurde, um die Bewohner_innen aus dem Jungle von Calais nach der geplanten Räumung unterzubringen, gefolgt von den Migrant_innen aus Grande-Synthe.

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Nach der Ankündigung der Bürgermeisterin von Paris im Frühjahr 2016, dass ein oder mehrere »Flüchtlingslager« in der Hauptstadt errichtet werden sollten, brachte man die Exilierten nach der Räumung ihrer Camps nicht mehr in den CAO unter, sondern setzte sie begleitet von Razzien und Polizeigewalt einfach auf die Straße. Dabei kaschierte die mediale Aufmerksamkeit um die Errichtung des »humanitären Lagers« im Viertel La Chapelle im Norden von Paris die Brutalität der Situation in den sechs Monaten zwischen der Ankündigung und der Eröffnung dieses Lagers. Nach der Zerstörung des Jungle von Calais im Oktober 2016 wurde es endlich geöffnet. Der Eingang bestand aus einer großen weiß-gelben »Blase«, die eine wie in einem Kokon behütete Aufnahme symbolisieren sollte; die Konzeption und Konstruktion der kuppelartigen Architektur beanspruchte einen großen Teil des Baubudgets. Diese im französischen Diskurs viel zitierte »Blase« hatte einen Eingang und zwei Ausgänge, einen nach drinnen und einen nach draußen. Nach außen umgeleitet wurden Personen (Paare, Familien mit Kindern, Frauen, Minderjährige usw.), die nicht in Frankreich bleiben wollten. Manchmal wurden diesen Menschen mehr oder minder prekäre Unterbringungslösungen angeboten und manchmal ließ man sie stundenlang in der Blase warten, in der es verboten war zu essen. In das Innere des Lagers wurden nur Männer geleitet. Für sie organisierte die Polizeipräfektur von Paris, die in den Vorjahren für jeden Asylantrag mehrere Monate benötigt hatte, innerhalb weniger Tage die digitale Abnahme der Fingerabdrücke und eventuell die Einleitung eines Dublin-Verfahrens, ohne jedoch einen Asylantrag entgegenzunehmen. Mit ihren 400 Plätzen und einem maximalen Aufenthalt von zehn Tagen war die Anlage auf die Verteilung in entfernt gelegene Zentren hin konzipiert. Allerdings führte der Mangel an Plätzen in diesen Unterbringungszentren zu einer Verlangsamung des Registrierungsverfahrens, was wiederum die Überfüllung des Zentrums von La Chapelle nach sich zog. An dessen Eingang entstanden lange Warteschlangen und auch wieder Camps, die systematisch von der Polizei geräumt wurden. Diese neuerliche Gewalt wurde Anfang des Jahres 2017 von zahlreichen Vereinigungen angeprangert und durch verschiedene Medienberichte bestätigt.

Die Lage in Belgien und in den Niederlanden Die Überfahrten aus Belgien und den Niederlanden in das Vereinigte Königreich mögen weniger bekannt sein als die aus Frankreich. Es gab sie jedoch

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schon lange und sie waren bedeutend genug, um im Jahr 2002 ein trilaterales Treffen zwischen Frankreich, Belgien und dem Vereinigten Königreich über die Grenzkontrollen zu rechtfertigen; die dort vereinbarten Maßnahmen wurden dann 2003 und 2004 auf die Niederlande ausgedehnt. Am 19. Juni 2000 war im Hafen von Dover ein in Seebrügge (Zeebrugge) eingeschiffter Lastwagen aus Rotterdam entdeckt worden, in dem sich 60 Menschen befanden; 58 von ihnen waren erstickt. Die beiden belgischen Häfen, von denen Fährverbindungen nach Großbritannien bestanden, waren Ostende und Seebrügge. In Ostende gab es seit 2007 Camps. Ein Sozialdienst, das Centrum Algemeen Welzijnswerk (CAW, Zentrum für soziale Arbeit), hielt dort Ausschau nach Hilfsbedürftigen und organisierte tagsüber eine Anlaufstelle. Die Schikanen und die Gewalt seitens der Polizei ähnelten dem, was man von Calais kannte. Nachdem das Fährunternehmen, das die Verbindung zum Vereinigten Königreich betrieb, im Jahr 2013 in Konkurs gegangen war, ruhte der Fährbetrieb in Ostende. Die Passagen verlagerten sich nach Seebrügge, wo nun Camps auftauchten, die im Allgemeinen aber sehr diskret angelegt waren. Der polizeiliche Druck hielt sich in Grenzen, solange keine Zelte oder Hütten aufgebaut wurden und die Anzahl der Menschen gering blieb. Weitere Passagen erfolgten darüber hinaus über Autobahnparkplätze im Landesinnern, sodass manchmal auch Camps nahe der Grenze zu Frankreich entstanden. Während in vielen Texten zu dieser Thematik die Kontrolle der EurostarZüge problematisiert wurde, die von Brüssel aus durch den Kanaltunnel fuhren, so beobachteten wir auf belgischem Staatsgebiet darüber hinaus im öffentlichen Nahverkehr zur Küste die gleiche Art von Gesichtskontrollen30 , außerdem die gleiche regelmäßige Zerstörung von Camps wie in Frankreich. Je sichtbarer die Situation der Migrant_innen wurde, umso mehr forderten die Bürger_innen der belgischen Küstengemeinden, die einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen aus dem Tourismus erzielen, die Föderalregierung zu repressiven Maßnahmen auf, was zu Polizeieinsätzen größeren Umfangs führte. Als dann im Februar und März 2016 zunächst der südliche Teil des Jungle von Calais geräumt und dieser im Oktober desselben Jahres dann ganz zerstört wurde, führte Belgien in der Nähe der Küste wieder Grenzkontrollen ein – allerdings mehr symbolische als effektive. 30

Anm. d. Übs.: Gemeint sind Personenkontrollen des racial profiling, also der polizeilichen Zuordnung einer Person zu einer ethnischen Gruppe anhand körperlicher und habitueller Merkmale.

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In den Niederlanden wiederum gab es keine Camps, die die Anwesenheit von Migrant_innen auf dem Weg in das Vereinigte Königreich sichtbar gemacht hätten. Das Thema wurde in der öffentlichen Debatte und im Blickfeld der Hilfsorganisationen daher kaum berücksichtigt. Nur die Aussagen der Migrant_innen selbst bezeugen dies.

Abb. 4: Tote an der französisch-britischen Grenze, August 1999–Mai 2017

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Abb. 5: Jungle, Lager und im Text genannte Orte

Kapitel 2 Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

Es gibt so gut wie keine Überreste des Sangatte-Zentrums. Gleichwohl müssen wir darüber sprechen, denn das Gebäude und die davon verbliebene Erinnerung markieren für die französische Gesellschaft und für die lokalen Akteure einen Bruch in der Frage des Umgangs mit den Exilierten in Calais und Umgebung. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf die Erfahrungen, die sukzessive mit der Unterbringung der Migrant_innen gemacht wurden – angefangen mit dem Centre d’Hébergement et d’Accueil d’Urgence humanitaire von Sangatte (1999-2002, Zentrum für Unterkunft und humanitäre Notaufnahme) bis hin zum Jungle von Calais (2015-16). Wir untersuchen sie aus der Perspektive und mit dem analytischen Werkzeug von Architekt_innen und Urbanist_innen.

1999 – 2002: Sangatte Es ist recht schwierig, genauere Informationen über diesen Hallenkomplex zu finden, der ursprünglich zur Herstellung der Kanaltunnel-Tübbings (vorgefertigte Betonsegmente für die Tunnelschale) errichtet worden war. Bis heute kann der Abdruck der Halle im Boden wahrgenommen werden. Die einfachste Möglichkeit, an Informationen zu gelangen, bietet heute die Historie der Google Earth-Luftaufnahmen. Auf den Fotos aus dem Jahr 2002 ist ein großer Hallenkomplex von etwa 220 mal 135 Metern zu sehen, der durch sieben Traversen gegliedert ist, von denen zwei um 25 Meter kürzer sind als die übrigen. Die Längsachse ist ungefähr von Ost nach West ausgerichtet; im Südosten, wo die beiden Traversen kürzer sind, ist eine Ecke der Halle zurückversetzt. Die Spuren des Hallenkomplexes können außerdem auf der Karte des Institut national de l’Information géographique et forestière (IGN, Nationales Institut

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Der »Dschungel von Calais«

Abb. 6: Plan des Camps von Sangatte, 2002

Quelle: Clochard, »Le jeu«, wie Anm. 1, S. 88

für geographische und Forstinformation) erfasst werden. Unter allen zugänglichen Daten findet sich die umfassendste Dokumentation über Sangatte (von

Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

der Eröffnung des Zentrums 1999 und bis zu seiner Schließung 2002) in der Ausarbeitung von Olivier Clochard aus dem Jahr 2007.1 Was zunächst auffällt, ist die unverhältnismäßige Höhe des Raumes von rund 12 Metern. Auch die Binnenstruktur war mit einem Raster von 25 Metern extrem weit. Riesige rote Metallträger gliederten den Raum im Maßstab gigantischer Maschinen, die nichts Menschliches an sich hatten. Der Betonboden war von perfekter Flächigkeit und Ebenheit. Auf ihm waren die als Wohnräume dienenden Mannschaftszelte und Baustellenmodule vom Typ Algeco peinlich genau ausgerichtet. Diese Kabinen und Zelte boten jeweils einem Dutzend Menschen Platz, aber obwohl sie groß waren, erschienen sie winzig in der schieren Höhe dieser Halle. Trotz der ständig wachsenden Anzahl von Menschen, die die Halle beherbergte, behielt sie bis zum Schluss diesen Eindruck gähnender Leere. Selbst als die Aufnahmekapazität der Baustellenkabinen und Großzelte erschöpft war und immer mehr Menschen zwischen ihnen schliefen, bewahrte die Halle ihr strenges Gleichmaß. Die sanitären Anlagen standen entlang der Außenwände der Halle auf Plattformen, die an drei Seiten von blauen, roten und grünen Mauern eingefasst waren. Die rechteckigen Waschbecken unter den Spiegeln wurden von an der Wand befestigten Neonröhren beleuchtet. In dieser rigiden Umgebung wirkten sie wie ein unpassendes Filmdekor. Die Halle war zwar vor Regen und Wind geschützt, aber nicht isoliert. Im Winter herrschten hier eisige Temperaturen, die vor allem in den Zelten schwer zu ertragen waren. In der Nacht bekamen die Räume etwas Gespenstisches. Wenn es Abend wurde, verwandelte das weiße Neonlicht die Halle gleichmäßig in ein Ensemble ohne Schatten. Wenn diese Deckenbeleuchtung später ausgeschaltet wurde, leuchteten nur noch zwei Scheinwerfer weiter. Es entstand eine Landschaft ohne Farben, ein Schattenspiel. Die Fenster der von jeweils einem einzigen Neonlicht beleuchteten Kabinen schienen zufällig in die Nacht, während die Dunkelheit der Zelte zuweilen durch die Flamme einer einzelnen Kerze belebt wurde.

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Olivier Clochard, »Le jeu des frontières dans l’accès au statut de réfugié : Une géographie des politiques européennes d’asile et d’immigration«, Poitiers, univ., thèse de doctorat, 2007. Vgl. die Dokumentationen »Sangatte, station balnéaire«, ein Film von Nadia Bouferkas, Wasila Zahzouma, Benjamin Durand, Nicolas Potin (2002), zu sehen auf https://vimeo.com/37976568 (11.4.2019) und »Welcome Out/In Sangatte« von Florence Pezon (2002).

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Die Flüchtlinge betonten, wie schwierig es gewesen sei, sich auszuruhen und zu schlafen. Ständig hallten Geräusche wider. Wenn die Scheinwerfer um Mitternacht ausgeschaltet wurden, zerrissen Rufe und Applaus das Dunkel. Darauf nahm die Geräuschkulisse langsam ab. Aber die fragile Stille konnte jederzeit durch das Weinen eines Kindes, durch Gespräche von in den Gängen sitzenden oder zwischen den Kabinen und Zelte umherwandernden Gruppen oder durch einen krakeelenden Betrunkenen unterbrochen werden.2 Im Sommer 2002 waren die 37 Zelte und 30 Kabinen, von denen sieben besonderen Diensten vorbehalten waren, auf eineinhalb Hektar verteilt. Ende 2002 war die Aufnahmekapazität von 1200 Personen erreicht; in Spitzenzeiten lebten hier gleichwohl über 2500 Menschen. Die für 12 Personen vorgesehenen Kabinen mussten bis zu 60 Personen aufnehmen. Viele Menschen schliefen zwischen den Zelten und Kabinen auf dem Boden. Sangatte wurde, wie bereits gesagt, Ende 2002 auf Beschluss des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy geschlossen.

März 2015: Jungles, Camps und Hausbesetzungen Nach der Schließung von Sangatte wurde die Situation in der Region von Calais unübersichtlich und gefährlich. Zwar verbesserte sich für die letzten Bewohner_innen des Lagers die Situation mit der Überfahrt nach England, doch für die meisten anderen schloss sich die Tür wieder und lange Jahre des Stillstands standen bevor. Hausbesetzungen, Jungles und Camps nahmen nun zu, entstanden und verschwanden wieder infolge der Polizeieinsätze und der politischen Entscheidungen lokaler und nationaler Politiker_innen, insbesondere während der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy (2007-12) und der Amtszeit seines entschlossen auftretenden Ministers für Einwanderung und nationale Identität Éric Besson. Die Exilierten zogen sich zeitweise in verlassene Bunker oder in Kielräume von Booten zurück, bis die Polizei alle diese Unterkünfte ebenfalls dichtmachte.3 2 3

Clochard, »Le jeu« (wie Anm. 1, S. 88). Coordination française pour le Droit d’asile, La loi des »jungles« : La situation des exilés sur le littoral de la Manche et de la Mer du Nord : Rapport de mission d’observation mai-juillet 2008, coord. et réd. Karen Akoka, Olivier Clochard, collab. Jean-Pierre Alaux, Patrick

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Im März 2015 führten Studenten der École nationale supérieure d’Architecture von Paris-Belleville (ENSAPB, Nationale Hochschule für Architektur) eine Studie über die verschiedenen Quartiere der Exilierten durch. Zu dieser Zeit gab es in der Stadt vier zentrale Sammelplätze: Tioxide, den squat Galoo (also die Besetzung der Fabrik Galoo), den Dubrulle-Wald und Leader Price. Dazu kamen kleinere Plätze – sowohl Besetzungen als auch Camps – für sudanesische, syrische, ägyptische oder afghanische Migrant_innen. Der am stärksten informelle Ort war Leader Price. Dies war ein morastiges Feld, auf dem vorwiegend Menschen aus dem Sudan und dem Tschad lebten. Seinen Namen hatte es von dem Supermarkt Leader Price, hinter dem es lag. Das Camp entstand deswegen dort, weil in der zum Kanaltunnel weiterfahrenden Lastwagen vorbehaltenen Ausfahrt 42a der Autobahn A16 häufig douggars auftraten: Douggars ist der sudanesische Begriff für durch Straßenblockaden verursachte Verkehrsstaus. Ob diese Sperrungen auf Migrant_innen zurückgingen oder nicht, führten sie jedes Mal zur Mobilisierung aller Migrant_innen, die sich in der Geschwindigkeit der Messengerdienste (SMS, WhatsApp und andere) abspielte und die Möglichkeit eröffnete, auf die Lastwagen zu steigen.4 Douggars wurden auch von allzu gründlichen Grenzkontrollen hervorgerufen, die nach blinden Passagieren fahndeten. Wurde der Stau jedoch zu lang, verringerten die Behörden normalerweise ihre Kontrollen wieder. Das waren dann die Momente, da sich das Tor zur heimlichen Passage für alle am weitesten öffnete. Das Camp Leader Price lag also günstig, zumal es sich unmittelbar in den westlichen Vororten von Calais und hinter einem Supermarkt befand. Der Parkplatz direkt neben dem Camp wurde von zahlreichen Vereinigungen angefahren, um Lebensmittel zu verteilen. Die Hilfsorganisation Médecins du monde (Ärzte der Welt) befüllte regelmäßig einen 100-Liter-Wassertank. Hingegen gab es keine Waschplätze und nur simple von Médecins du monde aufgebaute Trockentoiletten. Da es auf einem schlammigen Areal lag, sah das Leader Price-Camp immer schmuddelig aus. Von allen damals untersuchten Bidonvilles von Calais war es wahrscheinlich das trostloseste und am schlechtesten unterhaltene Camp. Bei genauerem Hinsehen ließen sich jedoch am Tag und in der Nacht

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Delouvin, Jean Haffner, Gérard Sadik, Michel Zumkir ([Paris] 2008), p. 42; https://www. gisti.org/IMG/pdf/hc_cfda_rapport2008-exiles-manche-nord.pdf (20.6.2019). In Kapitel 3 kommen wir auf die für den Grenzübertritt angewandten Strategien zurück.

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Abb. 7: Karte der Camps, Gebäudebesetzungen und Jungles von Calais, März 2015

Quelle: Actes & Cités – ENSAPB – Studio C. Hanappe

unterschiedliche Lebensräume ausmachen. Am Tag gab es über das Camp verteilt acht Küchen, die Gruppen von 12 bis 20 Personen versorgen konnten. Sie besaßen Holzöfen und waren die einzigen beheizten Orte. Tagsüber waren die Küchen allgemeine Treffpunkte. Man richtete sich auf Stühlen oder behelfsmäßig auf Kisten ein und trank zusammen Tee. Die Küchen waren Assemblagen aus Paletten und Ästen, manchmal mit grauen oder schwarzen Kunststofffolien überdeckt. Sie besaßen viele seitliche Öffnungen, die mit abnehmbaren Holzpaneelen geschlossen werden konnten und dazu dienten, den Rauch abziehen zu lassen oder den Innenraum zu beleuchten. Obwohl es viele Zelte gab, konnten die Menschen nachts auch in festeren Hütten schlafen, die aus Paletten gefertigt und mit mehreren Schichten schwarzer Plastikplane überzogen waren. An den Paletten wurden die Planen mit Nägeln oder Reißzwecken festgemacht, die man durch farbige Plastikflaschenverschlüsse oder durch andere Objekte aus weichem Kunststoff geschlagen hatte. Diese in Frankreich »klassische« Bidonville-Technik verhinderte, dass Wasser eindrang oder dass die Planen zerrissen. Die Falten und Umschläge dieser Planen wurden häufig verwendet, um die Zahnbürste einzuklemmen und sie an der Luft sauber und trocken zu halten.

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Der Boden wurde ebenfalls aus Paletten konstruiert. Als Schutz gegen die Kälte waren die Hütten manchmal mit Decken isoliert, aber sie besaßen fast keine Belüftung. Neben der Gefahr des Erstickens oder zumindest der schlechten Sauerstoffversorgung war diese Technik ein Paradebeispiel einer zwar klugen, aber dennoch falschen Idee in einer prekären Umgebung: Die mangelnde Belüftung erhöhte notwendigerweise die Luftfeuchtigkeit, was wiederum das Kältegefühl verstärkte und die wenigen gewonnenen Temperaturgrade zunichtemachte. Darüber hinaus konnte man im Lager einige Hütten finden, die von freiwilligen Helfer_innen aufgebaut worden waren. Sie hatten ein klareres Design und eine klarere Struktur, waren besser definiert und rationeller und sie verfügten über Fenster und Türen. Nach der Eröffnung des »New Jungle« im April 2015 bestand das Lager noch einige Monate fort, bevor es im Juni desselben Jahres geräumt wurde.

Abb. 8: Das Camp Leader Price im März 2015

Quelle: ENSAPB – Studio C. Hanappe – Studierende: Bensaci, Credey und Migliore

Der squat Galoo, die besetzte Fabrik gleichen Namens, befand sich näher am Zentrum von Calais in den alten Arbeitervierteln aus dem 19. Jahrhundert. Auf der stadtzugewandten Seite einer Eisenbahn gelegen, handelte es sich um eine stillgelegte Anlage zur Verwertung von Eisen- und Metallschrott. Der squat Galoo eröffnete am 12. Juli 2014 im Anschluss an eine Solidaritätsde-

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monstration zur Unterstützung der Exilierten nach deren abermaligen Vertreibung (s.o. Kapitel 1). Der befremdende Anblick der Fabrik verlieh diesem Ort von Anfang an eine Ausnahmestellung: In einem Bogen von mehr als 300 Metern Länge erstreckte sich eine Reihe von fünf Höfen, die von 4 Meter hohen Mauern aus leuchtend rot rostendem Stahl gesäumt waren. Die Breite der Höfe betrug manchmal nur wenige und manchmal einige Dutzend Meter. Einer der Höfe wurde von einer großen Halle eingenommen, die in mehrere Abschnitte unterteilt war und deren Dach von einer altertümlichen schwarzen Holzkonstruktion mit einer komplexen, sich wiederholenden Struktur gehalten wurde. Beleuchtet wurde die Halle durch Oberlichter im Dach, deren Lichtstrahlen wie große, helle Klingen durch die dunkle und staubige Atmosphäre schnitten, die nur von der feinen Zeichnung der Balken unterbrochen wurde. Das Halbdunkel im Rauch der von den Bewohner_innen entzündeten Feuer verstärkte die eigentümliche Atmosphäre dieses Ortes. Im Gegensatz zu anderen Orten war die Besetzung des Galoo-Geländes Teil einer vollständig durch Freiwillige, Aktivist_innen und die Vereinigungen geplanten und organisierten Aktion, die wiederum ihre eigenen politischen und künstlerischen Projekte damit verbanden. Die Besetzung wurde durch vielfältige künstlerische Interventionen begleitet, die dem Ort eine ästhetische Dimension verliehen. Der aus Calais stammende Künstler Loup Blaster bemalte die rostigen Stahlwände mit zwei gigantischen weißen Bäumen – eine riesige, 500 Jahre alte Sykomore ist der Stolz Eritreas und ziert die Banknoten des Landes. Die graphischen Künstler_innen gaben sich mit ganzem Herzen den langen Wänden hin, um sie zum Träger politisch-poetischer Botschaften zu machen: »LA RÉVOLTE dessine Aux yeux NOTRE génie d’Histoire« (DIE REVOLTE führt UNSERE Möglichkeit vor Augen, Geschichte zu machen), »But still, like dust, I’ll rise«, »Sie denken, dass es nicht legal ist, wir wissen, dass es legitim ist«, »Die Kraft liegt in der Flöte«, »Bad things happen because good people do nothing«. An andere Wände wurden Informationen und Ratschläge für die Exilierten geklebt, auch Kontaktdaten von Menschen, die ihnen in bestimmten Situationen helfen könnten. Doch die Lebensbedingungen waren nicht einfach: Der Lebensmittelpunkt dieses Ortes befand sich in der Werkhalle, in der aber die Kälte am größten war. Die Exilierten schliefen in Zelten, die nach Zugehörigkeitsgruppen aufgestellt worden waren – die hauptsächlich vertretenen Nationalitäten waren Sudanes_innen, Ägypter_innen und Syrer_innen. Die Feuer erwärmten und stärkten die Gemeinschaft, verursachten indessen Atembeschwerden. Der Boden bestand aus einer großen flachen Betonplatte, manchmal un-

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Abb. 9: Der Bergahorn von Loup Blaster in der besetzten Fabrik Galoo

Foto: Cyrille Hanappe

terbrochen von gefährlichen Gruben, und die riesigen Pfützen brauchten Wochen, um zu verdunsten. Galoo wurde Anfang Juni 2015 geräumt, zur selben Zeit wie Leader Price. Infolge der Vertreibungen vom Frühjahr 2014 entstand das Camp im Dubrulle-Wald. Es entsprach im wahrsten Sinne des Wortes dem, was sich die meisten unter einem »Jungle« vorstellten. Der Dubrulle-Wald ist die Schnittstelle zwischen den letzten Wohnvierteln im Osten Calais’ und dem wichtigsten Industriegebiet, der bereits erwähnten zone des Dunes. Dieses Industriegebiet erstreckt sich von Ost nach West entlang der rue des Garennes und ist etwa 2 Kilometer lang und 800 Meter breit. Darin befinden sich an markanter Stelle der europäische Hauptsitz und die Farbpigmentfertigungsanlage der Firma Tioxide, die Titandioxid herstellt, ein hochgiftiges, genotoxisches und krebsverursachendes Produkt, dessen bittersüßer Geruch überall in der Luft hängt. Zum Industriegebiet gehören außerdem Kohlenwasserstoffanlagen (Shell, Kuwait Petroleum) und das Werk Graftech, in dem Graphitelektroden hergestellt werden und dessen hoher Metallturm die Umgebung prägt. Das Camp Tioxide lag am Rande des Dubrulle-Waldes im Herzen des Industriegebiets, an dessen Ostflanke, nur durch die Autobahn abgetrennt, später der »New Jungle« entstehen wird. Weniger als 15 Gehminuten von einem

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Kreisverkehr an der Einfahrt zum Fährhafen entfernt, war seine Lage sehr günstig für Migrant_innen, die auf einem Schiff übersetzen wollten. Im Dubrulle-Wald war hauptsächlich die afghanische und die äthiopische Nationalität vertreten, aber auch einige Iraner_innen. Der Wald, der der Stadt Calais Ende des 19. Jahrhunderts vom gleichnamigen Baron vermacht worden war, ist etwa 200 mal 350 Meter groß und liegt an einer Ost-West-Achse zwischen der rue des Garennes und der parallel verlaufenden route des Gravelines etwas südlich davon, deren Häuser mit ihren rückwärtigen Gärten an den Wald stoßen. Mehrere hundert Menschen lebten im Wald von Dubrulle. Die Gruppen verteilten sich darin entsprechend ihrer Nationalität. Die Äthiopier_innen nahmen die Südflanke entlang eines Weges ein, der parallel zu den Hausgärten der route des Gravelines verläuft. Die Afghan_innen lagerten tiefer im Wald und teilten sich dessen Mitte mit einer Anzahl »öffentlicher« und »gemeinschaftlicher« Gebäude, die verschiedene Zwecke erfüllten: sich treffen, einkaufen, sich aufwärmen, Sport treiben oder beten. Es gab unterschiedliche Wohnformen. Eine Gemeinsamkeit der in den Wald eingefügten und um die Baumpflanzungen angeordneten Wohnstätten waren die großen blauen Plastikplanen; sie waren gewissermaßen das Wahrzeichen des Ortes. Der Raum war nach funktionalen Gesichtspunkten gegliedert: Ess-, Versammlungs-, Koch- und Schlafbereiche wurden durch Plattformen definiert, die meist aus Holzpaletten zusammengesetzt waren. Drei Wohnstätten afghanischer Migrant_innen im Dubrulle-Wald sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Beginnen wir mit Samir. Seine große, an den Bäumen befestigte Plane erinnert an die khaïma, das große Beduinenzelt. Sie schloss einen Raum von ca. fünfzig Quadratmetern ein und erlaubte es, darin zu stehen und sich zu den verschiedenen Funktionsbereichen zu bewegen, die auf sechs Plattformen verteilt waren: Eine Plattform diente zu Besprechungen, eine zum Essen und die anderen vier, auf denen Iglu-Zelte standen, zum Schlafen. Die Küche hingegen lag auf dem nackten Boden, da hier ein Holzfeuer gemacht wurde. In anderen Räumen wurden Holz oder Konserven aufbewahrt. Neben ihrer verbindenden Funktion schützte die Plane an den Seiten vor Wind und gegen Diebstahl. Die gleiche Konfiguration fand sich bei Nowroz, allerdings mit dem Unterschied, dass sein Küchenplatz vor der Plane lag. Der Ort von Omar, »Washington Palace« genannt, war komplexer und gliederte sich hierarchisch in mehrere Räume und Teilräume. Das Ensemble war nicht abgeschlossen und nutzte bestmöglich den Wald; es war um eine runde Mulde von drei bis vier

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Metern Durchmesser herum angelegt, in der sich die offene Feuerstelle befand. An den Bäumen waren Möbel und Utensilien für Küche und Toilette aufgehängt. An einer Seite der zentralen Grube befand sich ein Möbelstück zum Geschirrspülen, an den anderen Seiten befanden sich vier Schlafeinheiten. Die Kochstelle selbst wurde durch seitliche Planen begrenzt, die den Wind abhielten. Wenn es regnete oder zu kalt war, diente ein größerer in zwei Unterbereiche aufgeteilter Raum zum gemeinsamen Essen oder Teetrinken. Die Abgrenzung der Teilräume war am unterschiedlich gestalteten Boden erkennbar. Auf der einen Seite lagen zwei Teppiche auf erhöhten Paletten, auf der anderen standen Stühle um einen Couchtisch herum. Der Jungle von Dubrulle sollte als einer der ersten verschwinden, als Ende März 2015 der »New Jungle« geschaffen wurde. Zwar blieben einige Zelte und Hütten zunächst noch stehen und dienten als Materialreserve für neue Bauten, doch sollte Ende April 2015 eine Serie nächtlicher Brandstiftungen alles zerstören. Das Camp Tioxide wurde im späten Frühjahr 2014, etwa zur selben Zeit wie das im Wald von Dubrulle, gegründet und war Anfang März 2015 immer noch der wichtigste Lebensmittelpunkt und größte Treffpunkt für die Migrant_innen in Calais. Auf Grund seiner urbanen Struktur und Komplexität, aber auch in anderer Hinsicht war es für den »New Jungle« prägend. Es befand sich auf dem ehemaligen Sportplatz der gleichnamigen Fabrik und versammelte 700 bis 900 Personen aus dem Sudan, aus Eritrea, Ägypten, Syrien und Pakistan. Es kam vor, dass der Werkschutz der Firma die Funktion der Polizei übernahm und den Zutritt zum Camp verbot oder erlaubte. Zwischen dem Zaun und einer blechverkleideten ehemaligen Sporthalle wurden verschiedene Hütten errichtet, die aus einfachen Ästen konstruiert und mit schwarzen oder blauen Planen überzogen waren. Einfach gebaut, waren sie nach außen recht offen und dienten gewerblichen Zwecken – es gab einen Friseur und Läden mit Konserven. Eine der Hütten wurde zum Schlafen genutzt. Sie war niedriger und geschlossen, sehr lang, und ihre schwarzen Planen waren durch ein Netz von Seilen an Stahlbetonblöcken festgezurrt. An der Halle thronten zwei große Zeichnungen. Eine davon spielte auf die Skulptur Die Bürger von Calais von Auguste Rodin aus dem Jahr 1895 an.5

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Anm. d. Übs.: Rodins Skulptur Die Bürger von Calais ist das bekannteste Kunstwerk von Calais. Es befindet sich auf dem Vorplatz des Rathauses und bezieht auf ein Ereignis aus dem Jahr 1347: Sechs angesehene Bürger der Stadt stellten sich im Hundertjährigen Krieg dem englischen König als Geiseln zur Verfügung, um eine Belagerung der

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Abb. 10: Das »Stadtzentrum« des Camps im Wald von Dubrulle

Quelle: ENSAPB – Studio C. Hanappe – Studierende: Alves, Carrasco, Lefrançois und Olavarria

Auf grauem Papier auf das Blech geklebt, zeigte sie eine Gruppe von sechs bekümmerten und verzweifelten Migrant_innen, die nicht mehr wissen, wohin. Die andere Zeichnung zeigte einen Mann, vielleicht einen Eritreer, der mit einer angehobenen Hand und mit einem sanften, aber hoffnungsvollen Lächeln grüßte. Ein großes grünblaues Tuch umhüllte seinen Kopf und reichte ihm bis zur Taille. Sie war signiert mit »Horor Morione. 2015 – Hope for Everyone«. Die Zeichnung überdeckte ein älteres Graffiti, von dem nur noch die abgeschnittenen Worte »LaFranceTerDeM« zu erkennen waren.

Stadt abzuwenden. Rodins Plastik bildet die sechs Personen in ihrer individuellen Gefühlswelt ab und macht Emotionen wie Angst, Verzweiflung und Hoffnung sichtbar. Im unserem Kontext wurde das Werk von verschiedenen Künstler_innen und Autor_innen auf die Situation der Migrant_innen bezogen.

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Abb. 11: Die Halle von Tioxide

Foto: Cyrille Hanappe

Wenn man um die Halle herumging, entdeckte man eine weitere Doppelreihe Hütten. Zwischen zwei dieser Hütten gab es ein quadratisches Loch in der Wand; es befand sich in etwa einem halben Meter Höhe und seine Seitenlänge betrug ungefähr einen Meter. Dies war der einzige Zugang in die Halle. Darin waren etwa 150 Zelte eng zusammengedrängt. Da das Gebäude nicht isoliert war, versuchte man, die Kälte mit offenen Feuern zu vertreiben. Die Luft war sehr verraucht. Es herrschte eine bedrückende Stille. Beleuchtet wurde das Ganze nur durch Dachfenster aus opalisierendem Polycarbonat, die im oberen Teil der Halle einen Lichtkreis erzeugten. Auf dem Gelände verteilt lagen verschiedene Gebäude und gliederten sich in drei Gruppen; von allen besetzten Gebäuden und Camps in der Region waren diese am weitesten entwickelt. Nördlich des Fußballfeldes standen überwiegend Hütten. Im Osten umgaben die Wohnstätten die koptische Kirche, im Westen die Moschee und die Französischschule.

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Die Architektur der Moschee (Abb. 13) war eigen und zeugte vom guten Raumgefühl ihrer Erbauer_innen. Der asymmetrische Grundriss schuf einen Eingang, wie man ihn in der zentralen und symmetrischen Bauweise traditioneller syrischer oder sudanesischer Moscheen selten findet. Die Positionierung des Eingangs entlang der Wand war durch die Wahl der architektonischen Proportionen gerechtfertigt. Die Mihrab, die Gebetsnische, die als grundlegendes Orientierungselement aller Moscheen die Himmelsrichtung nach Mekka anzeigt, war hier symmetrisch zum Eingangsbereich eingebaut und ragte aus der langen Südostfassade hervor. Durch seinen Aufbau verwies der Grundriss der Moschee von Tioxide auf den Kanon moderner Architektur, die eine rigorose, asymmetrische und pittoreske Komposition vereinte. Die eritreische Kirche (Abb. 13) des Camps Tioxide richtete sich an der koptisch-äthiopischen Architektur aus, die christlich-orthodox ist. Während diese Kirchen ursprünglich auf dem so genannten griechischen Kreuzplan basierten, entstanden im Laufe der Zeit verschiedene Varianten, insbesondere mit Bezug auf die lateinischen Kreuzpläne. Die bekannteste der byzantinischen Kirchen ist zweifellos der Markusdom in Venedig. Beim Vergleich des Markusdoms mit der eritreischen Kirche finden sich Übereinstimmungen: In beiden Fällen war im Unterschied zum griechischen Kreuz der Chor leicht verkürzt und das Querschiff entsprechend verlängert. Das Querschiff setzte sich in einem den Gebäudeflügel vergrößernden Portalvorbau fort. Hier zeigt sich eine Ambivalenz in der Grundrissgestaltung beider christlicher Traditionen, da wir es mit einer Mischform von griechischem und lateinischem Kreuz zu tun haben. Von den übrigen öffentlich zugänglichen Gebäuden des Camps Tioxide wären noch die Französischschule und eine große Bar zu nennen, die als Restaurant und als Versammlungsraum diente. Die Architektur der Wohngebäude ließ ebenfalls einige Innovationen erkennen, die auf der Verwendung von recyceltem Material beruhten. Qualitativ wertvolle Hüttenkonstruktionen wurden durch robustere Strukturen mit geneigten Dächern gewährleistet, die gut mit den Seitenwänden verbunden waren und dann senkrecht zum Boden hin abfielen. Mehrere Schichten an Planen, die durch große, am Boden befestigte Netze gehalten wurden, überdeckten die gesamten Bauten und machten sie wasserfest. Die senkrechten Wände waren sorgfältig am Boden befestigt und durch große Sandaufschüttungen gegen seitlich eindringendes Wasser abgedichtet. Rohre, Holzstücke oder Steine fixierten die Gebäude auf dem Boden. Türschwellen boten Schutz, um die Schuhe beim Betreten der Hütten trocken abstellen zu können.

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Wie im Wald von Dubrulle, wurde die Räumung des Camps Tioxide und seiner 1200 Bewohner_innen von der Polizei am 31. März 2015 für den nächsten Morgen um 6 Uhr angekündigt. Seit 1945 war dies in Frankreich eine der größten Vertreibungsaktionen, ohne dass neue Unterkünfte bereitgestellt worden wären. All diese Menschen werden sich im »New Jungle« wiederfinden, dessen Eröffnung einige Wochen zuvor bekannt gegeben worden war.

April 2015 – Oktober 2016: Der Jungle oder »Die Kunst, Städte zu bauen«6 Am 3. September 2014 machte die Tageszeitung Le Monde eine überraschende Wende seitens der französischen Regierung publik: Zwölf Jahre nach Sangatte, dessen Schließung in der politischen Klasse des Landes kaum auf Widerspruch gestoßen war, erklärte die Bürgermeisterin von Calais Natacha Bouchart, dass das Innenministerium grünes Licht für die Errichtung eines Aufnahmezentrums gegeben habe.7 Während der folgenden Monate, in denen dieser Plan konkretisiert und das Zentrum im Januar 2015 (als Zentrum Jules-Ferry) eröffnet wurde, vermied man gewissenhaft die Frage der Unterbringung – dieses Thema blieb in der Öffentlichkeit unausgesprochen. Man musste bis zum 7. März 2015 warten, um aus einem Artikel in der Regionalzeitung La Voix du Nord zu erfahren, dass »Natacha Bouchart im Bewusstsein, dass die Räumung der besetzten Gebäude notwendig ist, im Gegenzug die baldige Einrichtung eines vorübergehenden Aufnahmeortes in der Nähe des Zentrums Jules-Ferry bestätigt: eine große Plattform, die es den Migranten, die nach England weiterreisen wollen, ermöglicht, ›eine Pause zu

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L’art de bâtir les villes : L’urbanisme selon ses fondements artistiques, trad. Daniel Wieczorek, préf. Françoise Choay, Points Essais (Paris : Seuil, 1993) ist der französische Titel des vom österreichischen Architekten Camillo Sitte 1889 veröffentlichten Buches Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen: Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, 4. Aufl., verm. um »Großstadtgrün« (Wien: Graeser; Leipzig: Teubner, 1909). Dieser allen Architekt_innen bekannte Klassiker lässt uns die Architektur mittelalterlicher europäischer Städte im Unterschied zur klassischen orthonormierten Stadt im Frankreich von König Ludwig XIV. wiederentdecken, indem Sitte die räumlichen und ästhetischen Qualitäten ungeplanter Stadtformen hervorhebt. Vgl. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k744025/f1. image (30.5.2019). Élise Vincent, »Calais va rouvrir un centre d’accueil pour migrants«, Le Monde (3.9.2014).

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machen‹, und auf der internationale Organisationen, den ›Austausch mit ihnen verbessern‹ können, und zwar abseits von den Schleusern«.8 Am 24. März verlautete dieselbe Zeitung, dass der nun als »zones des Dunes« (Dünenzone)9 bezeichnete Ort seine ersten Neuankömmlinge aufgenommen habe: »Etwa 25 Migranten afghanischer, pakistanischer oder sudanesischer Herkunft haben ihre Zelte in diesem neuen vom Rathaus zur Verfügung gestellten Gebiet aufgebaut. […] Natacha Bouchart und der Unterpräfekt von Calais Denis Gaudin hatten bereits Anfang März die Migranten ermutigt, sich diesen Platz selbst anzueignen.«10

Der Prozess eines Städtebaus Die Würfel waren gefallen: Calais also; die Garenne, die lande, der Jungle also. Am Anfang ist eine Stadt zunächst einmal ein Ort. Die Geometrie dieses spezifischen Ortes wurde durch mehrere Straßen bestimmt, die sein Gebiet begrenzten und ihm klare und gut proportionierte Formen gaben. Obwohl es im Gefahrenbereich einer nahegelegenen Fabrik lag – gemäß der Seveso-IIRichtlinie als Gefahrenzone klassifiziert – und ihren Emissionen ausgesetzt war, bereitete dies im alltäglichen Leben keine Probleme. Das Vorhandensein großer Pappeln entlang des Zentrums Jules-Ferry im Norden und des chemin des Dunes (Dünenweg, eine schmale Straße an der Ostseite des Geländes) sowie die Böschung der Hafenschnellstraße im Westen schwächten den Wind ab. Das Gelände besaß größtenteils einen gut gefestigten Sandboden, der einen stabilen Grund für alle Arten von Bauten bot und überschüssiges Wasser schnell aufsog, wodurch nur wenige Schlammflächen entstanden. Ein großer fast 300 Meter langer und etwa 60 Meter breiter See durchzog das Gelände in der Mitte und trennte einen nördlichen von einem südlichen Teil ab. Es gab drei Hauptzugänge zur lande: einen am Ausgang der rue des Garennes auf Höhe der Ausfahrt 2 der Hafenschnellstraße, also des Zubringers, der die Autobahn A16 mit dem Fährhafen verbindet. Die anderen beiden befanden sich am chemin des Dunes, im Südosten und Nordosten des Geländes.

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»Migrants à Calais : Un nouveau terrain d’accueil à côté du centre Jules-Ferry«, La Voix du Nord (7.3.2015). Anm. d. Übs.: Die Zeitung verwendete damit den Namen des benachbarten Industriegebiets, von dem der New Jungle jedoch durch die Hafenschnellstraße getrennt war. »Migrants de Calais : Un camp ›toléré‹ voit le jour autour du centre Ferry«, La Voix du Nord (24.3.2016).

Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

Dort wo die rue des Garennes in das Gelände überging, wurde sie abrupt zu einem unbefestigten Weg und endete nach etwa fünfzig Metern an einer T-Kreuzung, an der sich diese Piste nach Norden und Süden verzweigte. Im Norden zog sich der Weg etwa 250 Meter in nordwestlicher Richtung weiter, wo er eine große Sandfläche erreichte, die sich bis zum chemin des Dunes erstreckte. Die etwa 200 Meter breite Fläche war mit kleinen Hügeln bedeckt, darunter in der Mitte auch eine größere Erhebung von etwa zehn Metern Höhe. Es gab auch tiefere Punkte, an denen an Regentagen das Wasser zusammenlief; es dauerte dann einige Tage, bis es wieder verschwand. Um die Sandfläche im Norden und Westen herum gab es eine fast undurchdringliche Zone von Dornenbüschen. In diesem Unterholz an der Seite zur Autobahn gab es eine kurvenreiche Motocrosspiste, die Arabesken zeichnete und von leeren Jagdpatronen übersät war (später dann vor allem von Exkrementen in großer Menge). Nach Süden hin löste sich der Weg vom Ende der rue des Garennes her nach fünfzig Metern in verschiedene Pfade auf, die im weiteren Verlauf zu den Straßen und Wegen eines urbanen Raumes wurden. Ein Pfad, der sich zunächst nicht von anderen unterschied, band nach einigen Umwegen die südöstliche Zufahrtsstraße des Geländes an. Sie wurde die Haupteinkaufsstraße des Jungle.

Der südliche Teil Im südlichen Teil ließen sich im Oktober 2015 vier Hauptwohngebiete unterscheiden: Das erste Gebiet begann bei der Zufahrt der rue des Garennes und verlief entlang der eben erwähnten Hauptstraße, die das Gelände diagonal durchquerte, um im Südosten der lande auf den chemin des Dunes zu treffen. Der Anfang der Hauptstraße wurde hauptsächlich kommerziell genutzt; die Geschäfte wurden fast ausschließlich von Afghan_innen betrieben. Daran schloss sich die eritreische Kirche mit den dazugehörigen Häusern an. Die Straße durchzog dann eine Niederung, eine der wenigen matschigen Stellen im Jungle, und wurde erst wieder belebter, wenn sie sich ihrem Ende am chemin des Dunes mit der Laizistischen Schule des chemin des Dunes und dem Viertel der Zelte und Wohnwagen näherte, die von No Border-Aktivist_innen für kurdische Familien herangebracht worden waren. Das zweite große Wohngebiet entwickelte sich in taschenartigen Einbuchtungen vom chemin des Dunes aus; es wurde hauptsächlich von Sudanes_innen bewohnt, die dort komplexe Wohngruppen errichtet hatten.

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Die dritte, etwas weniger bevölkerte Zone war ein kleines Wäldchen im Südwesten; es lag ziemlich verborgen, war schwer zugänglich und so gegen die Aufregung aus dem übrigen Lager geschützt. Nicht zuletzt lebten viele Menschen in der Zwischenzone zwischen dem Wald und der Hauptstraße. Die Ankunft im Jungle von der rue des Garennes aus war überwältigend. Leute bewegten sich in alle Richtungen, die Straße war auf beiden Seiten von Läden aller Art gesäumt – Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Hotels, Telefonkartenverkauf usw. Stromaggregate, Fernseher und Hifi-Anlangen, die in den Restaurants indische Popsongs spielten, schafften eine lebendige Klanglandschaft, während das Hin und Her der Lastwagen großer internationaler NGOs, der Nutzfahrzeuge freiwilliger Helfer_innen oder der Tanklaster, die die wenigen Toiletten leerten oder Wasser verteilten, einem flüchtig den Eindruck aufdrängte, man besuche eine geschäftige Stadt Südostasiens. Die Restaurants und Geschäfte wurden von Afghan_innen geführt. Sie hatten eindrucksvolle Namen (Kabul Restaurant, AFG Flag oder Salam Bar) und ihre von talentierten Street-Art-Künstler_innen angefertigten Werbeschriftzüge ergaben ein ausgesprochen reiches Bild am Schnittpunkt verschiedener urbaner Kulturen. Mit einer Fläche von oft mehr als hundert Quadratmetern waren die Restaurants die größten Bauten im Jungle. Ihre bauliche Struktur war rationell, aber immer an der Grenze zur Unterdimensionierung. Sie bestanden aus handelsüblichen Holzteilen, die größere Spannweiten erlaubten: bis zu vier Meter breit und mehr als drei Meter hoch. Auf den Baustellen der Restaurants waren rund ein Dutzend Arbeiter_innen beschäftigt. Ein Restaurantbesitzer gab an, etwa 5000 Euro investiert zu haben, um seinen Betrieb zu verwirklichen. Wie bei den Wohnhütten wurden die Restaurants nach außen durch schwarze Planen abgedichtet, die mit Leisten oder mit durch die Verschlüsse von Plastikflaschen eingeschlagenen Nägeln festgehalten wurden. Die Planen gingen vom Dach bis zum Boden, wo sie durch kleine Sandhaufen und durch schwerere als Ballast dienende Äste gehalten wurden. Wände und Dächer wurden von innen mit Decken oder Schlafsäcken isoliert, die an der Konstruktion befestigt waren. Die Innenarchitektur der Restaurants (s. Abb. 15) war grundsätzlich durch eine Aufteilung des Raumes in eine Küche und einen Speiseraum definiert, voneinander durch eine Bar getrennt, die der Präsentation diente. Im Speiseraum war entlang der Wände immer eine sehr breite Bank aufgestellt. Mit Stoff überzogen, war sie groß genug, um im Liegen oder im Schneidersitz

Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

von einem Tablett oder am Rand von einem niedrigen Tisch zu essen. In den größeren Restaurants gab es ebenfalls einen Bereich im »europäischen Stil« mit Tischen und Stühlen. Die Küchen lagen zur Straße hin, um die angebotenen Gerichte auch direkt außer Hauses zu verkaufen. Immer dienten die Restaurants ihren Besitzer_innen auch als Wohnungen und manchmal Neuankömmlingen als Hotels. Die Läden waren einfacher, fielen aber durch den Eindruck von Überfluss auf, den sie ausstrahlten. Man konnte sie nicht betreten und sie hatten nur eine große verglaste oder vergitterte Fassade mit einer kleinen Öffnung zur Straße hin zur Abwicklung der Transaktionen. An allen Wänden, am Boden und an der Decke boten sie Konserven, Getränke, Getränkedosen und Telefonladegeräte an. Hinter diesem Stadtteil stand die große eritreische Kirche. Sie war umgeben von einigen Gebäuden, in denen Menschen derselben Nationalität wohnten, darunter viele Frauen (s. Abb. 16, ein Haus von acht Frauen in einem aus sechs festen Wohngebäuden und einem großen Zelt bestehenden Hof eritreischer Flüchtlinge). In einem Wäldchen im südwestlichen Teil des Geländes waren die Wohnstätten sehr viel informeller. Es handelte sich um Gruppen von Zelten und äußerst prekären Hütten, die sich um Feuerstellen sammelten. Es war sehr feucht. Die Bewohner_innen sagten, dass sie so wenig Licht hatten, dass sie selbst tagsüber mit dem Handy alles ausleuchten mussten. Zum Schutz standen die Zelte und Hütten sehr dicht beieinander und berührten sich oft. Eine der Hütten war verlassen, was selten vorkam, doch weil es so stank, wollte niemand darin schlafen. In diesem Bereich lebten hauptsächlich Afghan_innen sowie einige Pakistaner_innen. Am Wald hatten sich noch andere Gruppen niedergelassen. Pakistaner_innen, irakische Kurd_innen oder Syrer_innen errichteten auf die gleiche Weise kleine Ensembles von Hütten und Zelten um Feuerstellen herum, welche gewöhnlich durch Planen geschützt waren. Die Ansiedlungen lagen isoliert; zwischen ihnen lag eine Distanz von einigen Dutzend Metern und dichte Vegetation trennte sie voneinander. Im Gegensatz zu den anderen Vierteln des Jungle war dies keine urbane Zone, sondern eher eine Form von Waldleben. In diesem Bereich befanden sich fast keine jener Hütten, die von den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen vorgefertigt worden waren. Allerdings kam hier eine sonst selten angewandte Technik zum Einsatz, indem die Gitterelemente mobiler Bauzäune für die Konstruktion der Seitenwände verwendet wurden.

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Fast alle Sudanes_innen siedelten im Osten des Geländes entlang des chemin des Dunes zwischen der route des Gravelines im Süden und dem Zentrum Jules-Ferry im Norden; im Verlauf der Stadtentwicklung hatte sich hier eine buchtenartige Struktur entwickelt, die bis in das Innere des Camps hineinreichte. Ein Sand- und Erdwall von ein bis drei Metern Höhe trennte das Gebiet von der Straße ab, wodurch die Menschen einerseits geschützt waren und sich andererseits in der Nähe einer wichtigen Kommunikationsachse befanden: dem chemin des Dunes, der direkt zum Zentrum Jules-Ferry führte; er war nachts beleuchtet und individuelle Spender_innen und NGOs nutzten ihn bevorzugt für die Anlieferung von Material. Die Stadt entwickelte sich hier entlang der gewundenen Straßen, die die Wohnanlagen säumten. Wann immer man sie fragte, sagten die Sudanes_innen mehrheitlich, dass sie nicht wirklich vorhatten, nach Großbritannien weiter zu fahren. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass sie die aufwändigsten, umfangreichsten und räumlich am besten ausgestatteten Wohnstätten errichtet hatten. Durch das Zusammenfügen von vorgefertigten und selbst konstruierten Gebäuden schufen sie gemeinschaftliche Räume nach Maß, deren Nutzung genau geregelt war. Neben den Schlafräumen gab es immer eine Küche, einen Vorratsplatz für Lebensmittel, einen überdachten Raum mit Möbeln für gemeinsame Mahlzeiten und manchmal auch einen Platz, um tagsüber Zeit miteinander zu verbringen. Gegen den Wärmeverlust waren die Schlafstätten niedrig gehalten. In den Vorräumen standen Schuhregale. Alle Schlafräume waren mit schwarzer Plastikfolie überzogen, um das Tageslicht abzuschirmen. Wegen der Feuergefahr stand die hohe und gut belüftete Küche ein wenig abseits, während die Lebensmittel in einem ziemlich hellen und geschlossenen Raum lagerten, um sie gegen Schädlinge abzusichern. Der »Ratssaal« (salle de conseil) war ebenfalls hoch und hell, aber windgeschützt und mit einer kleinen Bibliothek und einem großen Tisch ausgestattet. Der Innenhof selbst war als nach oben offener Raum mit seiner Feuerstelle und mit Willkommens- und Kommunikationsplätzen konzipiert. Die Sanitärräume, vorwiegend Duschen, waren aus den Innenhöfen in die Zwischenräume der Stadt verbannt. Auf einer Grundfläche von weniger als einem Quadratmeter bestanden die Duschen in der Regel aus einer mannshohen Holzkonstruktion, die vor Wind und Blicken schützte. Die Füße standen auf einer Bodenpalette und nicht im Schlamm.

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Der nördliche Teil Im Oktober 2015 war der nördliche Teil viel weniger bevölkert als der südliche. Die von der rue de Garennes herkommende Geschäftsstraße verlief bis zur Sandfläche, wo es nur einige Dutzend Hütten gab. Die Sudanes_innen lebten wie im südlichen Teil entlang des chemin des Dunes bis zum Zentrum JulesFerry im Norden. Die Syrer_innen, die schnell weiterziehen wollten, lagerten in Zelten entlang der Autobahn und auf einer kleinen Erhebung, die entlang des Geländes nördlich des als »Straße der Syrer« bezeichneten Sandstreifens verlief. Ein Mitglied aus der Community der Bidunen, einer staatenlosen Minderheit in Kuwait, bewohnte eine vom Secours catholique errichtete Hütte. Erst nach der Zerstörung der südlichen Zone im März 2016 entwickelte sich der nördliche Teil des Jungle schneller, denn er war das einzige verbliebene Gebiet der entstehenden Stadt. Da nun die Gesamtfläche um 37 Prozent reduziert war, nahm die Siedlungsdichte enorm zu und zwang zur intensiveren Nutzung des verbliebenen Raumes. Die Gruppierung nach Nationalitäten löste sich vorübergehend in einer Mischung auf, die zu Spannungen führte. Der Nordteil urbanisierte sich im Sommer 2016. Aber die bestehenden Spannungen, die mittlerweile ununterbrochenen Polizeiangriffe und die erhöhte Siedlungsdichte führten dazu, dass nie mehr eine so florierende Stimmung entstand, wie sie es im Südteil gegeben hatte. Das Trauma der Zerstörung verhinderte zwar nicht, dass neue Momente architektonischer Schönheit entstanden, aber die durch die unablässigen Angriffe des Staates eingeflößte Angst minderte die Lebensqualität des Ortes erheblich. Es gab fast keine anderen Bauten mehr als die von den Vereinigungen vorgefertigten Modulhütten. Die Wohnkomplexe waren formloser, geschlossener und standen enger zusammen. Die Innenhöfe, sofern sie überhaupt existierten, waren auf kleinerem Raum eingeschlossen und die Furcht angesichts der unterschiedlichsten Spannungen (Polizeischikane, Enge, Konkurrenz zwischen den Nationalitäten) schloss sie weiter nach außen hin ab. Sie waren jetzt häufig durch meterhohe Wände gegen Blicke abgeschirmt und ließen keinen visuellen Austausch mehr zu. Dennoch sollte der nördliche Teil bis zum Ende der urbanen Entwicklung des Jungle von Calais bestehen bleiben. Hier sollten sich mehr als 8000 Menschen aufhalten, wenn man von den 10 000 Personen, die von der Auberge des Migrants gezählt worden waren, die 1500 Bewohner_innen der Container des Centre d’Accueil Provisoire (CAP, Provisorisches Aufnahmezentrum) und die 500 des Zentrums Jules-Ferry abzieht – und das auf einer immer weiter

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verkleinerten Fläche: Im Oktober 2016 waren es nurmehr 10 Hektar. Die Bevölkerungsdichte von 80 000 Einwohnern pro Quadratkilometer stellte einen Weltrekord auf; sie war doppelt so hoch wie die von Kairo oder Manila, den am dichtesten besiedelten Städten in der Welt.

Die Gemeinschaftseinrichtungen Während der gesamten Lebensdauer des Jungle sind zahlreiche Gemeinschaftsbauten entstanden. Der hier verwendete Begriff »Gemeinschaftsgebäude« unterscheidet sich vom Begriff der »öffentlichen Einrichtungen« (services publics)11 in zweierlei Hinsicht, nämlich im Sinne der Verweigerung öffentlicher Investitionen in den Jungle und im Sinne einer Eigenverwaltung dieser Orte durch die Gemeinschaften und die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen selbst. Internationale NGOs (Médecins du monde, Solidarités International, Ärzte ohne Grenzen) und viele Freiwillige und ehrenamtliche Helfer_innen aus Frankreich und Nordeuropa richteten sich auf dem Gelände ein und schufen eine Reihe von Infrastrukturen, ohne dass es dazu eines staatlichen Auftrages bedurft hätte: Schulen, Kirchen, Moscheen, Küchen, Bibliotheken, eine Kunstschule, einen Kindergarten, ein Theater und ein Zentrum für Minderjährige. Im nächsten Kapitel kommen wir auf das soziale Leben dieser Orte zurück. All diese Gebäude wurden durch künstlerische Arbeiten bereichert und insbesondere Street-Art-Künstler_innen verbesserten die Lebensqualität im Jungle erheblich. Bansky war der berühmteste von ihnen, aber viele andere arbeiteten an den Schriftzügen der einzelnen Geschäfte und Restaurants, machten Orte kenntlich, gestalteten Gebäude und auch die Betonunterführung der rue de Garennes am Eingang zum Jungle wurde zum Träger vielfältigen künstlerischen Ausdrucks. Das Kollektiv Art in the Jungle bot im Dezember 2015 einen Kunstparcours an, der viele Objekte auf dem Gelände zurückließ, wie zum Beispiel die hots-pots, stilisierte Kohleöfen, die an den mobilen WLAN-Hotspots aufgestellt wurden und als Wärmequelle dienten. Einige Orte wie die Laizistische Schule des chemin des Dunes wurden zum Mittelpunkt künstlerischer Interventionen, die gleichermaßen Kindern das Spielen und Erwachsenen das Entspannen ermöglichten.

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Den Begriff »öffentliche Einrichtung« behalten wir für das Zentrum Jules-Ferry und das Provisorische Aufnahmezentrum (Centre d’Accueil Provisoire, CAP) vor.

Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

Nach und nach nahmen so eine Stadt und ein öffentlicher Raum Gestalt an, die sich selbst verwalteten. Eine Stadt wurde geboren; sie durchlief den Prozess der Stadtwerdung in allen einzelnen Punkten, aber in einer wahnsinnigen Beschleunigung. Diese Stadt begann, die Aufmerksamkeit der gesamten Welt auf sich zu ziehen, die ihre zugleich prophetische und katastrophische, wundervolle und elende, utopische und dystopische Dimensionen verstand. Das war offensichtlich zu viel für den französischen Staat. Bei einem Treffen zwischen den Vereinigungen und zwei Vertretern des Staates im Dezember 2015 äußerten letztere »große Bedenken gegenüber der zunehmenden Selbstverwaltung im Bidonville«. Der Abriss des Jungle von Calais sollte ein langsamer, aber systematischer und unerbittlicher Vorgang werden, der schrittweise vonstattenging.

Architektur der Gastunfreundlichkeit Der Staat war in Form einer spezifischen Aufnahmearchitektur präsent, die aus drei Maßnahmen bestand: der Schaffung eines Aufnahmezentrums für die Tagesstunden, eines Containerlagers und eines Niemandslandes. Betrachten wir zunächst einmal das Tagesaufnahmezentrum Jules-Ferry, die erste dieser staatlichen Einrichtungen. Es entstand, wie bereits erwähnt, Anfang 2015 in einem ehemaligen Freizeitzentrum, das die Stadt Calais zur Verfügung gestellt hatte. In diesem Zentrum waren 400 Plätze in Algeco-Containern für Frauen und Kinder vorgesehen.12 Ein Jahr später gab es mindestens 1179 Minderjährige, davon 1022 unbegleitete, im gesamten Bereich des Jungle; dies bedeutet, dass im August 2016 ungefähr 700 Minderjährige nicht staatlich unterstützt wurden. Hinzu kam als zweite Einrichtung das Provisorische Aufnahmezentrum (Centre d’Accueil Provisoire, CAP). Weniger als ein halbes Jahr nach seiner Bekanntmachung, die freie Ansiedlung der Migrant_innen im Jungle »tolerieren« zu wollen, kündigte Ministerpräsident Manuel Valls im September 2015 die Errichtung eines »Zeltlagers« an gleicher Stelle an. Es wurde schließlich 12

Anm. d. Übs.: Das Zentrum Jules-Ferry bestand aus zwei Bereichen: einem, der tagsüber allen Einwohner_innen des Jungle offenstand, in dem warme Mahlzeiten ausgegeben wurden und Gelegenheiten zur Körperpflege, zum Wäschewaschen und zum Aufladen der Mobiltelefone bestanden, und einem räumlich davon abgetrennten Bereich, dem erst später eingerichteten und nicht allgemein zugänglichen Lager für Frauen und Kinder.

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ein Containerlager. Der Verein La Vie active, der bereits das Zentrum JulesFerry verwaltete, wurde am 4. Oktober 2015 mit der Geschäftsführung des Containerlagers betraut. Im selben Monat wurden die Pläne bekannt, aber nirgendwo war ein Architekt erwähnt, und so fragte man sich, mit welchem Recht eine Anlage dieser Größenordnung (von mehr als 4440 Quadratmetern) im Nordteil des Jungle genehmigt worden war. Denn umweltschutzrechtlich handelt es sich um ein »Gebiet, das den bedeutenden und charakteristischen natürlichen Landschaftsräumen der Küste gewidmet ist und in dem nur unter ganz bestimmten Bedingungen einfache Bauten errichtet werden dürfen, die so beschaffen sein müssen, dass eine Rückkehr des Ortes zu seinem natürlichen Zustand gewährleistet und jede Art von Unterkünften ausgeschlossen bleibt«. Die Architektur des CAP erinnerte an eine anti-utopische Installation der 1970er Jahre: In einem quadratischen, vollständig eingezäunten Bereich waren auf ein oder zwei Ebenen 125 gleichförmig weiße Container entlang zweier Achsen aneinandergereiht. In Längsrichtung waren die Container nach der West/Nordwest-Achse ausgerichtet und bildeten Gassen, die in der Richtung der in der kalten Jahreszeit und in diesem exponierten Küstenstreifen besonders starken Winde verliefen. Fast den ganzen Tag lagen die Straßen im Schatten und im Winter sahen sie nie die Sonne. Der öffentliche Raum reduzierte sich auf die Restfläche zwischen den Containern und beschränkte sich auf eine gleichmäßige Schotterfläche, die hin und wieder durch die metallenen Zugangstreppen zu den Containern unterbrochen wurde. In jedem der beheizten Container schliefen 12 Personen in Etagenbetten, die an den Außenwänden aufgereiht waren. Eine individuelle Aneignung war nicht erlaubt, weder Poster noch Fotos an der Wand. Eher selten wurde die dritte architektonische Maßnahme des Staates genannt, die den Jungle mit einem Niemandsland umgab. Leere Räume wurden geschaffen, die dann jedoch einige Formen der Wiederaneignung durch die Bewohner_innen des Jungle erfuhren. Der erste dieser leeren Räume war ein 100 Meter breiter Streifen entlang der route des Gravelines und der Zubringerautobahn zum Hafen. Dieser Streifen wurde dann im März 2016 auf den gesamten südlichen Sektor ausgeweitet, wobei nur vier kleine Gemeinschaftsanlagen vor Ort belassen wurden. Die so entstandene breite und sandige Fläche wurde von den Bewohner_innen des Jungle jedoch rasch wieder in Beschlag genommen, da es sich hierbei immerhin um unbebautes Gelände handelte, während die Aufnahmekapazität des Bidonvilles saturiert war.

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Abb. 12: Das Containerlager (Centre d’Accueil Provisoire, CAP), Jungle von Calais, Oktober 2016

Foto: Sara Prestianni

Außerdem entstand in der südlichen Zone einige Wochen nach ihrer Räumung und Reinigung im März 2016 eine üppige und gleichmäßige Vegetation aus gelb blühenden Stauden, was manche auf eine Aktion der Freiwilligen zurückführten. Einige Monate lang nahm die Fläche das fantastische und traumhafte Aussehen einer unendlichen Wolke aus gelben Fruchtknoten an; sie schwammen auf zerzaustem tiefgrünen Kraut, auf der die eritreische Kirche, die Schule und weiter hinten die ins Land der Träume führende Autobahn zu schweben schienen. Ein Fußballfeld in der Mitte wurde zum Austragungsort für eine Reihe von Turnieren zwischen den gemischten Teams von Freiwilligen und Migrant_innen aller Nationalitäten. Ein roter Lastwagen mit einem WLAN-Terminal kam jeden Tag und stellte Tische auf, an denen die Exilierten Backgammon oder Schach spielten. Das Niemandsland, das sich entlang der Autobahn nach Norden erstreckte, fungierte als Agora für alle: als Raum des Austausches, ebenso wie der Reibereien, die in Schlägereien übergehen konnten, als Spielfeld, sei es für das Cricket der Afghan_innen oder den Fußball der Sudanes_innen. Am Ende des

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Tages wurde er von all denen gefüllt, die ein wenig Luft schnappen und die Enge und Aufregung des Bidonvilles hinter sich lassen wollten.

Das Bidonville war eine Stadt Mit seinem Lager, seinem Bidonville und seinem Niemandsland wird der Jungle von Calais wahrscheinlich eines Tages als die Karikatur des Aufeinandertreffens zweier antagonistischer Modelle der Fabrikation von Stadt im 21. Jahrhundert betrachtet werden. Mit der autoritären Ordnung, Sicherheitseffizienz, Rigidität, unbegrenzter Kontrolle, dem Verbot persönlicher Aktivitäten und der Verweigerung von Individualität entsprach das Containerlager einer totalitären Vision der Gesellschaft, in der die Möglichkeiten zu persönlicher Emanzipation gleich Null waren. Es war kostspielig und sehr rentabel für diejenigen, die es errichtet hatten. Es wurde vom Staat direkt an ein Unternehmen vergeben, das hier guten Profit machte. In Massen produziert und als Bausatz zusammengesetzt, benötigte es keine manuelle Arbeit. Seine Befürworter sahen in ihm ein Modell für ein exportierbares Lager. In allen diesen Punkten entsprach das Containerlager exemplarisch dem in den 2010er Jahren aufkommenden Wirtschaftsmodell. Auf der anderen Seite war das Bidonville desorganisiert und intuitiv, aber nur wenig effizient. Es setzte seine Bewohner_innen beständig Gefahren aus. Es zeigte die Ästhetik von Unordnung und Wiederverwertung, die Logik von Einfallsreichtum und Kooperation, der Handarbeit und Energie zum Bauen. Es war außerdem ökologisch, sozial, eingebettet in ein menschliches und wirtschaftliches Gefüge, dem die Mobilität eingeschrieben war. Seine Konzeption schien tatsächlich, wie es Camillo Sitte gewünscht hatte, »auf dem Gebiete des Städtebaues bei der Natur und bei den Alten in die Schule« gegangen zu sein.13 Der Jungle von Calais war sehr wohl eine Stadt. Als Stadt der Migrant_innen, der vor Elend und Krieg Geflüchteten, hatte der Jungle 10 000 Einwohner_innen. Er entfaltete mit seinen Restaurants, Treffpunkten, Kultstätten aller seiner Religionen, Kultur- und Austauschorten und Schulen ein eigenes urbanes Leben, worauf wir im Folgenden zurückkommen werden. Unter Widrigkeiten und Unsicherheiten entwickelte sich eine neue Architektur: eine Architektur des Mobilen, Ephemeren und Ungewis13

Sitte, Städte-Bau (wie Anm. 6, S. 101), S. v; vgl. C yrille Hanappe, »La Jungle de C alais : Laboratoire de la ville de demain?«, Urbanisme, n° 406 (automne 2017).

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sen, die funktionell war und sich dennoch mit den unterschiedlichen Kulturen verband, insbesondere mit diesen großzügigen Hinterhöfen der Sudanes_innen (Abb. 17) oder mit den großen und einladenden afghanischen Restaurants (Abb. 15). Und in bestimmten Augenblicken war es auch eine gelehrte Architektur, als die Eritreer_innen eine ausladende und hohe Kirche schufen (einige Monate früher »vorbereitet« durch die Kirche des Camps Tioxide, vgl. Abb. 13), als der Nigerianer Zimako Jones hier die Laizistische Schule des chemin des Dunes errichtete oder als eine Vereinigung junger britischer Architekt_innen einen Kindergarten erbaute, der an ein Gebäude von Le Corbusier erinnerte.

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Abb. 13: Übersichtspläne der Bar (oben links), der Moschee (oben rechts) und der Kirche (unten) des Camps Tioxide, März 2015

Quelle: ENSAPB – Studio C. Hanappe – Studierende Marino, Sauqué, Stoumpou und Skipsey

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Abb. 14: Der Jungle von Calais, Oktober 2015

Quelle: ENSAPB – Lehrende: Aquilino, Chombart de Lauwe, Hanappe

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Abb. 15: Afghanisches Restaurant, Jungle von Calais, Oktober 2015

Quelle: ENSAPB – Lehrende: Aquilino, Chombart de Lauwe, Hanappe – Studierende: Frikha, Guarin, Pujole, Tumbarello)

Von Sangatte nach Calais: Die Jungles bewohnen

Abb. 16: Haus einer Gruppe eritreischer Frauen, Jungle von Calais, Oktober 2015

Quelle: ENSAPB – Lehrende: Aquilino, Chombart de Lauwe, Hanappe – Studierende: Frikha, Guarin, Pujole, Tumbarello

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Abb. 17: Hof »Darfour is Bleeding« der sudanesischen Migrant_innen. Die Dateilzeichnungen rechts zeigen den Versammlungsraum (oben), das Vorzelt vor der indiciduellen Eingangstür und dem Eingang zum Hof (Mitte) und die Dusche (unten)

Quelle: ENSAPB – Lehrende: Aquilino, Chombart de Lauwe, Hanappe – Studierende: Baïram, Gkiola, Hanart, Vilquin

Kapitel 3 Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

Wie war der Alltag in dem prekären Raum des Jungle von Calais organisiert? Als Ort informellem Zusammenlebens zwischen den Gemeinschaften verschiedener Kulturen, Sprachen und Herkunftswege wurde der Jungle manchmal von angespannten sozialen Beziehungen überschattet. Im täglichen Miteinander bildete sich jedoch ein gewisses Gleichgewicht heraus. Wie? Und welche Rolle spielten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und die staatlichen Stellen bei diesem Gleichgewicht?1 Denn das tägliche Leben hing, wie die oben beschriebene Geschichte und der Ausbau des Lagers/Bidonville von Calais, nicht nur von den Migrant_innen ab, so als ob es sich um eine spontane, vielleicht sogar eine »wilde« Generation gehandelt habe – ein Eindruck, der regelmäßig durch die Verwendung des Begriffs Dschungel verstärkt wurde, um den außergewöhnlichen und exotischen Charakter des Ortes zu karikieren. Das Gleichgewicht fußte auf einer komplizierten Dreiecksbeziehung, einem Dreieck aus den Migrant_innen, die im Jungle lebten und sich ihm anpassten, ohne dass sie sich jemals für ihn entschieden hätten, aus den staatlichen Stellen (Stadt, Präfektur oder Regierung), die im Jungle auf unterschiedliche, aber immer auf feindselige Weise auftraten, und aus dem Netz aus Vereinigungen und Bürger_innen, die sich im Namen der Solidarität mobilisierten, um die Mängel des öffentlichen Systems auszugleichen.

1

Die Untersuchung wurde von Februar bis Oktober 2016 von Yasmine Bouagga mit Unterstützung des Programms Babels und des Laboratoriums Triangle-CNRS durchgeführt.

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Eine Gesellschaft in der Prekarität Um zu verstehen, wie sich das Alltagsleben dieser Gesellschaft in der Prekarität abspielte, müssen wir uns die Anordnung des Ortes und die Gegenüberstellung verschiedener Räume ansehen, zwischen denen sich Menschen hin und her bewegten, ohne dass sich ihre Beziehungen institutionalisiert hätten. Wir können drei Zonen verschiedenen Status voneinander unterscheiden. Auf der einen Seite das vom Verein La Vie Active verwaltete Zentrum JulesFerry, das so ziemlich am Anfang von allem stand, da es ein vom Staat geöffneter Tagesaufnahmeort war und von einem vertraglich angebundenen Verein verwaltet wurde, um den herum sich das Bidonville formierte. Das Zentrum verteilte Mahlzeiten (im Sommer 2016 ca. 7000 am Tag: 3500 Frühstücke und 3500 Mittagessen). Es gab ferner eine Frauen- und Kinderunterkunft mit 400 Plätzen. Auf der anderen Seite war das Bidonville ein informelles Camp, das nach und nach von Migrant_innen unter Einbeziehung von Freiwilligen, Vereinigungen und NGOs organisiert wurde: Ab September 2015 baute Ärzte ohne Grenzen Hütten und nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts errichtete Acted Wasserstellen, sanitäre Anlagen, Straßen und Beleuchtung. Dies war der eigentliche Jungle. Schließlich stellte das ebenfalls vom Verein La Vie Active verwaltete CAP die vom Staat angebotene Alternative zum Bidonville dar. Das aus Containern bestehende CAP bot Raum für bis zu 1500 Personen. Im Sommer 2016 waren 20 Prozent der Menschen, die auf dem Gelände lebten, in den vom Staat eingerichteten Unterkünften untergebracht, dem CAP oder dem Zentrum für Frauen und Kinder.2 80 Prozent der auf dem Gelände lebenden Menschen wohnten also im Bidonville, in dem in Ermangelung direkter staatlicher Hilfe die Vereinigungen, die humanitären Organisationen und einzelne Freiwillige ihre Dienste anboten. Das Bidonville von Calais, ursprünglich von bei der Fahrt nach Großbritannien an der Grenze gestrandeten Migrant_innen aufgebaut, wurde im Laufe der Monate zu einem Orientierungspunkt für Neuankömmlinge, die, obwohl sie in Frankreich Asyl beantragen wollten, keine andere Bleibe hatten als diesen Ort, an dem Mitglieder ihrer Gemeinschaft versammelt waren. Im Sommer 2016 waren die hauptsächlich vertretenen Nationalitäten Afghan_innen und Sudanes_innen, die mehr als zwei Drittel aller Migrant_innen auf dem Gelände ausmachten. Unter den anderen wichtigen Gruppen 2

Zum 31. August 2016 beherbergte hier die verwaltende Vereinigung La Vie Active 209 Frauen und 90 Kinder.

Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

zählte man Eritreer_innen, Äthiopier_innen, Pakistaner_innen, Syrer_innen und Iraker_innen. Die Bevölkerung des Jungle von Calais spiegelte sowohl die Konflikte in der Welt, wie auch die verschiedenen Migrationsrouten und ihre Fluktuationen wider. Die genaue Einwohnerzahl und die Zusammensetzung der Bevölkerung sind umstritten. Die Einschätzungen durch die Vereinigungen und die der Präfektur unterschieden sich, zumal die Zahl der wöchentlichen Ankünfte stark variierte. Dazu kam ein wichtiger turn-over infolge der starken Zirkulation zwischen Calais, den Pariser Camps rund um das Viertel La Chapelle und den verschiedenen Durchgangsorten (Norrent-Fontes/Isbergues, Steenvoorde/Hazebrouck, Grande-Synthe/Dünkirchen-Dunkerque, Cherbourg und Belgien ganz allgemein). Um die von den Behörden geplante Unterdimensionierung der Aufnahmeeinrichtungen offen zu legen, mussten die ehrenamtlichen Helfer_innen genaue Daten vorlegen und führten Volkszählungen durch. Diese zeichneten ein Porträt von der Bevölkerung des Jungle und von seiner Entwicklung im Laufe der Zeit. Mitte 2016 hatte der Ort zwischen 6901 laut der Zählung durch die Präfektur vom 17. August 2016 und 9106 Personen nach der Zählung durch die Auberge des Migrants und Help Refugees vom 10. August 2016. Diese Zahl war höher als die der ersten Ende Februar 2016 durch die Vereinigungen durchgeführte Volkszählung, bei der allein in der südlichen Zone vor ihrer Räumung 3451 Personen festgestellt worden waren. Im Sommer 2016 lebten fast doppelt so viele Menschen in engsten Verhältnissen auf der um die Hälfte verringerten Fläche. Die Bewohner des Jungle waren hauptsächlich männlich. 200 Frauen waren im Sommer 2016 im Zentrum Jules-Ferry untergebracht. Einige Frauen lebten auch im Bidonville, meistens in Familien oder in Paaren, manchmal auch in Frauengruppen. Ihre genaue Zahl zu ermitteln, ist schwierig, aber sie haben 2016 gewiss nicht mehr als 5 % der Gesamtbevölkerung des Camps von Calais ausgemacht. In einigen kleineren Camps der Region, z.B. in NorrentFontes, wo es viele junge Eritreerinnen gab, oder in Grande-Synthe, wo mehr Familien lebten, war ihr Anteil höher. Die Volkszählung durch die Vereinigungen erfasste im August 2016 in Calais 865 Minderjährige, von denen 80 Prozent alleinstanden. Es handelte sich zum größten Teil um Jugendliche aus Eritrea, Afghanistan und dem Sudan. Einige Kinder waren auf der Fahrt von ihren Familien getrennt worden. Andere waren nur mit einem großen Bruder oder einem Cousin aufgebrochen. Das jüngste Kind war erst 8 Jahre alt. Ein großer Teil von ihnen hatte Familie

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in Großbritannien und daher das Recht, dort Asyl zu beantragen. Aber ohne soziale und juristische Unterstützung konnten die meisten dieser Minderjährigen nicht ihr Recht geltend machen. Das Thema der unbegleiteten Minderjährigen ist heikel, zumal im Jahr 2016 ihr Anteil an der Lagerbevölkerung wuchs. Schätzungen zufolge waren es im Februar 2016 rund 400, im Oktober 2016 aber schon fast 1300 alleinstehende Minderjährige. Ihre Fürsorge war Aufgabe von Aide Sociale à l’Enfance (Sozialhilfe für die Kindheit), dessen Struktur aber weder auf die große Zahl der Minderjährigen noch auf deren Migrationshintergrund vorbereitet war. Ein Heim von France Terre d’Asile mit 45 Plätzen im etwa fünfzig Kilometer entfernten Saint-Omer nahm diejenigen auf, die in Frankreich Asyl beantragen wollten. Im Widerspruch zu den Vorschriften des Jugendschutzes hat das CAP des Jungle 200 Containerplätze unbegleiteten Minderjährigen zugeteilt, ohne jedoch über eine offizielle Genehmigung oder die angemessene Betreuung von zwei Pädagogen zu verfügen. Im Herbst 2016 wurde überlegt, ob ein weiteres Projekt mit zusätzlich 70 Plätzen eröffnet werden sollte. Infolgedessen lebte die Mehrheit der unbegleiteten Kinder im Bidonville, manchmal in Gruppen von Jugendlichen, manchmal mit einem »Onkel« zu ihrem Schutz, einer Dienstleistung, die nicht immer kostenlos war und wodurch die Minderjährigen Gefahr liefen, ausgebeutet und missbraucht zu werden.3 Da die staatliche Hilfe bei weitem nicht ausreichte, spielten die Freiwilligen, ob nun einzelne Helfer_innen oder Angehörige der Vereinigungen oder NGOs, eine zentrale Rolle bei der systematischen Betreuung dieser alleinstehenden Minderjährigen. Die Wohnorganisation des Jungle in kleinen Einheiten (in Zelten und Hütten) variierte stark entsprechend der Zusammensetzung der Gruppen (Familien oder Paare) und ihren Beziehungen zu den freiwilligen Helfer_innen, die sich im Jungle engagierten und manchmal dort in die Gruppen integriert lebten. Die syrische Familie von Abu Ali zum Beispiel bestand aus Vater, Mutter, einem 20-jährigen Sohn, einer 15-jährigen Tochter und einem 13-jährigen Sohn. Weil sie ihre Familie nicht verlassen wollten, verzichteten die Frauen auf eine Unterkunft im Zentrum Jules-Ferry. Ihr Wohnort befand sich in

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Vgl. den Bericht »Ni sains, ni saufs : Enquête sur les enfants non accompagnés dans le Nord de la France«, der im Juni 2016 vom Verein Trajectoires im Auftrag von Unicef veröffentlicht wurde: https://www.unicef.fr/sites/default/files/atoms/files/ni-sains-nisaufs_mna_france_2016.pdf (2016, 5.6.2019).

Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

Abb. 18: Kinder im Jungle von Calais, Februar 2016

Foto: Sara Prestianni

der Nähe des syrischen Viertels und war wie ein traditionelles arabisches Haus eingerichtet. Verschiedene Räume waren um einen kleinen Innenhof angeordnet: ein Wohn- und Schlafzimmer, eine Küche, eine Sanitärecke, ein Raum, der auch als Vorratslager diente. Die Mahlzeiten wurden vor Ort gekocht und eingenommen oder manchmal von einem der Männer des Hauses oder von ehrenamtlichen Helfer_innen von draußen mitgebracht. Da die Hütte im Vergleich zu anderen Unterkünften relativ komfortabel war, diente sie oft zur Aufnahme von Neuankömmlingen. Dort trafen sich mehrere syrische Frauen des Jungle, aber auch Freiwillige, die Spenden brachten oder der Tochter Nachhilfeunterricht erteilten. Das Mädchen ging nie aus, weil den Eltern der Jungle zu unsicher war. Anouar war ein 25-jähriger Sudanese. Bei seiner Ankunft in Calais schlief er mehrere Nächte im »sudanesischen Zelt«. Er freundete sich mit einem Sudanesen seines Alters aus dem gleichen Viertel von Omdurman an. Letzterer teilte seine Hütte mit ihm, weil sein Mitbewohner gerade nach England gezogen war. Die sehr niedrige Hütte hatte nur einen einzigen Raum mit einem erhöhten Bett, in dem beide schliefen. Da sie nicht in der Hütte kochen konn-

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ten, besuchten sie die im Zentrum Jules-Ferry oder im Jungle von den Gemeinschaftsküchen der Vereinigungen organisierten Essensausgaben. Anouar verbrachte viel Zeit bei anderen Sudanesen, die eine geräumigere Hütte mit einem Innenhof hatten und in der man kochen konnte. Die Idee, nach England weiterzuziehen, gab er bald auf. Stattdessen begann er, Französisch zu lernen und besuchte regelmäßig die Schule des chemin des Dunes. Sein Freund Ahmed versuchte weiterhin, in der Nacht auf die Insel hinüberzukommen, und hielt sich dazu regelmäßig im Camp von Norrent-Fontes in der Nähe einer Raststätte der Autobahn in Richtung von Calais auf. Die beiden Kameraden verbrachten so viel Zeit wie möglich im Freien. Ali war ein Afghane von 26 Jahren. Er lebte alleine in einer Hütte, die er einem anderen Afghanen abgekauft hatte, als dieser ins Containerlager gezogen war. Seine Hütte war winzig, er hatte aber einen Herd und kochte vor Ort, meistens zusammen mit einem Freund, der in der Nachbarhütte wohnte. Er verbrachte den größten Teil des Tages außerhalb seiner Hütte in einem der Restaurants, die Bollywood-Filme zeigten. Joumana war eine 30-jährige Filipina, die aus ihrem Geburtsland Libyen geflohen war. Als alleinstehende Frau fühlte sie sich im Jungle nicht sicher, wollte aber nicht ins Frauen- und Kinder-Zentrum Jules-Ferry gehen. Nachdem sie eine Familie von malaysischen Freiwilligen kennengelernt hatte, die sich im Bidonville niedergelassen und dort die Gemeinschaftsküche Kitchen in Calais4 aufgebaut hatte, entschloss sie sich, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen zu leben. Als Gegenleistung für ihre Hilfe bei der Essenszubereitung durfte sie zusammen mit drei weiteren ebenfalls als Küchenhilfen angestellten Flüchtlingen im Wohnwagen im Hof dieser Küche leben. Sie war in das Leben dieses Kollektivs eingebunden und verließ nur sehr selten den Jungle. Die Küche beherbergte viele Besucher_innen, die Spenden brachten oder bestimmte Hilfe leisteten. Ihr Tagesablauf war durch den Rhythmus dieser Besuche bestimmt.

Wie man sich im Bidonville einrichtete Im Randbereich staatlicher Personenüberwachung ermöglichte der Bidonville eine Form gemeinschaftlicher Selbstorganisation, die von Solidarbeziehungen, aber auch von Konkurrenz und manchmal von Gewalt geprägt war. 4

S.u. die Bedeutung der kitchen im Alltag des Lagers (Kap. 4).

Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

In allen Flüchtlingslagern kommen Streitereien zwischen Personengruppen vor. Im Gegensatz zu Lagern in der unmittelbaren Umgebung von Konfliktregionen war die Heterogenität der Bevölkerung in Calais besonders groß, was zu Kommunikations- und Koexistenzproblemen, in Ausnahmefällen auch zu handfesten Konfrontationen führen konnte. Im Mai 2016 zum Beispiel führte eine heftige Schlägerei zu etwa 40 Verletzten und dem Brand von etwa 200 Hütten. Im Alltag jedoch wurde das Zusammenleben durch Regulierungsmechanismen und durch das Eingreifen von freiwilligen Helfer_innen, Vereinigungen und NGOs erleichtert. Je nach verfügbarem Raum waren die Gemeinschaften im Bidonville in mehr oder weniger homogene Zonen aufgeschlüsselt. Die Menschen gruppierten sich so weit wie möglich nach ihren ethnischen und sprachlichen Gemeinschaften. So bildeten sich im Bidonville Viertel von Paschtun_innen aus Afghanistan oder Pakistan, Oromo aus Äthiopien und Kurd_innen aus. Häufig wohnten mehrere Personen in derselben Unterkunft in der Nähe anderer Wohnstätten, mit deren Bewohner_innen man gemeinsam die Mahlzeiten einnahm und sich gegenseitig schützte. So gab es vor allem unter den Sudanes_innen Gruppen von zehn bis fünfzehn Personen, die sich eine Küche teilten und abwechselnd Mahlzeiten zubereiteten, wie das Beispiel der Courée von »Darfour is Bleeding« zeigt (s. Abb. 17). Gruppenbildungen wurden durch direkte oder indirekte, auf Verwandtschaft oder geographischer Nähe des Herkunftsortes basierenden Bekanntschaften vereinfacht. Neuankömmlinge konnten die Hilfe von niedergelassenen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft und von Freiwilligen in Anspruch nehmen. Einige Gemeinschaften bauten mit Hilfe der Vereinigungen ein richtiges Aufnahmesystem auf. Zum Beispiel verfügten die Sudanes_innen über ein großes von den Vereinigungen aufgestelltes Zelt, das als Durchgangsstation für Neuankömmlinge diente und fünfzig oder mehr Menschen beherbergte. Die afghanischen Restaurants nahmen ebenfalls Neuankömmlinge auf, bis sie einen anderen Platz zum Schlafen gefunden hatten. Der Verein Auberge des Migrants richtete für sie eine Verteilstelle ein, den Welcome-Campingwagen, der Schlafsäcke und Zelte ausgab. Zu Beginn der Siedlung im Bidonville von Frühjahr bis Winter 2015 war es noch erlaubt, das natürliche Gelände der lande zu roden und einzuebnen, um Unterkünfte zu erbauen. Die Vereinigungen hatten einen relativ großen Spielraum, um Migrant_innen zu helfen, ein Zelt oder eine Hütte außerhalb eines überfluteten Gebiets aufzustellen, Baumaschinen zur Erdbewegung zu verwenden und Wohnwagen zur Baustelle zu bringen. Aber nach und nach re-

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duzierten die Entscheidungen zur teilweisen Stilllegung des Bidonvilles das verfügbare Land und beendeten diese Möglichkeit zur Anpassung der Örtlichkeiten an die Bedürfnisse. Und das zum selben Zeitpunkt, da die Bevölkerung weiter wuchs. Trotz des oben erwähnten beträchtlichen turn-over wurden im Frühjahr und Sommer 2016 geschätzt 500 wöchentliche Ankünfte verzeichnet. Der starke Bevölkerungsdruck nach der Teilräumung vom März 2016, der Platzmangel und die Knappheit von Holzunterkünften machten das Leben in der von den Migrant_innen für Schutz und gegenseitige Hilfe gesuchten Gemeinschaft sehr beklemmend. Nach dem Verbot vom Frühjahr 2016, Baumaterial auf das Gelände zu bringen, mussten sich Neuankömmlinge mit Zelten begnügen oder auf den »informellen Immobilienmarkt« zurückgreifen, um eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen: Im Sommer 2016 kostete eine Holzhütte rund 150 Euro, ein Wohnwagen rund 350 Euro. Der Zugang zu bestimmten Orten konnte regelrecht durch einen Eintrittspreis beschränkt sein, der von Bandenbossen, Schleppern oder Komplizen erhoben wurde. In Grande-Synthe, in dem vom Rathaus eingerichteten »humanitären Lager«, stand die verwaltende Hilfsvereinigung im beständigen Kampf gegen die Schleuser, die sich die für die Flüchtlinge erbauten Hütten aneigneten. Die Solidaritätsbeziehungen zwischen den Gemeinschaften kontrastierten mit den Machtverhältnissen. Das Camp mag eine bessere Alternative zum einsamen Herumirren gewesen sein; es konnte aber auch zu einem Ort von Gewaltbeziehungen werden. Das staatliche Unterbringungssystem in Containern, die aufgestellt wurden, um würdige und sichere Wohnbedingungen zu bieten, bot nur 1500 Menschen Platz. Ursprünglich sollte es die Migrant_innen nur vorübergehend unterbringen und ihnen die Möglichkeit geben, andere Einrichtungen außerhalb der Region anzusteuern, z.B. die über ganz Frankreich verteilten Centres d’Accueil et d’Orientation (CAO, Aufnahme- und Orientierungszentren), oder die Centres d’Accueil pour Demandeurs d’Asile (CADA, Aufnahmezentren für Asylbewerber), längerfristige Unterkünfte für Personen, die in Frankreich Asyl beantragen wollen. Zu seiner Eröffnung im Januar 2016 beargwöhnten die Migrant_innen das System der Containerunterkünfte aus verschiedensten Gründen: wegen der biometrischen Einlasskontrolle über die Fingerabdruckmessung, der Einschränkungen des täglichen Lebens, dem erzwungenen Zusammenleben unterschiedlichster Menschen im selben Container (der Verein La Vie active entschied über die Zuteilung) und des Fehlens von Stellen, an denen man sein eigenes Essen zubereiten konnte. Nach und

Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

nach wurden jedoch die verfügbaren Plätze gefüllt. Da die Unterbringungsstrukturen in Frankreich nicht ausreichten und organisatorische Mängel aufwiesen, fand die erhoffte Fluktuation nicht statt und das CAP war schnell überlastet. Mitte 2016 standen mehrere hundert Personen auf der Warteliste, und nur die Bedürftigsten hatten eine Chance.

Wirtschaftliches und soziales Leben Die Besonderheit des Jungle von 2015/16 im Vergleich zu anderen Lagern in Nordfrankreich und früheren Camps in Calais war der hohe Grad an Ausstattung und Verselbständigung des Ortes. Da das Stadtzentrum mehr als 30 Minuten Fußmarsch entfernt lag, hatte das Bidonville seine eigenen Dienstleistungen und seine eigene wirtschaftliche Aktivität entwickelt. Die große Zahl an Restaurants, Lebensmittelläden und anderen Geschäften (Friseur, Gemüsehandel, Bekleidungsgeschäft u.v.m.) war das auffälligste Kennzeichen: 72 Geschäfte wurden im Juli 2016 gezählt, als die Präfektur ein Verfahren zu ihrer Schließung einleitete. Die Restaurants waren der sichtbare Ausdruck des täglichen Wirtschaftslebens im Bidonville und die bevorzugten Räume sozialen Miteinanders. Es waren Orte, an denen sich die Gemeinschaften vermischten und Freiwillige sich mit Migrant_innen trafen. Man konnte dort essen, Tee trinken, das Handy aufladen, einen Film (aus Bollywood) oder Videoclips ansehen. In den Restaurants verbrachte man seine Zeit in einem weniger beengten Raum als in der eigenen Hütte. Da die Restaurants mit Generatoren ausgestattet waren, hatte man Stromanschluss. Einige Etablissements wurden im Jungle von Calais zu echten Institutionen: Im Kabul Café, einem Treffpunkt für Freiwillige und NGO-Mitarbeiter_innen, fanden die ersten Gemeindeversammlungen auf dem Gelände statt, bevor es im März 2016 mit der Schleifung des südlichen Zone zerstört wurde; das White Mountain war für seine Bäckerei und sein Filmprogramm bekannt; das Three Idiots war bei ehrenamtlichen Helfer_innen so beliebt, dass es schließlich zur Musikbühne umfunktioniert wurde und an den Wochenenden Konzerte veranstaltete. Die Kosten, um im Bidonville ein Restaurant zu eröffnen, waren geringer als in der Stadt. Es erforderte dennoch ein Startkapital, nicht nur um das Material zu kaufen, sondern auch um ausreichend Platz für seine Konstruktion zu erwerben. War man nicht von Anfang an im Bidonville gewesen, musste man bei ehemaligen Bewohner_innen Raum kaufen oder anmieten.

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Fast die Gesamtheit der Geschäfte wurden von Afghan_innen oder Pakistaner_innen betrieben, die ihre – manchmal aus einer früheren Migration nach England stammenden – Ersparnisse in dieses Geschäft investierten und andere Flüchtlinge einstellten, die oft aus derselben Region oder derselben Stadt stammten. Es gab einen informellen Immobilienmarkt, dessen Preise entsprechend des kommerziellen Interesses der Lage variierten – die Hauptstraßen des Bidonvilles waren am gefragtesten. Geschäfte wechselten für 2000, 3000 und bis zu 6000 Euro ihre Besitzer_innen. Dieser Wert konnte aber abrupt sinken, da es sich per Definition um beständig bedrohte Einrichtungen handelte, die auf staatliche Anordnung oder durch die häufigen verheerenden, zufällig ausgebrochenen oder vorsätzlich gelegten Brände zerstört werden konnten. Die Geschäfte konnten ein relativ auskömmliches Gewerbe sein und zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im Bidonville beitragen. Durch den Geldhandel konnten die Geschäftsleute darüber hinaus als Vermittler für verschiedene Transaktionen fungieren, für Geldtransfers durch Familienangehörige, für Kautionen bei Verträgen mit Schleppern oder für Darlehen. Die Unternehmen verkauften zwar im Wesentlichen die Waren des täglichen Bedarfs (Lebensmittel, Hygieneprodukte u.Ä.), sie boten aber auch andere Produkte an, die von den Behörden als deviant eingestuft wurden, entweder, weil sie besonderen Vorschriften unterlagen (wie Tabak und Alkohol) oder weil sie im Verdacht standen, für illegale Grenzübertritte missbraucht zu werden (z.B. Messer, mit denen die Planen von Lastwagen aufgeschnitten werden konnten). Diese Stigmatisierung machte die Geschäfte, die sichtbarsten Manifestationen der Verfestigung des Bidonvilles und seiner Untergrundökonomie, im Sommer 2016 zum Objekt einer gezielten Repression durch die öffentliche Hand, bevor die Läden im Oktober geschlossen werden sollten. Als deutlicher Ausdruck einer Normalisierung des Alltags in diesem vom Staat nicht anerkannten Raum, begab sich jedoch eine Delegation von Händler_innen aus dem Jungle in die Unterpräfektur, um ihre Geschäfte offiziell zuzulassen und ihre Steuerangelegenheiten zu regeln. Sie bekamen zwar nicht Recht, schafften es aber dennoch, die Zerstörung ihrer Geschäfte aufzuschieben. Da sie den Brandschutzvorschriften nachkamen, konnten sie den am 18. Oktober 2016 in der Regierungseingabe beim Staatsrat eingeforderten Abbau hinauszögern. In der Folge beendete der Abriss der Geschäfte die unentwirrbaren rechtlichen Widersprüche, in denen sich die Behörden angesichts der Verfestigung des Bidonvilles verfangen hatten.

Eine Soziologie des »Jungle«: Alltag in einem prekären Raum

Abb. 19: Ein Friseursalon, Jungle von Calais, Dezember 2015

Foto: Sara Prestianni

Bei den Migrant_innen führte die Ausdifferenzierung der Lebensbedingungen zu Spannungen, die wir als »Klassenauseinandersetzungen« bezeichnen können. Die Geschäftsinhaber_innen lebten zwar in ebenso bescheidenen Verhältnissen wie alle anderen, waren jedoch aufgrund ihrer Einkommen produzierenden Tätigkeit sozial etwas weniger bedroht. Mit ihrer Position einer relativ angesehenen Persönlichkeit gingen Verantwortlichkeiten einher, beispielsweise die zum Bau von Moscheen oder zur Beerdigung eines Verstorbenen beizutragen oder die Verpflichtung, den Bedürftigsten und Verletzlichsten der Gemeinschaft Mahlzeiten zu spendieren. Das Jungle Books Kids Restaurant war sogar ein Beispiel für die Umwandlung einer wirtschaftlichen in eine humanitäre Tätigkeit, indem sich der Chef des Kabul Café nach dem Brand seines Restaurants mit der Gründerin der Bibliothek-Schule Jungle Books zusammentat, um einen Aufnahmeort für unbegleitete Minderjährige zu schaffen, der täglich bis zu 200 kostenlose Mahlzeiten ausgab. Den ärmsten Migrant_innen, die nicht über das Startkapital zu einer Geschäftseröffnung verfügten, stand noch ein anderes Gewerbe offen. Sie verkauften auf dem Flohmarkt, der sich abends auf der Straße bildete, Artikel

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weiter, die sie bei der Verteilung durch die Vereinigungen erstanden hatten, vor allem Schuhe oder neue Kleidung. So konnte man die wenigen Euro zusammenkratzen, die man für den Kauf von Telefonguthaben oder Zigaretten brauchte. Die Bedürftigkeit, in der die meisten Bidonvillebewohner_innen lebten, setzte sie verschiedenen mehr oder weniger einvernehmlichen Formen von Transaktionen aus, um zu überleben oder die für die Überfahrt nach England benötigten Mittel zu erwerben. Prostitution war weit verbreitet. Die Informationen hierzu sind aber sehr lückenhaft. Untersuchungen zu diesem Thema haben ergeben, dass nicht nur Frauen davon betroffen waren, sondern Männer ebenso, insbesondere jüngere. Die Frage der Prostitution lässt sich nicht auf Menschenhandel reduzieren. Häufig verschwamm die Grenze zwischen der Suche nach einem Beschützer oder einem Einkommen und der Ausbeutung einer vulnerablen Situation. Die ergiebigste Dienstleistung für diejenigen, die sie anboten, und die teuerste für diejenigen, die sie in Anspruch nehmen mussten, stand mit der Überfahrt nach Großbritannien in Zusammenhang. Der Begriff »Schlepper« lässt sich nicht einfach definieren. Die Bezeichnung umfasst sowohl die Anführer mafiöser Organisationen als auch Personen, die gelegentlich gegen Bezahlung einen guten Plan weitergaben oder die sich die Kosten für ihre Überfahrt durch Beihilfe sparten, z.B. indem sie die Tür eines Lastwagens schlossen oder die Autobahn blockierten. Aber immer waren dies die Aktivitäten, um die sich die größten Geldsummen drehten: 500 Euro für den Zugang zu bestimmten Lkw-Parkplätzen, auf denen man sich in einem Laster verstecken konnte, und bis zu 10 000 Euro, um mit der Komplizenschaft des Fahrers eine Überfahrt »garantiert« zu bekommen. Hilfeleistung zum illegalen Grenzübertritt wurde streng verfolgt. Die französischen Behörden behaupteten, dass sie viele Schlepperorganisation (etwa zwanzig im Jahr 2016) zerschlagen und viele »Migrant_innenschieber« (mehr als 600 im Jahr 2016) verhaftet hätten, auf die schwere Strafen warteten. Mit der Verschärfung der Grenzkontrollen konnte man jedoch immer weniger auf die Schlepper verzichten. Die Versuche von Migrant_innen, sich auf eigene Faust in einen Zug nach London zu schleichen oder in einem Lastwagen in Richtung Kanalfähre zu verstecken, hatten relativ niedrige Erfolgsquoten. 2015 entdeckten die Beamt_innen der französischen

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Grenzpolizei in Lastwagen versteckt 38 000 und 2016 49 000 Migrant_innen.5 Grenzübertritte mit Hilfe des Transporteurs (zur Straße oder zu Wasser) hatten viel größere Erfolgsaussichten. Je stärker die Grenze kontrolliert und je hermetischer sie abgeschlossen wurde, desto teurer wurde die Vermittlung einer Überfahrt. Migrant_innen, die sich ihre Kosten nicht leisten konnte, versuchten anderweitig ihr Glück und griffen zu immer gefährlicheren Mittel, wie den douggars, den auf der Autobahn errichteten Absperrungen, die Staus verursachen und Lkw anhalten sollten. In solchen Momenten stürzten dann die Migrant_innen auf die Lastwagen zu, um sich darin zu verbergen in der Hoffnung, dass im allgemeinen Durcheinander einige durch die Maschen der Grenzkontrolle schlüpfen und nach England entkommen würden. Unfälle waren an der Tagesordnung, manchmal waren sie tödlich. Die im Zusammenhang mit den Versuchen zur Überfahrt nach England stehenden Aktivitäten drückten dem Alltagsleben des Bidonvilles seinen besonderen Rhythmus auf. Da die Versuche hauptsächlich nachts vorgenommen wurden, begann der Tag spät. Auch wenn einige Leute morgens aufstanden, besonders um in den Genuss von Duschen und des im Zentrum JulesFerry ausgegebenen Frühstücks zu kommen, erwachte das gesellschaftliche Leben eigentlich immer erst am Mittag. Davor waren es überwiegend die Freiwilligen und Mitarbeiter_innen der Vereinigungen, die die Straßen des Bidonvilles bevölkerten, die umherliefen, um verschiedene Dienstleistungen (Rechtshilfe, Hygiene usw.) anzubieten, Müll zu sammeln und Lebensmitteloder Kleidungsverteilungen zu organisieren. Am Ende des Tages verließen die ehrenamtlichen Helfer_innen und Vereinsvertreter_innen das Gelände. Die Bidonvillebewohner_innen bereiteten ihre Mahlzeiten zu, spielten zwischen den Zelten Fußball oder Cricket auf dem Niemandsland vor der CRSPatrouille am Eingang des Lagers. Bei Einbruch der Nacht waren die Straßen voll, in einer außergewöhnlichen Atmosphäre von Discokugeln spielten Bars im Stil von Nachtklubs Musik und kleine Gruppen verließen das Bidonville, um auf der Umgehungsstraße ihr Glück zu versuchen. Je nach Uhrzeit veränderte sich die Atmosphäre im Camp. Der Tag war meist durch eine gewisse Leere charakterisiert. Eine beträchtliche Zeit verbrachte man in den lines, den Warteschlangen vor den Stellen zur Verteilung von Lebensmitteln, Kleidung oder Tickets für die Duschen. Diese Wartezeit 5

Die Zahlen vom 29. September 2016 stammen von der Police aux Frontières (PAF, französische Grenzpolizei), deren Zuständigkeit sich auf die Häfen von Calais und Dünkirchen (Dunkerque) und bis zum Kanaltunnel erstreckte.

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wurde als demütigend empfunden, da sie die Migrant_innen in eine Position von Passivität und in eine Situation von Unterdrückung zwang. Die Zeit des Tages war passiv und kontrastierte mit der aktiveren Zeit in der Nacht. Im Jungle ging nur eine Minderheit einer beruflichen Tätigkeit nach (in Läden, Küchen oder Schreinereien). Der Tagesverlauf war für die meisten Einwohner_innen von Untätigkeit gekennzeichnet. Das Warten wurde jedoch vom intensiven Umgang zwischen Migrant_innen und den Freiwilligen ausgefüllt, die eine wichtige Ressource für Dienstleistungen und Ablenkung darstellten. Die sehr präsenten Freiwilligen und Vereinigungen boten während des Tages verschiedene Aktivitäten an. Mehrere Schulen mit Englisch- und Französischkursen wurden aufgebaut (die Schule von Darfur, Jungle Books, die Laizistische Schule des chemin des Dunes). Einzelne Leute wurden zu echten lokalen und durch die Medien auch manchmal internationalen Berühmtheiten, wie Liz zum Beispiel, eine Britin, die sich im Bidonville einrichtete, sich um unbegleitete Minderjährige kümmerte und das Animationszentrum für Frauen und Kinder gründete; oder wie Zimako, einem nigerianischen Migranten, der zur Unterstützung der Menschen im Bidonville von Calais extra aus Nizza angereist war und am Anfang der Schule des chemin des Dunes stand. Mehrere Kunstprojekte entstanden, z.B. die Kunst- und Handwerksschule von Alpha, einem mauretanischen Migranten und Künstler, der eine der Berühmtheiten des Camps wurde, oder das stärker zielgerichtete Projekt Art in the Jungle und verschiedene Workshops mit Kindern. Durch die Bereitstellung von Fußball-, Volleyball- oder Cricketausrüstungen unterstützten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sportliche Aktivitäten. Nur wenige Migrant_innen gingen täglich in die Stadt. Gleichwohl boten der Secours catholique und die CMS (Calais Migrant Solidarity) in der Stadt Französisch-Kurse an und ermöglichten damit den Migrant_innen, ab und zu mal das zwischen dem Industriegebiet und dem Meer eingekeilte Getto zu verlassen. Unter den Aktivitäten, die das soziale Leben strukturierten, nahm die Religion einen herausragenden Platz ein. Es gab mehrere Kultstätten, von denen einige schon zu Beginn des Bidonvilles im Frühjahr 2015 gebaut worden waren, wie die eritreische orthodoxe Kirche. Andere, methodistische oder muslimische, Gebetsstätten wurden im Laufe der Ankunft verschiedener Gemeinden errichtet. Die religiösen Orte bildeten eine Ressource der Spiritualität, mit der sich die psychischen Leiden und die Traumata, unter denen die Exilierten litten, besser verarbeiten ließen. Sie festigten die sozialen Beziehungen der Gemeinschaften: Dies galt insbesondere für Minderheitenkulte wie orthodoxe Christen oder Schiiten. Der Ort der Andacht konnte ebenfalls zu

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einem Ort zwischengemeinschaftlicher Verbindung werden: In der großen sunnitischen Moschee Omar trafen sich verschiedene Gruppen, um am Freitag und an Feiertagen zu beten. Der Imam konnte eine Rolle als Vermittler und Versöhner spielen und die manchmal angespannten Beziehungen, insbesondere zwischen Afghan_innen und Sudanes_innen, befrieden. Der Geistliche diente somit als Regulator des sozialen Lebens; er wurde eingesetzt, um in einem als wenig sicher empfundenen Raum Regeln aufzustellen. Schließlich trugen Gerüchte dazu bei, das fragile soziale Gefüge des Jungle, eines Ortes sehr guter gegenseitiger Kenntnis, an dem gleichzeitig die horizontale Mobilität immer neue Gesichter heranbrachte, lebendig und spürbar zu machen. In der großen Prekarität und Unsicherheit förderte diese spezielle Konfiguration die Gerüchte. Unbestätigte Informationen, die ausgetauscht wurden, machten entsprechend der Interaktionssituation Sinn und gingen über den bloßen Inhalt der Meldungen hinaus. Zum Beispiel konnten – unabhängig von der Richtigkeit der ausgetauschten Informationen – Gerüchte über ein Mitglied einer Gruppe dazu dienen, ihn zu stigmatisieren und umgekehrt den Zusammenhalt der eigenen Gruppe zu vergrößern. Gerüchte drückten somit gewöhnliche Modalitäten der Soziabilität aus und gaben gleichzeitig Antworten auf kritische Situationen; sie wurden zum Symptom für soziale Störungen. In ihrer Vielfalt und Überfülle spiegelten die im Jungle kursierenden Gerüchte die Intensität der sozialen Beziehungen sowie die beängstigende Unsicherheit wider, in der die Migrant_innen lebten. In einer solch extrem instabilen und mobilen Gesellschaft begann Unsicherheit schon mit der Identität einer/eines jeden Einzelnen. Ein Sudanese erzählte zum Beispiel, dass einer seiner Landsleute, der kürzlich bei einer Schlägerei in der Gegend der Hafenschnellstraße von einem Afghanen getötet worden sei, Agent der sudanesischen Regierung gewesen sei: »Warum ist er in Wirklichkeit gestorben?« fragte er: »Weil er gekommen war, um im Jungle Unruhe zu stiften. Vielleicht damit die französische Regierung den Jungle schließt, versuchte er, den Ruf der Sudanesen zu beschmutzen.« Einige Gerüchte nahmen den Rang politischer Kommentare ein, zum Beispiel die über die Gefahren für Flüchtlinge oder über deren Perspektiven. Im Juni 2016, drei Monate nach der Räumung der südlichen Zone des Bidonvilles, machten Spekulationen über die mögliche Schleifung des nördlichen Teils die Runde. Zur gleichen Zeit gab das Brexit-Referendum in Großbritannien Anlass zu vielen Gerüchten: Großbritannien würde von nun an alle Flüchtlinge abweisen; Frankreich würde die Touquet-Verträge brechen und alle nach Großbritannien weiterziehen lassen; Nicolas Sarkozy – damals Kandidat der

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Rechten in den Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl von 2017 – würde die britische Regierung zwingen, die Grenze zu öffnen u.v.m. Diese Gerüchte offenbarten die mehr oder weniger kenntnisreichen Aneignungen des politischen Kontexts (Nicolas Sarkozy vertrat in der Tat eine harte Haltung und wollte das Bidonville von Calais räumen lassen, so wie er 2002 Sangatte hatte schließen lassen). Die Weitergabe von ungenauen Nachrichten befeuerte die Gespräche und ermöglichte es, Ansichten zu vervollständigen oder in einer Situation großer geopolitischer Unsicherheit Interpretationen abzuwägen. Andere Arten von Gerüchten spiegelten die Ängste und Befürchtungen speziell in Bezug auf Tod, Gewalt oder moralischen Verfall wider, welcher sich insbesondere in sexuellen Ausschweifungen äußerte. So durchliefen den Jungle immer wieder Gerüchte über die vermeintlich ›wahre‹ Anzahl verstorbener Migrant_innen in Calais, deren genaue Zahl vertuscht würde und deren Leichen in den Dünen vergraben worden seien. Auf der anderen Seite verbreiteten sich in der Stadt Calais Gerüchte über die Gewalt im Jungle, über Körperverletzungen, Vergewaltigungen und Morde, deren Realität von den Behörden im Einvernehmen mit den Medien verschleiert würden. Einige dieser Gerüchte gingen direkt von den Polizeigewerkschaften aus, die offen zugaben, diese zu benutzen, um bessere Ausstattung zu fordern.6 Die Gerüchte über Vergewaltigungen kamen immer wieder und belegen die Besorgnis über die Bedrohung, die diese Gruppen junger ausländischer Männer für die Bevölkerung von Calais darstellten. Umgekehrt unterstrichen im Jungle umlaufende Gerüchte in symmetrischer Weise die sexuelle Devianz der Bewohner_innen von Calais. So berichtete der 25-jährige Afghane Ahmed von einem Fall von Prostitution, in deren Mittelpunkt ein junger Einwohner von Calais stand: 100 % Bambino, er kommt sehr oft und macht mit den Männern in den Hütten rum, so sehr, dass die Leute davor Schlange stehen, und der Lärm das Gebet in der Moschee stört! Der ganze Jungle weiß Bescheid, überhaupt nichts wird verborgen! Die Männer warten wie bei der Essensausgabe! Und das schafft Streit, zum Beispiel wollte ein Afghane neulich einen anderen Afghanen daran hindern, die Hütte zu betreten. Er sagte, es sei unmoralisch, und der andere antwortete: »Das ist Europa, ich tu, was ich will!« Sie haben

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Vgl. z.B. »Migrants à Calais : Les chiffres de la délinquance explosent, selon un syndicat de police«, La Voix du Nord (13.10.2014).

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sich geschlagen. Das war ein echter Skandal, und außerdem direkt neben der Moschee! Ahmed wolle diesen jungen Mann bei der Polizei anzeigen, sagte er, um ihn wegen Prostitution verhaften zu lassen. In diesem Gerücht, das er erzählte (und dessen Inhalt nie bestätigt wurde), war der Täter der moralischen Korruption nicht der Migrant, sondern der junge Einheimische, dessen verwirrendes Verhalten auf die Besorgnisse und Unsicherheiten der Migration verweist.

Eine Stadt wurde erschaffen Das Bidonville war ein sozialer Raum, in dem keine legitime Autorität für die Einhaltung der ordentlichen französischen Gesetze sorgte oder die öffentlich garantierten Dienste gewährleistete. Die Polizei überwachte streng die Zufahrt von Transporten zum Lager und unterdrückte manchmal brutal unberechtigte Zutrittsversuche (gewalttätige Verhaftungen, Tränengaseinsatz um die Hafenschnellstraße herum und bis zu den Unterkünften im Bidonville). Sie betrat aber nur selten das Lager selbst. Gewiss wurden im Rahmen von Ermittlungen gegen Schleppernetzwerke oder nach Entscheidungen der Präfektur zur Räumung von Geschäften oder bestimmter Zonen Operationen durchgeführt. Doch trotz wiederholter Anfragen der Bidonvillebewohner_innen fanden keine Patrouillen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe statt und Notrufdienste griffen nicht ein, was bei einigen das Gefühl verschärfte, in einem rechtsfreien Raum zu leben, in dem die Sicherheit von Eigentum und Person nicht garantiert war. Der Mangel an Behörden wurde teilweise durch das Engagement von NGOs, den Vereinigungen und einzelnen Freiwilligen ausgeglichen, die verschiedene Dienste anboten, von der Ersten Hilfe über das Löschen von Bränden bis hin zur Mediation, um zwischenmenschliche Konflikte zu lösen. Schließlich hat die Notwendigkeit, »eine Stadt zu erschaffen« und über die Modalitäten des Zusammenlebens zwischen den Gemeinschaften und die Eingriffsmethoden der Vereinigungen zu entscheiden, eine eigene Institution hervorgebracht: die Gemeinschaftsvermittler (community leaders), die ihre jeweilige Gemeinschaft (afghanisch, sudanesisch, eritreisch, kurdisch, ägyptisch, syrisch, äthiopisch usw.) bei den Hilfsorganisationen und Behörden vertraten.

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Die Gemeinschaftsvermittler wurden teilweise durch die Initiative der Vereinigungen und deren Notwendigkeit geboren, Gesprächspartner auszumachen, um Informationen zu verbreiten und über das weitere Vorgehen zu verhandeln. Dies waren Personen, die seit langem in Calais vor Ort waren und deren Legitimation vor allem auf ihrer Identifikation durch die Vereinigungen als Mittelsleute bei ihrer Gemeinde beruhte. Ihnen wurde oft die Rolle als Weiterverteiler von Waren und Dienstleistungen zuteil, was ihnen bei den anderen Flüchtlingen Autorität verschaffte. Als Sprecher ihrer Gemeinschaft wurden sie bei den wöchentlichen Treffen mit den vor Ort arbeitenden Vereinigungen befragt, aber auch bei Treffen mit Behörden – dem Unterpräfekten oder dem Polizeikommissar –, die sie als Vermittler anforderten, um die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften zu befrieden oder um die Zustimmung zu staatlichen Entscheidungen zu erhalten. Dies war insbesondere im Frühjahr 2015 der Fall, als man die in der Stadt verstreuten Besetzungen und Camps im »camp des landes« zusammenfassen wollte, aber auch im Herbst 2016, als Migrant_innen gezwungen wurden, eben dieses »Camp« zu verlassen und die an verschiedenen Orten in Frankreich eröffneten CAO aufzusuchen.

Abb. 20: Der Jungle von Calais, Oktober 2016

Foto: Sara Prestianni

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Der politische Beitrag beschränkte sich nicht auf diese Gemeinschaftsvermittler, deren Legitimität nicht von allen anerkannt wurde. Die verschiedenen Entscheidungen, die die Bewohner_innen des Bidonvilles kollektiv betrafen, wie die im Februar 2016 angekündigte Räumung der südlichen Zone, boten Gelegenheiten für politische Sozialisierungen und Mobilisierungen, die Anleihen bei verschiedenen Aktionsrepertoires machten: Demonstrationen, Anrufung von Gerichten, Hungerstreiks u.a. Diese Widerstandsformen und Forderungen konnten ihren Ursprung in den politischen Erfahrungen im Herkunftsland oder während der Migration haben, aber auch durch die Treffen mit den freiwilligen Helfer_innen entstanden sein, die die Migrant_innen über ihre juristischen Möglichkeiten zur Verteidigung ihrer Interessen gegenüber den Behörden aufklärten. So haben hundert im Bidonville lebende Migrant_innen beim Verwaltungsgericht Berufung gegen die Räumung der südlichen Zone im Februar 2016 eingelegt und wenigstens erreicht, dass die »Orte des Lebens« nicht zerstört werden durften, d.h. die Plätze kollektiven Daseins, Orte der Andacht, Schulen und andere Hütten, die Pflege oder Dienste zur rechtlichen Information anboten. Das Gericht gab der Präfektur Recht, die der Erweiterung des Bidonvilles einen Riegel vorschieben wollte, und erkannte gleichzeitig an, dass das Bidonville mehr war als nur ein zufälliges Camp: Der Jungle war eine Stadt geworden. Entstanden als Bidonville am Rande der Stadt, mit provisorischen Mitteln und mit der Hilfe von Freiwilligen und Vereinigungen erbaut, hat sich der Jungle von Calais im Laufe der Monate in der Prekarität eingerichtet. Die Koexistenz zwischen den Gemeinschaften blieb nicht ohne Reibungen, aber sie führte schließlich zu einer Form experimenteller Gesellschaft, die aus sehr heterogenen Gruppen zusammengesetzt und auf Grund der Konzentration des Dienstleistungsangebots an diesem Ort und wegen der Unterdrückung von wilden Camps an anderen Orten gezwungen war, auf demselben Raum zusammenzuleben. Der Bezug zu diesem Ort war ambivalent, denn das Bidonville war sowohl unbequem und gewalttätig, zugleich aber auch ein schützender Kokon, ein Ort der Solidarität, an dem die Aufwendungen für den Zugang zu Diensten sehr gering waren, da die Freiwilligen als Vermittler_innen fungierten, Abläufe erklärten und Orientierung gaben. Im Laufe des Jahres 2016 ist der Jungle von Calais zu einer allgemeinen Anlaufstelle für Migrant_innen geworden, gleich ob sie nach Großbritannien weiterwollten oder nicht.

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Kapitel 4 Der Jungle der Solidaritäten

Der Jungle von Calais und insgesamt die Migrant_innencamps von Nordfrankreich mobilisierten die Bürger_innen und brachten lokale, nationale und internationale Solidaritäten hervor, was sich auch in der Berichterstattung zur europäischen Flüchtlingskrise zeigte. Diese neuen Solidaritäten unterschieden sich von den Aktionen der letzten fünfzehn Jahre in der Region Calais. Zuvor waren zahlreiche lokale zivilgesellschaftliche Vereine gegründet worden.1 Jetzt aber zog die wachsende Internationalisierung vermehrt humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NGOs) an und führte zu einem intensiveren Engagement von Freiwilligen, die gewillt waren, über Monate den Alltag der Migrant_innen zu teilen.

Calais, kosmopolitische Schnittstelle der Solidaritäten Die Unruhe um den Jungle versetzte Calais in Aufregung. An den Wochenenden strömten Hunderte von Freiwilligen und Aktivist_innen heran,2 um bei der Verteilung von Mahlzeiten und Kleidung, bei der Betreuung von künstlerischen Workshops oder in der Rechtsberatung mitzuhelfen. Ursprünglich 1

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Das Wort »Verein« bezieht sich hier auf eine Gruppe von Personen, die für einen gemeinnützigen Zweck zusammenkommen und handeln. Ihr Status wird vom französischen Vereinsgesetz von 1901 geregelt. Der Begriff »Freiwillige« bezeichnet hier Personen, die sich in einem Kollektiv oder in einer Vereinigung engagierten, ohne eine direkte oder indirekte Vergütung für ihre Teilnahme zu erhalten. Der Begriff Aktivist_in (militante, militant) kann sich auf ehrenamtliche Helfer_innen oder Angestellte von Vereinigungen beziehen und hat in der französischen Sprache eher eine politische Bedeutung – sogar eine parteipolitische für Personen, die sich in politischen Parteien engagieren.

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sollte diese Solidarität die Unzulänglichkeiten der öffentlichen Stellen ausgleichen. Schließlich entwickelte sie sich zu einer alternativen Lebenserfahrung. Das Bidonville war nicht mehr nur ein Ort, der verbessert werden sollte – jetzt wollte er auch gelebt werden. Während des Sommers 2016 gab es am Standort Calais rund vierzig Einrichtungen unterschiedlichen Status, die gelegentlich oder ständig mit Freiwilligen oder Fachleuten Dienste und Aktivitäten anboten. Da sie das nach der Vertreibung von Bewohner_innen besetzter Häuser oder loser Camps aus der Innenstadt von Calais gleichsam zufällig entstandene Bidonville nie offiziell anerkennen wollten, richteten die Behörden erst sehr spät und zudem unterdimensionierte Anlaufstellen für die Migrant_innen von Calais ein. Professionelle und vom Staat unter Vertrag genommene Vereinigungen sicherten eine gewisse institutionelle Solidarität. Dies war der Fall beim Zentrum Jules-Ferry, das im Januar 2015 vom Verein La Vie active eröffnet wurde. Das Zentrum verteilte warme Mahlzeiten, bot Duschen an und stellte Frauen und Kindern Unterkünfte. Dies galt gleichermaßen für das im Januar 2016 eröffnete Centre d’Accueil Provisoire (CAP, Provisorisches Aufnahmezentrum), das ebenfalls von La Vie active verwaltet wurde. Nachdem im November 2015 rechtliche Schritte gegen die staatlichen Mängel eingeleitet worden waren, wurde die NGO Acted vertraglich beauftragt, die Wasserversorgung und Straßenreinigung zu gewährleisten. La Vie active ist ein Verein, der sich eigentlich um Sozialwohnungen für ältere Menschen, Minderjährige und Obdachlose kümmert. Darin kannte er sich aus, in Migrationsfragen mitnichten. Unter seinen hundert Angestellten rekrutierte er viele Menschen aus dem medizinisch-sozialen Bereich, aber auch Freiwillige aus der Migrant_innenhilfe. Seine engen Bindungen an staatliche Stellen schnitten La Vie active aber von den lokalen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ab, zu denen seine Beziehungen angespannt oder schlichtweg inexistent waren. Seine Aktivitäten wurden jedoch auch von vielen ehrenamtlichen Helfer_innen unterstützt. Die NGO Acted ihrerseits hatte ein besonderes Mandat, da sie offiziell eine illegale Ansiedlung verwalten sollte, die zu kontrollieren sie aber weder die Befugnis noch den Willen hatte. Deswegen bemühte sie sich, zusätzlich zur Durchführung von Wartungsaufgaben die gemeinsame Verwaltung des Standorts durch Migrant_innengemeinschaften, Vereinigungen und unabhängige Freiwillige zu koordinieren und vor Ort Sitzungen und Betriebsbesprechungen einzuberufen. Als eine internationale NGO, die sich auf Kriseninterventionen nach Konflikten oder Katastrophen verstand, griff Acted zum

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ersten Mal in Frankreich ein und trug so 2015 zur Internationalisierung der Calais-Frage bei. Der Jungle von Calais wurde zur kosmopolitischen Schnittstelle zivilgesellschaftlicher Solidarität. Es ist schwierig, den internationalen Anteil exakt zu quantifizieren. Aber er manifestierte sich in den auffälligen Kontingenten der beiden Vereinigungen Care4Calais und Auberge des Migrants, die in der Lage waren, die größte Zahl von Freiwilligen zu mobilisieren. Die Auberge des Migrants, die vor 2015 etwa zwanzig aktive Freiwillige hatte, oft junge Pensionär_innen aus Calais, wuchs im Sommer 2015 enorm durch den Zustrom von Hunderten junger britischer Freiwilliger und dank der Allianz mit Help Refugees, einer ad hoc in Calais ins Leben gerufenen Flüchtlingshilfe. Indem sie beträchtliche logistische Mittel für nicht-professionelle Strukturen anwarben, spielten diese Organisationen eine zentrale Rolle für das tägliche Überleben von Tausenden von Bidonvillebewohner_innen, an die sie zubereitete Speisen, Nahrungsmittel, Kleidung, Zelte und Decken verteilten. Die von diesen Vereinigungen durchgeführten Aktionen stellten die Landschaft der lokalen Solidaritäten Calais’ auf den Kopf: zuerst auf Grund des schieren Umfangs der von ihnen mobilisierten personellen und finanziellen Ressourcen, aber ebenso auf Grund ihrer provokanteren und professionelleren Art, Kommunikation und Organisation handzuhaben. Das jährliche Organisationsbudget der Auberge des Migrants stieg von rund 100 000 Euro im Jahr 2014 (einschließlich der 20 000 Euro an öffentlichen Zuschüssen) auf 944 000 Euro im Jahr 2016 (wovon nur noch 5000 Euro aus der öffentlichen Hand stammten). Dieser erhebliche Zuwachs an Finanzmittel wurde durch eine noch bemerkenswertere Entwicklung der menschlichen Ressourcen ergänzt. Im Auftrag der Auberge, von Help Refugees oder anderen Partnerorganisationen wie RCK (Refugee Community Kitchen) halfen im Jahre 2016 im warehouse, dem Großlager der für die Flüchtlinge vorgesehenen Güter, pro Tag durchschnittlich 120 Freiwillige mit. Die Ausstrahlung, die von der Auberge des Migrants ausging, und die zentrale Rolle, die sie in diesem Zusammenhang einnahm, rechtfertigen es, dass wir ein wenig bei ihr verweilen und ihre Geschichte aufzeigen. Alles begann 2003 mit der Gründung des Vereins Salam,3 der aus dem Kollektiv C’Sur4 her3

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Salam ist das Akronym von »Soutenons, aidons, luttons, agissons pour les migrants et les pays en difficulté« (Unterstützen, helfen, kämpfen und agieren wir für Migranten und für Länder in Schwierigkeiten). Das Collectif de Secours aux réfugiés (Rettungskollektiv für Flüchtlinge; im Französisch liest sich C’Sur wie »c’est sur« = »das ist sicher«) wurde 1997 gegründet, um verschiede-

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vorgegangen war. Salam leistete humanitäre Hilfe für Migrant_innen, unterstützte aber auch freiwillige Helfer_innen, die für ihre Solidaritätsaktionen strafrechtlich verfolgt wurden. Im Jahr 2008 führten Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Vereins zu einer Spaltung und die starken Spannungen mit den Behörden und Streitigkeiten über die Vereinspositionen zur Gründung der Auberge des Migrants durch einen harten Kern von Freiwilligen.5 Der Verein konzentrierte sich in der Folge auf die Ausgabe von Mahlzeiten und Kleidung. Indem die Auberge des Migrants im Sommer 2015 die Rolle eines Dachverbandes für mehrere Vereinigungen übernahm, erfuhr der Verein eine exponentielle Verwandlung. Er wurde zum Flaggschiff der Bewegung. Aufbauend auf der starken freiwilligen Nachfrage verband er sich mit Help Refugees, einer von jungen Brit_innen aus dem Mode- und Eventsektor gegründeten Vereinigung, die großartige Mobilisierungsmöglichkeiten besaß. Durch den enormen Zufluss an Spenden konnte die Auberge des Migrants eine Halle anmieten, die zu einer wichtigen Logistikdrehscheibe wurde. Zur selben Zeit traf in erheblichem Maße freiwillige Arbeitskraft ein. Es war immer mindestens ein Dutzend Freiwillige vor Ort und in den Schulferien kamen bis zu 200! 70 Prozent von ihnen waren Frauen. Es gab auch Französ_innen unter ihnen, aber die Mehrheit kam von den britischen Inseln, vor allem aus Südengland, aber auch aus Irland. Zu den Aktivitäten der Auberge gehörten die Zubereitung von Mahlzeiten (Calais Kitchen: 2000 Mahlzeiten pro Tag für Calais und Grande-Synthe), die Vorbereitung von Lebensmitteltüten, die Sortierung von Kleidung und Zelten und deren Verteilung und die Anfertigung von Hütten und Heizöfen. Auf dem Gelände des Jungle selbst stellte der Verein den Welcome-Wohnwagen bereit, der Neuankömmlinge empfing, ihnen ein Starter-Kit gab und bei der Suche nach einem Ort half, an dem sie im Jungle leben konnten. Innerhalb des Vereins lassen sich zwei getrennte Tätigkeitsbereiche unterscheiden, die nach Nationalitäten gesondert waren. Während die Mehrheit der Brit_innen und der internationalen Helfer_innen im Allgemeinen – der Belgier_innen, der Deutschen, der Niederländer_innen und der Amerikaner_innen – in der Halle arbeitete und dort praktische Hilfe bei der groß

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ne Solidaritätsvereinigungen, wie den Secours catholique oder Emmaüs, sowie Vereine zur Verteidigung der Rechte zusammenzufassen. S. Kap. 1, S. 65. Der Verein Salam hatte einen »Streik« beschlossen, um den Staat zu einem Engagement für die Migrant_innen zu zwingen.

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angelegten Sortierung und Verteilung leistete, wurden die historischen Säulen des Vereins von französischen Praktikant_innen und seit September 2016 auch von Zivildienstleistenden getragen, die Tuchfühlung zu anderen Vereinen hielten und einzelne Projekte betreuten, z.B. die Immatrikulation von 80 Studierenden aus dem Jungle an der Universität von Lille. Außerdem wurde die Auberge des Migrants zu einem der wichtigsten Vektoren zur Entwicklung einer gemeinsamen Politik der Vereinigungen. Sie war eine umfassende Schaltstelle für die erbrachte Hilfe. Einige ihrer Freiwilligen übernahmen sogar den Ausdruck, mit dem man allgemein ihren Verein bezeichnete: Die Auberge war eine regelrechte »humanitäre Maschine«. Da der Auberge des Migrants in Verbindung mit Help Refugees bedeutende Mengen an »Arbeitskräften« zur Verfügung standen, waren diese beiden Vereinigungen in der Lage, Volkszählungen der Jungle-Bewohner_innen durchzuführen, und spielten eine zentrale Rolle in den Medien und bei den Behörden. Daher wurden sie im Oktober 2016 von der Präfektur zu Rate gezogen, als diese das Bidonville räumen lassen und seine Bewohner_innen in CAO überführen wollte. Eine Vielzahl anderer Vereinigungen und Wohltäter_innen beteiligten sich täglich oder vereinzelt am Leben des Bidonvilles von Calais und boten verschiedene Dienstleistungen an. So gaben »Küchen«-Initiativen, die so genannten Kitchens, Mahlzeiten an Migrant_innen aus. Auf dem Gelände befanden sich mehrere Gemeinschaftsküchen: die Belgium Kitchen, die täglich bis zu 1000 Mahlzeiten anbot, oder die Ashram-Kitchen, die 500 verteilte. Die Küche namens Kitchen in Calais war von einer nach Großbritannien ausgewanderten malaysischen Familie gegründet worden, die so sehr vom Schicksal der Geflüchteten in Calais berührt war, dass sie sich im September 2015 entschloss, dort zu helfen. Angesichts des großen Bedarfs an warmen Mahlzeiten entschied sich die Familie, im Jungle einen Wohnwagen zum Kochen aufzustellen. Die Initiative wurde breit unterstützt, namentlich von großzügigen britischen Spender_innen. So wuchs die Küche und war im Sommer 2016 in der Lage, mehr als 1500 Mahlzeiten pro Tag auszugeben. Sie erfuhr beträchtliche Unterstützung, hauptsächlich in Form von Naturalien, durch muslimische Solidaritätsnetzwerke in Großbritannien, Frankreich (in den Regionen von Lille und Paris) sowie in weiter entfernten Ländern (wie der Türkei oder Dubai). Die Refugee Community Kitchen (RCK) wiederum entstand aus der Initiative eines Veranstalters von Punkrock-Festivals, der sich mit der Auberge des Migrants zusammentat, um eine »fabrikmäßige« Küche aufzubauen, die

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täglich mit frischen Produkten bis zu 2500 Mahlzeiten für Calais und GrandeSynthe zubereitete. Überall vor Ort gab es »Community-Kitchen-Relais«, die die Küchen der einzelnen Gemeinschaften unterstützten. Mit Hilfe von Help Refugees und der Auberge des Migrants konnte Refugee Community Kitchen zwischen Dezember 2015 und September 2016 mehr als eine halbe Millionen Mahlzeiten zubereiten. Das Projekt profitierte dabei von einem ansehnlichen Stamm an Freiwilligen aus dem künstlerischen Milieu und war in hohem Maße befähigt, die Medien und sogar Küchenchefs zu mobilisieren, die nach Calais kamen, um sie tatkräftig zu unterstützen. Die Vereinigung schätzte, dass in einem Jahr ungefähr 7500 Freiwillige gekommen waren, um ihr zu helfen. Desgleichen wurden mehrere Verteilungsstellen eingerichtet, wie zum Beispiel die von Care4Calais aufgestellten Container oder der WelcomeWohnwagen der Auberge des Migrants, der Neuankömmlinge mit dem Lebensnotwendigen ausstattete, etwa mit Zelten, Decken, Hygienesets usw. Vereinigungen wie die französische Utopia 56 (die zu Beginn stärker im humanitären Lager La Linière in Grande-Synthe engagiert war) oder die britische Greenlight kümmerten sich neben der staatlich beauftragten Organisation Acted darum, den Müll aufzusammeln. Jede Vereinigung konnte ebenfalls auf Dutzende von Freiwilligen zurückgreifen. Im Gesundheitswesen richtete die französische NGO Médecins du monde (Ärzte der Welt), die seit 2005 im Rahmen ihrer Mission »Migrants Littoral Nord-Pas-de-Calais« bei der exilierten Bevölkerung im Norden Frankreichs präsent war, im September 2015 eine Klinik ein und gewährleistete somit einen permanenten Zugang zu medizinischer Versorgung; später wurde die Klinik durch das Krankenhaus von Calais übernommen. Ärzte ohne Grenzen konzentrierte sich dagegen in Calais auf die psychische Gesundheit und die Unterstützung unbegleiteter Minderjähriger; im Mai 2016 wurde im Bidonville ein Tageszentrum für Minderjährige eröffnet. Die NGO Gynécologie sans Frontières (GSF, Gynäkologie ohne Grenzen) bot Hilfen für Migrantinnen an. Britische Freiwillige richteten mehrere Erste-Hilfe-Wohnwagen ein: Es gab ein Impfzentrum, kurzzeitig auch eine Zahnarztpraxis; das HummingbirdProjekt, eine Bürgerinitiative aus Brighton, baute einen geschützten pädagogischen und therapeutischen Bereich für Minderjährige auf. Der Verein Elise Care bot Akupunktur an und hatte mit Tausenden von Sprechstunden bei den Migrant_innen großen Erfolg. Was die juristische Betreuung betraf, so informierten die Beamt_innen der staatlichen Behörde für Asyl (OFPRA) und der für Einwanderung (OFII) bei Sprechstunden im Zentrum Jules-Ferry und im CAP sowie in der Stadt

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bei den vom Staat mit dieser Aufgabe betrauten Vereinigungen Secours catholique oder France Terre d’Asile über das Asylrecht in Frankreich. Im Bidonville selbst gab es hingegen nur wenige juristische Dienste. Im »Info Point« des Jungle verteilten Calais Migrant Solidarity (CMS) und die No BorderBewegung Broschüren mit Rechtsratschlägen. Ab September 2015 setzten sich zwei ehrenamtliche französische Rechtsanwältinnen für unbegleitete Minderjährige ein, die in Großbritannien Familie hatten und für die es daher legale Möglichkeiten zum Grenzübertritt gab. Der Verein Citizen UK sandte dann im Rahmen seines Programms »Safe Passage« ganze Teams britischer Anwält_innen nach Calais, um für diese unbegleiteten Minderjährigen Dossiers als Grundlage späterer Verfahren anzulegen. Erst im Frühjahr 2016 beauftragte der Staat offiziell eine Delegation von France Terre d’Asile, sich mit diesen Dossiers zu befassen. Juristische Aufklärung über den Zugang zu rechtlichen Verfahren für diese Jugendlichen und für alle Migrant_innen, die im Zuge ihres Migrationsprojekts mit unzähligen Problemen (z.B. Beantragung von Asyl in Frankreich, Familienzusammenführung) und mit Repressionserfahrungen (durch Polizeigewalt) konfrontiert waren, erfolgte im Jungle durch eine kleine Struktur von Freiwilligen, der Cabane juridique (Juristische Hütte, auch: Legal Shelter), die im Rahmen des »Appells von Calais« (oder »Appell der 800«) aufgebaut worden war. Ab Sommer 2016 unterrichtete darüber hinaus der Refugee Info Bus über das Asylrecht in Großbritannien. Zusätzlich zu diesen Versorgungs-, Gesundheits- und Rechtsdiensten boten Vereinigungen und einzelne Freiwillige die verschiedensten soziokulturellen Aktivitäten an, deren Bedeutung für den Lebensalltag der Jungle-Bewohner_innen wir bereits in Kapitel 3 kennengelernt haben. So bildeten sich um die Freiwilligen, die Französisch- oder Englischkurse gaben, richtige Schulen aus: die Darfur-Schule, die Laizistische Schule des chemin des Dunes, die Schule von Jungle Books und einige andere. Unterrichtet wurden sowohl Kinder als auch Erwachsene. Im Juni 2016 eröffnete das Unterrichtsministerium schließlich im Containerlager CAP eine Klasse für Kinder im schulpflichtigen Alter. Ebenso wurden künstlerische Aktivitäten, Workshops zum zivilgesellschaftlichen Journalismus oder Spiele angeboten. Dank eines enorm erfolgreichen Crowdfunding veranstaltete das von zwei jungen britischen Dramatikern geleitete Good Chance Theatre unter Beteiligung einiger der berühmtesten britischen Theatergruppen von Oktober 2015 bis März 2016 Workshops für Improvisation, Konzerte, Filmvorführungen und Theateraufführungen. Das Women Center bot spezielle Aktivitäten für

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Frauen und Kinder an; weitere Angebote für Jugendliche kamen vom Baloo Center und dem bereits erwähnten Kid’s Restaurant. Indem sie die Unzulänglichkeiten des französischen Staates zu kompensieren suchten, trugen diese verschiedenen Formen an Unterstützung zur räumlichen Ausformung des Jungle bei. Der Staat erkannte das Camp nicht als »Flüchtlingslager« an und lehnte es ab, seinen faktischen Fortbestand formell anzuerkennen. Die Unterstützung hingegen wirkte sich auf die physische Gestaltung des Geländes aus, indem Erdarbeiten durchgeführt und Baustoffe bereitgestellt wurden. Die zivilgesellschaftlichen Solidaritäten leisteten somit einen unmittelbaren Beitrag zur Urbanisierung dieses Ortes. Acted, aber auch die Auberge des Migrants befreiten bestimmte Flächen von Gestrüpp, ebneten sie ein und legten überflutete Stellen trocken. Viele Vereinigungen und Freiwillige stellten Zelte, Wohnwagen, vorgefertigte Hütten, Jurten usw. zur Verfügung. Die französische Punkband Boule Eud’ Pue stellte beispielsweise rund 200 Hütten für jeweils 400 Euro auf, gab also insgesamt 80 000 Euro aus. Der Secours catholique schätzte, etwa 30 000 Euro für Hüttenmaterial ausgegeben zu haben, Ärzte ohne Grenzen 720 000 Euro für mehr als tausend Unterkünfte und die Auberge des Migrants und Help Refugees mehr als 400 000 Euro für rund 1500 Unterkünfte. Einzelpersonen brachten Zelte, Wohnwagen und Jurten an. Die britischen Initiativen Caravans for Calais und Jungle Canopy sorgten dafür, dass Wohnwagen herangefahren wurden, um Migrant_innen unterbringen oder Aktivitäten durchführen zu können. Die Charpentiers sans Frontières (Zimmerleute ohne Grenzen) errichteten das Gebäude für die Rechtsberatung Cabane juridique. Unzählige einzelne Spender_innen brachten Campingzelte, manchmal Militärzelte und anderes Material heran, um Schutz vor dem rauen Wetter an der Nordküste Frankreichs zu bieten, aber auch um eine Form urbaner Utopie zu verwirklichen. Sie alle experimentierten mit verschiedenen Formen von Wohnraum und kommunalen Einrichtungen auf einem Terrain, das sich durch seine innere Organisation weitgehend der staatlichen Kontrolle entzogen hatte, wie in Kapitel 2 erörtert. Der Staat selbst griff durch Zwang und Restriktionen, beispielsweise durch die Reduktion der Siedlungsfläche oder durch das Zulieferverbot für Baustoffe, die meiste Zeit nur negativ in das Bidonville ein. Experimentierfreude finden wir ferner im Hinblick auf die menschlichen Beziehungen, etwa wenn Freiwillige sich im Jungle niederließen, um mit den Geflüchteten das tägliche Leben zu teilen. Diese Praxis war nicht neu, da beispielsweise die Aktivist_innen der No Border-Bewegung schon immer die Trennung zwischen Flüchtlingen und ihren Unterstützer_innen abgelehnt

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und zusammen mit ihnen in den besetzten Häusern gelebt hatten. Diese Art von Intervention erlebte jedoch mit der Errichtung des Jungle de la lande im Jahr 2015 einen ungekannten Schub. Zeitweise lebten Dutzende von Unterstützer_innen kürzere oder längere Zeit auf dem Gelände. Diese Personen waren wichtig, wenn es darum ging, Zugang zu bestimmten Diensten zu schaffen (z.B. um jemanden ins Krankenhaus zu bringen), Ressourcen zuzuteilen (z.B. durch die Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Personen), Beziehungen zu regulieren, Konflikte zu lösen und anderes mehr. Ihr Einsatz und ihre Entscheidung, im Jungle zu leben, konnten von den Flüchtlingen nicht immer nachvollzogen werden, die ihrerseits dazu gezwungen waren, diese ungesunden Lebensbedingungen zu ertragen, für die sie sich nicht selbst entschieden hatten. Die Tatsache, dass die Mehrheit dieser Unterstützer_innen junge unverheiratete Frauen waren, und zwar in einem Umfeld, das hauptsächlich aus jungen unverheirateten Männern bestand, führte zu der unter den Flüchtlingen weit verbreiteten Ansicht, dass alle nur auf ihre Kosten kommen wollten. Die Bildung von Paaren bestärkte diese Interpretation. Der Staat hingegen fasste den Aufenthalt von Helfer_innen auf dem Gelände als subversiv auf und schrieb sie tendenziell der als radikal und sogar als gewalttätig verschrienen No Border-Bewegung zu. Die Gründe für die Niederlassung im Jungle waren sehr unterschiedlich und reichten vom totalen Engagement bis hin zum Wunsch, eine neuund fremdartige Erfahrung durch ein Leben am Rande der Gesellschaft zu machen. Diese Form des solidarischen »Campierens« förderte außerdem die Herausbildung veränderter Ansätze von Hilfe, die stärker auf kulturelle Differenzen und die Empfindungen der Menschen eingingen und nicht zuletzt die Stimmen der Geflüchteten selbst einbezogen. Diese Aufmerksamkeit wurde schließlich durch die jede Woche stattfindenden »Gemeinschaftstreffen« formalisiert, bei denen Vertreter_innen der wichtigsten Communities im Bidonville (Afghan_innen, Sudanes_innen, Kurd_innen, Eritreer_innen, Äthiopier_innen, Syrer_innen, Ägypter_innen, Iraner_innen) die Modalitäten für den Einsatz der Helfer_innen entsprechend der Bedürfnisse der Ersteren diskutierten. Es gab endlose Debatten über die Modalitäten der Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung, weil diese für die Migrant_innen enorm wichtig waren. Zugleich nahmen diejenigen, die diese Ressourcen kontrollieren konnten, eine Machtposition ein. Ferner diskutierte man über das Verhalten der Freiwilligen. Im Frühjahr 2016 wurde ein »Verhaltenskodex« entwickelt, um »gegenseitigen Respekt« zu gewährleisten: Freiwillige wurden gebeten, keine Fotos mehr zu machen,

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die kulturellen Besonderheiten zu beachten und in der Öffentlichkeit keinen Alkohol zu trinken. Dieser Verhaltenskodex fand keine große Verbreitung, da die Vereinigungen sich dabei zurückhielten, ihren Freiwilligen Verhaltensregeln aufzuerlegen, ohne dass es eine vergleichbare Verpflichtung von Seiten der Migrant_innen gegeben hätte. Gleichwohl zeigte sich in diesem Vorgang die Bedeutung des solidarischen Campierens im Bidonville von Calais: Dass einige Freiwillige sich tatsächlich dafür entschieden hatten, sich an diesem Ort niederzulassen (indem sie dort campierten), machte aus Sicht der dort unfreiwillig lebenden Migrant_innen eine offizielle Regelung notwendig. Darüber hinaus hatte der auf den Gemeinschaftstreffen der Migrant_innen ausgearbeitete Verhaltenskodex viel mit der Zunahme einer bestimmten Art von humanitärem Tourismus im Jungle von Calais zu tun. Dabei handelte es sich um Formen solidarischen Engagements, die sich auf einmalige Besuche beschränkten, bei denen Besucher_innen die Atmosphäre vor Ort aufnahmen und sich von ihr berühren ließen, aber auch die eigene Neugier befriedigten oder gar ein gewisses Verlangen nach Exotismus stillten. In den Jahren 2015 und 2016 war diese Art von Besucher_innen überall anzutreffen. Einige halfen ein oder zwei Tage lang mit, andere forschten,6 filmten oder fotografierten für einen Bericht oder ein künstlerisches Projekt oder sammelten einfach nur Souvenirs. Die neuen Formen an Unterstützung überlagerten tendenziell das lokale Gefüge von Freiwilligen und Organisationen, die im Jahr 2015, als die Zahl der Migranten erheblich zunahm und die staatlichen Interventionen zu tiefen Spaltungen führten, auf weite Strecken mit der Situation überfordert waren. Nach dem Verlust seiner Räumlichkeiten und der Eröffnung des Tageszentrums Jules-Ferry verlor der Verein Salam an Bedeutung; das Zentrum JulesFerry wurde aber von den Migrant_innen gewöhnlich als »Salam« bezeichnet, obwohl es in staatlichem Auftrag von La Vie active verwaltet wurde. Trotz seiner starken lokalen Verwurzelung und des damit verbundenen großen Netzwerkes von Freiwilligen war der Secours catholique ebenfalls überlastet. Er strengte im Herbst 2015 ein Verfahren gegen den Staat an, um eine bessere

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Als ernsthafte Kunst- und Forschungsprojekte sind u.a. zu nennen: das Music Room Project der SOAS University of London, Projekte der École nationale supérieure d’Architecture de Paris Belleville (einige ihrer Arbeiten sind in Kap. 2 des vorliegenden Bandes veröffentlicht), verschiedene Praktika von Masterstudierenden der Fakultät für Geographie in Tours und vergleichende Entwicklungsstudien der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS).

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Betreuung für die ohne die geringste öffentliche Grundversorgung in das Bidonville verbannten Migrant_innen zu erzwingen. Dennoch blieb er für die Behörden ein anerkannter Partner, namentlich im Herbst 2016, als die Räumung des Bidonvilles zugunsten der Centres d’Accueil et d’Orientation (CAO) verhandelt wurde. Die neuen Organisationen veränderten stark die Landschaft der lokalen Solidarität. Diese war durch ständige und in unterschiedlicher Form wiederkehrende Spaltungen zwischen den »Humanitären« und den »Aktivist_innen« geprägt. Während die humanitäre Richtung von Vereinen wie Salam oder Auberge des Migrants repräsentiert war, wurde der aktivistische und viel stärker systemkritische Bereich vor allem von der Gruppe Calais Migrant Solidarity (CMS) vertreten; diese war aus dem No Border-Camp von 2009 hervorgegangen und verfolgte den Ansatz, die Unterstützung der Migrant_innen mit der politischen Mobilisierung für eine Öffnung der Grenzen zu verbinden. Diese radikaloppositionelle Richtung verband eine Vielzahl politischer Profile, deren gemeinsames Merkmal das Misstrauen gegenüber den Behörden und der Rückgriff auf illegale Aktionen war, um die fehlende staatliche Unterbringung durch Gebäudebesetzungen wettzumachen, darunter die Hausbesetzung auf dem boulevard Victor Hugo in der Innenstadt von Calais zur Aufnahme von Frauen und Kindern (die dann 2014 vom Staat übernommen wurde, bevor die Bewohner_innen in das Zentrum Jules-Ferry umgesiedelt wurden). Ein weiterer Schnittpunkt dieser verschiedenen Organisationen war es, insbesondere durch Demonstrationen gegen die Abschiebehaftanstalten und durch die Dokumentation von Polizeigewalt die Unterdrückung der Migrant_innen anzuprangern.

In den anderen Camps Um Calais und seine nächste Umgebung herum konzentrierten sich die meisten Migrant_innen und mit ihnen die meisten Solidaritätsaktionen in Nordfrankreich, sodass auch das mediale und politische Interesse auf die Stadt gerichtet war. Im Verlauf der 1990er Jahre waren Camps außerdem in den kleineren Städten und Gemeinden entlang der Autobahnen nach Calais entstanden. Davon ausgehend führte die Präsenz der Migrant_innen auch in der Region zur Entstehung und Verbreitung neuer Formen von Solidarität, zunächst in Gestalt von Bürger_inneninitiativen und im weiteren Verlauf durch die formellere Gründung von Kollektiven und eingetragenen Vereinen. Zwi-

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schen 2008 und 2011 wurden neue Strukturen geschaffen, wie die Terre d’Errance in Steenvoorde und Norrent-Fontes, Flandre Terre Solidaire in Bailleul, Collectif Fraternité Migrants Bassin minier 62 in Angres, Terre d’Errance Flandre Littoral in Bollezeele und Aide Migrants Solidarité in Téteghem. Welche Formen die Solidarität in diesen verschiedenen Migrationscamps annahmen, in denen zuweilen nur wenige Dutzend, manchmal aber auch mehrere Hundert Menschen lebten, hing stark von der Herangehensweise der einzelnen Personen und lokalen Zusammenschlüsse ab. Nach dem Zwischenspiel des vom Roten Kreuz verwalteten Aufnahmezentrums Sangatte (s. Kap. 1) entwickelte sich in diesem von den humanitären Organisationen etwas vernachlässigten Gebiet eine stärker zivilgesellschaftlich getragene Solidarität. Die lokalen Vereinigungen, die ohne Subventionen auskommen mussten, sammelten Lebensmittel- und Kleiderspenden und akquirierten finanzielle Mittel durch Mitgliedsbeiträge oder mit Hilfe öffentlicher Veranstaltungen wie Konzerten und Ausstellungen.

Das Camp von Norrent-Fontes und die Vereinigung Terre d’Errance Dies war der Fall in Norrent-Fontes, wo man Ende der 1990er Jahre der ersten Migrant_innen gewahr wurde. Die Gemeinde liegt im Landesinneren des Departements Pas-de-Calais zwischen Lillers und Aire-sur-la-Lys rund 75 Kilometer von Calais entfernt. Wenn Norrent-Fontes auch keine Küstengemeinde ist, so kann sie dennoch als ›Grenzstadt‹ gelten, da die in der Nähe verlaufende A26, die als »Autobahn der Engländer« bekannt ist, Calais mit Paris verbindet. Um genau zu sein, war es eine Autobahnraststätte auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Saint-Hilaire Cottes, die die Migrant_innen anzog. Für Auto- und Lastwagenfahrer_innen aus Paris ist dies der letzte Rastplatz vor Calais mit einer Tankstelle, einem Restaurant, Duschen und Toiletten. Daher legten die Fahrer_innen dort üblicherweise eine Pause ein. Das war die Gelegenheit für die Migrant_innen, die jede Nacht versuchten, in auf dem Parkplatz abgestellte Lastwagen zu klettern. Um auf diesen Rastplatz und zu den geparkten Lastwagen zu gelangen, wanderten die Migrant_innen von ihrem Camp aus etwa 1500 Meter weit über meist schlammige Feldwege, was die örtlichen Bauern verstimmte. Die Gemeinde Norrent-Fontes liegt fern der politischen und medialen Aufregung, wie wir sie von Calais kennen, und wirkt viel friedlicher. Bei der letzten Volkszählung lebten dort rund 1500 Einwohner_innen, zu denen nun die etwa 200 im Camp lebenden Migrant_innen hinzukamen. Ungefähr die

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Hälfte von ihnen waren Frauen und dieser hohe Frauenanteil war die Besonderheit des Camps von Norrent-Fontes im Vergleich zu den anderen Lebensorten der Migrant_innen in der Region, wie insbesondere Calais und GrandeSynthe. In der Gemeinde waren die Migrant_innen im Alltag kaum sichtbar. Mit Ausnahme der Kirche besuchten sie nur einige wenige Geschäfte: die Bäckerei; das Café, in dem Tabakwaren verkauft werden durften; den Autohof und ein Geschäft mit lokalen landwirtschaftlichen Produkten, in dem sie gelegentlich Milch und Joghurt kauften. Den Rest ihrer Einkäufe erledigten sie vorwiegend im Supermarkt der Nachbargemeinde. Am Ende der rue de Rely, etwa zwei Kilometer von der Hauptstraße der kleinen Ortschaft entfernt, befand sich das Camp der Migrant_innen. Hinter einem Gehölz standen einige hölzerne Baracken und Zelte, in denen sie zum Teil viele Monate lebten. 2012 wurden zwischen den Feldern auf ungenutztem Land der Gemeinde vier Holzhütten erbaut. Der Bürgermeister, der der französischen Partei der Grünen (Europe Écologie-Les Verts) angehörte und Präsident des Réseau des Élus hospitaliers (REH, Netzwerk der gastfreundlichen Abgeordneten) war, unterstützte diese Initiative. Ein durch eine Kerze ausgelöster Brand zerstörte im April 2015 zwei dieser Unterkünfte. Einige Monate später bauten Aktivist_innen ein Gebäude wieder auf, um den Bewohner_innen des Camps ein Obdach zu geben. Im Verlauf des Jahres 2015, als die Zahl der Migrant_innen zunahm, wurden nach und nach auch auf ungenutzten landwirtschaftlichen Privatflächen Zelte aufgestellt, in denen hauptsächlich Männer lebten. Die drei Baracken dienten zum Kochen, zur Lagerung von Lebensmitteln und zur Unterbringung der Frauen. Das Camp verfügte aber weder über Wasser noch über Strom. In der Mitte wurde ein alter Wohnwagen als Krankenstation und medizinische Praxis benutzt; ein Allgemeinarzt und zwei Krankenschwestern – alle drei ehrenamtliche Helfer_innen – hielten dort Sprechstunden ab. Einmal in der Woche nahmen Freiwillige einen Teil der Migrant_innen in eine nahe gelegene Sportstätte mit, damit sie sich in den Umkleidekabinen duschen konnten. Ende der 1990er Jahre waren die in der Gemeinde Norrent-Fontes lebenden Migrant_innen in erster Linie durch private und vereinzelte Initiativen der Einwohner_innen der Gemeinde bzw. der Nachbargemeinden unterstützt worden, die oft über familiäre, freundschaftliche oder kirchliche Verbindungen untereinander bekannt waren. Diese Formen von Unterstützung entwickelten sich schrittweise fort und wurden 2008 schließlich durch die Gründung von Terre d’Errance institutionalisiert, lange Zeit die einzige Vereini-

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Abb. 21: Das Camp von Norrent-Fontes, 2016

Foto: Julien Saison

gung, die im Camp von Norrent-Fontes aktiv war. Der ausschließlich aus Freiwilligen bestehende Verein zählte im Jahr 2016 rund 40 Aktivist_innen und knapp 500 Mitglieder. Finanzielle und materielle Ressourcen stammten aus Mitgliedsbeiträgen, privaten Spenden oder der Wiederverwertung von Lebensmitteln und Baumaterialien. Die meisten Aktivitäten der Vereinigungen drehten sich um das Lebensnotwendigste: Zugang zu Trinkwasser, Körperpflege und Hygiene (Duschen und Toiletten), Bau von Notunterkünften und Verteilung von Nahrungsmitteln, Kleidung, Schuhen und Decken. Während der Tagesablauf der Aktivist_innen durch humanitäre Aufgaben bestimmt war, führten die Mitglieder des Vereins auch Aktionen durch, um die lokale Bevölkerung, insbesondere die Schulklassen, für die Problematik zu sensibilisieren. Freiwillige des Vereins besuchten die Schulen der Umgebung, um darüber aufzuklären, wer die exilierten Bevölkerungsgruppen und wie ihre Lebensbedingungen waren, wie sie nach Frankreich gekommen waren, was sie hier taten und was sie erhofften. Terre d’Errance versuchte außerdem zusammen mit anderen lokalen und nationalen Vereinigungen, die Bürger_innen, lokalen Amtsträger_innen und verantwortlichen Politiker_innen zu informieren und zu überzeugen.

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Während einige Freiwillige von Zeit zu Zeit nach Calais fuhren, um an Demonstrationen oder Treffen verschiedener Vereinigungen teilzunehmen, wurden manchmal auch am Lebensort der Migrant_innen von Norrent-Fontes kollektive Veranstaltungen organisiert. Nachdem ein Teil der Holzbauten niedergebrannt war, bauten Freiwillige von Terre d’Errance 2015 eine neue Unterkunft auf. Bei dieser Gelegenheit gab der bei den Kommunalwahlen von 2014 gewählte neue Bürgermeister von Norrent-Fontes eine städtische Verordnung heraus, die jegliche Rekonstruktion auf dem Gelände verbot; die nationale Gendarmerie lud mehrere Aktivist_innen des Vereins im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens vor. Als Reaktion darauf wurde am 10. Oktober 2015 unter dem Motto »Gastfreundschaft aufbauen« ein Aktionstag auf dem Gelände des Camps veranstaltet: Freiwillige bauten die neuen Unterkünfte zu Ende und den ganzen Tag über fanden in Anwesenheit vieler lokaler und nationaler Vereinigungen Konzerte statt. Etwa ein Jahr später wurde am 14. September 2016 ein zweiter Aktionstag abgehalten, diesmal unter dem Motto »Widerstandsfelder«, um gegen die vom Bürgermeister und den privaten Eigentümern des besetzten Landes verlangte Zerschlagung des Camps zu protestieren. Noch ein Jahr später allerdings räumte und zerstörte am 18. September 2017 die Polizei das Camp Norrent-Fontes vollständig.

Das »humanitäre Lager« von Grande-Synthe: Lokale und europäische Solidaritäten Ein weiteres Küstencamp stand im Winter 2015/16 im Mittelpunkt des Tagesgeschehens: das Camp von Grande-Synthe in der Nähe des Hafens von Dünkirchen (Dunkerque). Dieses Camp, in dem hauptsächlich kurdische Bevölkerung lebte, das sich seit zehn Jahren in einem morastigen Waldstück des Wohngebiets Le Basroch gebildet hatte, erlebte ab 2014 einen deutlichen Zuwachs. Von rund 300 Bewohner_innen im Jahr 2014 stieg die Anzahl seiner Bewohner_innen bis zum Dezember 2015 auf über 2500 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Seit langem engagierte sich dort die NGO Médecins du monde ebenso wie lokale Freiwilligengruppen. Im Herbst 2015 kamen britische und andere europäische Freiwillige hinzu; einige ließen sich auf dem Gelände nieder. Angesichts der kritischen Situation Ende 2015 forderte der grüne Bürgermeister der Stadt (und Mitglied des Réseau des Élus hospitaliers) den Staat auf, den Bewohner_innen des Camps Unterkünfte bereitzustellen. Da

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der Staat darauf nicht einging, bat er Ärzte ohne Grenzen, ein »Lager nach humanitären Standards« zu errichten, um die Flüchtlinge aus dem Matsch zu holen. Zu diesem Zweck stellte die Stadtverwaltung in der Nähe der Autobahn ein Grundstück der ehemaligen landwirtschaftlichen Genossenschaft Linière zur Verfügung. Das Lager wurde von Ärzte ohne Grenzen aus Eigenmitteln für 2,6 Millionen Euro erbaut. Es bestand aus 380 Holzunterkünften für jeweils vier Personen, sanitären Einrichtungen sowie Gemeinschaftsküchen und Gebäuden für soziokulturelle Aktivitäten. Ursprünglich hatte sich die Kommune verpflichtet, 500 000 Euro für den Unterhalt des Lagers bereitzustellen, während der tägliche Betrieb in erster Linie auf zivilgesellschaftlichem Engagement beruhen sollte: Diese Aufgabe übernahm die Vereinigung Utopia 56, die seit der Eröffnung im März 2016, als schon etwa tausend Menschen untergebracht waren, die Logistik bereitstellte und den täglichen Einsatz der freiwilligen Helfer_innen koordinierte. Utopia 56 ist eine Vereinigung von Freiwilligen ohne politisch-aktivistischen Hintergrund und ohne lokale Verwurzelung. Sie war in Lorient in der Bretagne gegründet worden. Die Initiative dazu war von den freischaffenden Angestellten und Arbeiter_innen verschiedener Festivals ausgegangen (z.B. des Festivals der Vieilles Charrues), die im Winter 2015/16 die Lage in Calais kennengelernt hatten.7 Zu Beginn war die Gruppe dort an der Seite der Auberge des Migrants beim Müllsammeln im Bidonville von Calais tätig, danach engagierte sie sich im Wesentlichen in Grande-Synthe. Zwischen Februar und September 2016 waren hier an insgesamt mehr als 17 000 Freiwilligentagen ungefähr 3000 ehrenamtliche Mitarbeiter_innen im Einsatz. Darüber hinaus waren in Grande-Synthe etwa fünfzig weitere lokale (u.a. Emmaüs Dunkerque und Salam) und internationale Vereinigungen aktiv. Da keine öffentlichen Mittel für Nahrungsmittel bereitgestellt wurden, waren es die von britischen Freiwilligen organisierte Refugee Community Kitchen und die von deutschen Freiwilligen initiierte Kisha Neya, die die tägliche Versorgung auf der Grundlage von Spenden und ehrenamtlicher Arbeit sicherstellten.

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Die Präsidentin des Vereins Gaedig Bonabesse erklärte: »Ich bin mit meinem Begleiter nach Calais gefahren, und wir wurden von einem Hurrikan der Not erfasst. Als wir im Dezember zurückkamen, gründeten wir den Verein mit einer Gruppe von Mitarbeiter_innen aus dem Veranstaltungsmilieu, da die staatliche Hilfe leider so gering ist, dass jeder Beitrag von Nutzen ist.« (»Utopia 56 : Intervenir auprès des migrants à Calais«, Le Télégramme, 13.1.2016).

Der Jungle der Solidaritäten

Obwohl der Staat die Errichtung des Flüchtlingslagers in Grande-Synthe prinzipiell ablehnte, musste die Regierung, vor vollendete Tatsachen gestellt, im April 2016 schließlich die Finanzierung des laufenden Betriebs übernehmen, den sie der professionellen Vereinigung Association Flandres Enfance Jeunesse Insertion (AFEJI, Vereinigung Flandern8 Kindheit Jugend Eingliederung) anvertraute.9 Nach der Schleifung des Jungle von Calais im Oktober 2016 stieg die zuletzt gesunkene Zahl der Bewohner_innen im Lager GrandeSynthe wieder auf 1000 und im März 2017 sogar auf 1700 an, wobei eine rigorose Einlasskontrolle mit einer Personenidentifizierung durch ein Armband die weitere Zunahme begrenzten. Um das humanitäre Lager nicht zu verstetigen, verlangte die Stadtverwaltung eine Verringerung der Kapazität, worauf jede Hütte, deren Bewohner_in das Lager verlassen hatte, wieder abgebaut wurde. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich und die Vereinigungen klagten über eine Zunahme von Gewalt, insbesondere gegen Frauen und unbegleitete Minderjährige. Hinzu kam die Erbitterung der Migrant_innen, denen es nicht gelang, die Grenzkontrollen zu überwinden, und die immer gefährlichere Versuche unternahmen, um Lastwagen auf der Fahrt nach Großbritannien abzufangen, unter anderem durch Autobahnblockaden, den bekannten douggars. Am 10. April 2017 führten gewalttätige Zusammenstöße zwischen einigen Gruppen von Migrant_innen zur fast völligen Zerstörung des Lagers durch ein Feuer. Nach der endgültigen Schließung des Lagers irrten die Migrant_innen umher und bildeten prekäre Camps im Wald, die immer wieder von der Polizei aufgelöst wurden.

Mobilisierungsnetzwerke: Vom Lokalen zum Globalen Anhand der verschiedenen Formen solidarischen Handelns in Calais und den übrigen Camps an der Nordküste Frankreichs lässt sich eine Typologie der Solidaritäten herausarbeiten: Wir haben es erstens mit der Gruppe der lokalen Aktivist_innen und Freiwilligen zu tun, zweitens mit NGOs und professionellen Vereinigungen und drittens mit neuen Akteur_innen der Flüchtlingshilfe im Übergangsbereich von zivilgesellschaftlichem Engagement und

8 9

Anm. d. Übs.: Der Name Flandern bezieht sich auf die historische Zugehörigkeit des französischen Nordostens zur Grafschaft Flandern. Die Berufsverbände haben den gleichen rechtlichen Status wie andere Vereine und sind vom Staat mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beauftragt.

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Der »Dschungel von Calais«

Professionalisierung. Während die lokalen Solidaritäten bis 2015 größtenteils auf Pensionär_innen beruhten, die über politische, gewerkschaftliche oder religiöse Netzwerke mobilisiert worden waren, war das neue Unterstützungsprofil vielfältiger: Die Akteur_innen waren häufig jünger (viele Studierende), kannten kein vorhergehendes politisch-aktivistisches Engagement und wurden in geographisch weiter entfernten Gebieten (Kent, Sussex, Dublin, Gent u.v.m.) auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen oder nachbarschaftlicher Beziehungen mobilisiert.

Lokale Unterstützungsnetzwerke für die Migrant_innen Das lokale Netzwerk aus Aktivist_innen und Freiwilligen bestand überwiegend aus Menschen im Ruhestand aus unterschiedlichen politischen Milieus; diese reichten von religiös motivierter Solidarität der katholischen Linken über frühere Maoist_innen bis hin zu Gewerkschaftler_innen. Dabei handelte es sich eher um ein regionales Netzwerk statt um ein streng lokales. Das Engagement der linken Aktivist_innen stand in der Kontinuität des historischen Einsatzes für die Unabhängigkeit Algeriens, der Streikbewegung von 1968, der Unterstützung für die Arbeiter_innen der Firma Lip in den frühen 1970er Jahren,10 der Bewegung zur Verteidigung von Larzac gegen die Ausweitung eines Truppenübungsplatzes in Südfrankreich im weiteren Verlauf des Jahrzehnts und schließlich in den 1990er Jahren der Unterstützung für die Hungerstreiks der Sans-papiers (also der ohne Papiere und damit ohne legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich lebenden und arbeitenden Migrant_innen). Diese Aktivist_innen waren gleichzeitig oft Mitglieder in anderen Organisationen wie der Kommunistischen Partei Frankreichs, den Gewerkschaften oder im Falle der »linken Katholiken« in Organisationen wie ATD-Quart Monde.11 Nicht zuletzt fußte dieses Engagement auf christlichen Vorstellungen von Aufnahme und Gastfreundschaft im Kontext der Flüchtlingsseelsorge sowie der Netzwerke des Secours catholique und der regionalen Pfarrgemeinden zur freiwilligen Hilfe und zur Beherbergung von Migrant_innen. 10

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Anm. d. Übs.: Der Konflikt um den Uhrenhersteller Lip in Besançon gilt in Frankreich als einer der zentralen Arbeitskämpfe der 1970er Jahre. Die Beschäftigten hatten das in finanzielle Schwierigkeiten geratene Unternehmen, das vor der Schließung stand, zunächst bestreikt, dann besetzt und in Eigenregie fortgeführt. Anm. d. Übs.: Es handelt sich um eine internationale katholische Organisation zur Überwindung von menschenunwürdiger Arbeit. In Deutschland ist sie als Verein ATD Vierte Welt vertreten; ATD steht für »All Together for Dignity«.

Der Jungle der Solidaritäten

Ebenso organisierten sich Netzwerke muslimischer Solidarität, hauptsächlich aus den Arbeitervierteln im Großraum Lille. Dies war der Fall bei Oumma Fourchette (Gemeinschaft der Gabel), einer Vereinigung mit Sitz in Roubaix, die seit 2003 an der Seite von Salam in Calais Speisen zubereitete und seit 2015 eine wöchentliche Lieferung von Lebensmitteln durchführte sowie muslimische Migrant_innen beim Bau von Moscheen im Bidonville von Calais und im Todesfall bei Bestattungen unterstützte. In vergleichbarer Weise rekrutierten sich andere Vereinigungen aus Vierteln mit einem hohen Anteil an migrantischer Bevölkerung, ohne dass sie notwendigerweise religiös geprägt sein mussten, so etwa die hauptsächlich in Lille und Courrières verankerte Association Lutter pour l’Égalité, contre la Discrimination et pour la Solidarité (ALEDS, Verein Kampf für Gleichheit, gegen Diskriminierung und für Solidarität), die in Calais wie in anderen nordfranzösischen Camps Lebensmittelverteilungen organisierte. Die Verschiedenheit der Beweggründe, die zu einem Engagement für Migrant_innen führte, provozierte auch Zerwürfnisse, die im Zuge der migrationspolitischen Entwicklung und abhängig vom Verhalten der Behörden gegenüber den Unterstützungen aufkamen, sich veränderten und einander ablösten. Einen Wendepunkt markierte das No Border-Sommercamp im Jahr 2009, das Unterstützungsgruppen für Ausländer_innen aus ganz Europa in Calais zusammenführte. Als Bewegung von Globalisierungsgegner_innen – der französische Ausdruck altermondialistes drückt ihre Suche nach einer besseren Welt aus – im Jahr 1999 aus Protest gegen die europäische Politik der Migrationskontrolle ins Leben gerufen, schlug No Border eine ideologische Lesart der Grenze als Instrument kapitalistischer Herrschaft vor und forderte Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für alle. Ohne formale Verfahren für eine Mitgliedschaft und aufgrund ihrer relativ flexiblen Struktur stand die Bewegung bei den Behörden im Verdacht, illegale Aktivitäten zu organisieren, Migrant_innen zu manipulieren und generell für Ausschreitungen verantwortlich zu sein. Die Niederlassung der No Border-Bewegung in Calais und die Entstehung der Vereinigung Calais Migrant Solidarity veränderte die lokale Solidaritätsszene durch ihren radikaloppositionellen und stärker internationalistisch ausgerichteten Aktivismus. Die Entscheidung zwischen einem »stärker humanitären« und einem »eher politischen« Standpunkt war der Zankapfel der Migrant_innenhilfe. In Calais wurde dies vielleicht noch deutlicher als anderswo, weil die humanitäre Krise hier besonders akut war, aber auch auf Grund der Repressalien gegen die Solidaritäten und der Virulenz xenophober Haltungen, die selbst

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vor Gewalttaten und Einschüchterungen gegen Migrant_innen und ihre Unterstützer_innen nicht zurückschreckten. Einige betonten daher, dass auf der Ebene der Kritik ebenso viel Handlungsbedarf bestehe, und konzentrierten ihre Aktivitäten auf den ideologischen Bereich. Dies war der Fall bei Marmite aux Idées (Kessel der Ideen), beim Blog Passeurs d’Hospitalité12 und bei der Gruppe Calais, Ouverture et Humanité (Calais, Öffnung und Menschlichkeit)13 .

NGOs und professionelle Vereinigungen Das Jahr 2015 bedeutete einen Umbruch für die großen NGOs, die mit den Situationen in den Herkunftsländern der Migrant_innen gut vertraut waren und nun auf einem für sie unbekannten Terrain tätig werden mussten. Das syrische Drama, die Schiffsunglücke im Mittelmeer und die Unfähigkeit der europäischen Staaten, Flüchtlinge zu schützen, brachten die internationalen NGOs dazu, sich in dieser Notlage neu zu positionieren und Interventionsvorschläge zu formulieren. Deshalb erreichten nun auch die Profis für internationale humanitäre Hilfe die nordfranzösischen Camps, die ihre Laufbahn bis dahin in den Flüchtlingslagern des Kongos und Syriens, in den Krankenstationen Afghanistans oder den Vertriebenenlagern Haitis verbracht hatten. In Calais griffen große internationale NGOs wie Ärzte ohne Grenzen auf ihr aus ihren Auslandsmissionen bekanntes Interventionsschema zurück: die Vorstellung eines defizitären Staates, mit dem es diplomatische Verhandlungen aufzunehmen galt; die Aufgabenteilung innerhalb der »Mission« in leitende, operative, kommunikative und andere Funktionen; das Leben der »expatriierten« Helfer_innen in den Communities etwas abseits von der lokalen Bevölkerung. Diese großen NGOs trugen dazu bei, die Flüchtlingskrise von Calais zu einem politischen Problem von internationalem Rang zu erheben.

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Der Blog Passeurs d’Hospitalités – des exilés à Calais ist in französischer und englischer Sprache abrufbar unter: https://passeursdhospitalites.wordpress.com/ (21.5.2018, 20.6.2019). Anm. d. Übs.: Der französische Begriff passeur ist in seiner Ambivalenz und Werturteilsfreiheit nicht einfach zu übersetzen. Er bedeutet sowohl Schmuggler und Schleuser als auch Fährmann. Somit wären die Passeurs d’Hospitalités also »Fährleute der Gastfreundschaft«. Im weitesten Sinne kann man ihn auch als »Übergeber/Überbringer von Gastfreundschaft« übersetzen. Die Gruppe ist v.a. über Facebook präsent: https://www.facebook.com/calais. ouverture.humanite/(7.7.2016, 31.7.2019), https://reinventercalais.orgbzw. https:// www.facebook.com/groups/983879638350571/ (27.1.2016, 31.7.2019).

Der Jungle der Solidaritäten

Es stellte sich allerdings bald heraus, dass es große Diskrepanzen zwischen den lokalen Mobilisierungen mit ihren ortskundigen Freiwilligen und den humanitären Fachleuten gab, die nur kurzzeitig in Calais eingesetzt waren. Erstere vertrugen nur schlecht die Arroganz der Neuen, die manchmal Lektionen über die vermeintlich richtigen Aktionsweisen erteilten, obwohl sie nur oberflächliche Kenntnisse über die lokale Situation besaßen. Dieses Verhältnis reproduzierte die in der Welt der Vereinigungen wohlbekannten Spannungen zwischen Freiwilligen und Fachleuten.14 Ihre Beziehungen können jedoch nicht auf diesen Konflikt reduziert werden: Die humanitären Helfer_innen, die in Calais zum Einsatz kamen, waren junge Fachkräfte, die zwar nur schwach in die lokale Gemeinschaft eingebunden waren, aber dennoch – durch ihre Teilnahme an Treffen zwischen den Vereinigungen oder beim Aufbau gemeinsamer Projekte, z.B. eines Kinderzentrums von Ärzte ohne Grenzen in Calais – ihren Willen zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit den örtlichen Akteuren zum Ausdruck brachten. Unabhängig davon gab es auf der anderen Seite Vorbehalte zwischen den professionellen Vereinigungen, die wie La Vie active oder AFEJI und in geringerem Maße auch France Terre d’Asile in staatlichem Auftrag auftraten und auf soziale, nicht aber international-humanitäre Maßnahmen spezialisiert waren, und dem Milieu der lokalen Vereinigungen, das ihnen wegen ihrer Unterordnung unter den öffentlichen Auftraggeber mit Skepsis begegnete.

Neue transnationale Solidaritäten: Die accidental activists Die neuen Akteure der Flüchtlingshilfe, die ab dem Sommer 2015 in Calais und in geringerem Maße auch in Grande-Synthe und in anderen Camps der Region einschritten, standen an der Grenze zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und Professionalität. Die sich durchsetzenden neuen transnationalen Solidaritäten waren ein gesellschaftliches Phänomen. Seit dem No Border-Camp von 2009 waren Freiwillige aus verschiedenen europäischen Ländern gekommen, um die Migrant_innen von Calais zu unterstützen. Aber 2015 nahm das Phänomen ein beispielloses Ausmaß an: Freiwillige aus Belgien, Deutschland, Irland und insbesondere Großbritannien strömten in Mas-

14

Mathilde Pette, »S’engager pour les étrangers : Les associations et les militants de la cause des étrangers dans le Nord de la France,« (Lille, univ., thèse de doctorat en sociologie, 2012), sowie »Calais : Les associations dans l’impasse humanitaire?«, Plein Droit, 1 (2015), n° 104.

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sen in die Region. Im Vereinigten Königreich engagierten sich Tausende für die Migrant_innen in Calais, die meisten in ad hoc konstituierten Organisationen oder gar ohne irgendeiner formellen Struktur anzugehören. Das war der Fall bei den Gründerinnen von Help Refugees. Die drei Frauen, die im Veranstaltungsbusiness arbeiteten, fanden sich plötzlich an der Spitze einer großen Flüchtlingsorganisation wieder, nachdem sie einen von einer Bekanntschaft lancierten Spendenaufruf für das Camp weitergeleitet hatten. Dank ihres Netzwerkes gingen viele Spenden ein und sie übernahmen die Aufgabe, diese zu verteilen. Nachdem sie jedoch im September 2015 das Camp besucht hatten, beschlossen sie, eine echte Unterstützungsorganisation aufzubauen und vor Ort zu bleiben. Sie gründeten den Verein Help Refugees und verbanden sich mit der Auberge des Migrants, die ein Lagerhaus angemietet hatte. Ihr freiwilliges Engagement wurde zu einem Vollzeitjob und der Verein stellt mittlerweile Projekte in ganz Europa auf die Beine. Diese transnationale Mobilisierung für Calais folgte der durch die massive Zunahme der Mittelmeerüberquerungen über Griechenland ausgelösten umfangreichen Berichterstattung über die »Flüchtlingskrise« in den europäischen Medien im Jahr 2015. Zwar führten die nationalistischen und ausländerfeindlichen Reaktionen zur Schließung der Grenzen vieler europäischer Länder. Im Widerstand dagegen stellten zivilgesellschaftliche Solidaritätsbewegungen ihren Einsatz für eine aufnahmefreundliche Politik unter Beweis. Während des Sommers 2015 war die englisch-französische Grenze Objekt einer besonders intensiven Berichterstattung, als sich die Fälle unbefugten Eindringens auf das Gelände des Eurotunnels vervielfachten und die Migrant_innen beim Versuch, England auf dem unterseeischen Schienenweg zu erreichen, schwere und manchmal tödliche Unfälle erlitten. Die britischen politischen Entschlossenheitsbekundungen in Bezug auf die Grenzkontrolle wurden von Bürger_innenbewegungen angeprangert, z.B. bei der FolkestoneDemonstration im August 2015. Vor allem löste die Fotografie des kleinen Aylan, des ertrunkenen syrischen Kindes, das am 3. September 2015 an einem türkischen Strand angetrieben und dessen Bild in der britischen Presse verbreitet worden war, eine Welle von Emotionen und eine große Solidaritätsbewegung aus. Die Mobilisierung betraf in erster Linie den geographisch näher an Calais gelegenen Süden Englands. Aber auch die Region von London und andere Landesteile (Birmingham, Glasgow, Manchester und andere Städte) stellten

Der Jungle der Solidaritäten

große Kontingente an Freiwilligen auf.15 Letztere wurden über soziale Netzwerke wie Facebook und Internetplattformen wie Calaid-pedia16 , auf der alle Sammelstellen und Konvois für die Bereitstellung von Hilfsgütern für Migrant_innen aufgeführt waren, oder durch andere häufig genannte Webseiten wie People to People Solidarity organisiert, um ihre Unabhängigkeit von bestehenden Strukturen zu demonstrieren. Die meisten in Calais ankommenden Freiwilligen gaben an, dass sie über keine Erfahrungen oder Vorkenntnisse, weder in der humanitären Arbeit noch in irgendeinem politischen Aktivismus, verfügten. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Netzwerke zur Sensibilisierung oder Mobilisierung gegeben hätte. Neben den Kirchen spielten zivilgesellschaftliche Netzwerke wie Stand Up to Racism oder Citizen UK eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung und ihrer Mediatisierung, zumal ihre politischen Verbindungen in die Labor Party Jeremy Corbyns wichtig waren. Die Universitäten wurden zu bevorzugten Räumen für die Mobilisierung von Studierenden, die Sammlungen organisierten, aber auch an Wochenenden oder in der vorlesungsfreien Zeit gemeinsam nach Calais fuhren. Die Welt der Festivals, der Unterhaltung und Musik nahm einen eigenen Platz in den Mobilisierungsnetzwerken ein; sie machte das Flüchtlingsengagement für Jugendliche attraktiv. Die neuen Unterstützer_innen hatten ein jüngeres Profil, häufig ohne vorhergehendes politisches oder gesellschaftliches Engagement. Es waren, um eine Formulierung der Presse aufzugreifen, sozusagen »accidental activists«,17 zufällig zu Aktivist_innen gewordene Menschen, die in den Sog von Calais geraten waren. Ihr Engagement reichte manchmal bis hin zur beruflichen Umschulung, um sich voll und ganz für die Sache der Migrant_innen einzusetzen. Der Diskurs dieser Aktivist_innen politisierte sich in dem Maße, da ihre humanitäre Aktion durch staatliche Entscheidungen vereitelt wurde. Das galt besonders für die Schleifungen der Camps durch die französischen Behörden – diese Maßnahmen zerstörten alles, was die Helfer_innen mit Herzblut und Selbstaufopferung ohne irgendeine Anerkennung von Seiten eines Staates aufgebaut hatten, dessen Unzulänglichkeiten

15 16 17

Vgl. Madeleine Trepanier, »Les Britanniques à Calais : La solidarité européenne à l’échelle locale dans une ville frontière«, Multitudes, n° 64 (automne 2016), S. 82-91. Zusammenziehung der beiden Worte »Calais« und »aid«. »Accidental Activists: The British Women on the Front Line of the Refugee Crisis«, The Guardian (12.6.2016).

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sie ausgeglichen hatten. Die Politisierung ihres Diskurses beruhte außerdem auf einem geschärften Bewusstsein für die Widersprüche der britischen Politik auf internationaler Ebene und die humanitären Auswirkungen ihrer Entschlossenheit zur Grenzkontrolle, eine Position, die sich nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 zum Austritt aus der Europäischen Union weiter verschärfte. Auf diese Weise organisierten die britischen Freiwilligen die tägliche humanitäre Hilfe in Calais und zugleich den politischen Appell an die Londoner Regierung zur Aufnahme von Flüchtlingen. Die Erfahrung, mehrere Monate vor Ort in Calais zu bleiben und in das tägliche Leben des Camps einzutauchen, bewirkte bei denjenigen, die sich für diese Form der Flüchtlingshilfe entschieden hatten, biographische Umbrüche, vergleichbar etwa mit der Erfahrung der 68er-Generation oder anderen Versuchen, Alternativen zur so genannten bürgerlichen Welt zu leben. Diese biographischen Einschnitte veränderten Lebenswege, formten das Gewissen und führten zuweilen zu beruflicher Neuorientierung. Einige, die vom Verhalten der französischen Behörden enttäuscht waren oder glaubten, an anderer Stelle nützlicher zu sein, entschieden sich für eine Fortsetzung ihrer humanitären Tätigkeit in Griechenland. Vielleicht war Calais für England das, was in Frankreich der Larzac-Moment war – der am Ende erfolgreiche Widerstand gegen die Ausweitung eines Truppenübungsplatzes in den 1970er und frühen 1980er Jahren – und was in Deutschland momentan in der Auseinandersetzung um den Hambacher Forst geschieht: der Schlüsselmoment einer Generation. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag: Die transnationale Mobilisierung für die Flüchtlinge von Calais stellt, auch auf Grund ihrer Dimension, einen wichtigen Moment für die Herausbildung eines kosmopolitischen Bewusstseins bei den vielen solidarischen Europäer_innen dar, die sowohl den Bürger_innen von Calais und ihren in der französischen Wirklichkeit verwurzelten Vereinigungen, als auch den Migrant_innen und der Welt des Jungle begegnet sind – und beides mitgestaltet haben.

Kapitel 5 Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

Während die Medien viel über die Situation in Calais berichteten, sich die Reportagen und politischen Interventionen mehrten und der Staat für die »menschenunwürdigen« Bedingungen im Jungle verurteilt wurde, verfolgte die Regierung ab dem Winter 2015/16 eine Doppelstrategie, um das Bidonville zu leeren: einerseits eine Strategie von polizeilicher Repression, verschärfter Sanktionen beim Betreten der Hafenschnellstraße, zunehmenden Verhaftungen und Überführungen vor allem in entfernt gelegene Abschiebehaftzentren (mehr als tausend Menschen wurden damals über ganz Frankreich verstreut); andererseits eine Strategie, auf einen Asylantrag in Frankreich durch den erleichterten Zugang zum Asylverfahren in Calais (ein entsprechendes Büro wurde hier im Januar 2016 eröffnet) hinzuwirken und denjenigen, die bereit waren, die in ganz Frankreich1 aus dem Boden gestampften CAO aufzusuchen, eine zeitlich befristete Unterkunft anzubieten.

»Der größte Slum Europas« In Calais konzentrierten sich im Winter 2015/16 die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung (und in der Logik) der öffentlichen Ordnung auf den Schutz der Hafenschnellstraße, die seitlich neben dem Bidonville verlief und auf der Migrant_innen, die nach England wollten, in Lastwagen zu gelangen suchten. Im Januar 2016 wurde beschlossen, einen »hundert Meter breiten Streifen«

1

Mit Ausnahme des Departements Pas-de-Calais und den Regionen Korsika und Île de France.

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neben dieser Schnellstraße von Unterkünften frei zu räumen; diese Maßnahme ist in Kapitel 2 bereits unter dem Gesichtspunkt der Raumorganisation des Jungle beschrieben worden. Doch sollte dieses »Niemandsland« auch die polizeiliche Überwachung der Hafenschnellstraße erleichtern. Entlang der Straße wurden ab April 2015 mit Klingendraht versehene Hochsicherheitszäune errichtet, die nach einer Erweiterung im Herbst 2016 eine Länge von drei Kilometern erreichten und später durch eine vier Meter hohe Betonmauer noch einmal um einen Kilometer ausgedehnt wurden; allerdings war die Mauer erst im Dezember 2016 nach der Zerstörung des Bidonvilles fertiggestellt. Im Zusammenhang mit der Eröffnung des Containerlagers für 1500 Menschen ordnete die Präfektur im Februar 2016 an, den südlichen Teil des Bidonvilles zu zerschlagen. Dieser Teil des Bidonvilles stand auf einem Grundstück im Besitz der Stadt Calais. Vor dem Hintergrund zunehmender Unzufriedenheit und Demonstrationen in der Innenstadt, die von der Hafenverwaltung, den Polizeigewerkschaften und örtlichen rechtsextremen Gruppen getragen wurden, und wiederholter Auftritte landesweit aktiver fremdenfeindlicher Bewegungen im Gebiet von Calais forderte die Stadtspitze mit Nachdruck dessen Räumung. Die Räumung der südlichen Zone fand Anfang März statt. Sie bedeutete aber keineswegs das Ende des Jungle, der im Frühjahr 2016 einen starken Bevölkerungsanstieg verzeichnete, um am Ende des Sommers mit 10 000 Bewohner_innen den Höhepunkt zu erreichen, wodurch auch das politische und mediale Interesse für Calais weiter zunahm. Als die internationale Presse den Jungle als »das größte Bidonville Europas« oder »den größten Slum Europas« beschrieb, war der Scheitelpunkt erreicht und die Stimmung kippte. Da die Sicherheitsmaßnahmen am Tunnel und im Fährhafen die Überfahrt nach England erschwert hatten, kam es immer häufiger zu Versuchen, den Verkehr auf der Hafenschnellstraße durch douggars zu blockieren, wodurch auch die Zahl schwerer Unfälle stieg.2 Angesichts des Drucks der Transport2

S. hierzu Abbildung 4 auf S. 85 mit einer Darstellung der geographischen Verteilung von 197 dokumentierten Todesfällen zwischen August 1999 und Mai 2017 im französisch-britischen Grenzgebiet. Zwischen 2015 und 2017 fanden mehr als 40 Exilierte an dieser Grenze den Tod, meist auf der Hafenschnellstraße, auf anderen Autobahnen oder am/im Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal. Zu diesen Todesfällen s.a. Babels, Mort aux frontières de l’Europe (wie Anm. 4, S. 38) sowie in der Vorbemerkung zur vorliegenden deutschen Übersetzung dieses Buches die Darstellung der jüngeren Entwicklung.

Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

unternehmen, der Stadt Calais und der Oppositionsparteien, die die Situation im Wahlkampf ausschlachteten, kündigte die Regierung die endgültige Räumung des Camps zum Jahresende an. Diese Ankündigungen erfolgten jedoch unzusammenhängend und unsystematisch, worin sich die Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen staatlichen Verwaltungsstellen widerspiegelten. Auf lokaler Ebene scheint es die Linie der Präfektur gewesen zu sein, erst zusammen mit den Vereinigungen Lösungen zu finden, um nicht die Fehler bei der Räumung des Südteils im Februar und März zu wiederholen, als das gewaltsame Vorgehen der Staatsorgane die Schlagzeilen der Zeitungen bestimmt hatte. Seit dem Frühjahr hatte es regelmäßig Abstimmungsgespräche gegeben, bei denen die an diesem Dialog beteiligten Vereinigungen von den Behörden die Zusage erhielten, dass für alle Migrant_innen geeignete Lösungen gefunden würden. Zugestanden wurden im Einzelnen: eine Unterbringung, die nicht von der Einreichung eines Asylantrags für Frankreich abhängig sein sollte; eine Befreiung vom »Dublin-Verfahren«3 für diejenigen, die einen Asylantrag in Frankreich stellen wollten, aber ihre Fingerabdrücke bereits in einem anderen Land hinterlassen hatten; und die besondere Berücksichtigung der Situation unbegleiteter Minderjähriger, für die vor Ort eine Unterkunft eingerichtet werden sollte.4 Am 29. August 2016 kündigten die Transportunternehmen sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände eine Demonstration für den 5. September an, bei der die sofortige Auflösung des Bidonvilles, das sie für ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich machten, gefordert werden sollte. In Erwartung einer groß angelegten Mobilisierung kam der Innenminister nach Calais, um mit den Organisator_innen der Demonstration und der Stadtverwaltung zu verhandeln. Anlässlich dieses Treffens kündigte er am 2. September die baldige Räumung an, ohne sich jedoch entgegen der Forderung der Organisator_innen auf einen Termin festlegen zu wollen. Die Demonstration selbst fand am 5. September statt, aber die Bewegung war 3

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Anm. d. Übs.: In diesem Kontext geht es um die Bestimmungen über die Zuständigkeit für das Asylverfahren. Diese führen faktisch zu Abschiebungen innerhalb der EU, wenn ein_e Schutzsuchende_r bei der Einreise in die EU bereits in einem anderen Staat registriert worden ist, der dann für das weitere Verfahren zuständig ist. Für die Migrant_innen in Calais und Nordfrankreich bargen die Dublin-Regeln meist die Gefahr einer Abschiebung nach Italien. Das Amina genannte Projekt einer Aufnahmeeinrichtung mit 72 Plätzen für Minderjährige war im Spätsommer genehmigt worden.

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weniger kämpferisch als angekündigt und die Gewerkschaftsführung der CGT distanzierte sich von ihrer örtlichen Hafenarbeitergewerkschaft und von deren migrantenfeindlichen Programm. Die rechte Tageszeitung Le Figaro bestätigte daraufhin den baldigen Beginn der Räumung und legte den Plan des Innenministeriums zur Schaffung von Unterkunftsplätzen in ganz Frankreich offen;5 die Zerschlagung des Jungle selbst wurde als eine Operation zur »humanitären Unterbringung« vorgestellt. Dieses Vorhaben wurde von einigen der wichtigsten vor Ort tätigen Vereinigungen unterstützt, die nun zu interministeriellen Treffen eingeladen wurden und bei den wöchentlichen Abstimmungsgesprächen mit der Präfektur forderten, dass für jede einzelne Person eine individuelle Sozialdiagnose erstellt werden müsse. Diejenigen, die konkrete Unterstützung für die Bewohner_innen des Bidonvilles leisteten, waren jedoch gespalten, wie sie sich hinsichtlich der Ankündigungen der Regierung verhalten sollten. Ein Teil der Vereinigungen hießen das Unterbringungsprojekt gut, da es die Bereitstellung von Wohnraum für alle Bewohner_innen ohne jegliche Vorbedingung versprach, und sie glaubten bei dieser Gelegenheit, günstige Bedingungen für das Asylverfahren aushandeln zu können. Andere misstrauten einer Polizeioperation, die in erster Linie den »Rauswurf« der Migrant_innen zum Ziel haben würde. Eine Demonstration zur Unterstützung für Migrant_innen und gegen die Zerstörung des Bidonvilles war für den 1. Oktober 2016 angesetzt, wurde aber von den Behörden verboten. Die Zeit schritt voran und die Lage in Calais wurde für die Regierung im beginnenden Wahlkampf immer mehr zum politischen Risiko. Auf die Ankündigung, die Migrant_innen aus Calais auf Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilen zu wollen, gab es heftige Gegenreaktionen; unter anderem schloss sich unter dem Motto »Meine Gemeinde ohne Migranten« eine Koalition aus Bürgermeister_innen zusammen.6 Der Kandidat der Rechten für die Vorwahlen, der frühere Präsident Nicolas Sarkozy, fuhr am 21. September 2016 nach Calais. Er kritisierte die Untätigkeit der Behörden und ver5 6

Im Figaro wurde die Zahl von 12 000 Plätzen genannt; am Ende wurden rund 7500 Plätze geöffnet. Dies war der Name des von Steeve Briois, dem Bürgermeister des Front National (heute Rassemblement National) von Henin-Beaumont, am 16. September 2016 gegründeten Vereins. Am 14. September schlug der Regionspräsident von Rhône-Auvergne Laurent Wauquiez von der wichtigsten rechten Partei Les Républicains vor, »die Bürgermeister bei ihren Widerstandsaktionen [gegen den Regierungsplan der Verteilung von Migranten aus Calais in über ganz Frankreich verteilte Zentren] zu begleiten«.

Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

sprach, den Jungle vor Sommer 2017 demontieren zu wollen, wenn er wieder gewählt würde. Am 25. September überbot der amtierende Präsident François Hollande seinen Konkurrenten Sarkozy und kündigte die Räumung vor Ende 2016 an. Er ließ verlauten, dass dies nicht nur das Bidonville, sondern auch die beiden staatlichen Unterbringungseinrichtungen betreffen würde, das Zentrum Jules-Ferry und das Containerlager CAP. Diese Ankündigung überrumpelte die lokalen Akteur_innen, vor allem als sich Gerüchte über den Zeitplan der Operationen verbreiteten: Diese seien schon für Mitte Oktober geplant, was keine Zeit für die von den Vereinigungen geforderte Sozialdiagnose lassen würde. Die Vereinigungen waren sich zuerst nicht sicher, wie sie auf die Ankündigung Hollandes reagieren sollten. Doch schließlich kündigten die meisten auch derjenigen Vereinigungen, die ursprünglich das Unterbringungsprojekt unterstützt hatten, den Dialog auf und leiteten rechtliche Schritte gegen den Staat ein. Während die Vorbereitungen für die Räumung bereits in vollem Gange waren, prüfte das zuständige Gericht von Lille den Antrag auf einstweilige Verfügung und wies ihn zurück. Es war der Auffassung, dass die geplante Unterbringungsoperation nicht die Grundrechte der Migrant_innen verletze, sondern im Gegenteil dazu bestimmt sei, ihnen eine würdigere Unterkunft zu ermöglichen, die ihnen auch die Vereinigungen nicht bieten könnten. Diese Niederlage ließ die Vereinigungen gespalten und – angesichts der bevorstehenden Räumung und des Verbotes jeder Form von Demonstrationen – ziemlich machtlos zurück. Da die Behörden Widerstand gegen die Evakuierung befürchteten, wurde beschlossen, den Zugang zum Gelände während der Räumungsoperation an eine vorherige Autorisierung zu knüpfen. Auf der Grundlage des in Frankreich seit den terroristischen Anschlägen vom 13. November 2015 geltenden Ausnahmezustands wurde eine »Schutzzone« erklärt. Ziel war es, gewalttätige Aktivist_innen fernzuhalten, die als »Ultralinke«, »No Border« oder »Zadistes« bezeichnet wurden.7 Die Mitarbeiter_innen der Vereinigungen mussten vor der Räumungsoperation eine Ausweiskarte beantragen; denjenigen, die das Verfahren ablehnten oder nicht rechtzeitig darüber informiert waren, 7

Das entsprechende Dekret nannte »ultralinke ›No Border‹-Aktivisten«, während die lokale Presse (Nord Littoral, 20.10.2016) die Angst vor »zadistischen« Aktivist_innen schürte, die angeblich Besetzungen gegen den Polizeieinsatz durchführen wollten, wie es im Gebiet von Notre-Dame-des-Landes in Westfrankreich geschehen war. Dort hatte die Mobilisierung seit 2009 den Bau eines Flughafens unterbrochen. Die Bezeichnung zadiste entstammt diesem Kontext; sie leitet sich vom Akronym ZAD für »zone à défendre« ab (Gebiet, das verteidigt werden muss).

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wurde der Zugang verwehrt. Diese Maßnahme verstärkte die Verwirrung und Uneinigkeit unter den Vereinigungen noch mehr, weil die einen sich bereit erklärten, durch die Betreuung der Warteschlangen während der Räumungsaktion, durch die Begleitung der Migrant_innen zu den Bussen, die sie in die CAO bringen sollten, oder durch die Fürsorge für die Minderjährigen an der Durchführung der Operation mitwirken zu wollen. Andere Vereinigungen missbilligten die Räumung und kündigten an, sich zu widersetzen. Unter den Bewohner_innen des Jungle verbreitete sich am Vorabend der Räumung ein Gefühl allgemeiner Resignation. Die Besorgnis war greifbar und es herrschte eine Ahnung von Hilflosigkeit. Im Gegensatz zu den Mobilisierungen vom Februar gegen die Zerstörung der südlichen Zone war von Widerstand gegen die Entscheidung der Regierung nichts zu spüren. Die Behörden hatten sich der Zusammenarbeit der Gemeinschaftsvermittler_innen versichert, die in ihren Gruppen zu Ruhe und Kooperation aufriefen. Diese Aufrufe wurden namentlich in den Moscheen des Jungle kundgetan und fielen auf umso fruchtbareren Boden, als den Minderjährigen die Möglichkeit einer beschleunigten Überführung nach Großbritannien in Aussicht gestellt wurde. Die wiederholten Ankündigungen zur Zerschlagung des Jungle und die in den vorausgehenden Wochen durchgeführten Kontrollen in den Bahnhöfen an den Zugstrecken nach Calais ließen seine Bevölkerungszahl deutlich sinken. Die von Help Refugees und Auberge des Migrants regelmäßig durchgeführten Volkszählungen kamen im September 2016 noch auf 10 188 Bewohner_innen; im Oktober waren es nur noch 8143. Mehr als 2000 Menschen hatten Calais also schon verlassen, andere wurden von der Aussicht auf die Zerstörung des Bidonvilles und von der Furcht vor Gewalt und Verhaftungen abgeschreckt. Dagegen stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen von 1022 auf 1291. Schließlich wurden 1900 junge Menschen in die Centres d’Accueil et d’Orientation pour Mineurs isolés (CAOMI, Aufnahmeund Beratungsstellen für unbegleitete Minderjährige – eine Sonderform der CAO) gebracht. Dazu müssen wir die 200 Minderjährigen hinzuzählen, die vor Beginn der Räumung in das Vereinigte Königreich überführt worden waren. Im März 2016 hatten François Hollande und David Cameron auf dem Amiens-Gipfel bekanntgegeben, dass unbegleitete Minderjährige mit Familie in Großbritannien schnell und legal in das Vereinigte Königreich einreisen könnten. Tatsächlich dauerten die verspätet umgesetzten Verfahren aber mehrere Monate und führten zu etwa 700 Transfers (davon, wie oben er-

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wähnt, 200 unmittelbar vor der Räumung, während die übrigen in die CAOMI gebracht wurden). Eine Novelle des britischen Einwanderungsgesetzes vom Mai 2016, das so genannte Dubs-Amendment8 , sah die Möglichkeit vor, unbegleitete Minderjährige aus Flüchtlingscamps allein aus humanitären Gründen nach Großbritannien zu holen, auch wenn sie dort nicht von ihrer Familie aufgenommen würden. Diese auf Druck britischer Vereinigungen wie Citizen UK durchgesetzte Bestimmung blieb aber im Sommer 2016 noch unwirksam. Als die britischen Behörden in der Woche vor der Räumung den Transfer von 200 jungen Menschen erlaubten, weckte diese überstürzte Aktion die Hoffnungen vieler Menschen, zumal die Auswahlkriterien vage blieben. Tatsächlich wurden etwa 60 Mädchen und Frauen auf Grund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit, jedoch ohne Überprüfung ihrer Minderjährigkeit, nach Großbritannien überführt. Dies hatte zur Folge, dass Frauen aus anderen Camps nach Calais drängten, um ebenfalls von einer solchen Überstellung zu profitieren. Um einen solchen Mitnahmeeffekt zu vermeiden, beschlossen die Behörden, die Räumung des Jungle und die »humanitäre Unterbringung« seiner Bewohner_innen ab Montag, dem 24. Oktober, in nur drei Tagen durchzuziehen.

Eine spektakuläre »Unterbringungs«-Operation Ein wichtiger Bestandteil der Räumungsoperation war ihre, im wahrsten Wortsinne, spektakuläre Dimension, da die Organisator_innen mit ihr ein öffentliches Spektakel inszenierten. Die Präfektur richtete einen umfassenden Kommunikationsapparat ein, verbreitete Pressekommuniqués und lud Journalist_innen zu Pressekonferenzen ein. Vor der Räumung sollten diese Kommunikationsmaßnahmen den humanitären Charakter der Maßnahme betonen. So wurde der Presse neben dem Transfer von 200 Minderjährigen nach Großbritannien auch der Umzug von 80 Migrant_innen von Calais nach Lille als Beleg des Engagements der Regierung für deren Integration vorgestellt: Migrant_innen wurden an der Universität willkommen geheißen,

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Es handelt sich um Abschnitt 67 des Immigration Act 2016. Die Gesetzesänderung wurde nach Lord Alf Dubs benannt, einem Abgeordneten, der die Novelle unterstützte. Dubs war zusammen mit anderen jüdischen Kindern am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im Rahmen des britischen Kindertransportprogramms von Nicolas Winton aus Prag vor den Nazis gerettet worden.

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Abb. 22: Der Jungle von Calais am 25. Oktober 2016, am zweiten Tag der Räumung: Warten auf die Abfahrt zu den Aufnahme- und Orientierungszentren.

Foto: Sara Prestianni

wo sie ihr Studium fortsetzen konnten! Als der Innenminister am 20. Oktober die Universität von Lille besuchte, präsentierte er dieses Programm, das nicht vom französischen Staat, sondern von den örtlichen Vereinigungen aufgebaut worden war, als seine Initiative. Während der Räumungsoperation wurde für die rund 700 akkreditierten Journalist_innen und Medientechniker_innen ein »Empfangszentrum« eingerichtet und Führungen durch das logistische System der Operation organisiert. Anderen Journalist_innen hingegen wurde die Akkreditierung verweigert, vier (darunter drei aus Großbritannien) wurden sogar in Polizeigewahrsam genommen. Die Schleifung des Jungle war ein allgemein mit Spannung erwartetes Ereignis, das weltweit große Medienaufmerksamkeit erregte. Am Ende wurde es zu einer regelrechten Räumungsshow. Auf der Pressekonferenz am Vortag der Räumung, am 23. Oktober 2016, kündigte die Präfektin an, dass es in wenigen Tagen das »camp de la lande nicht mehr geben wird, dafür jedoch

Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

eine würdige Lösung für jeden dieser Menschen, die morgen sich wieder ihre Zukunft werden vorstellen können«. Die außergewöhnliche Operation zur Bevölkerungsverschiebung erforderte einen hohen logistischen Aufwand, was sich auch daran zeigte, dass sie von Kräften der Zivilen Sicherheit und deren Katastrophenzentrum unterstützt wurde. Zusätzlich waren Feuerwehrleute sowie 1200 Verstärkungskräfte aus Polizei und Gendarmerie mobilisiert. Die Präfektur beschlagnahmte eine Halle in Reichweite des Bidonvilles, die als »Schleuse« bezeichnet wurde. Sie sollte zugleich als »Busbahnhof« dienen, wo die Menschen in Busse mit unterschiedlichen Zielen gesetzt werden würden. Drei Warteschlangen waren beabsichtigt: eine für erwachsene Männer, eine für Minderjährige und eine für schutzbedürftige Menschen einschließlich der Frauen, Familien, Kranken und älteren Menschen. In der Halle sollten Beamt_innen des Office français de l’Immigration et de l’Intégration (OFII, französisches Amt für Einwanderung und Integration) und der Zivilen Sicherheit die Personen empfangen und ihnen ein dem vorgesehenen Bestimmungsort entsprechendes farbiges Armband anlegen. Diese Organisation sollte zeigen, dass auf sämtliche Individualsituationen eingegangen würde. Doch genau dieses Vorgehen – namentlich die Behandlung der auf eine Überführung nach England hoffenden Minderjährigen – wird später am heftigsten kritisiert werden. Auf kommunikativer Ebene war die Bilanz der Operation jedoch positiv, da die Medien in den ersten Tagen zumindest das heitere Lächeln der Kandidat_innen für die Abreise in die Aufnahme- und Orientierungszentren (CAO) zeigen konnten. Die Dimension der humanitären Evakuierung dominierte die Kommentare. Um die fünfzig Busse verließen Calais in Richtung der CAO, ungefähr ein Bus jede Viertelstunde, und die Länge der Warteschlange vor der Halle schien den Erfolg der Maßnahme zu bestätigen. Wenngleich die Zahl der eingesetzten Polizeikräfte hoch war, wurde ihre Anwesenheit bei der Unterbringungsoperation beschönigt: Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Tagen und zur alltäglichen Überwachung rund um das Bidonville hielt sich die Polizei jetzt eher zurück. Es waren die Vereinigungen, darunter Salam, Auberge des Migrants, Secours catholique und Care4Calais, die die Warteschlangen betreuten und die Menschen begleiteten. Das Fernsehen wurde dazu bewegt, die Kameras auf den Beginn der Räumung zu richten. Offiziell gab es am Anfang keine Zusammenstöße, obwohl die Menschen unter Zwang evakuiert wurden und bereits am Dienstag, dem Tag vor dem Beginn der Abrissarbeiten, Zeug_innen über einen großflächigen und vollkommen unverhältnismäßigen Einsatz von Reizgas durch die Polizei be-

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richteten. Zugegebenermaßen erregten in den folgenden Tagen die Brände erheblich mehr Aufmerksamkeit: Sie waren eindrucksvoll und fotogen und boten das faszinierende Schauspiel von Gewalttätigkeit. Solche Aufnahmen hätten die offizielle Darstellung einer auf Freiwilligkeit beruhenden humanitären und ohne den Einsatz von Zwang auskommenden Operation untergraben können. Doch scheint sich die offizielle Lesart durchgesetzt zu haben, der zufolge die Operation, wie die Präfektin am Ende des dritten Einsatztages verkündete, ein Erfolg gewesen sei, alle Migrant_innen aus dem »camp de la lande« untergebracht worden seien; die Brände tat sie als einen Abreise»Brauch« (sic!) aus der Heimatkultur der Migrant_innen ab. Die massive Medienpräsenz kam dem doppelten Plan der Regierung entgegen, sowohl ihre Durchsetzungsfähigkeit als auch ihre Menschlichkeit unter Beweis zu stellen. Am Rande des Geschehens kamen aber auch nichtoffiziellen Stimmen die Aufmerksamkeit der Medien zustatten, um das öffentliche Interesse auf ihre Sache zu lenken. Dies war zum Beispiel der Fall bei Frauen, die für ihre Aufnahme in Großbritannien demonstrierten, oder bei der in Äthiopien verfolgten Ethnie der Oromo, die eine Kundgebung organisierte, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Die Migrant_innen waren eine begehrte Beute der Medien. Hunderte von Fotoobjektiven waren auf sie in Anschlag gebracht und einige nutzten die Gunst der Stunde, indem sie ihre Lebensbedingungen und ihre Forderungen bekannt machten. In dem großen Spektakel der humanitären Aktion waren diese Stimmen, wie auch die der Vereinigungen, allerdings kaum zu vernehmen. Schon bald klagten die Vereinigungen schwerwiegende Missstände an. Vom ersten Tag an gab es Zwischenfälle in den schlecht organisierten Warteschlangen. Die Menschen waren unzureichend informiert und die Unterbrechung des Dialogs mit den Vereinigungen, die mit der individuellen Situation vertraut waren, verhinderte eine angemessene Orientierung. Besonders problematisch war dies für die Minderjährigen oder diejenigen – es waren einige hundert –, die sich als minderjährig ausgaben und in die Schlange für Minderjährige drängten, um ihre Situation von den anwesenden Beamt_innen des Home Office, des britischen Innenministeriums, klären zu lassen. Nach einigen Zwischenfällen, bei denen die Polizei versucht hatte, die jungen Menschen mit Schlagstöcken zu disziplinieren, übergaben die Sicherheitskräfte die Aufsicht über die Warteschlange an die Vereinigungen. In der Woche vor der Räumung hatte die britische Regierung Beamt_innen nach Calais entsandt, um auf der Grundlage der Dublin-Verordnung (und zwar der darin enthaltenen Regelungen zur Zusammenführung von Minder-

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jährigen mit ihren – in diesem Fall – in Großbritannien lebenden Familienangehörigen)9 oder des Dubs-Amendments (anhand spezieller Kriterien der Schutzbedürftigkeit auf Grundlage von Alter, Nationalität oder Ausbeutungsrisiko) die Anträge für einen Transfer nach Großbritannien zu bearbeiten. Dies geschah allerdings in aller Eile. Durch Lautsprecheransagen im Bidonville wurden die Kinder und Jugendlichen aufgefordert, sich zum Containerlager zu begeben: Es gab Gedränge; der UNHCR bot die Hilfe seiner Übersetzer_innen an; die Vereinigungen halfen den Jugendlichen bei der Vorbereitung auf die Fragen, die man ihnen stellen würde, um ihr Dossier zu vervollständigen; die Gemeinschaftsvermittler_innen klagten über Ungleichbehandlung. Allgemein wuchs die Anspannung. Während der Räumung selbst wurde die Überprüfung der Dossiers dann ausgesetzt: Vorgesehen war, alle Minderjährigen vor Ort im Containerlager zu belassen und ihre Situation erst in den Tagen nach der Räumung zu überprüfen. Der Ansturm von so vielen Menschen auf die Warteschlange der Minderjährigen führte zu Übergriffen. Daher beschloss man, im Vorfeld diejenigen, die minderjährig »aussehen«, von denen zu trennen, die erwachsen »aussehen«. Vorgenommen wurde die Selektion am Eingang der Halle von nationalen Vertreter_innen von France Terre d’Asile, wofür die Organisation heftig kritisiert wurde. Denn grundsätzlich muss jede Person, die sich für minderjährig erklärt, in einem offiziellen Verfahren angehört werden, weil in großer Eile getroffene Entscheidungen nicht die angemessene Bewertung der individuellen Situation zulassen. 9

Anm. d. Übs.: Kernpunkt der EU-Verordnung Nr. 604/2013 (Dublin-Verordnung) ist die Regelung der Zuständigkeit der Staaten für Asylverfahren. Im Regelfall gilt derjenige Staat als zuständig, in dem die Erstregistrierung stattgefunden hat. Allerdings lässt die Verordnung auch Abweichungen von dieser Zuständigkeitsregelung zu. In unserem Zusammenhang greift Artikel 16. Dieser bestätigt die uneingeschränkte Geltung des »Grundsatzes der Einheit der Familie und des Wohls des Kindes« und legen u.a. fest: »Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Familienangehörigen oder Verwandten in einem anderen Mitgliedstaat hat, der für ihn sorgen kann, so sollte dieser Umstand ebenfalls als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium gelten.« Art. 17 erlaubt den Staaten weitergehend, »aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen [zu] können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind.«

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Diejenigen, die als minderjährig galten, wurden im Containerlager inmitten des Jungle untergebracht und warteten darauf, ob Großbritannien ihrer Überstellung zustimmen würde. Diese Notlösung verstieß wiederum gegen die Auflagen des Jugendschutzes. In dem Provisorium war die professionelle Betreuung der Minderjährigen völlig unzureichend. Die Ungewissheit über eine mögliche Überführung nach Großbritannien und das Fehlen jeglicher Kommunikation von Seiten der Home-Office-Beamt_innen verschlimmerten noch die Ängste und die Gewalt; es gab schwere Zwischenfälle. Etwa 200 junge Menschen, die von sich behaupteten, minderjährig zu sein, erhielten keinen Zugang zum Containerlager und mussten in den Überresten der wichtigsten Schule des Bidonvilles (nach deren Abriss in der Kirche) schlafen, wo sie von Freiwilligen aus den Vereinigungen begleitet wurden. Während sich Letztere bemühten, die Aufmerksamkeit der Medien auf diese Situation zu lenken, ließ die Präfektur verlautbaren, dass die humanitäre Operation abgeschlossen sei und alle Bewohner_innen des Bidonvilles untergebracht seien. Auf der Grundlage einer vor der Räumung von France Terre d’Asile durchgeführten Zählung, bei der 1291 unbegleitete Minderjährige festgestellt worden waren, gingen die Behörden davon aus, dass nach der Unterbringung von mehr als 1500 Minderjährigen im CAP und der Überstellung von mehr als 200 nach Großbritannien diejenigen, die übriggeblieben waren, nicht mehr in ihrer Verantwortung lägen. Ihre Anwesenheit im Jungle resultiere vielmehr aus einer »Sogwirkung«, die durch die Möglichkeit einer legalen Überfahrt nach Großbritannien entstanden sei. Unter den Erwachsenen hatten sich einige geweigert, in die Busse zu den CAO zu steigen, entweder weil sie weiter versuchen wollten, nach Großbritannien zu gelangen, oder weil sie befürchteten, dass die für ihren Bestimmungsort zuständige Präfektur die Dublin-Verordnung – namentlich die Regelungen hinsichtlich einer Abschiebung in den Staat der Erstregistrierung – streng auslegen würde.10 Was sie betraf, so gaben die Behörden bekannt, dass man sie einer »Kontrolle ihrer administrativen Situation« unterziehen und auf die Mittel von Inhaftierung und Ausweisung zurückgreifen würde, d.h. sie zur Rückkehr in ihr Herkunftsland oder in das europäische Land zwingen

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Viele Asylsuchende haben ihre Fingerabdrücke in einem anderen EU-Land hinterlassen, welches dann gemäß der Dublin-Verordnung im Regelfall für die Prüfung ihrer Asylanträge verantwortlich ist. Es lag jedoch im Ermessen der Präfekturen, ob sie die Dublin-Verordnung zur Anwendung brachten oder ignorierten.

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würde, in dem sie ihre Fingerabdrücke hinterlassen hatten. Tatsächlich nahmen Gesichtskontrollen und Verhaftungen nun zu. Es gab so viele Einweisungen in Abschiebehaftzentren, dass das von Coquelles bald niemanden mehr annehmen konnte und Busse angemietet werden mussten, um Überstellungen in andere Abschiebehaftanstalten in Vincennes, Mesnil-Amelot, Straßburg oder Lyon vorzunehmen. Die Zerstörung des Bidonvilles war in der ersten Novemberwoche abgeschlossen. Auf dem Gelände verblieben noch die mehr als 1500 im Containerlager untergebrachten unbegleiteten Minderjährigen sowie die mehr als 400 Frauen und Kinder im Zentrum Jules-Ferry. Während die britischen Behörden beschlossen, die Prüfung der Dossiers in Calais auszusetzen und sich die Zwischenfälle unter den beunruhigten Jugendlichen häuften, waren sämtliche Strukturen zur Unterbringung auf dem Gelände des Bidonvilles leer. Am 2. November wurden alle noch im Containerlager oder nach dem Abriss der Schule in der Kirche ausharrenden jungen Leute in Begleitung von Beamt_innen des britischen Home Office ins CAOMI gebracht. Am nächsten Tag wurden die Frauen- und Kinderunterkünfte des Zentrums Jules-Ferry geräumt. Mit der Schließung dieser letzten beiden Aufnahmeorte war die Gesamtheit der Migrant_innen dieses Ortes über ganz Frankreich verstreut.

Die Zerstreuung Die CAO, in die man die Migrant_innen aus Calais überführt hatte, stellten Sondereinrichtungen dar. Sie waren weder reguläre Notunterkünfte, noch Asylbewerberheime. Vielmehr waren sie Ausdruck der sukzessiven Zunahme von Entscheidungen im »Krisen«-Modus. Im Zuge dieses Experimentierens war das System der CAO seit Oktober 2015 mit dem Ziel geschaffen worden, den Jungle von Calais zu räumen und eine Unterbringungsmöglichkeit anzubieten, die nicht an die Einreichung eines Asylantrags geknüpft war, letzteres aber fördern sollte, indem es den Migrant_innen eine Atempause auf ihrem Migrationsweg verschaffte. Nach einem schwierigen Start auf Grund der großen räumlichen Distanzen war den CAO ein gewisser Erfolg beschieden, da sie Asylbewerber_innen nach Calais lockten, die an anderen Orten Opfer der chronischen Überlastung des Unterbringungssystems geworden waren.11 11

Das französische Unterbringungssystem galt seit jeher als unterdimensioniert und daher notwendigerweise als überlastet. Dies betraf besonders die Centres d’Accueil pour

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Um das Bidonville, wie kurzfristig entschieden worden war, im Oktober 2016 endgültig schließen zu können, wurde im Oktober 2016 beschlossen, dieses System ad hoc zu erweitern: In mehr als 210 CAO mit einer Kapazität von jeweils durchschnittlich 50 Plätzen wurden mehr als 7500 Plätze mobilisiert, die mit Ausnahme des Departements Pas-de-Calais und der Regionen Korsika und Île-de-France über das gesamte französische Staatsgebiet verteilt waren. Dabei arbeiteten das Innen- und das Wohnungsbauministerium zusammen, um auf die Schnelle die notwendigen Plätze bereitzustellen. Die staatlichen Dienste wurden über die Regionspräfekten aktiviert, die jeweils 800 bis 1000 freie Plätze erfassen mussten: aufgegebene Kasernen, im Bau befindliche Altenheime, Ferienzentren usw. Die Betreiber von Asyleinrichtungen oder von Sozialwohnungen wurden für die Verwaltung dieser Orte mit einem Budget von 25 Euro pro Tag und Person ausgestattet. Die im August 2016 beschlossenen Richtlinien der CAO legten die allgemeinen Regeln zur Begleitung und Unterstützung fest. Trotzdem fielen die Einrichtungen – abhängig von ihrer Lage, dem Vorhandensein lokaler Vereinigungsstrukturen, der Verfügbarkeit von Übersetzer_innen oder Anwält_innen, der Entfernung zum nächsten Stadtzentrum und der Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz – sehr unterschiedlich aus. Die Feindseligkeit der Bevölkerung mancher Regionen ließ befürchten, dass es zu Gewaltakten gegen die Migrant_innen kommen könnte und sie möglicherweise zu Geiseln xenophober Mobilisierung würden.12 Diese konnten zwar durch das Verlassen des Bidonvilles ihre materiellen Bedingungen verbessern, aber sie erhielten nicht immer das Gefühl größerer Sicherheit. Im Gegenteil entfielen für sie jetzt die zahlenmäßige Stärke und die beruhigende Präsenz der zahlreichen Unterstützungsinitiativen von Calais. In den meisten Aufnahmestädten verlief die Ankunft der Migrant_innen jedoch ruhig. Diese litten mehr unter der Isolation als unter Angriffen. Viele Gemeinden bereiteten den Empfang der Flüchtlinge vor und bewiesen damit die lokale Dynamik von Gastfreundschaft. In den verschiedenen Regionen entstanden Unterstützungsnetzwerke, die das solidarische Engagement fortführten: sie

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Demandeurs d’Asile (CADA, Aufnahmezentren für Asylbewerber_innen) mit einer Kapazität von 38 000 Plätzen für ganz Frankreich im Jahr 2016 sowie die ebenfalls vom Office français de l’Immigration et de l’Intégration (OFII, französisches Amt für Einwanderung und Integration) verwalteten zusätzlichen Notunterkünfte. Insgesamt standen laut dem OFII ungefähr 50 000 Plätze für Asylbewerber_innen zur Verfügung. Feindliche Plakatkampagne des Rathauses von Béziers, Spaltungen innerhalb der Stadt Alleix, direkte Angriffe gegen die Aufnahmestätten.

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halfen den Migrant_innen anzukommen, logistische Probleme zu lösen oder stellten sicher, dass die Behörden bei der Bearbeitung der Asylanträge ihren Verpflichtungen nachkamen.13 Bei der Räumung des Jungle stellten die französischen Behörden fest, dass ein Großteil der Bewohner_innen des Bidonvilles gar nicht vorhatte, nach Großbritannien weiterzureisen, sondern schon in Frankreich einen Asylantrag gestellt hatte und nur auf eine Unterkunft wartete. Nach Angaben des OFII befand sich fast die Hälfte der Menschen, die im Zuge der Räumung im Oktober 2016 »untergebracht« wurden, in dieser Lage. Ein Jahr später hatten 46 Prozent von ihnen in Frankreich Asyl erhalten. Eines der größten Hindernisse für die Exilierten stellte die Anwendung der Dublin-Verordnung dar, nach der das erste Land der Europäischen Union, in das sie eingereist waren, für ihren Asylantrag verantwortlich war. Auf Grund dieser Verordnung drohte vielen Menschen die Abschiebung zurück nach Italien, Ungarn oder Griechenland. Der Konzentrationseffekt von Calais und die Mobilisierung vieler Vereinigungen zwangen die Behörden, über die Nichtanwendung dieser Überstellungsregelung zu verhandeln, allerdings bestand nicht die geringste Garantie dafür, dass sie ihre diesbezüglich gegebenen mündlichen Zusagen einhalten würden. Daher waren die Migrant_innen in den CAO beunruhigt, auch weil es ihnen häufig an Informationen mangelte und sie erfahren mussten, dass Asylsuchende »im Dublin-Verfahren« von solchen »im normalen Verfahren« separiert wurden, obwohl ihnen versprochen worden war, dass alle in Frankreich Asyl beantragen dürften. Man begann nun wieder zu mobilisieren und einige traten in den Hungerstreik. Die Migrant_innen des CAO Rennes veröffentlichten über eine Gruppe von Unterstützer_innen eine Erklärung, in der sie die Zerstreuungsstrategie der Behörden anprangerten: »Die Regierung wollte die Schließung in Calais als humanitäre Aktion verkaufen. Sie haben nichts Anderes getan, als die Migrant_innen über ganz Frankreich zu zerstreuen, um ihre Situation unsichtbar zu machen und die Bearbeitung der Verfahren und Abschiebungen zu erleichtern.«14 Auf verschiedene Orte verteilt, wurden Migrant_innen in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen und hatten schlechteren Zugang zu 13

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Im April 2017 listete die Internetplattform »Sursaut Citoyen« fast 1000 lokale Solidaritätsinitiativen für Migrant_innen auf. Heute sind es über 1100 (https://sursaut-citoyen. org/, 14.6.2019). Kommuniqué vom 16.11.2016. Migrant_innen aus dem CAO in Rennes, die im Rahmen eines »Dublin-Rückübernahme«-Verfahrens die Aufforderung zur Rückkehr nach Italien erhalten hatten, beschlossen, in den Hungerstreik zu treten.

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den Medien sowie zu den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Einige CAO beschränkten außerdem den Zutritt von externen Vereinigungen und freiwilligen Helfer_innen. Das CAOMI-System für die Minderjährigen war nicht auf Dauer angelegt. Diese Zentren standen außerhalb des offiziellen Jugendschutzes. Es waren Einrichtungen, die vielmehr ad hoc und in aller Eile geschaffen worden waren – das entsprechende Rundschreiben des Justizministeriums war erst am 1. November, einen Tag vor der Überstellung der Minderjährigen an die CAOMI, veröffentlicht worden. Diese Zentren sollten die Minderjährigen beherbergen, solange die britischen Behörden ihre Situation prüften. Nach Ablauf von drei Monaten mussten unbegleitete Minderjährige in reguläre Jugendschutzeinrichtungen überstellt werden. Auf Grund mangelnder Informationen und Betreuung machten sich viele Minderjährige aus dem Staub. Aus manchen CAOMI waren schon wenige Tage nach ihrer Ankunft die Hälfte der Minderjährigen wieder verschwunden. Einen Monat nach der Räumung des Jungle stellte sich die Frage der Regularisierung dieser jungen Menschen erneut, denn am 9. Dezember 2016 gab das Home Office bekannt, alle Fälle isolierter Minderjähriger überprüft zu haben und den Transfer damit zu beenden: Insgesamt 750 Personen seien nach Großbritannien überführt worden,15 also weniger als die Hälfte der bei der Räumung des Jungle vorgefundenen Minderjährigen. Nach der Ankündigung des Transferendes brachen in den CAOMI kollektive Protestbewegungen los: Es gab Hungerstreiks, Demonstrationen u.Ä. Vor allem lassen die vielen jungen Menschen, die noch im Laufe des Winters nach Calais zurückkehrten, das Scheitern dieser Art von Betreuung ermessen. Insgesamt gab die Unterbringungspolitik dem Staat die Kontrolle über die Situation zurück, insbesondere durch die Möglichkeit der individuellen Sachbearbeitung konnte er einen Masseneffekt vermeiden, der als Hebel für kollektive Forderungen hätte dienen können. Indem die Behörden nun Fall für Fall bearbeiteten, konnte die öffentliche Gewalt die Logik ihrer Kontrolle über die Individuen wiederherstellen.16 So dürfte die Funktion der neuen

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Amelia Gentleman, Lisa O’Carroll, »Home Office Stops Transfer of Calais Child Refugees to UK«, The Guardian (6.12.2016); https://www.theguardian.com/uk-news/2016/dec/09/home-office-transfers-of-calais-child-refugees-to-uk-cease (4.1.2019). Dies ist mit den Strategien zur Beendigung der Sans-papiers-Mobilisierungen vergleichbar, die das Prinzip einer »fallweisen« Legalisierung anhand bestimmter Kriterien bevorzugten, statt globale Lösungen zu akzeptieren.

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Unterbringungsorte nicht nur darin bestanden haben, Asylsuchende aufzunehmen, sondern auch denjenigen einen lokalisierbaren Aufenthaltsort zuzuweisen, derer man sich später entledigen wollte. Nach Calais nahm der Staat alle informellen Camps ins Visier. Eine Woche nach der Schleifung des Jungle wurden 3800 Menschen aus den Pariser Camps geräumt, um ebenfalls in Notunterkünften und CAO untergebracht zu werden. Die Stadt Paris eröffnete ein Transitzentrum, um die Überführungen in die Notunterkünfte zu kanalisieren. Aus Platzmangel campierten Hunderte Menschen weiterhin wild, hielten sich aber wegen der Polizeipräsenz von Paris fern. In Calais hatten die Migrant_innen, die immer noch nach Großbritannien zu gelangen versuchten und sich nun versteckt hielten, jetzt keinen Zugang mehr zu den Diensten der humanitären Vereinigungen. Die Zerstörung des Jungle von Calais war im Namen der öffentlichen Ordnung und des humanistischen Anspruchs erfolgt, den Menschen eine würdige Unterkunft zu geben. Auch wenn diese Unterbringungsoperation in ihrem Ausmaß und ihrer Schnelligkeit beispiellos war, stellte sie jedoch keine wirkliche Aufnahmepolitik dar. Diese Aufnahmepolitik dagegen blieb unbestimmt, indem die Regierung ihr Land abwechselnd mal öffnete und mal schloss: In Zeiten der Öffnungen stieg die Zahl anerkannter Flüchtlinge17 und es wurde ein begrenztes Umsiedlungsprogramm für Flüchtlinge aus italienischen hot spots oder aus Lagern im Nahen Osten eingerichtet.18 Die Schließungen indessen zeigten sich in der Form von Sicherungs- und Repressionsmaßnahmen an den Grenzen, um den Zugang zum französischen Territorium zu verhindern oder Migrant_innen von der Durchreise abzuhalten, in der Form von Identitätskontrollen anhand von Gesicht und Hautfarbe und zwangsweiser Überführung in Abschiebehaftzentren, in der Form von juristischer Verfolgung der freiwilligen Helfer_innen und nicht zuletzt in der Form einer dras-

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2016 gingen 85 264 Asylanträge beim Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA, französisches Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen) ein, verglichen mit 80 075 im Jahr 2015. 36 233 Personen fanden 2016 Schutz, verglichen mit 26 818 im Jahr zuvor; vormals: https://www.ofpra.gouv.fr/fr/l-ofpra/actualites/ premiers-figures-de-l-asile-de-0. Frankreich verpflichtete sich im Rahmen des europäischen Rücksiedlungsplans, zwischen September 2015 und September 2017 30 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Im April 2017 waren es 16 554, nur etwas mehr als die Hälfte. Zu dieser Zahl von Umsiedlungen aus Griechenland und Italien müssen wir etwa 2000 Flüchtlinge hinzuzählen, die direkt aus Lagern im Libanon, Jordanien und der Türkei übernommen wurden.

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tischeren Umsetzung der Dublin-Regeln zur Übertragung der Zuständigkeit für den Asylantrag auf einen anderen Staat.19

Nach der Schleifung: Rückkehr und Zurückweisung In den Wochen vor der Räumung waren an den wichtigsten Bahnhöfen zwischen Paris und Calais die in Frankreich eigentlich verbotenen Gesichtskontrollen, das sogenannte racial profiling, verstärkt worden. Während der Räumungsoperation selbst war ein Teil der Polizei- und Gendarmeriekräfte dazu eingesetzt worden, weitere Ankünfte und eine Wiederansiedlung von Migrant_innen in der Region von Calais zu unterbinden. Nachdem der Jungle zerschlagen war, folgten erneut systematische Gesichtskontrollen an den drei Bahnhöfen von Calais und vielfach auch auf den Straßen. Sie betrafen sowohl Migrant_innen als auch nichtweiße Einwohner_innen von Calais, die wiederholt überprüft wurden, oft sogar mehrmals täglich. Einige Orte wie Parks wurden von nicht-weißen Menschen gar nicht mehr aufgesucht. Allmählich lernten die Ordnungsbehörden, Einwohner_innen mit ausländischem Aussehen und Personen mit dem Aussehen von Migrant_innen zu unterscheiden. Dementsprechend erfolgten die direkten Kontrollen weniger pauschal. Nach der Schleifung des Jungle veränderten die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ihre Arbeitsweise. In erster Linie hielt man nun nach hilfsbedürftigen Migrant_innen Ausschau, verteilte Nahrungsmittel an verschiedenen Stellen in der Stadt, insbesondere an ihrer Peripherie, und dokumentierte weiterhin Polizeiübergriffe, wenn auch zunächst in geringerem Maße. Zum Teil basierten diese Aktivitäten, wie in der Zeit des Bidonvilles, auf meist französischen und britischen Freiwilligen, die von außerhalb nach Calais kamen. Die Solidarität aus der Bevölkerung von Calais galt mehr der Unterbringung: Noch nie zuvor gab es so viele Bürger_innenasyle und privat untergebrachte Migrant_innen wie jetzt, überwiegend Frauen, Familien und Minderjährige. Der behördliche Druck zur Verhinderung jeglicher Campneubildung richtete sich ebenso gegen Migrant_innen wie auch gegen die Arbeit der Vereinigungen. Üblicherweise ging die Initiative von der Bürgermeisterin von Calais aus. Aber ziemlich bald übernahm, rechtlich abgesichert durch Anordnungen 19

In Frankreich gab es im Jahr 2016 25 963 gerichtliche Anrufungen in Bezug auf das Dublin-Verfahren, verglichen mit 11 657 im Jahr 2015 und 4948 im Jahr 2014.

Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

der Staatsanwaltschaft zu Identitätsfeststellungen in bestimmten Gebieten, der Staat mit der Nationalpolizei die Aufgabe. Hierzu zwei konkrete Beispiele, die den Zugang der Migrant_innen zu Duschen und Nahrungsmitteln betreffen. Am 8. Februar 2017 ließ sich der Secours catholique drei Duschmodule in sein Tageszentrum20 in der Innenstadt von Calais liefern. Der Kabinettschef der Bürgermeisterin fuhr persönlich mit seinem Privatwagen vor und parkte es so vor die Einfahrt, dass das dritte Modul nicht mehr hineingeschafft werden konnte. Kurz darauf ließ die Stadtverwaltung vor der Einfahrt einen Müllcontainer platzieren. Das vom Secours catholique angerufene Verwaltungsgericht verurteilte den Vorgang und zwang das Rathaus, den Müllcontainer abzubauen und die Zufahrt wieder freizugeben. An diesem Punkt kam die Nationalpolizei ins Spiel und nahm fast täglich Migrant_innen fest, hauptsächlich Minderjährige, die zum Duschen kamen. Drei Kundgebungen in Calais, die Verhaftung einer bekannten Journalistin aus einem Minderjährige heranbringenden Fahrzeug des Secours catholique heraus und die Ankunft eines Teams des staatlichen Défenseur des droits (Bürgerrechtsverteidiger) Jacques Toubon21 führten zur Aufhebung der Kontrollen und zum Ende der Verhaftungen an diesem Ort. Am 2. März 2017 ordnete die Bürgermeisterin von Calais ein Verbot von Zusammenrottungen an, das ausdrücklich auf die Ausgabe von Mahlzeiten in dem Gebiet am Stadtrand abzielte, wo sie täglich stattfanden. Nachdem die Essensverteilungen aus dieser Zone verlegt worden waren, dehnte die Bürgermeisterin am 6. März in einem neuen Erlass den Geltungsbereich der Anordnung aus. Das von mehreren Vereinigungen angerufene Verwaltungsgericht setzte die Anwendung der beiden Verfügungen aus. Wieder übernahm die Nationalpolizei. Mit Rückendeckung der Staatsanwaltschaft setzte sie willkürlich eine Sperrstunde für die Essensausgabe fest und führte nach deren Ende Identitätsprüfungen und manchmal Festnahmen durch, die an manchen Tagen auf die Migrant_innen und an anderen auf die freiwilligen Helfer_innen abzielten. Am Ende hatte man Erfolg mit dem Zerstreuen der Menge. Mit der Zeit verschärfte sich die Lage. Lebensmittelverteilungen wurden 20 21

Anm. d. Übs.: Die Organisation hatte in der rue de Moscou ein neues Tageszentrum für Obdachlose und Migrant_innen eröffnet. Anm. d. Übs.: In Frankreich wird seit 2008 der Défenseur des droits vom Staatspräsidenten zur Verteidigung der Rechte der Bürger_innen gegen die Verwaltung und ebenfalls zum Schutz der Kinder oder zur Bekämpfung von Diskriminierung eingesetzt; Défenseurdesdroits, https://www.defenseurdesdroits.fr (2019, 16.6.2019).

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von der Polizei unterbunden, ohne auch nur den Anschein von Identitätsfeststellungen zu wahren, manchmal unter Einsatz von Tränengas. Mitunter stellte sich die Polizei einfach zwischen die Freiwilligen und die Migrant_innen und machte so die Lebensmittelausgabe unmöglich. Freiwillige, die in den Straßen nach Migrant_innen suchten, waren ebenfalls Objekt häufiger Kontrollen. Die im Mai und Juni 2017 neu gewählte Regierung setzte sich für die Fortsetzung und sogar Verschärfung dieser Politik ein. In Reden wurden großzügige Versprechen gemacht. So kündigte der Staatspräsident Emmanuel Macron am 27. Juli 2017 an: »Ich möchte bis Ende des Jahres keine Frauen und Männer mehr auf der Straße, im Wald oder sonstwo verloren haben. […] ich will, dass überall Notunterkünfte gebaut werden«.22 Vor Ort bedeutete dieses Versprechen freilich verstärkten Polizeieinsatz, um die Migrant_innen an der französischen Nordküste zu schikanieren. Obwohl seit Anfang 2017 alle Vereinigungen die Rückkehr von Migrant_innen in die Region von Calais und Dünkirchen (Dunkerque) konstatierten, bekräftigte das Innenministerium, es sei seine vorrangige Aufgabe, jeglichen »point de fixation« (also jeglichen Ansatz einer neuerlichen Verfestigung hin zu einem Camp oder Bidonville) von Migrant_innen in Calais und an der französischen Nordküste zu verhindern. Trotz der Gerichtsbeschlüsse, die den Staat zur Bereitstellung von Trinkwasser und Duschen verpflichteten und die Rechtmäßigkeit der Verteilung von Nahrungsmitteln durch die Vereinigungen bestätigten, setzten sich vor Ort die Anordnungen zur Zerstreuung der Migrant_innen durch und wurden alltäglich in Praktiken von Schikane und Belästigung übersetzt: etwa die Beschlagnahme von Schlafsäcken und der Einsatz von Tränengas, um die Menschen weg zu treiben oder die ausgegebenen Speisen ungenießbar zu machen. Die Vereinigungen Auberge des Migrants und Help Refugees schätzten, dass sich im August 2017 etwa 750 Migrant_innen in Calais aufhielten, hauptsächlich junge afghanische, äthiopische und eritreische Männer. In GrandeSynthe schliefen seit dem Brand des humanitären Camps im April 2017 Dut-

22

Fabien Leboucq, »Macron avait-il promis qu’il n’y aurait plus de SDF« Libération (26.1.2019); https://www.liberation.fr/checknews/2019/01/26/macron-avait-il-promisqu-il-n-y-aurait-plus-de-sdf_1705325 (15.6.2019) : »Je ne veux plus, d’ici la fin de l’année, avoir des femmes et des hommes dans les rues, dans les bois ou perdus. C’est une question de dignité, c’est une question d’humanité et d’efficacité là aussi. Mais je veux que partout où sont construits ces hébergements d’urgence […]«

Die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung der Migrant_innen

Abb. 23: Calais am 26. Oktober 2016: Der Jungle nach seiner Räumung und während seiner Schleifung.

Foto: Sara Prestianni

zende von Migrant_innen unter erbärmlichen hygienischen Bedingungen im Wald von Puythouck. Anfangs um 200 stieg ihre Zahl im Sommer auf 400 bei nur einer im Juli aufgebauten Wasserstelle. Wöchentlich beschlagnahmte die Polizei Zelte und Schlafsäcke und zerstreute die Migrant_innen, um die Neuentstehung eines Camps zu verhindern. Während der Bürgermeister von Grande-Synthe Damien Carême mit dem Staat über die Einrichtung einer neuen Aufnahmestelle verhandelte, beschloss Innenminister Gerard Collomb, das Gelände am 19. September 2017 komplett zu räumen: 564 Menschen wurden in über ganz Frankreich verstreute Zentren »untergebracht«; vier Tage später waren schon rund 400 wieder zurückgekehrt. Das auf der Fahrtstrecke nach Calais in der Nähe einer Autobahnraststätte gelegene Camp von Norrent-Fontes wurde in derselben Woche, am 18. September, aufgelöst, obwohl noch ein Gerichtsbeschluss vom April 2017 die Vertreibung der Migrant_innen verboten hatte; das Gericht hatte die Auffassung vertreten, dass die ihnen zur Verfügung stehenden

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Unterkünfte ihren Wohnsitz darstellten, ihnen Schutz vor Unwetter böten und keine Störung der öffentlichen Ordnung darstellten. Diejenigen Menschen, die von der Küste weggejagt wurden und in CAO oder in den in der Region neu geschaffenen Centres d’Accueil et d’Examen de la Situation (CAES, Aufnahme- und Situationsüberprüfungszentren) »untergebracht« wurden, kehrten meist in die Nähe der Passageorte zur Überfahrt über den Ärmelkanal zurück, in der Hoffnung, England doch noch zu erreichen. Sie taten dies, weil sie dort eine Familie und andere Bindungen hatten oder weil Frankreich und die anderen europäischen Länder, die sie durchquert hatten, ihnen den Asylantrag verwehrten oder sie nicht als Opfer von politischer Verfolgung betrachteten. Aus diesem Grund kehrten Hunderte von Afghan_innen, deren Asylantrag in nordeuropäischen Ländern abgewiesen wurde, oder Oromo, die in Deutschland gewesen waren, nach Calais zurück. Nachts suchten sie Zuflucht im Wald – im djangal –, wo sie wieder kleine und kurzlebige Jungle errichteten.

Fazit Das Ereignis Calais

Was bleibt vom Jungle, der von April 2015 bis zum 26. Oktober 2016 anderthalb Jahre lang wenige Kilometer vom Zentrum der Stadt Calais entfernt bestand? Nichts, wenn wir an die verwüstete Landschaft denken, die die Bulldozer und Feuer hinterließen, während seine Bewohner_innen gerade entfernt und an anderen, manchmal sehr weit weg abseits gelegenen Orten »untergebracht« wurden. Überhaupt nichts, wenn wir den Verlautbarungen der Bürgermeisterin über den künftigen Bau eines Freizeitparks für Tourist_innen unweit der »lande« Glauben schenken wollen. Und noch weniger, wenn wir an die Wirkung der beharrlichen Unterdrückungspolitik gegen jeden »point de fixation«, also gegen jegliche neue Verankerung von Migrant_innen in und um Calais denken, wie sie von der Regierung des im Mai 2017 gewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron umgesetzt wurde. Im Gegenteil bleibt vom Jungle jedoch sehr viel übrig, wenn wir tiefer blicken, wie es die Absicht dieses Buches war. Was in Calais, in Frankreich oder im Vereinigten Königreich geschehen ist und immer noch geschieht, sagt viel über den Platz von Migrant_innen in Europa aus. Die Lektionen, die sich aus den Erfahrungen des Jungle von Calais ableiten lassen, sind mannigfaltig für diejenigen, die darin lebten, ebenso wie für die Einwohner_innen der Stadt, für die Akteur_innen der lokalen, britischen und europäischen Vereinigungen, für die verschiedenen politischen Bewegungen und für alle, die diesen Platz für ein paar Monate zu einem echten – symbolischen wie politischen – Ort-Ereignis gemacht haben.

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Das Camp – Hypertrophie der Grenze Dieser »Moment Calais« ist nicht nur eine unglückliche, abscheuliche, beschämende und in mancherlei Hinsicht unwürdige Episode der französischen Politik, von der man hofft, sie so schnell wie möglich zu vergessen und sie aus der jüngsten Geschichte des Landes zu streichen, in welcher man nichts Anderes sehen möchte als den Geist der Aufklärung und die – nicht ohne eine gewisse Arroganz – an den Rest der Welt übermittelte Botschaft der »Menschlichkeit«, mit der man Flüchtlinge behandle. Gewiss hätte es »genügt«, wie viele Politiker_innen in Frankreich erklärt haben, wenn Frankreich das französisch-britische Abkommen von Touquet aus dem Jahre 2003 aufgekündigt hätte, um diesen Engpass auf einer Seite, nämlich der französischen Seite, der französisch-britischen Grenze zu überwinden. Aber Frankreich hat dies nicht getan. Um das Oxymoron eines ausgrenzenden Universalismus intellektuell und politisch akzeptabel zu machen, überboten sich die einander abwechselnden französischen Regierungen darin, das Syntagma »Menschlichkeit und Entschlossenheit« zu wiederholen. Sie mussten zwischen guten »Flüchtlingen« und schlechten »Migrant_innen« unterscheiden, als ob es sich um naturgegebene Kategorien handle und beispielsweise syrische Familien höher zu bewerten seien als junge Afrikaner; sie mussten jede Person in Migration a priori als vermeintlich bedrohlich oder gar als terroristisch verdächtigen und so die Angst aufrechterhalten, bevor der als absolut fremd (alien) behandelte »Andere« auch nur irgendein Zeichen seiner Geschichte, seiner Werte, seiner Lage hätte geben können, das seine Fremdartigkeit relativiert und ihn einer Teilhabe an der auf Gleichwertigkeit beruhenden Humanität zumindest angenähert hätte.1 Doch die Verhärtung der französisch-britischen Grenze in Calais und die Politik des erzwungenen Campierens waren nicht nur eine Frage der lokalen oder der nationalen Geschichte. Auf der ganzen Welt werden die Grenzen der Nationalstaaten für bestimmte fremde Bevölkerungen tendenziell undurchlässiger, in der Regel, wenn sie aus hochgradiger Prekarität kommen oder in den Ländern des Südens leben. So waren die Stadt und das Lager Calais auch in ihrer lokalen und regionalen Dimension Teil einer globalen

1

Zu den Bedingungen für die Gewährung des Flüchtlingsstatus und zum Fehlen einer »guten« Definition von administrativen Kategorien in Geschichte und Gegenwart, vgl. Michel Agier, Anne-Virginie Madeira (dir.), Définir les réfugiés, La vie des idées (Paris: PUF [2017]).

Fazit: Das Ereignis Calais

Bewegung. Weltweit leben heute schätzungsweise 17 Millionen Menschen in Lagern oder Camps: mindestens 6 Millionen in offiziellen Flüchtlingslagern (geschaffen unter der Ägide der Vereinten Nationen) und ebenso viele in Lagern für Binnenflüchtlinge (eingerichtet von nationalen Verwaltungen oder internationalen NGOs) und diese beiden Zahlen haben durch die Konflikte im Nahen Osten mit der Vertreibung von 5 Millionen Syrer_innen und fast 3 Millionen Iraker_innen aus ihrem Land in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Es gab und gibt außerdem Tausende kleiner Camps, die vorübergehend zwischen 50 und 100 Menschen aufnehmen können, manchmal aber auch erheblich mehr. Von 1996 bis 2009 sammelten sich in der Nähe des griechischen Hafens von Patras oder 2015 bis 2016 in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und dem damaligen Mazedonien mehrere hundert Menschen in der Nähe der Grenzübergänge. Wir finden sie auch in Städten – auf brachliegenden Grundstücken, in Ruinen, in verlassenen Gebäuden, in allen Zwischenräumen der Städte –, so zum Beispiel unter den Hochbahnen von Paris. Und es gibt sie immer noch in den Wäldern am Rande der Grenzstädte. Das Camp, das im April 2015 in Calais von Migrant_innen geschaffen wurde, die zuvor in verschiedenen Camps und besetzten Gebäuden über die Stadt verteilt gewesen waren, verkörperte eine ausgesprochen hybride Form von Camp-Bidonville. Unsere Untersuchung zeigte, wie zentral im ständigen Konflikt zwischen den Migrant_innen, dem Staat und den Vereinigungen der Solidaritätsbewegungen die politische Auseinandersetzung um die Definition der Identität, Bedeutung und Funktion dieses Ortes war. Die verschiedenen Formen der Namensgebung (Lager, Camp, Jungle, New Jungle, la lande, Bidonville oder auch Bidonville des Staates) spiegeln sämtlich diesen Konflikt wider. Calais ist seit Jahrhunderten eine Grenzstadt. Und wie viele andere Grenzstädte erlebte auch Calais in den vergangenen fünfzehn Jahren, wie im Herzen, in der Peripherie oder der Umgebung der Stadt Camps, Hausbesetzungen und »Jungle« auftauchten, verschwanden und wiedergeboren wurden. Von Lesbos nach Ventimiglia und Calais sind die Migrationswege heute gesäumt von Camps, Lagern und Unterschlüpfen, deren Inventarisierung täglich neu vorgenommen werden müsste.2 Ihre Erforschung zeigt einen beständigen Wechsel zwischen Campbildung und -zerstreuung, wie man ihn auch in der Geschichte der Camps und Lager in der Region von Calais seit Ende 2

Vgl. Babels, De Lesbos à Calais (wie Anm. 3, S. 38).

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der 1990er Jahre vorfindet: So entstand eine Form der Welt, in der die Camps einen Platz für sich einnehmen, welcher wiederum eine kollektive (lokale wie globale) Forschung, kritische Reflexion und die Suche nach Lösungen sowohl innerhalb wie außerhalb der Formation des Camps/Lagers erfordert. Als soziale und räumliche Wirklichkeit wird die Formation des Camps/Lagers in der Regel mit Immobilität, insbesondere mit der Immobilisierung von in Bewegung befindlichen Menschen assoziiert. In allen Fällen entscheidet eine über ein Territorium Macht ausübende Behörde – gleich ob eine lokale, nationale oder internationale – darüber, Menschen für eine gewisse Dauer in die eine oder andere Form des Lagers zu bringen oder sie dazu zu zwingen, sich ihm selbst auszuliefern. Dieser Ort unterscheidet sich von seiner Umgebung durch die drei Kriterien der Exterritorialität (ein physikalisch abgegrenzter Raum), der Exzeption (ein rechtliches und politisches System setzt die normale Staatsbürgerschaft aus) und der Exklusion (die Lagerbevölkerung ist eingeschlossen oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt).3 Die Lager kennzeichnen und verbergen zugleich eine überzählige Bevölkerung, eine überschüssige Menge, die bei der Gesamtheit aller Staaten außen vor steht. Das ist, was das Abkommen von Le Touquet dadurch hervorbringt, dass es die Abweisung einer migrantischen Bevölkerung durch beide Nachbarstaaten vorsieht, die damit buchstäblich zwischen zwei Grenzen gefangen ist, wobei in diesem Fall das Lager die Funktion der Grenze übernimmt oder anders gesprochen selbst zu einer Hypertrophie der Grenze wird. Hierbei illustriert der Fall Calais – wenn auch in zugespitzter, tragischer und scheinbar beispielloser Weise – jene paradoxe Bewegung, in der eine Welt entsteht, die in der Tat immer globaler und supranationaler wird und damit Mobilität in jeder Form hervorruft, aber in Bezug auf ihre Repräsentation und Regierungsart nicht den Rahmen des nationalen Denkens und Handelns verlässt – aber auch nicht wüsste, wie sie diesen Rahmen verlassen könnte. Denn in jedem Fall, bei der Gründung der Lager ebenso wie bei ihrer langfristigen Reproduktion, zeigt sich das Prinzip eines Überschusses, einer überzähligen 3

Michel Agier, Gérer les indésirables : Des camps de réfugiés au gouvernement humanitaire (Paris : Flammarion, 2008); ders. (dir.), Un monde de camps, collab. Clara Lecadet (Paris : La Découverte, 2014). Zur »Camp-Form« Marc Bernardot, »Les mutations de la figure du camp«, in : Olivier Le Cour Grandmaison, Gilles Lhuilier, Jérôme Valluy (dir.), Le retour des camps? Sangatte, Lampedusa, Guantanamo (Paris, Autrement, 2007), p. 42-55; Maria Muhle, »Le camp et la notion de vie«, in : ebd., p. 68-76; Federico Rahola, »La forme-camp : Pour une généalogie des lieux de transit et d’internement du présent«, Cultures & conflits (2007), n° 68 : 32-50.

Fazit: Das Ereignis Calais

Bevölkerung, eines Überhangs. Diese Menschen sind nicht überzählig an sich, auf Grund der Kultur oder Identität der Migrant_innen, sondern überzählig in Bezug auf das, was die Regierungen der Nationalstaaten in Bezug auf die Männer und Frauen, die außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens gesetzt werden, zu denken und zu tun vermögen: Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes »staatenlos« in dem Sinne, wie die Philosophin Hannah Arendt diese Formulierung verwendete und bereits vor mehr als sechzig Jahren mit der Gestalt des Lagers in Verbindung brachte. Hannah Arendt war selbst ein deutsch-jüdischer Flüchtling. Im Jahr 1940 durchlief sie das Lager von Gurs in Südfrankreich, bevor sie im folgenden Jahr über Lissabon in die Vereinigten Staaten gelangte. Vor diesem Hintergrund regt sie zum Nachdenken über die Menschenrechte an: »Der einzige praktische Ersatz für das ihm [dem Staatenlosen] mangelnde nationale Territorium sind immer wieder die Internierungslager gewesen; sie sind die einzige patria, die die Welt dem Apatriden anzubieten hat«,4 schrieb sie 1951, dem Jahr der Gründung des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Indem wir die kritische Reflexion in diesem Rahmen fortführen, können wir die verheerenden Auswirkungen des erkenntnistheoretischen Nationalismus im politischen Denken heute besser verstehen.5 Dies ist der Ursprung einer global-nationalen politischen Fiktion, die nur um den Preis der Gewalt gegen den von ihr produzierten Überschuss realisiert werden kann.6

4

5

6

Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: I. Antisemitismus, II. Imperialismus, III. Totale Herrschaft, Übs. Hannah Arendt., ungekürzte Ausg., 4. Aufl., Serie Piper, Bd. 1032 (München; Zürich: Piper, 1995), S. 447. Ulrich Beck oder Nina Glick Schiller haben den »methodologischen Nationalismus« in der soziologischen Theorie beschrieben und kritisiert. Wir bauen hier diese Kritik aus, indem wir sie allgemein auf das politische Denken und die »Behandlung« von Ausländer_innen in der heutigen Welt beziehen. Zygmunt Baumans Arbeit ist gänzlich von diesem Versuch geprägt, die zeitgenössischen und widersprüchlichen Entwicklungen der Globalisierung zu verstehen; ihn interessiert besonders, wie die Kräfte der Exklusion »menschlichen Abfall« produzieren und es so mit jedem Tag schwieriger machen, eine Welt im planetarischen Maßstab zu konstruieren. Vgl. vor allem Wasted Lives: Modernity and its Outcasts (Cambridge, UK: Polity, 2004) [deutsch : Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Übers. Werner Roller (Hamburg : Hamburger Edition, 2005] und »Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung«, in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit (Berlin: Suhrkamp [2017]), S. 3756.

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Diese Gewalt ist logischerweise hauptsächlich an den Grenzen der Nationalstaaten situiert und zielt auf einen wachsenden Teil der Weltbevölkerung ab, der sich in einer prekären Zirkulation, insbesondere von Süden nach Norden, befindet und an den Grenzen blockiert ist. Diese Immobilisierung erfolgt in Form von Räumen – Camps, Lagern oder illegalen Stadtrandsiedlungen, sie alle in Grenzbereichen der Legalität (so etwa im Modus des Toleriertwerdens, wie es beim Jungle von Calais der Fall war). Ihre Bestimmung ist a priori, unsichtbar zu sein und ihre Bewohner_innen genauso unsichtbar zu machen. Die Grenzen werden so zu einem Anderswo, das zugleich nah und fern, weil schwer zugänglich ist. In der Nähe der Lager finden sich, dieser Logik der Exklusion folgend, die Toten (40 000 Tote an den Grenzen Europas zwischen 1993 und Anfang 2017) und der Tod.7 Letzterer verweist auf die Notwendigkeit, die Toten zu benennen, zu zählen, zu identifizieren und, oft nur heimlich, zu ehren, die bei ihrem Versuch, die Grenze zu überwinden, gescheitert sind.8 Wie wir auf der Karte der Todesfälle an der französisch-britischen Grenze (in Kapitel 1) sehen, verunglückten die meisten nur wenige (oder wenige hundert) Meter vom Jungle entfernt entweder auf dem Stadtgebiet von Calais oder in der direkten Umgebung. Menschen, die im Jungle lebten, starben bei Stürzen vom Dach eines Zuges oder eines Lastwagens, bei Verkehrsunfällen, wurden von Lastern zerquetscht oder ertranken, und versuchten dennoch, trotz aller Gefahren nach Großbritannien zu gelangen.

Die Kosmopolitik des Jungle In diesem in vielerlei Hinsicht beunruhigenden, ebenso empörenden wie bedrückenden Zusammenhang haben wir drei wichtige Veränderungen beschrieben, für welche die Erfahrung des Jungle von Calais den Rahmen bot. Erstens veränderte sich der Blick auf die Transformation und Ausformung von privaten und öffentlichen Räumen, wie in Kapitel 2 beschrieben. Wie im Fall der historischen französischen Bidonvilles, denen er schließlich ähnelte, hat der Jungle gezeigt, dass es selbst in einem so prekären Kontext ebenso möglich wie lebensnotwenig ist, die Orte zu bewohnen, d.h. sie sich indivi-

7 8

Vgl. Maël Galisson, »Voir Calais et mourir«, Plein Droit, 2 (2016), n° 109: 10-14. Vgl. Babels, Mort aux frontières de l’Europe (wie Anm. 4, S. 38).

Fazit: Das Ereignis Calais

duell und kollektiv anzueignen und so eine Form informeller Urbanisierung vorzunehmen, wie sie für die großen Städte des Südens üblich ist. Zweitens entwickelte sich schnell ein soziales, kulturelles und politisches Leben, das um die zwanzig Nationalitäten von Migrant_innen und um die zehn Nationalitäten von Europäer_innen zusammenbrachte. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, bildete sich um Kirchen und Moscheen, Schulen, das Theater und Restaurants ein kosmopolitischer Mikrokosmos. Das »blaue Haus auf dem Hügel« des mauretanischen Künstlers Alpha, Schöpfer der Kunst- und Handwerksschule des Jungle, oder das »weiße Haus« des International Journal, das der im politischen Exil lebende Äquatorialguineer Vicente geschaffen hat,9 waren emblematische und fesselnde Orte einer Art experimenteller Gesellschaft. Der Jungle von Calais machte die Erfahrung eines Konzentrats der Phänomene von Kohabitation (mit allen Konflikten und Kollaborationen) – eine Vorschau auf den gewöhnlichen Alltag der künftigen Welt. Drittens waren für die Transformation und Urbanisierung des Camps sowie für das soziale und politische Leben, das sich darin entwickelte, die Solidaritätsbewegungen aus Calais und aus Europa von essentieller Bedeutung, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde. Indem wir diese Beziehung studieren, können wir beobachten und verstehen – ohne Verurteilung und weit entfernt von den in Europa vorherrschenden Angstfantasien in Bezug auf Migrant_innen –, was Migrant_innen mit dem Leben der in Europa ansässigen Bürger_innen tun. Die zahllosen Vereinigungen und Persönlichkeiten, die aus Paris, London, Brüssel und aus ganz Europa kamen und sich für den Jungle von Calais einsetzten, haben eine Form des Engagements verwirklicht, bei der die kosmopolitische Dimension im Vordergrund stand. Individuell oder kollektiv geleistet, als »humanitär« oder »politisch« etikettiert, stellten dieses Engagement an den Orten der Ausgrenzung von Ausländer_innen in prekären Situationen und gleichzeitig die kosmopolitische Dimension des Ortes selbst und die Beziehungen, die sich dort etablierten, die Frage nach neuen Formen der Politik. Zum einen sandten sie, wenn auch aus der Ferne, ein Zeichen an alle »Bewegungen der Plätze«, die in den letzten Jahren das politische Leben mehrerer

9

Vgl. den Kurzfilm von Michel Agier, Nicolas Autheman, Vicente, coprod. Minimum Moderne/Babels, collab. Babels et Blixlab (2017), 13'42‹; http://anrbabels.hypotheses.org/ 163 (6.6.2017, 16.6.2019).

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europäischer und arabischer Hauptstädte geprägt haben. Das Camp von Calais war die Okkupation eines Platzes, oder genauer gesagt, es ist im Laufe der Zeit zu einer solchen Besetzung geworden, aber es gab keine »Konvergenz der Kämpfe« zwischen ihm und den Bewegungen der Plätze (und insbesondere nicht mit der Bewegung der place de la République, den Nuit deboutProtesten von Paris, die teilweise zeitgleich stattfanden). Auf der anderen Seite war diese Okkupation das Theater einer Kosmopolitik in situ. Die Konversation, die Übersetzung, das Lernen, die Konstruktion: dies sind die Worte, mit denen der an diesem Ort stattgefundene Austausch präzise bezeichnet werden kann. Das sind Begriffe, die wir mit der Idee der »gemeinsamen Welt« im Sinne der Philosophin Hannah Arendt verbinden können, also der Idee des intermediären Raumes, der ausgehend von allen ihren Singularitäten »die Menschen miteinander verbindet« und so den freien und öffentlichen Raum der Politik schafft.10 Nicht zuletzt war die Politisierung von Migrant_innen eine bemerkenswerte Tatsache, auch wenn sie in den Kommentaren allgemein heruntergespielt wurde, die stattdessen die voraussagbaren Bilder vom Opfer oder Rechtsbrecher, von Mitgefühl oder Angst in den Vordergrund rückten. Gleichwohl haben sich die an den Grenzen gestrandeten Migrant_innen in Calais wie auch an anderen Orten ihrer erzwungenen Gruppierung politisch zu Wort gemeldet. Sie politisierten sich gegen das, was ihnen als Ungerechtigkeit und als Gewalt erschien, und was als ein Konflikt verstanden werden konnte, der mit Begriffen wie »Freiheit«, »Respekt« und »Menschlichkeit« in der Sprache der Menschenrechte geführt wurde. Diese Sprache ist die gemeinsame, die universelle Sprache der Politik. Es war ihnen unmöglich, die Grenze nach Großbritannien legal zu überqueren. Es war ihnen unmöglich, die Zerstörung ihrer Unterkünfte, Schulen, Restaurants und Geschäfte während der ersten Räumung im Südteil des Camps im März 2016 zu verhindern. Sie hatten es zu tun mit einer ihrer Anwesenheit im Prinzip feindlich gegenüberstehenden Polizei. Daher haben die Migrant_innen des Camps von Calais viele Male demonstriert. Auf der Straße oder im Camp schwenkten sie ihre Schilder und skandierten ihre Parolen. Neun von ihnen traten siebzehn Tage lang in einen Hungerstreik und nähten sich die Lippen zu, als die Räumung der südlichen Zone angekündigt wurde. Sie verbreiteten offene Briefe, in denen sie die Unmenschlichkeit der französischen und britischen Politik brandmarkten und die Öffnung der Grenzen 10

Hannah Arendt, Qu’est-ce que la politique? (Paris : Seuil, 1995), p. 146; Übs. W.F.

Fazit: Das Ereignis Calais

sowie die Achtung der Menschenrechte forderten. Auf der Suche nach Verhandlungspartnern auf Augenhöhe baten sie sogar darum, mit Vertretern der Vereinten Nationen anstatt mit Vertretern der französischen Verwaltung zu sprechen. Daher nahm der Jungle von Calais einen erwägenswerten (»considérable«) Platz ein.11 In der Tat spielte bei allen Akteur_innen und Beobachter_innen des »Ereignisses Calais« ein (Be-)Deutungskonflikt mit: zwischen Erstarren und Erwägen (entre la sidération et la considération), zwischen mitfühlender Emotion und empathischer Politik. An diesem illegitimen und unwürdigen Ort gewann das Erwägen nach und nach an Boden, dann immer mehr an »Bedeutung«. Und schließlich gelang es, auf der Suche nach neuen mobilisierenden Symbolen zu einem politischen Ort im bereits abdriftenden Europa zu werden. Das politische Engagement, dessen Ort der Jungle von Calais für viele solidarische Bürger_innen Europas war, schloss durch seine Empathie und seine Herangehensweise den Versuch ein, die Existenz des Anderen, der an der Grenze auftaucht und die Eingesessenen dazu zwingt, über diese neue Thematik nachzudenken, so gut wie möglich zu begreifen. In diesem Austausch entdecken die Eingesessenen, dass die Außenseiter (diejenigen, die von draußen kommen) selbst Politik machen, und zwar ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen sowie den Erfahrungen aus den Ländern, aus denen sie stammen, und der Welt der Migration, in der sie sich schon seit Monaten oder Jahren befinden. Dies war sicherlich der Grund (oder einer der Gründe – jedoch der politischste) für die Zerstörung des Jungle und die Zerstreuung seiner Bewohner_innen. Ein abschließender, jedoch gleichermaßen wesentlicher Aspekt hinsichtlich der Herausbildung einer gemeinschaftlichen Welt im Raum des Jungle von Calais (gerade auch als Grenze) ist die Tatsache, dass sich auf Wunsch der Migrant_innen schrittweise eine Beziehung von »gegenseitigem Respekt« zwischen ihnen und den Helfer_innen etablierte (beschrieben in Kapitel 4). Um zu aufdringliches oder respektloses Verhalten zu vermeiden, haben, wie oben geschildert, die Vertreter_innen der wichtigsten Gemeinden des Bidonvilles (Afghan_innen, Sudanes_innen, Kurd_innen, Eritreer_innen, Äthiopier_innen, Syrer_innen, Ägypter_innen und Iraner_innen) den NGOs und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen geschrieben und ihnen für den Jungle einen Verhaltenskodex auferlegt. Das bedeutet, dass dieser Ort für die Exilierten zu ihrer Zuflucht, ihrem Heim und ihrem Zuhause geworden war (oder im 11

Vgl. Marielle Macé, Sidérer, considérer : Migrants en France 2017 (Lagrasse: Verdier, 2017).

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Begriff stand, es zu werden) und dass sich die herkömmlichen Gastfreundschaftsbeziehungen zwischen Gastgeber_innen und Gästen umgedreht hatten, in gewisser Weise ins Gleichgewicht gebracht worden und ein wenig egalitärer geworden sind. Die Fremden, die da waren und die sich diesen Ort etwas vertrauter gemacht haben, wollten die Bewohner_innen der Gebiete, aus denen sie selbst exkludiert waren, wie ihre Gäste empfangen. Diese Weise, den Ort zu bewohnen und durch einen von beiden Seiten akzeptierten Verhaltenskodex einladend zu machen, hätte ein Faktor der Öffnung des Ortes werden und zugleich eine Lehrstunde in Gastfreundschaft sein können. Es war ein komplexes Lernen von Kohabitation und Kooperation, von »zusammen leben« und »miteinander arbeiten«, das die achtzehn Monate der Existenz des Jungle kennzeichnete. In der ersten Zeit hatte der Transfer der Migrant_innen an diesen in ein Umgruppierungslager verwandelten Ort ihr Verhältnis zu den Bewohner_innen von Calais, die sich in solidarischen Vereinigungen engagierten, erheblich beeinträchtigt. Aber das, was danach geschah, veranschaulichte und bestätigte eine Herangehensweise, die in der Welt der Mobilität mehr und mehr Verbreitung gefunden hatte und es ermöglichte, sich mit prekären Situationen, polizeilichen Zwängen und unwirtlichen Wohnverhältnissen zu arrangieren. Und eben diese Anpassungen machten dieses Leben manchmal wirtlich. Die Migrant_innen waren an diesem Ort besser aufgehoben, der am Ende seinen Namen Bidonville mehr verdient hatte als den Namen Camp oder Lager. Dieser Ort hätte eine Stadt werden können. Mit diesem Bidonville erfanden sich die Migrant_innen in Frankreich jene gastfreundliche Stadt selbst, die die Regierung ihnen verweigerte. Genau das war es, worauf der Staat schließlich reagierte: gegen das Camp, das nach und nach aus den Schatten trat und zu sichtbar, zu autonom und zu politisch wurde.

Postskript Über die Autor_innen und wie dieses Buch geschrieben wurde

Das Buchprojekt entstand Anfang 2016, nachdem die Agence nationale de la Recherche (ANR, Nationale Forschungsagentur, 2016-18) das Forschungsprojekt »Babels – La ville comme frontière« (Babels – Die Stadt als Grenze) (http://anrbabels.hypotheses.org/) ermöglicht hatte und als der Jungle von Calais ungefähr in der Mitte seiner Existenzdauer angelangt war. Durch Untersuchungen und partizipative Aktivitäten derjenigen, die bereits vor Ort waren, wurde schnell deutlich, dass hier etwas auf europäischer Ebene Außergewöhnliches vor sich ging und dass die sozialwissenschaftliche Perspektive zusätzlich zu der von Journalist_innen, Künstler_innen oder Politiker_innen öffentlich gemacht werden musste, um eine eingehende Beschreibung und Analyse dieses Ereignisses und seiner Bedeutung zu liefern. Die zwischen Forschenden, Studierenden und den Akteur_innen aus dem Bereich der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen von Calais geknüpften Verbindungen ermöglichten es, auf einer Reihe von Treffen und während der laufenden Untersuchungen gemeinsam einen Arbeitsplan zu erstellen. Die Kapitel bzw. Abschnitte wurden an eine oder mehrere Personen vergeben und der Gesamttext zirkulierte zwischen allen Mitwirkenden. Michel Agier, Anthropologe, Studienleiter an der École des Hautes Études en Sciences sociales (EHESS, Hochschule für Sozialwissenschaften) und Forscher am Institut de Recherche pour le Développement (IRD, Forschungsinstitut für Entwicklung), arbeitet über Flüchtlinge, Migrant_innen und Grenzen. Er führte langjährig Feldforschungen außerhalb Frankreichs durch (über desplazados von Kolumbien, Flüchtlinge und Vertriebene in Kenia, Sambia und Westafrika sowie Migrant_innen und Flüchtlinge im Libanon), bevor er dieselben Forschungsthemen in Europa und schließlich in Calais fortsetzte. Er ist

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Mitglied der Plattform Migreurop (die Forscher_innen und zivilgesellschaftliche Vereinigungen verbindet). Agier koordinierte das gesamte Buchprojekt, indem er Personen aus der akademischen Welt und den Vereinigungen für die Mitarbeit gewann und zusammenführte. Diese beiden Welten waren einander immer wieder vor Ort begegnet und nicht immer scharf zu unterscheiden. Die Mitarbeiter_innen dieses Buches sind eher als »Aktivist_innen« zu sehen, doch achteten sie immer auf die Genauigkeit der von ihnen gesammelten Information und publizierten regelmäßig über ihre Themen. Die meisten Forscher_innen wiederum, die an der Redaktion dieses Buches mitgewirkt haben, arbeiten regelmäßig mit den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen zusammen. Michel Agier schrieb die Einleitung und das Fazit, außerdem koordinierte und harmonisierte er den Gesamttext. Die Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre national de la Recherche scientifique (CNRS, Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) im interdisziplinären Laboratorium Triangle-ENS Lyon Yasmine Bouagga führte von Februar bis Oktober 2016 eine Felduntersuchung im Jungle von Calais durch, die nach dessen Räumung fortgesetzt wurde. Ursprünglich bestand ihr Projekt darin, die Comiczeichnerin Lisa Mandel im Rahmen des »Appells von Calais« (auch »Appell der 800«, s. Einführung) zu begleiten. Um die Situation deutlich zu machen, entstand aus ihrer Arbeit der Comic-Blog Les Nouvelles de la Jungle, der auf LeMonde.fr und 2017 schließlich von den Éditions Casterman als Comicbuch veröffentlicht wurde. Im Laufe der Monate wurde aus ihrer Reportage eine ethnographische Untersuchung bei den Migrant_innen, Unterstützer_innen und Behörden: Die Herausforderung bestand darin zu verstehen, wie diese unwahrscheinliche und instabile Gesellschaft des Jungle organisiert war. Yasmine Bouagga schloss sich dem kollektiven Forschungsprogramm von Babels an, wo sie den Sammelband De Lesbos à Calais: Comment l’Europe fabrique des camps (Von Lesbos nach Calais: Wie Europa Lager baut, Éditions du Passager, 2017) betreute. Im vorliegenden Buch schrieb sie das Kapitel 3 über das tägliche Leben im Bidonville, zusammen mit Mathilde Pette das Kapitel 4 über die Solidarität und mit Philippe Wanneson das Kapitel 5 über die Vertreibung. Philippe Wannesson hatte zunächst eine Laufbahn im Bereich der Sozialarbeit und der Breitenbildung eingeschlagen. Er kam im Dezember 2008 für ein Projekt zur Situation der Exilierten nach Calais und ließ sich dort im April 2009 nieder, um sich an Solidaritätsaktionen zu beteiligen. Er ist im Netzwerk der lokalen Vereinigungen aktiv (in den Initiativen La Marmite aux Idées und Le Réveil voyageur) und ist Einzelmitglied des Netzwerks Migreu-

Postskript: Über die Autor_innen

rop. Er gründete und schrieb für den Blog Passeurs d’hospitalités (https://passeursdhospitalites.wordpress.com/ und: english.wordpress.com/), der ein unentbehrliches Medium für die Information und Alarmierung darstellte und dabei helfen sollte, die autonome Organisation der Exilierten zu erleichtern, über ihre Situation in Calais und Umgebung zu informieren und zu sensibilisieren, die Behörden zu kontrollieren und die unterschiedlichen Aktivist_innen zu vernetzen. Mit seinem Engagement und seiner genauen Kenntnis der lokalen Migrationsgeschichte schrieb er Kapitel 1, eine Chronologie der Migrationspolitik und der Gewalt in der Region (mit Maël Gallisson), und wirkte an Kapitel 5 über die Vertreibung mit. Cyrille Hanappe ist Architekt und Ingenieur, Assistenzprofessor an der École nationale supérieure d’Architecture (Nationale Hochschule für Architektur) in Paris-Belleville und dort pädagogischer Leiter des Spezialisierten und Vertieften Diploms im Bereich Architektur der Hauptgefahrenquellen. Er ist Mitarbeiter des Architekturbüros AIR und Vorsitzender der Vereinigung Acts & Cities, die sich für die Würde der Menschen in ihrem Lebensumfeld einsetzt. Nachdem er einige Jahre über die Bidonvilles von Lateinamerika und dann der Île-de-France gearbeitet hatte, begann er ab 2014, über die Gebäudebesetzungen und Camps im Gebiet von Calais und Dünkirchen (Dunkerque) zu forschen. Mit seinen Studierenden realisierte er die architektonische, urbane und menschliche Gesamtaufnahme des Jungle von Calais. Seit 2016 drehen sich seine Forschungen um architektonische und urbane Fragen, die sich aus der Aufnahme und Nichtaufnahme von Ausgeschlossenen in den Städten ergeben, zusammengefasst in der Thematik »La ville accueillante« (Die einladende Stadt). Beim Verlag von PUCA (Plan urbanisme construction architecture) erschien 2018 unter seiner Leitung das gleichnamige Sammelwerk. Er schrieb das Kapitel 2 über die Architektur und die Wohnstätten von Jungles, besetzten Gebäuden und Camps. Maël Galisson war drei Jahre lang (von Juni 2012 bis Mai 2015) Koordinator der Plateforme de Service aux Migrants (PSM), einem Netzwerk von Unterstützungsvereinigungen für exilierte Menschen im Norden Frankreichs (www.psmigrants.org/site/). In diesem Zusammenhang koordinierte er zusammen mit Mathilde Pette die Veröffentlichung des im Juli 2014 in der Zeitung Libération erschienenen Aufrufs »Violence d’État contre les exilés de Calais« (»Staatliche Gewalt gegen die Exilierten von Calais«). Er wirkte an der Gründung und regelmäßigen Veröffentlichung des Journal des Jungles mit, einer von Exilierten und Freiwilligen gemeinsam konzipierten Zeitschrift (acht Ausgaben zwischen September 2013 und März 2017). Vor dem Hintergrund

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Der »Dschungel von Calais«

dieser Erfahrung führte er mehrere Monate lang Nachforschungen über die Migrant_innen durch, die an (und wegen) der französisch-britischen Grenze gestorben waren. Im vorliegenden Buch trug er hauptsächlich zur Verwirklichung von Kapitel 1 bei, das die Episode »des« Jungle von Calais in einen breiteren historischen und geographischen Kontext stellt. Ferner arbeitete er an der Gestaltung der drei Karten des Geographen Nicolas Lambert mit. Mathilde Pette ist Soziologin und Dozentin an der Universität von Perpignan Via Domitia. Sie wurde in Lille geboren und studierte dort Soziologie, wo sie 2012 eine Dissertation über die Vereinigungen und Aktivist_innen vorlegte, die für die Belange von Ausländer_innen im Norden Frankreichs eintreten. Anschließend setzte sie diese Forschungen fort und arbeitete im Rahmen eines Postdoc-Programms über Vereinigungen, die sich für die auf ihrem Weg nach England an der französisch-britischen Grenze blockierten Migrant_innen einsetzen. Gleichzeitig mit ihrer Hochschultätigkeit arbeitet sie mit lokalen Vereinigungen zusammen, um gemeinsam Möglichkeiten für einen Gedankenaustausch anzuregen (Workshops zur Breitenbildung, interassoziative Foren usw.). Sie war Mitveranstalterin der Fotoausstellung »Ceux qui passent, ceux qui restent: Le campement de migrants de NorrentFontes« (Die die vorbeigehen, die die bleiben: Das Camp der Migrant_innen von Norrent-Fontes) zusammen mit dem Fotografen Julien Saison/O2e und den Freiwilligen des Vereins Terre d’Errance. Hier schrieb sie das Kapitel 4 über die Solidaritäten (unter Beteiligung von Yasmine Bouagga und Madeleine Trépanier). Fünf weitere Personen haben einen wichtigen Beitrag zum Buch geleistet. Madeleine Trépanier, Studentin der Ethnologie an der EHESS, forscht in Calais über die Solidarität britischer Vereinigungen. In dieser Eigenschaft trug sie zum Kapitel 4 über Solidaritäten bei. Céline Barré hilft seit 2014 in verschiedenen Vereinigungen in Calais und im Ausland (Secours catholique, Médecins du monde, Bibliothèques sans Frontières) bei der Aufnahme von Migrant_innen und Asylbewerber_innen mit. Für dieses Buch teilte sie mit dem Buchteam ihre Erfahrungen und ihr Wissen über aktuelle Migrationsrouten, die Schaffung des letzten Jungle und die Rolle der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen. Sara Prestianni, ehemalige Koordinatorin der Plattform Migreurop und Mitglied der italienischen Vereinigung ARCI, ließ das Team an ihrem langjährig erworbenen Wissen über die Jungles von Calais und in Europa teilhaben. Als Fotografin (www.flickr.com/photos/saraprestianni/) hat sie mehrere Ausstellungen zur Welt der Migration und Camps realisiert und ihre Bilder des Jungle von Calais für dieses Buch zur Verfügung gestellt. Ge-

Postskript: Über die Autor_innen

nauso gab uns Julien Saison, der sich als Fotograf für die Exilierten einsetzt, seine Fotos vom Camp von Norrent-Fontes weiter. Schließlich erstellte der auf die Kartierung Europas spezialisierte Geograf Nicolas Lambert, Forschungsingenieur am CNRS, die drei Karten des Buches, die die Außengrenzen des Schengenraums, die Lebensorte von Migrant_innen in der Region von Calais und die Todesfälle an der französisch-britischen Grenze bezeichnen.

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Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Maria Björkman (Hg.)

Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0

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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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