Das Leben Der Maria Von Oignies 9782503551081

Erste deutsche Ubersetzung der Lebensbeschreibung der mittelalterlichen Mystikerin Maria von Oignies. In diesem Band lie

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Das Leben Der Maria Von Oignies
 9782503551081

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JAKOB VON VITRY DAS LEBEN DER MARIA VON OIGNIES

THOMAS VON CANTIMPRÉ SUPPLEMENTUM

CORPVS CHRISTIANORVM IN TRANSLATION

18 CORPVS CHRISTIANORVM Continuatio Mediaeualis 252

IACOBVS DE VITRIACO VITA MARIE DE OEGNIES

THOMAS CANTIPRATENSIS SUPPLEMENTUM

CURA ET STUDIO

R. B. C. HUYGENS

TURNHOUT

FHG

JAKOB VON VITRY DAS LEBEN DER MARIA VON OIGNIES

THOMAS VON CANTIMPRÉ SUPPLEMENTUM

Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Iris GEYER

H

F

©2014, Brepols Publishers n.v., Turnhout, Belgium All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher.

D/2014/0095/8 ISBN 978–2–503–55108–1 Printed on acid-free paper.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Anlass für die Übersetzung Ziel der vorliegenden Übersetzung Übersetzungsproblematiken Der Autor der Vita: Jakob von Vitry Der Autor des Supplementum: Thomas von Cantimpré Inhaltsüberblick Die Rezeption der Vita Die Vita als frühestes Zeugnis der Beginenbewegung Die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Hagiographie und Biographie in der Vita der Maria von Oignies Maria von Oignies als hochmittelalterliche Büßerin und Mystikerin Funktion der Vita Schlusswort Praktische Hinweise

9 9 10 11 14 17 20 23 24

Literaturverzeichnis Abkürzungen Quellen und Übersetzungen Sekundärliteratur

55 55 55 57

Jakob von Vitry. Das Leben der Maria von Oignies

63

Prolog

65

5

30 36 46 52 52

Inhaltsverzeichnis

Buch I 1.  Ihre Kindheit 2.  Ihre Ehe 3.  Der Gesinnungswandel ihres Ehemannes, und dass sie unter Verzicht auf alles keusch lebten 4.  Die Verachtung und Verfolgung von Seiten ihrer Verwandten 5.  Ihre Zerknirschung und ihre Tränen 6.  Ihre Beichte 7.  Ihre Buße und ihre Wiedergutmachung 8.  Ihr Fasten 9.  Ihr Gebet 10.  Ihre Nachtwachen und ihr Schlaf 11.  Ihre Kleider und ihre Körperhaltung 12.  Ihre Handarbeit 13.  Die Ausdrucksweise und die Gebärde ihres Gesichts und ihrer anderen Körperteile Buch II 1.  Die Vielfalt der Tugenden der Königstochter und die Gaben des Heiligen Geistes. 2.  Der Geist der Furcht 3.  Der Geist ihrer Frömmigkeit 4.  Der Geist der Erkenntnis 5.  Der Geist der Stärke 6.  Der Geist des Rates 7.  Der Geist des Verstehens 8.  Der Geist der Weisheit 9.  Ihre Ankunft in Oignies 10.  Ihr Aufenthalt in Oignies, und was ihr an eben diesem Ort geschah 11.  Ihr Gesang vor ihrer Krankheit 12.  Ihre Krankheit vor dem Tod 13.  Ihr Tod

77 77 78 79 81 81 84 86 87 90 97 101 102 104 109 109 110 116 129 136 139 144 149 155 157 160 164 168

THOMAS VON CANTIMPRÉ SUPPLEMENTUM

173

Supplementum

175

6

Inhaltsverzeichnis

Indices Bibelstellen Zitate und Anspielungen aus patristischen und mittelalterlichen Autoren Namen- und Sachregister

7

213 215 217 219

Einleitung

Anlass für die Übersetzung Anlässlich ihres achthundertsten Todesjahrs soll die erste große Begine der Geschichte, Maria von Oignies (1177–1213) aus Brabant, mit einer Übersetzung der von Jakob von Vitry lateinisch verfassten Beschreibung ihres Lebens ins Deutsche geehrt werden. Als Grundlage dieser Übersetzung dient die kritische Neu­ edition durch R. B. C. Huygens der Vita Mariae Oigniacensis, die im vergangenen Jahr 2012 als Band 252 in der Reihe des Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Turnhout, unter dem Titel Iacobus de Vitriaco, Vita Marie de Oegnies. Thomas Cantipratensis, Supplementum erschienen ist.1 Professor Huygens lud mich ein, den an vielen Stellen durch ihn nunmehr geklärten Text zu übersetzen und stellte mir dankenswerterweise bereits vor der Drucklegung seine Arbeit zur Verfügung. Durch seine philologischen Klärungen gegenüber den alten Ausgaben der Vita in den Acta Sanctorum der Bollandisten (Ed. 1707 und 1867), und unter seiner kenntnisreichen Mithilfe, seinen Anregungen und Hilfestellungen habe ich es als Theologin gewagt, diese Übersetzung zu liefern. Für sein Vertrauen und seine Unterstützung bedanke ich mich aufs Herzlichste! Die endgültige Verantwortung für die ganze Übersetzung der nicht selten in sehr schwülstigem Stil abgefassten Texte trage ich natürlich selbst. An mehreren Stellen 1 

Abgekürzt: (H).

9

Einleitung

hätte ich lieber schöner formuliert, doch das oberste Prinzip meiner Übersetzung war, möglichst nahe an Geist und Wortlaut des Originals zu bleiben. So weit es im Deutschen irgend vertretbar war, habe ich die lateinischen Konstruktionen beibehalten. Es existieren wenigstens drei neuere Übersetzungen der Vita Mariae Oigniacensis, zwei französische2 und eine englische,3 die aber selbstverständlich auf den alten Textausgaben in den Acta Sanctorum basieren und deshalb durch die neue kritische Edition der Vita mit ihren Änderungen gegenüber den alten Textausgaben nicht mehr zuverlässig sind. Doch schon allein die Existenz dieser Übersetzungen dokumentiert die Bedeutung der Vita und das große Interesse an diesem Frauenleben.

Ziel der vorliegenden Übersetzung Mit Hilfe der vorliegenden Übersetzung wird die Vita Mariae Oigniacensis über den Kreis der Fachleute hinaus einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Da das Interesse am Leben der Beginen und an mittelalterlicher Spiritualität in den letzten Jahrzehnten sehr gewachsen ist und zu einer Wiederentdeckung der Mystik, insbesondere der Mystik von Frauen des Mittelalters geführt hat, geriet Maria von Oignies, sowohl als historische Protagonistin der Beginenbewegung als auch durch Details ihrer Vita als Mystikerin, Asketin und prophetische Visionärin immer häufiger in den Fokus. André Vauchez bescheinigt dieser Vita eine heraus­ ragende Wichtigkeit in der Geschichte der Hagiographie und der spirituellen Literatur des Mittelalters.4 Die vorliegende deutsche Vie de Marie d´Oignies par Jacques de Vitry, Supplément par Thomas de Cantimpré – Übers. A. Wankenne, S.J., Namur 1989; Jacques de Vitry, Vie de Marie d`Oignies – Übers. J. Miniac, Arles 1997. 3  ”The Life of Mary of Oignies by James of Vitry”, Übers. M. H. King; “The Supplement to James of Vitry´s Life of Mary of Oignies by Thomas of Cantimpré”, Übers. H. Feiss OSB, in Mary of Oignies, Mother of Salvation, Hg. A. B. MulderBakker (Medieval Women: Texts and Contexts, 7), Turnhout 2006, S. 33–165. 4  A. Vauchez, “La sainteté, arme contre l´hérésie : La ‘Vie de Marie d´Oignies´ par Jacques de Vitry”, in Saints, prophètes et visionnaires. Le pouvoir surnaturel au Moyen Âge, Hg. A. Vauchez, Paris 1999, S. 187. 2 

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Einleitung

Übersetzung macht allen Interessierten diese wertvolle und die Hagiographie in der Folgezeit prägende Biographie einer der ersten Frauen, die eine neue Lebensform gelebt haben, zugänglich.

Übersetzungsproblematiken Die Schwierigkeit einer jeden Übersetzung besteht darin, dass sie immer auch Interpretation ist, ob sie das möchte oder nicht. Anhand des Wörtchens aliquando lässt sich diese Übersetzungsproblematik gut veranschaulichen. Aliquando bedeutet sowohl einmal als auch ab und zu, manchmal oder auch, ein anderes Mal. Alle vier Übersetzungen wären möglich: Einmal (aliquando) aber, wie es ihr schien, band sie ihn drei oder mehr Tage hindurch wie einen Säugling, der zwischen ihren Brüsten ruhte und verbarg sich, damit sie von den anderen nicht gesehen wurde, ein anderes Mal (aliquando) spielte sie mit ihm küssend wie mit einem Knaben; bald (aliquando) zeigte sich der fromme Sohn der Jungfrau seiner Tochter zum Trost wie ein zahmes Lamm auf ihrem Schoß …5

Für welche Variante sich die Übersetzung entscheidet, hat immer mit dem persönlichen Sprachgefühl zu tun und ist dadurch subjektive Interpretation. Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass uns Heutigen manchmal die Denkmuster und die Logik mittelalterlicher Menschen unklar oder verborgen bleiben, zumindest bleibt oft eine Unsicherheit. Manchmal ist der Text verderbt, so dass das Lateinische keinen Sinn ergibt. Schließlich stellt auch der Stil ein Übersetzungsproblem dar. Besonders der des Supplementum des Thomas von Cantimpré (von 1232) ist sprachlich sehr schwierig und in weiten Teilen rich5  Siehe Buch II, § 88. Im folgenden wird nicht nach Seitenzahlen, sondern nach den Nummern der Paragraphen des Prologs, von Buch I, Buch II oder des Supplementum zitiert. Die Paragraphenangaben sind in der Übersetzung am inneren Rand des Textes, die Seitenzahlen der kritischen Edition am äußeren Rand des Textes zu finden.

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Einleitung

tiggehend manieriert. Das Supplementum ist gespickt mit grammatikalischen Schwierigkeiten, zum Beispiel wechselt Thomas von Cantimpré gern innerhalb eines Satzes das Subjekt. Huygens spricht davon, dass Thomas von Cantimpré, besonders am Ende des Supplementum, wo er Jakob von Vitry direkt anspricht, in einen Wortschwulst verfällt.6 Thomas fügt gerade an dieser Stelle viele rhetorische Wiederholungen ein und wirkt floskelhaft: O schöne und tote Vögel! Tot sind sie, die Vögel, sage ich, aber auf welche Art und Weise tot? In Wirklichkeit haben jene zwar toten Vögel einen Mund, aber sie sprechen nicht durch Euch, weil Ihr die Sprache des Vaterlandes nicht versteht. Augen haben sie, aber sie sehen nicht durch Euch beim Unterscheiden in gerichtlichen Angelegenheiten, weil Eure Augen wie die Fischteiche von Hesbon sind, die sich am Tor Bar-Rabbim befinden. Sie haben Ohren, aber sie hören nicht durch Euch, weil Eure Ohren offen stehen für die Eintreiber von Würden, mit denen sie die armen Kinder der Kirche unterdrücken können, aber nicht die Schreie der Armen hören und diejenigen mit Christus versöhnen, die als Kinder des Zorns der Hölle zustreben. Wenn also jene, dir übergebenen Vögel weder sehen noch hören noch sprechen, was muss man anderes von ihnen denken, außer dass sie tot sind? Wenn sie aber tot sind, warum werden sie gehegt und gepflegt wie lebende? Hüte Dich also, heiliger Vater, hüte Dich davor, hoch zu verehrender Bischof, dass Dir die toten Vögel mehr Verwesungsgeruch als Ehre bereiten: denn die Natur der Dinge zeigt sich bekanntlich darin, dass sie die Eigenschaft hat, dass Vögel, wie schön auch immer sie seien, wenn sie des Lebens entbehren, nicht lange ohne Verwesungsgeruch auskommen können. Ihr wisst gewiss, dass es nichts Vorwurfsvolleres gibt als das, was in unserem gallischen Sprichwort von der toten Henne gesagt wird.7

Der Stil des Jakob von Vitry ist gegenüber dem des Thomas von Cantimpré klarer und von daher angenehmer zu übersetzen. Jakobs Text steckt voller biblischer Anspielungen, bringt häufig allegorische Redeweisen und zeigt geschulte Rhetorik. Nicht immer jedoch ist Jakob von Vitry eindeutig. Die neue Edition hilft an solchen Stellen ungemein, weil zum Beispiel Groß-, beziehungsweise Kleinschrei6  7 

Siehe (H), S. 30. Supplementum, § 27.

12

Einleitung

bung von Spiritus/spiritus (“Geist”) markiert, ob es sich im Text um den Heiligen Geist oder um einen anderen, himmlischen oder gar bösen, höllischen Geist handelt, der Maria zu etwas bewegt, zum Trost oder zur Stärkung anwesend ist oder eine Offenbarung veranlasst. Die Unterscheidung zwischen dem Heiligen Geist und einem anderen Geist ist für den Inhalt von hoher Bedeutung. Ungenau ist Jakob von Vitry, wenn er einmal schreibt, Marias Zelle befinde sich ´infra ecclesiam` (wörtlich im Mittellateinischen passim für intra: innerhalb), ein anderes Mal aber, sie befinde sich ´iuxta ecclesiam` (wörtlich: neben), wodurch unklar bleibt, wie und wo genau in oder bei der Kirche man sich die Zelle der Maria von Oignies vorzustellen hat. Im Wesentlichen bemüht sich Jakob von Vitry in der Vita um einen Berichtsstil, in dem er auch tiefste Gefühle und spirituelle Erlebnisse Marias bis ins Detail wiedergibt. Immer wieder unterbricht er sich selbst und spricht die Leser, oder auch Maria von Oignies, sowie Bischof Fulko von Toulouse, den Auftraggeber der Vita, direkt an. Auch die, die er moralisch für unwürdig hält und ermahnen möchte, werden mit direkten Anreden bedacht, meist verknüpft mit Weherufen: Priester, die Christus zum zweiten Mal verraten,8 Lüsterne, die sich auf ihren Betten räkeln,9 Habgierige, die nicht genug Reichtum bekommen können,10 Wucherer, aus ihrem Orden ausgetretene Mönche oder auch Menschen, die dem Luxusleben frönen, Ritter, die lieber zu ihrem Vergnügen an Turnieren teilnehmen als sich für den Glauben einzusetzen und sich an einem Kreuzzug zu beteiligen.11 Damit äußert Jakob von Vitry harsche Kritik an den einzelnen gesellschaftlichen Ständen, ermahnt den jeweiligen Stand als Ganzes oder auch Einzelpersonen, die sich einer Todsünde schuldig machen.12 Dadurch offenbart er sich selbst als moralisch strenger Kleriker, der es als seine Aufgabe ansieht, Sünder zur Umkehr zu bewegen. Buch II, § 86. Buch I, § 37. 10  Buch II, § 46. 11  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies. Eine hochmittelalterliche Mystikerin zwischen Ketzerei und Rechtgläubigkeit (Europäische Hochschulschriften Reihe 23, Bd. 454), Frankfurt a. Main, 1992, S. 42. 12  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 41. 8 

9 

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Einleitung

Der Autor der Vita: Jakob von Vitry Für mittelalterliche Verhältnisse gibt es über den Autor der Vita der Maria von Oignies, Jakob von Vitry, verhältnismäßig viele Informationen.13 Geboren wird Jakob von Vitry zwischen den Jahren 1160 und 1170 in einem der zehn französischen Orte mit Namen Vitry, wahrscheinlich in jenem Vitry, das nahe Reims liegt. Jakob von Vitry studiert in Paris und beendet sein Studium mit der Magisterwürde. Das bedeutete, dass er Vorlesungen über die Bibel und theologische Disputationen halten durfte. Es ist davon auszugehen, dass sein Lehrer Petrus Cantor war. Jakob von Vitry schätzt die Predigtkunst als sehr bedeutend ein und zeigt sich begeistert von berühmten Predigern wie Fulko von Neuilly, Stephen Langton, Johannes von Liro und Johannes von Nivelles. Durch seine eigene Fähigkeit als Prediger wird er später innerhalb der römisch-katholischen Kirche Karriere machen und in höhere Kirchenämter befördert werden.14 Möglicherweise – jedoch ohne historischen Beweis – ist davon auszugehen, dass Jakob von Vitry nach seinem Studium zwei Pfarrstellen zu verwalten hatte. Durch die mit den Pfarrstellen verbundenen Pfründen hätte er dann seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Zwischen den Jahren 1211 und 1216 hält er sich mit Sicherheit in der Diözese Lüttich auf und tritt in das Augustinerchorherrenstift St. Nikolaus in Oignies ein. Weshalb er ausgerechnet dorthin geht, lässt sich historisch nicht klären. Möglicherweise fühlt er sich ganz allgemein von der niederländischen Spiritualität angezogen, möglich wäre auch, dass er zu denen gehörte, die dem Ruf der Heiligkeit Marias von Oignies folgten, denn dieser Ruf ging sogar bis nach England.15 In der Vita berichtet Jakob von Vitry von einem Brief, den ihm Maria von Oignies nach seiner Priesterweihe nach Paris geschickt habe. Sie habe nämlich eine Vision von seiner Priesterweihe gehabt und auf diese Weise alles miterlebt. I. Geyer, Maria von Oignies, S. 23–28. Siehe B. McGinn, Die Mystik im Abendland. Band  3. Blüte: Männer und Frauen der neuen Mystik (1200– 1350), Freiburg 1999, S. 75. 15  Siehe W. Simons, Cities of Ladies. Beguine Communities in the Medieval Low Countries, 1200–1565, Philadelphia 2000, S. 35. 13 

14 

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Einleitung

In diesem Brief sei eine Prophezeiung enthalten gewesen, dass er, Jakob, seine erste Messe in Oignies feiern werde.16 Hatten die beiden sich also schon viel früher kennen gelernt? Kam Jakob von Vitry schon vor dem Jahr 1211 nach Oignies, um den noch jungen Augustinerchorherrenkonvent kennen zu lernen mit der Absicht, später dort einzutreten? Da der Konvent als Neugründung keineswegs von Bedeutung war, hätte Jakob von Vitry auf diese Weise seine Haltung der Demut und Armut unter Beweis gestellt. In Oignies ist Jakob von Vitry Priester und Seelsorger und hält Volkspredigten. Im Jahr 1213 erhält er vom päpstlichen Legaten, Raimund von Uzès, den Auftrag, in Frankreich und im deutschsprachigen Lothringen für die Teilnahme am Albigenserkreuzzug zu werben. In dieser Zeit gehört Jakob von Vitry bereits zu den besten und wohl bekanntesten Predigern seiner Zeit. Bereits zwei Jahre nach Marias Tod, im Jahr 1215, verfasst er die Vita Mariae Oigniacensis, sie wird deshalb als eine ´frühe` Vita17 bezeichnet, noch nah an der Historie. Sie gilt als die erste spirituelle Biographie des Mittelalters einer Frau18 und wird zum Vorbild für weitere dreizehn Biographien frommer Frauen im 13. Jahrhundert werden; ja, sie wird geradezu zum Modell der weiblichen Biographien der folgenden Jahrhunderte,19 zum Prototyp für spätere Darstellungen von hochmittelalterlicher neuer Heiligkeit. Die Lebensbeschreibung der Maria von Oignies prägt die Eigenart und den Charakter des Beginenwesens für die nachfolgenden Jahrzehnte.20 Deshalb wurde der Prolog der Vita mit seiner Beschreibung der verschiedenen Lebensformen und mystisch-ekstatischen Ausprägungen des Lebens der frommen Frauen Belgiens stets viel zitiert.

Buch II, § 86. Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 34. 18  P. Majérus, Ces femmes qu´on dit béguines… Guide des Béguinages de Belgique. Bibliographie et sources d´archives, Bruxelles 1997, S. 686; A. Vauchez, “La sainteté, arme contre l´hérésie”, S. 175, nennt die Vita der Maria von Oignies ein «chef d´œuvre de la littérature latine médiévale». 19  Siehe P. Majérus, Ces femmes qu’on dit béguines…, Bd. 2, S. 686. 20  P. Majérus, Ces femmes qu’on dit béguines…, Bd. 2, S. 686. 16  17 

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Einleitung

Jakob von Vitry wird kurze Zeit nach Abfassung seiner Schrift zum Bischof von Akko bestellt. Im Sommer 1216 wird er in Perugia von dem gerade neu ins Amt gekommenen Papst Honorius III. in seinem Bischofsamt bestätigt. Bei dieser Gelegenheit erwirkt Jakob von Vitry vom Papst für die Beginen im französischen und deutschen Reich die Erlaubnis, dass sie in einem Haus zusammen leben und sich gegenseitig zum guten Tun ermahnen dürfen. Das zeigt, wie sehr ihm diese Frömmigkeitsbewegung am Herzen gelegen haben muss. Im Herbst des Jahres 1216 reist Jakob von Vitry nach Palästina. Zwischen den Jahren 1218 und 1221 nimmt er an der Belagerung und Eroberung von Damiette durch das Heer des fünften Kreuzzugs teil. Seine Briefe sind ein lebendiges Zeugnis seiner Erfahrungen im Heiligen Land. Ins Jahr 1220 fällt die Abfassung des ersten Teils seines umfangreichen Geschichtswerks, der Historia Orientalis. Den zweiten Teil, die Historia Occidentalis‚ stellt er nach dem Jahr 1221 fertig. Für eine Reise nach Italien im Jahr 1222 unterbricht er seinen Aufenthalt in Palästina. Im Jahr 1225 verlässt er Akko und Palästina für immer. Seit 1226/1227 ist Jakob von Vitry in Lüttich als Weihbischof tätig. In dieser Zeit und dieser Funktion weiht er die fünf Altäre der Kirche St. Nikolaus in Oignies und erhebt die Gebeine der Maria von Oignies zur Ehre der Altäre. Von diesen Altären ist im Supplementum ausführlich die Rede.21 Als Weihbischof findet Jakob von Vitry im Jahr 1229 Erwähnung im Zusammenhang mit der Einsetzung eines Mönchs namens Waselin zum Abt des Zisterzienserklosters Val-St. Lambert. Im Sommer desselben Jahres hält sich Jakob von Vitry in Rom auf, übernimmt Aufgaben an der Kurie und wird Kardinalbischof von Tuskulum. Sein Todestag ist der 1. Mai 1240. Auf seinen Wunsch hin wird Jakob von Vitry in Oignies (heute: eine Teilgemeinde von Aiseau) beigesetzt. Der Schrein mit seinen Gebeinen steht heute noch dort in der neuen Kirche.

21 

Supplementum, § 21.

16

Einleitung

Der Autor des Supplementum: Thomas von Cantimpré Thomas von Cantimpré bezeichnet sich selbst als Freund und Bewunderer Jakobs von Vitry: Denn mit welcher Liebe ich Euch liebe, mit welcher aufrichtigen Zuneigung ich Euch umarme, weiß der, der alles weiß. Ich hatte ja noch nicht das Alter von fünfzehn Jahren erreicht, als ich Euch in Lothringen predigen hörte, als Ihr noch nicht Bischof wart und Euch mit so großer Verehrung lieb gewann, dass mich das Hören allein Eures Namens froh machte: von da an bleibt die Liebe zu Euch ungeteilt bei mir.22

Wie aus diesem Zitat hervorgeht, ist Thomas von Cantimpré jünger als Jakob von Vitry. Geboren wird er 1201 in Leeuw-St.-Pierre, in Brabant.23 Thomas von Cantimpré studiert zunächst an der Domschule in Lüttich, dann tritt er, etwa im Jahr 1217 in das Chorherrenstift Cantimpré bei Cambrai ein. Es ist anzunehmen, dass er bereits in dieser Zeit, also etwa im Alter von sechzehn Jahren beginnt, geistliche Pflichten zu übernehmen. Im Jahr 1230 wird er Dominikaner und tritt ins Kloster von Löwen ein. Noch während seines Noviziats, im Jahr 1232, beginnt er mit der Abfassung der hagiographischen Schrift Vita Christinae nach dem Vorbild von Jakobs Vita der Maria von Oignies. Durch eine Frankreichreise scheint er mit der Vita bekannt geworden zu sein. In diese Zeit fällt auch seine Beschäftigung mit Naturgeschichte. Sein Konvent schickt ihn zum Studium zunächst nach Köln, dann nach Paris. Im Jahr 1240 kehrt er nach Löwen zurück, wird Subprior und Lektor im Dominikanerkonvent. Zwischen den Jahren 1246 und 1248 verfasst er die Vita der Lutgard von Aywières. Zu Thomas´ hagiographischen Schriften gehören daneben die Vita des Johannes von Cantimpré, die Vita der Jutta von Huy, die Supplementum, § 27. Die Angaben über Thomas von Cantimpré basieren auf I. Geyer, Maria von Oignies, S. 62–64. Siehe auch (H), S. 7, Anm. 3: Thomas von Cantimpré ist in Brabant nicht nur erzogen, sondern auch geboren. Der Zusatz et natus (und geboren) fehlt in der Ausgabe der Acta Sanctorum der Bollandisten, siehe Supplementum, § 11. 22  23 

17

Einleitung

Vita der Margarete von Ypern und das Supplementum zur Vita der Maria von Oignies. Neben einigen Kommentaren zu Werken des Thomas von Aquin verfasste Thomas von Cantimpré in den Jahren 1256 bis 1258 zwei naturgeschichtliche Schriften mit den Titeln: Bonum universale de apibus und Opus de natura rerum. Sie bringen ihm später den Ruf ein, besonders leichtgläubig und unkritisch zu sein. Als Prediger und Beichtvater kritisiert er die Missstände seiner Zeit, den Kleiderluxus, die Ritterspiele der gutsituierten Laien, sowie die Habgier der Geistlichen. Sein religiöser und sein moralischer Rigorismus lässt ihn nicht nur gegen Laster vorgehen, sondern auch gegen Juden und Häretiker polemisieren. Thomas von Cantimpré versteht sein Supplementum als Ergänzung der Vita der Maria von Oignies und setzt sich heftig mit der beruflichen Karriere des Jakob von Vitry auseinander. Thomas beschreibt eine Vision des Jakob von Vitry, in der diesem Maria von Oignies erschienen sei, um ihn davor zu warnen, nach seiner Rückkehr aus Palästina nach Rom zu gehen. Der neu gewählte Papst Gregor IX., gut bekannt mit Jakob von Vitry, könnte Jakob in Rom festhalten und an der Kurie mit einem Amt betrauen. Doch Jakob lässt sich nicht zurückhalten, und tatsächlich überträgt Papst Gregor IX. ihm das Kardinalbistum von Tuskulum. Freilich leiden die Beginen und die Chorherren in Oignies unter Jakobs Weggang. Thomas schreibt: Daher waren der Prior und die Brüder nicht wenig traurig und begannen, wie es nachher, o Schmerz, auch so geschah, heftig zu fürchten, dass ihn der genannte Papst durch irgend eine Würde eingebunden, bei sich zurückhalten würde. Als der Tag also bevorstand, an dem der Bischof zur Stadt Rom aufbrechen sollte und sich nach den Morgengebeten ein wenig dem Schlaf hingegeben hatte, siehe, da erschien die Magd Christi, die verehrungswürdige Maria, einer Kranken ähnlich, dem Bischof im Schlaf. Und als es dem Bischof schien, dass er sich mit großer Sorgfalt bemühte, sie wie eine Schwerkranke mit der (letzten) Ölung zu versehen, sah sie den Bemühten mit finsterer Miene, einer Empörten gleich, an und sagte: “Du wirst mich nicht salben können, da deine Dienstordnung nicht enthält, auf welche Art und Weise ich gesalbt werde, sondern salbe unseren Prior gemeinsam mit den Brüdern, die, wie auch ich, auf Grund dei-

18

Einleitung

nes Weggangs schwer leiden.” Und ohne Zögern ruft der Bischof, nachdem er aufgewacht ist, den Prior und die Brüder herbei und zeigt an, was ihm von der Magd Christi im Schlaf gesagt worden ist, weicht jedoch nichtsdestoweniger von seinem Vorsatz nicht ab und setzt alle seine Bemühungen fort, die Reise anzutreten.24

Es wird vermutet, dass Thomas von Cantimpré mit den vielen Wundergeschichten in seinem Supplementum eine Heiligsprechung der Maria von Oignies fördern oder gar erreichen wollte.25 So beschreibt er nicht nur Heilungen, zum Beispiel mit einem Haarbüschel der Maria von Oignies, sondern verlängert dieses Heilungswunder sogar noch, indem er behauptet, dieses Haarbüschel sei in der Lage, lebendig zu werden und sich wie Würmer zu bewegen: Es berichtet derselbe Mann von denselben Haarreliquien ein besonders großes Wunder. Denn als er an einem Tag, wie er es häufig zu tun pflegte, eben diese Haarreliquien der Magd Christi, von denen wir gesprochen haben, auf einem Seidentuch auf seinem Schoß hielt und zum Herrn betete, sah er wahrhaftig, als er sie betrachtete, dass die Haare, unter seinen Augen lebendig gemacht und belebt, sich wie Würmer bewegten und sich untereinander auf die Weise, wie sich eine solche Sache ansieht, freudig benahmen, und dieser wunderbare Anblick blieb nicht in diesem kleinen Zeitraum, sondern fast eine vollständige Stunde lang erhalten, und so kam erst nachdem die Kraft geschwunden war, die Menge der Haare zur Ruhe.26

Thomas beschreibt auch Naturwunder: Maria von Oignies und ihre Gefährten gelangen trockenen Fußes durch ein Gewitter: Es geschah, dass, als schwere Regengüsse so sehr hernieder prasselten, dass die Erde aufschäumte, der Weg jedoch, auf dem die Heilige mit ihren Gefährten ging, auf jeder Seite, rechts und links, über ungefähr acht Ellen hin so unberührt vom Regen blieb, dass nicht einmal ein einziger Tropfen über ihnen zu fallen schien.27

Supplementum, § 22. Siehe auch unten, S. 45, Anm. 150. 26  Supplementum, § 7. 27  Supplementum, § 8. 24  25 

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Einleitung

Thomas von Cantimpré lässt Maria ohne Boot die Sambre überqueren.28 Er beschreibt Totenerscheinungen – unter anderem sieht Maria von Oignies ihre eigene Mutter als schwarzen Geist und unterhält sich mit ihr.29

Inhaltsüberblick Die Vita der Maria von Oignies umfasst drei Bücher: Prolog, Buch  I und Buch II. Den elf Paragraphen umfassenden Prolog widmet Jakob von Vitry Bischof Fulko von Toulouse.30 Dieser hat Maria von Oignies zwei Mal zu deren Lebzeiten besucht. Paragraph zwei beschreibt die Eindrücke, die Fulko von den frommen Frauen in der Diözese Lüttich gewinnt. Er habe sich bereits wie im Land der Verheißung gefühlt. Die Frömmigkeitsübungen der frommen Frauen finden Erwähnung, die als Jungfrauen, Ehefrauen oder Witwen ein apostolisches – das heißt am Leben Jesu und seiner Apostel orientiertes, wahrhaft engelgleiches Leben führen. Die Verfolgungen, denen diese Frauen in ihrer Umgebung ausgesetzt sind, kommen zur Sprache, ebenso die Ratlosigkeit der Zeitgenossen gegenüber diesen neuen Gruppen: Als daher einer von den Mönchen des heiligen Bernhard, der bislang in einer Abtei namens Aulne für den Herrn Dienst tat, aus Einfalt wissen wollte, was das für Männer und Frauen seien, die von den Boshaften mit neuen Namen belegt wurden, erhielt er im Gebet eine Antwort vom heiligen Geist, die lautete: Sie werden als fest im Glauben befunden werden, in ihren Werken wirksam.31

Gegen Ende des Prologs lenkt Jakob sein Augenmerk und die Aufmerksamkeit der Leser auf Maria, die wie eine wertvolle Perle, wie

Supplementum, § 9. Supplementum, § 12. 30  Über das Leben von Fulko von Toulouse, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 49f. Zum Prolog, I. Geyer, Maria von Oignies, S. 49–53. 31  Prolog, § 4. 28 

29 

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Einleitung

ein Karfunkel unter den anderen Steinen, wie die Sonne unter den Sternen wunderbar glänzte.32 Buch I und Buch II bestehen aus jeweils 13 Kapiteln, wobei Jakob von Vitry angibt, in Buch I das “äußere Leben” und in Buch II das “innere Leben” der Maria zu beschreiben.33 Über weite Strecken entspricht der Aufbau der Vita einer Aneinanderreihung von Beispielgeschichten, von Exempelsequenzen,34 ist weit weniger chronologisch und systematisch als es zunächst scheint. Buch I beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Marias Tugendleben, Buch II im Wesentlichen mit ihrem kontemplativen Leben. Obwohl das Tugendleben aus unserer heutigen Sicht bereits etwas zutiefst Inneres ist,35 scheint Jakob von Vitry das kontemplative Leben als eine deutliche Steigerung empfunden zu haben. Er konzentriert sich hier auf den Aufstieg der Mystikerin Maria von Oignies zur Vollkommenheit, zur vollständigen Christusförmigkeit. Wie auf der Jakobsleiter, der Himmelsleiter, wandert sie Stufe um Stufe nach oben.36 Zunächst folgt Jakob von Vitry in Buch I grob dem chronologischen Lauf von Marias äußerem Leben: Kindheit, Heirat im Alter von 14 Jahren, die Zeit mit dem Ehemann Johannes und der Entschluss, eine Josephsehe zu führen, wobei die Liebe Marias zu ihrem Ehemann wohl nicht endet: Deshalb erschien der Herr später seiner Magd in einer Vision und versprach ihr, dass er ihr den Gefährten, der sich aus Liebe zur Keuschheit des fleischlichen Verkehrs auf Erden enthalten hatte, gleichsam durch eine Wiederherstellung der Ehe im Himmel zurückgeben werde.37

Maria von Oignies und ihr Ehemann Johannes übernehmen gemeinsam fünfzehn Jahre lang die Pflege von Leprakranken in Prolog, § 9. Für das Folgende, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 53 ff. 34  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 34. 35  W. Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Band IV. Ottonische Biographie. Das hohe Mittelalter 920–1220 n. Chr. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie), Stuttgart 2001, S. 536: “Welches «innere Leben» soll nach Reue, Buße, Gebet und Wachen noch folgen?” 36  Buch I, § 38. 37  Buch I, § 14. 32  33 

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einem Spital in Willambroc nahe bei Nivelles, der Heimatstadt Marias. Die von Jakob aufgeführten Tugenden Marias: Zerknirschung, Buße, Beichte, Fasten, Gebetskraft und in Bezug auf ihre äußere Haltung und ihr Erscheinungsbild: die Tugend der Sittsamkeit und des Maßes, weisen auf ein Büßerleben hin.38 Maria trägt zu ihrer Kasteiung auf nackter Haut einen kratzenden rauen Sack aus Ziegenhaaren,39 einen Strick um den Hals,40 macht halbe oder ganze Nächte lang Frömmigkeitsübungen und Kniebeugen zur Ehre der Jungfrau Maria. In Oignies dann, ab dem Jahr 1207, verbringt sie die Nächte in der Kirche, den Kopf an die Wand gelehnt, nur kurze Zeit schlafend und ausruhend, um danach wieder zu ihrer süßen Arbeit der Nachtwachen zurückzueilen.41 In Buch II der Vita entfaltet Jakob von Vitry anhand des theologischen Schemas der Sieben Geistgaben Marias Geistbegnadungen. Hier ist der Aufbau straff durchkomponiert. Jakob von Vitry folgt dem Konzept der Sieben Geistgaben, das auf den Propheten Jesaja (11, 2–3) zurückgeht,42 allerdings in von oben herabsteigender Ordnung im Sinn der Aufstiegsbiographie,43 beginnend bei der Gabe der Furcht Gottes, endend mit der Weisheitsgabe. Maria von Oignies wird als mit der Fülle der Geistgaben Beschenkte dargestellt. Obwohl das theologische Schema der Sieben Geistgaben schon lange vor dem 13. Jahrhundert zur Verfügung stand, hat “erst die «frühgotische» Biographie der Maria v. Oignies, die Jakob v. Vitry schrieb, von diesem Modell intensiv Gebrauch gemacht.”44 Die sieben Geistgaben: der Geist der Furcht, der Buch I, § 39. Buch I, § 37. 40  Buch I, § 12. 41  Buch I, § 34. 42  Diese Bibelstelle behandelt eine Prophezeiung, die in der christlichen Theologie als Prophezeiung auf Jesus Christus und seine Geistbegabung hin gedeutet wurde, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 35. 43  Siehe W. Berschin, Biographie, Bd. IV, S. 536. 44  W. Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Band V. Kleine Topik und Hermeneutik der mittellateinischen Biographie/Register zum Gesamtwerk (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie, Band  15), Stuttgart 2004, S. 66. 38 

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Frömmigkeit, der Erkenntnis, der Stärke, des Rates, des Verstehens und der Weisheit, sind der Ursprung aller Tugenden, aller Kräfte Marias, so Jakob von Vitry. Da der Ruf ihrer Heiligkeit immer mehr zunimmt und zu viele Ratsuchende, Gottsuchende, Neugierige zu ihr kommen, siedelt sie mit Erlaubnis ihres Ehemanns und ihres damaligen Beichtvaters und Schwagers Guido nach Oignies um. Dort existierte eine weibliche Laiengemeinschaft um die vier Brüder Walcourt, drei Augustinerchorherren und einen Goldschmied nebst deren verwitweter Mutter. Maria wird an diesem Augustinerchorherrenkonvent sozusagen eine “informelle Rekluse”.45 Alle, die sich später noch anschließen, sind und leben als Konversen am Rand der monastischen Brüdergemeinschaft der Augustinerchorherren.46 Grob lässt sich also Buch I als Darstellung von Marias Bußund Tugendleben, Buch II als Darstellung ihres kontemplativen Gnadenlebens einteilen.

Die Rezeption der Vita Die große Bedeutung der Vita ist unbestritten, ist sie doch ältestes Zeugnis der neuen Mystik, der religiös erweckten Frauen in der Aufbruchsepoche des Hohen Mittelalters in den damaligen Südlichen Niederlanden. Sie übte immensen Einfluss auf die mittelalterliche Spiritualität aus. Die große Anzahl an mittelalterlichen Abschriften der Vita und ihre weite Verbreitung deutet darauf hin, wie beliebt sie bereits bei mittelalterlichen Menschen war. Für seine Edition benutzte R. B. C. Huygens dreißig Handschriften der Vita, von denen allein sechzehn aus dem 13. Jahrhundert stammen, fünf aus dem 15. Jahrhundert, weitere neun aus dem 14. und 15. Jahrhundert.47 Früh also wurde diese Vita rezipiert. Der größte Siehe A.  B. Mulder-Bakker, Living Saints of the Thirteenth Centrury. The Lives of Yvette, Anchoress of Huy; Juliana of Cornillon, Author of the Corpus Christi Feast; and Margaret the Lame, Anchoress of Magdeburg (Medieval Women: Texts and Contexts, 20), Turnhout 2011, S. 2. 46  P. Majérus, Ces femmes qu’on dit béguines…, Bd. 2, S. 687. 47  Siehe (H), S. 10. 45 

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Teil der Handschriften stammt aus Zisterzienserabteien, gefolgt von Handschriften aus dem Umfeld von Regularkanonikern, Benediktinern, Kartäusern, Prämonstratensern und den Brüdern vom gemeinsamen Leben.48 Die erstaunlich große Zahl der Handschriften, wobei keine einzige der von Huygens benützten Handschriften die Kopie einer anderen ist, ist ein Indikator dafür, dass auch Abschriften dieser Handschriften existierten und die Vita Mariae Oigniacensis ursprünglich sogar noch weit größere Verbreitung erlebt hatte.49 Margery Kempe (ca. 1373 – 1438), eine englische Mystikerin, kannte die Vita.50 Das Supplementum hingegen ist nur in fünf Handschriften überliefert, die alle aus dem 15. Jahrhundert stammen.51 Daraus schließe ich, dass schon früh die qualitativen Unterschiede zwischen Vita und Supplementum erkannt wurden und dass der Text des Thomas von Cantimpré schon von Anfang an als zu wunderbegeistert eingeschätzt wurde. Das Supplementum gilt nicht zu Unrecht als eine historisch wenig zuverlässige Quelle.

Die Vita als frühestes Zeugnis der Beginenbewegung Im Zusammenhang mit dem allgemeinen religiösen Aufbruch der Laien im Hochmittelalter entsteht eine religiöse Frauenbewegung,52 die zu einem großen Teil von Beginen,53 also verheirateten Laienfrauen, getragen wird: Nach der Häufigkeit geordnet, s. (H), S. 18f. (H), S. 20. 50  J. N. Brown, Three Women of Liège: a critical edition of and commentrary on the Middle English Lives of Elizabeth of Spalbeek, Christina Mirabilis and Marie d’Oignies (Medieval Women: Texts and Contexts, 23), Turnhout 2008, S. 248. 51  Siehe (H), S. 29. 52  So zuerst H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (Historische Studien, Heft 267), Berlin 1935 (Nachdruck Darmstadt 1977). 53  Diese Bezeichnung ist ursprünglich ein Schimpfwort und wird von den Laienfrauen dann als Selbstbezeichnung übernommen, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 81. Jakob von Vitry kannte den Begriff ´Begine` noch nicht. Thomas von Cantimpré benützt ihn ein Mal im Supplementum, §  25. Erst im Jahr 1240 48 

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Du hast nämlich gesehen, und du hast dich darüber gefreut, wie in den Liliengärten des Herrn an verschiedenen Orten eine Vielzahl von Scharen heiliger Jungfrauen für Christus die Lockungen des Fleisches verschmähten, und wie sie sogar aus Liebe zum himmlischen Reich die Reichtümer dieser Welt verachteten, in Armut und Demut ihrem himmlischen Bräutigam anhingen und durch ihrer Hände Arbeit einen kargen Lebensunterhalt verdienten: Selbst wenn ihre Eltern Reichtümer in Fülle besaßen, vergaßen sie doch selbst ihr Volk und ihr Elternhaus und wollten lieber Enge und Armut aushalten als Reichtümer, die auf unrechte Art erworben waren, im Überfluss besitzen oder sich der Gefahr aussetzen, unter protzigen Weltlichen zu bleiben.54

Die Bedingungen dafür, dass jene Scharen von Frauen an verschiedenen Orten und auf durchaus unterschiedliche Weise seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ein frommes Leben führen, liegen in der Entwicklung der Städte, des Handwerks und des Handelswesens – zu Wasser und zu Land verbreiten sich nicht nur Handelswaren, sondern auch religiöse Ideen – und im Bevölkerungswachstum, das auf Grund von effizienteren landwirtschaftlichen Anbaumethoden und -geräten zu verzeichnen ist. Die religiöse Strömung breitet sich in Flandern, Brabant, Nordfrankreich, den Niederrhein- und den Moselgebieten aus. Von den Niederlanden aus zieht sie bis nach Schlesien, Polen und Böhmen, den Rhein entlang bis nach Süddeutschland und in die Schweiz, ja bis nach Südfrankreich und nach Italien.55 Zunächst leben diese Frauen in den südlichen Niederlanden frei, das heißt ohne offizielle Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, so wie Maria von Oignies. Ab dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts schließen sie sich in unregulierten Gemeinschaften zusammen, um ein religiöses Leben in der Welt zu führen.56 verlor der Name ´Begine` seine pejorative Konnotation, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 82. 54  Prolog, § 3. 55  P. Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn 1992, S. 46. Auf den Verlauf, den die religiöse Bewegung im Süden des damaligen Europa genommen hat, gehe ich an dieser Stelle nicht ein. 56  Siehe W. Simons, Cities of Ladies, S. 50: Die meisten Beginengemeinschaften in den südlichen Niederlanden etablierten sich zwischen 1230 und 1320.

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Was bis dahin ein Widerspruch in sich war: religiös leben in der Welt – diese Frauen “erfinden” es. Sie führen ein Leben als Semireligiose, ein Leben zwischen Welt und Klausur. Die beginische Lebensform wird in verschiedenen Ausprägungen gelebt: Die Lebensform der Rekluse blüht wieder auf,57 manchmal ziehen sich fromme Mädchen in einen Raum ihres Elternhauses zurück, beten und erwirtschaften sich ihren Lebensunterhalt durch Handarbeit. Leben Beginen in einem Haus zusammen, legen sie in der Regel ein Gelübde ab, das sie allerdings nicht unbedingt lebenslang bindet. Es ist möglich, aus der Gemeinschaft wieder auszuscheiden, zum Beispiel, um zu heiraten und den eingebrachten Besitz wieder zurück zu bekommen. Manche nutzen diese Lebensform also als Übergang zu einer anderen Lebensform.58 Jede Beginengemeinschaft wählt sich eine Vorsteherin, meist ´Martha´ oder ´Magistra´ genannt. Ihr geloben die Beginen Gehorsam. In den Beginenhäusern werden alle Rollen und Aufgaben so verteilt, wie es auch in einem monastischen Haushalt der Fall ist: da gibt es dann zum Beispiel eine “Schuh-Martha, Keller-Martha, KüchenMartha”.59 Die Beginen befolgen die drei evangelischen Räte: Keuschheit, Armut60 und Gehorsam. Das semireligiöse Leben bietet Laien die Möglichkeit, an dem gerade aufkeimenden Ideal des Büßerlebens teilzuhaben. Verheiratete leben keusch in ihrer Ehe, üben innereheliche Enthaltsamkeit und erreichen dadurch ein hohes gesellschaftliches Ansehen. In den Augen der Kleriker wiegt zwar die physische Jungfräulichkeit schwerer, und sie verSiehe A. Fößel, , A. Hettinger , Klosterfrauen, Beginen, Ketzerinnen. Religiöse Lebensformen von Frauen im Mittelalter (Historisches Seminar, Neue Folge, 12), Idstein 2000, S. 40–41. 58  Siehe W. Simons, Cities of Ladies, S. 35–36. 59  A. B. Mulder-Bakker, J. Wogan-Browne, Household, Women and Christianities in Late Antiquity and the Middle Ages (Medieval Women: Texts and Contexts, 14), Turnhout 2005, S. 131. G. Constable, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought. The Interpretation of Mary and Martha – The Ideal of Imitation of Christ – The Orders of Society, Cambridge 1995, S. 125 nennt weitere Ausprägungen der Martha-Dienste. 60  Durch die ihr verliehene Gnade der Gottesfurcht lebte Maria von Oignies in einer starken Liebe zur Armut: Buch II, § 45: Sie hatte aber aus dem Geist der Furcht solch große Liebe zur Armut gewonnen, dass sie sogar kaum das Lebensnotwendige behalten wollte. 57 

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sprechen nach wie vor den Nonnen den himmlischen Lohn der einhundertfältigen Frucht,61 doch in den Augen der Laien steht spirituelle Virginität ebenso hoch.62 Auch Jakob von Vitry findet wertschätzende Lobesworte: Du hast auch heiligmäßig lebende Frauen gesehen, und du hast dich darüber gefreut, die in der Ehe ihrem Herrn fromm dienten, die ihre Kinder in der Furcht Gottes erzogen, die auf eine ehrbare Hochzeit und ein unbeflecktes Ehebett achteten, die sich zur rechten Zeit für das Gebet frei hielten und danach mit Gottesfurcht in dasselbe zurückkehrten…63

Ihre ökonomische Unabhängigkeit gewährleisten die Beginen durch eigene Handarbeit. Obwohl diese Frauen im Norden des damaligen Europa meist dem Adel oder dem Patriziertum entstammen und auf genügend finanzielle Ressourcen ihrer Familien zurückgreifen können, wählen sie doch freiwillig die Armut und die Arbeit. Marias von Oignies Arbeitsfähigkeit und –leistung steht im Zusammenhang mit ihrem Büßertum,64 ihrer Bußhaltung und Bußbereitschaft.65 Siehe Mt 13, 8 und 23. Ab dem 12. Jahrhundert begann eine Konkurrenz der Bedeutungsschwere zwischen einer “spirituellen” und der physischen Jungfräulichkeit, obwohl die Theologen weiterhin daran festhielten, dass die körperliche Virginität im Himmel größere Belohnung nach sich ziehe. Siehe W. Simons, Cities of Ladies, S. 71. 63  Prolog, §  3. Siehe V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“. Zu Herkunft und Eigenart der ersten Beginen (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte, 223), Göttingen 2010, S. 169.  Jakob von Vitry spricht in einer seiner Predigten sogar davon, dass die Virginität nach der Hochzeit unter neuem Namen, als castitas matrimonialis, bliebe, solange die Menschen nicht ihr Ehebett entehrten, siehe J. Wogan-Browne, Saint´s Lives and Womens´ Literary Culture c. 1150–1300: Virginity and ist Authorizations, Oxford 2001, S. 46. 64  M. Wehrli-Johns, “Das mittelalterliche Beginentum – Religiöse Frauenbewegung oder Sozialidee der Scholastik?” in Fromme Frauen oder Ketzerinnen? Leben und Verfolgung der Beginen im Mittelalter, Hg. M. Wehrli-Johns, Cl. Opitz, Freiburg 1998, S. 44–51 vertritt die These, Papst Innozenz III. habe das Beginentum gezielt, seiner scholastischen Theologie entsprechend, als Teil des neuen laikalen Bußordens in der Kirche etabliert. 65  A. Vauchez, Gottes vergessene Welt. Laien im Mittelalter, Freiburg 1993, (Übersetzung von Les Laïcs au Moyen Age, pratiques et expériences religieuses), 61 

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Die Städte bieten ausreichend Erwerbsmöglichkeiten, vorwiegend in der Tuchindustrie. In der Stadtkultur finden sich für Beginen ideale Felder zur tätigen Nächstenliebe: Unterrichtung von Mädchen, Krankenpflege, Totenwachen und insgesamt den Dienst an Toten,66 ein Tabu der damaligen Gesellschaft. Die persönlichen Freiheiten, die Autarkie und Unabhängigkeit werden die neue Lebensform der Beginen zwischen Kloster und Welt für die Laienfrauen damals sehr attraktiv gemacht haben, viel attraktiver als ein Nonnenleben in Klausur.67 Maria von Oignies braucht keine irdische Äbtissin, hat sie doch ihren eigenen, einen himmlischen Abt. Es ist ein ihr vertrauter, zu ihrem Schutz bestellter Engel, dem sie wie einem eigenen Abt gehorchen muss.68 Lange Zeit galt in der Forschung die beginische Lebensform als Notlösung, da Anfang des 13. Jahrhunderts Frauen der Zugang zu vielen Orden, insbesondere zu den damals sehr gefragten Reformorden wie den Zisterziensern und Prämonstratensern, verwehrt wurde.69 Die Klöster wären nicht in der Lage gewesen, alle Eintrittswilligen zu fassen. Doch Anneke B. Mulder-Bakker S. 125 ordnet Maria von Oignies deshalb als prominente Vertreterin der Büßerbewegung ein, “die gegen Ende des 12. Jahrhunderts im Westen einsetzte … Die ersten Bewegungen dieser Art datieren aus den Jahren 1170–1180. In den Niederlanden im weitesten Sinn des Wortes, d.h. in allen Regionen von Lüttich bis Brabant und Flandern, traten Frauen auf, die sogenannten “Beginen”… Die herausragendste Persönlichkeit dieser Bewegung war zu Beginn des 13. Jahrhunderts Maria von Oignies (gest. 1213), die in sich alle geistlichen Werte der Büßerbewegung vereint.” Siehe Buch I, § 38: Jakob von Vitry bescheinigt Maria von Oignies eine solche Ausdauer, einen solchen Eifer und solche Effektivität bei ihrer Arbeit, dass sie gut noch eine zweite Gefährtin hätte mit versorgen können. 66  Buch II, § 50: Maria mühte sich also, all ihre Werke der Barmherzigkeit aus dem Überfluss der Frömmigkeit ihres Herzens so gut sie konnte äußerlich zu erfüllen, aber über alle Werke der Barmherzigkeit hinaus pflegte sie Kranken zu helfen oder am Sterben oder am Begräbnis Verstorbener teilzunehmen, wo sie durch die Offenbarung des Herrn sehr oft vieles über die himmlischen Geheimnisse erfuhr. 67  Siehe auch: J. Wogan-Browne, M.-É. Henneau, “Introduction: Liège, the medieval ”woman question”, and the question of medieval women”, in New Trends in Feminine Spirituality. The Holy Women of Liège and Their Impact, Hg. J. Dor, L. Johnson, , J. Wogan-Browne, (Medieval Women: Texts and Contexts, 2), Turnhout 1999, S. 5. 68  Buch I, § 35. 69  Siehe A. Vauchez, “La sainteté, arme contre l´hérésie”, S. 180 und B. DeglerSpengler, “Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters. Konversen – Nonnen

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widerspricht der alten These von der Notlösung vehement.70 Aus meiner Sicht ist es ebenfalls viel wahrscheinlicher, dass die Beginen die Freiheiten der neuen Lebensform erkannt und gern für sich genutzt und in Anspruch genommen haben.71 Da viele dieser Frauen, wenn sie nicht gebildet waren, zumindest lesen konnten,72 lesen sie selbständig die Bibel in ihren Kreisen und Gemeinschaften, legen die Texte aus oder werden gebeten, sich Ohrenbeichten anzuhören, wobei betont wird, dass sie sich dabei nicht die priesterliche Funktion der Sündenvergebung, der Absolution, anmaßen. So weit, jedoch keinesfalls weiter, durften Charismatikerinnen damals gehen, sogar in den Augen von Klerikern wie Jakob von Vitry.73 Die Grenzen der Privilegien der kirchlichen Amtsträger jedoch mussten sie strikt einhalten, um nicht in den Geruch der Ketzerei zu kommen oder in die Nähe ketzerischer Gruppen gerückt zu werden. Die auf dem Boden der römisch-katholischen Orthodoxie sich bewegende beginische Lebensform wird von Jakob von Vitry gar der monastischen als überlegen dargestellt.74 Er betont, Maria von Oignies habe nie an der unter Mönchen und Nonnen weit verbreiteten Mönchskrankheit, der Melancholie oder ´acedia` gelitten. Im Gegenteil: Marias Gebet für einen Mönch, der diese Krankheit hat, ist wirkungsvoller als das dessen Abtes und vieler anderer.75 Die Beginenbewegung ist demzufolge zum einen direkt mit der Entwicklung der Städte und des Handels im 12. Jahrhundert ver– Beginen. Albert Bruckner zum 13. Juli 1984”, in Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 3 (1984), S. 75–88. 70  Siehe A. B. Mulder-Bakker, Living Saints, S. 4: ”Although Walter Simons has convincingly refuted the misguided notion, contemporary scholarschip continues to retrace the footsteps of the old tradition…” 71  I. Geyer, Maria von Oignies, S. 81: “Aber wäre es nicht denkbar, dass die Frauen recht bald aus der Not eine Tugend gemacht haben und es überhaupt nicht mehr als Notlösung empfanden, ohne die klösterlichen Bestimmungen zu leben? Die Frauen entdeckten schnell die Vorteile, nicht an die Klausur gebunden zu sein.” 72  Maria von Oignies ist mystisch-inspirierte Schriftkennerin. 73  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 83. 74  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 207. 75  Buch II, §§ 61–63.; siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 200: Gegen die ´acedia` besitzt Maria besondere Gegenkräfte, und S. 203: Maria erweist sich als stärker als die mächtigste Versuchung.

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knüpft, zum anderen mit der beginnenden horizontalen und vertikalen Mobilität aller Stände. Immer mehr Menschen beginnen, sich gegenüber anderen zu qualifizieren, damit auch zu exponieren. Erste Ansätze von Individualität und individueller Freiheitssuche sind zu beobachten: Aus einer gewissen Distanzierung vom Stand, vom althergebrachten Recht und vom ständischen Denken ergibt sich eine gewisse ´Individualisierung` der Person.76 Diese Individualisierung und die Freiheitssuche einzelner spiegelt sich auch in der religiösen Sehnsucht nach einer ´vita apostolica´, der Laien wider, besonders der Frauen. Unter dem Begriff ´mulieres religiosae` werden sie damals alle subsumiert: nicht affiliierte Jungfrauen, religiös lebende Ehefrauen oder Witwen, ebenso wie Reklusen und Beginen. Auch die Motivation Marias von Oignies, ihr Besitztum aufzugeben und ihr Entschluss, sich durch Handarbeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, entspringt einem religiösen Bedürfnis: als individueller Mensch kontemplativ und moralisch korrekt zu leben, in Eigenverantwortung. Ich sehe eine rein religiöse Motivation bei den Beginen für ihre Askese, die Selbstkasteiungen, die eigene Erwerbstätigkeit, das Leben im Krankendienst an hoch infektiösen Menschen und für die Sehnsucht nach gleichzeitig gelebter christlicher Kontemplation und Mystik.77 Die gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen und Bedingungen ihrer Zeit kommen ihnen bei der Durchsetzung ihrer Ziele entgegen.

Die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Hagiographie und Biographie in der Vita der Maria von Oignies Als Beichtvater hat Jakob von Vitry natürlich die Aufgabe und Verpflichtung, sein Beichtkind und die beginische Lebensform Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 66; zur Entwicklung der mittelalterlichen Gesellschaft: ebd., S. 65 f. 77  P. Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, S. 46 sieht das etwas anders: “So würde also weder die Annahme einer rein religiösen noch die einer rein sozialen oder sonstigen Einzelmotivation der Vielfalt der Lebensrealität gerecht werden.” 76 

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als rechtgläubig darzustellen. Als Fürsprecher Marias und der anderen frommen Frauen bei der Kurie steht er umgekehrt in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich diese Frauen an die Regeln und Grundsätze und Gesetze der römisch-katholischen Orthodoxie hielten. Als Hagiograph und gelehrter Theologe möchte Jakob von Vitry seinen eigenen theologischen Ansprüchen gerecht werden und hagiographische Vorbilder einbeziehen. Doch an einigen Stellen der Vita entsteht der Eindruck, Jakob von Vitry sei nicht ganz mit den Ideen und Entscheidungen Marias einverstanden gewesen und hätte sie auch nicht immer überzeugen können. Es finden sich einige Passagen in der Vita, aus denen sich schließen lässt, dass es zwischen Maria und Jakob von Vitry auch Differenzen gab, zum Beispiel in Bezug auf Marias Bedürfnis, häufig und exzessiv zu beichten. Da schreibt Jakob von Vitry: Einzig in diesem Punkt tadelten wir sie bisweilen, da wir nach einem Trost für unsere eigene Trägheit suchten, dass sie, häufiger als wir es wollten, die genannten Kleinigkeiten beichtete.78

Und auch die Tatsache, dass Maria eines Tages in solch heftigem Eifer für die Armut entbrannte, dass sie sich entschloss, nackt dem nackten Christus nachzufolgen und bettelnd, in Lumpen gekleidet, von Haus zu Haus zu ziehen,79 gefällt Jakob von Vitry nicht. Er schreibt, dass sie von zwei Motiven hin- und hergerissen worden sei: gehen und ihr Ideal leben oder bleiben zum Trost ihrer Freunde. Ist es nicht eher so, dass er ihr diesen Zwiespalt einredet, um sie in Oignies zu halten? Auch ihrem Wunsch, am Kreuzzug gegen die Albigenser teilzunehmen, wirkt Jakob entgegen.80 Es drängt sich in beiden Fällen der Verdacht auf, dass er, als der Garant von Marias Rechtgläubigkeit, dafür gesorgt haben mag, dass sie blieb und nicht als Vagabundierende und Bettelnde zu viel Ähnlichkeit mit den Katharern bekam. Und: Hätte er sie am Kreuzzug teilnehmen lassen, wäre dann Oignies nicht wieder marginalisiert worden? Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass Buch I, § 20. Buch II, § 45. 80  Buch II, § 82. 78 

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Jakob von Vitry – im alten Ständedenken verhaftet – die Nachfolge des nackten Christus nur den Klerikern und Mönchen vorbehalten sehen wollte,81 ähnlich wie das beim öffentlichen Predigen der Fall ist. An noch einer anderen Stelle scheint Jakob von Vitry nicht ganz einverstanden mit der Entscheidung der Maria von Oignies: Sie fastet nämlich entgegen der römisch-katholischen Fastenpraxis donnerstags und sonntags. Obwohl es Jakob von Vitry einleuchtender erschienen wäre, sie hätte wie von der römischkatholischen Kirche vorgesehen, mittwochs und freitags gefastet, nimmt sie sich die Freiheit, freitags zu essen. Da sie ihre Entscheidung geistlich begründet, muss er sie gewähren lassen: Zu den sinnlichen Dingen lasse ich mich nicht ohne Mühe herab, indem ich durch die Aufnahme körperlicher Nahrung die Freude der Kontemplation unterbreche; am fünften Wochentag aber, der der Tag des Heiligen Geistes ist, und am Tag des Herrn bin ich wegen der Freude über die Auferstehung mit geistlicher Stärkung zufrieden, und feiere, vom ewigen Mahl gesättigt, den ganzen Tag über ein Fest, indem ich durch keine Inanspruchnahme einer sinnlichen Stärkung zu niedrigeren Dingen herabsteigen muss.82

Genau an diesen Stellen des Textes der Vita scheint nach meinem Dafürhalten ganz zart die Gestalt der historischen Maria von Oignies durch den Text: wenn Jakob von Vitry sich von Marias Verhalten absetzt, ihr Verhalten oder ihre Pläne nicht gut heißt, wenn seine Interessen mit denen Marias kollidieren.83 Jakob schützt Maria vor Anfeindungen, insofern ist sie auf ihn angewiesen. Da die klerikalen Beichtväter von Mystikerinnen häufig selbst jedoch keine mystische Begabung hatten, waren sie ihrerseits auf deren Offenbarungen angewiesen.84 Maria darf im

Siehe M. Wehrli-Johns, “Das mittelalterliche Beginentum”, S. 44. Buch II, § 66. 83  I. Geyer, Maria von Oignies, S. 40. 84  Siehe auch M. Lauwers, “Expérience béguinale et récit hagiographique. A propos de la «Vita Mariae Oigniacensis» de Jacques de Vitry (vers 1215)”, in Journal des savants 3–4 (1989), S. 102. 81 

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Buch des Lebens lesen, nicht Jakob.85 Sie wird Jakob zur geistlichen Mutter.86 Er hört auf ihre Prophezeiungen und Ratschläge und geht in eine Art Dienerrolle, weil er daran glaubt, dass aus ihren Worten Gott spricht.87 Beim Predigen wird er ihr Sprachrohr.88 Er ist jedoch auch ihr Korrektiv in Bezug auf die römischkatholische Orthodoxie.89 Die beiden “brauchen” einander. Während Jakob von Vitry predigt, unterstützt sie ihn, indem sie einhundert Mal das ´Gegrüßet seist du, Maria`‚ betet: Denn für ihn flehte sie jeden einzelnen Tag, wenn er mit Predigen beschäftigt war, zum Herrn und zur heiligen Jungfrau, indem sie hundert Mal das Gegrüßet seist du, Maria betete, so wie der Heilige Martin betete, wenn Hilarius predigte.90

Deshalb predigt Maria nie öffentlich mit Worten, nur durch ihr eigenes Leben und ihre Ermahnungen,91 im Gegenteil, sie schätzt, verehrt, ja liebt die Prediger.92 Häufig wirft sie sich den Priestern zu Füßen und bittet um Beichte und Absolution, das heißt, sie erscheint als eine, die die klerikale Vormachtstellung, die geistlichen Privilegien der kirchlichen Hierarchie voll anerkennt.93 Dazu gehört, dass sie sich auch an das kirchliche Verbot hält, als Laienmensch jemand anderem die Beichte abnehmen und Vergebung zusprechen zu dürfen, wie es das IV. Laterankonzil verboten hatte. Jakob von Vitry stellt Maria so dar, als ob sie ihrerseits 85  Infolge oder während ihrer ´unio mystica` – Erfahrung wird Maria von Oignies dadurch ausgezeichnet, dass sie im Buch des Lebens lesen darf, wodurch sie zur Prophetin wird, siehe Buch II, § 82. 86  Siehe B. M. Bolton, “Mary of Oignies: A Friend to the Saints”, in Mary of Oignies: Mother of Salvation, Hg. A. B. Mulder-Bakker (Medieval Women: Texts and Contexts, 7), Turnhout 2006, S. 202. 87  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 46. 88  B. M. Bolton, “Vitae matrum: A further aspect of the Frauenfrage”, in Medieval Women. Dedicated and Presented to Professor Rosalind M. T. Hill on the Occasion of her Seventieth Birthday, Hg. D. Baker, Oxford 1978, S. 268: Jakob sah sich als Marias Instrument, indem er ihre Worte äußerte. 89  I. Geyer, Maria von Oignies, S. 48. 90  Siehe Buch II, § 69.: 91  B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 75. 92  Buch II, § 68. 93  Buch I, § 19–20.

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Geistliche gebraucht hätte, zum Beispiel, um ihr ihre eigenen Offenbarungen zu deuten: Als einmal unbekannte Reliquien in die Kirche von Oignies gebracht werden, hat sie eine Vision und sieht die Buchstaben A.I.O.L.; da sei sie nicht in der Lage gewesen, diese Buchstaben selbst zu einem Namen zusammenzusetzen, sondern habe die Hilfe eines Geistlichen gebraucht.94 Sie konnte ja lesen, las sie doch für sich die Psalmen95 und wohl zusammen mit anderen Frauen in ihrer Gemeinschaft auch religiöse Schriften.96 Also wird sie doch wohl in der Lage gewesen sein, diese vier Buchstaben als Laute aneinander zu reihen und zu verstehen. Diese Episode mutet eher konstruiert, weniger historisch, eher literarisch an. Jakob von Vitry will zeigen: Die Frauen bräuchten in ihrer Emotionalität die Vernunft der Priester.97 Gerade also auf dem Gebiet der öffentlichen Predigt, in Bezug auf die Beichte, den Empfang der Eucharistie und die Vorstellung vom Fegefeuer sorgt die Vita des Jakob von Vitry dafür, dass Maria von Oignies sich ganz im Rahmen der Normen der römisch-katholischen Kirche bewegt, und veranschaulicht in vielen Geschichten von Engeln und Teufeln, was im IV. Laterankonzil dekretiert wurde.98 So demonstriert Jakob von Vitry, dass das religiöse Leben und die religiösen Erfahrungen der Beginen, insbesondere freilich Marias, rechtgläubig sind und Marias Leben ein würdiges Beispiel für andere gibt.99 Die persönliche hohe Verehrung Jakobs von Vitry für Maria, seine Inspiration,100 geistliche Beschützerin,101 seine Lehrerin102 und geistliche Mutter zeigt sich darin, dass er nach ihrem Tod, Siehe Buch II, § 90. Buch I, § 26. 96  A. B. Mulder-Bakker, Lives of the Anchoresses: The Rise of the Urban in Medieval Europe, Philadelphia, 2005, S. 61. 97  M. Lauwers, “Expérience béguinale et récit hagiographique”, S. 102. 98  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 207. 99  M. Lauwers, “Expérience béguinale et récit hagiographique”, S. 94. 100  Siehe A. B. Mulder-Bakker, Lives of the Anchoresses, S. 81. 101  Vgl. B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 69: Maria war für Jakobs Bekehrung zu einem höheren Leben verantwortlich, war seine heiligmäßige Beschützerin und Lehrerin. 102  Ebenso W. Berschin, Biographie Bd. IV, S. 537. 94  95 

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wie er selbst und auch Thomas von Cantimpré bezeugen, einen Finger der Maria in einem Kästchen um den Hals trägt.103 Von Freunden und Freundinnen ist sie in seelsorgerlichen Angelegenheiten viel frequentiert, eingebunden in ein Netzwerk von Gleichgesinnten,104 besonders Menschen aus dem zisterziensischen Umkreis zählen zu ihren Bewunderern. Umgekehrt scheinen Maria von Oignies und Jakob von Vitry eine Affinität zu zisterziensischer Frömmigkeit gehabt zu haben. Wie die Zisterzienser legen Jakob von Vitry und Maria von Oignies Wert darauf, dass andere aus eigener Erfahrung – meist genügt ein Blick auf Maria – der göttlichen Wahrheit begegnen.105 Maria verehrt Bernhard von Clairvaux, der ihr in einer Vision erscheint.106 So ergibt sich eine gegenseitige Hochschätzung: Maria von Oignies fühlt sich von der zisterziensischen Frömmigkeit angezogen, umgekehrt betrachteten Zisterzienser, besonders die des Klosters von Villers, nahe Nivelles und Willambroc, sie als Heilige. Das Zisterzienserkloster von Villers feierte gar Messen und Stundengebete ihr zu Ehren.107 Siehe R. B. C. Huygens, Lettres, I, 44–45; Supplementum, § 16: „Es hängt“, sagte er, „ihr in einem silbernen Kästchen aufbewahrter Finger, mir beständig um den Hals, der mich unter allen Umständen in verschiedenen Gefahren und in den Gefährdungen der Seefahrt immer unversehrt bewahrte. Den also kannst du haben, wenn du willst.“ 104  W. Simons, Cities of Ladies, S. 45: Die frühen Beginengruppen waren untereinander verbunden; Beginen und Sympathisanten für die Sache waren in Kontakt miteinander. A. B. Mulder-Bakker, Living Saints, S. 7; vgl. B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 74: Maria von Oignies war sowohl in Willambroc als auch in Oignies der Mittelpunkt einer Gruppe von anderen heiligmäßig lebenden Frauen und gebildeten Klerikern. 105  Buch I, §§ 17 und 39; Buch II, § 63. vgl. B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 20 erwähnt die Bedeutung der Erfahrungskategorie in der Theologie der Zisterzienser. 106  Buch II, § 90. 107  Officium Mariae Oigniacensis in “Office liturgique neumé de la bienheureuse Marie d´Oignies à l´abbaye de Villers au xiie siècle”, Hg. D. Misonne, Revue Bénédictine 111 (2001), S. 267–273 ; siehe H. Feiss, OSB., “Introduction to the texts”, in Mary of Oignies. Mother of Salvation, A. B. Mulder-Bakker, S. 183: ”Most of all, the Mass and offices show us that the monks of an important Cistercian monastery had particular veneration for Mary of Oignies and regarded her as a saint.” Siehe auch W. Simons, Cities of Ladies, S. 47: “The liturgy of the office for Mary of Oignies sung at Villers in the 1230s oder 1240s …, commemorated her as the initiator 103 

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Maria von Oignies als hochmittelalterliche Büßerin und Mystikerin Maria wird in Oignies zum prägenden und führenden Mittelpunkt eines spirituellen Kreises,108 der Augustinerchorherrenkonvent in Oignies entwickelt sich durch sie und Jakob von Vitry zu einem Zentrum religiöser Tugend und Spiritualität,109 einem Hort der neuen Frömmigkeit, der weithin ausstrahlt. Für Maria ist Oignies der Ort, an dem sie frei ihre Religiosität leben, Wallfahrten unternehmen, sich mit Gleichgesinnten treffen, sich in die nahen Wälder zurückziehen, sich nach Belieben in der Kirche aufhalten und andere Menschen geistlich begleiten und unterstützen kann. In der Forschung werden das extreme Büßerleben und das mystische Leben der Maria von Oignies häufig so beschrieben, als seien es zwei Lebensphasen gewesen, die Maria nacheinander, zwei Lebensformen, die sie nacheinander gelebt habe. André Vauchez spricht von zwei einander folgenden Lebensphasen. Er schreibt: Ihr wohltätiges Handeln fand seine natürliche Fortsetzung in einer authentischen Mystik.110 Martina Wehrli-Johns hält es für kennzeichnend für die frühe Beginenbewegung, dass das “mystische Maria/Martha-Leben in einem Spital oder Leprosenhaus” seinen “krönenden Abschluss” in der “reine[n] Kontemplation in einer Reklusenzelle bildete”.111 Das Leben einer `Maria´ wird hierbei mit der `vita contemplativa´ gleichgesetzt, ein Marthaleben mit einer ´vita activa`.112 Vera von der Osten-Sacken spricht in diesem Zusammenhang von Marias stufenartiger Entwicklung von of the new beguine religio … at nearby Nivelles.” S. auch (H), S. 14 (Handschrift Vauclair aus Laon). 108  P. Majérus, Ces femmes qu’on dit béguines…, Bd. 2, S. 686. 109  B. M. Bolton, “Mary of Oignies: A Friend”, S. 202. 110  Siehe A. Vauchez, The Spirituality of the Medieval West. From the Eighth to the Twelfth Century. A Translation of La spiritualité du Moyen-Âge occidental, viiie–xiie siècles, Massachusetts 1993, S. 142. 111  M. Wehrli-Johns, “Maria und Martha in der religiösen Frauenbewegung”, in Abendländische Mystik im Mittelalter: Symposion Kloster Engelberg 1984 (Germanistische Symposien Berichtsbände Bd. VII, Hg. A. Schöne), Hg. K. Ruh, Stuttgart 1986, S. 354; 358. 112  Abgeleitet von den Bibelstellen: Lk 10, 38–42; Joh 12, 1–8.

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Büßertum und Abkehr von der Welt über den Dienst am leidenden Nächsten hin zu einer geistlichen Hingabe an Christus.113 Michel Lauwers führt das Büßertum der Maria von Oignies auf Kult und Verehrung für Maria Magdalena zurück.114 Dagegen spricht, dass Maria Magdalena in der Vita nirgendwo erwähnt wird. Gegen ein Stufenmodell führe ich an, dass es für ein Mystikerleben viel zu statisch wäre. Authentisches sprituelles Leben braucht immer das aktive und das kontemplative Leben stets gleichzeitig, mit­einander verwoben, sich gegenseitig befruchtend. Echte Kontemplation führt immer zurück in die aktive Nächstenliebe, die nicht beschränkt ist auf die aus der Bußhaltung erwachsende Pflege von Kranken und Erwerbstätigkeit, sondern Rettung von Seelen im weitesten Sinn anstrebt. Solche aktive Nächstenliebe ist nur zu bewältigen durch die Rückbindung an Gott. Insofern bedingen das aktive und das kontemplative Leben einander, sind ohne einander nicht zu denken und nicht zu leben. Ich vertrete die Ansicht, dass Maria von Oignies seit ihrer Zeit in Willambroc stets beides zugleich verfolgt hat: Aktive Nächstenliebe und ekstatische Mystik. Die Stufenmodell-Argumentation stützt sich meist auf folgende Aussage Jakobs von Vitry in Buch I, § 38: Maria sei, nachdem sie alle Sprossen der Tugendleiter erklommen hatte, von der Arbeit freigestellt worden, um ganz für Christus da zu sein: Schließlich aber vervielfachte sie jeden Tag durch geschicktes Handeln das ihr anvertraute Talent und stieg Tag um Tag von Tugend zu Tugend auf der Jakobsleiter empor, und als sie ganz oben stehend, gleichsam auf der obersten Sprosse sich befindend, alles sinnlich Wahrnehmbare unter ihren Füßen zurückgelassen hatte, wurden ihre Sinne durch den überreich sich zeigenden Geist so aufgesogen, dass sie, weil Christus sie vollständig vereinnahmte, nur die unvergängliche Speise zu sich nahm und nicht arbeiten konnte. Daher stand sie wie eine, die zu Ende gedient hatte und von jeglicher

V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“, S. 210. Vgl. M. Lauwers, “«Noli me tangere». Marie Madeleine, Marie d´Oignies et les Pénitentes du xiiie siècle”, Mélanges de l´école française de Rome 104, 1 (1992) S. 209–269. 113 

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Handarbeit frei war, fortan nur dem Herrn zur Verfügung. Mit dieser Freiheit beschenkte Christus seine Magd.115

Da Maria hier nur erlaubt wird, die Erwerbstätigkeit einzustellen und nicht etwa den Dienst am Nächsten, trifft dieses Argument nicht. Dass sie fortan nur noch von Christus vereinnahmt wird, kann nicht bedeuten, dass sie nicht mehr im Dienst der Nächstenliebe steht. Denn Kontemplation ohne Nächstenliebe wäre keine echte Mystik. Marias ´vita passiva` ist nicht so vorzustellen, dass sie nicht mehr in einem spirituellen Dienst an ihren Nächsten gestanden hätte.116 Im Gegenteil, erst mit der Erfahrung von Meditation und Kontemplation ist es Maria möglich, Seelen vor teuflisch-dämonischen Angriffen zu retten. Aktive Liebe zum Nächsten und visionäre Kontemplation gehören bleibend zusammen, ja bedingen einander. Nur dann lässt sich von echter Mystik sprechen und Maria von Oignies war ganz gewiss eine echte Mystikerin. Das zeigt diese Vision: Und während ihr feiner und zarter Geist durch die Glut der frommen Liebe verbrannt, wie ein Rauchfaden aus Duftharzen in die Räume über dem Himmelszelt eindrang, wandelte er gleichsam Schritt für Schritt im Land der Lebenden und suchte über Gassen und Plätze hin den, den ihre Seele liebte: Als sie, bald durch die Lilien der heiligen Jungfrauen erfreut, bald durch die duftenden Rosen der heiligen Märtyrer erfrischt, manchmal vom Rat der heiligen Apostel in Ehren empfangen, bisweilen in die Kreise der Engel aufgenommen, alle Stufen erklommen hatte, und als sie alle Orte des Paradieses mit froher Seele durchwandert hatte, und als sie alles ein wenig durchquert hatte, fand sie schließlich den, den ihre Seele heiß begehrte, dort endlich kam sie vollkommen zur Ruhe, dort blieb sie unbeweglich stehen, und ohne noch länger an Zukünftiges zu denken, hätte sie nicht einmal für ihre Freunde, auch nicht für die ihr liebsten, beten und sogar nicht einmal an die heiligen Engel denken können, und indem sie alle Heiligen gleichsam hinter sich ließ, hing sie dem an, nach dem es sie brennend dürstete.117 115  Buch I, § 38. Vgl. V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“, S. 210. 116  So auch B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 84: Ihr ganzes Leben habe im Dienst anderer gestanden. 117  Buch II, § 81.

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Dies ist die anrührende Beschreibung einer spirituellen Jenseitswanderung und Brautmystik in reinster Form, inspiriert vom biblischen Hohenlied, dessen Sprache entlehnend. Denn keine andere Sprache wäre in der Lage, die Erfahrung einer ´unio mystica`, einer Vereinigung von Seele und Christus-Bräutigam, zu beschreiben. Das eigentliche Geschehen lässt sich nur allegorisch und metaphorisch ausdrücken. Die alles Irdische transzendierende Sprache des Hohenliedes schenkte der Brautmystik eine hilfreiche Vorlage, ihre Transzendenzerfahrungen in Worte zu fassen. Wie in jeder echten Mystik wird hier das Paradox versucht umzusetzen: das Unsagbare sagbar zu machen. Dass Maria von Oignies echte Mystikerin ist, erweist sich gerade daran, dass sie – wann immer gefordert – die aktive Nächstenliebe über die eigene Kontemplation stellt, beziehungsweise stellen muss. Eine unechte Mystikerin wäre sie, wenn sie ihrer persönlichen Heilssehnsucht und ihrem eigenen Verlangen nach Gottes Nähe Priorität über der Verpflichtung zur Nächstenliebe einräumen würde. Sie darf nicht heilsegoistisch agieren und in einer `unio mystica´ verharren, obwohl ihre Hilfe gebraucht wird. Deshalb erzählt Jakob, dass sie, wenn sie ihre Kontemplation unterbrechen muss, körperlich Schmerzen leidet: …doch weil sie es niemals wollte, sondern immer danach dürstete, mit dem Herrn am Mittag zu ruhen, weckten wir sie auf Grund einer gewissen Vertrautheit ab und zu und nur mit Mühe auf. Sie aber, nachdem sie von der Ankunft von Fremden gehört hatte, riss sie ihren Geist unter so großem Schmerz von jener süßen Freude der Kontemplation, von den Umarmungen ihres Bräutigams los, um nicht etwa jemandem ein Ärgernis zu geben, indem sie sich selbst Gewalt antat, dass sie bisweilen, gleichsam auf Grund gebrochenen Herzens, reines Blut in großen Mengen hervorwürgte oder ausspie, weil sie lieber durch dieses Martyrium gequält werden wollte als den Frieden der Brüder und besonders den der Pilger zu stören.118

Die höchste und letzte Geistgabe, der Geist der Weisheit, wird ihr verliehen, besser: eingegossen, indem sie nach dem Empfang der Buch II, § 65; Buch I, § 63 und Buch II, § 47–48; siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 40. 118 

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Hostie während des Trinkens des Messweins eine Vision hat,119 die wiederum auf ihre ´vita activa`, ihre gelebte Nächstenliebe Auswirkungen hat: Damit aber der kluge Künstler sein Werk, der höchste Priester seinen Tempel, der erhabene König seine Tochter zum Gipfel der Vollkommenheit führe, schmückte er sie ansehnlich und zierte sie herausragend, gleichsam zur Würze der anderen, mit der siebten Gabe des siebenförmigen Geistes, das heißt, mit dem Geist der Weisheit, was in Bezug auf die Würde das erste, in Bezug auf die Vollendung aber das letzte ist. Durch den Wohlgeschmack dieser Weisheit schmeckte und sah sie, wie lieblich der Herr ist: Wenn ihre Seele so wie mit Fett und Öl erfüllt wurde, und wenn sie am Tisch des Herrn zusammen mit Josef zur Mittagszeit trunken wurde, und wenn sie sich im Überfluss der Köstlichkeiten auf ihren Geliebten gestützt, von den Lippen des Bräutigams Honig und Milch saugte und im Garten der Lust das verborgene Manna aß, wurde ihr Herz durch die honigfließende Gabe dieser Weisheit im Innersten angerührt, ihre Worte wurden versüßt, alle ihre Taten wurden durch die Lieblichkeit der geistigen Salbung geschmeidig gemacht, war sie milden Herzens, freundlichen Munds, lieblicher Tat, trunken in Nächstenliebe, so sehr aber trunken und vom sinnlich Wahrnehmbaren gelöst, dass sie einmal, als wir zur None oder zur Vesper läuteten, gleichsam erwachend, fragte, ob noch Prim sei. Als sie einmal drei Tage hindurch ununterbrochen in ihrem Bett gelegen und mit dem Bräutigam süß geruht hatte, gingen jene Tage vor übergroßer süßer Freude so unbemerkt vorüber, dass es ihr schien, sie habe kaum einen Augenblick gelegen.120

Deshalb ist für Maria die Eucharistie nicht nur Glaubensstärkung. Sie sehnt sich unentwegt danach, die Eucharistie zu empfangen, weil sie in ihr unmittelbar die Gegenwart Christi erfährt, weil sie durch die Kommunion in eine spirituelle Ekstase, in nüchterne Trunkenheit versetzt wird. Viele ihrer Visionen sind verknüpft mit einer Messfeier, werden oft ausgelöst durch das Hochhalten 119  Siehe A. B. Mulder-Bakker, Lives of the Anchoresses, S. 113: Auch Juliana von Cornillon und Hadewijch hatten ihre größten Ekstasen während der Kommunion. 120  Buch II, § 87.

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der Hostie durch den Priester. Oft sieht sie genau dann in der Hostie den Jesusknaben und schmeckt ihn dann, wenn sie die Hostie empfangen hat, honigsüß – immer im Herzen, also mit ihren geistlichen, inneren Sinnen zuerst und dann auch im Mund körperlich. Beim Empfang der Hostie sieht, schmeckt, riecht sie Christus mit ihren inneren Sinnen.121 “Der Empfang Christi ist das spirituelle Ziel des Maria/Martha-Lebens…Wer zu Christus gelangen will, muss wie die Gottesmutter Maria beide Leben in sich vereinen, denn nur ihr war es vergönnt, Christus in seiner Menschheit und in seiner Gottheit zu begegnen.”122 Christus ist Maria von Oignies in seiner Menschheit123 und seiner göttlichen Natur gegenwärtig. Der Schmerz, den sie bei dem Gedanken an den am Kreuz leidenden Christus empfindet, wird dadurch gelindert, dass sie an seine göttliche Natur denkt und dadurch auch ihre Tränen zum Versiegen bringt.124 Den Christusfesten entsprechend sieht sie ihn in ihren Visionen an Weihnachten als Kind, an Maria Lichtmess erlebt sie in einer Vision die Darbringung im Tempel,125 in der Passionszeit sieht sie ihn am Kreuz: In der Passionszeit erschien ihr der Herr ab und zu am Kreuz, aber selten, weil sie es kaum aushalten konnte. Wenn irgendein großes Fest bevorstand, empfand sie acht Tage vorher Freude, und so wurde sie je nach dem Lauf des ganzen (Kirchen-)Jahres auf verschiedene Weise verändert und wunderbar angerührt.126

Buch II, § 92; siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 59. M. Wehrli-Johns, “Maria und Martha”, S. 354 und 355. 123  W. Berschin, Biographie Bd.  IV, S.  535 sieht in der Zuwendung zum leidenden Christus, zum Kind Jesus und zur heiligen Eucharistie eine gemeinsame Wurzel von Beginenbewegung in Brabant einerseits und des Franziskanertums in Umbrien andererseits. 124  Buch I, § 16. 125  C. Larrington, “The Candelmas Vision and Marie d`Oignies Role in its Dissemination”, in New Trends in Feminine Spirituality, S. 198 spricht davon, dass die Vision Marias anlässlich der Darbringung Jesu im Tempel die erste mittelalterliche Darbringungsvision gewesen sei. 126  Buch II, §  88. Wie Maria waren fast alle Heiligen und Seligen des 13. bis zum 15. Jahrhundert Mystikerinnen mit ausgeprägter Passions-, Eucharistie- und Jesuskindfrömmigkeit, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 84. 121 

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Der Ausgangspunkt ihrer Spiritualität liegt in ihrem Mitleiden mit dem Gekreuzigten: Ihre erste Liebe zu Christus allerdings erlebt sie in der Passion, im Mitleiden mit dem Gekreuzigten: Der Anfang ihrer Bekehrung zu dir, die Erstlinge ihrer Liebe, waren dein Kreuz, dein Leiden.127

Fast ununterbrochen hat sie in ihren Visionen und Imaginationen Umgang und Begegnungen mit himmlischen Geistwesen, mit der Jungfrau Maria, Engeln, Aposteln, mit dem Evangelisten Johannes. Ihre Verehrung gegenüber der Jungfrau Maria ist deutlich ausgeprägt.128 Ihr widmet sie viele ihrer Gebete, schaut sie, grüßt sie mit körperlichen Übungen und bringt ihr eintausendeinhundert Kniebeugen dar.129 Am Ende ihres Lebens – Maria stellt ihre Nahrungsaufnahme einfach ein – begleitet und unterstützt sie besonders der Apostel Andreas.130 Drei Tage lang fasst sie im Grunde eine mystische Lehre in ihre altfranzösischen Gesänge.131 Maria von Oignies erscheint als wandelndes Martyrologium und lebendiges Heiligenlexikon.132 Ihr wird nachgesagt, außergewöhnliche spirituell-seherische Fähigkeiten zur Bestimmung von Reliquien zu haben, echte von falschen unterscheiden zu können. Als selbst ernannte Hüterin133 der Reliquien bewacht sie in der Kirche von Oignies die Reliquien und diese begrüßen ihre Wache und applaudieren.134 Werden der Kirche von Oignies neue Reliquien angeliefert, spürt sie deren Ankunft im Geist.135 Buch I, § 16. Siehe auch M. Wehrli-Johns, “Haushälterin Gottes. Zur Mariennachfolge der Beginen”, in Maria, Abbild oder Vorbild: zur Sozialgeschichte mittelalterlicher Marienverehrung, Hg.  H. Röckelein, Cl. Opitz, D.  R. Bauer, S.  147–167; hier: S. 147: “… an der marianischen Ausrichtung der Beginenbewegung insgesamt ist nicht zu zweifeln. Sie liegt bereits den hagiographischen Lebensbeschreibungen der als mulieres religiosae oder ancillae Christi bezeichneten Vorläuferinnen der Beginen zugrunde…” 129  Buch I, § 29. 130  Buch II, §§ 97 und 103. 131  B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 83. Siehe Buch II, § 101. 132  Buch II, § 89. 133  B. M. Bolton, “Mary of Oignies: A Friend”, S. 204. 134  Buch I, § 34, siehe B. M. Bolton, “Mary of Oignies: A Friend”, S. 204. 135  Buch II, § 91. 127  128 

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Jakob von Vitry geht es darum, Maria von Oignies als Seelenretterin darzustellen: Denn es ist zwar gottgefällig, für die Krankheiten der Leiber Abhilfe zu schaffen, aber es ist bei weitem und unvergleichlich größer für die Gesundheit der Seelen Sorge zu tragen: Kein Opfer gefällt Gott nämlich mehr als der Eifer um die Seelen.136

So kämpft sie gegen Dämonen und gegen den Teufel selbst, wozu ihr die Gabe des Gebets137 und die der Unterscheidung der Geister verliehen ist:138 Alle Fallstricke und Verkleidungen des Teufels durchschaut sie.139 Dementsprechend groß ist die Trauer, wenn solcherlei Seelenrettung nicht gelingt.140 Im Kampf um Seelen im Fegefeuer ist sie besonders begnadet. Sie hat einmal eine Vision von bittenden Händen, die sie nicht versteht: Ihr wurde vom Herrn geantwortet, dass die Seelen der Verstorbenen, die im Fegefeuer gequält würden, nach der Unterstützung ihrer Gebete verlangten, durch die wie durch eine kostbare Salbe ihre Schmerzen gelindert wurden.141

Maria von Oignies und Jakob von Vitry, der als einer der Wegbereiter der in dieser Zeit gerade entstehenden Fegefeuerkonzeption in der römisch-katholischen Kirche gilt, halten – gegen die Lehre der Katharer – an dem Glauben fest, dass es Kommunikation, Austausch und Einflussnahme zwischen toten und lebenden

Buch II, § 56. Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 193: “Auf die Dämonen wirkt Marias Gebetskraft wie eine Qual oder Folter. Diese Kraft kann Maria zum Schutz aller Seelen einsetzen, zum Schutz ihrer eigenen Seele, insbesondere aber zur Hilfe für bedrohte Freunde.” 138  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 207: Eine wichtige Funktion der in der Vita der Maria von Oignies beschriebenen Dämonenaustreibungen ist der allgemeine Nachweis ihrer Heiligkeit. Der Sieg über die Dämonen gehört zwingend zu einem christlichen Heiligenleben und Maria hat den Geist der Unterscheidung. 139  Buch II, § 70 als Hirte; in Buch I, § 30 als Engel des Lichts. 140  Buch II, § 56; siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 57. 141  Buch I, § 27; siehe zum folgenden I. Geyer, Maria von Oignies, S. 169–179: Kapitel 7 “Marias Abgrenzung gegenüber den Katharern: Visionen von Fegefeuer, Teufel und Dämonen”. 136  137 

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Seelen, zwischen Diesseits und Jenseits gibt.142 Deshalb nützen den Verstorbenen die Suffragien, die Gebete, Messen und Almosen, die Lebende für ihre Verstorbenen darbringen, ja die Toten haben sogar einen Anspruch darauf. Im Fegefeuer büßen Seelen ihre lässlichen Sünden und haben die Chance, doch noch gereinigt zu werden und ins himmlische Paradies einzugehen. Maria von Oignies schaut als Visionärin alle Stationen, die eine Seele bis zu ihrer Rettung durchlaufen muss und erhält von diesen Seelen selbst Auskunft über deren Zustand und den Grad ihrer Reinigung. In der folgenden Vision geht es um eine Kaufmannswitwe aus Willambroc: Als aber der Leichnam dem Grab übergeben war, sah die Magd Christi, wie ihre Seele, die auf dieser Welt noch nicht völlig geläutert worden war, im Fegefeuer das vollendete, was ihr fehlte…; und weil sie für derartiges noch nicht vollständig Wiedergutmachung geleistet hatte, sagte sie, sie werde noch im Fegefeuer festgehalten. Als das ihrer Tochter, der frommen Jungfrau Margarete von Willambroc, und ihren Schwestern mitgeteilt worden war, erwarben sie viele Gebete für sie und leisteten so gut sie konnten Wiedergutmachung. Daher erschien der Magd Christi nicht lange danach die Seele der Witwe reiner als Glas, weißer als Schnee, blendender als die Sonne, als sie schon eingeladen zum ewigen Festmahl, freudig und dankend, hinaufstieg und gleichsam das Buch des Lebens, wie ihr schien, in Händen hielt und daraus las und zur Schülerin des höchsten Lehrers geworden war.143

Jakob von Vitry berichtet vom Auftauchen von Dämonen am Sterbebett einer Begine der Gemeinschaft von Oignies am Ende von deren Todeskampf. Die herbeigeeilte Maria versucht zunächst mit Gebeten die Dämonen zu bekämpfen, dann will sie sie wie Fliegen mit ihrem Mantel verscheuchen. Der Sieg über die Dämonen gelingt aber erst, nachdem sie Christus, sein Blut und seinen Kreuzestod anruft und sich für jene Seele bei ihm verbürgt. Sie bittet um Zeit, damit die Seele im Fegefeuer ihre bisher noch

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I. Geyer, Maria von Oignies, S. 173. Buch II, § 52.

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nicht abgebüßten Sünden wieder gutmachen kann.144 Der Apostel Petrus zeigt Maria in ihrer Vision an seinem Gedenktag, dem 29. Juni, wie es der Seele der Begine im Fegefeuer ergeht.145 Jakob von Vitry und Maria von Oignies “beweisen” mit Hilfe solcher Geschichten die Wirksamkeit der Suffragien und regen ihre Zeitgenossen an, solche für ihre eigenen Verstorbenen zu spenden.146 Für Marias langes Schweigen, vom Fest des Heiligen Kreuzes am 14. September bis Ostern, verspricht Gott ihr in einer Vision, sie selbst werde nach ihrem Tod ohne Aufenthalt im Fegefeuer direkt in den Himmel fliegen.147 Johannes von Dinant,148 ein väterlicher Freund Marias und die Seelen der Kreuzritter, die bei Montgey im Kampf gegen die Albigenser fallen, erhalten dasselbe Privileg, erfährt Maria in einer Vision.149 Maria von Oignies gilt als eine der sogenannten ´modernen Heiligen`, sie wird jedoch nie offiziell heilig gesprochen,150 kommt aber von allen ´mulieres religiosae` ihrer Zeit der Heiligsprechung am nächsten.151 In ihrer Heimat erfährt sie Verehrung, in der Diözese Tournai wird sie als `sancta vidua´ an ihrem Todestag, dem 23. Juni, “mit einem Fest dritter Klasse” geehrt.152 Frauen beten vor ihrem Reliquienschrein in Aiseau und in Oignies, der eine Rippe enthält, um eine glückliche Geburt.153

Buch II, § 50–51. Über die Rolle des Apostels Petrus in Marias Fegefeuervisionen, siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 179–182. 146  I. Geyer, Maria von Oignies, S. 188–192. 147  Buch I, § 38. 148  Buch II, § 53. 149  Buch II, § 82. 150  J.  N. Brown, Three Women of Liège: a critical edition of and commentrary on the Middle English Lives of Elizabeth of Spalbeek, Christina Mirabilis and Marie d’Oignies (Medieval Women: Texts and Contexts, 23), Turnhout 2008, S. 247 meint, Jakob von Vitry habe mit der Abfassung der Vita Marias Kanonisierung befördern wollen. 151  W. Simons, Cities of Ladies, S. 169, Anm. 8. 152  P. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007, S. 57. 153  J. Fichefet, Histoire du Prieuré de l´Église Saint-Nicolas (Chanoines Réguliers de Saint-Augustin) et du Béguinage d´Oignies, Farciennes (Aiseau) 1977, S. 53. 144  145 

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Es gibt eine Wiederbelebung des Beginentums in heutiger Zeit, Frauen unterschiedlichen Alters, die sich als Beginen bezeichnen, leben zusammen und engagieren sich sozial in ihren Gemeinden, tun die sieben Werke der Barmherzigkeit. Sie haben einen Verein, “Beginen heute e.V.” gegründet.154 Ausgehend von der Stadt Essen breitete sich inzwischen diese Bewegung auch in andere Großstädte mit der Idee von Wohnprojekten für Frauen aus, wie zum Beispiel in Berlin, Bremen und Köln.

Funktion der Vita Weniger zur Nachahmung sei das Leben der Maria zu empfehlen als vielmehr zur Bewunderung,155 denn – so schreibt Jakob von Vitry – nur wenigen werden all diese Kräfte und göttlichen Gaben zuteil. So beschreibt Jakob von Vitry selbst die Funktion seiner Schrift. Er rekurriert im Prolog auf Hieronymus und Gregor den Großen und knüpft an der Funktion der altkirchlichen Heiligenviten an. Gregor der Große und Hieronymus schrieben zum Wohl der Nachgeborenen die Tugenden und Werke der ihnen vorangegangen Heiligen auf, um den Glauben der Schwachen zu stärken, die Unwissenden zu belehren, die Säumigen anzutreiben, die Frommen zur Nachahmung anzuregen, die Gegner und Ungläubigen zu widerlegen… Denn viele werden durch Beispiele angeregt, die durch Belehrungen nicht bewegt werden.156

Jakob von Vitry schreibt also zur Erbauung und Ermahnung eine mystische, im wesentlichen mit spirituellen Erfahrungen beschäftigte Vita, deren Wunder überwiegend spiritualisiert sind.157 Des-

G. Hofmann, W. Krebber, Barmherzige Samariterinnen: Beginen – gestern und heute; Verwirklichung einer Idee, Kevelaer 1991. Siehe auch: www.beginenheute.de. 155  Buch I, § 12. 156  Prolog, § 1. 157  In Buch II, § 55 lässt Jakob von Vitry Maria aber auch durch Handauflegen die körperlichen Gebrechen von Menschen heilen. 154 

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halb wird die Vita als Gnadenvita158 oder als Brückenvita zwischen einer Gnaden- und einer Wundervita eingeordnet.159 Gegenüber vom Glauben Abgefallenen und gegenüber innerkirchlichen Kritikern am Beginentum hat sie apologetische Funktion.160 Jakob von Vitry übernimmt ein moralisches Wächteramt gegenüber Sündern und Übeltätern seiner Zeit, verbreitet auf diese Weise seine eigenen moralischen Einstellungen und Haltungen. “Maria dient ihm als lebendiges Beispiel für ernstgenommenes, radikales Christsein. Er gibt gleichzeitig seinem Freund und Ketzerbekämpfer Fulko von Toulouse und allen kirchlichen Bekämpfern Predigtmaterial an die Hand, welches helfen soll, bereits Abgefallene vom Unrecht ihres Tuns zu überzeugen und ihnen den Rückweg in den Schoß der Kirche zu ebnen. Er zeigt ihnen, dass auch im Rahmen der Orthodoxie radikale Askese und kontemplatives Vollkommenheitsstreben möglich sind.”161 Osten-Sacken vertritt die These, dass Jakob von Vitry als Schüler des Petrus Cantor (ca. 1130–1197) mit dieser Vita durch die vielen Beispielgeschichten, die ´exempla´, eine Predigtstoffsammlung für Bußprediger liefern wollte. Die Predigttheologie des Petrus Cantor habe bei der Abfassung der Vita durch Jakob von Vitry Pate gestanden. Damit weist sie der Vita einen wichtigen Ort in der Kirchenreform des 13. Jahrhunderts zu und sieht die Vita als bedeutend für den innerkirchlichen Diskurs der damaligen Zeit. “Mit der Vita Marias von Oignies formuliert Jakob von Vitry ein Heiligkeitskonzept, das die Neuartigkeit der mulieres religiosae in Brabant idealtypisch abbilden will”.162

P. Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, S. 244 rechnet die Vita der Maria von Oignies zu den ´Gnadenviten`. 159  V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“, S. 95 sieht in Marias Vita eine Brückenvita mit inhaltlichen Merkmalen einer Gnadenvita, die aber auch noch Kennzeichen der Wundervita aufweist. 160  Siehe A. Vauchez, “La sainteté, arme contre l´hérésie”, S. 185 : «De toute évidence le biographe de Marie d´Oignies combattait sur deux fronts : contre les hérétiques bien sûr, mais aussi, à l´intérieur de l´orthodoxie, contre les chrétiens aux mœurs relâchées et les clercs sceptiques vis-à-vis de l´ aptitude des béguines …». 161  Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 49. 162  V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“, S. 12. 158 

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Die Vita der Maria von Oignies stellt zugleich auch eine Programmschrift dar, um die zeitgenössischen katharischen Ketzer zu bekämpfen und zugleich die Beginen vor innerkirchlichen Angriffen zu schützen. “Der Bischof von Toulouse will das alles aufgeschrieben haben, damit es gleich bei den Ketzerpredigten in Okzitanien verwendet werden kann.”163 Die Vita verteidigt Maria von Oignies als Person und als Begine als rechtgläubig. Da starke Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit im äußeren Erscheinungsbild und der äußeren Lebensführung zwischen den Katharern und Maria bestehen, war das durchaus notwendig.164 Zwar hat Jakob von Vitry “das ekstatische und exzessive Element, das mit der ersten großen Begine erscheint, nicht unterschlagen oder kleingeredet”,165 aber er propagiert auch keinen Übereifer in asketischen Bußpraktiken: Und weil sie natürlich keine Gewalt über ihren eigenen Körper besaß, trug sie heimlich unter dem Hemd einen sehr rauen Strick, durch den sie stark eingeschnürt wurde. Das sage ich nicht, um diesen Übereifer zu empfehlen, sondern um ihre Leidenschaft zu zeigen. In diesen Dingen und in vielen anderen, die sie auf Grund eines Vorrechts der Gnade ausführte, soll ein vernünftiger Leser darauf achten, dass die Vorrechte weniger Menschen kein allgemeines Gesetz begründen: Wir wollen ihre Tugenden nachahmen, die Werke ihrer Tugenden könnten wir ohne persönliches Vorrecht aber nicht nachahmen.166

Jakob von Vitry greift auf eine unbestritten autoritative altkirchliche hagiographische Tradition – Hieronymus und Gregor den Großen – zurück. So kann er auch selbstverständlich Motive und Topoi der altkirchlichen Hagiographie übernehmen. Zu den bekannten Topoi gehört unter anderem der heiligmäßige Lebenswandel der Maria, der bereits als Kind an ihr sichtbar ist, den sie gleichsam von Natur aus erstrebt. Es wird in ihrem

W. Berschin, Biographie, Bd. IV, S. 535. Im Detail nachgewiesen durch I. Geyer, Maria von Oignies, S. 169–219. 165  W. Berschin, Biographie, Bd. IV., S. 537. 166  Buch I, § 12 (siehe auch (H), Einleitung, Anm. 22). 163 

164 

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Leben entrollt, was ohnehin vorhanden ist.167 Dazu zählt ihre kindliche Faszination für und ihre Hochachtung vor der monastischen Lebensform. Jakob erzählt, dass das Kind Maria, als einmal Zisterziensermönche an ihrem Elternhaus vorbeigehen, ihre Füße in die Fußspuren dieser Mönche setzt und ihnen gleichsam “nachfolgt”: so sehr liebte sie die religiöse Lebensweise aufgrund einer in ihrer Natur liegenden Leidenschaft, dass sie eines Tages, als Brüder aus dem Zisterzienserorden vor ihrem Elternhaus vorbeigingen, heimlich folgte, zu ihnen aufblickend und deren Mönchskutte bewundernd, und da sie nichts anderes tun konnte, setzte sie voll Sehnsucht ihre Füße in die Fußabdrücke der Konversbrüder oder Mönche.168

Dass sie bereits als Kind Reichtum und prächtige Kleider ablehnt und von ihren Eltern dafür gehänselt wird, kann auch als hagiographischer Topos angesehen werden. Jakob von Vitry schreibt: Als aber ihre Eltern sie mit eleganten und feinen Kleidern schmücken wollten, wie es bei den Weltlichen der Brauch ist, verweigerte sie dies traurig, als ob sie, von Natur aus in ihrem Geist eingeprägt, lesen würde, was der Apostel Petrus über die Frauen sagt: Deren Schmuck soll nicht äußerlich sein wie Haarflechten, goldene Ketten oder prächtige Kleider. Und der Apostel Paulus sagt, sie sollen nicht mit gelocktem Haupthaar, mit Gold oder Perlen oder kostbaren Kleidern gehen. Daher pflegten ihre Eltern lachend und das Mädchen verlachend zu sagen: Was soll bloß aus unserer Tochter werden?169

Zu diesem heiligmäßigen Verhalten bereits in der Kindheit und gleichsam von Natur aus gehört auch Jakobs Bericht, dass sie sich von unterhaltsamen (Kinder-) Spielen fern hält: Sie war nämlich beinahe von Mutterleib an so auf den Herrn geworfen, dass sie sich niemals oder nur selten unter die Spielenden

Siehe I. Geyer, Maria von Oignies, S. 38. Buch I, § 11. 169  Buch I, § 11. 167  168 

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mischte, wie es bei den Mädchen üblich ist, und nicht bei denen mitmachte, die in Unbeschwertheit lebten.170

Die Maria von Oignies zugeschriebene, sehr ausgeprägte Askese und ihre Bußhaltung rückt sie in die Nähe der Wüstenväter. Bolton sieht neben dem asketischen Eifer weitere Parallelen zum Leben der Wüstenväter im Hass gegenüber Menschenmassen, im Kampf mit den Dämonen, im Aushalten langer Schweigephasen und in dem ausgeprägten Mitgefühl, gepaart mit Demut.171 Wenn Maria einfällt, dass sie vor langer Zeit einmal als Kranke Fleisch und Wein zu sich genommen hat, schneidet sie sich kleine Fleischstücke aus ihrem Leib, um vormals genossene Gaumenfreuden zu kompensieren: Indem sie aber am Geist so sehr Geschmack gefunden hatte, wurde ihr aller fleischlicher Genuss so zuwider, dass sie, als sie sich in Erinnerung rief, wie sie früher einmal nach einer sehr schweren Erkrankung für kurze Zeit gezwungen war, Fleischspeisen und Wein gewissermaßen aus Notwendigkeit zu sich zu nehmen, sich aus Abscheu vor dem vergangenen Genuss quälte und keine innere Ruhe mehr fand, bis sie durch Züchtigung ihres Fleisches auf wunderbare Weise Wiedergutmachung geleistet hatte. Von der Glut des Geistes gleichsam trunken, schnitt sie, um des süßen Fleisches des Osterlammes willen, aus Ekel vor ihrem eigenen Fleisch mit einem Messer ziemlich große Stücke ihres Fleisches heraus. Diese verbarg sie aus Scham in der Erde.172

Für uns heute beschreibt dies einen extrem rüden Umgang mit dem Körper.173 Peter Dinzelbacher deutet dieses Ereignis, bei dem Buch I, § 11. Siehe B. M. Bolton, “Vitae matrum: A further aspect of the Frauenfrage”, in Medieval Women. Dedicated and Presented to Professor Rosalind M. T. Hill on the Occasion of her Seventieth Birthday, Hg. D. Baker, Oxford 1978, S. 264–265; Mc Ginn, S. 19: Die Mystiker in der Zeit zwischen ca. 1200 und ca. 1350 sind sehr stark der Tradition verpflichtet, die von den Kirchenvätern eingeleitet und von den Mönchen des mittelalterlichen Abendlands entwickelt wurde. 172  Buch I, § 22. 173  Siehe P. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007; s. auch B. M. Bolton, “Mary of Oignies: A Friend”, S. 203 und M. G. Calzà, Dem Weiblichen ist das Verstehen des Göttlichen 170  171 

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Maria ein Seraph “wohlwollend zuschaut”, als eine Selbststigmatisierung Marias, um Christusförmigkeit zu erlangen, “wobei die Verletzungen am ehesten an denselben Stellen zu vermuten sind, an denen Jesus angenagelt worden war”.174 Da das berichtete Ereignis aber im Zusammenhang einer Bußaktion Marias steht und die Narben laut Vita erst nach ihrem Tod von den Frauen entdeckt werden, die ihren Leichnam waschen – an Füßen und Händen wären sie doch früher zu sehen gewesen – halte ich diese Deutung nach wie vor nicht für plausibel.175 Ein Topos altkirchlicher Hagiographie ist auch die Gabe der Tränen,176 die Maria erhält, von der sie manchmal richtiggehend überfallen wird und auf Unverständnis von Seiten der Kleriker stößt,177 aber durch die sie auch Zweifler oder Spötter bekehrt.178 Die Verehrung der Kleider eines oder einer Heiligen nach dem „auf den Leib“ geschrieben. Die Begine Maria von Oignies († 1213) in der hagiographischen Darstellung Jakobs von Vitry († 1240) (Bibliotheca Academica, 3), Würzburg 2000. 174  P. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, S.  57; ders., Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn 1992 S. 187: “Es spricht für sich, dass die hl. Maria von Oignies (1177–1213), ebenfalls eine Mystikerin aus dem Bereich der niederländischflämischen Beginenbewegung, sich einige Jahre vor Franziskus die Stigmata selbst beigebracht hatte.” 175  Thomas von Cantimpré beschreibt im Supplementum, §  14, noch eine Episode, die Auskunft gibt über den brutalen Umgang mit dem Körper im 13. Jahrhundert: Thomas von Cantimpé lässt den Prior unter Aufwendung großer Kraftanwendung aus dem Leichnam des Johannes vom Pomerium Reliquien entnehmen. Thomas sieht Maria an dieser Stelle über die Brutalität erschreckt und erbost, insbesondere bei der Vorstellung, dass nach ihrem Tod mit ihrem Leichnam ebenso umgegangen werden wird. 176  M. Lauwers, “«Noli me tangere». Marie Madeleine, Marie d´Oignies et les Pénitentes du xiiie siècle”, S. 220 sieht u.a. die Tränengabe Marias als Beweis dafür, dass Maria Magdalena ohne Zweifel zum Modell der Büßerinnen des 13. Jahrhunderts wurde. Ebd., S. 258: Maria von Oignies habe durch ihre Tränen der Zerknirschung Maria Magdalena im 14. Jahrhundert geradezu als Weinende abgelöst. 177  Die Episode, die Jakob von Vitry in Buch I, § 17 erzählt, bestätigt die Unverfügbarkeit und die Gnade der Tränengabe: Als sie aber an einem Tag vor dem Rüsttag, da die Passion Christi schon bevorstand, durch einen noch größeren Tränenguss sich unter Seufzen und Schluchzen dem Herrn zu opfern begonnen hatte, ermahnte sie einer der Priester der Kirche mild scheltend, dass sie doch still beten und die Tränen zurückhalten solle. 178  Siehe V. von der Osten-Sacken, Jakob von Vitrys „Vita Mariae Oigniacensis“, S. 177 f.

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Tod, so wie Jakob von Vitry es im Fall von Maria von Oignies erwähnt,179 ordnet sich ebenfalls in diese Traditionslinie ein. Daraus ist zu schließen, dass Jakob von Vitry der Vita wohl durchaus mehrere Funktionen und Intentionen gab: Neben den oben erwähnten, erreicht er durch die Anknüpfung an die hagiographische Tradition, dass die neue Heiligkeit, das neue Büßerund Mystikideal der Frauen seiner Zeit nicht als unbotmäßige Neuerung erscheint und deshalb von vornherein von der kirchlichen Hierarchie abgelehnt wird.

Schlusswort Es ist gut, dass die Vita der Maria von Oignies heute unter vielen verschiedenen Aspekten gelesen und interpretiert wird. Die verschiedenen Perspektiven, unter denen sie und ihr Leben verstanden werden können, unterstreicht ihre Bedeutung. Die rigorosen Bußpraktiken und die exzessiven Selbstkasteiungen wirken heute eher befremdlich und schwer nachvollziehbar, jedoch ihre Mystik berührt immer noch. Diese Vita schlägt auf jeden Fall ein “neues Kapitel in der Geschichte der Mystik”180 auf. Die starke spirituelle Energie, die aus der Vita spricht, hat in der Vergangenheit in­ spiriert und mag durchaus auch heute Menschen zu spirituellem Umgang mit der Bibel, zu imaginativer, an die Bibel rückgebundener, Erfahrung anregen. Ihre spirituelle Energie ist das bleibende Erbe der Vita der Maria von Oignies.

Praktische Hinweise Sehr häufig beziehe ich mich in den Anmerkungen der Übersetzung auf die Neuedition der Vita durch R. B. C. Huygens. Um nicht jedes Mal den ganzen Titel der neuen Ausgabe zitieren zu müssen, kürze ich ab: s. (H). (H) steht also für Iacobus de Vit179  180 

Buch I, § 37; Buch II, § 106. B. McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3, S. 68.

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riaco, Vita Marie de Oegnies. Thomas Cantipratensis, Supplementum, im Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis, Band 252, Turnhout 2012. In der Einleitung zitiere ich die Vita nicht nach Seitenzahlen, sondern nach den jeweiligen Nummern der Paragraphen des Prologs, von Buch I, Buch II oder des Supplementum. Die Paragraphenangaben sind in der Übersetzung am inneren Rand des Textes, die Seitenzahlen der kritischen Edition am äußeren Rand des Textes zu finden. Die Abkürzungen der biblischen und außerbiblischen Schriften folgen der Theologischen Realenzyklopädie, hrsg. v. Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin 1977 ff. (=TRE) Nur bei der Zählung III Reg und IV Reg der Vulgata füge ich zur Erläuterung 1. bzw. 2. Könige hinzu. In der Vulgata werden die beiden Samuelbücher als Buch I und Buch II der Könige bezeichnet, deshalb sind die beiden Königsbücher, wie sie aus den Bibelübersetzungen bekannt sind, dort als III und IV benannt. Die TRE schlägt für das dritte und das vierte Buch Könige natürlich keine Abkürzung vor, deshalb habe ich, um Missverständnisse zu vermeiden, jeweils in Klammern die übliche Bibelangabe im Buch der Könige hinzugefügt. Die Bibelzitate folgen der Vulgata: Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, Stuttgart 1975 (2. Aufl.). Bei der Nummerierung der Psalmen folgt die Übersetzung der Vulgata aus der Septuaginta. Wenn ich auf die Luther-Übersetzung Bezug nehme, folge ich: Lutherbibel erklärt. Die Heilige Schrift in der Übersetzung Martin Luthers mit Erläuterungen für die bibellesende Gemeinde, Stuttgart 1974. Spitze Klammern bedeuten: der Herausgeber hat etwas eingefügt. In runden Klammern steht, was ich zur Präzisierung eingefügt habe, falls im Lateinischen die pronominale Zuordnung nicht ganz klar ist. † bedeutet, dass an dieser Stelle der Text verderbt und nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren ist, *** bedeutet Textverlust. 

München, im Sommer 2013

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Abkürzungen AASS

BHL CCCM CCSL CSEL MPL

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Jakob von Vitry Das Leben der Maria von Oignies

Prolog

1

Der Herr hieß seine Jünger die Brotbrocken aufsammeln,a um sie nicht verderben zu lassen. Was heißt Brotbrocken nach dem Mahl aufsammeln anderes als sich das Beispiel der Heiligen nach ihrem Tod ins Gedächtnis rufen, damit die Körbe gefüllt werden, das heißt, damit die Armen und Geringenb durch das Beispiel der Väter erquickt werden? Denn auch die Hündchen essen von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.c Daher hatten einst die heiligen Väter, entsprechend dem ihnen übertragenen Talent,d immer das Urteil des strengen Richters vor Augen, und schrieben zum Wohl der Nachgeborenen die Tugenden und Werke der ihnen vorangegangen Heiligen auf, um den Glauben der Schwachen zu stärken, die Unwissenden zu belehren, die Säumigen anzutreiben, die Frommen zur Nachahmung anzuregen, die Gegner und Ungläubigen zu widerlegen. Um von unzähligen anderen zu schweigen, wollen wir unter ihnen den heiligen Vater Hieronymus betrachten, mit wie viel Mühe er die Viten der ägyptischen Väter studierte, mit welcher Sorgfalt er sie im Gedächtnis bewahrte, zu wie großem Nutzen der Leser er sie aufschrieb und an verschiedenen Stellen das Holz sammelte,e um auf dem Altar des Herrn das Feuer mit Vgl. Joh 6, 12–13. Vgl. Mt 15, 27. c  Vgl. Mk 7, 28. d  Vgl. Mt 25, 15. e  Vgl. Num 15, 32; III. Reg (= 1. Könige) 17, 10. a 

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Das Leben der Maria von Oignies

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Brennmaterial zu versorgen.a Mit wohl nicht geringerem Eifer schrieb der Leierspieler des Herrn, das Werkzeug des Heiligen Geistes, der heilige Gregor, die Tugenden und Beispiele der heiligen Väter Italiens in einem Band des Dialogus nieder. So sammelte er gleichsam die Aschenreste nach den Opfern vieler, die an einem reinen Ort niedergelegt, das heißt, in den reinen Gemütern der Gläubigen aufbewahrt werden sollen, damit sie durch die verschiedenen Beispiele der Heiligen, wie die Füße der das Osterlamm Essendenb durch Schuhwerk geschützt würden, und diejenigen, die sich an den nackten und harten Strickenc von Belehrungen verletzen würden, unter Zuhilfenahme von alten Tüchern, will sagen, der Werke der alten Väter, mit Jeremia leichter aus der Zisterne herausgezogen würden:d Denn viele werden durch Beispiele angeregt, die durch Belehrungen nicht bewegt werden. Als daher der heilige und verehrungswürdige Vater, der Bischof der Kirche von Toulouse, von Häretikern aus seiner Stadt vertrieben, auf der Suche nach Hilfe gegen die Feinde des Glaubens in die Gebiete Galliens gelangt war, und schließlich, gleichsam angezogen vom Duft und vom Ruf gewisser Leute, die in wahrer Demut für Gott kämpften, bis in das Bistum Lüttich hinabgekommen war, hörte er nicht auf, den Glauben und die Frömmigkeit, besonders der heiligen Frauen zu bewundern, die mit höchster Hingabe und Hochschätzung die Kirche Christi und die Sakramente der heiligen Kirche verehrten. Diese Frauen werden in ihrem Land von fast allen entweder vollständig verachtet oder aber gering geachtet. Und er wünschte sehr, dass einiges, was er sah und hörte, nicht verloren ginge,e sondern wie die Brotbrocken gesammelt würde.f Du weißt nämlich, heiliger Vater, Hirte von Toulouse oder vielmehr der ganzen Kirche Christi, du Säule der Stärkeg in unseren Vgl. Deut 15, 32; Lev 6, 12; Jer 7, 18. Vgl. Amos 6, 4. c  Vgl. Prov 5, 22. d  Vgl. Jer 38, 6–10. e  Vgl. Joh 3, 32. f  S. oben Joh 6, 12. g  Vgl. I Tim 3, 15. a 

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Prolog, 1–3

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Tagen – an dich richtet sich ja meine Rede, der du mir den Auftrag erteilt und mich der Nachlässigkeit bezichtigt hast, weshalb ich es gewagt habe, dieses Büchlein zu beginnen – du weißt, sage ich, dass es dir, als du in unser Land kamst, vorkam, als wärst du im Land der Verheißung. Bei deinem Bericht hörte ich, dass du in deiner Heimat einen Auszug aus Ägypten unternahmst, die Wüste durchschritten und das Land der Verheißung in der Diözese Lüttich gefunden hast. Denn als du in deiner Heimat viele aus unserem Gebiet kennen gelernt hattest, die gegen die Häretiker einen Kreuzzug führten, vor Glauben glühten, in Bedrängnis wunderbare Geduld bewiesen,a von Werken der Barmherzigkeit überflossen, ja sogar, wie du mir gesagt hast, dich wundertest, dass gewisse Frauen hier um eine lässliche Sünde mehr trauern als die Männer in deiner Heimat um tausend Todsünden, sahst du bei der Ankunft in unserem Land, wie du gehört hattest,b ja sogar mehr noch als du vorher gehört hattest, so dass du durch Wahrnehmung erfahren hast,c was du kaum glauben konntest außer durch eigenen Augenschein. Du hast nämlich gesehen, und du hast dich darüber gefreut,d wie in den Liliengärtene des Herrn an verschiedenen Orten eine Vielzahl von Scharen heiliger Jungfrauen für Christus die Lockungen des Fleisches verschmähten, und wie sie sogar aus Liebe zum himmlischen Reich die Reichtümer dieser Welt verachteten, in Armut und Demut ihrem himmlischen Bräutigam anhingen und durch ihrer Hände Arbeit einen kargen Lebensunterhalt verdienten:f Selbst wenn ihre Eltern Reichtümer in Fülle besaßen, vergaßen sie doch selbst ihr Volk und ihr Elternhausg und wollten lieber Enge und Armut aushalten als Reichtümer, die auf unrechte Art erworben waren, im Überfluss besitzen oder sich der Gefahr aussetzen, unter protzigen Weltlichen zu bleiben. Du hast Vgl. Röm 12, 12. Vgl. Ps 47, 9. c  Vgl. Gen 30, 27. d  Vgl. Joh 8, 56. e  Vgl. Cant 6, 1. f  Vgl. Tob 2, 19. g  Vgl. Gen 47, 12 (Lev 22, 13). a 

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gesehen, und du hast dich darüber gefreut, mit welchem Eifer heilige und Gott dienende ältere Frauen die Keuschheit der jungen Mädchen bewahrten und wie sie sie in dem reinen Vorhaben, allein den himmlischen Bräutigam zu ersehnen, durch heilvolle Ermahnungen unterwiesen. Sogar die Witwen selbst dientena Gott durch Fasten und Gebete,b Nachtwachen und Handarbeit, mit Tränen und Flehen. Wie sie früher danach trachteten, ihren Männern im Fleisch zu gefallen, so, vielmehr stärker noch, strebten sie jetzt danach, dem himmlischen Bräutigam im Geist zu gefallen, indem sie sich häufig jenes Wort des Apostels ins Gedächtnis riefen: Eine Witwe, die ausschweifend lebt, ist lebendig tot (I Tim 5, 6) und (du hast gesehen und dich gefreut), dass heilige Witwen, die Anteil nehmen an den Bedürfnissen der Heiligen, die die Füße der Armen waschen, die Gastfreundschaft üben,c die sich eifrig der Werke der Barmherzigkeit widmen, die sechzigfache Fruchtd verdienen. Du hast auch heiligmäßig lebende Frauen gesehen, und du hast dich darüber gefreut, die in der Ehe ihrem Herrn fromm dienten, die ihre Kinder in der Furcht Gottese erzogen,f die auf eine ehrbare Hochzeit und ein unbeflecktes Ehebett achteten,g die sich zur rechten Zeit für das Gebet frei hielten und danach mit Gottesfurcht in dasselbe zurückkehrten, um nicht vom Satan versucht zu werden.h Viele jedoch enthielten sich mit Zustimmung ihres Ehemannes erlaubter Umarmungeni und führten ein eheloses und wahrhaftig engelgleiches Leben und sind umso mehr der Krone würdig als sie, obwohl ins Feuer geworfen, nicht brannten.j Du hast auch gesehen und dich gewundert, vielmehr warst du sehr betrübt, dass manche schamlose, jeder Religion gegenüber feindlich gesinnte Männer die Religion der oben genannten Vgl. Röm 12, 11. Vgl. Jud 4, 8 und 12 und öfter. c  Vgl. Röm 12, 13. d  Vgl. Mt 13, 8 und 23. e  Vgl. Tob 14, 16. f  Vgl. Prov 19, 18 und 29, 17. g  Vgl. Hebr 13, 4. h  Vgl. I Kor 7, 5. i  Vgl. I Kor 7, 9. j  Vgl. Joh 15, 6 und Apk 2, 10. a 

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Prolog, 3–5

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Frauen auf boshafte Weise in üblen Ruf brachten und mit hündischer Raserei deren guten Lebenswandel, der ihnen zuwider lief, ankläfften, und da sie nichts Besseres zu tun hatten, neue Namen für sie erfanden,a so wie die Juden Christus einen Samaritanerb und wie sie die Christen Galiläerc nannten. Es ist nicht verwunderlich: Ägypter verabscheuen Schafe,d finstere und boshafte Männer verspotten die Einfalt von Unschuldigen und zerreißen sich bei Trinkgelagen und Festessen,e bei Trunkenheit und Rausch dadurch das Maul über das Leben der Enthaltsamen. Als daher einer von den Mönchen des heiligen Bernhard, der bislang in einer Abtei namens Aulne für den Herrn Dienst tat, aus Einfalt wissen wollte, was das für Männer und Frauen seien, die von den Boshaften mit neuen Namen belegt wurden, erhielt er im Gebet eine Antwort vom Heiligen Geist, die lautete: Sie werden als fest im Glauben befunden werden, in ihren Werken wirksam (Kol 1, 23). Daraufhin hing jener Greis ihnen mit so viel Liebe an, dass er es nicht aushalten konnte, wenn jemand in seiner Gegenwart etwas Schlechtes über sie sagte. Sief selbst aber hielten mit wunderbarer Geduld die Vorwürfe und Verfolgungen aus, gedachten oft des Wortes aus dem Evangelium: Wärt ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb (Joh 15, 19). Und weiter: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen (Joh 15, 20). Aber weil geschrieben steht, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Mt 7, 16 und 20), zeigte sich während der Verwüstung der Stadt Lüttich klar, wie deutlich sie Gott anhingen.g Diejenigen, die nicht in die Kirchen fliehen konnten, warfen sich in den Fluss und wollten lieber sterben als Schaden an ihrer Keuschheit nehmen. Einige warfen sich sogar in die schmutzigen Abwasserkanäle und Vgl. M. Lauwers, “Expérience béguinale et récit hagiographique”, S. 75. Vgl. Joh 8, 48. c  Vgl. Act 2, 7. d  Vgl. Gen 46, 34; vgl. Ex 8, 26. e  Vgl. Jud 9, 27. f  Das «Sie» bezieht sich auf Männer und Frauen. g  Durch die Truppen Herzog Heinrichs I. von Brabant (1190–1235), im Mai 1212 (H). a 

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wollten lieber am Gestank erstickena als ihrer Jungfräulichkeit beraubt werden. So geruhte der milde Bräutigam Vorsorge für seine Bräute zu treffen, dass sich trotz der großen Menge keine fand, die den Tod des Körpers oder Schaden an ihrer Keuschheit erlitten hätte. Als sich aber eine der heiligen Frauen auf gefährliche Weise im Fluss abmühte, kamen zwei der Feinde in einem kleinen Schiff zu ihr und zogen sie in das Boot, um sich schändlich an ihr zu vergehen. Was hätte eine Keusche unter Verführern, ein Lamm unter Wölfen,b eine Taube unter Habichten tun sollen?c Sie wollte lieber wieder im Fluss untergehen als verdorben werden: Sie sprang vom Boot in die Wellen, und während das Boot vom Stoß der Springenden sank, gingen zugleich jene beiden unter und kamen um, sie aber gelangte durch die Gnade Gottes ohne Schaden an Körper und Seele ans Ufer, wobei die Strömung sie unterstützte. Dem Wunderbaren folgte noch Wunderbareres.d Als sich im Königreich Frankreich und in einem großen Teil des Reiches eine lange und unerträgliche, drei Jahre andauernde Hungersnot so sehr verschlimmerte, dass die Menschen in den Städten und auf dem Lande überall Hungers starben und sogar die, die vorher reich gewesen, nun gezwungen waren, öffentlich zu betteln und zu verhungern, gab es in der so großen Menge heiliger Frauen im ganzen Lütticher Bistum keine, auch wenn sie zuvor für Christus alles aufgegeben hatte,f die verhungert wäre oder öffentlich hätte betteln müssen. Aber wir wollen nun zu den einzelnen Personen und einzelnen Wundern übergehen. Ich rufe deine Heiligkeit zum Zeugen an:g Du hast nämlich mit deinen eigenen Augen die wunderbare Vgl. I Makk 1, 65 ; Tob 3, 6. Vgl. Lk 10, 3. c  Vgl. Mt 10, 16. d  Vitaspatrum (Vita s. Antonii abbatis, vgl. Buch 1, S. 10), Migne, PL 73, 150B (= B. Mombritius, Sanctuarium I, S. 89, 12) : mirandis plus miranda succedunt. Der Ausdruck – auch sonst nicht selten in hagiographischen Texten, deren gemeinsame Vorlage R.  B.  C. Huygens jedoch nicht zu ermitteln vermochte – könnte, angesichts Jakobs Verhältnis zu den Zisterziensern, von ihm auch dem Exordium Magnum (dist. 5 c. 17) entnommen sein : Hg. B. Griesser (CCCM 138), S. 372, 141, s. (H), S. 48, Anm. zu Z. 125–126. e  Vgl. Jos 21, 12. f  Vgl. Mt 19, 29. g  Vgl. II Kor 1, 23. a 

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Prolog, 5–6

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Handlungsweise Gottes und seine Gnadengaben gesehen, die er auf verschiedene Personen verteilte.a Jemand, du wirst es sicherlich bestätigen, empfing vom Herrn eine solche Gnadengabe, dass er die Sünden der Menschen, die durch eine wahrheitsgemäße Beichte nicht offengelegt worden waren, bei vielen wahrnahm, und indem er vielen ihre verborgenen Sünden anzeigte und viele anregte, zur Beichte zu gehen, war er, nach Gott, die Ursache ihres Heils. Du hast auch bestimmte Frauen gesehen, die in solch besonderem und wunderbarem Liebesverlangen zu Gott aufgegangen sind, dass sie vor Sehnsucht krank wurden und sich viele Jahre lang nur selten vom Bett erheben konnten, wobei sie keinen anderen Grund für ihre Krankheit hatten als ihn. Durch das Verlangen nach ihm schmolzen ihre Seelen dahin,b ruhten süß mit dem Herrn und wurden körperlich umso schwächer je stärker sie im Geist wurden, im Herzen riefen sie laut, auch wenn sie sich das vor Scheu mit dem Munde nicht anmerken ließen: Stärkt mich mit Blütennektar und labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe (Cant 2, 5).c Bei einer Frau erschlafften sogar geschwächt wunderbar und deutlich sichtbar die Wangen, während ihre Seele vor Liebesüberschwang dahinschmolz, ja bei vielen schwoll vom Honig der geistlichen Süße im Herzen der Honiggeschmack im Mund fühlbar an, indem er süße Tränen entlockte und den Geist in frommer Haltung bewahrte. Einige Frauen hatten aber eine so große Tränengabe empfangen, dass, sooft Gott durch ihre Gedanken in ihrem Herzen war, vor Andacht ein Tränenbächlein aus ihren Augen floss, so dass auf ihren Wangen die Spuren der Tränen von der Gewohnheit zu weinen, sichtbar waren. Diese Tränen jedoch machten ihren Kopf nicht leer, sondern belebten ihren Verstand mit einer gewissen Fülle neu, versüßten ihren Geist mit einer lieblichen Salbung, erquickten sogar den Körper auf wunderbare Weise und erfreuten die ganze Stadt Gottesd durch den heiligen Strom ihres Flusses. Vgl. I Kor 12, 4. Vgl. Cant 5, 6. c  Luther übersetzt: Stärkt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe. d  Vgl. Ps 45, 5. a 

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Andere aber wurden in einer solch großen Trunkenheit des Geistes entrückt, dass sie in jener seligen Stille fast einen ganzen Tag lang ruhten und keine Stimme noch Wahrnehmung für irgendetwas Äußeres hatten, während der König an seinem Tische saß.a Der Friede Gottes nämlich war so im Überfluss vorhandenb und begrub ihre Sinne derart, dass sie durch keinen Ruf erwachen konnten und überhaupt keine körperliche Verletzung spürten, selbst wenn sie heftig gestochen wurden. Ich habe eine gesehen, die fast dreißig Jahre lang von ihrem Bräutigam mit solcher Eifersucht in ihrer Klause bewacht wurde, dass sie keine Möglichkeit hatte, die Klause zu verlassen, auch wenn tausend Menschen versucht hätten, sie an den Händen herauszuziehen: Sie versuchte nämlich viele Male heraus zu kommen, wobei einige sie sogar zogen, aber vergebens, weil sie eher zerrissen worden wäre.c Eine andere habe ich gesehen, die, während sie häufig entrückt wurde, bisweilen zwanzig Mal am Tag, und die sogar in meiner Gegenwart, wie ich glaube, mehr als sieben Mal in Ekstase gefallen ist, und die, in welchem Zustand sie auch angetroffen wurde, darin unbeweglich verblieb, bis sie wieder zu sich kam, und dennoch, wie sehr sie sich auch neigte, nicht fiel, weil ein vertrauter Geist sie stützte: Ihre Hand hing bisweilen unbeweglich in der Luft, in der Haltung, in der sie vorgefunden worden war. Diese Frau wurde, wenn sie zu sich kam, mit solch großer Freude erfüllt, dass sie durch die Reste der Gedanken, die ein Fest feierten, gezwungen wurde, ihre innere Freude durch körperliches Beifallklatschen zu zeigen, so wie David die seine durch Tanzen vor der Bundeslade,d entsprechend dem Vers: Mein Herz und mein Leib freuten sich an dem lebendigen Gott (Ps 83, 3).e Einige aber erfuhren beim Empfang jenes Brotes, das vom Himmel kommt,f nicht nur Erquickung im Herzen, sondern sinnlich Vgl. Cant 1, 11. Vgl. Phil 4, 7 c  Vgl. A. Minnis, R. Voaden, Medieval Holy Women in the Christian Tradition c. 1100–c. 1500 (Brepols Collected Essays in European Culture 1), Turnhout 2010, S. 638(–639), Anm. 47 (W. Simons), s. (H), S. 50, Anm. zu Z. 169–174. d  Vgl. II Sam 6, 14 und 16. e  Luther übersetzt: Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. f  Vgl. Joh 6, 33(50). a 

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Prolog, 7–9

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spürbaren Trost im Mund, süßer als Honig und Honigwabe,a wenn das Fleisch des wahren Lammes vom Mund des Herzens, den es erfüllte, bis zum Mund des Körpers sich mit wunderbarem Geschmack ergoss. Einige liefen aber mit so großem Verlangen dem Wohlgeruch des heiligen Sakramentesb nach, dass sie es keineswegs aushielten, es lange zu entbehren und keinen Trost oder keine Ruhe fanden, sondern vollends einen Schwächeanfall erlitten, wenn ihre Seelen nicht häufig durch die Lieblichkeit jener Speise belebt wurden. Die ungläubigen Häretiker sollen schamrot werden,c die die Lieblichkeit dieser Speise weder im Glauben noch im Herzen empfangen! Ich habe unter den heiligen Frauen auch eine kennen gelernt, der, als sie sich einmal heftig danach sehnte, vom Fleisch des wahren Lammes erquickt zu werden, das wahre Lamm sich ihr selbst reichte, weil es ihren Schwächezustand nicht länger aushielt, und, derart gestärkt, kam sie wieder zu Kräften. Ich habe auch eine andere gesehen, an der der Herr so wunderbar gewirkt hat, dass ihre Seele in den Körper zurückkehrte und sie wieder lebendig wurde, obwohl sie schon lange tot dagelegen hatte und ihr Körper vor der Beerdigung stand und sie vom Herrn die Erlaubnis erhielt, in dieser Welt, im Körper lebend, das Fegefeuer zu durchleiden. Aus diesem Grund ist sie lange Zeit vom Herrn auf so wunderbare Weise heimgesucht worden, dass sie sich manchmal im Feuer wälzte, manchmal im Winter lange im Eiswasser verweilte, und manchmal sogar sich gezwungen sah, in die Gräber der Toten hinein zu gehen. Schließlich lebte sie nach vollzogener Buße in so tiefem Frieden und verdiente sich vom Herrn so große Gnade, dass sie oftmals entrückt die Seelen von Verstorbenen im Geist bis ins Fegefeuer, ja durch das Fegefeuer hindurch, ohne irgend eine eigene Verletzung bis zum Himmelreich führte.d Aber wozu ist es notwendig, die unterschiedliche und wunderbare Vielfalt der Gnadengaben verschiedener Personen Vgl. Ps 18, 11. Vgl. Cant 1, 3. c  Vgl. Ps 6, 11. d  Es handelt sich um Christina (”Mirabilis”), deren Vita von Thomas von Cantimpré verfasst wurde (AASS Juli V, 1727), s. dazu (H), Einleitung S. 8, Anm. 7, Supplementum § 1. a 

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aufzuzählen, da ich in einer einzigen wertvollen und hervorragenden Perlea die Fülle fast aller Gnadengaben gefunden habe, die unter den anderen Perlen wie ein Karfunkelb unter den anderen Steinen, wie die Sonne unter den Sternen wunderbar glänzte? Ihr Ruf, der hinter der Wirklichkeit zurückblieb, führte besonders dich in unser Land. Ihre Tugend hast du bei der ersten Begegnung mit ihr auf wunderbare Weise an dir wahrgenommen. Als sie nämlich schon fast vierzig Tage lang überhaupt nichts gegessen und ihren seligen und schon nahen Heimgang mit Sehnsucht und geistiger Heiterkeit erwartet hatte, und du viel Bewundernswertes über ihr Leben gesehen und gehört hattest, batest du mich, der ich ja einer ihrer Vertrauten gewesen war und vieles über ihre Wunder überliefert hätte, mit höchster Eindringlichkeit, ihre Lebensgeschichte, nachdem sie zum Herrn eingegangen wäre, schriftlich festzuhalten und nicht nur ihre Lebensgeschichte, sondern auch die anderer heiliger Frauen, in denen der Herr auf wunderbare Weise in der Lütticher Gegend wirkt. Obwohl du aber sagtest, dass es für dich und viele andere von Vorteil sei, wenn du gegen die Häretiker deiner Provinz öffentlich verkünden könntest, was Gott bei den modernen Heiligen unserer Tage bewirkt, war ich jedoch nicht einverstanden, die Wunder und Werke derer, die noch leben, aufzuschreiben, weil sie es keineswegs ertragen würden. Um jedoch deiner Heiligkeit gegenüber nicht gänzlich ungehorsam zu erscheinen, nehme ich das vorliegende Werk in Angriff, von deinen Gebeten unterstützt, von deinem Verlangen angetrieben, von der Nützlichkeit für viele Leser angespornt, um das Reisig mit dem Apostel zu sammeln,c mit dem ich sowohl mich als auch andere wärme, auch wenn ich nicht zögern würde, mit dem Apostel von der Schlange gebissen zu werden. Aber weder er ist von der Schlange verletzt worden, noch fürchte ich durch die Bisse der Verleumder irgendwelchen Schaden zu nehmen: Denn obwohl der tierische Mensch nicht erkennt, Vgl. Mt 13, 46. Vgl. Isidor, Etym. 16, 14, 1, s. (H), S. 52, Anm. zu Z. 216. c  Vgl. Act 28, 3. a 

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Prolog, 9–11

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was von Gott kommt,a werde ich von dem begonnenen Unternehmen wegen der tierischen Nichtsnutzigkeit der Neider zum Nutzen vieler nicht ablassen. Denn es gibt tierische Menschen, die, obwohl sie den Geist Gottes nicht haben,b nach ihrer eigenen Auffassung klug sind,c die nichts annehmen wollen, außer, was durch menschliche Vernunft überzeugen kann, die aber alles, was sie nicht verstehen, verlachen und verachten. Ihnen hält der Apostel entgegen: Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht (I Thess 5, 19). Eben diejenigen aber dämpfen den Geist, so weit sie können,d und verschmähen die Weissagungen. Sie verachten alle Geistbegabten wie Verrückte und Ungebildete und halten die Weissagungen oder die Offenbarungen der Heiligen für Hirngespinste oder Traumbilder. Der Arm des Herrn aber ist nicht zu kurz,e noch gab es von Anbeginn an eine Zeit, zu der der Heilige Geist in seinen Heiligen nicht auf wunderbare Weise, entweder offen oder verborgen, gewirkt hätte: Denn er (der Heilige Geist) ist das Salböl, das vom Kopf in den Bart herabfließt und vom Bart in den Saum des Gewandes,f sogar bis zu dessen Troddeln hinabfließt, das heißt, es wird auf die Heiligen der letzten Zeit herabkommen. Wir werden also Weniges von dem Vielen berichten,g das wir erlebt und erfahren haben, und das wir zum großen Teil aus eigener Erfahrung wissen, zur Ehre Gottes und seiner Magd und zum Trost für die Freunde eben jener Magd Christi: Wir sind nämlich nicht in der Lage, alles Wunderbare ihres Lebens zu sammeln, da viele Jahre hindurch, in denen sie fromm dem Herrn diente, kaum ein Tag oder eine Nacht verging, an denen sie nicht irgend einen Besuch von Gott oder seinen Engeln oder den himmlischen Heiligen, mit denen sie hauptsächlich Umgang pflegte, gehabt hätte. Damit es aber für den Leser in einer solchen Fülle von Dingen Vgl. I Kor 2, 14. Vgl. I Kor 7, 40. c  Vgl. Röm 12, 16. d  Vgl. Hi 15, 4. e  Vgl. Jes 59, 1. f  Vgl. Ps 132, 2. g  Vgl. Jer 42, 2. a 

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leichter ist, dass er findet, was er gesucht hat, habe ich den einzelnen aufeinander folgenden, in rechter Ordnung zusammengestellten Kapiteln Überschriften beigefügt, durch welche der Verstand wie mit Schlüsseln zum Folgenden geführt wird, damit der Geist des Lesers ohne jegliche Verwirrung wie von glitzernden Sternen erleuchtet wird.

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Buch I

1. Ihre Kindheit 11

Es lebte im Bistum Lüttich in einer Stadt namens Nivelles ein Mädchen, das sowohl durch sein Leben als auch durch seinen Namen gnadenreich war,a Maria, die von einfachen Eltern abstammte, obwohl sie Reichtümer und viele vergängliche Güter in Fülle hatten; dennoch zogen die weltlichen Güter sie von klein auf nicht an. Sie war nämlich beinahe von Mutterleib an so auf den Herrn geworfen,b dass sie sich niemals oder nur selten unter die Spielenden mischte, wie es bei den Mädchen üblich ist, und nicht bei denen mitmachte, die in Unbeschwertheit lebten,c dadurch ihre Seele vor aller Begierded und Eitelkeit bewahrte und schon in ihrer Kindheit nach göttlicher Vorsehung erkennen ließ, wie sie in Zukunft, in fortgeschrittenem Alter, sein würde. Daher beugte sie schon in der Kindheit häufig nachts vor dem Bett die Knie und brachte dem Herrn gewisse Gebete, die sie gelernt hatte, gleichsam als die Erstlingee ihres Vgl. Gregor der Große, Dialogi 2, Prol. (Sources Chrétiennes 260, S. 126): Fuit vir vita venerabilis, gratia benedictus et nomine. Hieronymus, Liber interpretationis hebraicorum nominum, CCSL 72, S. 137, 16–20: Mariam plerique aestimant interpretari `inluminant me isti` vel ´ìnluminatrix`vel `zmyrna maris`. Sed mihi nequaquam videtur. Melius est autem ut dicamus sonare eam `stillam maris` sive `amarum mare`. Sciendumque quod Maria sermone syro `domina` nuncupatur, s. (H), S. 56, Anm. zu Z. 16 und zu Z. 17. b  Vgl. Ps 21, 11. c  Vgl. Tob 3, 17. d  Vgl. Tob 3, 16 ; vgl. Jdt 10, 15. e  Vgl. Ex 22, 29 u.ö. a 

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Das Leben der Maria von Oignies

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Lebens, dar. Denn so sehr wuchsen mit ihr von Kindheit an Mitgefühla und Frömmigkeit, und so sehr liebte sie die religiöse Lebensweise aufgrund einer in ihrer Natur liegenden Leidenschaft, dass sie eines Tages, als Brüder aus dem Zisterzienserorden vor ihrem Elternhaus vorbeigingen, heimlich folgte, zu ihnen aufblickend und deren Mönchskutte bewundernd, und da sie nichts anderes tun konnte, setzte sie voll Sehnsucht ihre Füße in die Fußabdrücke der Konversbrüder oder Mönche. Als aber ihre Eltern sie mit eleganten und feinen Kleidern schmücken wollten, wie es bei den Weltlichen der Brauch ist, verweigerte sie dies traurig, als ob sie, von Natur aus in ihrem Geist eingeprägt, lesen würde, was der Apostel Petrus über die Frauen sagt: Deren Schmuck soll nicht äußerlich sein wie Haarflechten, goldene Ketten oder prächtige Kleider (I Petr 3, 3). Und der Apostel Paulus sagt, sie sollen nicht mit gelocktem Haupthaar, mit Gold oder Perlen oder kostbaren Kleidern gehen (I Tim 2, 9). Daher pflegten ihre Eltern lachend und das Mädchen verlachend zu sagen: Was soll bloß aus unserer Tochter werden?

2. Ihre Ehe

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Da sie ihr also ihre glücklichen Werke missgönnten, verheirateten sie sie, als sie vierzehn Jahre alt war, mit einem jungen Mann. Dann aber, von den Eltern getrennt, entbrannte sie in solch großem Übereifer, züchtigte ihren Körper in so harten Kämpfen und unterwarf ihn der Knechtschaft,b dass sie oft, wenn sie einen Großteil der Nacht mit ihren eigenen Händen gearbeitet hatte, nach der Arbeit noch sehr lange betete, den Rest der Nacht aber, so oft es ihr vergönnt war, mit ein wenig Schlaf auf geheim gehaltenen Holzlatten verbrachte, die sie am Fußende des Bettes verborgen hatte. Und weil sie natürlich keine Gewalt über ihren eigenen Körper besaß,c trug sie heimlich unter dem Hemd einen sehr rauen Strick, durch den sie stark eingeschnürt wurde. Das sage ich nicht, um diesen Vgl. Hi 31, 18. Vgl. I Kor 9, 27. c  Vgl. I Kor 7, 4. a 

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Buch I, 11–13

Übereifer zu empfehlen, sondern um ihre Leidenschaft zu zeigen. In diesen Dingen und in vielen anderen, die sie auf Grund eines Vorrechts der Gnade ausführte, soll ein vernünftiger Leser darauf achten, dass die Vorrechte weniger Menschen kein allgemeines Gesetz begründen.a Wir wollen ihre Tugenden nachahmen, die Werke ihrer Tugenden könnten wir ohne persönliches Vorrecht aber nicht nachahmen.b Denn obwohl der Körper gezwungen sein soll dem Geist zu dienen,c und obwohl wir die Wundmale unseres Herrn Jesus Christus an unserem Körper tragen sollen,d wissen wir dennoch, dass die Macht des Königs das Recht lieb hat,e und dass dem Herrn das Opfer nicht gefällt, das aus dem Raub an den Armenf besteht: Denn nicht vom armseligen Fleisch sind die notwendigen Dinge wegzunehmen, sondern die Laster müssen unterdrückt werden. Wovon wir also lesen, dass es bestimmte Heilige durch den vertrauten Ratschluss des Heiligen Geistes vollbracht haben, lasst uns eher bewundern als nachahmen.

3.  Der Gesinnungswandel ihres Ehemannes, und dass sie unter Verzicht auf alles keusch lebten 13

Als sie aber nicht lange mit ihrem Ehemann namens Johannes so in der Ehe gelebt hatte, sah der Herr die Niedrigkeit seiner Magd ang und erhörte das tränenreiche Flehen der Bittenden. Denn Gratian, C. 1 q. 1 c. 106: …et ideo privilegia eorum non possunt generare communem legem, s. (H), S. 58. b  Der Gedanke, dass ein gewisses Benehmen zwar bewunderungswürdig ist, dafür aber noch nicht unbedingt nachgeahmt werden sollte, findet sich nicht erst bei Jakob von Vitry. So sagt z.B. Petrus Damiani (1007–1072) bezüglich Märtyrer: Aliud igitur …solummodo venerari et ammirari debemus, aliud etiam imitari: ammiremur scilicet…imitemur…Veneremur in illis…, imitemur autem…: Serm. 54, 1, CCCM 57, S. 342, 21–25 oder Bernhard von Clairvaux, Ep. 42, De moribus et officio episcoporum, Hg. Leclercq-Rochais, S. Bernardi opera 7, 1974, S. 122, 20–21 : …his qui tales non sunt mirandum, non imitandum, s. (H), S. 58, Anm. zu Z. 58–60. c  Vgl. Röm 7, 25. d  Vgl. Gal 6, 17. e  Vgl. Ps 98, 4. f  Vgl. Jes 3, 14 und 61, 8. g  Vgl. Lk 1, 48. a 

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Johannes wurde eingegeben, dass er Maria, die er zunächst als Ehefrau hatte, nun als eine ihm Anvertraute haben sollte: Dem Reinen vertraute er die reine Magd an,a damit sie einen tröstenden Hüter habe und überließ ihr einen treuen Fürsorger, damit sie um so freier dem Herrn dienen könnte, der vorher auf Grund einer gewissen natürlichen Liebenswürdigkeit seines Geistes dem heiligen Vorhaben seiner Frau nicht widersprach, wie es die Gewohnheit anderer Männer ist, sondern voll Güte an ihren Bemühungen teilnahm und sie tolerierte, der ist vom Herrn inspiriert worden, sich nicht nur um ein eheloses und wahrhaft engelgleiches Leben durch Enthaltsamkeit verdient zu machen, sondern seiner Gefährtin in ihrem heiligen Vorhaben und ihrem heiligen religiösen Leben nachzueifern, indem er alles um Christi willen an die Armen verteilte. Je mehr er sich aber in Bezug auf die fleischliche Liebe von ihr trennte, desto mehr wurde er mit ihr durch Zuneigung in einer Ehe mit geistlicher Bindung verbunden. Deshalb erschien der Herr später seiner Magd in einer Vision und versprach ihr, dass er ihr den Gefährten, der sich aus Liebe zur Keuschheit des fleischlichen Verkehrs auf Erden enthalten hatte, gleichsam durch eine Wiederherstellung der Ehe im Himmel zurückgeben werde. Es mögen sich die Unglücklichen, die sich außerhalb der Ehe durch unerlaubte Vereinigungen beschmutzen, schämen und vor Angst zittern, wohingegen sich diese beiden glückseligen jungen Leute, die sich für den Herrn sogar der erlaubten Umarmungen enthielten, den Ansturm der leidenschaftlichen Jugend durch die Leidenschaft für die Religion überwanden, das Feuer durch Feuer löschten und Triumphkronen verdienten. Diesen gab der Herr in seinem Haus und innerhalb seiner Mauern einen Ort und einen besseren Namen als den von Söhnen und Töchtern,b weil sie nach der seligen Art eines Martyriums im Feuer nicht brannten, angesichts der Menge an Verlockungen den eigenen Willen opferten, neben einem Fluss dürsteten, angesichts eines Mahles hungerten und dadurch ihre fleischlichen Lüste mit dem Pflock der Furcht a  b 

Gott ist als derjenige gedacht, der dem Reinen die reine Magd anvertraut. Vgl. Jes 56, 5.

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Buch I, 13–15

des Herrn bannten, ja sogar sich für den Herrn vollkommen erniedrigten, und bei Nivelles, in einem Ort, der Willambroc heißt, für den Herrn eine Zeitlang einer Gruppe von Leprakranken dienten.

4.  Die Verachtung und Verfolgung von Seiten ihrer Verwandten 15

Das sahen die Dämonen und wurden neidisch, das sahen weltlich gesinnte Menschen und ihre Verwandten, und sie knirschten vor Wut mit den Zähnen über sie,a und diejenigen, die sie früher, als sie noch reich waren, verehrt hatten, verachteten und verspotteten sie nun, da sie für Christus arm geworden waren: Für den Herrn wurden sie als gemein und niedrig angesehen, Beschimpfungen von Leuten, die dem Herrn Vorwürfe machten, prasselten auf sie herab.b Fürchte dich nicht, du Magd Christi, Freude und weltliche Ehre hintan zu stellen und dich aus eigener Kraft gemeinsam mit deinem Christus den Schmähungen des Kreuzes zu nähern: Denn es ist gut für dich, im Haus des Herrn verachtet zu sein, besser als in den Hütten der Gottlosen zu wohnen.c Du hast die Gunst deiner Verwandten verloren, die Gnade Christi hast du gefunden. Hast du die Liebe deiner Verwandten verloren? Keineswegs: Denn sie liebten niemals dich, sondern dein Eigentum, Fliegen folgen dem Honig, Wölfe dem Aas, jene Meute folgt der Beute, nicht dem Menschen.

5. Ihre Zerknirschung und ihre Tränen Gütig bist du, Herr, denen, die auf dich hoffen, wahrhaftig bist du für die, die auf dich warten. Deine Magd verachtete die Herrschaft

Vgl. Ps 34, 16. Vgl. Ps 68, 10. c  Vgl. Ps 84, 11b. a 

b 

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der Welt und ihren ganzen Schmucka um deiner Liebe willen, du aber gabst ihr das Hundertfache zurück in dieser Welt und das ewige Leben in der zukünftigen:b Denn lasst uns sehen, mit wie vielen Edelsteinen an Tugenden du deine kostbare Freundin geschmückt hast, gleichsam als massives Goldgefäß, das mit jeder Art von wertvollen Steinen geziert ist,c lasst uns sehen, mit wie vielen Wundern du die von Weltlichen Verachtete und Verspottete geschmückt hast. Der Anfang ihrer Bekehrung zu dir, die Erstlinge ihrer Liebe, waren dein Kreuz, dein Leiden. Sie hörte deine Botschaftd und fürchtete sich, sie betrachtete deine Werkee und erzitterte. Als sie nämlich eines Tages, von dir gewarnt und besucht, die Wohltaten betrachtete, die du im Fleisch dem menschlichen Geschlecht gnädig gewährt hast, fand sie in deinem Leiden eine so große Gnade der Zerknirschung und eine so große Menge an Tränen aus der Kelter deines Kreuzes herausgepresst, dass ihre über die Kirche auf den Fußboden reichlich herabfließenden Tränen, ihre Spuren zeigten. Sie konnte deshalb, noch lange Zeit nach diesem seinem Besuch, weder das Bild des Kreuzes Christi anschauen noch vom Leiden sprechen oder andere davon sprechen hören, ohne durch ein Schwinden der Kräfte ihres Herzens in Ekstase zu fallen. Um manchmal den Schmerz zu lindern und den Tränenfluss zum Stillstand zu bringen, hörte sie auf, an die menschliche Natur Christi zu denken und hob ihren Geist zu seiner göttlichen Natur und Majestät empor, um Trost zu finden in seiner Art, sich vom Leiden nicht unterwerfen zu lassen. Aber, wo sie den Andrang des Tränenstroms einzudämmen suchte, da erstand fortan seltsamerweise ein noch größerer Ansturm von Tränen. Denn als sie wahrnahm, wie groß der war, der für uns so Abscheuliches aushielt, erneuerte sich ihr Schmerz wieder und ihre Seele füllte sich in süßer Zerknirschung mit neuen Tränen.

Vgl. Apk 11, 15 ; Mt 4, 8. Vgl. Mt 19, 29. c  Vgl. Sir 50, 10. d  Vgl. Jer 49, 14; Hab 3, 2. e  Vgl. Koh 7, 14. a 

b 

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Als sie aber an einem Tag vor dem Rüsttag, da die Passion Christi schon bevorstand, durch einen noch größeren Tränenguss sich unter Seufzen und Schluchzen dem Herrn zu opfern begonnen hatte, ermahnte sie einer der Priester der Kirche mild scheltend, dass sie doch still betena und die Tränen zurückhalten solle. Zumal sie aber immer bescheiden und mit taubengleicher Einfalt allen zu gehorchen bemüht war, verließ sie im Bewusstsein ihrer Unfähigkeit,b heimlich die kirchliche Gemeinschaft und verbarg sich an einem geheimen Ort, an dem keine Menschen waren. Sie erlangte von Gott unter Tränen, dass er dem oben genannten Priester zeigte, dass es nicht in der Macht des Menschen liegt, dem Tränenfluss Einhalt zu gebieten, wenn beim heftigen Wehen des Geistes die Wasser fließen.c Als also jener Priester an demselben Tag die Messe feierte, öffnete der Herr (die Schleusen) und keiner war da, der sie schließen konnted und er ließ die Wasserströme heraus und sie durchwühlten die Erde.e Sein Geist wurde von einer solchen Tränenflut überschwemmt, dass er fast erstickt wäre. Und je mehr er auch versuchte, den Ansturm zu unterdrücken, desto mehr wurden durch den Tränenguss nicht nur er selbst, sondern sowohl das Messbuch als auch das Altartuch durchnässt. Was sollte jener Unvorsichtige, jener Schmäher der Magd Christi tun? Er lernte durch eigene Erfahrung und mit Schamröte, was er zunächst durch Demut und Mitgefühl nicht erkennen wollte. Nach vielen Seufzern stammelte er vieles wirr und sich unterbrechend und entkam schließlich mit knapper Not dem Untergang, und wer es sah und erkannte, legte Zeugnis davon ab.f Dann aber kehrte die Magd Christi lange Zeit nach Beendigung der Messe zurück und erzählte wunderbarerweise, was vorgefallen war, als ob sie dabei gewesen wäre, wobei sie gegen den Priester Vorwürfe erhob: “Nun”, so sprach sie, “hast du durch eigene Erfahrung a  b 

ten.

Vgl. Jdt 13, 6. Gemeint ist: ihre Unfähigkeit, der Ermahnung jenes Priesters Folge zu leis-

Vgl. Ps 147, 18; vgl. auch Ex 14, 21. Vgl. Jes 22, 22 und Apk 3, 7. e  Vgl. Hi 12, 15. f  Vgl. Joh 19, 35. c 

d 

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gelernt, dass es nicht in der Macht des Menschen liegt, den Ansturm des Geistes zurückzuhalten, wenn der Südwind weht.”a Da aber ihre Augen Tage und Nächte hindurch ununterbrochen Tränen hervorbrachtenb und ihre Tränen nicht nur von ihren Wangen, sondern auch, um auf dem Kirchenboden keine Verschmutzung von den Tränen zu hinterlassen, von dem Leinentuch, womit sie ihr Haupt bedeckte, aufgefangen wurden, benützte sie viele derartige Tücher, die häufig ausgetauscht werden mussten, wobei immer ein trockenes (Tuch) auf ein nasses folgte. Während ich sie, von echtem Mitleid bewegt, nach langen Fastenübungen, nach vielen Nachtwachen, nach so großen Tränenfluten fragte, ob sie, wenn der Kopf, wie es zu geschehen pflegt, sich leer anfühlt, eine Verletzung oder einen Schmerz spüre, sagte sie: “Diese Tränen sind meine Erquickung, diese sind mein Brot bei Tag und bei Nacht”,c sie setzen dem Kopf nicht zu, sondern nähren den Geist, sie quälen ihn durch keinen Schmerz, sondern erfreuen die Seele durch eine gewisse Heiterkeit, sie leeren nicht das Gehirn, sondern füllen den Geist reichlich und erquicken ihn durch eine liebliche Salbung, wobei sie nicht mit Gewalt abgetrotzt, sondern freiwillig vom Herrn gegeben werden.”

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6. Ihre Beichte

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Lasst uns nach ihrer Zerknirschung kurz ihr Beichten betrachten. Ich rufe Gott zum Zeugen an, dass ich in ihrem ganzen Leben oder ihrem Lebenswandel nicht eine einzige Todsünde erkennen konnte. Wenn sie aber irgend eine kleine lässliche Sünde begangen zu haben schien, zeigte sie sich mit so großem Schmerz des Herzens, mit solcher Scheu und Schamröte, mit solcher Zerknirschung dem Priester,d dass sie oft auf Grund ihrer großen Ängste nach Art einer Gebärendene schreien musste, obwohl sie sich auf Vgl. Lk 12, 54–55. Vgl. Ps 118, 36. c  Vgl. Ps 41, 4. d  Vgl. Mt 8, 4; Lk 5, 14. e  Vgl. Ps 47, 7 u. ö. a 

b 

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die Weise sogar vor geringfügigen und lässlichen Sünden hütete, dass sie häufig zwei Wochen lang nicht einen sündigen Gedanken in ihrem Herzen finden konnte; da es ja die Art guter Seelen ist, dort Schuld zuzugeben, wo keine ist, warf sie sich häufig einem Priester zu Füßen und beichtete, sich unter Tränen selbst solcher Dinge anklagend, über die wir uns kaum das Lächeln verwehren konnten, wie zum Beispiel einiger kindlicher Worte, über die sie in der Erinnerung Schmerz empfand, dass sie sie in ihrer Kindheit leichtsinnig ausgesprochen hatte. Nachdem sie aber alles Kindliche abgelegt hatte,a bemühte sie sich, mit so großer Furcht ihre Seele, mit so großer Sorgfalt ihre Sinne und ihr Herz mit so großer Reinheit zu bewahren – wobei sie immer vor Augen hatte: Wer mit wenigem nicht haushält, der kommt bald zu Fall (Sir 19, 1) – dass wir an ihr nie oder nur selten ein müßiges Wortb oder einen unordentlichen Anblick oder eine unehrenhafte Körperhaltung oder ein übermäßiges Lachen oder eine unschickliche oder unschöne körperliche Gebärde wahrnehmen konnten, obwohl sie häufig mit durch geringen Überschwang erheitertem Antlitz auf Grund der unermesslichen Freude ihres Herzens, wobei sie selbst kaum Fassung bewahren konnte, gezwungen wurde, mit einer äußeren körperlichen Geste den Jubel des Herzens zu zeigen, entweder indem sie sich von der Heiterkeit ihres Herzens zu einem bescheidenen Lächeln hinreißen ließ oder indem sie im Übermaß ihrer Güte einen von ihren Freunden, wenn sie kamen, mit einer maßvollen, sittsamen Umarmung aufnahm oder indem sie die Hände oder die Füße eines Priesters aus inniger Verehrung küsste. Nachdem sie jedoch, gleichsam nach einem Erlebnis der Geisttrunkenheit, zu sich gekommen war, bestrafte sie sich selbst nach einer in bewundernswerter Herzenszerknirschung geleisteten Beichte, indem sie am Abend in strengem Erinnern an alle ihre Taten überlegte, ob sie in Erwägung ziehen müsse, das Maß selbst im Geringsten überschritten zu haben, wobei sie sich häufig dort fürchtete, wo kein Grund zur Furcht

a  b 

Vgl. I Kor 13, 11. Vgl. Mt 12, 36.

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vorlag.a Einzig in diesem Punkt tadelten wir sie bisweilen, da wir nach einem Trost für unsere eigene Trägheit suchten, dass sie, häufiger als wir es wollten, die genannten Kleinigkeiten beichtete.

7. Ihre Buße und ihre Wiedergutmachung

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Nun wollen wir aber nach ihrer Beichte anfügen, mit wie großer und wunderbarer Reue sie ihren Körper dem Herrn opferte und sehen, mit welch großer Liebe und welch wunderbarem Genuss sie durch die Umarmung des Kreuzes Christi sich im Fleisch kreuzigte. Jene erste Lektion der Lehre Jesu Christi, jenes erste Dokument der evangelischen Zucht – Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Mt 16, 24; Lk 9, 23) – bewegte sie häufig in ihrem Herzen und bemühte sich, Christus gleichsam in diesen drei Schritten zu folgen. Sie hatte nicht nur fremdem Besitz entsagt, indem sie nichts Fremdes begehrte, nicht nur dem eigenen Besitz, indem sie sich von allem lossagte, indem sie sich nicht nur körperlich geißelte, sondern überhaupt sich selbst, indem sie ihrem eigenen Willen vollends entsagte:b Sich selbst hatte sie verleugnet, indem sie sich gehorsam dem Willen des anderen unterwarf, sie nahm ihr Kreuz auf sich, indem sie ihren Körper durch Enthaltsamkeit züchtigte, sie ahmte Christus nach, indem sie sich in Demut erniedrigte. Indem sie aber am Geist so sehr Geschmack gefunden hatte, wurde ihr aller fleischlicher Genuss so zuwider, dass sie, als sie sich in Erinnerung rief, wie sie früher einmal nach einer sehr schweren Erkrankung für kurze Zeit gezwungen war, Fleischspeisen und Weinc gewissermaßen aus Notwendigkeit zu sich zu nehmen, sich aus Abscheu vor dem vergangenen Genuss quälte und keine innere Ruhe mehr fand,d bis sie durch Züchtigung ihres Fleisches auf wunderbare Weise Wiedergutmachung geleistet Vgl. Ps 13, 5 und Ps 52, 6. Regula s. Benedicti Prol. 3: abrenuntians propriis voluntatibus, s. (H), S. 65, Anm. zu Z. 230. c  Vgl. I Tim 5, 23. d  Vgl. II Kor 2, 13. a 

b 

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hatte. Von der Glut des Geistes gleichsam trunken, schnitt sie, um des süßen Fleisches des Osterlammes willen, aus Ekel vor ihrem eigenen Fleisch mit einem Messer ziemlich große Stücke ihres Fleisches heraus. Diese verbarg sie aus Scham in der Erde. Und weil sie, von allzu großer Liebesglut entflammt, den Schmerz des Fleisches überwand, erblickte sie in dieser geistigen Ekstase einen der Seraphim,a der ihr beistand. Die Stellen ihrer Wunden fanden die Frauen, als sie ihren toten Körper wuschen und wunderten sich. Diejenigen aber, die durch ihre oben erwähnte Beichte davon wussten, konnten es sich erklären. Warum sollten diejenigen, die die aus Simeons Wunden kriechenden Würmerb und die, die das Feuer des heiligen Antonius, mit dem er seine Füße anzündete,c in Verehrung bewundern, nicht auch beim schwachen Geschlecht über die so große Kraft einer Frau in Erstaunen geraten, die, von Liebe verwundet, von den Wunden Christi gestärkt, die Wunden des eigenen Körpers für nichts achtete?

8. Ihr Fasten 23

Durch eine solch große Gnade des Fastens zeichnete sich die Magd Christi aus, dass sie an den Tagen, an denen sie zur Erholung ihres Körpers zum Essen wie zur Einnahme einer Arznei greifen musste, einmal und maßvoll untertags im Sommer gegen Abend, im Winter in der ersten Stunde der Nacht aß: Wein trank sie nicht, Fleisch nahm sie nicht zu sich, Fische aß sie höchst selten und dann nur sehr kleine, von den Früchten der Bäume, von Kräutern und Gemüse ernährte sie sich irgendwie. Sie aß lange Zeit das allerschwärzeste und allerhärteste Brot, von dem die Hunde kaum fressen konnten, so dass ihre Kehle durch die zu große Grobheit und Härte innen verletzt wurde und aus diesen Verletzungen Blut drang, das ihr die Erinnerung an Christi Blut versüßte: Durch Vgl. Jes 6, 2 und 6. Vitaspatrum (Vita s. Symeonis stylitae), VII, MPL 73, 328–329, s. (H), S. 67, Anm. zu Z. 249–250. c  Nicht gefunden (Vitaspatrum, MPL 73, 127–168; Mombritius, Sanctuarium I, S. 75–100), s. (H), S. 67, Anm. zu Z. 250–251. a 

b 

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die Wunden Christi wurden ihre Wunden gemildert, und durch die Lieblichkeit des himmlischen Brotes wurde ihr die Herbheit des sehr rauen Brotes versüßt. Eines Tages, als sie ihren Körper durch Nahrung stärkte, sah sie, wie sich der alte Feind vor Neid verzehrte,a und da er nicht mehr tun konnte, beleidigte er sie und sprach: “Siehe, du Gefräßige, du stopfst dich allzu sehr voll.” Denn sie war durch ihr langes Fasten so abgemagert und ausgezehrt, litt bisweilen beim Essen und hatte Schmerzen an ihrem kalten und zusammengeschrumpften Magen, der sozusagen die Nahrung zurückwies, weil er selbst bei wenig Speise anschwoll. Weil sie aber die Verschlagenheit und die Tücken des Feindes erkannte, der nichts lieber tat als diejenige zu verwirren, die er als gottesfürchtig kannte, damit sie durch übergroße Enthaltsamkeit schwach würde, versuchte sie, um ihn zu verspotten umso mehr zu essen, je mehr die giftige Schlange dadurch gequält wurde: Denn ob sie aß oder fastete, alles tat sie zur Ehre Gottes.b Sie fastete drei Jahre lang hintereinander bei Wasser und Brot, vom Festtag des heiligen Kreuzes bis Ostern,c doch sie nahm davon keinen Schaden an ihrer körperlichen Gesundheit, noch litt die Arbeit ihrer Hände darunter. Wenn sie in ihrer Zelle an der Kirche ihren Körper am Abend oder nachts mit nur wenig Brot und nur mit Wasser erquickte, waren schließlich vom Beginn der Segensworte bis zur Danksagung am Ende einige der heiligen Engel bei dem bescheidenen Mahl zugegen und stiegen vor ihr wie auf einer leuchtenden Leiter auf und ab.d Durch ihre Gegenwart erfuhr Maria solch großen Trost und solch geistige Freude, dass die geistige Stärkung jeden süßen Geschmack übertraf. Der heilige Johannes, der Evangelist, den sie mit wunderbarer Leidenschaft liebte, kam von Zeit zu Zeit an ihren Tisch, wenn sie aß. In seiner Gegenwart schwand durch das Gefühl der Frömmigkeit ihr sinnlicher Appetit derart, dass sie selbst die wenige Nahrung kaum zu sich nehmen konnte. Die Genüsse des Körpers, die sie sich um Christi willen verwehrt hatte, vergalt ihr der Herr im Geist, so Vgl. Weish 6, 25. Vgl. I Kor 10, 31. c  Vom 14. September bis Ostern. d  Anspielung auf die Jakobsleiter, vgl. Gen 28. a 

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wie geschrieben steht: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Mt 4, 4; Lk 4, 4). Durch die Kraft dieser Speisea aß und trank sie oft acht, bisweilen auch elf Tage lang, das heißt von Christi Himmelfahrt bis zur Ankunft des Heiligen Geistes, nichts und fastete und wunderbarerweise schmerzte ihr Kopf kein bisschen, und sie setzte auch deshalb mit ihrer Handarbeit nicht aus. Sie war am letzten Tag des Fastens nicht weniger der Arbeit fähig als am ersten, selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie in diesen Tagen nicht essen können, solange, bis ihre Sinne, die vom Geist ganz aufgesogen worden waren, sozusagen wieder zu ihr zurückkehrten: Solange nämlich ihre Seele durch eine geistliche Stärkung reichlich überfloss und so erfüllt war, gestattete sie (ihre Seele) nicht, dass sie irgendeine Stärkung durch körperliche Nahrung erhielt. Als sie ein Mal fünfunddreißig Tage lang in süßer und seliger Stille lieblich mit dem Herrn ruhend verbrachte, nahm sie überhaupt keine körperliche Nahrung zu sich und etliche Tage hindurch konnte sie kein einziges Wort hervorbringen außer allein dem: “Ich möchte den Leib unseres Herrn Jesus Christus”: Nachdem sie ihn empfangen hatte, verblieb sie in ihrer Ruhe tagelang mit dem Herrn. In jenen Tagenb fühlte sie, dass ihr Geist, gleichsam vom Körper getrennt, so im Körper existierte wie wenn er in einem tönernen Gefäß liege, dass aber ihr Körper ihren Geist gleichsam wie eine tönerne Hülle umgebe und bekleide. So nämlich war sie von sinnlich wahrnehmbaren Dingen getrennt und über sich selbst in Ekstase entrückt und kehrte aber nach fünf Wochen endlich zu sich zurück und öffnete ihren Mund, und zum Staunen der Anwesenden redete sie und nahm Speise für den Körper zu sich. Noch lange Zeit später geschah es, dass sie den Geruch von Fleischspeisen, von irgend etwas Gebratenem oder von Wein überhaupt nicht ertragen konnte, außer wenn sie nach der Hostie bei der Eucharistiefeier den Wein zu sich nahm. Dann aber hielt sie klaglos sowohl Geruch als auch Geschmack aus. Auch wenn sie durch verschiedene Städte kam, wenn sie zu einem bestimmten Bischof ging, um das Sakrament der Stärkung a  b 

Vgl. III Reg (= 1. Könige) 19, 8. Vgl. Mk 1, 9; Lk 2, 1.

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zu empfangen, dann belästigten sie die Gerüche nicht, die sie vorher nicht ertragen konnte.

9. Ihr Gebet

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Je mehr sie ihren Körper durch Fasten schwächte, umso mehr erstarkte der freiere Geist in Gebeten: Der Körper wurde durch das Fasten schwächer und ihre Seele wurde im Herrn stärker. Sie erhielt nämlich eine so große und so besondere Gnade des Gebets vom Herrn, dass sie ihren durch das Gebet unerschütterlichen Geist niemals oder nur selten bei Tag und bei Nacht entspannte. Sie betete nämlich ohne Unterlass,a entweder, indem sie zum Herrn schrie, während ihr Herz still war, oder indem sie das Gefühl ihres Herzens mit Hilfe ihres Mundes ausdrückte. Denn vom Altar ihres Herzens stieg so ununterbrochen eine duftende Rauchwolke vor dem Angesicht des Herrn empor,b dass sie sogar, wenn sie Handarbeit leistete, das heißt, ihre Hand fleißig anlegtec und ihre Finger die Spindel ergriffen, einen Psalter vor sich liegen hatte, woraus sie dem Herrn auf süße Weise Psalmen zurief, mit denen sie wie mit Nägeln ihr Herz, damit es nicht müßig ging, mit dem Herrn innig verband. Wenn sie aber den Herrn um etwas besonders bat, antwortete ihr der Herr im Geiste durch eine wunderbare Erfahrung. Ihr Geist klebte am Herrn nämlich durch das Fett ihrer Frömmigkeit, und er nahm im Gebet auf liebliche Weise zu, wenn ihr Gott das Erbetene zugestand: Je nachdem nämlich, ob sich ihr Geist erhoben oder niedergedrückt fühlte, erkannte sie zumeist, ob sie erhört wurde oder nicht. Einmal aber brachte sie für die Seele eines Verstorbenen Bitten vor den Herrn, und es wurde ihr gesagt: “Bete nicht so hingebungsvoll für ihn, weil er vom Herrn verworfen worden ist”: Denn von einem tödlichen Stoß durchbohrt, war er auf elende Weise im Turnier gestorben und wurde dem ewigen Feuer übergeben. Als Vgl. I Thess 5, 17. Vgl. Cant 3, 6. c  Vgl. Prov 31, 19. a 

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sie eines Tages in ihrer Zelle an der Kirche in Oignies war, sah sie eine Menge Hände vor sich wie von Bittenden. Da wunderte sie sich und wusste nicht, was das bedeute und floh, durch Angst ein wenig erschüttert, in die Kirche. Am nächsten Tag, als sie in ihrer Zelle war, sah sie dieselben Hände abermals und entsetzte sich,a und als sie wieder in die Kirche floh, wurde sie von den Händen aufgehalten, die sie zurückhielten. Als sie in die Kirche, gleichsam zum Allerheiligsten, zurückeilte,b um den Herrn um Rat zu fragen, bat sie den Herrn, ihr zu erklären, was derartige Hände von ihr wollten. Ihr wurde vom Herrn geantwortet, dass die Seelen der Verstorbenen, die im Fegefeuer gequält würden, nach der Unterstützung ihrer Gebete verlangten, durch die wie durch eine kostbare Salbec ihre Schmerzen gelindert wurden. Sie unterbrach nämlich manchmal ihre gewohnten Gebete vor lauter Süße der Kontemplation, bisweilen konnte sie weder den Mund öffnen noch an etwas anderes als an Gott denken. Sie pflegte aber ungefähr einmal im Jahr zur Wallfahrt und zum Gebet die Kirche der Heiligen Maria von Heigned aufzusuchen, wo sie von der heiligen Jungfrau großen Trost empfing. Jene Kirche war aber von ihrem Wohnort gute zwei Meilen entfernt. Als aber einmal der Winter ziemlich heftig vor Frost starrte, schritt sie mit nackten Füßen über den gefrorenen Boden bis zu der Kirche, ohne sich irgendwie zu verletzen, und als sie und eine einzige sie begleitende Magd den Weg nicht wussten, der sehr verschlungen und waldreich ist, ging ihr immer ein Licht voraus und zeigte ihr den Weg, und sie verirrte sich nie. Obwohl sie aber an jenem Tag überhaupt nichts aß und während der ganzen Nacht in der Kirche wachte und auch am folgenden Tag bis zu ihrer Rückkehr, bis zum Abende keine Nahrung zu sich nahm, legte sie den Weg dennoch ohne irgend eine Schwierigkeit zurück, da sie Vgl. I Sam 28, 5 Vgl. III Reg (= 1. Könige) 2, 28. c  Vgl. Mt 26, 7. d  Heigne, die Priorei (OSB) von (Bois d´) Heigne, westlich von Jumet und nordwestlich von Charleroi, von welcher Stadt die Ortschaft jetzt ein Teil ist; Monasticon belge 1, 1961, S. 303–306, s. (H), S. 72, Anm. zu Z. 369. e  Vgl. Act 28, 23 und öfter. a 

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heilige Engel rechts und linksa stützten: Denn der Herr hatte seine Engeln beauftragt, dass sie sie auf allen ihren Wegenb beschützten und sie auf ihren Händen tragen sollten, damit sie nicht etwa ihren Fuß an einem Stein verletze.c Als einmal auf derselben Strecke in den Wolken ein heftiger Regen drohend bevorstand und sie keine Regenkleidung hatte, mit der sie die Wassermassen aufhalten konnte, sah sie beim Aufblicken, wie sie Sterne gleichsam begleiteten und den Regen aufhielten, und auf diese Weise kehrte sie, vom Regenwetter völlig unberührt, zurück. Einmal aber, als ihr Brandopfer beim Gebet fetter als gewöhnlich wurde und ihre Seele wie von Schmalz und Fett gefüllt wurde,d konnte sie nicht zu beten aufhören. Daher grüßte sie die heilige Jungfrau Tag und Nacht mit Kniebeugen eintausendeinhundert Mal, und diese wunderbare und unerhörte Tat der Frömmigkeit setzte sie vierzig Tage lang fort. Zuerst beugte sie ohne Unterlasse in Ekstasef sechshundert Mal die Knie, sodann las sie stehend den ganzen Psalter und beugte bei jedem einzelnen Psalm die Knie und brachte der heiligen Jungfrau den Englischen Gruß dar; als drittes aber schlug sie sich, als der Südwind ziemlich heftig wehte,g dreihundert Mal bei den einzelnen Kniebeugen mit der Zuchtrute und brachte sich Gott und der heiligen Jungfrau zum Opfer in lang ausgedehntem Martyrium dar, bei den letzten drei Schlägen ließ sie es zur Würze der anderen Schläge reichlich bluten; schließlich vollendete sie ihr Opfer schlicht mit fünfzig Kniebeugen. Dies führte sie nicht auf Grund menschlicher Kraft aus, sondern mit der sie unterstützenden und erleichternden Hilfe von Engeln. Wie groß die Kraft ihrer Gebete war, erfuhren häufig nicht nur Menschen als Hilfe, sondern auch Dämonen als Qual. Diesen setzte sie so sehr zu und zog sie gleichsam an Stricken, dass sie, Vgl. II Kor 6, 7. Vgl. Jes 66, 3, Jer 18, 15. c  Vgl. Ps 90, 11 f., vgl. Mt 4, 6 (Lk 4, 10–11). d  Vgl. Ps 19, 4 und Ps 62, 6a. e  Vgl. Act 12, 5 und I Thess 5, 17. f  Vgl. Ps 47, 8. g  Vgl. Lk 12, 55, s.o. S. 84 Anm. a. a 

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durch das Feuer ihrer Gebete gezwungen, veranlasst wurden, zu ihr zu kommen, wobei sie ihr gegenüber bisweilen mit den Zähnen knirschten, bisweilen gleichsam heulten und sich über sie beklagten, manchmal sogar fast flehentlich um Gnade baten. Wenn nämlich einer ihrer Vertrauten von einer Versuchung gequält wurde, hörte die wertvolle Perle Christi, von Mitleid bewegt, nicht auf, bis durch das Gewicht ihrer Gebete der Urheber der Liederlichkeit zunichte gemacht und der Arme und Machtlose aus der Hand seiner Bezwinger befreit wurde.a Ein besonders guter Freund von ihr wurde einmal von dem in Dunkelheit umherschweifenden Mittagsdämonb um so gefährlicher je raffinierter in Versuchung geführt. Jener schlaue Feind verwandelte sich nämlich in einen Engel des Lichtsc und erschien ihrem genannten Freund im Traum vertraut, gleichsam in Gestalt der Frömmigkeit, indem er ihn in Bezug auf einige seiner Laster tadelte und ihn in trügerischer Weise ermahnte, auch Gutes zu tun, wobei er das Gegengift vorausschickte, um umso heimlicher das Gift eingeben zu können. Zunächst pflegte die Schlange die honigsüße Zunge sanft heraus zu strecken, um danach mit ihrem Zahn zuzustoßen und zum Schluss den Schwanz wie eine Waffed zu ziehen. Als ihm (der Schlange) aber wie einem, der die Wahrheit sagt, bereits Vertrauen entgegen gebracht wurde, da trachtete jener Verräter danach, nach Art eines Sophisten, unter einige Wahrheiten Falsches zu mischen, wobei er das Böse in betrügerischer Absicht durch Beimischung von Gutem verschleierte. Schließlich aber führte seine Machenschaft dazu, dass jener Bruder zu einem erbärmlichen Ende gekommen wäre, wenn die Magd Christi nicht durch eine Offenbarung des Heiligen Geistes die Vorspiegelung des schlauen Sophisten Vgl. Ps 34, 10 ; vgl. Ps 73, 21 ; Ps 85, 1. Vgl. Ps 90, 5–6. c  Vgl. II Kor 11, 14. d  Cedrum stringere] Hi 40, 12 übersetze ich mit Waffe ziehen. Wörtlich müsste es die Zeder oder den Zedernstamm zusammenziehen heißen. Der Vulgata-Text, Hi 40, 12, ist schwer verständlich. Da das Lateinische den Ausdruck gladium stringere für ein Schwert ziehen kennt, vgl. Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch, Darmstadt 1985 (8. Aufl.), 2 Bände, s. u. stringere, erscheint mir diese Übersetzung wahrscheinlicher. a 

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durchschaut hätte. Und da sie sagte, dass es sich nicht um eine Offenbarung von Gott, sondern um eine Täuschung eines nichtsnutzigen Geistesa handle, antwortete er dagegen aus seinem eigenen Geist heraus und nicht aus dem heiligen Geist: “Weil jener Geist mir so viel Gutes getan hat, mir sogar so viel Wahres und Zukünftiges vorhergesagt hat, will er mich keinesfalls täuschen.” Darauf nahm jene Zuflucht zu den gewohnten Waffen der Gebete, benetzte die Füße des Herrn mit Tränen, klopfte hartnäckig mit ihren Gebeten am Himmel an, gab so lange keine Ruhe, bis jener Ungläubige mit großem Seufzen und großer Scham vor ihr stand, während sie nachts in ihrer Zelle betete. Ihn betrachtend, der mit falscher Pracht ***,b sagte sie: “Wer bist du?c Oder wie lautet dein Name?” d Jener aber blickte sie mit hochmütigem Ausdrucke und stechendem Blick an: “Ich bin derjenige, den du, Verfluchte, durch deine Gebete gezwungen hast, zu dir zu kommen und mir gewaltsam den Freund entrissen hast. Traum ist mein Name, denn ich erscheine wie Luzifer in Träumen vielen Leuten, besonders Mönchen und Religiosen, und sie gehorchen mir und fallen durch meine Tröstungen in Hochmut, als ob sie sich für würdig halten dürften, durch die Ansprache von Engeln und von Gott inspiriert zu werden. Auch meinen Freund, den du mir weggenommen hast, hätte ich meinem Wunsch gemäß von einem guten Vorhaben abgebracht.” Dies hat sich durch den Ausgang des Vorfalls bewahrheitet, denn die Eier der Natternf zerbrachen und die trügerischen Pläne des Böseng wurden später offenkundig aufgedeckt. Es war einmal ein Mädchen, das in einem Kloster des Zisterzienserordens im Ordensgewand dem Herrn unter den Nonnen diente. Auf diese war die alte Schlange umso neidischer, als sie bemerkt hatte, dass das Mädchen mit ihrem schwachen Geschlecht Vgl. Act 19, 12. *** bedeutet Textausfall, s. (H), Einleitung, S. 24. c  Vgl. Joh 1, 19 (vgl. Jak 4, 13). d  Vgl. Mk 5, 9. e  Vgl. Ps 130, 1. f  Vgl. Jes 59, 5. g  Vgl. Prov 12, 5. a 

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und jugendlichen Alter ihrem Vorsatz nachkam, einen so steilen Weg zu gehen. Da sie (die alte Schlange) jene Jungfrau als einfältig, gottesfürchtig und demütig erkannt hatte, bedrängte sie jenes unschuldige Mädchen mit gotteslästerlichen und unreinen Gedanken, um sie durch Kleinmut und verworrene Ängstlichkeit in Verzweiflung zu stürzen. Jene aber glaubte, ängstlich und an dergleichen nicht gewöhnt, wie sie war, im ersten Stadium der Überlegung, sie habe ihren Glauben verloren. Lange Zeit widerstand sie mit großem Schmerz, dann aber fiel sie aus Kleinmut gleichsam in Verzweiflung, da sie es nicht mehr aushielt und niemandem die Verwundung ihres Herzens offenbarte, um eine Arznei zu bekommen. So sehr hatte der Feind ihren Geist bedrückt, dass sie weder das Gebet des Herrn noch das Glaubensbekenntnis sprechen konnte, ihre Sünden aber nicht bekennen wollte; wenn sie aber einmal durch schmeichelnde oder drohende Worte gleichsam gezwungen, etwas beichtete, konnte sie auf keine Weise dazu gebracht werden, Gott um Gnade zu bitten. An den Sakramenten der Kirche konnte sie nicht teilnehmen, den Leib Christi wollte sie nicht empfangen, aus Verwirrung versuchte sie häufig, sich selbst zu töten, das Wort Gottes und die Ermahnungen zum Heila verachtete sie, alles Gute gereichte ihr zum Hass, viele gotteslästerliche Worte spie der Teufel durch ihren Mund aus, und als von ihren frommen Schwestern viele Gebete zum milden Herrn für sie strömten, konnten sie ihre Taube noch nicht dem Rachen des Teufelsb entreißen und konnten solcherart Teufelswerk nicht sofort beim Fasten und Betenc austreiben, und zwar nicht deshalb, weil der milde Bräutigam etwa die frommen Gebete so vieler heiliger Jungfrauen verschmäht hätte, sondern weil er die Überwindung dieser grausamsten Art von Teufelswerk insbesondered seiner Magd vorbehielt, damit sie durch die Wirksamkeit ihrer

Vgl. Tob 1, 15. Vgl. Cant 6, 8; vgl. Augustin, De baptismo 3, 17, 22, CSEL 51, S. 214, 10–11 : qui non per columbam sed per accipitrem baptizantur., s.  (H), S.  77, Anm. zu Z. 479–480. c  Vgl. Mt 17, 20 und Mk 9, 28. d  Vgl. Gal 6, 1. a 

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Gebete die Backen des Leviathana durchlöcherte und machtvoll die Beute aus seinem Maul zöge. Nachdem jenes Mädchen zu der Magd Christi geführt wurde, nahm sie jene, übervoll vom Geist des Mitleids und vom Honig geistlicher Süße, wohlwollend wie sie war, nicht nur auf Grund der Gesinnung der Gastfreundschaft in ihrer Zelle auf, sondern auch auf Grund des Geistes der Nächstenliebe in ihrem Herzen, und, obwohl sie für jene viele Gebete zum Herrn strömen ließ, wollte jener Nichtswürdige sie, die er so fest in seiner Gewalt zu haben glaubte, nicht loslassen. Danach fastete sie, indem sie sich selbst noch ausgiebiger dem Herrn opferte und vierzig Tage lang unter Tränen und Bitten überhaupt nichts aß, jedoch mit Unterbrechung, um sich an zwei oder drei Tagen in der Woche zu erholen. Am Ende des Fastens verließ jener äußerst garstige Geist die Jungfrau und musste mit Schmerz und Verwirrung zur Magd Christi kommen, um von einem Engel Christi auf wunderbare Weise gefesseltb und bestraft zu werden, so dass es schien, als ob er seine Gedärme ausgespieen hätte und alle seine inneren Organe erbärmlich um den Hals tragen würde: Was der Herr nämlich im Geist unsichtbar vollbringt, zeigt er bisweilen sichtbar durch äußere Zeichen.c Nun bat er die Freundin Christi seufzend und flehentlich, sie möge sich über ihn erbarmen und ihm eine Buße auferlegen: Er sagte nämlich, er sei gezwungen, alles, was sie ihm auferlege, tun zu müssen. So wie sie nie etwas von sich selbst hielt noch etwas ohne Rat tun wollte,d rief sie einen mit ihr befreundeten Magister, dem sie vertraute. Als jener ihr riet, ihn in die Wüstee zu schicken, damit er bis zum Tag des Gerichts niemals mehr jemandem schaden könnte, kam ein anderer, ihnen beiden sehr befreundeter Privatmann zufällig dazu. Als er die Sachlage erkannt hatte, sprach er: “Keineswegs wird jener Verräter entkommen, so wie er durch die Gewalt des heftigen Geistesf brannte: Vgl. Ps 3, 8; Hi 40, 21. Vgl. Tob 8, 3. c  Vgl. Hebr 11, 3. d  Vgl. Sir 32, 24 (33, 30) und Phlm 14. e  Vgl. Lev 16, 20–21. f  Vgl. Act 2, 2. a 

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Befiehl ihm, sofort in die Tiefe der Höllea zu fahren.” Als sie es ihm befahl und er mit Gebrüll hinabfuhr, entstand, so wie sie es im Geist hörte, ein so großer Lärm der Geister der Hölle,b als sie den großen und mächtigen Fürstenc ankommen sahen, dass die Magd Christi darüber in großes Erstaunen geriet und dem Herrn Danksagungen darbrachte. Das besagte Mädchen war von derselben Stunde an befreit, legte die Beichte ab und empfing den Leib Christi. Sie dankte Christus und kehrte in ihr Haus zurück. Manchmal aber, wenn sie nach vielen Nachtwachen und Gebeten in ihrem Bett ruhte, erschien ihr der Teufel in verschiedenen Gestalten, fletschte die Zähne über ihrd und verfluchte sie: “Zu deinem Schaden”, sprach der Ungläubige, “sollst du ausruhen, sollst mit uns in der Hölle deine Ruhe haben: Denn ich werde nicht weniger durch deine Ruhe gequält wie ich durch deine Arbeit und deine Gebete gefoltert werde.” Sie aber lächelte, und nachdem sie das Kreuzzeichen geschlagen hatte, zwang sie ihn, zurück zu weichen.

10. Ihre Nachtwachen und ihr Schlaf 33

Die tüchtige und kluge Frau hielt die Verschwendung von müßig verbrachter Zeit für schlimm und unerträglich. Die Tage nämlich vergehen und kommen nicht zurück, sie gleiten dahin und kommen nicht wieder. Daher ist der Schaden vergeudeter Zeit nicht wieder gut zu machen, und verlorene Tage können nicht wie andere materielle Dinge, die verloren sind, wiederhergestellt werden. Daher hütete sie sich mit größtem Eifer davor, eine Stunde des Tages oder der Nacht untätig vorübergehen zu lassen, soweit es ihr gestattet war. In den Nächten schlief sie kaum, weil sie wusste, dass uns der Schlaf von Gott aus Barmherzigkeit überlassen worden ist, nicht zur Belohnung, sondern zur Erholung Vgl. Jes 7, 11. Vgl. Mt 25, 6 (Act 23, 9). c  Vgl. Dtn 10, 17. d  Vgl. Ps 34, 16. a 

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der menschlichen Schwäche. Denn beim Schlafen verdienen wir nichts, weil wir nicht über den freien Willen verfügen. Und deshalb enthielt sie sich, so weit sie konnte, des Schlafs und diente dem Herrn in ihren Nachtwachen je ungestörter umso andächtiger und ohne den Lärm von Menschen, die sie umgaben: Denn die Tugend der Enthaltsamkeit, die ihren Körper schwächte und austrocknete und das glühende Feuer der inneren Liebe vertrieben aus ihr alle Schläfrigkeit. Auch die lieblichen Gesänge der Engelsgeister, mit denen sie oft die schlaflosen Nächte verbrachte, entfernten jeden Schlaf aus ihren Augen,a ohne irgendeine körperliche Beschwerde. Wenn sich die Menschenmenge entfernt hatte, dann gesellte sich während ihrer Nachtwachen das Heer der heiligen Geister zu ihr, dessen wunderbarer Klang ihren Ohren schmeichelte wie der gewisse süße Zusammenklangb einer Heerschar, der alle Starrheit abschüttelte, ihren Kopf erfrischte, ihren Geist mit wunderbarer Lieblichkeit besprengte, die Frömmigkeit erweckte, die Sehnsucht entzündete. Indem sie häufig das Heilig, heilig, heilig ist der Herr (Jes 6, 3)c wiederholte, lud sie durch ihr Beispiel zu Gotteslob und -dank ein. Darauf sollen die elenden und albernen Frauen achten und darüber trauern, die durch die Gesänge ihrer Zügellosigkeit das Feuer der Begierde entzünden und die mit ihrem Atem Kohlen zum Brennend bringen und deswegen, vom Gesang der Engel entfremdet, in ihrer Eitelkeit zu Grunde gehen. Ihr Lachen wird ihnen zu Trauer,e ihre Freude zu ewigem Schmerz, ihr Lied zu Geschrei werden. Ihnen wird vom Herrn an Stelle des Gürtels ein dünnes Seil versprochen, an Stelle von süßem Geruch Gestank, an Stelle von gekräuselter Haarpracht eine Glatze,f – aber unsere Maria trat die Reigentänze der Eitelkeit und allen Prunk des Satans aus Liebe zu Christus mit Füßen und verdiente es, in höherem Glück Vgl. Gen 31, 40 ; I Makk 6, 10. Vgl. Ez 1, 24. c  Canon missae Romanae, Hg. I. Eizenhöfer, 1954, S. 22, 17–18, s. (H), S. 80, Anm. zu Z. 552. d  Vgl. Hi 41, 12. e  Vgl. Jak 4, 9. f  Vgl. Jes 3, 24. a 

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und mit größerer Freude an den Chorgesängen der heiligen Engel teilzunehmen. Und weil sie die wertvollen Heiligenreliquien, mit denen die Kirche von Oignies reichlich ausgestattet und geschmückt ist, durch ihre Nachtwachen beschützte, verbrachten dieselben Reliquien eine festliche Nacht mit ihr und indem sie ihrer Beschützerin gleichsam Beifall spendeten, erfreuten sie ihren Geist durch wunderbaren Trost. Bei ihrer letzten Krankheit aber trösteten sie sie mit der Zuneigung eines Mitleidenden und versprachen ihr die Fürsprache vor Gott und Lohn für ihre Mühe und Schutz.a Sie hatte aber auf ihrem Lager in ihrer Zelle nur wenig Streu, auf welcher sie jedoch selten ruhte: Häufiger erholte sie sich durch wenig Schlaf, in der Kirche sitzend, den Kopf an die Wand gelehnt,b um danach wieder zu ihrer süßen Arbeit der Nachtwachen zurückzueilen. Doch die Zeit, die sie schlafend zubrachte, ging ganz und gar nicht vorüber, ohne Fruchtc hervorzubringen, denn wenn sie mit wachem Herzen schlief und Christus, dem sie im Wachen angehangen hatte, im Herzen behielt, träumte sie nur von ihrem Christus: Denn wie ein Dürstender im Schlaf von Wasserquellend träumt und ein Hungernder in der Vorstellung sieht, wie er Essen serviert bekommt, so hatte sie jenen, nach dem sie dürstete, in ihren Träumen immer vor Augen: Denn wo ihre Liebe war, da war auch ihr Auge,e wo ihr Schatz war, da war ihr Herz,f ebenso wie Christus von sich sagt: Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein (Joh 12, 26). Wie der Herr Josefg und andere Heilige im Schlaf ermahnte, so zeigte der Herr ihr auch häufig viele Dinge, während sie schlief und inspirierte seine Magd durch viele Offenbarungen, damit ihr Schlaf nicht müßig vorüberging, so wie der Herr durch den ProVgl. Weish 10, 17; I Kor 3, 8. Vgl. III Reg (= 1. Könige) 21, 4 und IV Reg (= 2. Könige) 20, 2 (Jes 38, 2). c  Vgl. I Kor 14, 14; II Petr 1, 8. d  Vgl. Ps 17, 16. e  H. Walther, Proverbia Sententiaeque Latinitatis Medii ac Recentioris Aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters und der frühen Neuzeit in alphabetischer Anordnung, Göttingen 1963, 5, Nr. 32036 : ubi amor ibi oculus, s. (H), S. 81, Anm. zu Z. 580. f  Vgl. Mt 6, 21 (Lk 12, 34). g  Vgl. Mt 2, 19–20. a 

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pheten versprochen hat: Eure Alten werden Träume haben und eure Jungen Visionen (Joel 2, 28). Irgendwann war es ihr erlaubt, in ihrer Zelle zu ruhen, manchmal aber, wenn große Feste unmittelbar bevorstanden, konnte sie nur unter dem Dach der Kirche in der Gegenwart Christi, Ruhe finden, und dann musste sie tage- und nächtelang dort bleiben; es lag nicht in ihrem Gutdünken oder freien Willen, ob sie zumeist in ihrer Zelle ruhte oder ob sie in der Kirche blieb. Sie musste nämlich ihrem vertrauten, zu ihrem Schutz bestellten Engel wie einem eigenen Abt gehorchen. Dieser mahnte sie bisweilen zur Ruhe, wenn sie durch zu viele Nachtwachen Schaden genommen hatte. Als sie aber ein wenig geruht hatte, führte er sie in die Kirche zurück, indem er sie aufstehen ließ. Als dieser sie heftig anfeuerte und ihre Tugend förderte, hing ihre Seele einmal in der Zeit vom Fest des Heiligen Martina bis Quadragesimab so sehr am Boden der Kirche an, dass sie, ob sie saß oder lag, zwischen sich und der bloßen Erde überhaupt nichts, sozusagen nicht einmal einen kleinen Strohhalm zulassen konnte. Wenn sie schlief, nahm sie den nackten Boden oder einen vor dem Sockel des Altars quer liegenden Holzbalken anstatt eines Polsters. In diesem Winter aber war die Kälte so heftig geworden und hatte so großes Eis die Welt überzogen, dass sogar im heiligen Kelch der Wein sichtbar und plötzlich, während der Priester die Messe las, wie ich mich erinnere, zu Eis gefror. Sie aber spürte keine Kälte und ihr Kopf schmerzte nicht einmal ein bisschen, weil ein heiliger Engel seine Hand barmherzig darunter legte. Weh euch, die ihr euch auf euren Federbetten räkelt und in euren elfenbeinernen Betten schlaft,c die ihr weiche Sachen benützt,d ihr seid durch eure Wollust schon tot und begraben, die ihr eure Tage in Wohlleben zubringt, aber im gleichen Augenblick in die äußerste Hölle hinabfahren werdet,e wo sich unter euch die Motte ausbreiten wird und Würmer eure Decke sein werden.f Siehe, es dient 11. November. Quadragesima] Vier Wochen vor Ostern. c  Vgl. Am 6, (1) 4. d  Vgl. Mt 11, 8. e  Vgl. Hi 21, 13 ; (Dtn 32, 22). f  Vgl. Jes 14, 11. a 

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der Dienerin Christi der Boden, weil sie ihrem Herrn fromm diente, damit sie nicht durch seine Härte wund gerieben werde, es schont sie der Winter, damit sie nicht von seiner Kälte gequält werde, es sorgen die heiligen Engel dafür, dass sie sich nirgendwo verletze. Gegen euch aber, ihr Unvernünftigen, wird der Erdkreis für den Herrn kämpfen,a denn die Schöpfung wird zur Rache an den Feinden gerüstet werden,b die ihrem Schöpfer eifrig dient und gegen euch zu euerer Qual entbrennen wird.

11. Ihre Kleider und ihre Körperhaltung 37

Sie, die sich mit dem Fell des unbefleckten Lammes kleidete, sie, die sich innerlich mit einem Brautkleid schmückte, sie, die innerlich Christus angelegt hatte,c achtete nicht auf äußeren Schmuck. Sie trug mittelmäßige Kleider, weil ihr weder absichtlich nachlässige Kleidung noch übertriebener Putz jemals gefielen. Putz und nachlässige Kleidung mied sie gleichermaßen, weil das eine nach Luxus, das andere nach Hochmut riecht. Da sie jedoch wusste, dass der heilige Johannes wegen der Rauheit seiner Kleider vom Herrn gewürdigt wurde,d und weil die Wahrheit durch sich selbst sagt: Diejenigen, die weiche Sachen tragen, gehören in die Häuser der Könige (Mt 11, 8), trug sie kein leinernes Hemd auf der Haut, sondern einen rauen Sack aus Ziegenhaaren, der im üblichen Sprachgebrauch `Estamine´e heißt. Sie hatte als Bekleidung eine weiße wollene Tunika und einen einfachen Mantel derselben Farbe ohne Fellfutter oder irgendein anderes Futter, wohl wissend, dass der Herr die Nacktheit der ersten Eltern nach dem

Vgl. Weish 5, 21. Vgl. Weish 16, 24. c  Vgl. Röm 13, 14. d  Vgl. Mt 3, 4. e  estamine] «estame, ouvrage de fils de laine passés, enlacés par mailles les uns dans les autres» (Dictionnaire de l`Académie française), (herin, Glosse in der Handschrift W, «herein (Gewand) aus Haaren, hären» : F. Jelinek, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 1911, S. 364), (H), S. 84, Anm. zu Z. 631. a 

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Sündenfalla nicht mit wertvollen oder kunstvoll gefärbten Kleidern, sondern mit Tuniken aus Fell verhüllte.b Mit der Einfachheit dieser Kleider zufrieden, fürchtete sie, die innerlich brannte, keine äußere Kälte, noch brauchte sie irgendwann ein Holzfeuer, um im Winter die Kälte zu vertreiben, sondern, wenn in einem sehr harten Winter die Eiseskälte das Wasser gefrieren ließ, dann wurde sie auf wunderbare Weise, wie sie im Geist glühte, so auch äußerlich am Körper warm, vor allem, wenn sie betete, so sehr, dass manchmal durch ihren wohlriechenden Schweiß ihre Kleider süß rochen. Meistens sogar war der Duft ihrer Kleider wie Weihrauchgeruch,c wenn sie aus der Weihrauchpfanne ihres Herzens dem Herrn Gebete darbrachte. Was sagt ihr dazu, ihr aufgetakelten und protzigen Weiber, die ihr eure Kadaver mit einer Vielzahl von Kleidung beschwert und euch durch Kleider mit Schleppe verkommen und Tieren gleich zeigt, rundherum geschmückt wie ein Tempel?d Eure Kleider werden von Motten zerfressen und stinken,e die Kleider der heiligen Frau gelten als Reliquien und duften. Das sind wertvolle Kleider, in die keine Kälte eindrang, wie dünn sie auch sein mochten, und die darum wegen der Kälte geheiligt wurden und wegen der Heiligung aber nach ihrem Tod von Gläubigen sowohl sorgfältig aufbewahrt als auch mit frommem Gefühl verehrt werden.f

12. Ihre Handarbeit Die verständige Frau wusste, dass der Herr den ersten Eltern nach dem Sündenfall, und ihretwegen auch ihren Kindern, Buße auferlegt hat, das heißt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen (Gen 3, 19). Sie arbeitete deshalb mit ihren Händen so lange sie konnte, um ihren Körper durch Buße zu quälen, um den Vgl. II Sam 1, 10. Vgl. Gen 3, 21. c  Vgl. Cant 4, 11. d  Vgl. Ps 143, 12. e  Vgl. Jak 5, 2. f  Vgl. Buch II, § 106. a 

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Bedürftigen das Lebensnotwendige zu beschaffen und um für sich selbst Essen und Kleidung zu erwerben,a was sie ja alles für Christus aufgegeben hatte. Der Herr hatte ihr eine solche Tüchtigkeit bei der Arbeit verliehen, dass sie ihre Gefährtinnen weit übertraf und beinahe in der Lage war, ihren eigenen Lebensunterhalt und noch den einer anderen vom Erwerb ihrer Hände zu bestreiten,b indem sie auf folgendes apostolische Wort sorgfältig achtete: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (II Thess 3, 10). Jegliches Verrichten von Arbeit erachtete sie für sehr süß, da sie wahrnahm, dass der eingeborene Sohn des himmlischen Königs, der die Hand öffnet und jedes Wesen segnet,c durch die Arbeit der Hände Josefs und das Gewerbe der armen Jungfrau ernährt wurde. In Ruhe also und Schweigen, gemäß dem Wort des Apostels, mit ihren Händen arbeitend,d aß sie ihr Brot.e Denn im Schweigen und in der Hoffnung lag ihre Stärke.f In dem Maße aber floh sie die Menschenmenge und deren Lärm und liebte Ruhe und Schweigen, dass sie einmal vom Fest des heiligen Kreuzesg bis zum Osterfest des Herrn Schweigen hielt und fast kein Wort von sich gab: Ein derartiges Schweigen ließ sich der Herr so gefallen, dass sie vom Herrn die Zusage erhielt, was ihr durch den Heiligen Geist offenbart wurde, sie werde vor allem deswegen ohne Fegefeuer in den Himmel fliegen. Daraus erhellt, welch ein großes Laster die Geschwätzigkeit ist, da dem Herrn das Schweigen so lieb ist, denn ein geschwätziger Mann nimmt keinen Rang ein im Land der Lebenden (Ps 139, 12 (Ps 26, 13)). Schließlich aber vervielfachte sie jeden Tag durch geschicktes Handeln das ihr anvertraute Talenth und stieg Tag um Tag von Tugend zu Tugendi auf der Jakobsleiterj empor, und als sie ganz oben stehend, gleichsam auf der obersten Vgl. Dtn 10, 18. Vgl. Prov 31, 16. c  Vgl. Ps 144, 16. d  Vgl. II Makk 12, 2. e  Vgl. I Kor 4, 12; Eph 4, 28; I Thess 4, 11; II Thess 3, 12. f  Vgl. Jes 30, 15. g  14. September. h  Vgl. Mt 25, 14–30. i  Vgl. Ps 83, 8. j  Vgl. Gen 28, 12. a 

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Sprosse sich befindend, alles sinnlich Wahrnehmbare unter ihren Füßena zurückgelassen hatte, wurden ihre Sinne durch den überreich sich zeigenden Geist so aufgesogen, dass sie, weil Christus sie vollständig vereinnahmte, nur die unvergängliche Speiseb zu sich nahm und nicht arbeiten konnte. Daher stand sie wie eine, die zu Ende gedient hatte und von jeglicher Handarbeit frei war, fortan nur dem Herrn zur Verfügung. Mit dieser Freiheit beschenkte Christus seine Magd.c

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13.  Die Ausdrucksweise und die Gebärde ihres Gesichts und ihrer anderen Körperteile Die äußere Gebärde und die Haltung der äußeren Körperteile zeigte die innere Haltung ihres Geistes. Die Heiterkeit ihres Gesichts ließ es nicht zu, die Freude ihres Herzens zu verbergen. Aber durch wunderbare Zurückhaltung mäßigte sie die Heiterkeit ihres Herzens durch den Ernst ihres Gesichts und verbarg mehr oder weniger das Glücksgefühl ihres Geistes durch die Einfalt ihres sittsamen Antlitzes. Und weil der Apostel sagt: Frauen sollen mit verschleiertem Haupt beten (I Kor 11, 5), ließ sie einen weißen Schleier, mit dem sie das Haupt bedeckte, vor ihren Augen herabhängen. Mit geneigtem Kopfd und mit zur Erde gewandtem Gesicht, ging sie langsamen und gemessenen Schrittes demütig einher. So sehr aber spiegelte sich die Gnade des Heiligen Geistes auf Grund der Fülle ihres Herzens auf ihrem Gesicht wider, dass viele Leute allein schon bei ihrem Anblick geistlich erquickt und zu Frömmigkeit und Tränen gerührt wurden, und in ihrem Gesicht wie in einem Buch die Salbung des Heiligen Geistes lasen und Ps 8, 8, und öfter. Vgl. Joh 6, 27. c  Vgl. Gal 4, 31. d  Vgl. Jdt 15, 2 und Joh 19, 30; Jes 49, 23 : vultu in terra(m) demisso (in terra, die kritische Ausgabe R. Weber, R. Gryson, 1994, S. 1148). Siehe auch die Regula s. Benedicti 7, 63 : ambulans vel stans inclinato sit semper capite defixis in terram (in terra auch im kr. Apparat der Hg. Hanslik, CSEL 75. S. 56) aspectibus, s. (H), S. 87, Anm. zu Z. 696. a 

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erkannten, wie Kraft aus ihr hervorging.a Es begab sich aber eines Tages, dass ein freundlicher Mann namens Guido, ein Vertrauter der Religiosen und ihr Freund, der einstige Kantor der Kirche von Cambrai, einen Umweg gemacht hatte, um sie zu besuchen, aber einer seiner Begleiter, welcher wohl noch nicht aus eigener Erfahrung wusste, wie viel frommen Gemütern der Besuch und der vertraute Umgang mit guten Menschen bringt, verlachte gleichsam den frommen Eifer des ihr zugeneigten Mannes und sprach: “Um Gottes Willen, Herr Kantor, was sucht Ihr da?b Warum verlasst Ihr für nichts und wieder nichts Euren Weg? Wollt Ihr denn gemeinsam mit den Kindern Fliegen und Schmetterlingen nachjagen und fangen?” Jener aber, mild und geduldig wie er war, verließ deshalb den eingeschlagenen Weg nicht, sondern ging fromm zur Magd Christi, durch deren Gegenwart er schon ein anderes Mal nicht geringen Trost empfangen hatte. Während er aber mit ihr sprach, suchte sein Begleiter, wie es bei den Weltlichen der Brauch ist, solcherart Unterhaltung gering achtend, anderweitig abwechslungsreiche und nutzlose Gespräche. Und als er des Wartens überdrüssig geworden war, kam er zum Kantor, um ihn zu ermahnen, er solle sich beeilen, und als sein Blick zufällig auf das Gesicht der Magd Christi fiel, wurde er plötzlich und auf wunderbare Weise innerlich verwandelt, und löste sich in eine so große Menge von Tränen auf, dass er sich lange Zeit danach kaum von dem Ort und von ihrer Gegenwart entfernen konnte. Daraufhin sagte der Kantor, obwohl jener aus Scham verborgen bleiben wollte, indem er darauf achtete und erkannte, was geschehen war, und sich freute und seinen Gefährten nun umgekehrt verspottete: “Gehen wir. Weshalb stehen wir noch hier?c Wollt Ihr vielleicht Schmetterlinge jagen?” Jener aber konnte sich nach vielen Seufzern und Tränen schließlich kaum von dort losreißen und sagte: “Verzeiht mir, denn ich wusste vorhin überhaupt nicht, was ich sagte,d nun aber habe ich aus eigener Erfahrung die Tugend Gottes in dieser heiligen Frau wahrgenommen.” Vgl. Mk 5, 30. Vgl. Lk 24, 5 (Joh 1, 38). c  Vgl. Mt 20, 6. d  Vgl. Lk 23, 34. a 

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Als ihr Körper irgendwann das Brennen des Geistes nicht länger aushalten konnte, erlitt sie eine schwere Krankheit. So sehr nämlich unterwarf der fromme Vater seine Tochter, die er liebte,a der Zuchtrute, dass die Glieder ihres Körpers auf wunderbare Weise gemartert wurden, denn ihre Arme wurden vor Schmerz gleichsam im Kreis gedreht, und sie musste sich mit den Händen gegen die Brust schlagen. Als aber zeitweilig die Heftigkeit ihrer Krankheit ein wenig nachließ, da kam sie zu sich und dankte dem Herrn, der jedes Kind, das er aufnimmt, züchtigt,b mit solch großer Freude dass sich an ihr jenes Apostelwort sichtbar erfüllte: Je schwächer ich bin, desto stärker bin ich (II Kor 12, 10). Nachdem der Herr aber seine Erwählte durch diese Krankheit wie Gold im Ofen geprüft hatte,c war sie vollständig ausgeglühtd und gereinigt und erhielt vom Herrn danach solch eine Kraft bei Fastenübungen und bei Nachtwachen und anderen Bemühungen,e dass sogar starke Männer kaum den dritten Teil ihrer Mühen hätten aushalten können. Manchmal aber, wenn einer ihrer Freunde unter einer Krankheit litt oder einer Versuchung verfiel, dann wurde sie mit den Kranken krank, mit den Angefochtenen durch stechenden Schmerz gepeinigt,f und dann spürte sie meistens die genannte Krankheit in einem ihrer Körperteile besonders. Nachdem ein Priester gerufen worden war, und als er mit dem Finger das Kreuzzeichen über der kranken Stelle schlug, floh die Krankheit aber sofort in einer neuen Art von Wunder anderswohin, gleichsam aus Furcht vor der Kraft des heiligen Kreuzes. Als aber immer wiederg das Kreuzzeichen geschlagen wurde, wagte die umherirrende und flüchtigeh Krankheit es nicht mehr, das Gewicht des Kreuzes abzuwarten, sondern verschwand schließlich vollständig durch diese wunderbare und unerhörte Art der Verehrung aus dem Körper Vgl. Sir 30, 1. Vgl. Hebr 12, 6. c  Vgl. Weish 3, 6 und Prov 27, 21. d  Vgl. Jes 1, 25. e  Vgl. I Kor 6, 5. f  Vgl. II Kor 11, 29. g  Vgl. III Reg (= 1. Könige) 22, 16. h  Vgl. Gen 4, 12 und 14. a 

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der Magd des Gekreuzigten. Als sie nämlich mit dem Auge des Glaubens auf die eherne Schlangea schaute und von den Bissen der Schlangenkrankheit befreit worden war, dankte sie vielfach Gott und dem heiligen Kreuz. Viele schöpften beim Betrachten nicht nur Anmut der Frömmigkeit aus ihrem Gesicht, sondern für einige ließ sie (Maria) Süßigkeit aus dem Gespräch miteinander träufeln, und sie empfingen nicht nur geistig im Herzen, sondern auf sinnlich wahrnehmbare Weise in ihrem Mund gleichsam einen Honiggeschmack. Diejenigen, die in Bezug auf den Glauben hartherzig und träge sind,b werden dies hören und murren – die aber, die derartige göttliche Tröstungen erfahren haben, werden leicht zustimmen, wenn sie hören: Honig träufelt von deinen Lippen, meine Braut, Honig und Milch sind unter deiner Zunge (Cant 4, 11). Als daher ein großer, freilich in seinen eigenen Augen geringer, Mann,c der auf Grund seiner überfließenden Demut und seiner starken Liebe von weit her zu ihr gekommen war, eines Tages mit ihr sprach, empfing er aus ihrem Anblick solch großen Trost, aus ihrem Wort solch große Süßigkeit, dass jenen ganzen Tag über kein Geschmack einer wirklichen Speise den Honiggeschmack, den er empfangen hatte, aus seinem Mund vertreiben konnte. Den Namen jenes heiligen Mannes habe ich absichtlich verschwiegen, denn wenn man ihn lobt, wird er wundersam gepeinigt und wie Gold im Ofen im Mund der Lobenden geprüft.d Dennoch ergab sich daraus, dass der fromme Seelentröster die Verbitterung seines Dieners, der für ihn in der Verbannung lebt, aufs Höchste milderte. Warum schämst du dich deiner Scheu? Warum zürnst du mir? Wer hat deinen Namen genannt? Nur das Exil habe ich bekannt gemacht. Gab es etwa nicht viele Verbannte neben dir, sogar viele Bischöfe, viele Leute aus Toulouse, und wird es sie nicht auch nach dir geben können? Hätte ich etwa wegen deiner Scheu die Lobrede auf die Magd Christi verschweigen sollen? Was geht das dich an? Was Vgl. Num 21, 9. Vgl. Lk 24, 25. c  Gemeint ist der Bischof von Toulouse. d  Vgl. Prov 27, 21. a 

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hast du, das du nicht empfangen hast?a Es ist nicht dein Ruhm,b sondern der Christi. Also ist nicht derjenige etwas, der pflanzt, und nicht der, der bewässert, sondern Gott, der das Wachstum gibt (I Kor 3, 7). Also, höre auf, gegen mich zu murren: Wovon ich gesprochen habe, sind nicht deine Taten, sondern die des Herrn, freilich Gottes als Geber und deine als des demütig Empfangenden und die der Magd Christi, durch deren Verdienste der Herr die Beschwernisse deiner Pilgerfahrt erleichtert hat. Aber jetzt wollen wir diesem ersten Buch ein Ende setzen, in dem wir über die Dinge gesprochen haben, die das Äußere des Menschen betreffen und die sinnlich wahrnehmbar äußerlich ausgeübt werden, so dass wir, nachdem wir gleichsam die Hälfte unseres Tagespensums ausgeführt haben, ein wenig Atem schöpfen, bevor wir zu den inneren und feineren Dingen übergehen.

a  b 

Vgl. I Kor 4, 7. Vgl. I Kor 9, 16.

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Buch II

1.  Die Vielfalt der Tugenden der Königstochter und die Gaben des Heiligen Geistes. 42

Nun also wollen wir hinzufügen, wie groß die Ehre der Königstochter im Inneren war und mit wie großer Mannigfaltigkeit an Tugenden sie vom Vater innerlich umgeben und geschmückt war.a Denn viele junge Mädchen haben in unseren Tagen Reichtümer gesammelt, diese allein, so glauben wir, hat alle übertroffen,b welcher ihr Vater ein knöchellanges und buntes Kleidc erschuf mit aller Art von Tugenden bemalt und mit allen Blumen der Gärten des Herrn geschmückt. Aber da wir nicht imstande sind, alle Sterne dieses leuchtenden Himmelszeltesd und alle Blumen dieser lieblichen Wiese, alle Vielfalt ihrer Tugenden einzeln aufzuzählen, wollen wir zu deren ersten Ursachen zurückgehen, aus welchen wie aus Quellen all ihre guten Eigenschaften hervorgingen, nämlich zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes. Der Herr erfüllte sie nämlich mit dem Geist der Weisheit und des Verstandes, dem Geist des Rates und der Stärke, dem Geist der Erkenntnis und der Frömmigkeit und dem Geist der Furcht des Herrn:e Der

Vgl. Ps 44, 14–15. Vgl. Prov 31, 29. c  Vgl. Gen 37, 3 und 23. d  Vgl. Dan 12, 3. e  Vgl. Jes 11, 2–3. a 

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Das Leben der Maria von Oignies

Geist der Weisheit ließ die Königstochter von Wonne überfließena und vor Liebe brennen, der Geist des Verstandes ließ sie die höheren Dinge schauen, der Geist des Rates ließ sie mit kluger Voraussicht sein, der Geist der Stärke ließ sie geduldig und langmütig sein, der Geist der Erkenntnis ließ sie unterscheiden, der Geist der Frömmigkeit ließ sie von innerer Barmherzigkeitb überfließen, der Geist der Furcht Gottes ließ sie behutsam und demütig sein.

2.  Der Geist der Furcht

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Zuerst wollen wir den Geist der Furcht betrachten: die Furcht Gottes ist ja nicht nur der Anfang der Weisheit,c sondern die Hüterin alles Guten. Wenn aber auch die vollkommene Liebe bei der Königstochter jegliche Furcht, das heißt die Qual der Furcht und die Ängstlichkeit austrieb,d war sie selbst dennoch durch die Fülle der Liebe so gottesfürchtig und wandte so große Vorsicht nicht nur in allen ihren Werken, sondern auch in Worten und Gedanken an, dass sie nichts, nicht einmal Geringfügiges, vernachlässigte. Oft bedachte sie nämlich, was geschrieben steht: Wer mit wenigem nicht haushält, der kommt bald zu Fall (Sir 19, 1).e Sie war nämlich achtsam in allen ihren Werken,f sie hatte immer den Herrn vor Augeng und dachte auf all ihren Wegen an ihn,h damit sie nicht etwa in irgendeiner Angelegenheit Missfallen errege. Sie wusste nämlich, dass man im Sand versinken kann, obwohl man große Sünden meidet: Durch die große Anzahl seiner Haare blieb Absalom hängen und ging zugrunde,i und die große Menge der lässlichen Sünden führt aufgrund ihrer Missachtung, wenn Vgl. Cant 8, 5. Innere Barmherzigkeit] Vgl. Lk 1, 78 und Kol 3, 12. c  Vgl. Prov 1, 7 (9, 10). d  Vgl. I Joh 4, 18. e  Vgl. oben S. 85 Anm. b. f  Vgl. Hi 9, 28. g  Vgl. Ps 16, 8 (Apg 2, 25). h  Vgl. Prov 3, 6. i  Vgl. II Sam 18, 9. a 

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sie Gefallen finden oder übersehen werden, zum ewigen Tod. Sie hatte also eine keusche Furcht im Herzen, gleichsam eine Art Busenband,a das ihre Gedanken einschränkte, im Mund gleichsam ein Zaumzeug, das ihre Zunge zügelte, bei der Arbeit einen Treibstachel, um nicht in Trägheit zu erstarren, in allen Dingen eine Regel, um das Maß nicht zu überschreiten. Diese Furcht reinigte ihr Herz von Zweideutigkeiten wie ein Besen, ihren Mund von Falschheit, ihre Werke aber von jeder Eitelkeit. Sie war nämlich wie ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle,b und sie selbst nahm nur Christus und das, was Christus betrifft, leicht auf. Christus war ihr der Gedanke im Herzen, das Wort im Mund, das Vorbild in der Tat: Ich erinnere mich nicht, jemals ein weltliches Wort aus ihrem Mund vernommen zu haben, sie sprach bei ihrem Reden kaum einen einzigen Satz, ohne Christus, wie ein Gewürz, häufig hinzuzufügen. So sehr hatte die heilige Furcht des Herrnc ihren Geist besetzt, dass sie, als sie sich in Willambroc bei Nivelles aufhielt, häufig nur Kräuter, die nicht ausgesät werden und anderes wild Wachsendesd sammeln ließ, um sich daraus eine Speise zu machen, damit sie nicht etwas aß, das von einem Tier genommen war,e das heißt, die Almosen, die Räuber und Wucherer den Leprosenhäusern gewöhnlich geben.f Denn sie enthielt sich nicht nur unerlaubter Dinge, sondern hielt sich sogar von vielen erlaubten Dingen fern, damit sie nicht durch allzu zügellose Freiheit irgendwie zu unerlaubten Dingen abgleiten konnte. Sie hatte aber aus dem Geist der Furcht solch große Liebe zur Armut gewonnen, dass sie sogar kaum das Lebensnotwendige behalten wollte. Daher nahm sie sich eines Tages vor zu fliehen, um unter Fremden unbekannt und verachtet an den Türen zu betteln, Busenband] Vgl. Jes 3, 24, Jer 2, 32. Vgl. Cant 4, 12. c  Vgl. Ps 18, 10. d  Vgl. Jes 37, 30. e  Vgl. Gen 31, 39 (Ez 44, 31): captum a bestia, vgl. Jakob von Vitry, Historia occidentalis, Hg. John F. Hinnebusch, Fribourg 1972, S. 83, 15–16 (c. 4) : morticinum et captum a bestia passim a feneratoribus et raptoribus recipiebant, s. (H), S. 96, Anm. zu Z. 65–67. f  Für Kranke wurde gewöhnlich Fleisch gespendet, um sie zu stärken. a 

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um nackt dem nackten Christus nachzufolgen,a indem sie mit Josef den Mantelb alles Zeitlichen, mit der Samariterin den Krug,c mit Johannes das feine Gewandd zurückließ. Denn sie dachte oft an die Armut Christi und erinnerte sich daran. Für ihn gab es bei seiner Geburt keinen Raum in der Herberge,e er hatte keinen Ort, sein Haupt niederzulegen,f er hatte auch kein Geld, um seine Steuern zu bezahlen,g er wollte sich von Almosen ernähren und in fremden Häusern als Gast aufgenommen werden. Sie entbrannte bisweilen in solchem Verlangen nach Armut, dass sie, in alte Tücher gekleidet, schließlich von den vielen Tränen ihrer Freunde kaum zurückgehalten werden konnte, wenn sie einen Beutel mit sich genommen hatte, um Almosen aufzubewahren und einen kleinen Becher, um daraus Wasser zu trinken oder in ihm vielleicht eine Speise entgegenzunehmen, wenn sie ihr beim Betteln gegeben würde. Denn als die Arme Christi den Ihrigen Lebewohl gesagt hatte und sich in diesem Aufzug mit ihrem Beutel und ihrem Becher auf den Weg machen wollte, da entstand bei ihren Freunden, die sie in Christus liebten, so großer Schmerz und so großes Weinen, dass sie, von Gefühlen des Mitleids erfüllt, wie sie war, es nicht ertragen konnte. Sie wurde also von zwei Motiven

G. Constable, “‘Nudus nudum Christum sequi’ and Parallel Formulas in the Twelfth Century”, in Continuity and Discontinuity in Church History. Essays presented to G. Huntston Williams on the Occasion of his 65th Birthday, Hg. F. F. Forrester, T. George, Leiden 1979, S. 83–91 (S. 91, Anm. 21), s. (H), S. 96, Anm. zu Z. 73–74. b  Vgl. Gen 39, 12–18. c  mit der Samariterin den Krug] Joh 4, 28. d  Vgl.  Mk 14, 51f. Der junge Mann, der nach Mk 14, 51f. bei der Gefangennahme Jesu ebenfalls festgenommen werden sollte, aber sein Gewand losließ und nackt floh, wurde von den Kirchenvätern Ambrosius, Hieronymus, Chrysostomus und bis ins Mittelalter mit Johannes dem Evangelisten identifiziert: Ambrosius, Explanatio psalmorum XII, CSEL 64 (1999), Ps 36, 53, S. 111–112; Hieronymus, Ep. 71, 3, CSEL 55, S. 4, 6–7 (Ioseph) und 7–9 (Iohannes). Vgl. Beda, In Marcum 14, 51–52, CCSL 120, S. 619–620, Z. 954–955 und 968–970 : Quis autem fuerit iste adulescens evangelista non dicit…Neque aliquid vetat intellegi Iohannem hunc fuisse adulescentem dilectum prae ceteris magistro discipulum, s. (H), S. 96, Anm. zu Z. 75. e  Vgl. Lk 2, 7. f  Vgl. Mt 8, 20; Lk 9, 58. g  Vgl. Mk 12, 15. a 

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hin- und hergerissen,a und zog es vor, obwohl sie den Wunsch hatte zu fliehen und mit Christus zu betteln, wegen ihrer Brüder und Schwestern zu bleiben, denen ihre Abwesenheit unerträglich schien. Sie tat also, was sie konnte, denn sie verblieb nachher in solch großer Liebe zur Armut, dass sie einmal das Tischtuch, auf dem sie ihr Brot aß, oder andere Tücher aus Leinen, zerschnitt, den einen Teil davon für sich behielt, den anderen an die Armen verschenkte. Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Acker mit Acker verbindet bis zur Ortsgrenze,b die ihr vom Geld nicht genug bekommen und doch keinen Gewinn daraus ziehen könnt,c die ihr für euch Schätze sammelt in der Erde, wo Grünspan und Motte zerstörerisch wirken, wo Räuber ausgraben und stehlen,d immer sammelnd und durch Not immer weniger werdend: Was fehlte jemals dieser Armen Christi, die immer den Reichtum mied, und die sogar trotzdem immer noch etwas hatte, womit sie andere beschenken konnte? Immer liebte sie die Armut und immer verschaffte ihr der Herr umso reichlicher das Notwendige. Nicht nur aufgrund des Geistes der Furcht verachtete sie den Reichtum, sondern aufgrund ihrer geistigen Armut war sie in ihren eigenen Augen so gering, erniedrigte sich selbst in solch großer Demut, dass sie sich gleichsam für nichts achtete, und auch wenn sie alles gut gemacht hatte, sagte sie nicht nur mit dem Mund, dass sie gleichsam unnütz sei,e sondern spürte es auch im Herzen, hielt sie nie etwas von sich, schätzte sich selbst geringer als alle, und hielt alle ihr gegenüber für überlegen. Wenn der Herr ihr etwas Gutes tat, schrieb sie es den Verdiensten anderer zu, weil sie nie nach ihrem eigenen Ruhm trachtete, sondern alles auf den zurückführte, von dem alles Gute kommt. Sie hielt sich des Guten, das sie empfing, für äußerst unwürdig. Keinen, wie auch immer gearteten Schwachen oder Sünder verurteilte sie, sondern nur sich selbst verachtete sie. Sie hielt es sogar für nichts, von anderen verachtet Vgl. Phil 1, 23; 24. Vgl. Jes 5, 8. c  Vgl. Sir 5, 9. d  Vgl. Mt 6, 19. e  Vgl. Lk 17, 10. a 

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zu werden, sie umgab sich angesichts von Schande und gutem Ruf von rechts und von links mit dem Schild der Wahrheita – ihre Finsternis ist für sie wie ihr Lichtb – und sie ließ sich weder durch Tadel bedrücken noch durch Lobreden beflügeln. Aufgrund dieses Übermaßes an Demut strebte sie danach, soviel es an ihr selbst lag, im Verborgenen zu bleiben. Daher floh sie bisweilen, wenn sie nicht in der Lage war, sich wegen des Herzensjubels und der Gnadenfülle in ihrem Inneren verborgen zu halten, in benachbarte Felder oder Büsche, um menschlichen Blicken zu entgehen, und um ihr Geheimnis für sich und Gott im Schrein ihres reinen Gewissens zu bewahren,c bisweilen jedoch, veranlasst durch die Bitten ihrer Freunde oder vom Herrn zu jemandem besonders gesandt, oder angetrieben von ihrem Mitleidsgefühl, Kleinmütige zu trösten,d gab sie von den vielen Dingen, die sie empfand, nur wenige in Demut und Scheu preis. Oh, wie oft sagte sie ihren Freunden: “Was fragt Ihr mich? Ich bin nicht würdig, solches, wonach ihr sucht, zu empfinden.” Wie oft antwortete sie dem Herrn gleichsam murrend: “Was geht das mich an, Herr? Sende, wen du senden willst,e ich bin nicht würdig, hinzugehen und anderen deine Ratschlüsse zu verkünden.” Dennoch konnte sie sich nicht widersetzen, wenn der Heilige Geist sie trieb, dem Nutzen anderer zu dienen, indem sie etwas verkündete. Denn wie viele ihrer Vertrauten bewahrte sie vor Gefahren? Wie oft enthüllte sie ihren Freunden die verborgenen Fallstricke der bösen Geister? Wie oft stärkte sie Kleinmütige und im Glauben Schwankende durch die Wunder der göttlichen Offenbarung? Wie oft warnte sie Menschen davor, das auszuführen, was sie sich bislang nur in Gedanken überlegt hatten? Wie oft richtete sie Zusammenbrechende und beinahe Verzweifelnde mit göttlichen Tröstungen wieder auf? Weshalb also errötest du, du Ängstliche? Weshalb entziehst du den Bedürftigen so viel Gutes, oh du Geizige? Warum entziehst du Vgl. Ps 90, 5. Vgl. Ps 138, 12. c  Vgl. Jes 24, 6. Vgl. I Tim 3, 9. d  Vgl. I Thess 5, 14. e  Vgl. Ex 4, 13. a 

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dich aus übergroßer Demut der Erbauung deiner Nächsten? Hat Gott dir etwa deinetwegen so vieles und so großes gezeigt, die du Gott doch gleichsam unzertrennlich anhingst und solcher Offenbarungen nicht bedurftest, und nicht vielmehr wegen des Wohls derer, die dir glaubten und deiner Hilfe bedurften? Ach, wie viele und wie bedeutende Dinge unterschlugst du, wodurch Schwache gestärkt und Träge angespornt und Unwissende erleuchtet und der Herr sich in seinen Heiligen wundersama zeigen könnte! Warum also verbirgst du dein Talent,b warum zeigst du der Welt deinen Christus nicht, der dir um nichts geringer wird, wenn du andere an ihm teilhaben lässt? Riefst du nicht etwa einmal, als der König dich in seinen Weinkeller führte, vor Trunkenheit:c “Warum verbirgst du dich, Herr, warum zeigst du dich nicht so, wie du bist? Denn wenn die Welt dich erkannte, sündigte sie fortan nicht mehr, sondern liefe sofort dem Duft deiner Salben nach.”d Aber gepriesen sei Gott,e der deinen Geiz durch seine Freigiebigkeit unterdrückte und deine Verstecke aufdeckte, ob du wolltest oder nicht. Denn als du durch den gärenden Most des glühenden Geistes fast platztest, wenn du kein Luftloch haben würdest,f als du den Brand des Feuers ohne einen Abzug nicht mehr ertragen konntest, dann endlich wurde die Wahrheit aus deinem reinen und nüchternen Herzen entwunden, dann ließest du Wunderbares und Unerhörtes aus deiner Fülle hervorbrechen und lasest uns aus dem Buch des Lebens,g wenn wir es fassen könnten, viele wunderbare Texte vor, nachdem du dich plötzlich von einer Schülerin in eine Lehrerin verwandelt hattest. Als du aber wie ein vom Wein berauschter starker Mannh nach dem Schlaf aufwachtest und wieder zu dir kamst, schwiegest du entweder, weil du vergessen hattest, was du gesagt hattest, oder wenn du dir aber zufällig Vgl. Ps 67, 36. Vgl. Mt 25, 15. c  Vgl. Cant 2, 4. d  Vgl. Cant 1, 3. e  Vgl. Gen 14, 20. f  Vgl. Hi 32, 19. g  Vgl. Mt 13, 35 und Apk 20, 12. h  Vgl. Ps 77, 65. Luther schreibt: Da erwachte der Herr wie ein Schlafender, wie ein Starker, der beim Wein fröhlich war. a 

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etwas ins Gedächtnis zurückriefst, dann warst du vor Scham verwirrt und hieltest dich für töricht und geschwätzig, und stauntest, was dir widerfahren war und batest den Herrn um Verzeihung. Als wir sie irgendwann fragten, ob sie durch menschliche Lobreden oder göttliche Offenbarungen nicht wenigstens irgend einen Reiz eitler Ruhmsucht verspürte, sagte sie: “Im Vergleich mit dem wahren Ruhm, den ich ersehne, ist alles menschliche Rühmen nichts oder kann für nichts geachtet werden.” Sie hatte nämlich ihren Grund so sehr in der Wahrheit, war mit solchem Gewicht im Herrn gefestigt, war so voller wahrer Güter, war von geistigen Festgelagen so gesättigt und erfüllt, dass sie, ebenso wie jemand, wenn ihm unter verschiedenen Leckerbissen ein ungesalzenes und unschmackhaftes Gericht vorgesetzt würde, dieses zurückweisen würde, nachdem er gesättigt ist, so ließ sie jeden weltlichen Ruhm und jede Eitelkeit menschlichen Lobes angesichts der Süße ewiger Güter nicht nur nicht zu, sondern wies sie mit einem gewissen Abscheu des Herzens zurück. Denn wie Christus nicht süß sein kann für den, dem bislang die Welt süß ist, so hatte die Süße Christi ihren ganzen Geist so weit in Anspruch genommen, dass ihr nichts außer Christus schmeckte.

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3.  Der Geist ihrer Frömmigkeit Nicht nur durch den Geist der Gottesfurcht hütete sie sich vor dem Bösen in jeder Gestalt,a sondern war durch den Geist der Frömmigkeit allem Guten zugeneigt.b Denn leibliche Übung hielt sie für wenig nütze, im Hinblick auf die Gottesfurcht, die nach dem Apostel zu allen Dingen nütze ist und die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens hat.c Denn in der Lampe ihres Herzens entzündete sie beständig das Feuer der Liebe mit dem Öl der Barmherzigkeit, damit sie nicht mit den törichten Jungfrauen ohne Öl angetroffen würde und keine Zurückweisung von der Vgl. I Thess 5, 22. Vgl. Ex 32, 22; II Tim 2, 21 und 3, 17. c  Vgl. I Tim 4, 8. a 

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Hochzeit der ewigen Freude erleide.a Sie mühte sich also, all ihre Werke der Barmherzigkeit aus dem Überfluss der Frömmigkeit ihres Herzens so gut sie konnte äußerlich zu erfüllen, aber über alle Werke der Barmherzigkeit hinaus pflegte sie Kranken zu helfen oder am Sterben oder am Begräbnis Verstorbener teilzunehmen, wo sie durch die Offenbarung des Herrn sehr oft vieles über die himmlischen Geheimnisse erfuhr.b Eines Tages aber, als eine Schwester der Brüder von Oigniesc im Todeskampf litt, nahm sie, obwohl sie in ihrer Zelle war, um das Bett der kranken Schwester die Gegenwart einer Menge brüllender Dämonen wahr, als für sie, die sie für tot hielten, schon die Aussegnung stattfand. Darauf rannte sie, indem sie ihre gewohnte Bedächtigkeit und ihre angeborene Scheu gleichsam vergaß, zum Bett der Dahinsiechenden und warf sich den unreinen Geistern entgegen und kämpfte nicht nur mit Gebeten, sondern verjagte sie wie Fliegen mit ihrem Mantel. Als aber jene Gottlosen sich ihr fürchterlich widersetzten und die Seele der Schwester als ihr Eigentum beanspruchen wollten, hielt sie es nun nicht länger aus, rief ihren Christus und das Blut Christi an, das er für die Seelen vergossen hat, und rief unablässig den Tod des Gekreuzigten an. Als aber jene brüllenden Dämonen, bereit, sich auf ihre Beute zu stürzen,d jene Seele mit vielen trügerischen Anklagen angriffen, da antwortete sie (Maria) ihnen schließlich, während sie vom Heiligen Geist Zuversicht empfing – denn wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit:e “Herr, für diese Seele bürge ich: Wenn sie nämlich gesündigt hat, hat sie ihre Sünden gebeichtet. Wenn aber etwas aus Nachlässigkeit oder Unkenntnis in ihr zurückgeblieben ist, hast du ihr, auch wenn sie nicht sprechen kann, trotzdem noch Zeit zur Reue gelassen.” Die Brüder hörten nur ihre Stimme und sahen ihre Bewegungen zum Verscheuchen der Dämonen und ließen dem Herrn für die Seele ihrer Schwester fromme Gebete verströmen. Nachdem Vgl. Mt 25, 1–13. Vgl. II Kor 12, 4. c  Es handelt sich hier wie in § 54 wohl um die Stifter der Gemeinschaft von Oignies. d  Vgl. Sir 51, 4. e  Vgl. II Kor 3, 17. a 

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die Dämonen besiegt und aufgelöst und die heiligen Engel angekommen waren, lobte sie Gott, kam zu sich und beruhigte sich und hob ihren Mantel auf, den sie im Kampf auf den Boden geworfen hatte, floh voll Scham in ihre Zelle und verbarg sich hinter der verschlossenen Tür. Als sie nicht viel später am Festtag der Apostel Peter und Paula fromm zum Herrn für diese Seele flehte und über den Zustand dieser Seele, für die sie gebürgt hatte, beunruhigt war, zeigte ihr der heilige Petrus, wie jene Seele in den Strafen des Fegefeuers heftig gequält wurde. Es offenbarte ihr aber der heilige Petrus sowohl die Strafen als auch die Ursachen der Strafen: sie wurde nämlich mit heftiger Hitze gequält, deswegen, weil sie die Welt und die Lüste der Welt zu brennend geliebt hatte, bisweilen wurde sie mit größter Kälte gemartert, deswegen, weil sie träge gegenüber dem Guten war und am meisten, weil sie ihre Kinder und ihr Gesinde zu nachlässig auf den rechten Weg gebracht hatte; außerdem wurde sie erbärmlich von Durst geplagt, deswegen, weil sie sich in ihrem Leben zu sehr Trinkgelagen gewidmet hatte, sie musste auch die sehr große Unannehmlichkeit der Nacktheit erdulden, deswegen, weil sie verschwenderisch gewesen war mit ihren Gewändern. Sodann war die fromme Magd Christi, da sie ja von frommem Mitgefühl ganz und gar überfloss, insbesondere für die, die im Fegefeuer gequält wurden, nicht nur mit ihren eigenen Gebeten unzufrieden, sondern erwarb viel Unterstützung für sie in Form von Gebeten und Messen von anderen. Ein andermal, als eine fromme Witwe, die Gott lange in heiliger Witwenschaft gedient hatte und ihre Töchter in heiliger Jungfräulichkeit dem himmlischen Bräutigam unschuldig bewahrte, in Willambroc bei Nivelles im Sterben lag, sah sie (Maria), wie die Heilige Jungfrau der heiligen Witwe beistand, und wie sie ihr mit einem Fächer Luft zuwedelte und die Glut der Hitze, mit der sie gequält wurde, barmherzig milderte. Als aber ihre Seele schon aus dem Körper entweichen wollte, wollte sich eine Schar von Dämonen, die ihr nachstellten, durch keine inständigen Gebete vertreiben lassen, bis der himmlische Schlüsselträger sie

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mit der Fahne des Gekreuzigtena auflöste und vertrieb. Als aber jene Witwe schon gestorben war, sah die Magd Christi die heilige Jungfrau gemeinsam mit einer Menge himmlischer Mädchen, die, um ihren Leichnam herum, gleichsam in zwei Chöre geteilt, psalmodierten und Gott lobten.b Als der Priester nach gebührender Sitte die Beerdigung vornahm, da vollendete, wie ihr schien, der Höchste Priester zusammen mit der Schar der Heiligen das Messamt und auf wunderbare Weise antwortete der kämpfenden Kirchec die triumphierende Kirche. Als aber der Leichnam dem Grab übergeben war, sah die Magd Christi, wie ihre Seele, die auf dieser Welt noch nicht völlig geläutert worden war, im Fegefeuer das vollendete, was ihr fehlte. Denn ihr Ehemann war Kaufmann gewesen und hatte nach Art der Kaufleute gewisse Dinge durch Betrug erworben, hatte sogar Leute aus dem Gefolge des Herzogs von Löwen in Gastfreundschaft empfangen, die in ihrem Haus viele der unrecht erworbenen Güter verprassten; und weil sie für derartiges noch nicht vollständig Wiedergutmachung geleistet hatte, sagte sie, sie werde noch im Fegefeuer festgehalten. Als das ihrer Tochter, der frommen Jungfrau Margarete von Willambroc, und ihren Schwestern mitgeteilt worden war, erwarben sie viele Gebete für sie und leisteten so gut sie konnten Wiedergutmachung. Daher erschien der Magd Christi nicht lange danach die Seele der Witwe reiner als Glas, weißer als Schnee,d blendender als die Sonne, als sie schon eingeladen zum ewigen Festmahl, freudig und dankend, hinaufstieg und gleichsam das Buch des Lebens, wie ihr schien, in Händen hielt und daraus las und zur Schülerin des höchsten Lehrers geworden war. Ein heiliger und glückseliger Greis, der von seiner Kindheit an in Unschuld und in Unberührtheit verharrt hatte, war schon a  Fahne des Gekreuzigten] A. Blaise, Le vocabulaire latin des principaux thèmes liturgiques, Turnhout 1966, § 31 (S. 145) und 192, (S. 325), s. (H), S. 104, Anm. zu Z. 248. b  Vgl. Lk 2, 13. c  kämpfende Kirche] A. Blaise, Le vocabulaire latin des principaux thèmes liturgiques, Turnhout 1966, S. 498–499 (§ 358), s. oben Anm. 55. d  reiner als Glas, weißer als Schnee] A. Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (Nachdruck Hildesheim [Olms] 1962), S. 376, Nr. 1921 und S. 244, Nr. 1231, s. (H), Anm. zu Z. 268.

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dem Tode nahe. Das war Johannes von Dinant mit Beinamen der Gärtner, der alles für Christus verlassen hatte und durch sein Beispiel und seine heiligen Ermahnungen viele Seelen für den Herrn gewonnen hatte, sah sie (Maria), als sie ihm in seiner Krankheit beistand, wie eine Schar von Engeln dem Greis beistand und sich freute, und sie roch sogar die wunderbare Süße eines Dufts,a weshalb sie sich aus unermesslicher Freude nicht zurückhalten konnte: Sie liebte ihn nämlich sehr und betrachtete ihn als ihren Vater. Und dann wurde ihr vom Heiligen Geist offenbart, dass jener Greis, der zu Lebzeiten so große Buße im Fleischb vollbracht hatte, sogar so viele Beschimpfungen und Verfolgungen um Christi willen geduldig ausgehalten hatte, so gerecht wie gottesfürchtig gelebt hatte, auch so viele Seelen für Christus gewonnen hatte, frei von jeglicher Fegefeuerqual zum Herrn auffuhr. Deshalb verneigte sie sich immer demütig, so oft sie an seinem Grab, das sich in Oignies befindet, vorbei kam. Später aber, als sie selbst an ihrer letzten Krankheit litt, wurde ihr vom Herrn die Seele des heiligen Greises zusammen mit einem ihrer anderen verstorbenen Freunde, das heißt, dem Bruder Richard von … –(la) Chapellec vom Herrn eigens zu Besuch und zum Trost geschickt. Die Magd Christi selbst war sehr mitfühlend und entwickelte fromme Gefühled für die Kranken, für die sie manchmal schlaflose Nächte verbrachte. Als aber die Mutter der Brüder von Oignies an einer sehr schweren und lang andauernden Krankheit litt, und sie (Maria) ihr bisweilen beistand, um sie zu trösten, hatte jene, als beinahe hundertjährige und dem Tode nahe Greisin, sehr schwere Atemnot. Als aber in einer Nacht die heilige Frau ihr Atmen kaum ohne großen Herzensschmerze aushalten konnte, zwang sie sich, gleichsam mit Gewalt, ihr dennoch nahe beizustehen und zu bleiben, und als sie es schon nicht weiter ertragen konnte und fast in Vgl. Sir 24, 20 und 23. Vgl. Gal 2, 20 ; Phil 1, 22. c  S. (H), Einleitung, S. 40. d  Vgl. Anselm von Canterbury, Ep. 58, Hg. F. S. Schmitt, Bd. 3 (1946), S. 173, 23–24: pia gestantes viscera, s. (H), S. 106, Anm. Zu Z. 295. e  Vgl. Gen 6, 6, Jes 65, 14. a 

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Ohnmacht fiel, da sah der Herr die Niedrigkeit seiner Magd ana und schickte ihr gleichsam den Geschmack von Gewürzwein in den Mund, und sie empfand gleichsam den sehr süßen Duft entzündeten Weihrauchsb gemeinsam mit jenem Geschmack beinahe drei Tage hindurch, in der Weise, dass der Geschmack keiner Speise den genannten aromatischen Geschmack vertreiben konnte. Vielen Kranken brachte der Herr durch ihre Gegenwart nicht nur Trost und Geduld,c sondern oft auch auf Grund ihrer Verdienste die körperliche Gesundheit. Einmal nämlich wurden zu ihr verletzte Jungen gebracht und geheilt, indem sie ihnen die Hände auflegte. Ein Junge aus Oignies litt an einer gefährlichen Krankheit, denn durch sein Ohr floss beständig Blut aus seinem Kopf, und als er durch keine ärztliche Kunst geheilt werden konnte, ist er durch die Medizin ihrer Gebete und durch Handauflegen für die Gesundheit vollständig wiedergewonnen worden. Ihn brachte seine Mutter zur Kirche und sagte Gott und der Magd Christi Dank für ihren Sohn. Eine Frau aber wurde durch ihre Berührung von einer sehr gefährlichen Krankheit, das heißt, einem Abszess in der Kehle, `Esquinantia´ genannt, für die Gesundheit wiedergewonnen, ähnlich wurde durch ihre Berührung auch ein erkrankter Kleriker mit Namen Lambert in Oignies von derselben Krankheit geheilt. Es sagte mir ein Priester aus Nivelles mit Namen Guerricus, dass er, als er an einer sehr schweren Krankheit litt und schon alle Ärzte an ihm verzweifelten, und es keinen gab, der ihm Gesundheit versprach, zur Magd Christi kam und durch viele Bitten erreichte, dass sie ihm die Hand auflegte. In derselben Nacht sah er im Traum, dass die heilige Jungfrau zu ihm kam, nach deren Weggang er geheilt war. Ein anderer demütiger und frommer Priester und ihr geistlicher Vater, Magister Guido von Nivelles, wurde vollständig geheilt, nachdem die Magd Christi mit ihrer Hand eine gefährliche Schwellung, die er im Hals hatte, berührt hatte. Auch einer, über dessen Krankheit alle verzweifelten, er selbst es auch mit vielen Ärzten versucht und Vgl. Lk 1, 48. Vgl. Cant 4, 11. c  Vgl. Röm 15, 4. a 

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keinen Fortschritt erzielt hatte und nur noch den Tod erwartete, erlangte durch die Berührung ihrer Haare die Gesundheit wieder. Aber warum verweilen wir bei den Kleinigkeiten, obwohl noch so viel Großes und Wunderbares übrig ist? Denn es ist zwar gottgefällig, für die Krankheiten der Leiber Abhilfe zu schaffen, aber es ist bei weitem und unvergleichlich größer für die Gesundheit der Seelen Sorge zu tragen: Kein Opfer gefällt Gott nämlich mehr als der Eifer um die Seelen. Maria aber blieb immer fröhlich, immer heiter, immer im Zustand des Herzensjubels, außer wenn eine Gefährdung oder ein Fehltritt von Seelen ihren Geist durch eine Wolke des Schmerzes verwirrte. Dabei allein, mit Verlaub gesagt,a hatte sie kein Maß: Dann war sie traurig, wenn sie Angst hatte, litt Schmerz, wenn sie verlassen war, nahm keine Speise zu sich, vertrieb den Schlaf aus ihren Augen und schrie meist wie eine Gebärende. Durch welch großen Schmerz, meinst du, wurde sie verwundet, wenn scharenweise Dämonen über die Gemeinschaft heiliger Jungfrauen in dem Städtchen mit Namen Masnuy, wo sie Gott fromm dienten, brüllend und zähnefletschend herfielen? Als sie schließlich aber sah, wie die frevelnden und neidischen Dämonen vor Freude über die Vertreibung der heiligen Frauen frohlockten, weil sie gleichsam ihren Wunsch erlangt hatten, da konnte sie jammernd und laut wehklagend sich kaum vor Schmerz fassen. An einem anderen Tag hatte sie die Vision eines sehr großen Heeres böser Geister, die blutverschmiert wie nach einer Schlacht mit stolzem und triumphalem Getöse von der Zerstörung der Stadt Lüttichb zurückkamen und noch größere Übel mit hochmütigem Blick androhten. Nicht lange danach kamen Boten nach Oignies, die meldeten, dass die Stadt Lüttich zerstört worden sei: Sie berichteten, dass die Kirchen geplündert, den Frauen Gewalt angetan, die Bürger getötet worden seien, und die Feinde sogar alle Güter der Stadt geraubt hätten. Damals hielt sich zufällig ein heiliger Mann mit ehrlichem Lebenswandel und gutem Ruf, sogar bei den Schlechten, eine Leuchte des ganzen Bistums,c Lehrer und Zur Übersetzung mit Verlaub gesagt, s. (H), S. 108, Anm. zu Z. 345. Die Ereignisse im Mai 1212 sind gemeint. c  Leuchte des ganzen Bistums ] Joh 5, 35. a 

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geistlicher Vater, nämlich, Magister Johannes von Nivelles,a in Oignies auf. Als dieser die furchtbaren Gerüchte vernommen hatte, war er geistig außer Fassung gebrachtb und litt unvergleichlich, vor allem deswegen, weil er hinsichtlich der heiligen Jungfrauen, die er selbst durch Predigt und Beispiel für den Herrn gewonnen hatte, mit väterlicher Sorge in Zweifel war, ob sie nicht etwa vergewaltigt worden wären, wie einige fälschlicherweise berichteten. Ihn, der zeitliche Güter immer für Unrat geachtet hatte,c schmerzte deren Verlust nicht sehr, aber über die Plünderung der Kirchen und die Zerstörung der Seelen trauerte der heilige, mit aller Zierde der Tugenden besonders und herausragend geschmückte Mann untröstlich: Als Vater weinte er über die Söhne, als Patron über die Kirchen, als Freund des Bräutigams über die Jungfrauen, die er dem reinen Bräutigam rein zu überbringen versprochen hatte. Die Magd Christi aber wurde durch die Gerüchte, die sie gehört hatte, nicht sehr beunruhigt und diejenigen, die wussten, mit welch großer Zuneigung sie die keuschen Jungfrauen liebte, die Christus in der Stadt Lüttich fromm dienten, wunderten sich. Sie selbst aber war vom Herrn im voraus gefestigt worden: Es wusste nämlich der fromme Vater, dass seine Tochter, wenn sie nicht darin gefestigt würde, durch sehr großen Schmerz durcheinander gebracht würde. Während sich die Brüder von Oignies nach Art der Kleriker sehr fürchteten, deswegen, weil es hieß, die Feinde würden in ihre Gegend kommen, so blieb sie bei alledem ruhig und ohne Furcht, da sie die heiligen Engel trösteten und den Menschen guten Willens auf Erden Frieden verhießen.d Sie spürte großen Frieden und große Ruhe im Haus von Oignies, gleichsam im Geist sicher, sowohl über das Wohlbefinden der Ihren als auch über die Unversehrtheit der genannten heiligen Jungfrauen, und gleichwohl schien es ihr, dass die Erde erzitterte und scheinbar

Johannes von Nivelles wird auch ausführlich in Jakob von Vitry, Historia occidentalis, Hg. John F. Hinnebusch, Fribourg 1972, S. 102–103 (c. 9), erwähnt, s. auch Ep. 6, 5–6 und 7, 6, s. (H), S. 109, Anm. zu Z. 366. b  Vgl. II Makk 13, 23. c  Vgl. Phil 3, 8. d  Vgl. Lk 2, 14. a 

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laut klagte, weil sie Menschen nähre, die sich ihrem Schöpfer durch einen so ungeheuren Frevel widersetzten. Es begab sich aber einmal, dass sich ein Ritter aus ihrer Gegend, vornehm von Herkunft und in der Kriegskunst tüchtig und den Eitelkeiten der Welt ergeben, nämlich Ywan von Rèves, durch göttliche Eingebung, unterstützt von den Ermahnungen und Gebeten der heiligen Frau, die Welt verließ und sich zum Herrn bekehrte. Da erschien der Magd Christi ein feindlicher und zügelloser und auf wundersame Weise verwirrter Dämon, beklagte sich und wütete mit drohender Gebärde wie ein riesiger Hund gegen sie und sprach zu ihr: “Oh, du Unverschämte, oh, du unsere Feindin, oh, du unsere Widersacherin, neulich habe ich einen sehr großen Schaden durch dich erlitten: Einen meiner besonderen Diener hast du mir nämlich weggenommen!” Als aber derselbe Ritter später einige Zeit an seinem guten Vorsatz festgehalten hatte, begab es sich eines Tages, dass er im Haus eines Gastfreundes und in seinem weltlichen Leben Gläubigers, eines reichen Bürgers von Nivelles, aß, in dessen Haus er häufig sehr weltlich gelebt und überflüssigen Aufwand getrieben hatte, so wie es bei Rittern so der Brauch ist. Er konnte sich nicht leicht von dem vertraulichen Umgang mit ihm trennen, an den er noch durch Schulden gefesselt war. Als jener Gastfreund ihm aber vielfältige und köstliche Speisen vorsetzte und als sie köstlich speisten,a wartete der böse Feind eine geeignete Zeit für eine Versuchung ab und schüttete einen Wall auf,b um die befestigte Stadt einzunehmen. Jener schlaue Versucher brachte ihm den Ruhm, den er in der Welt hatte, in Erinnerung und führte ihm die Melonen, den Knoblauch Ägyptens und die Fleischtöpfe vor Augen.c Als er aber im Geiste wankte und der Satan ihn wie Weizen durchsiebte,d berichtete der milde Liebhaber der Menschen, der niemals zulässt, dass jemand über sein Vermögen in Versuchung geführt wird,e der einen glimmenden Docht nicht auslöscht und Vgl. Lk 16, 19. Vgl. Hab 1, 10. c  Vgl. Num 11, 5 und Ex 16, 3. d  Vgl. Lk 22, 31. e  Vgl. I Kor 10, 13. a 

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Buch II, 57–59

der ein geknicktes Rohr nicht abbricht,a seiner Magd im Geist, wie der Ritter, da er die Gesellschaft Weltlicher nicht gemieden hatte mit ermattetem Geist hin- und her schwankte. Während er noch mit unstetem Geist vieles bei sich überlegte und zu Tisch saß, siehe, da wartete der Bote der Magd Christi heimlich an der Tür und teilte ihm mit, sobald er mit ihm sprechen konnte, dass er sogleich zu seiner Herrin kommen solle. Und als er zu dem Ort kam, wo die Perle Christi sich aufhielt, außerhalb von Nivelles, fand er sie vor Traurigkeit und Herzensangst gleichsam matt und die Füße des Kruzifixes, die sie umarmt hatte, mit einem Strom von Tränen benetzen. Da wunderte sich jener, und er war im Geist vor Scheu verwirrt, als er nach der Ursache fragte, warum sie trauere: “Zu Recht,” sagte sie, “trauere ich, um Euch leide ich Schmerzen, über Euer Unglück ist meine Seele bestürzt,b die Ihr, obwohl Ihr im Geist begonnen habt, im Begriff seid, im Fleisch zu sterben und auf erbärmliche Weise zu enden, die Ihr die Hand an den Pflug gelegt habt,c aber mit der Frau Loths zurückschaut,d die Ihr undankbar seid und nicht der Wohltat und der überfließenden Barmherzigkeit dessen gedenkt, der Euch vom Feuer dieser Welt befreit hat, während andere daran zugrunde gehen.” Darauf sagte jener, zu sich gekommen und voll heilsamer Reue über das Wunder solch großer Offenbarung: “Verzeiht mir, fromme Mutter, und betet für mich Elenden, und ich verspreche Gott und Euch, dass ich in Zukunft im Dienst dessen beständig bleiben werde, der mich durch Euch zurückgerufen hat.” Als aber die Welt ihn in irgend einer Unternehmung zurückhielt und ihn, der noch in viele weltliche Geschäfte verwickelt war,e zwang, häufig an die Höfe der Mächtigen zu gehen, da betrauerten ihn seine einstigen Gefährten, sogar seine Verwandten und seine Angehörigen wie Vgl. Jes 42, 3 ; Mt 12, 20. Vgl. Ps 6, 4 und Joh 12, 27. c  Vgl. Lk 9, 62 und 17, 31–32. d  Vgl. Gen 19, 26. Jakob von Vitry, Historia occidentalis, Hg. John F. Hinnebusch, Fribourg 1972, S. 83, 10–12(c. 4) : hii quidem, posita manu ad aratrum cum uxore Loth retro aspicientes et allia Egypti et pepones et ollas carnium, s. (H), S. 111, Anm. zu Z. 433–434. e  Vgl. II Tim 2, 4. a 

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einen Toten,a ja, sie zeigten sogar mit Fingern auf ihn wie auf ein Ungeheuer.b Die einen verspotteten ihn, die anderen wollten ihn mit Schmeicheleien weich machen, wieder andere suchten ihn durch Beleidigungen und Kränkungen zu erbittern und zu brechen. Auch zerrten Spießgesellen des Teufels den edlen und an derlei Ungerechtigkeiten nicht gewöhnten Mann am Umhang und an der Kapuze hin und her, er aber hielt alledem eine bewundernswerte Geduld wie einen Schild entgegen, aber manchmal wurde er nach Art der Menschen bis zu einem gewissen Grad aus der Fassung gebracht. Wenn er aber nach Hause zurückkam, eilte er wie ein dem Rachen der Wölfe entrissenes Lammc nach einem so großen Unglück zum Trost der geistlichen Mutter zurück. Diese, auf wunderbare Weise göttlich inspiriert, berichtete in prophetischem Geist sowohl von den dem Soldaten Christi entgegengebrachten Schmähungen als auch von den Beschimpfungen der Peiniger Christi und von der Stunde, in der er ein wenig aus der Fassung gebracht worden war: “Gestern”, sagte sie, “brauchtet Ihr zu dieser Stunde Hilfe, und ich habe damals für Euch Gebete an den gnädigen Herrn gerichtet, damit er Euch, weil Ihr ihm nachfolgen wollt, erlaube, das Glück dieser Welt zu verachten und ihr Unglück nicht zu fürchten.” Durch dieses Wunder und durch den Trost der Magd Christi war er so gestärkt, dass weder Sturm noch Regend sein Haus, das auf festem Felse gegründet war, zerstören konnte: Er wurde nämlich häufig gestoßen, damit er falle,f aber der Herr hielt auf Grund der Verdienste seiner Magd seine Hand über ihn, damit er nicht ausgleite. Einmal, als sie noch in Willambroc war und sah, wie die Dämonen mit schlauen Machenschaften verborgene Schlingen

Vgl. Jer 22, 10. Vgl.  Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, S. 116, Nr. 549, s. (H), S. 112, Anm. zu Z. 445. c  Vgl. Mt 10, 16. d  Vgl. Prov 25, 14. e  Vgl. Mt 7, 25 und Lk 6, 48. f  Vgl. Ps 117, 13. a 

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vorbereiteten, um einige ihrer Freunde einzufangen,a deren Fall bei einfachen Seelen sehr großen Anstoß hätte erregen können, begann sie, als der Feind schon den Bogen gespannt hatte, um auf die, die gerechten Herzens sind, mit Pfeilen zu schießen,b nicht zufrieden mit Tränen oder Gebeten, ein Fasten, wohl wissend, dass ein dämonischer Geist dieser Art nicht leicht ausgetrieben werden kann, außer beim Fasten und Gebet.c Als sie aber vierzig Tage lang ihre Seele beim Fasten erniedrigt hatte,d da endlich erbarmte sich der Herr seiner Magd, hielt ihre Not nicht länger aus und zeigte ihr, dass er ihren Freund durch ihre Verdienste befreit hatte und eröffnete ihr, in welch tiefen Abgrund der Sünde ihr vertrauter Freund hinabgestürzt wäre, wenn nicht der Feind durch ihr Fasten und ihre Gebete besiegt worden wäre. Weh uns, die wir in diesem Elend einen solchen Trost, in Nöten und Versuchungen einen solchen Schutz verloren haben, wenn er (der Herr) uns im Himmel nicht ausgliche, was wir in dieser Fremde verloren haben. Obwohl aber die Beharrlichkeit ihrer Gebete gegen verschiedene und vielfältige Schwächungen der Seelen eine wirksame Arznei war, tat sie sich durch eine besondere Gnadengabe gegen den Geist der Gotteslästerung und der Verzweiflung hervor, und während dieser Geist unter allen anderen am schwierigsten zum Bekämpfen ist, war sie (in solchen Fällen) sehr mächtig beim zu Hilfe kommen. Einmal geschah es nämlich, dass ein Zisterziensermönch einen solchen Eifer für Unschuld und Reinheit hatte, freilich ohne entsprechende Einsicht,e dass er auf Grund seines geistlichen Feuers danach strebte, gleichsam den ursprünglichen Zustand des Stammvatersf wiederzuerlangen. Und als er lange mit sehr vielen aber vergeblichen Bemühungen, indem er sich durch Enthaltsamkeit, Nachtwachen, Gebete und Tränen selbst gequält hatte, den ursprünglichen Zustand der Unschuld nicht wiedererlangen Vgl. Jer 5, 26. Vgl. Ps 10, 3. c  Vgl. Mk 9, 29. d  Vgl. Ps 34, 13. e  Vgl. Röm 10, 2. f  Gemeint ist die Unschuld Adams vor dem Sündenfall. a 

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konnte, fiel er zunächst in Überdruss und Melancholie. Er wollte nämlich Speisen zu sich nehmen, aber keinen spürbaren Genuss beim Essen empfinden, er strebte danach, schon die ersten Regungen sinnlicher Empfindung nicht nur zu unterdrücken, sondern ganz und gar auszulöschen, er strebte sogar danach, sein Leben ohne irgendeine lässliche Sünde in vollkommener Reinheit zu bewahren. Als er aber, durch den Mittagsdämon angestachelt, das Unmögliche zu erlangen suchte, und auf keine Weise zu dem, nach dem er strebte, gelangen konnte, wie sehr er sich auch anstrengte, da fiel er schließlich so sehr vor Traurigkeit in den Abgrund der Verzweiflung, dass er im Stand der Sünde, in dem er war, auf keine Weise hoffte, das Heil zu erlangen. Er hielt nämlich die lässlichen Sünden, ohne die wir in diesem Leben ganz und gar nicht auskommen können, für Todsünden. Aus diesem Grund wollte er den Leib Christi auf keine Weise empfangen, selbst an jenen Tagen nicht, wo es in seinem Ordena festgelegt ist. Siehe, in welch großes Unglück, in welch großen und welch erbärmlichen Zusammenbruch hatte der alte Feind unter dem Anschein des Guten, jene einfältige Seele gezogen, die, obwohl krank, die Medizin mied, und die, obwohl sie einmal dem eigenen Willen entsagt hatte, nun doch das Joch des Gehorsams abgeworfen hatte. Um eine Fabel nicht nach der Art von Fabeln wiederzugeben, um Falsches nicht in betrügerischer Absicht einzuschieben: Jener Mönch, der versuchte, in den ursprünglichen Zustand des Stammvatersb zu gelangen, wem ist er zu vergleichen, wenn nicht einem Frosch, der, als er einen Ochsen von großer Stärke und herrlichem Umfang sah, diesem gleichen und zu dessen Umfang gelangen wollte? Darauf begann er sich zu strecken und sich auszudehnen und sich unter großer Anstrengung aufzublasen, aber vergeblich, weil er, auch wenn er sich zerrissen hätte, den Umfang des Ochsen nicht hätte erreichen können.c Da aber brach jener Bruder, als er sich über sich erheben wollte, vor Verzweiflung erbärmlich in sich zusammen. Als aber ein frommer, allen guten Gemeint ist der Zisterzienserorden. Gemeint ist die Unschuld Adams vor dem Sündenfall. c  Phaedrus, Fabulae 1, 24, s. (H), S. 115, Anm. zu Z. 513–518. a 

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Buch II, 62–64

Menschen gegenüber freundlich gesinnter Abt die Krankheit seiner Seele erkannt hatte, war dennoch, obwohl er selbst und viele andere für den Mönch Gebete vor den Herrn gebracht hatten, der Feind stärker, der ihn, den er mit einem starken Strick gebunden hatte, ohne Unterlass quälte. Dann ließ der Abt, ein Freund der heiligen Frau, da er nämlich ihre Tugend sehr wohl kannte, die er einmal an sich selbst durch eigene Erfahrung kennen gelernt hatte, den Mönch zur Magd Christi führen, und als jene für den Mönch unter tränenreichen Seufzern den Herrn flehentlich bat, schienen dem Mönch auf wunderbare Weise, während er das Sündenbekenntnis vor dem Introitus der Messe sprach, und sie noch inständiger für ihn betete, bei jedem einzelnen Wort des Sündenbekenntnisses gleichsam kleine schwarze Steine aus dem Mund zu fallen. Darauf nahm sie bei dieser Vision wahr, dass die Hartnäckigkeit der Verzweiflung und die Schwärze der Traurigkeit und des Schmerzes den Mönch verlassen hatten und dankte dem Herrn, der nicht den Tod der Sünder will, sondern, dass sie sich lieber bekehren und leben.a Der Mönch kam nach dieser Messe, wie aus einer weit entfernten Gegendb zu sich, empfing den Leib Christi, und nachdem er die heilbringende Arznei genommen hatte, wurde er völlig gesund.

4.  Der Geist der Erkenntnis 64

Da ja zum Meiden des Schlechten durch den Geist der Furcht und zum Tun des Guten durch den Geist der Frömmigkeit Vorsicht und Umsicht der Unterscheidung notwendig sind, erleuchtete der Vater allen Lichts,c dessen Salbung uns über alles belehrt,d seine Tochter durch den Geist des Wissens, damit sie wusste, was und wie etwas zu tun oder zu meiden sei, und damit sie jedes ihrer Opfer mit Salz würze.e Das Schlechte liegt nämlich in der Vgl. Ez 33, 11. Vgl. Prov 25, 25 und öfter. c  Vgl. Jak 1, 17. d  Vgl. I Joh 2, 27. e  Vgl. Kol 4, 6. a 

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Nachbarschaft des Guten,a und oft, während wir das eine Laster vermeiden, verfallen wir in dessen Gegenteil, wie wenn jemand Überfluss vermeidet, meist in Geiz verfällt, oder, wie wenn jemand den Prunk weltlicher Kleidung meidet, er sich des Schmutzes seiner Kleider rühmt. Die Laster tragen nämlich bisweilen den Anschein von Tugenden an sich, weswegen sie ihre Anhänger umso gefährlicher täuschen als sie sich mit dem Schleier der Tugend bedecken. Denn unter dem Vorwand der Gerechtigkeit wird Grausamkeit begangen, und nachlässige Gleichgültigkeit hält man für Sanftmut: Meistens bewirkt die Nachlässigkeit gegenüber dem Körpers das, was man glaubt, dass es die Nachsicht bewirkt. Sie (Maria) aber wich weder nach rechts noch nach links ab und vollendete den mittleren und glückseligen Weg in wunderbarer Mäßigung. Denn sie gab sowohl Gott, was Gottes war,b und bewahrte mit ihren Nächsten Frieden, so viel es an ihr lag, war nicht nur mit den Friedfertigen in Frieden versöhnt, sondern war auch mit denen friedfertig, die den Frieden hassten,c indem sie klug mit den Menschen von schlechter Art umging,d wurde sie allen alles, um alle für Gott zu gewinnen.e Daher verließen zwei ihrer leiblichen Brüder und einige andere, obwohl sie früher der Welt ergeben waren, auf Grund göttlicher Eingebung, unterstützt von ihren klugen Ermahnungen, alles und traten in den Zisterzienserorden ein. Als sie aber einmal recht lieblich und süß, gleichsam durch den Leim der Liebe zu einem Geist mit dem Herrn geworden,f eben jenem Herrn anhing, teilten wir ihr mit, dass einige Leute aus fernen Gegenden gekommen waren, um sie zu sehen und in Eile waren, zurückzukehren. Obwohl uns der Herr nämlich bei den Rehen und Hirschen auf den Feldern beschworen hatte, seine Geliebte nicht aufstehen zu heißen oder zu wecken, wenn sie es nicht Vgl. H. Walther, Proverbia sententiae latinitatis medii aevi 2/2, Nr. 14302b, s. (H), S. 116, Anm. zu Z. 544–545. b  Vgl. Mt 22, 21 (Mk 12, 17, Lk 20, 25). c  Vgl. Ps 119, 7. d  Vgl. Phil 2, 15. e  Vgl. I Kor 9, 22. f  Vgl. I Kor 6, 17. a 

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Buch II, 64–65

selbst wollte,a doch weil sie es niemals wollte, sondern immer danach dürstete, mit dem Herrn am Mittag zu ruhen,b weckten wir sie auf Grund einer gewissen Vertrautheit ab und zu und nur mit Mühe auf. Sie aber, nachdem sie von der Ankunft von Fremden gehört hatte, riss sie ihren Geist unter so großem Schmerz von jener süßen Freude der Kontemplation, von den Umarmungen ihres Bräutigams los, um nicht etwa jemandem ein Ärgernis zu geben, indem sie sich selbst Gewalt antat, dass sie bisweilen, gleichsam auf Grund gebrochenen Herzens, reines Blut in großen Mengen hervorwürgte oder ausspie, weil sie lieber durch dieses Martyrium gequält werden wollte als den Frieden der Brüder und besonders den der Pilger zu stören. Manchmal jedoch konnten wir, wenn sie durch die Offenbarung des Heiligen Geistes die Ankunft einiger Leute, auch wenn sie noch weit entfernt waren, vorherwusste und sich aufs Land oder die nahen Wälder zurückzog, die Verborgene den ganzen Tag über kaum wiederfinden. Manchmal aber wurde sie zum Nutzen einiger Hilfsbedürftiger gezwungen, ihren Schlaf zu unterbrechen, wobei nur der Heilige Geist sie dazu anregte: “Geh”, sprach der Geist, “weil dich jemand nicht aus Neugier, sondern aus Notwendigkeit erwartet.” Obwohl sie aber in Bezug auf ihre Nächsten, nicht nur die guten, sondern auch die schwierigen,c unter wunderbarer Rücksichtnahme den Frieden bewahrte, schien sie uns manchmal jedoch sich allein gegenüber sehr rücksichtslos, sich selbst allzu sehr zu erniedrigen und über das Maß hinaus zu quälen. Sie ging jedoch mit sich selbst umso rücksichtsvoller um, als sie nichts von sich aus zu tun sich herausnahm, außer wenn sie vom Heiligen Geist in vertrauter Weise belehrt wurde. Sie hätte es nämlich nicht gewagt, einen einzigen Tag vorbei gehen zu lassen, ohne sich durch Nahrung zu stärken, es sei denn sie hätte ganz sicher gewusst, ihrer sinnlichen Wahrnehmung beraubt, außer sich entrückt zu sein. Manchmal jedoch versuchte sie, um den Frieden der Anwesenden zu bewahren, in einem solchem Zustand etwas zu sich zu nehmen und konnte Vgl. Cant 2, 7 und 3, 5 und 8, 4. Vgl. Cant 1, 6. c  Vgl. I Petr 2, 18. a 

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Das Leben der Maria von Oignies

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überhaupt nichts zu sich nehmen, sondern wurde fast ohnmächtig vor Schmerz. Daher erlangte sie später solch ein großes Vorrecht an Freiheit, dass niemand mehr zu sagen wagte: “Warum handelst du so?”, und da ihr Leben sich der menschlichen Vernunft entzog, beurteilte sie auf Grund eines besonderen Vorrechts, das Gott und ihr vorbehalten war, alles, wurde aber von niemandem beurteilt.a Der Heilige Geist aber offenbarte ihr häufig beim Tun oder Lassen ein Vorgehen,b das wir mit menschlichem Sinn nicht erreichen könnten. Daher aß sie, während sie eine Zeitlang drei Mal in der Woche Nahrung zu sich nahm, am sechsten Wochentag, am Tag des Herrn aß sie überhaupt nichts; gleichermaßen enthielt sie sich am fünften Wochentag ganz der Nahrung. Da es uns eher einleuchtender schien, dass sie am sechsten Wochentag, der der Tag der Buße ist, überhaupt nichts gegessen hätte, am fünften Wochentag aber oder am Tag des Herrn Speise zu sich genommen hätte, besonders weil der Tag der Buße der Todestag des Herrn ist, antwortete sie mir einmal: “Zu den sinnlichen Dingen lasse ich mich nicht ohne Mühe herab, indem ich durch die Aufnahme körperlicher Nahrung die Freude der Kontemplation unterbreche; am fünften Wochentag aber, der der Tag des Heiligen Geistes ist, und am Tag des Herrn bin ich wegen der Freude über die Auferstehung mit geistlicher Stärkung zufrieden, und feiere, vom ewigen Mahl gesättigt, den ganzen Tag über ein Fest, indem ich durch keine Inanspruchnahme einer sinnlichen Stärkung zu niedrigeren Dingen herabsteigen muss.” Nachdem ich das gehört hatte, machte ich den Mund nicht weiter gegen sie auf und schwiegc und achtete nämlich meine Ansicht für nichts und wurde in meinen Augen gedemütigt,d aber die Weisheit ist von ihren Kindern gerechtfertigt worden.e Obwohl sie aber Sünder nicht aus Entrüstung verwarf, sondern viele eher aus Mitgefühl häufig mit kluger Ermahnung vom Vgl. I Kor 2, 15. Luther übersetzt: Der geistliche Mensch aber ergründet alles und wird doch selber von niemand ergründet. b  Vgl. Mt 23, 23. c  Vgl. Ez 33, 22. d  Vgl. Ps 38, 3. e  Vgl. Mt 11, 19 (Lk 7, 35). a 

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Buch II, 65–68

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Weg des Verderbensa abbrachte, verabscheute ihr Geist jedoch am meisten die Sünden der Menschen und mied den Umgang oder die Vertrautheit mit den Ungerechten, indem sie nie vermessen auf sich selbst vertraute: Denn schlechte Gespräche verderben die guten Sitten,b und der Herr lehrte seine Jünger, wenn sie in eine Stadt kämen, sollten sie suchen, ob es in ihr einen Würdigen gäbe, in dessen Haus sie anständig und sicher verweilen könnten.c Daher geschah es einmal, dass sie während ihres Aufenthalts in Oignies, um einige ihrer Vertrauten zu besuchen, nach Willambroc gegangen war, und als sie auf ihrem Rückweg mitten durch Nivelles ging, gedachte sie danach der Sünden und Abscheulichkeiten, die die Weltlichen in dieser Stadt häufig begehen und empfand in ihrem Herzen solche Entrüstung und Abscheu, dass sie vor Schmerz zu schreien begann und wollte mit einem von ihrer Magd verlangten Messer, als sie außerhalb der Stadt war, die Haut von ihren Füßen abziehen, deswegen, weil sie damit über Plätze gegangen war, auf denen elende Menschen ihren Schöpfer durch so viel Unrecht herausfordern und durch so viele Schandtaten beleidigen. Und da es sie nicht nur im Geist, sondern, was noch wunderbarer ist, auch sinnlich wahrnehmbar in den Füßen schmerzte, mit denen sie die genannten Örtlichkeiten betreten hatte, konnte sie sich endlich nur mit Mühe beruhigen, da sie vielmals ihre Füße am Erdboden angestoßen hatte. In den heiligen Schriften war die kluge und einsichtige Frau ausreichend unterrichtet, denn häufig hörte sie Predigten über Gott und bewahrte die Worte der heiligen Schrift und bewegte sie in ihrem Herzen:d Sie besuchte häufig die heilige Kirche und barg die heiligen Gebote scharfsinnig in ihrer Brust.e Und weil alle klug sind, die danach handeln,f bemühte sie sich, das, was sie fromm hörte, in noch größerer Frömmigkeit in die Tat umzusetzen. Als sie an ihrer letzten Krankheit litt und schon sehr Vgl. Weish 5, 7. Vgl. I Kor 15, 33. Luther übersetzt: Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten. c  Vgl. Mt 10, 11. d  Vgl. Lk 2, 19. e  Vgl. Prov 2, 1. f  Vgl. Ps 110, 10. a 

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geschwächt, dem Tode ganz nahe war, und jemand in der Kirche dem Volk eine Predigt hielt, da lebte ihr Geist beim Wort Gottes wieder auf,a und sie spitzte ihre Ohren gegen den Willen des Todes, bereitete ihr Herz, und gab den Umstehenden sogar einige Worte aus der Predigt wieder. Sie liebte die Prediger und die gläubigen Hirten der Seelen so sehr, dass sie deren Füße nach der Anstrengung einer Predigt mit wundersamer Zuneigung umfasste und sie sogar gegen deren Willen entweder lange küssen musste oder aus Kummer weinte, wenn sie sich entzogen. Durch viele tränenreiche Seufzer, viele Gebete und Fastenübungenb erlangte sie aber vom Herrn durch inständigstes Bitten, dass ihr der Herr das Verdienst und das Amt der Predigt, das sie in eigener Person praktisch nicht ausüben konnte, in einer anderen Person als Ausgleich gab, und dass der Herr ihr als großes Geschenk einen Prediger gab.c Nachdem er ihr geschenkt worden war, rüstete der Herr, auch wenn er durch ihn gleichsam wie durch ein Instrument die Predigtworte aussandte, durch die Gebete der heiligen Frau sein Herz, verlieh ihm Körperkraft bei der Anstrengung, verhalf ihm zum Wort, lenkte seine Schritted und verlieh den Hörern Gnade und Gewinn durch die Verdienste seiner Magd. Denn für ihn flehte sie jeden einzelnen Tag, wenn er mit Predigen beschäftigt war, zum Herrn und zur heiligen Jungfrau, indem sie hundert Mal das Gegrüßet seist du, Maria betete, so wie der Heilige Martin betete, wenn Hilarius predigte.e Ihren eigenen Prediger aber, den sie in ihrer Todesstunde persönlich zurückließ, befahl sie auf sehr fromme Weise dem Herrn an: So wie sie nämlich die Ihren geliebt hatte, liebte sie sie auch bis zum Ende.f Als sie eines Tages in einem Park bei Willambroc war, erschien ihr der Teufel, gleichsam in Gestalt eines Hirten: Damals nämlich hatte jener Gottlose viele Ritter zusammen geschart, die am darauf Vgl. Gen 45, 27. Vgl. Jdt 4, 8(12). c  Jakob von Vitry selbst ist gemeint; vgl. Gen 24, 53. d  Vgl. Ps 118, 133 (vgl. Ps 39, 3). e  Vgl. Sulpicius Severus, Vita s. Martini, Hg. J. Fontaine, Sources Chrétiennes 133, c. 5, 1–3, s. (H), S. 121, Anm. zu Z. 668. f  Vgl. Joh 13, 1. a 

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folgenden Tag am Turnier bei der Stadt, die Trasegniesa heißt, teilnehmen sollten und in jener Nacht ihre Quartiere in Nivelles hatten. Und als jener gottlose und hochmütige Dämon sich damit brüstete, dass er ein Hirte sei, sprach sie: “Du bist kein Hirte, sondern unsere Lehrer, die das Wort Gottes predigenb und treu unsere Seelen weiden, die sind wahrhaft Hirten.” “Ich”, so sprach jener nichtsnutzige und überhebliche Feind, “besitze mehr und mir gehorsamere Herdenc als jene Lehrer, denn ich kenne sie und sie mich und sie hören auf meine Stimmed und folgen meinem Willen.” Da konnte sie nicht länger ertragen, dass jener den Namen eines Hirten für sich in Anspruch nahm, der seine jungen Böcke über die Weide der Eitelkeit bis zur Weide der ewigen Verdammnis führt, wo der Tod sie auf erbärmliche Weise abweiden lässt,e da verließ sie den Dämon und floh seufzend und voller Mitleid für die Elenden in die Kirche und lange Zeit später, wenn sie sich an jenen verderblichen Hirten erinnerte, konnte sie sich der Tränen nicht enthalten. Aber obwohl sie durch die Salbung des Heiligen Geistesf und durch göttliche Offenbarungen von innen her gelehrt wurde, hörte sie dennoch gern von außen das Zeugnis der Schriften, die mit ihrem Geist vollständig überein stimmten. Denn obgleich der Herr seine Jünger belehren konnte, indem er sie ohne das Wort innerlich erleuchtete, legte er ihnen dennoch auch äußerlich die Schriften aus, indem er sie mit Hilfe des Wortes belehrte: Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe (Joh 15, 3). Sie wurde also von Tag zu Tag durch die Worte der heiligen Schrift hin zur Reinheit sauberer gewaschen, zur Verschönerung der guten Sitten erbaut, zum Glauben erleuchtet, wenn man überhaupt bei ihr im eigentlichen Sinn von Glauben sprechen kann, sie, die durch die Offenbarung des Herrn das Unsichtbare sichtbar und in aller Deutlichkeit wahrnehmbar sah. Als sie sich nämlich einmal

Trasegnies, etwas nordwestlich von Charleroi, s. (H), S. 121, Anm. zu Z. 676. Vgl. Act 13, 5. c  Vgl. I Petr 5, 2. d  Vgl. Joh 10, 3–5, 14 und 27; s. (H), Einleitung, S. 8, Anm. 6. e  Vgl. Ps 48, 15. f  Vgl. I Joh 2, 20 und 27. a 

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in einem Ittrea genannten Städtchen bei Nivelles aufhielt und in ihrer Gegenwart ein Knabe an der Kirchentür (im Taufunterricht) unterwiesen wurde, sah sie, wie ein unreiner Geistb unter großer Verwirrung aus dem Kleinen ausfuhr. Als sie den Knaben dann aus dem Taufbecken hob, wurden ihre Augen geöffnetc und sie sah den in die Seele des Knäbleins hinabsteigenden Heiligen Geist und die Schar der heiligen Engel um das wiedergeborene Kind. Oft aber sah sie, während der Priester die Hostie empor hob, wie zwischen den Händen des Priesters die Gestalt eines schönen Knaben und eine Heerschar himmlischer Geister in einem nicht geringen Licht herabkamen. Als aber der Priester nach der Gabenbereitung die Sakramente empfing, sah sie im Geist den Herrn in der Seele des Priesters bleiben und sie mit wunderbarer Klarheit erleuchten, oder wenn er sie unwürdig empfing, sah sie, dass der Herr mit Empörung zurückwich und die Seele des Elenden leer und düster zurückblieb. Auch wenn sie nicht in der Kirche anwesend war, sondern in ihrer Zelle, ihrer Gewohnheit entsprechend die Augen mit einem weißen Schleier bedeckt, betete, da spürte sie, als beim Vortragen der heiligen Worte am Altar, Christus hernieder stieg, selbst auf wunderbare Weise verwandelt, seine Ankunft. Wenn aber Kranke in ihrer Gegenwart die Sakramente der letzten Ölung empfingen, spürte sie, wie Christus mit einer Schar von Heiligen gegenwärtig war:d Er stärkte den Kranken barmherzig, trieb die Dämonen aus, reinigte die Seele und ergoss sich gleichsam als Licht über den ganzen Körper des Kranken, wenn seine verschiedenen Körperteile gesalbt wurden.

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5.  Der Geist der Stärke

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Und weil es wenig nützt, durch den Geist der Gottesfurcht das Böse zu meiden, durch den Geist der Frömmigkeit Gutes zu tun, Ittre, nordwestlich von Nivelles, s. (H), S. 122, Anm. zu Z. 703. Vgl. Mk 3, 30 und 7, 25 und Lk 9, 43. c  Vgl. Jer 32, 19. d  Vgl. Num 16, 3. a 

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durch den Geist der Erkenntnis in allen Dingen die Gabe der Unterscheidung zu haben, wenn wir nicht durch Stärke den drohenden Übeln widerstehen, durch Geduld unsere guten Taten bewahren, durch Standhaftigkeit bis zum Ende beharrena und durch Langmütigkeit den Lohn des ewigen Lebens erwarten, öffnete ihr Vater seine Schatztruhenb und schmückte seine Tochter mit dem vierten Edelstein, das heißt mit dem Geist der Stärke, und rüstete sie gegenüber allem Unheil, damit sie weder durch den Anstoß des Unglücks gebrochen noch durch das Blendwerk des Glücks in Hochstimmung versetzt würde, damit sie Verleumdungen in Ruhec ertrage, damit sie keinem Böses mit Bösem vergelte; vielmehr setzte sie Segen dem Fluch, Güte der Lieblosigkeit entgegen, vergalt Böses mit Gutem,d antwortete Verleumdern nicht, betete für Verfolgere und beharrte durch ihre Standhaftigkeit des Geistes auf ihrem guten Vorhaben, trug alles gleichmütig durch Geistesstärke, ging mit Großmütigkeit Schwierigkeiten von sich aus an, fürchtete durch ihre Seelenruhe bevorstehende Unannehmlichkeiten nicht, hatte aus Zuversicht die sichere Hoffnung, ihr Vorhaben zu einem guten Ende zu bringen, verlieh auf Grund der Großartigkeit des heiligen und herrlichen Vorhabens dessen Vollendung. Sie hatte aber nicht nur bei Verfolgungen und Geißelungen Geduld, sondern hatte Freude in Bedrängnissen und nahm die Züchtigung des Herrn mit großem Verlangen an.f Als sie daher während ihrer letzten Krankheit schon fast vierzig Tage schwer gelitten hatte, und wir sie fragten, ob für sie der Schmerz der Krankheit zu einer Art Überdruss führe, sagte sie: “Im Gegenteil, ich wollte, vorausgesetzt es gefiele Gott, dass diese vierzig Tage von neuem begännen,” und fügte hinzu, was noch wunderbarer ist, dass sie niemals einen Kranken gesehen hätte, ohne sich dessen Krankheit zu wünschen, wie schwer sie auch immer Vgl. Mt 10, 22 und 24, 13. Vgl. Mt 2, 11. c  Vgl. Weish 12, 18. d  Vgl. I Petr. 3, 9 (= Röm 12, 17). e  Vgl. Mt 5, 44. f  Vgl. Hebr 12, 5; Prov 3, 11. a 

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gewesen sein mochte. Weh euch, die ihr im Frondienst das Kreuz des Herrn tragt,a die ihr die Züchtigung des Herrn verschmäht, die ihr gleichsam nach der Rute des zuschlagenden Herrn wie ein tollwütiger Hund schnappt, indem ihr euch gegen die Geißel auflehnt, und die ihr den Schmerz des Körpers durch den Schmerz des ungeduldigen Herzens verdoppelt! Dieser wertvolle Edelstein Christi aber wurde wegen des Frohlockens ihres gezüchtigten Herzens, gleichsam ohne dass sie es spürte, geschlagen, auf ihr angenehme Weise gequält, die innere Süße versah nämlich den äußeren Schmerz reichlich mit Heilsalbe und milderte erleichternd die Schwere der Krankheit. Als sie aber einmal vor Lähmungsschmerz weinen und sich an die Brust schlagen musste, verbarg sich einer ihrer Vertrauten an einem bestimmten Ort, weil er Mitleid für sie empfand, und flehte für sie zum Herrn. Da spürte sie, dass durch die inbrünstigen Gebete des frommen Mannes ihre Krankheit etwas nachließ und sagte ihrer Magd: “Geh und sag jenem Mann, dass er aufhören soll für mich zu beten, denn durch die Arznei seiner Gebete nehme ich, während es mir besser geht, in meiner Züchtigung Schaden.” Als sie aber einmal von einer drückenden Last gequält wurde, litt einer von ihren Freunden nur heimlich im Herzen wegen ihrer Qual. Darauf schickte sie, da sie durch die Offenbarung des Herrn seine Herzensgeheimnisse erkannte, ihre Magd zu ihm und sagte: “Sag ihm, er soll nicht länger für mich leiden, denn seine Last macht den Schmerz meines Herzens schwerer, ich kann nämlich nicht aushalten, dass er für mich leidet.” Sie wurde nämlich mehr durch die Schmerzen anderer belastet als durch ihre eigenen Krankheiten. Durch den Geist der Stärke hatte sie nicht nur die Fähigkeit, den Widrigkeiten zu widerstehen, sondern sich sogar aller fleischlichen Verlockungen zu enthalten. So sehr hatte sie nämlich den Körper kasteit und in Knechtschaft gezwungen,b dass ihr Körper auf den Wink des Geistes gehorchte, indem er in nichts widersprach, indem er sich durch keine Ausrede entschuldigte, und sie a  Ps.-Augustin, Serm. 247, 7 , MPL 39, 2204 [ = Ivo von Chartres, Serm. 6, MPL 162, 566D, vgl. Clavis Patrum latinorum, 1993 (3. Aufl.), S. 143] : Qui vero in angaria Christi crucem portat, s. (H), S. 125, Anm. zu Z. 756. b  Vgl. I Kor 9, 27.

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murrte nicht gegen den Herrn, sondern folgte der Stärke ihres Herrn nach und erstarrte niemals in Trägheit, ließ es nie oder nur selten an Anstrengung fehlen. So sehr hatte jene junge Tambourinspielerina ihren Körper ausgetrocknet, indem sie ihn gleichsam zwischen die beiden Hölzer des Kreuzes ausgespannt hatte, dass sie mehrere Jahre hindurch niemals gefühlt hatte, wie sich auch nur die ersten Regungen von Lust gegen sie erhoben. Daraus gewann sie solch große Sicherheit auch in der Gegenwart von Männern, dass sie alle auf Grund des Überflusses an Unschuld und der reinen Einfalt als ihr ähnlich einschätzte. Als daher einer ihrer vertrauten Freunde in allzu großem Überschwang geistlicher Leidenschaft ihre Hand einmal drückte, auch wenn er mit keuschem Sinn nichts Schändliches dachte, fühlte er dennoch als Mann wegen jener zu großen Nähe, wie sich erste Erregungen bei ihm erhoben. Als sie dies ganz und gar nicht erkannte, hörte sie ein Wort aus der Höhe, das heißt: Rühr mich nicht an (Joh 20, 17) und erkannte dennoch nicht, was es bedeutete. Gott, der nämlich milde ist und Mitleid mit unseren Schwächen hat,b wollte jenen Mann vor der heiligen Frau durch Beschämung nicht verwirren, wollte jedoch wie ein Eifersüchtiger die Keuschheit seiner Freundin hütenc und ihn wegen der drohenden Gefahren zurechtweisen. Als sie ihm daher sagte: “Ich habe gerade ein Wort gehört, aber ich weiß überhaupt nicht, was es bedeutet, das heißt: Rühr mich nicht an”, nahm sich jener, da er verstand, was es bedeute, in Zukunft sorgfältiger in Acht, dankte dem Herrn, der seine Schwäche nicht aufdecken wollte und zog sich zurück.

6.  Der Geist des Rates 76

Durch den Geist des Rates aber tat sie nichts überstürzt, nichts unordentlich, führte alles sorgfältig, vorausschauend und mit Überlegung aus und wartete in allem, was sie tat oder unterließ, Vgl. Ps 67, 26. Vgl. Hebr 4, 15. c  Vgl. Ex 20, 5 und 34, 14. a 

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auf den, der ihre Seele vor Kleinmut des Geistes und Ungestüm bewahrte,a unterließ dabei nichts aus Kleinmut, führte jedoch nichts stürmisch, nichts unbedacht oder auf ungestüme Weise aus. Auf all ihren Wegen gingen ihre Blicke ihren Schritten voran,b alles tat sie dabei mit Überlegung,c um es nach vollendeter Tat auch nicht im geringsten bereuen zu müssen. Was nämlich könnte jemand ohne Ernst, ohne Reife der Überlegung tun, dessen Seele der erfüllt hatte, in dessen Seele derjenige wohnte, der von sich selbst sagt: Ich wohne als Weisheit in Ratschlüssen und bin gegenwärtig bei klugen Überlegungen (Prov 8, 12). Obwohl sie aber dem vertrauten Rat des Heiligen Geistes innerlich folgte, obwohl sie hinreichend in den heiligen Schriften unterrichtet wurde, verschmähte sie es dennoch auf Grund des allzu großen Überflusses an Demut nicht, um nicht in ihren eigenen Augen als weise zu erscheinen,d sich gern und demütig den Ratschlägen anderer zu unterwerfen und dabei dem eigenen Willen zu entsagen. Viele ihrer vertrauten Freunde jedoch, die ihre göttliche Klugheit häufig erfahren hatten, wagten ohne ihren Rat nichts Großes zu tun: Was sie nämlich durch menschliche Überlegung nicht wissen konnte, wusste sie, nachdem sie gebetet hatte, durch göttliche Eingebung. Als daher einer ihrer Freunde, der mit seiner Mittelmäßigkeit zufrieden und umso sicherer war, je mehr er sich menschlichen Augen entzogen und von weltlichem Prunk entfernt hatte und dem Herrn in Demut diente,e von einem Adligen, der ihn reichlich mit Pferden, Kleidern und vielen anderen Gütern versorgen würde, gebeten wurde sein Lehrer zu werden, fragte er die heilige Frau um Rat, was er tun solle. So wie jene aber niemals etwas in Bezug auf sich voraussetzte, schickte ein Gebet vorweg und antwortete, nachdem sie aus den geheimen Gemächern der göttlichen Ratschlüsse zurückgekehrt war: “Ich habe gesehen, wie man Euch in dieser Angelegenheit ein schwarzes Pferd vorbereitete, das der Hölle entgegen wieherte und ein Vgl. Ps 108, 31; Ps 54, 9. Vgl. Prov 4, 25. c  Vgl. Prov 13, 16. d  Vgl. Prov 26, 5. e  Vgl. Act 20, 19. a 

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Heer von Dämonen applaudierte dazu: Haltet also nach meinem Rat an der Berufung fest, zu der Ihr vom Herrn berufen seid,a damit Ihr dem Teufel durch Ehrgeiz und weltlichen Prunk keine Gelegenheit gebt.” Obwohl aber ein anderer unter ihren Freunden, der ihr umso lieber war je demütiger er war, eine einzige ihm einigermaßen genügende Pfründe hatte, nahm er durch viele Bitten überredet, eine andere an, die sowohl an Würde höher als auch vom Einkommen her reichlicher war. Und als jener, recht fromm und gottesfürchtig wie er war, die Magd Christi um Rat fragte, ob er Gott bei dieser Tat beleidigt habe, erbat sie sich nach ihrer Gewohnheit eine kleine Frist für die Antwort und sagte schließlich göttlich inspiriert und durch göttliche Offenbarungen ohne jeden beunruhigenden Zweifel sicher: “Ich sah, wie einem mit weißen Gewändern bekleideten und zum Wettlauf hinreichend gerüsteten Mann, ein schwarzer Mantel übergeworfen und er mit unnützer Last beschwert wurde.” Nachdem sie dies und Ähnliches mehr gesagt hatte, behielt jener kluge und gottesfürchtige und dem heilsamen Rat zustimmende Mann, der schon in sich vom Herrn her voraus geahnt hatte, was jene, göttlich inspiriert vorbrachte, die erste ihm genügende (Pfründe) und verzichtete ohne Zögern auf die andere, um nicht den Platz eines anderen ehrgeizig zu besetzen. Verzeiht mir, Brüder, die ihr Würde an Würde reiht und Pfründe mit Pfründe verbindet, was ich berichtet habe, kommt nicht aus mir, sondern von dem offenbarenden Christus, schont die Magd Christi, setzt die Unschuldige nicht herab. Denn worin hat sie euch verletzt, wenn sie ihrem Freund einen heilsamen Rat gab, wenn sie die Wahrheit, die sie vom Herrn hörte, wiedergab? Aber während ihr den Gratianb regelmäßig aufschlagt, werdet ihr wohl niemals entweder in dieses Büchleinc hineinschauen oder werdet die Visionen der Magd Christi für Phantasmen oder Träume halten und euch nach eurer Gewohnheit darüber lustig machen. Denn die Pharisäer verspotteten den Herrn nicht nur, als er über Vgl. I Kor 7, 20. S. oben S. 79 Anm. a. c  Damit ist diese Vita gemeint. a 

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Geiz sprach und sagte, dass Reiche keineswegs ins Himmelreich kommen könnten,a sondern sie erklärten ihn sogar für verrückt.b Um aber ohne Ansehen der Personenc die Großtaten der heiligen Frau zu berichten, werde ich auch mich nicht schonen, sondern die Geschichte meines Unglücks erzählen. Als ich, wenn auch unwürdig, anfing, das Wort Gottes einfachen Laien zu predigen und weder Übung noch die Gewohnheit hatte, Predigten ans Volk zu halten, fürchtete ich immer um mich, dass ich wegen der Unvollkommenheit meiner Predigt versagen würde und sammelte viel Material von überallher für mich, als ich aber vieles gesammelt hatte, wollte ich das, was ich im Kopf hatte, unter die Leute bringen: Der Tor breitet nämlich seinen ganzen Geist aus, der Weise aber spart ihn für später auf (Prov 29, 11). Und als ich mich wegen solch großer Verschwendung selbst verwirrte, kam ich nach der Predigt wieder zu mir und geriet in eine Art geistiger Abscheu, weil es mir schien, dass ich vieles ungeordnet und ungegliedert gesagt hatte. Als die Magd Christi mich einmal in solcher Traurigkeit bedrückt sah, da weigerte ich mich aus Scham, ihr die Ursache zu offenbaren und als einer, was noch erbärmlicher war, mich, der ich es gerne hörte, nach der Predigt, wie es Sitte ist, lobte, als ob ich gut und feinsinnig gesprochen hätte, zog ich einen Trost daraus. Ich erröte, meine Schändlichkeit preis zu geben, aber ich wagte es nicht, das Lob der heiligen Frau zu verheimlichen. Als sie mich einmal, der ich durch die Wolke der besagten Traurigkeit ganz verwirrt war und wie ein leicht zu verwirrender Arbeiter, zu sich rief, eröffnete sie mir auf wunderbare Weise die dreifache Verwundung der Versuchungen, die ich im Verborgenend erlitten hatte: “Ich habe”, sagte sie, “ein Bild gleichsam eines mit Wolken umgebenen und mit einer Fülle von Haaren bedeckten Mannes gesehen, eine herausgeputzte und gleichsam von gewissen Strahlen glänzende Kurtisane ging um ihn herum, indem sie ihn schmeichlerisch betrachtete. Nachdem sie mehrmals einen Kreis um ihn gezogen hatte, warf sie einen der Strahlen auf Vgl. Mt 19, 23–24 (Mk 10, 25, Lk 18, 25). Vgl. Joh 10, 20. c  Vgl. Röm 2, 11 (II Chr 19, 7). d  Vgl. Dtn 27, 15, und öfter. a 

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ihn und vertrieb einen Teil der Dunkelheit.” Bei diesem ihrem Gleichnis verstand ich sofort mit großer Sicherheit, dass ich an einer dreifachen Krankheit litt. Die überreiche Haarpracht nämlich machte mich traurig, die herausgeputzte Kurtisane, das bedeutet die Überheblichkeit, spendete mir mit ihren Strahlen der Schmeichelei einen erbärmlichen Trost. Ich weiß nicht, o heilige Frau, mit welchen Lobpreisungen ich von dir sprechen soll, die du Mitwisserin der Geheimnisse Gottes bist. Der Herr offenbarte dir nicht vergebens die Gedanken der Menschen,a sondern verlieh deinen Gebeten die Kraft, von Schwächen zu heilen. Da sie aber mit einem guten und heiligen Mädchen mit Namen Helwidis befreundet war, das Inkluse in Willambroc war, die sie sehr liebte und wie eine Mutter ihre Tochter fast zwölf Jahre lang im Herrn erzog, hat sie, als dieses Mädchen durch eine gewisse Beschwerlichkeit versucht wurde, die Versuchungen und die Gedanken ihres Herzens demselben Mädchen, das sich darüber wunderte, wie sie (Maria) ihren Sinn erkannte, offen gelegt und sie gegen die drohenden Versuchungen lange Zeit, bevor sie eintraten, gerüstet. Da aber jene Inkluse durch die Anwesenheit von Magister Guido, der damals Kapellan an der Kirche von Willambroc war, größten Trost hatte, sagte sie (Maria) , weil, was plötzlich geschieht größere Verwirrung stiftet, es ihr oftmals ein halbes Jahr bevor jener mit seinem Bruder Johannes Willambroc verlassen würde, voraus, indem sie sie mit vielen Ermahnungen warnte, damit sie in Frieden die Abwesenheit derer ertrüge, deren Anwesenheit sie sehr liebte. Auch von einer religiösen Frau mit Namen Bessele, die lange Zeit der Magd Christi treu gedient hatte und aus deren Gegenwart die genannte Inkluse großen Trost hatte, sagte Maria lange im voraus, dass sie sich von ihrem Dienst zurückziehen werde und dass sie, ohne unruhig zu werden, ertragen solle, was der Herr vorgesehen hatte. Einmal stellte ein Magister,b als er in Frankreich war, in Aussicht, nach Oignies zu kommen. Und als einer der Brüder desselben Hauses vorschlug, bis Paris zu reisen, um den Magister herzuführen, sprach jene: a  b 

Vgl. Ps 93, 11. Jakob meint sich wohl selbst.

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“Haltet inne und beeilt euch nicht, denn der Bote, den uns der Magister schickt, ist schon zu euch unterwegs.” Und so blieb auf ihren Rat hin jener Bruder zurück und wartete in Oignies auf jenen Boten, dessen Kommen sie durch ihren prophetischen Geist vorhersagte, bis er ankam. Als aber der genannte Magister nach Rom in die Fremde aufgebrochen war, um die Kurie zu besuchen, glaubten seine Freunde auf Grund eines lügenhaften Gerüchtes, dass er gestorben sei, und sie trauerten. Und als einige für ihn eine Messe feiern wollten, sagte sie: “Er ist nicht tot, sondern lebt und hat Rom verlassen, um lebendig und gesund an dem und dem Tag zurückzukehren.”a Als aber alle sich wunderten und die Unterstützung durch Messelesen verschoben, bestätigte der Ausgang der Angelegenheit, so wie sie es angekündigt hatte.

7.  Der Geist des Verstehens Nachdem also die Tochter Jerusalems mit diesem Geschmeideb geschmückt, mit den genannten Gaben des Heiligen Geistes wie mit Lichtern erleuchtet war, pflegte sie mit dem durch den Geist des Verstehens gereinigten Herzen Umgang mit himmlischen Dingen.c Ihre Seele hatte so sehr einen Zustand des Schwebens gewählt,d dass sie meistens, während sie einen ganzen Tag hindurch, bisweilen sogar mehrere, ziemlich hoch flog, die Sonne der Gerechtigkeit wie ein Adler schaute, ohne dass die Strahlen des Herzens nach unten zurückgeworfen wurden.e Nachdem die Strahlen dieser Sonne sie von der Feuchtigkeit alles sinnlich Wahrnehmbaren getrocknet und von jeglicher Trübung körperlicher Bilder gereinigt hatte, war sie in ihrer Seele ohne jegliche Phantasie oder Einbildung für die einfachen göttlichen Formen Vgl. Sir 17, 27. Vgl. Jes 61, 10. c  Vgl. Phil 3, 20. d  Vgl. Hi 7, 15. e  Gregor der Große, Moralia in Iob 9, 32, 48 (ad Iob 9, 26), CCSL 143, S. 482, 2 : moris quippe est aquilae ut irreverberata acie radios solis aspiciat, s. (H), S. 132, Anm. zu Z. 943–944. a 

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wie in einem reinen Spiegel empfänglich.a Nachdem nämlich die sinnlich wahrnehmbaren Formen von ihr weggenommen waren, hallten die einfachen und unveränderlichen Erscheinungen über dem Himmelszelt in ihrem Geist umso reiner wider, je mehr sie sich der höchsten, einfachen und unveränderlichen Majestät näherte. Und während ihr feiner und zarter Geist durch die Glut der frommen Liebe verbrannt, wie ein Rauchfaden aus Duftharzenb in die Räume über dem Himmelszelt eindrang, wandelte er gleichsam Schritt für Schritt im Land der Lebendenc und suchte über Gassen und Plätze hin den, den ihre Seele liebte:d Als sie, bald durch die Lilien der heiligen Jungfrauen erfreut, bald durch die duftenden Rosen der heiligen Märtyrer erfrischt, manchmal vom Rat der heiligen Apostel in Ehren empfangen, bisweilen in die Kreise der Engel aufgenommen, alle Stufen erklommen hatte, und als sie alle Orte des Paradieses mit froher Seele durchwandert hatte, und als sie alles ein wenig durchquert hatte, fand sie schließlich den, den ihre Seele heiß begehrte,e dort endlich kam sie vollkommen zur Ruhe, dort blieb sie unbeweglich stehen,f und ohne noch länger an Zukünftiges zu denken, hätte sie nicht einmal für ihre Freunde, auch nicht für die ihr liebsten, beten und sogar nicht einmal an die heiligen Engel denken können, und indem sie alle Heiligen gleichsam hinter sich ließ, hing sie dem an, nach dem es sie brennend dürstete.g Als sie aber das Buch des Lebens näher einsah, nahm sie vieles durch den Geist des Verstehens darin wahr, was sie schließlich, wieder zu sich gekommen, mit prophetischem Geist vorhersagte. Daher sagte sie drei Jahre bevor Menschen das Kreuz nahmen, um gegen die Häretiker aus der Provence vorzugehen, dass sie Kreuze über die Menschenmenge zahlreich vom Himmel herabkommen sähe. Bisher jedoch hatte es in unserem Gebiet noch keinerlei ErVgl. Jak 1, 23. Vgl. Cant 3, 6. c  Vgl. Ps 114, 9, und Ps 26, 13. d  Vgl. Cant 3, 2. e  Vgl. Cant 3, 4. f  Vgl. Act 27, 41. g  Vgl. Ps 41, 3. a 

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wähnung von jenen Häretikern gegeben, und dennoch hatte ihr der Herr häufig gleichsam im Geist klagend gesagt, dass er jenes Land schon fast gänzlich verloren habe, und dass er aus diesen Gebieten wie ein Verbannter aus der Heimat hinausgeworfen worden sei. Als aber die heiligen Märtyrer Christi, die aus fernen Ländern im Eifer für den Gekreuzigten zu einem Ort, der Berg der Freude (Mongey)a heißt, gekommen waren, um die Schmach Christi zu rächen, eben dort von den Feinden des Kreuzes Christib getötet wurden, da sah sie (Maria), obwohl sie durch so weite, dazwischen liegende Länder entfernt war, wie heilige Engel sie beglückwünschten und die Seelen der Getöteten ohne jegliches Fegefeuer zu den überirdischen Freuden trugen. Sie entwickelte deshalb einen solch großen Eifer für diesen Kreuzzug, dass sie kaum hätte zurückgehalten werden können, wenn sie ohne eine Verärgerung ihrer Nächsten sich irgendwie hätte anschließen können. Als wir sie gleichsam im Scherz fragten, was sie dort tun würde, wenn sie hingelangt wäre, sagte sie: “Ich würde zumindest meinem Herrn die Ehre geben, indem ich dort seinen Namen bekennen würde, wo so oft Ungläubige ihn gotteslästerlich verleugneten.” Als aber einer unserer Vertrauten und Freund unseres Hauses in Oignies starb, nachdem er das Kreuz genommen hatte, sah sie eine Menge von Dämonen, die brüllten, wie wenn sie sich zum Mahl bereiteten, und als sie die Dämonen schalt und ihnen befahl, sich von dem Diener Christi zurückzuziehen, der mit der Fahne des Kreuzes gerüstet war, dichteten jene ihm boshaft viele Verbrechen an und hielten ihr entgegen, dass er in Wirklichkeit überhaupt nicht dorthin gegangen war. Und als sie für den Todkranken zum Herrn gefleht hatte, sah sie wie ein leuchtendes Kreuz über ihn herabkam und ihn von allen Seiten beschützte. Und obwohl jener Mann, durch den Tod verhindert, seinen Kreuzzug nicht vollendet hatte, wurde eben diesem Kreuzritter ein großer Teil des Fegefeuers erlassen, deswegen, weil er den Willen gehabt habe, und es nicht an ihm lag, wie der Herr der heiligen Frau offenbarte. a  b 

Mongey, arr. Castres (Tarn), im April 1211, s. (H), S. 134, Anm. zu Z. 978. Vgl. Phil 3, 18.

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Einer unserer Freunde von adligem Geschlecht, adliger allerdings im Glauben, der Gott fromm diente und der alles, so weit es an ihm lag, für Christus aufgegeben hatte, hatte eine sehr weltliche Frau, die sich seinem Vorhaben widersetzte. Und als jener sehr fürchtete, dass ihn die böse Frau aus seinem Haus werfen würde – es gibt nämlich, wie Salomon sagt, drei Dinge, die einen Mann aus seinem Haus werfen: Rauch, Regentropfen und eine zänkische Fraua – brachte die heilige Frau, die Mitleid mit dem jungen Mann hatte, dem Herrn für dessen Frau viele Gebete dar und sagte, indem sie jenen vornehmen Mann freundlich tröstete, voraus, dass sich seine Frau demnächst zum Herrn bekehren werde, wovon wir erfahren haben, dass es auch geschehen ist und dem Herrn Danksagungen entgegen brachten. Denn auch sie verachtete fortan vollkommen die Eitelkeit der Welt und wie sie sich früher dem frommen Vorhaben des Ehemannes widersetzt hatte, so förderte sie es bald darauf und zog gleichsam durch Voranschreiten denjenigen vorwärts, den sie früher durch Behindern zurückzog. Eines Tages, als ein Kanoniker der Kirche der heiligen Gertrud in Nivelles im Todeskampf lag, wollten die Brüder von Oignies aus einem gutem Grund den Tag seines Todes wissen. Und als sie einem Laien aus Nivelles sagten, der damals gerade in Oignies war, er sollte zurückgehen und ihnen ausrichten, wann der Kanoniker gestorben sei, sagte ihm die heilige Frau: “Wenn du richtig berichten willst, wozu du beauftragt bist, dann musst du dich morgen früh rasch auf den Weg machen.” Und als jener am nächsten Tag Nivelles betrat, wurden bereits die Glocken für den Verstorbenen geläutet. In der Nacht des Dienstag vor dem Beginn der Fastenzeit,b an dem weltliche Menschen sich gewöhnlich der Gelage hingeben,c sah sie einige Dämonen traurig und beschämt von einer bestimmten frommen Frau wiederkommen, die sie zwar mit Versuchungen schwer geplagt hatten, aber weil der Herr ihr zu Hilfe geeilt war, in keiner Weise die Oberhand gewonnen hatten. Als sie aber die Frau nachher fragte, wie es ihr ergangen sei, sagte sie: “Ich war sehr beVgl. Prov 19, 13 und Prov 27, 15, (vgl. Weish 5, 15). Caput ieiunii] bedeutet der Anfang der Fastenzeit. c  Vgl. Dtn 21, 20. a 

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lastet, aber in jener Stunde wurde ich durch die Gnade Gottes befreit.” Und sie erkannte, dass sie in jener Zeit gesehen hatte, wie die Dämonen verwirrt zurückgewichen sind. Ein Priester aber feierte einmal in ihrer Gegenwart die Messe, und weil sie für jenen Priester häufig betete, nahm jener sich vor, da er nichts von größerem Wert besaß, um es ihr zu schenken, für sie eine Messe zu feiern, um nicht undankbar zu erscheinen. Nachdem der Priester die Messe beendet hatte, sprach sie zu ihm: “Diese Messe war die meine: Heute nämlich habt Ihr für mich den Sohn dem Vater (als Opfer) dargebracht.” Und da jener sich wunderte und fragte, woher sie das gewusst hätte, denn nur Gott der Herr allein kennt die Gedanken der Menschen,a sprach sie: “Ich habe eine sehr schöne Taube über Eurem Haupt auf den Altar herabfliegen sehen, die gleichsam im Flug ihre Flügel zu mir hin ausbreitete, und ich erkannte im Geist, dass der Heilige Geist jene Messe auf mich übertrug.” Wenn aber Priester würdig und fromm die Messen feierten, sah sie, wie die heiligen Engel sich freuten und in großer Heiterkeit mit den Priestern mitwirkten und wie sie eben diese Priester mit gütigem Gesichtsausdruck anschauten und sie sehr andächtig verehrten. Wehe den elenden Priestern, den Genossen des Verräters Judas,b die Christus zum zweiten Mal kreuzigen,c wo sie nur können, die das Blut des neuen Bundes für unrein erachten,d die mit ihren unreinen Händen, ihren schamlosen Augen, ihrem vergifteten Mund, ihren unreinen Herzen, während sie sich dem ehrwürdigen Sakrament unwürdig nähern, die anwesenden heiligen Engel beleidigen und sich auf erbärmliche Weise von der Heil bringenden Medizin anstatt des Heils den Tod erwerben. Als einmal einer ihrer allerliebsten Freunde in Paris zum Priester geweiht wurde, war sie, obzwar körperlich abwesend, im Geiste anwesend und sah, wie er geweiht wurde und wie es ihm erging, als er zum Priester gesalbt wurde und sah alles, den Ort der Priesterweihe und das Gewand des Priesters und den Seelenzustand des Geweihten und berichtete es dem verwunderten Priester so, Vgl. Vgl. Ps 93, 11 (I Kor 3, 20). Vgl. Lk 6, 16. c  Vgl. Hebr 6, 6. d  Vgl. Hebr 10, 29. a 

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wie sie es gesehen hatte. Als sie ihm einen Brief nach Paris schickte, schrieb sie unter anderem etwas, das jener Priester, bis es erfüllt war, nicht verstehen konnte, das heißt folgendes oder ähnliches: “Ein neuer Baum ist schon erblüht, dessen erste Früchte der Herr für mich bestimmt hat.” Als sich der Priester aber vorgenommen hatte, seine erste Messe in Frankreich zu feiern, geschah es, wie es dem Herrn gefiel, dass er sie erstmalig in Oignies, in Gegenwart der heiligen Frau feierte.

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8.  Der Geist der Weisheit 87

Damit aber der kluge Künstler sein Werk, der höchste Priester seinen Tempel, der erhabene König seine Tochter zum Gipfel der Vollkommenheit führe, schmückte er sie ansehnlich und zierte sie herausragend, gleichsam zur Würze der anderen, mit der siebten Gabe des siebenförmigen Geistes,a das heißt, mit dem Geist der Weisheit, was in Bezug auf die Würde das erste, in Bezug auf die Vollendung aber das letzte ist. Durch den Wohlgeschmack dieser Weisheit schmeckte und sah sie, wie lieblich der Herr ist:b Wenn ihre Seele so wie mit Fett und Öl erfüllt wurde,c und wenn sie am Tisch des Herrn zusammen mit Josef zur Mittagszeit trunken wurde,d und wenn sie sich im Überfluss der Köstlichkeiten auf ihren Geliebten gestützt,e von den Lippen des Bräutigams Honig und Milch saugte und im Garten der Lust das verborgene Manna aß,f wurde ihr Herz durch die honigfließende Gabe dieser Weisheit im Innersten angerührt, ihre Worte wurden versüßt, alle ihre Taten wurden durch die Lieblichkeit der geistigen Salbung geschmeidig gemacht, war sie milden Herzens, freundlichen Munds, lieblicher Tat, trunken in Nächstenliebe, so sehr aber trunken und vom sinnlich Wahrnehmbaren gelöst, dass sie einmal, als wir zur Non Vgl. Jes 11, 2–3. Vgl. Ps 33, 9 (I Petr 2, 3). c  Vgl. Ps 62, 6. d  Vgl. Gen 43, 16 und 34. e  Vgl. Cant 8, 5. f  Vgl. Cant 4, 11 ; Ez 36, 35, ; Joel 2, 3 ; Apk 2, 17. a 

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oder zur Vesper läuteten, gleichsam erwachend, fragte, ob noch Prim sei. Als sie einmal drei Tage hindurch ununterbrochen in ihrem Bett gelegen und mit dem Bräutigam süß geruht hatte, gingen jene Tage vor übergroßer süßer Freude so unbemerkt vorüber, dass es ihr schien, sie habe kaum einen Augenblick gelegen. Manchmal hungerte sie nach Gott mit wunderbarer Vielfalt an Gefühlen, manchmal aber dürstete sie nach ihm. Und weil geschrieben steht: Die von mir essen, werden weiter Hunger haben, und die von mir trinken, werden weiter Durst haben (Sir 24, 29), wuchs ihr Verlangen umso mehr, je mehr sie Gott spürte: Sie hatte Angst, schrie, flehte, dass er bleiben solle, und damit er sich nicht zurückziehe, band sie ihn gleichsam, indem sie ihn mit ihren Armen umklammerte, beschwor ihn unter Tränen, sich ihr mehr zu zeigen. Einmal aber, wie es ihr schien, band sie ihn drei oder mehr Tage hindurch wie einen Säugling, der zwischen ihren Brüsten ruhtea und verbarg sich, damit sie von den anderen nicht gesehen wurde, ein anderes Mal spielte sie mit ihm küssend wie mit einem Knaben; bald zeigte sich der fromme Sohn der Jungfrau seiner Tochter zum Trost wie ein zahmes Lamm auf ihrem Schoß, bald wie eine Taube, bald besuchter er, wie ihr schien, gleichsam als der Widder,b der einen leuchtenden Stern auf der Stirn hat, seine Gläubigen, indem er in der Kirche umherging. So wie nämlich sich der Herr den zweifelnden Jüngern in Gestalt eines Fremdlings zeigte,c so wie er die Gestalt eines Kaufmannsd annahm, als er den heiligen Thomas nach Indien sandte, so geruhte er sich seinen Freunden zum Trost in liebenswürdiger Gestalt zu zeigen, so wie nach dem Zeugnis des heiligen Hieronymus, die heilige Paula ihn als Säugling in der Krippe liegen sah,e als sie nach Bethlehem kam. An den unterschiedlichen Festen des Herrn zeigte er sich ihr, indem er gleichsam sein Fest verkörperte, so an WeihnachVgl. Cant 1, 12. Das Sternzeichen Widder ist gemeint. c  Vgl. Lk 24, 15–18. d  Vgl. Acta Thomae c. 2 (BHL 8136); Mombritius, Sanctuarirum 2, S. 606, 13ff, s. (H), S. 139, Anm. zu Z. 2205. e  Hieronymus, Ep. 108, 10, CSEL 55, S.  316, 12–14, s.  (H), 139, Anm. zu Z. 1106–1108. a 

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ten, wo er wie ein Säugling an der Brust der jungfräulichen Mutter trank oder in der Krippe schrie, und dann fühlte sie sich zu ihm hingezogen wie zu einem Jungen, wobei sie entsprechend den verschiedenen Erscheinungen verschiedene Gefühle hatte, und so wurden in jedem einzelnen Jahr die Feste erneuert. Am Reinigungsfest sah sie die heilige Jungfrau ihren Sohn im Tempel darbringen und Simeon ihn auf den Arm nehmen,a und sie war während dieser Vision nicht weniger ausgelassen vor Freude als wenn sie zugegen gewesen wäre, als es im Tempel geschah. Einmal aber an diesem Fest, als ihre Kerze bei der Prozession lange schon ausgelöscht war, erhielt sie plötzlich ein sehr helles Licht, wobei niemand außer Gott es anzündete. In der Passionszeit erschien ihr der Herr ab und zu am Kreuz, aber selten, weil sie es kaum aushalten konnte. Wenn irgendein großes Fest bevorstand, empfand sie acht Tage vorher Freude, und so wurde sie je nach dem Lauf des ganzen (Kirchen-)Jahres auf verschiedene Weise verändert und wunderbar angerührt. Wenn aber der Festtag eines Heiligen bevorstand, kündigte jener Heilige ihr sein Fest an, kam an seinem Tag zu ihr und besuchte sie mit einer Schar himmlischer Gefährten, so dass ihr Geist mit jenem Heiligen den ganzen Tag über mit Freude ruhte. Auf Grund ihrer vertrauten und häufigen Gespräche mit den Heiligen unterschied sie einen Engel oder Heiligen vom anderen, so wie jemand einen seiner Nachbarn vom anderen zu unterscheiden weiß. Manchmal kündigte ihr sogar ein Heiliger, der in dieser Gegend ganz unbekannt war, sein Fest an, das in einer weit entfernten Gegend stattfand, damit sie sich an seinem Festtag freute. Auch wenn niemand etwas ankündigte, unterschied sie mit dem Gaumen ihres Herzensb Festtage von Tagen, die keine Festtage waren, deswegen, weil ihr Festtage süßer schmeckten als einfache Tage: Sie feierte nämlich die Festtage, die in ihrer Seele eingeschrieben und in ihrem Herzen gedruckt waren wie in einem MartyroloVgl. Lk 2, 25–28. Augustin, Serm. 149, MPL 38, 801 (c. 3), 4 : in quodam quasi palato cordis; Augustin, Enarr. in psalmos 61, 1, CCSL 39, S. 772, 4–5 : palato cordis vestri; Augustin, Tract. in evangelium Iohannis 7, 2, CCSL 36, S. 68, 23–24: palatum sanum in corde, s. (H), S. 141, Anm. zu Z. 1135. a 

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gium. Als sie daher einmal in der Kirche Sankt Gertrud in dem Städtchen mit Namen Lenlosa war, und ein Fest der heiligen Jungfrau Gertrud am kommenden Tag sein sollte, und der Priester derselben Stadt dem Fest aber keine Aufmerksamkeit schenkte, spürte sie in ihrer Seele das Fest bevorstehen und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Und als der Priester nicht erschien und auch kein anderer, um die Glocken zu läuten, wie es gewöhnlich an den Vorabenden von Festtagen gemacht wird, erhob sie sich von dem Ort, an dem sie war und begann die Glocken zu läuten, so gut sie konnte. Als der Priester dies vernommen hatte, wunderte er sich und lief zur Kirche und sagte: “Warum läutet Ihr, wie wenn ein Fest wäre, obwohl wir nicht die Gewohnheit haben, zu dieser Stunde zu läuten, außer wenn Festtag ist?” Da sagte sie scheu und furchtsam: “Verzeiht mir, Herr, es ist nämlich ein großes Fest in dieser Nacht, nur weiß ich nicht, wessen: Ich spüre nämlich, dass diese Kirche schon mit Freude erfüllt ist.” Darauf entdeckte der Priester nach Öffnen des Kalenders, dass am kommenden Tag das Fest der heiligen Gertrud stattfinden müsste.b Sie hatte aber vom Herrn so viele und so große Tröstungen, dass sie ohne irgendjemandes Gesellschaft und ohne Melancholie oder Überdruss stets an ein und demselben Ort bleiben konnte, freilich auf keinerlei äußerliche Dinge, so wie es bisweilen geschieht, zur Entspannung bedacht zu sein. Einmal aber, als sie in ihrer Zelle saß, hörte sie die allerlieblichste Stimme des Herrn sprechen: “Das ist meine geliebte Tochter, an der ich sehr großen Gefallen habe.”c Als sie aber entrückt wurde, schien es ihr, als ob sie ihren Kopf auf den Knien des verherrlichten Christus hielte. Einmal wurde sie nach vorheriger Ankündigung durch einen der Engel von eiSo auch bei Thomas von Cantimpré, Bonum universale de apibus 2, 54(10), S. 522: de Nivella in Lenlos ad duo fere miliaria properabat, s. (H), Einleitung, S. 33, Anm. 31. b  Der historische Hintergrund dieser Geschichte mag in der Erstarrung des Gertrudenkults seit dem 13. Jahrhundert liegen. Vorher war die Verehrung der heiligen Gertrud im Herzogtum Brabant bedeutend gewesen, weil Gertrud die Hausheilige der Brabanter Herzöge war, s. Zender, Matthias, Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde, Düsseldorf 1959, 96–98. c  Vgl. Mt 3, 17 und II Petr 1, 17. a 

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nem der himmlischen Heiligen gegrüßt. Als sie einmal vor dem Altar des heiligen Nikolaus betete, schien ihr, es flösse Milch aus seinen Reliquien. Sie sah sogar manchmal von dem Bild des Gekreuzigten Strahlen ausgehen und bis zu ihr reichen und gleichsam zu ihrem Herzen vordringen, durch dies alles sie sehr erfreut und ihr Geist bei solchen Gelegenheiten auf wunderbare Weise gestärkt wurde. Es erschien ihr einmal der heilige Bernhard, der Vater und die Leuchte des Zisterzienserordens,a der gleichsam mit Flügeln ausgestattet war und breitete seine Flügel um sie aus. Als sie lange mit ihm im Chor der Kirche gesessen hatte und ihn fragte, welcher Art diese Flügel seien, antwortete er, dass er wie ein Adler im Höhenflug mit dem Feinsten und Höchsten der göttlichen Schrift in Berührung gekommen sei und der Herr ihm viele der himmlischen Geheimnisse erschlossen habe. Da sie aber für den heiligen Evangelisten Johannes eine starke Verehrung hatte und ihn besonders liebte, geschah es, dass sie einem Priester unter vielen Tränen und unter Seufzen eine geringe lässliche Sünde beichtete. Und als jener Priester fragte, warum sie denn derart in Tränen aufgelöst sei, sagte sie: “Ich kann die Tränen nicht zurückhalten.” Sie sah nämlich einen Adler über ihrer Brust,b der seinen Schnabel in ihre Brust wie in eine Quelle tauchte und die Luft mit großem Geschrei erfüllte, und verstand im Geist, dass der heilige Johannes ihre Tränen und ihr Seufzen zum Herrn trug. Einmal sah sie einen Priester unter Tränen fromm die Messe feiern, und es schien ihr, dass eine Taubec auf die Schulter des Priesters herabflog und dass eine leuchtend helle Quelle aus seiner Schulter hervorsprudelte. Einmal sah sie in höchster Helligkeit den Sohn der Jungfrau wie einen Knaben bei der Pyxis, in der der Leib Christi aufbewahrt wurde. Als wir sie fragten, welcher Art diese Helligkeit a  Gemeint ist Bernhard von Clairvaux, s. Jakob von Vitry, Historia occidentalis, Hg. John F. Hinnebusch, Fribourg 1972, S. 114, 3–5 (c. 14) : sanctum…Bernardum… lucernam ordinis, s. (H), S. 142, Anm. zu Z. 1171. b  Der Adler ist das Symbol für den Evangelisten Johannes, vgl.  Augustin, Tract. in evangelium Iohannis 36, 1, CCSL 36, S. 323, 1–3 : sanctus Iohannes apostolus, non immerito secundum intelligentiam spiritalem aquilae comparatus, s. (H), S. 143, Anm. zu Z. 1181. c  Vgl. Lk 3, 22.

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gewesen sei, antwortete sie, dass, wie das Licht der Sonne das Licht einer Kerze übertrifft, so oder noch mehr jene Helligkeit die Helligkeit der Sonne übertraf. Wenn aber irgendwelche Reliquien in unsere Kirche überführt wurden, ahnte sie die Ankunft der Reliquien im Geiste voraus und frohlockte die ganze Nacht mit den heiligen Reliquien und sah, wie Christus sich freute und die anderen Reliquien gleichsam mit Jubela und Verehrung die neuen Reliquien aufnahmen; ob die Reliquien echt waren, nahm ihr Geist auf wunderbare Weise wahr. Von dem bescheidenen Kreuz aber, das sich in der Kirche von Oignies befindet, in dem etwas vom Holz des heiligen Kreuzes enthalten ist, sah sie einen sehr leuchtenden Lichtstrahl, gleichsam von himmlischem Glanz, ausgehen. Einer unserer Vertrauten und ein Freund unseres Hauses fand unter den anderen Reliquien, die er besaß, den Knochen eines Heiligen ohne Beschriftung, wusste aber nicht, wessen Reliquien es waren, und als er die Reliquien zu ihr gebracht hatte, damit sie sie bestimmte, nahm sie im Geist die Kraft und die Echtheit der Reliquien wahr. Und als sie betete, Gott möge ihr zeigen, wessen Knochen es seien, erschien ihr ein sehr verdienstvoller und berühmter Heiliger. Die heilige Frau fragte: “Wer bist du?” Er aber nannte nicht seinen Namen, sondern schrieb vier Buchstaben vor die Augen ihres Geistes, und als sie die Buchstaben im Gedächtnis behielt, aber nicht wusste, was sie bedeuteten, rief sie einen Kleriker und sagte ihm die Buchstaben, das heißt, A.I.O.L., und fragte was sie bedeuteten. Er setzte die Buchstaben aneinander und verband sie und beantwortete die Frage, dass das Aiol bedeute. Da wusste sie gewiss, dass die besagten Reliquien die des heiligen Aigulf waren,b der in Provins in der Champagne sehr verehrt wird.c Wenn sie aber vor Verlangen nach dem ewigen Genuss, vor Liebe zur Schau Gottes, wegen der Verzögerung der ersehnten Seligkeit in dieser Verbannung ermattete, war ihr das Manna des Vgl. Act 2, 46. Die Verbindung zwischen Aiol und der lateinischen Form Aigulfus ist der Sprachentwicklung vom Lateinischen zum Altfranzösischen geschuldet. Maria sprach französisch (saint) Ayeul aus, s. (H), S. 144, Anm. zu Z. 1214–1217. c  Gemeint ist hier der Abt von Lérins (OSB), dessen Reliquien in der Tat in Provins (Seine-sur-Marne) verehrt wurden: Catholicisme 1, 1948, Sp. 244–245, s. (H), S. 144, Anm. zu Z. 1214–1217. a 

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himmlischen Brotes die einzige und höchste Medizin und einzigartiger Trost, bis sie ins Land der Verheißung käme. Dadurch wurde die Angst und das Verlangen ihres Herzens gemäßigt, dadurch wurden alle Schmerzen gelindert, ihr Geist gestärkt, durch dieses höchste und vornehmste Sakrament hielt sie alle Drangsal dieses Pilgerdaseins geduldig aus, überwand alle Mühen dieser Einöde, durch diese Speise belebt, schätzte sie alle Mängel dieses Elends gering. Das heilige Brot stärkte ihr Herz, der heilige Wein machte ihren Geist fröhlicha und trunken, das heilige Fleisch machte sie satt, das lebendig machende Blut wusch und reinigte sie. Diesen einzigen Trost konnte sie nicht lange entbehren: Leben und den Leib Christi empfangen war für sie ein und dasselbe, es bedeutete für sie sterben, von diesem Sakrament längere Zeit durch Enthaltsamkeit getrennt zu sein. Sie hatte nämlich schon in dieser Welt durch Erfahrung gelernt, was der Herr im Evangelium sagt: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, werdet ihr nicht das Leben in euch haben. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben (Joh 6, 54–55). Für sie war diese Rede nicht hart, so wie für die Juden,b sondern süß, da sie ja alle Freude und alle Lieblichkeit des Geschmacks, nicht nur innerlich in der Seele, sondern sogar in ihrem honigerfüllten Mund beim Verkosten spürte und den Herrn unter der Gestalt eines Knaben, unter dem Geschmack von Honig zusammen mit dem Duft von Gewürzen in der reinen und geschmückten Kammer ihres Herzens glücklich empfing. Und wenn sie durch ihr Dürsten nach dem lebendig machenden Blut nicht länger *** machen konnte, verlangte sie bisweilen danach, nach den Messfeiern wenigstens den leeren Kelch auf dem Altar lange betrachten zu können.

9. Ihre Ankunft in Oignies 93

Aber da wir das wertvolle Geschmeide dieser Königstochter, die duftenden Gewänder dieser Braut Christi, zwar nicht genügend, a  b 

Vgl. Jdc 9, 13, vgl. auch Ps 103, 15. Vgl. Joh 6, 61.

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jedoch so gut wir es konnten, beschrieben haben, gehen wir jetzt eilends zu den Troddeln ihrer Gewänder über, nämlich zu ihrem seligen Heimgang, um dem Herrn auch das Ende unseres Schlachtopfers darzubringen. Als sie sich schon lange Zeit in dem bereits oft genannten Ort namens Willambroc selbst dem Herrn geopfert hatte, konnte sie die Menge der Menschen nicht mehr ertragen, die aus der Nachbarschaft der nächsten Stadt mit Namen Nivelles aus Frömmigkeit zu ihr hinliefen, während sie nur für Gott frei zu sein wünschte. Und als sie so oft und mit vielen Bitten zum Herrn gefleht hatte, dass der Herr einen für ihr Vorhaben geeigneten Ort und Personen für seine Magd besorgte, die ihrem Wunsch demütig nachgeben würden, wie es Gott gefällt,a zeigte er ihr im Geist den Ort Oignies, den sie niemals vorher gesehen hatte, über den auch wegen der Neuheit und der Armut des Hauses damals unter den Menschen überhaupt kaum geredet wurde. Lange Zeit aber überlegte sie bei sich und wusste nicht, wie der Ort beschaffen war, vertraute aber der Verheißung des Herrn und erhielt lange Zeit bevor sie zu diesem Ort kam, von ihrem Ehemann Johannes und dessen Bruder, ihrem geistlichen Vater, Meister Guido, da sie ja ein Kind des Gehorsams war,b die Erlaubnis, diesen Ort zu besuchen und dort, wenn er gefiele, zu bleiben. Jene aber gaben leicht nach, um diejenige, die sie mit inniger Zuneigung liebten,c nicht zu betrüben, denn auch Gott gab ihnen ein, nachzugeben, und sie glaubten auch keineswegs, dass sie an einem solchen Ort bleiben würde, den sie niemals kennen gelernt hatte und auch keine Bekanntschaft mit den an diesem Ort Lebenden hatte. Darauf brach sie, mit Gottes Geleit, zu dem Ort auf, der ihr bestimmt war, und als sie noch ein Stück Wegs entfernt war, kam ihr der heilige Nikolaus, der Schutzpatron desselben Ortes, mit großer Freude entgegen und geleitete sie bis zu seiner Kirche. Sie wunderte sich aber sehr an jenem Tag, während sie noch unterwegs war, denn sie spürte in ihrem Herzen, dass ein großes Fest des Vgl. Röm 8, 27 und öfter. Vgl. I Petr 1, 14. c  Augustin, De gestis Pelagii 25, 49, CSEL 42, S. 103, 7 : viscera caritatis, s. (H), S. 146, Anm. zu Z. 1268–1269. a 

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heiligen Nikolaus bevorstand: Sie wusste nämlich sehr wohl, dass der Festtag des heiligen Nikolaus vor Weihnachten und nicht im Mai, der gerade damals war, gefeiert zu werden pflegt.a Dennoch veranstalteten die Brüder von Oignies am Tag ihrer Ankunft ein großes Fest aus Anlass seiner Translation. Sobald sie aber an jenen Ort gekommen war, kannte sie auf wunderbare Weise sowohl die Anlage des Ortes als auch die Brüder desselben Hauses, so wie es ihr der Herr zuvor gezeigt hatte, und sie nahm auch wahr, dass das ein Fest des heiligen Nikolaus war, und sagte voraus, dass sie an demselben Ort ihren letzten Lebenstag beschließen werde, zeigte mir später auch heimlich in der Kirche, wo sie nach ihrem Tod ihr Grab haben sollte. Das bewies später der Ausgang der Sache, denn in dem Ort Oignies beglich sie durch ihr Sterben, was sie der Natur schuldig war, auch wenn viele sie später zurückzuführen versuchten, und wurde nach dem Tod in dem Teil der Kirche begraben, den sie mir vorhergesagt hatte, obwohl einige wollten, dass es anders geschehe.

10. Ihr Aufenthalt in Oignies, und was ihr an eben diesem Ort geschah 95

Nachdem sie aber auf Befehl des Herrn aus ihrem Land und von ihrer Verwandtschaftb gegangen war, nachdem sie im Schatten dessen umso süßer je sorgenfreier saß, nach dem sie verlangt hatte,c da wäre es mir nicht möglich, mit dem Geist zu erfassend und schon gar nicht, mit Worten auszudrücken, wie große Wohltaten ihr der Herr an jenem Ort erwies, wie oft er sie reichlicher als gewohnt mit den Tröstungen der heiligen Engel besuchte, wie oft sie mit der Mutter Gottes in der Kirche vertrauliche Unterredungen hatte, wie oft ihr der Herr leibhaftig erschien. Je mehr aber das von ihr begehrte Ende, je mehr das letzte Jahr ihres zeitlichen Lebens näher Die Translation des heiligen Nikolaus wurde am 9. Mai gefeiert. Vgl. Gen 12, 1. (Act 7, 3). c  Vgl. Cant 2, 3. d  Vgl. Jer 50, 45 und Koh 1, 8. a 

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rückte, desto verschwenderischer öffnete ihr der Herr die Schatzkammern seiner übergroßen Freigebigkeit. Als aber das letzte Jahr bevorstand, das der Herr ihr versprochen hatte, das sie auch selbst vor Freude nicht verheimlichen konnte – denn sechs Jahre zuvor hatte sie es Magister Guido von Nivelles angekündigt und uns häufig, sowohl das Jahr als auch die Zeit ihres Todes vorausgesagt, ohne jedoch den Tag zu nennen – da konnte sie sich kaum mehr zurückhalten, keuchte, seufzte und schrie vor Verlangen, gleichsam vor Ungeduld über die Verzögerung, während sie den Herrn umarmte: “Herr, ich will nicht, dass du ohne mich zurückkehrst: Ich will hier nicht länger verbleiben, ich sehne mich danach, heimzukehren.” Und wenn sie so in Ekstase gefallen war, und von heftigem Verlangen gepeinigt wurde, dann schien sie auf wunderbare Weise auf Grund der Fülle ihres Herzens körperlich fast ganz zu zerbrechen, und wenn sie wieder zu sich kam, konnte sie lange Zeit danach nicht auf ihren Füßen stehen. Während sie schreiend entrückt wurde, schien sie aufgrund der Glut ihres Geistes im Gesicht wie aus Feuer zu sein, und was noch wunderbarer ist, während sie sich in dieser Ekstase befand, konnte sie in das Rad der materiellen Sonne schauen, ohne dass die Blicke ihrer Augen geblendet wurden. Darauf konnte sie, trunken, nicht schweigen, sondern rief: “Es ist mir vom Herrn gesagt worden, dass ich ins Allerheiligstea eingehen werde. Oh, was für ein süßes Wort! Sag mir, Clementia, was i s t das Allerheiligste?” So nämlich hieß ihre Magd, die sie aufgrund ihrer Trunkenheit nach der Bedeutung des Wortes fragte, die beide nicht kannten; dennoch wiederholte sie das Wort oft, denn es schmeckte ihrem Herzen süß. Und als sie wieder zu sich kam und sich wunderte, dass sie heftiger als üblich entrückt worden war, wurde ihr gesagt: “Wundere dich nicht, denn dies ist das letzte Jahr. Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit,” und sie hörte die Stimme des Herrn sie rufen und sprechen: “Komm, meine Freundin, meine Braut, meine Taube,b und du wirst bekränzt werden.” Manchmal aber, wenn sie vom heftigen Geist angetrieben wurde und sich mehr als gewöhnlich vergaß, sagte sie, aufgrund der Füla  b 

Vgl. Ex 26, 34. Vgl. Cant 2, 10 und 5, 2.

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le ihres Herzens unter vielem anderen folgendes: “Die Kleider der Königstochter riechen wie Duftstoffe, und die Glieder ihres Körpers sind vom Herrn wie wertvolle Reliquien geheiligt worden.” In dem Jahr aber, in dem sie zum Herrn hinüberging, als ich mich aufgrund des Amtes, das mir vom Gesandten des Papstes anbefohlen worden war, anschickte, denjenigen zu predigen und sie mit dem Kreuzzeichen zu versehen, die der Herr für den Kampf gegen die Häretiker begeistern würde, fragte sie mich, wann ich zurückzukehren beabsichtige. Und als ich antwortete, dass ich lange Zeit wegbleiben werde, sagte sie, da sie vor Quadragesima überhaupt noch keine Schwäche hatte: “Also hinterlasse ich Euch als Vermächtnis einige Dinge, von denen ich möchte, dass Ihr sie nach meinem Tod bekommt:” denn sie hatte ihren Tod, wie gesagt, lange vorhergesehen und sagte mir, dass die Auflösung ihres Körpers bevorstehe. Und weil sie nicht wusste, wann ich zurückkehren würde, beschloss sie, ihr Testament zu machen und hinterließ mir den Gürtel, mit dem sie sich gegürtet hatte und das Schweißtuch aus Leinen, mit dem sie ihre Tränen zu trocknen pflegte und noch einige andere Kleinigkeiten, die mir aber wertvoller sind als Gold und Silber. Als aber die Zeit der ersehnten Krankheit, die Zeit der letzten Schwäche bevorstand und nahe war, sagte sie zu ihrer Magd, einer frommen Jungfrau, die ihr diente: “Ich fürchte, dass ich dir und anderen eine Last sein werde: durch eine lange und schwere Krankheit muss ich von dieser Welt zum Herrn hinübergehen. Wer wird mir so lange helfen können?” Sie fürchtete nämlich immer, dass jemand durch eine Angelegenheit von ihr belastet würde, obwohl doch fast alle eher Schmerz darüber empfanden, dass sie ihr nicht öfter beistehen und dienen konnten. Sie sagte aber voraus, dass sie an einem Montag tot auf der Erde liegen würde. Daher fastete sie das ganze Jahr hindurch fast immer an eben diesem Tag, auf die Weise, dass sie an diesem Tag überhaupt nichts aß. Je näher aber ihre Zeit kam, desto unablässiger bemühte sie sich, dem Herrn Tag und Nacht zu dienen und zu gefallen. Daher nahm sie vom Fest der Verkündigung der heiligen Jungfrau bis zum Fest des heiligen Johannes des Täufersa nur elf Mal und in a 

Vom 25. März bis zum 24. Juni.

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geringer Menge körperliche Speise zu sich, war aber immer fröhlich und erwartete den Hochzeitstag mit Frohlocken. Sie war aber sehr mit dem heiligen Apostel Andreas vertraut, der sich mit so großer Liebe an das Kreuz des Herrn band, dass er davon nicht herabsteigen wollte,a und liebte ihn am meisten unter den anderen Heiligen. Der heilige Apostel Christi selbst aber sagte der Magd Christi vor ihrer letzten Krankheit voraus: “Habe Vertrauen, Tochter, denn ich werde dich nicht verlassen: so wie ich nämlich den Glauben an Christus bekannt und ihn nicht verleugnet habe, so werde ich dir am Tag deines Hinübergehens beistehen, und ich werde mich vor meinem Gott zu dir bekennen und werde für dich Zeugnis ablegen.”

11. Ihr Gesang vor ihrer Krankheit

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Schon war die versprochene Zeit nahe, die sie mit vielen Tränen vorweggenommen, mit viel Seufzen und Stöhnen gefordert hatte. Und siehe, plötzlich erklang ein Ton,b und man hörte die Stimme einer Turteltaube in unserer Kirche,c eine Stimme des Frohlockens und Bekennens wie der Ton eines bei einem Festmahl Schmausenden und Jubelnden,d gleichsam der Ton des erhabenen Gottes, es trocknete Gott jede Träne von den Augen seiner Tochtere und erfüllte ihr Herz mit Frohlocken und ihre Lippen mit Musik. Sie begann nämlich, mit lauter und heller Stimme zu singen und hörte drei Tage und Nächte lang nicht auf, Gott zu loben, ihm zu danken, begann, ein sehr liebliches Lied über Gott, die heiligen Engel, die heilige Jungfrau, andere Heilige, ihre Freunde, die göttlichen Schriften, rhythmisch und mit süßer Harmonie zusammenzufügen, dachte weder darüber nach, Sätze zu erfinden, noch hielt sie sich damit auf, die gefundenen Sätze rhythmisch anzuordnen, sondern der Herr gab ihr in jener Stunde ein, was Vgl. Hebr 13, 5. Vgl. Ps 41, 5. c  Vgl. Cant 2, 12. d  Vgl. Act 2, 2. e  Vgl. Apk 7, 17 und 21, 4. a 

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sie sagen sollte,a wie wenn es vor ihr geschrieben werde: mit ununterbrochenen Ausrufen jubelte sie und hatte weder Mühe beim Überlegen noch unterbrach sie den Gesang beim Anordnen. Einer der Seraphim aber, so schien ihr, breitete seine Flügel über ihrer Brust aus, durch dessen Dienst und sanfte Hilfe ihr das Lied ohne jegliche Schwierigkeit eingegeben wurde. Da sie aber den ganzen Tag bis zur Nacht gerufen hatte, wurde ihre Kehle heiser,b so dass sie zu Beginn der Nacht kaum ein Wort herausbringen konnte. Der Prior unseres Hauses aber freute sich, weil am folgenden Tag, das heißt am Sonntag, gewöhnlich weltliche Menschen aus verschiedenen Gegenden zu unserer Kirche kommen, die, wenn sie sie etwa mit einer so hellen und hohen Stimme unablässig singen hörten, daraufhin Anstoß nehmen und sie gleichsam für verrückt halten könnten. Die Kinder der Welt nämlich, die Kinder des Schmerzes,c wundern sich nicht, wenn jemand vor Angst oder Schmerz schreit, wie es bei einer Gebärenden geschieht, sind aber verblüfft und wundern sich, wenn jemand vor Freude schreit und wegen der Fülle seines Herzens nicht schweigen kann. Die Kinder der Freude aber murren oder ärgern sich nicht, wenn sie solches hören, sondern verehren mit aller Demut die Großtaten Gottesd in seinen Heiligen. Nachdem es Morgen geworden war, begann unsere Tamburinspielerin ihr Instrument lauter und heller als gewöhnlich zu spielen: Der Engel des Herrn nämlich hatte in jener Nacht alle Heiserkeit von ihrer Kehle genommen, indem er ihre Brust mit einer wunderbar lieblichen Salbe behandelte und nachdem auf diese Weise ihre Luftröhre wiederhergestellt und ihre Stimme erneuert war, ließ sie fast den ganzen Tag über nicht ab vom Lob Gottes. Die Menschen hörten nur die Stimme des Jubels und den Zusammenklang der Harmonie, nachdem nämlich die Türen geschlossen und alle ausgesperrt waren, waren unser Prior und die Magd der heiligen Frau in der Kirche geblieben, und diese konnten viel von den himmlischen Geheimnissen, die jene Vgl. Lk 12, 12. Vgl. Ps 68, 4. c  Vgl. Lk 16, 8 und 20, 34; vgl. Gen 35, 18. d  Vgl. Ex 14, 13. a 

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sagte, nicht verstehen; gewisse Dinge aber verstanden sie, aber nur weniges konnten sie, ach leider, behalten. Zuerst aber begann sie ihren Wechselgesang auf dem höchsten und äußersten Ton bei der heiligen Dreieinigkeit, indem sie die Dreiheit in der Einheit und die Einheit in der Dreiheit sehr lange pries und ihrem Lied Wunderbares, gleichsam Unaussprechliches über die heilige Dreieinigkeit beimengte, auch einiges aus den göttlichen Schriften neu und auf wunderbare Weise darlegte, vieles auf feinsinnige Weise aus dem Evangelium, aus den Psalmen, aus dem Neuen und dem Alten Testament erörterte, was sie niemals gehört hatte. Von der Dreieinigkeit aber stieg sie zur menschlichen Natur Christi herab, hierauf zur heiligen Jungfrau , und hierauf äußerte sie vieles über die heiligen Engel und die Apostel und in der Folge über die anderen Heiligen. Schließlich sagte sie in einem letzten und untersten Punkt vieles über ihre Freunde, die noch auf der Welt sind, und empfahl sie dem Herrn einzeln der Reihe nach an und ließ viele Gebete für sie zum Herrn strömen, und das alles brachte sie rhythmisch und in romanischer Volkssprache vor. Unter vielem anderem aber sagte sie, dass die heiligen Engel ihr Wissen vom Licht der heiligen Dreieinigkeit hätten, aber vom Licht des Leibes des verherrlichten Christus hätten sie in den heiligen Seelen ihren Gewinn und ihre Freude. Beständig behauptete sie, dass auch die heilige Jungfrau bereits im Körper verherrlicht worden sei, und dass die Körper der Heiligen, die bei der Passion Christi auferstanden,a danach niemals wieder zu Staub geworden seien. Sie sagte auch, und sie freute sich deshalb sehr, dass der Heilige Geist bald ihre Kirche besuchen werde und zahlreicher als gewöhnlich heilige Helfer zum Gewinn der Seelen in die gesamte Kirche schicken und die Welt zu einem sehr großen Teil erleuchten werde. Sie sagte auch, als sie vom heiligen Stephanus, dem ersten Märtyrer, sang, den sie den Rosengarten des Paradieses nannte, dass, als er im Sterben betete, der Herr ihm den heiligen Paulus als Gnadengeschenk gab, und als der heilige Paulus dann zum Märtyrer gekrönt wurde und seinen Geist im Tod aushauchte, war der heilige Stephanus zugegen, und er brachte dem Herrn den Geist a 

Vgl. Mt 27, 52.

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des heiligen Paulus dar und sprach zum Herrn: “Dieses große und einzigartige Gnadengeschenk hast du mir gegeben, und ich gebe es dir mit vielfältiger Frucht zurück.” Indem sie viel zum Herrn flehte und viele Bitten aussprach, bat sie damals auch für einen Prediger, den ihr der Herr gegeben hatte,a der gnädige Herrb möge ihn bewahren, damit sie seinen Geist bei seinem Tode dem Herrn darbringen könne, damit sie, was der Herr ihr gegeben hatte, dem Herrn am Ende mit Zinsc zurückbringen könne. Auf wunderbare Weise zählte sie alle Versuchungen ihres Predigers und fast alle seine Sünden auf, die er einst begangen hatte und bat den Herrn, dass er ihn vor solchen bewahren wolle. Unser Prior hörte es, der das Gewissen jenes Mannes kannte und seine Beichte gehört hatte und trat zu ihm und sprach: “Habt Ihr etwa der Herrin Maria Eure Sünden gesagt? So nämlich gab sie Eure Sünden wieder, während sie sang, als ob sie sie in einem Buch vor sich geschrieben sähe.” Sie sang immer wieder das Lied der heiligen Jungfrau, das heißt den Lobgesang der Maria (Lk 1, 46–55),d indem sie es rhythmisch und in romanischer Volkssprache darbrachte und fand darin viel Süße und Lieblichkeit. Als sie aber gleichsam am Ende des Gesangs, zum Lied des Simeon (Lk 2, 29–32)e angelangt war, da empfahl sie dem Herrn auf frömmste Weise ihre Freunde und ihre Freundinnen, das heißt die religiösen Frauen, die in der Stadt Lüttich leben, und indem sie um deren Frieden betete, wiederholte sie nach den einzelnen Schlußsätzen den ersten Vers des Liedes, das heißt Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren (Lk 2, 29),f auf ähnliche Weise wiederholte sie immer Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wenn sie für die Religiosen von Nivelles und für viele andere im Bistum Lüttich Lebenden betete. Gemeint ist Jakob selbst. Vgl. II Chr 30, 9; Apk 15, 4; Luther übersetzt du [Herr] allein bist heilig. c  Vgl. Mt 25, 27. d  Das Magnificat. e  Das Nunc dimittis; Luther übersetzt: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preis deines Volks Israel. f  S. auch Anm. c auf dieser Seite. a 

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Nachdem die drei Tage des Jubels vergangen waren, ließ sie ihr Bett in der Kirche vor dem Altar bereiten, und als sie wieder zu sich gekommen war, rief sie die Brüder und sagte zu ihnen: “Die Wehklagen standen am Anfang, als ich über die Sünden trauerte und das Lied stand am Anfang, als ich über die Ewigkeit frohlockte und jubelte; und siehe, es folgt das Weh der Krankheit und des Todes.a Ich werde fortan nie mehr essen, ich werde fortan nie mehr in diesem Buch lesen”, und sie gab den Brüdern das Buch, das sie besaß, aus dem sie Gebete und bestimmte Lieder über die heilige Maria zu singen pflegte und unterwarf sich geduldig der Zucht des Herrnb und erwartete ihr seliges Ende in Ruhe und Hoffnung mit Freude.c

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12. Ihre Krankheit vor dem Tod

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An dieser Krankheit aber litt sie äußerlich schwer, aber innerlich ruhte sie süß. Die Heiligen nämlich, die ihr im Zustand der Gesundheit häufig beigestanden hatten, besuchten sie noch häufiger während ihrer Krankheit: indem ihr nämlich Christus häufig erschien und sie rücksichtsvoll wie mit dem Gesichtsausdruck eines Mitfühlenden betrachtete, und die Mutter eben dieses Christus ihr fast immer beistand, und unter allen anderen der heilige Apostel Andreas recht oft zu ihr kam, brachten sie ihr sehr großen Trost und machten ihr den Schmerz ihrer Krankheit gleichsam unspürbar, sogar die heiligen Engel standen ihr bei und dienten ihr ergeben.d Als sie daher eines Nachts Durst hatte und schon wegen der allzu großen Schwäche von sich aus nicht mehr aufstehen oder umhergehen konnte, trank sie, mit Unterstützung zweier heiliger Engel, die sie zu dem Ort, wo Wasser stand, führten und wieder zurückbrachten. Zu ihrem Bett kehrte sie dann ohne irgendwelche Mühe zurück. Während sie aber auf die Warnung Vgl. Ez 2, 9; (Ps 80, 2). Vgl. Prov 3, 11. c  Vgl. Jes 30, 15. d  Vgl. Mt 4, 11. a 

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der heiligen Jungfrau hin die letzte Ölung empfing, waren alle Apostel persönlich anwesend: der heilige Petrus aber zeigte ihr die Schlüssel und versprach, ihr die Himmelspforte zu öffnen, Christus aber befestigte sein Kreuzzeichen, die Fahne seines Sieges an ihrem Fußende, und als sie an den verschiedenen Körperstellen gesalbt wurde, spürte sie beim Empfang des Sakraments das Wirken des Heiligen Geistes durch eine weitgehende Erleuchtung des betreffenden Körperteils. Einige ihrer Freunde und Bekannten, die schon lange tot waren, wurden zu ihrem Trost zu ihr geschickt, Johannes von Dinant, der schon mit Christus herrschtea und Bruder Richard von … –(la) Chapelle,b ein guter und zu Lebzeiten heiliger Mann, der jedoch noch im Fegefeuer war. Einer sogar, der durch sehr große Qual im Fegefeuer gepeinigt wurde, wollte von der Magd Christi Hilfe erbitten und erschien ihr während jener Krankheit: derselbe hatte nämlich irgendwann sowohl den Anschein als auch den Namen von Frömmigkeit angenommen und zeigte sich im Stand der Vollkommenheit, danach aber kehrte er zum Ärgernis vieler und zur Schande für die Religion in die Welt zurück und ging mit einer die Ehe ein, die lange auf ähnliche Weise ein Leben der Vollkommenheit gezeigt hatte und die den anfänglichen Glauben vergeblich machte;c über all das hinaus aber sagte er, er werde gequält, weil er die Kirche Gottes verletzt hatte, indem er Anstoß erregte. Als aber einmal der heilige Bischof von Toulouse kam, um sie zu besuchen, empfing sie durch die Gegenwart des Bischofs sehr großen Trost und erlangte sogar einstweilig ihre körperliche Kraft wieder, die heilige Jungfrau aber hob sie gleichsam in die Höhe, dem heiligen Bischof entgegen, wie es ihr schien. Und als derselbe Bischof in eben dieser Kirche an dem der heiligen Jungfrau Maria geweihten Altar die Messfeierlichkeiten zelebrierte, sah sie beim Empfang des Sakraments gleichsam eine weiße Taube, die dem heiligen Bischof die Eucharistie gleichsam in den Mund legte und Vgl. Apk 20, 4(6). S. o. S. 120 Anm. c. c  Vgl. I Tim 5, 12. Luther übersetzt:…und stehen dann unter dem Urteil, dass sie die erste Treue gebrochen haben. a 

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erkannte, vom Herrn gezeigt, wie ihn eine sehr große Helligkeit innerlich durchflutete und seine Seele erleuchtete. Als sie aber während ihrer Krankheit überhaupt nichts essen konnte und sogar den Geruch von ein wenig Brot nicht auszuhalten vermochte, genoss sie häufig ohne Schwierigkeit den Leib Christi, der sich gleichsam sofort verflüssigte und in ihre Seele überging und nicht nur die Seele stärkte, sondern unmittelbar ihre körperlichen Beschwerden erleichterte. Zwei Mal aber geschah es ihr während ihrer Krankheit, dass ihr Gesicht gleichsam von Lichtstrahlen widerschien, als sie den Leib Christi empfing. Und als wir einmal herausfinden wollten, ob sie eine nicht geweihte Hostie zu sich nehmen könnte, verabscheute sie sogleich den Geruch des Brotes, und als ein kleiner Teil ihre Zähne berührt hatte, begann sie zu schreien, auszuspucken und nach Atem zu ringen, als ob ihr die Brust bersten wollte und von ungeheurer Angst erfüllt zu schluchzen.a Und als sie lange vor Schmerz geschrieen und sehr oft ihren Mund abgewaschen hatte, war ein großer Teil der Nacht vorübergegangen, in der sie kaum ruhen konnte. Niemals aberb *** wie geschwächt sie körperlich und mit vollkommen leerem Kopf auch war, da sie dreiundfünfzig Tage vor ihrem Tod überhaupt nichts mehr aß, immer jedoch hielt sie das Licht der Sonne aus, niemals schloss sie die Augen vor der Helligkeit des Sonnenlichts, und, was noch erstaunlicher ist, wenn wir in der Kirche neben ihr mit lauter Stimme gleichsam in ihre Ohren sangen oder wenn wir die Glocken lang und laut läuteten, sogar, als wir neben ihr gemeinsam mit vielen Maurern, die mit Hämmern schlugen, einen Altar errichteten, damit er vom Bischof von Toulouse geweiht werde, konnte sie durch keinen Lärm belästigt F. Baix, “Un double témoignage de Jacques de Vitry sur sainte Marie d`Oignies”, Namurcum – Chronique de la Société archéologique de Namur, 25 (1959), S. 8–10. nach einem Sermo de sacramento altaris, s. (H), S. 157, Anm. zu Z. 1526–1539. Der gleiche Vorfall wird auch in Jakob von Vitry, Historia occidentalis, Hg. John F. Hinnebusch, Fribourg 1972) erwähnt (c. 38, S. 207, 10–19). In beiden Texten präzisiert Jakob: Cumque temptaremus aliquando utrum eucharistiam non consecratam posset sumere…: me presente et ipsa ignorante (S. 207, 15), s. (H), S. 157, Anm. zu Z. 1526. b  Es fehlt der Satzteil, der deutlich machen würde, was genau Maria ´niemals aber` (Numquam autem…) tat oder was ihr zustieß, s. (H), S. 158, Anm. zu Z. 1543. a 

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werden, von dem sie wusste, dass er Gott oder seine Kirche betraf. Denn, wie sie selbst versicherte, als wir sie bemitleideten, verletzte jener Schall ihren Kopf nicht, erschütterte auch nicht ihr Gehirn, sondern sie empfing ihn sogleich in ihrer Seele mit großer Süße. Es kamen aber aus verschiedenen Gebieten ihre Freunde und Bekannten und strömten zusammen, um sie zu besuchen, und als wir von einigen abwesenden Personen, die nicht zu ihr gekommen waren, sprachen, sagte sie von einigen: “Diese werde ich noch sehen”, von anderen aber sagte sie: “Jene werde ich fortan in dieser Welt nicht mehr sehen”. Dass es so eingetreten ist, haben wir erfahren. Eine Adlige aber, ehemals die Ehefrau des Herzogs von Löwen, die die Welt verlassen hatte, Nonne geworden und in den Zisterzienserorden eingetreten war, hatte sie lange Zeit vor ihrem Tod gesehen, als sie noch in Willambroc lebte. Und als diese von ihr wegging und sagte: “Herrin, ich weiß nicht, ob ich Euch fortan noch sehen werde,” sagte die heilige Frau: “Ihr werdet mich sehen.” Als aber jene, die sich fern von unseren Gebieten, in der Gegend von Köln aufhielt, gehört hatte, dass die heilige Frau schon im Sterben lag, sprach sie: “Ich vertraue auf den Herrn, dass ich sie noch einmal sehen werde, so wie sie es mir versprochen hat.” Das ist so eingetreten, denn als sie zu uns kam, wurden schon die Glocken für die Verstorbene geläutet, sie war jedoch zugegen, als sie gewaschen und begraben wurde. Einige Dinge aber, die sich nach ihrem Tod ereignen würden, sagte sie einem von den Unseren im Geheimen, so wie sie es durch die Offenbarung und das Versprechen des Heiligen Geistes wusste. Diese Dinge haben wir um des möglichen Ärgernisses der Schwachen willen hinzugefügt, weil sie, wenn sie eingetroffen sind, leicht in diesem Buch genau überprüft werden können. Inzwischen aber haben wir die Reden versiegelt und das Buch verschlossen, weil die meisten vielleicht hinübergegangen sein werden und das Wissen vielfältig sein wird.a Gewisse Leute aber beginnen zu murren, wenn sie das, was Gott zum Nutzen der Nachgeborenen aufbewahrt, nicht sofort haben eintreten sehen und sagen mit den Juden: manda reman-

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Vgl. Dan 12, 4.

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da, expecta reexpecta (Jes 28, 10 und 13).a Bestimmte Vorhersagen aber sahen wir schon eintreffen, wie zum Beispiel über den Ort, an dem sie begraben liegt und über ihre Kleider, die wegen der Sache mit der Kälte geheiligt und verehrt wurden, und über den Montag, an dem sie tot auf der Erde lag.b Weil das, so wie sie es voraussagte, eingetreten ist, erwarten wir mit großer Sicherheit, dass auch das übrige eintreffen wird, das heißt, die Vorhersage über den Gesang für einen neuen Festtag,c der ihr vom Herrn versprochen worden ist, weil sie Engelsstimmen gehört hatte, die Vorhersage über Wunder wegen der Helligkeit, die sie sah, so wie bereits gesagt, dass ihr der Herr häufig in großer Helligkeit erschien, die Vorhersage über das zweifache Fasten an zwei Feiertagen wegen ihres zweitägigen Fastens – denn sie nahm häufig nach zwei Tagen am dritten wieder Speise zu sich – und eine Vorhersage über das verehrungswürdige Bild, das ihr gehörte, denn sie verehrte häufig beim Beten das Bild von der heiligen Jungfrau.d

13. Ihr Tod Als aber ihre Stunde näher kam,e zeigte der Herr seiner Tochter den Anteil ihrer Erbschaft unter den Brüdern,f und sie sah den Ort im Himmel, den der Herr für sie vorbereitet hatte.g Sie sah es und freute sich darüber. Die Erhabenheit dieses Ortes und die Größe Zawlazaw zawlazaw, kawlakaw kawlakaw. Diese Worte, die das Lallen von Betunkenen nachahmen sollen und nicht übersetzt werden können, sollen die Redeweise des Propheten verspotten, s. Lutherbibel erklärt, S. 1072, Anm. zu Jes 28, 10 und 13. b  Vgl. Buch I, § 37. c  Nach den AASS (Ed. 1707), S. 666, Anm. c (Ed. 1867, S. 572) wäre hier festum novum Venerabilis Sacramenti, quod Leodii celebrari coepit an. 1246 gemeint. Das setzt allerdings voraus, dass man den Wahrsagungsqualitäten der Maria Glauben beimesse. Vgl. Jes 30, 2, s. (H), S. 159, Anm. zu Z. 1584–1585. d  Es lässt sich nicht mehr eruieren, auf welches Bild und auf welche etwaige Etablierung neuer Fastentraditionen hier Bezug genommen wird, s. auch (H), Einleitung S. 25. e  Vgl. Act 7, 17. f  Vgl. Lk 15, 12. g  Vgl. Joh 14, 2 und I Chr 15, 12. a 

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dieser Herrlichkeit könnten wir irgendwie einschätzen, wenn wir die wertvollen Steine und die Kraft der Edelsteine, die sie auf wunderbare Weise beschrieb, sogar die Namen der Steine, die sie nannte, wie der Herr es ihr zeigte, im Gedächtnis hätten behalten können. Aber weil geschrieben steht: Kein Auge hat gesehen, außer dir, Gott, was du bereitet hast denen, die dich lieben (Jes 64, 4; Ps 121, 6), können wir nicht verstehen, sondern nur vermuten, welch großer Ehre diejenige würdig ist, die so ergeben dem Herrn diente, die so heiß Christus liebte, die der Herr einzigartig auf Erden auch mit so vielen Vorrechten ehrte. Am Donnerstag vor ihrem Heimgang, als wir zugegen waren und ihr am Abend beistanden, wollte sie nicht mit uns sprechen und richtete auch die Augen nicht auf uns, sondern ihr Antlitz begann, mit starr zum Himmel gerichteten Augen – sie lag nämlich außerhalb der Zelle im Freien – in einer gewissen Heiterkeit zu leuchten. Darauf begann sie vor Freude sehr lange, gleichsam lächelnd, ich weiß nicht was, mit leiser Stimme zu singen, sie konnte ihre Stimme nämlich nicht mehr erheben. Obwohl ich aber näher gekommen war und sorgfältiger zugehört hatte, konnte ich nur Weniges von ihrem Lied verstehen, das heißt folgendes: Wie schön bist du, Herr, unser König (Cant 4, 1 und 7, 6). Und nachdem sie lange in solcher Freude verharrt hatte, mit Singen, Lachen und manchmal in die Hände Klatschen, kam sie schließlich wieder zu sich, kehrte von Neuem gleichsam zu dem Gefühl für ihre Schwäche, die sie vorher nicht gespürt hatte, zurück und begann ein wenig zu seufzen. Und als wir sie fragten, was sie gesehen habe, wollte oder konnte sie uns nur Weniges sagen: “Ich könnte Wunderbares sagen”, sagte sie, “wenn ich es wagte.” Am Samstag Abend,a als schon der Tag der Hochzeit bevorstand, der Tag der Freude und des Frohlockens, das heißt der Tag, den der Herr machte,b der Tag, den der Herr für seine Magd vorgesehen und versprochen hatte, der Sonntag, der Tag der Auferstehung, der Tag der Vigilc des heiligen Johannes des Täufers, an dem, wie man sagt, auch der heilige Evangelist Johannes aus dieser Welt schied, obzwar die Kirche sein Fest Vgl. Mt 28, 1. Luther übersetzt : Als der Sabbat vorüber war… Vgl. Ps 117, 24. c  Die Feiern aller Heiligenfeste beginnen (immer noch) üblicherweise am Vorabend. a 

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zu einer anderen Zeit zu feiern pflegt,a da begann die Magd Christi, die schon zweiundfünfzig Tage lang überhaupt nichts gegessen hatte, mit lieblicher Stimme Halleluja zu singen, und war fast die ganze Nacht, wie zu einem Festmahl geladen, voller Jubel und Frohlocken. Am Sonntag aber erschien ihr der Satan, der gleichsam ihre Ferse angriff b und sie sehr quälte, denn sie begann sich ein wenig zu fürchten und auch die Umstehenden um Hilfe zu bitten. Sie aber sagte, indem sie wieder Vertrauen zum Herrn fasste und tapfer das Haupt des Drachenc zertrat und sich mit dem Kreuzzeichen schützte: “Weiche zurück,d Gift und Hässlichkeit”; sie nannte ihn nämlich nicht “hässlich” sondern “Hässlichkeit”. Als dieser zurückwich, begann sie von Neuem Halleluja zu singen und Gott Dank zu sagen. Als aber der heilige Vorabend vor dem Festtag des heiligen Johannes des Täufers näher kam, ungefähr zu jener Stunde, in der der Herr am Kreuz seinen Geist aufgab, das heißt, um die neunte Stunde, ging auch sie selbst zum Herrn ein, und sie veränderte nie ihren heiteren Gesichtsausdruck oder ihr Aussehen einer Frohlockenden durch irgendeinen Todesschmerz, und ich erinnere mich auch nicht, dass sie, sogar wenn sie gesund war, eine größere Ruhe des Angesichts besaß und einen größeren Ausdruck von Munterkeit an den Tag legte. Sie erschien nicht bleich oder bläulich im Gesicht, so wie es nach dem Tod üblicherweise eintritt, sondern durch ihr engelgleiches Aussehen und durch ihr von taubengleicher Einfalt weißes und strahlendes Gesicht regte sie viele zur Gottergebenheit in und nach ihrem Tod an. Viele sogar, die bei ihrem Tod von einem reichen Tränenstrom lieblich benetzt wurden, nahmen aufgrund ihrer Verdienste wahr, vom Herrn besucht zu werden, wie beispielsweise eine heilige Frau durch den Heiligen Geist vorhergesehen und vorhergesagt hatte, dass alle, die bei ihrem Heimgang zusammen kämen, viel Trost vom Herrn empfangen würden. Als ihr heiliger winziger Leichnam beim Tod gewaschen wurde, fand man sie so geschwächt und durch Krankheit und Fasten so erschöpft, dass ihr Rückgrat ihren Bauch be29. August, Tag der Enthauptung. Vgl. Gen 3, 15. c  Vgl. Ps 73, 14. d  Vgl. Mk 8, 33. a 

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rührte und die Knochen ihres Rückens wie unter einem feinen Leinentuch unter der Haut ihres Bauches hindurchschienen. Sogar nach ihrem Tod verließ sie diejenigen nicht, die sie im Leben geliebt hatte, sondern kehrte zu einigen zurück, unterhielt sich auch häufig mit heiligen und im Leben bewährten Frauen und lehrte ihre Freunde auch beim Handeln und schützte sie in Gefahren, indem sie durch sichere und nur ihnen verständliche Zeichen allen Zweifel aus ihren Herzen wegnahm. Für einige ihrer Freunde, so glauben wir, erwirkte sie durch ihre Bitten vom Herrn auch den Glanz der Weisheit und die Glut der Liebe. Daher sah ein heiliger Zisterziensermönch nach dem Heimgang der Magd Christi im Schlaf, dass ein goldener Becher aus ihrem Mund kam, aus dem sie einigen ihrer Freunde zu trinken gab. Ein anderer berichtete mir, dass er im Schlaf sah, wie ihr Körper in einen sehr hell glänzenden wertvollen Stein verwandelt wurde. Im Jahr der Fleischwerdung des Wortes zwölfhundertunddreizehn,a am neunten Tag vor Anfang Juli, am Vorabend des Festes des heiligen Johannes des Täufers, am Sonntag, gegen die neunte Stunde wurde die wertvolle Perle Christi, Maria von Oignies, ungefähr im sechsunddreißigsten Jahr ihres Lebens zum Palast des ewigen Königreichs gebracht, wo Leben ohne Tod ist, Tag ohne Nacht, Wahrheit ohne Trug, Freude ohne Trauer, Sicherheit ohne Furcht, Ruhe ohne Mühsal,b Ewigkeit ohne Ende, wo die Seele nicht von Sorgen geängstigt wird, wo der Körper nicht von Schmerz gepeinigt wird, wo der Strom der göttlichen Lustc alles erfüllt und alles sättigt mit dem Geist vollständiger Freiheit, wo wir erkennen werden, so wie auch wir erkannt sind, wenn Gott alles in allem sein wirdd und unser Herr Jesus Christus die Herrschaft Gott und dem Vater übergeben hat,e der mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit.f Amen. Am 23. Juni 1213, einem Sonntag. Vgl. Jes 14, 3, vgl. Sir 4, 6 und Weish 16, 20. c  Vgl. Ps 35, 9. d  Vgl. I Kor 15, 28. e  Vgl. I Kor 15, 24. f  Vgl. Tob 9, 11,. Vgl. A. Blaise, Le vocabulaire latin des principaux thèmes liturgiques, Turnhout 1966, S. 147–148 (§ 33), s. (H), S. S. 164, Anm. zu Z. 1680–1682. a 

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THOMAS VON CANTIMPRÉ SUPPLEMENTUM

Supplementum

1

Bruder N.,a niedriger Kanonikus des Klosters Cantimpré, grüßt in Christus Jesus, dem Urheber unseres Heils,b seinen Vater, den durch und durch höchst verehrungswürdigen Herrn Egidius, Prior von Oingnies. Als ich von einigen Freunden und Brüdern Eurer Hochwürden gebeten wurde, die sehr zahlreichen Ereignisse im Leben der verehrungswürdigen Maria von Oingnies aufzuschreiben, die der verehrungswürdige Jakob, früher Bischof von Akko, jetzt aber Bischof von Tuskulum und Kardinal der römischen Kurie, übergangen hat, habe ich, das zu tun, zwar lange aufgeschoben, weil ich freilich den Vorwurf der kühnen Anmaßung zu riskieren fürchtete, insbesondere weil jener Mann so großes Wissen und so große Weitsicht, so große Weisheit und Heiligkeit besitzt, dass es höchst albern schiene, seinen Worten etwas hinzuzufügen. Aber da einige von denen, die das aus seinem die Wahrheit sprechenden Mund erfahren hatten, mir gegen meinen Widerstand wiederholt einschärften, er habe immer wieder gesagt, es sei von ihm noch nicht einmal der fünfte Teil der Taten der Magd Christi in seiner Schrift beschrieben worden, damit er bei den Lesern nicht etwa Abscheu vor dem Übermaß erzeuge oder, damit die unfassbare Größe der Offenbarungen und Wunder, für die Herzen der Gläubigen einen Geruch des Leben, für die der Ungläubigen einen Mit N. wird jemand bezeichnet, der seinen Namen nicht nennen will, s. (H), Einleitung, S. 29 und S. 167, Anm. zu Z. 2. b  Vgl. Hebr 2, 10. a 

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Geruch des Todesa bekäme. Aus diesem Grunde überzeugt,b sage ich, habe ich damals freilich den Bitten der Flehenden, wenn auch mit Umsicht, nachgegeben; das aber ist in diesen Zeiten nicht zu befürchten, in denen zumal in den Lothringischen Gebieten der Eifer für die heilige Religion stärker wurde und in fast allen christlichen Ländern das hell leuchtende Gelübde der Magd Christi aufstrahlte. Mit der sich beeilenden Ruthc also, werde ich es eilig unternehmen, das aufzulesen, was den fleißigen Händen jenes großen Erntenden auf dem weiten Lebensfeld der Magd Christi entgangen war. Am Ende dieses Werks habe ich auch das Büchlein, das ich über eine sehr heilige Frau Christina auf Bitten von Freunden geschrieben habe, nicht ohne Grund diesem Werk unmittelbar hinzugefügt, und zwar deswegen, weil eben jener Christina ***d Nimm also, heiliger Vater, Prior Egidius, das in Bezug auf die Taten recht außergewöhnliche Werk, das ich über die Freundin von dir, geliebter Vater, zum Lob Christi und zur Ehre seiner Magd mit Furcht zumal und Ehrerbietunge zu schreiben unternommen habe. Wenn mir aber irgendwo, wie es menschlich ist,f ein Fehler unterlaufen ist, sollst du es selbst richtig stellen: Vollkommen nämlich ist ein Mann, der in der Sprache keine Fehler macht,g ich aber bin das nicht, weil ich ein sündiger Mensch bin.h Eure gütige und aufrichtige Vaterschaft lebe wohl und Christus der Herr möge sie, meiner in diesen Dingen eingedenk, unversehrt erhalten.

Vgl. II Kor 2, 16. Vgl. Augustin, De civitate dei 1, 11, CCSL 47, S. 13, 17–18, s. (H), S. 167, Anm. zu Z. 19. c  Vgl. Ruth 2, 2–3ff. d  Textausfall, s. (H), Einleitung S. 34. e  Vgl. Hebr 12, 28. f  Vgl. Jud 8, 15. g  Vgl. Jak 3, 2. h  Vgl. Lk 5, 8. a 

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Supplementum, 1–2

1. Wie Magister Jakob von Vitry, nachdem er vom Ruf der Magd Christi, Maria von Oingnies, gehört hatte, aus Paris kam, um sie zu sehen und ihren Bitten entsprechend, Prediger geworden ist.

2

Als Magister Jakob von Vitry, später Bischof von Akko, jetzt aber Bischof von Tuskulum und Kardinal des römischen Papstes, also den Namen der heiligen Magd Christi, Maria von Oingnies, innerhalb von Gallien gehört hatte, kam er, nachdem er seine theologischen Studien in Paris zurück gelassen hatte, für die er maßlos glühte, nach Oingnies, wohin jene sich damals vor kurzem begeben hatte. Dessen Reise nahm die Dienerin Gottes sehr fromm an und verlangte durch inständiges Bitten von ihm, nachdem er Gallien den Rücken gekehrt hatte, bei den Brüdern von Oingnies zu bleiben: Dieser ist es, über den der verehrungswürdige Jakob selbst, wobei er seinen Namen verschwieg, im Buch über das Leben eben dieser Frau berichtet, dass der Herr seiner Magd einen Prediger gegeben hatte, den sie bei ihrem Tod dem Herrn mit vielen Gebeten anbefahl. Es drängte also die Magd Christi den genannten verehrungswürdigen Mann dazu, dem Volk zu predigen, Seelen zurückzurufen,a die der Teufel mitzunehmen versuchte, und es erstrahlte in ihm jenes besondere Wunder, dass er durch die Bitten und Verdienste der allerheiligsten Frau in kurzer Zeit zu einer solchen Höhe des Predigens gelangte, dass bei der Auslegung der Schriften und beim Zerstören der Sünden kaum einer unter den Sterblichen mit ihm verglichen werden konnte. Und er hatte es verdient, dass die göttliche Gnade ihm, der ja für die Liebe zur Magd Christi sein Vaterland, seine Verwandtschaftb und Paris, die Mutter aller Künste, verlassen hatte, sogar jetzt den Gipfel aller Wissenschaft und Lehre verlieh. Von den Brüdern also und insbesondere von der Heiligen Gottes gebeten, erklomm er die Stufe des Priestertums, obwohl einer höheren Stufe würdig, und als er von der Stadt Paris, wo er geweiht worden war, nach Oingnies kam, lief ihm die Magd Christi zusammen mit den Brüdern entgegen, als er auf dem Wege noch weit entfernt war. Jener aber, der auf a  b 

Vgl. Weish 16, 14 und Hi 33, 30. Vgl. Gen 12, 1.

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einem Pferd saß, stieg zur Begegnung mit den Herbeikommenden ab, und sie küssten, wie es bei solchen Gelegenheiten Sitte ist, seine mit der heiligen Salbung benetzten Hände. Und als er gemeinsam mit den Brüdern vorausging, folgte die Herrin Maria zusammen mit einem gewissen Reiner, einem adeligen und religiösen Mann und küsste die Spuren des Vorangehenden, in die er seine Füße gesetzt hatte und beugte dabei in flehentlicher Geste die Knie. Als das der besagte Reiner sah, tadelte er sie und sprach: “Was tust du, o Herrin? Wenn das die Vorangehenden sähen, was würden sie sagen? Hör auf, ich bitte dich, hör auf, tu das nicht.” “Nein”, sagte sie, “denn ich könnte das nicht, da ich heftig vom Geist gezwungen werde, der mir jetzt gerade innerlich offenbart, dass Gott ihn unter den Sterblichen zu glorreicherer Erhebung erwählt hat, um durch ihn für das Heil der Seelen auf wunderbare Weise zu wirken.” 2. Wie sie vorhergesagt hatte, dass der genannte Magister Jakob als Bischof in den Gebieten jenseits des Meeresa leben würde. Als sie selbst und der verehrungswürdige Prior Egidius von Oingnies darüber miteinander sprachen, sagte sie: “Der Herr hat wirklich geschworen, und es wird ihn nicht reuen,b dass er diesen Mann in den überseeischen Gebieten des Heiligen Landes mit einem Bischofssitz erheben wird.” Und der Prior sprach: “Schweigt, meine Herrin, sagt nicht so etwas, denn diese Worte würden Euch, wenn sie jemand hörte, nicht zur Ehre gereichen: Wie könnte das geschehen?c” Sie sprach zu ihm: “Das wird so geschehen, aber ich werde es nicht sehen, du aber wirst es sehen und traurig werden, aber deine Trauer wird in Freude verwandelt werden,d wenn du siehst, wie er von jenen Gebieten zu diesem Ort zurückkehrt und mit dir ohne Amt lebt.” Über dieses Wort erzitterte der besagte Prior voller Schrecken, und indem er die Worte der Sprechenden abwog, wartete er den Ausgang der Sache schweigend ab. Er soll auch eben jenen verehrungswürdigen Jakob vor dem oben verheißenen Wort Gemeint ist das Heilige Land. Vgl. Ps 109, 4 (Hebr 7, 21). c  Vgl. Joh 3, 9. d  Vgl. Joh 16, 20. a 

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Supplementum, 2–4

gewarnt haben, indem er hinzufügte und sprach: “Widersetze dich nicht dem göttlichen Beschluss, wenn dir in den überseeischen Gebieten eine Ehre erwiesen wird, weil der Allmächtige verfügt hat, dass er durch dich eben dort für das Heil der Seelen arbeiten wird.” Kaum war danach ein Zeitraum von vier Jahren überschritten, als offenbar wurde, dass nach Wahl und Weihe des verehrungswürdigen Jakob zum Bischof von Akko sich das Wort der heiligen Frau erfüllte. Sie selbst aber schied aus diesem Leben, bevor diese Dinge geschahen, wie sie vorher vorausgesagt hatte. Aber bevor wir zu den Ereignissen übergehen, die bei ihrem Tod geschehen sind, wollen wir vorher auch einige Dinge außer den Ereignissen, die der Bischof Jakob in seinem Buch über ihr Leben beschrieben hat, zum Lobe des Namens Christi berichten. 3. Wie sie voraussagte, dass ein Kreuzfahrer heil und gesund in sein Land zurückkehren werde, und über die Strafen des Fegefeuers.

4

Es geschah also im Laufe dieser Zeit, in der die Dienerin Christi auf Erden durch ihre engelsgleiche Lebensführung glänzte, dass ein sehr reicher und den weltlichen Tätigkeiten ergebener Kaufmann aus der Stadt Nivelles gemeinsam mit anderen Bürgern zu ihr nach Willambroc kam, um sie zu besuchen. Sobald sie ihn sah, erkannte sie sogleich, dass dieser Mann ein Gefäß der Erwählunga sein werde, er aber schöpfte allein schon aus ihrem Gesicht sofort eine so große Gnade der Vollendung, dass er ohne jede Trübung wahrnahm, dass sie ihn erkannte und dass er spürte, wie der Geist Gottes auf wunderbare Weise in ihm wirkte. Später, nachdem er gebeichtet hatte, kehrte er regelmäßig zu dieser Mutter seines Heils zurück und wuchs an Tugenden,b und die Gnade Gottes war in Fülle in ihm, und als er nicht viel später das Kreuz nahm, um gegen die christusfeindlichen albigensischen Ketzer zu ziehen und gemeinsam mit einigen aus seinem Ort, richtig törichten und gottlosen Männern,c unterwegs war und sie wegen ihrer schmutVgl. Act 9, 15. Vgl. I Makk 9, 66. c  Vgl. Prov 18, 22. a 

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zigen und schamlosen Unterhaltungen schalt und sagte, Pilger auf einem heiligen Weg dürften sich nicht mit solchen Dingen beschäftigen, sondern sollten mit Gebeten und Ermahnungen danach streben, Gott zu erkennen und sich um ihn verdient zu machen, da griffen jene ihn, über seinen Tadel gewaltig empört, mit boshaften Worten und Beschimpfungen heftig an, jener aber, voll der Gnade Gottes,a machte ihre Ungehörigkeiten durch wunderbare und zahlreiche Gründe zunichte. Deswegen waren sie äußerst erregt und beabsichtigten, ihn aus Rache für ihre Niederlage zu töten; als das ein Vertrauter und Weggefährte von ihm erkannt hatte, machte er den Mann darauf aufmerksam, dass er vollkommen klar vorherwisse, von ihnen getötet zu werden, wenn er nicht von der Schelte über jene Gottlosen ablasse. Ihm sagte jener, vom wunderbaren Feuer des Martyriums entbrannt: “Jetzt werde ich sie tadeln, und dass ich doch für die Wahrheit meines Herrn Jesus Christus von seinen Feinden getötet würde!” Aber der Herr wollte nicht, dass jene, obzwar , durch das Blut des Gerechten befleckt würden,b vielmehr wollte er sie eher durch dessen Ermahnung zur Erkenntnis der Wahrheitc führen und den Mann unversehrt bewahren, von dem die Magd Christi vorausgesagt hatte, dass er in Frieden zurückkehren werde. Als er also nach der Rückkehr in seine Heimat an einem bestimmten Tag, der Erbauung wegen zu dieser heiligen Frau gekommen war und sich unter ihnen ein Gespräch über das Fegefeuer entsponnen hatte, begann sie darzulegen, was sie darüber empfand und sagte: “Gewiss ist jenes Feuer würdig und recht vom Herrn eingerichtet,d zur Reinigung der Seelen, die in der Welt durch Buße nicht gereinigt wurden, damit, weil kein Übel ungestraft hinübergeht, durch diese freilich sehr schwere Strafe die Seelen der Bußfertigen entsprechend ihrer Tatene eine Zeitlang gereinigt werden, damit sie

Vgl. Lk 1, 28; Act 6, 8. Vgl. Mt 27, 24. c  Vgl. I Tim 2, 4. d  Vgl. Canon missae Romanae, Hg. L. Eizenhöfer, 1954, I, S. 22, 7, s. (H), S. 172, Anm. zu Z. 143. e  Vgl. Apk 2, 23. a 

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Supplementum, 4–5

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ohne Fleck und Faltea zusammen mit den Seligen zu jenen ewigen Wohnsitzen hinübergehen.” Darauf sagte jener Mann zu ihr: “Ist jenes Feuer so schlimm wie man sagt?” Und sie sprach: “Unvergleichlich schlimmer: Ich sage dir nämlich, dass jenes Fegefeuer um so viel schlimmer ist als unser wirkliches Feuer wie unser wirkliches Feuer (schlimmer ist) als ein bildliches, auf eine Wand gemaltes Feuer.” Als er das hörte, erzitterte er vor Schrecken und in seinem Geist verwirrt, rief er ihr mit ernster Stimme zu: “Und ich”, sprach er, “was soll ich tun, Herrin? Ich vergesse die Hölle des ewigen Feuers vor Schrecken vor dem Fegefeuer.” Und sie sprach: “Sei stark, sei stark im Herrn, deinem Gott.” b Indem sie dies sagte, hieß sie ihn in die Kirche eintreten, die am nächsten war; dieser erhob sich sofort von seinem Platz und gehorchte der Anweisung und fiel vor dem heiligen Altar nieder und betrachtete mit festem geistigem Blick die Pyxis, die, den Leib Christi enthaltend, über ihm hing. Und wo er mit dem Geist hängen blieb, blieb er auch unverzüglich mit den Augen hängen, und siehe, die Pyxis näherte sich dem Betenden, indem sie sich von ihrem Platz weg bewegte und blieb stehen und kehrte nicht zurück, und kurze Zeit später näherte sie sich dem Mann ein zweites Mal, indem sie sich von ihrem Platz weg bewegte, an dem sie stehen geblieben war und blieb stehen und kehrte nicht zurück. Als aber die Pyxis zum dritten Mal bewegt, sich wiederum näherte, wurden plötzlich die Blicke des Sehenden trotz der hochgezogenen Lider getrübt, und er sah innerlich, zur Betrachtung hingerissen, Verborgenes und Geheimes, das ein Mensch nicht offenbaren darf. Von dort zu sich und doch nicht vollständig zurückgekehrt, lief er so schnell er konnte zur Mutter und den Brand des göttlichen Feuers ausströmend, sagte er: “Ich, meine Mutter, werde Gott ohne alles Maß lieben.” Und sie sprach: “Aber nicht blindlings, mein Freund, nicht blindlings”, und fügte hinzu: “Ich spürte”, sprach die Magd Christi, “zu der Stunde, als ich dich weggehen sah, dass Christus dir Gutes zeigte, und ich sah später, als sich dir die Pyxis zum dritten Mal genähert hatte, dass eine weiße Taube aus der Pya  b 

Vgl. Eph 5, 27. Vgl. II Tim 2, 1.

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xis herauskam, mit ihrem Flügel dein Gesicht mit einem sanften Haucha umhüllte und auf diese Weise durch deine Seele hindurch einen Übergang zu mir schuf. Wahrlich aber, beachte nicht weniger, was ich sehe, denn siehe, der Herr Jesus, der ein weißes Kreuz in der Hand hält, bezeugt dir, dass du aufgrund des vollkommenen Willens, mit dem du für seine Wahrheit zu leiden begehrtest, zu seinem Märtyrer gemacht wurdest, und er verspricht dir deswegen, dass du nach dem Tod ohne jegliche Fegefeuerstrafe oder nur mit einer sehr kurzen zum himmlischen Reich hinübergehen wirst.” Als sie das sagte, bemerkte der Mann, dass das zu jener Zeit geschah, in der er die Pilgergefährten auf dem Weg wegen ihres törichten Geschwätzes tadelte und von ihnen die Beschimpfung und die Morddrohung erhielt, und gleich darauf erging er sich im Lob Christi und rühmte gleichfalls großartig dessen Magd. 4. Wie der oben genannte Mann durch das Berühren der Haare der Magd Christi von einer Krankheit, durch die er gefesselt war, geheilt wurde.

174

Als jener Mann auch zu einer anderen Zeit wegen des Handels mit den Dingen, deren er wegen der Zeitumstände bedurfte, zu weiter entlegenen Orten gereist war, geschah es, dass er durch eine ernste Beschwerde an einem Körperteil geschwächt, weder weiter-, noch zurückzugehen vermochte. Und als er seines Todes sicher war oder zumindest mit einer langen Krankheit rechnete, überlegt er schließlich bei sich in seinem Geist, von Angst umzingelt, dass es natürlich besser sei, wenn auch mit Mühsal verbunden, in die Heimat zurückzukehren und bei seiner heiligen Ernährerin entweder den Tod zu erwarten oder die Krankheit zu erleiden, als in der Fremde ohne jeglichen mütterlichen Trost entweder durch den Tod zu enden oder durch eine langwierige Krankheit gefesselt zu werden. Das überlegt er insgeheim bei sich und stützt sich auf einen Stock gelehnt ab, und obwohl er sie zwar mit schwerer Mühe und sehr kurzen Tagesmärschen zurücklegt, vollendet er doch die schwierige Reise. Und als er die Dienerin Christi in Oingnies gefunden hatte, a 

Vgl. Hi 4, 16.

182

6

Supplementum, 5–7

bittet er die Heilige Gottes auf Grund einer inneren geistigen Anregung, nachdem er seine Krankheit und den Grund seiner Ankunft dargelegt hatte, sie möge ihm etwas von ihren Haaren geben, Reliquien, durch die er, wie er ohne jeden Zweifel annahm, von seiner Krankheit geheilt werden würde. Jene riss sich bald darauf, indem sie ihre Hand an ihre Haare legte, einen sehr großen Teil ihrer Haare wie ein Blatta mit wundersamer Leichtigkeit aus. Als er das sah, fürchtete er angesichts des schrecklichen Geschehens, dass die Heilige Gottes, indem sie das tat, eine Verletzung erleide; sie antwortete auf seine Überlegung und sagte: “Hab keine Angst, ich erleide keine Verletzung.” Indem sie das sagte, erhob sich jene und ließ den Mann allein zurück. Sobald er allein war, legte er also die heiligen Reliquien auf die Stelle seiner Krankheit und sogleich in diesem Augenblick entwich jeder Schmerz. Angesichts dieses Geschehens verblüfft, nahm der Mann durch Kniebeugen seine Heilung an, und da er nichts spürte, begann er die gewohnte Bußübung, das Sprechen des Gegrüßet seist du, Maria unter häufigem Kniebeugen, wieder aufzunehmen, die er wegen seiner Krankheit acht Tage hindurch vernachlässigt hatte. Gleich nachdem er die letzte Kniebeuge beendet hatte, trat jene ein, beglückwünschte den Geheilten und fügte im Geist der Prophetie hinzu: “Unlängst”, sprach sie, “ging ich von hier weg und ließ dich allein zurück, damit du geheilt würdest und deine gewohnte Bußübung wieder aufnehmen könntest, die du krankheitshalber aufgegeben hattest.” Über ihre Worte verwunderte sich jener Getreue in hohem Maße und erschrak nicht nur über die schnelle Genesung von seiner Krankheit, sondern staunte auch darüber, dass sie die Stunde, in der das geschehen war oder das, was er inzwischen getan hatte, so plötzlich wissen konnte. 5. Ferner, wie der Sohn des oben genannten Mannes, der schwer verwundet worden war, durch dieselben Haare seine Gesundheit wiedererlangte.

7

Nachdem das auf diese Weise geschehen war, verließ der Mann gesund das Haus, und als er zurückkam, fand er seinen Sohn, a 

Vgl. Jes 34, 4 und 64, 6.

183

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DAS SUPPLEMENTUM DES THOMAS VON CANTIMPRÉ

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der noch klein war, am Kopf schwer verletzt vor. Aber jener (der Vater), der eben von der Heiligen Gottes zurückkehrte und noch vom Feuer des göttlichen Geistes erhitzt war, konnte nicht durch das Feuer des Zorns entfacht werden,a ja meinte vielmehr, er habe die Möglichkeit zu einem größeren Wunder gefunden und sprach, mit treuem Sinn an Gott gewandt: “O wunderbarer Gott,b so offenbare auch jetzt durch dein Eingreifen bei diesem Unglücksfall die Verdienste deiner Magd.” Bald darauf rief er seine vertraute Ehefrau und befahl ihr, die vom Blut hässliche Wunde am Kopf des Knaben abzuwaschen. Jene jedoch nahm den Knaben und begann das Blut mit Wasser wegzuspülen, aber kaum hatte sie beim Behandeln die schreckliche, offene Wunde gesehen, konnte sie es nicht ertragen und verließ den Jungen. Zu ihm lief der Vater voll Vertrauenc hin und versenkte die bewährten Haarreliquien der Heiligen Gottes alle in der offenen Wunde. Ein Wunder! Sobald der Vater betend jedoch seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen richtet, werden seine Augen gleichsam für einen Augenblickd getrübt, und nachdem sein Sehvermögen zurückgekommen ist, er das Geschehen betrachten und sieht, dass die Wunde auf eine Narbe zusammengezogen und das Blut, das geflossen war, eingetrocknet ist, und dass sich anstelle des rosigen Blutes gleichsam ein Tautropfen in der geschlossenen Wunde zeigt. Der Junge lebt noch, ist zu einem Mann herangewachsen, die Stelle seiner Verwundung haben wir gesehen, und wie sie sich mit solcher Feinheit vollständig zusammengezogen hat, dass sie, obwohl eine sehr lange Narbe zu erahnen ist, doch aussieht wie der Strich einer Nadel. 6. Ferner, ein wundersamer Anblick derselben Haare. Es berichtet derselbe Mann von denselben Haarreliquien ein besonders großes Wunder. Denn als er an einem Tag, wie er es häufig zu tun pflegte, eben diese Haarreliquien der Magd Christi, von denen Vgl. Ez 22, 21 und 21, 31. Vgl. Ps 67, 36. c  Vgl. Act 6, 5. d  Vgl. Esr 9, 8. a 

b 

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Supplementum, 7–8

wir gesprochen haben, auf einem Seidentuch auf seinem Schoß hielt und zum Herrn betete, sah er wahrhaftig, als er sie betrachtete, dass die Haare, unter seinen Augen lebendig gemacht und belebt, sich wie Würmer bewegten und sich untereinander auf die Weise, wie sich eine solche Sache ansieht, freudig benahmen, und dieser wunderbare Anblick blieb nicht in diesem kleinen Zeitraum, sondern fast eine vollständige Stunde lang erhalten, und so kam erst nachdem die Kraft geschwunden war, die Menge der Haare zur Ruhe. 7. Wie dieselbe Magd Christi unterwegs durch den heiligen Johannes Evangelist vor einem drohenden Regen bewahrt wurde.

8

Auch ein anderes, in den Heimatländern weit verbreitetes Wunder, erzählte derselbe fromme Mann. Es begab sich, dass dieser und ein anderer recht frommer Mann mit dieser verehrungswürdigen Maria und ihrer Magd zusammen um einer Pilgerschaft willen unterwegs waren. Nachdem sich also während des Gehens die Wolke zu Wassermassen verdichtet hatte, drohten gewaltige Regengüsse hernieder zu stürzen und überzogen den Himmel mit garstiger Finsternis. Als aber die übrigen sich fürchteten, weil sie sehr weit von menschlichen Behausungen entfernt waren, erhob die Magd Christi die Augen zum Himmel und erbat mit wunderbarer Anmut ihres Gesichtes etwas vom Herrn, das niemand von denen hörte, die doch die Betende sahen, aber ein jeder kann nach dem Ausgang des Geschehens vermuten, was ihre Seele aufgrund ihrer würdigen Verdienste erreichte: Es geschah, dass, als schwere Regengüsse so sehr hernieder prasselten, dass die Erde aufschäumte, der Weg jedoch, auf dem die Heilige mit ihren Gefährten ging, auf jeder Seite, rechts und links, über ungefähr acht Ellena hin so unberührt vom Regen blieb, dass nicht einmal ein einziger Tropfen über ihnen zu fallen schien. Als sie das wahrgenommen hatten, sahen die Weggefährten einander an, konnten jedoch unterdessen nichts sagen, weil sie durch das göttliche Wunder verblüfft waren. Als die Regenflut aber aufhörte, fragt jener Fromme, über den wir schon sehr viel gesagt haben, von denen gebeten, die mit ihm gingen, die Dienerin a 

Ca. 4 m, s. (H), S. 177, Anm. zu Z. 281.

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Gottes allein, was das Wunder in dem gezeigten Geschehen war oder woher es kam. Darauf sagte sie: “Das sollst du als Geheimnis bewahren: Ich habe den Evangelisten Christi, Johannes, in der Luft gesehen, der uns auf Befehl des allmächtigen Gottes vor der Flut des so starken Regens beschützte.” Es möge sich also niemand durch ungläubige Bedenklichkeit demjenigen gegenüber bewegen lassen, der uns so große Wunder über die Dienerin Christi berichtet hat. 8. Wie sie einen sehr breiten Fluss auf wunderbare Weise ohne Schiff überquerte.

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Die Sambre ist ein sehr breiter Fluss in Lothringen, ungefähr achtzig Doppelschritte.a Er fließt auf einer Seite am Dorf Oingnies in ausgedehnter Breite vorbei. Da dieser Fluss wegen seiner Breite in dieser Gegend keine Brücke besitzt, auf der den Reisenden ein Übergang gewährt würde, geschah es eines Tages, dass die Magd Christi, die zu einer ihr für das Beten besonders teuren Stätte jenseits des Flusses gehen wollte, auf direktem Weg zum Strom aufbrach. Sobald das einer zufällig bemerkte, wunderte er sich, dass eine Frau ihren Schritt zu den unbegehbaren Wassern lenkte, besonders da es weder eine Brücke über den Fluss gab noch er ein bereit liegendes Boot sah, auf dem sie hinüberkommen konnte. Nachdem jener Mann seine Augen also in der Hoffnung umherschweifen ließ, irgend ein Boot zu sehen, richtete er, da er sah, dass keines da war, seine Augen wieder auf sie, sie gleichsam für verrückt haltend, dass sie dorthin ging, und sah wahrhaftig, wie die Magd Christi in diesem Augenblickb nach Überquerung des Flusses ihren Weg nahm. Als der Mann das sah, wunderte er sich und erschrak, und auch wir wundern uns über das Gehörte, das heißt, dass eine Frau trockenen Fußes über das flüssige Element des Wassers wie über trockenes Land gewandelt ist. Um aber den Lesern volles Vertrauen in dieser Sache zu vermitteln, werde ich diesem Kapitel ein in den Handlungen beinahe ähnliches Wunder unmittelbar anschließen. Römisches Längenmaß, das ein Ausschreiten beider Beine meint, etwa 1, 5 m, s. Georges, Handwörterbuch, a.a.O., unter passus. b  Vgl. Lk 4, 5. a 

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9

Supplementum, 8–10

9. Wie ein weit entfernt abgestelltes Boot ohne die Hilfe eines Menschen auf wunderbare Weise kam, um sie überzusetzen. Andreas ist ein Konversbruder im Kloster von Oingnies, zwar gewiss Laie, doch bewährt in der Religion. Dieser stand, als er noch nicht die Bindung an den Orden auf sich genommen hatte, ungefähr in der Zeit, als sich diese Dinge ereigneten, diesseits des genannten Flusses und sah, wie die Magd Christi von der oben genannten Gebetsstätte auf die jenseitige Flussseite zurückkehrte. Sobald sie also zum Ufer des Flusses gelangte und den Mann gegenüber auf der anderen Seite stehen sah, rief sie ihm zu: “Wie”, sagte sie, “soll ich hinüberkommen?” Und jener sprach: “Auf der Seite dieses Ufers hier ist kein Boot, ich sehe aber eines auf der Seite des Ufers, an dem Ihr steht, aber ich sehe überhaupt nicht, wie ich es hierher bekomme.” Indem der Mann das sagte, ließ er seine Augen ringsum schweifen, ob er nicht vielleicht doch noch irgendwo auf seiner Seite ein Boot sähe. Und als er, da er keines sah, seinen Blick dorthin wandte, wo er stand und genau hinschaute, und siehe, da war jenes Boot, das er am anderen Flussufer eben noch gesehen hatte, gleichsam wie in einem Wimpernschlaga durch den göttlichen Willen herübergebracht und lag vor seinen Füßen, bereit zum Übersetzen der Magd Christi. Darauf fasste der Mann, vor Verwunderung über die Sache beinahe ohnmächtig, da er die Frau, für die das geschah, für verrückt gehalten hatte, in seinem Geist Vertrauen und betrat das Boot und fuhr zuerst zur Dienerin Christi hinüber, danach nahm er sie in das Schiffchen auf und setzte sie über den Fluss über. 10. Wie die Dienerin Christi für sich und die mit ihr Lebenden am Tag der heiligsten Dreieinigkeit durch ihre Gebete von Gott eine Messe bekam.

10

Nachdem der ehrwürdige Prior von Oingnies gehört hatte, dass seine leibliche vier Meilen vom Kloster entfernt, schwer erkrankt war, beeilte er sich, dorthin zu gehen. Als aber a 

Vgl. I Kor 15, 52.

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der Prior am folgenden Tag zur dritten Stunde keineswegs zurückkehrte, begann die Dienerin Christi zu befürchten, dass sie an dem so großen Fest der heiligen Dreieinigkeit, das damals angebrochen war, um den Messgottesdienst gebracht würde: die übrigen Priester unter den Mönchen besuchten nämlich aufgrund einer Anweisung des damaligen Bischofs von Lütticha verschiedene Gemeinden des Landes. Höchst besorgt, bat die fromme Frau also unter Tränen den Herrn, er möge den Prior, damit er zelebrieren könne, zurückschicken. Als die Mittagsstunde schon bevorstand, erhob sie sich unverzüglich vom Gebetb und kam zur Mutter des Priors und anderen religiösen Frauen, die dort dem Herrn dienten und sagte jenen, die sich schon anschickten, zu Tisch zu gehen, um zu essen: “Setzt euch noch nicht an den Tisch, um zu essen: Es wird nämlich der Prior kommen, um die Messe zu zelebrieren.” Mit diesen Worten kehrte sie in die Kirche zurück. Darauf sprach die Mutter des Priors, eine fast hundertjährige Greisin, schon äußerst gereizt durch die Worte der Magd Christi, zu den anderen: “Setzt euch schon und lasst uns essen. Wird mein Sohn etwa zu dieser Stunde, wenn er müde von der Reise kommt, die Messe zelebrieren wollen?” Zu ihr sagen die Schwestern der Frau: “Herrin Maria hat gesagt, er werde kommen, wir glauben nicht, dass sie leichtfertig lügt.” Jene sagte zu ihnen, schwer empört: “Hat Eure Herrin Maria denn niemals gelogen? Setzt euch, sage ich, und esst.” Und als die Schwestern im Glauben an die Worte der Magd Christi nichtsdestoweniger warteten, setzte sich die Greisin wieder an den Tisch und begann zu essen. Und kaum hatte sie das vierte Mal beim Essen die Hand zum Mund geführt, als die Dienerin Gottes, die den Prior kommen fühlte, die Glocke läutete, indem sie das Seil ergriff, und alsbald kam der Prior herein und ohne etwas zu fragen, zelebrierte er die Messfeierlichkeiten. Darauf erhob sich die Greisin sehr beschämt vom Tisch und erbat und erhielt von der Magd Christi nach der Messe Vergebung wegen der Kränkung.

a  b 

Hugues II de Pierrepont (1200–1229), s. (H), S. 179, Anm. zu Z. 346. Vgl. Lk 22, 45.

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Supplementum, 10–12

11

So sehr aber glaubte die heilige Frau, dass ihr Christus getreu ist, dass sie nichts von seinen Antworten im Geist oder seinen Offenbarungen bezweifelte, und das mit Recht. Über sie hat der verehrungswürdige Bischof Jakob mit wahrhaftigem Mund bezeugt, dass sie in all ihren Offenbarungen die Unterscheidung der Geistera hatte und nie irgendwann in Dingen dieser Art vom Feind des Menschengeschlechts getäuscht wurde. Das war groß, und wir halten es wahrhaftig für besonders groß, ja, für das größte über alles Wunderbare ihrer Taten hinaus. Ich habe nämlich in den Gebieten Lothringens, wo eine sehr große Fülle an Heiligkeit herrscht, viele religiöse Männer und Frauen gesehen und kennen gelernt, deren Erscheinungen und verborgene Begegnungen ich ja auch wie ein Mensch, der in jenen Gegenden geboren und erzogen wurde, vernommen habe, aber ich erinnere mich mit Ausnahme dieser allein an keine Person unter allen, von der ich nicht wüsste, dass sie bisweilen getäuscht wurde. Was also? Sind denn etwa bei allen die Offenbarungen Gottes gering zu achten? Keineswegs, vielmehr gewiss, sehr hoch zu verehren, und wer sie verachtet, missachtet den offenbarenden Christus.b Aber wenn wir die Verschlagenheiten des Feindes aufdecken, rüsten wir die Herzen der Zuhörer in solchen Dingen und heben die Dienerin Christi als Ausnahme diesen gegenüber glorreich hervor. 11. Wie ihr ihre verstorbene Mutter erschien und ihr über ihre Verdammnis Gewissheit gab.c

12

Mit den Seelen, die im Fegefeuer waren, fühlte sie sehr mit, und auch über die Seele ihrer schon verstorbenen Mutter war sie im Geist sehr beunruhigt, das aber vom Fleisch her, wie es schon bald offenkundig werden wird. Deshalb hoffte sie, dass diese wegen der Almosen, die sie Armen gegenüber häufig erwiesen hatte und wegen einer ehrenhaften Lebensweise, mit der sie unter Weltlichen Vgl. I Kor 12, 10. Vgl. I Thess 4, 8. c  Die gleiche Episode wird auch in Thomas von Cantimpré, Bonum universale de apibus 2, 54(18), Hg. Douai 1627, S. 529–530 fast buchstäblich erzählt, s. (H), 181, Anm. zu Z. 392–429. a 

b 

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als Weltliche selbst auch gelebt hatte, zwar gerettet werden könne, jedoch gleichsam durchs Feuer.a Als sie darüber jedoch im Zweifel war und bisweilen Angst hatte, weil ja viele göttliche Urteile von unermesslicher Tiefe sind,b bat sie den Herrn, ihr Gewissheit zu geben, in welchem Zustand, nämlich der Verdammnis oder der Rettung, die Seele ihrer Mutter von dieser Welt hinübergegangen sei. Und als sie in diesem Zusammenhang viele Tränen vergoss, geschah es an einem Tag, dass der verehrungswürdige Prior Egidius von Oingnies die Messfeierlichkeiten zelebrierte und Maria am Altar gleichsam zu Füßen des Herrn saß.c Dabei also sieht die Magd Christi, von Schrecken erschüttert, wie sich ein dunkler Geist in ihrer Nähe niederlässt. Nachdem sie durch das Schlagen des Kreuzzeichens ihre Furcht vertrieben hatte, fragte sie bald kühn, wer dieser sei. Und jener sagt: “Ich bin deine Mutter, für die du gebeten hast.” Zu ihm (dem Geist) sagt die Tochter: “Wie geht es dir, Mutter?” Darauf sagt jene: “Schlecht, mir werden deine Bitten nichts helfen können, da mich die verschlossenen Tore der Hölle als Verdammte für immer festhalten.” Bald darauf sagt die Tochter, einen schweren Seufzer ausstoßend: “Ach Mutter, was ist die Ursache deiner Verdammnis?” Ihr sagt jene: “Ich wurde aufgezogen und lebte von den Dingen, die durch Wucher und unrechten Handel erworben worden waren; ich war mir des Bösen zwar bewusst, kümmerte mich aber nicht darum, das Geraubte zurückzugegeben und bemerkte nicht, was alles gegen die Gebote Gottes gewesen war, sondern betrat die krummen Wege der Welt und ich Erbärmliche hielt es für unwürdig, nicht in die Spuren meiner Vorfahren zu treten. Ich zeigte darin keine Reue, sondern vertauschte das unfruchtbare Leben mit dem Tod und bin für das Leben in der zukünftigen Weltd verloren gegangen.” Mit diesen Worten verschwand sie plötzlich. Aber nachdem die Magd Christi alles der Reihe nach überlegt hatte, hieß sie sogar bei der Verdammnis der Mutter das gerechte Urteil Gottese gut und beweinVgl. I Kor 3, 15. Vgl. Ps 35, 7. c  Vgl. Lk 10, 39 und Act 22, 3. d  Vgl. Jes 9, 6; Hebr 6, 5. e  Vgl. Makk 9, 18. a 

b 

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Supplementum, 12–13

te die dem ewigen Tod Übergebene nicht mehr, durch die sie den Anfang des körperlichen Lebens erhalten hatte, weil die Vernunft der verständigen Seele, die allein der Allmächtigea erschaffen hat, mit dem Richter über alle Dinge gottergeben übereinstimmte. Der besagte Prior Egidius hörte sie zwar selbst fragen und antworten, aber er sah den Geist, ihren Gesprächspartner, nicht. 12. Wie sie durch den Geist der Prophezeiung voraussagte, dass das mit den Festgewändern geschehene Unglück auf unvergleichliche Weise wieder gut gemacht werden würde.

13

Der Feiertag eines Heiligen stand bevor, und es geschah, dass der oben genannte Prior von Oingnies, nachdem er die Reliquien der Heiligen und die Seidengewänder hervorgeholt hatte, von denen das Haus damals nur noch sehr wenige und dazu ärmliche besaß, den Altar vorbereitete, wie es gewöhnlich für Feiertage geschieht. Als der Tag mit den Vesperfeiern schon vergangen war, wollte der Prior die Seidengewänder zusammen mit den Reliquien aufräumen und legte sie auf den Altar, aber als den Prior schon die Stunde des Abendessens drängte, hinterließ er die Seidengewänder gefaltet neben dem Altar und eine brennende Kerze vor den Reliquien der Heiligen (auf dem Altar) und eilte so gemeinsam mit den Brüdern zum Abendessen. Während des Abendessens fiel dann aber die brennende Kerze auf die Gewänder hinunter, verbrannte und verzehrte sie. Durch deren Gestank aufgeschreckt, eilte die Magd Christi, um durch die Fensteröffnung, die dem Altar benachbart war, zu sehen, was das sei und das gesehene Unglück dem Prior im Refektorium zu melden. Dieser stand alsbald vom Abendessen auf, und sobald er den Brandschaden fand, übertrieb er, in Tränen aufgelöst, für eine solche Sache das Maß des Schmerzes. Als die fromme Magd Christi den Weinenden sah, hatte sie Mitleid mit seinem Schmerz und seufzte und warf sich unter Tränen auf die Erde, erhob sich wieder und sagte zu dem Prior mit großem Vertrauen: “Tröste dich,b liebster Vater, tröste dich: Diesen Schaa  b 

Vgl. Sir 1, 8. Vgl. Jes 40, 1.

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den wird dir Gott innerhalb von zehn Jahren auf unvergleichliche Weise ersetzen, und du wirst dich vier Mal mehr über die wieder zu erlangenden Festgewänder freuen als du nun über die verlorenen betrübt bist. Aber weh mir, die ich dann nicht mehr leben und sie nicht sehen werde.” Gott täuschte sie nicht mit dem Versprechen, nachdem nämlich der verehrungswürdige Jakob im überseeischen Gebiet zum Bischof von Akko gewählt worden war, übersandte er dem besagten Prior die ganze bischöfliche Kopfbedeckung zusammen mit vielen anderen Gewändern aus feinem Leinen und die gesamten Altargefäße zusammen mit verschiedenen Geräten seiner Ministranten, alle aus Gold und Silber gefertigt. Aber der Überbringer all dieser Dinge überquerte mit so großer Geschwindigkeit, das heißt, innerhalb von zwei Wochen, das Meer, dass dies vielen unglaublich schien. Und das ist nicht verwunderlich und geschah nicht ohne ein göttliches Wunder, zumal der Zeitraum von zehn Jahren fast vergangen war, in dem sich das erfüllen sollte, wie die Magd Christi vorausgesagt hatte. Man kann nicht leicht sagen, wie sehr der genannte Prior bei der Ankunft dieser Geschenke vor Freude tanzte, doch die Worte der Magd Christi völlig vergaß. Als er aber den ganzen Tag in Freude zugebracht hatte, so dass er keine Stunde zu ruhen schien, begann er, als es schon Abend war, sich selbst anzuklagen, dass er mit maßloser Freude über Vergängliches frohlockt hatte. Sobald er der Schuld, die er wegen der unbändigen Freude gleichsam auf sich geladen hatte, bittere Traurigkeit hinzufügen wollte, da kam ihm plötzlich in Erinnerung, dass ihm die Heilige Gottes vor zehn Jahren vorausgesagt hatte, als er wegen der Verbrennung der Gewänder trauerte, dass ihm der Schaden nämlich auf unvergleichliche Weise ersetzt werden würde und er sich vier Mal über die Festgewänder, die er erhalten würde, freuen würde als er über die verlorenen traurig gewesen war. Sobald er sich daran erinnerte, schaute er sogleich in den Kalender und entdeckte, dass zwanzig Tage vom Ablauf der zehn Jahre noch übrig waren, in dem, wie sie voraussagte, sich das erfüllen sollte; sobald der Prior das schon mit Sicherheit wahrnahm, erschrak er unter Zittern,a obwohl ihn die Sache freute. a 

Vgl. Ps 2, 11.

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Supplementum, 13–14

13. Wie sie vorhersagte, sie werde ihren Mund nach dem Tode schließen.

14

Als die Zeit schon nahte, da die heilige Frau aus diesem Leben scheiden sollte, geschah es, dass ein religiöser und wahrhaft heiliger Mann, nämlich Johannes, genannt vom Pomerium,a von dieser Welt hinüberging. Der Prior, der sich der Heiligkeit dieses Mannes vollkommen bewusst war, zog mit einer Zange seine Zähne aus dem Munde, und als die Dienerin Gottes von der Gebetsstätteb durch das Fenster, das dem Raum benachbart war, hineinsah, das Knirschen der Zange gehört hatte, rief sie, über diese Tat mit weiblicher Furcht schaudernd, dem Prior milde zu: “Was soll das”, sprach sie, “o Herr Prior, dass du mit einem toten Leichnam so grausam umgehst? Für so hart hielt ich dich nicht!” Und der Prior sprach: “Wisse, meine Herrin, dass ich, wenn es dir widerfährt vor mir zu sterben, mit diesem Mann nichts mache, was ich nicht auch mit dir machen werde, wenn du gestorben bist. Zu ihm sagte sie: “Nein, du würdest mir das gewiss nicht antun, denn ich würde nämlich den Mund schließen und die Zähne aufeinanderpressen, so dass du das nicht könntest.” Dann setzte der Prior ein Lächeln auf und sagte: “O, wie gut wirst du das können, wenn du tot bist?” Sie fügte den Worten nichts hinzu, schloss das Fenster und zog sich in ihren Raum zurück. 14. Wie sie es nur mit Mühe erlaubte, nach ihrem Tod die Zähne aus ihrem Mund zu entfernen, und das nur nach einem vorausgeschickten Gebet. Danach war also noch nicht viel Zeit verstrichen, als sie aus der Welt schied und zum Gott des Lebensc einging. Als darauf der Prior von Oingnies zusammen mit einigen engen Freunden den Körper der Verstorbenen zu einem abgesonderten Ort überführa  Pomerium war der längs der Stadtmauer innerhalb und außerhalb freigelassene, durch Steine abgegrenzte Raum, der Maueranger oder Zwinger, s. Georges, Handwörterbuch, a.a.O. unter pomerium. b  Vgl. I Makk 3, 46. c  Vgl. Ps 41, 9; Sir 23, 4.

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te, legte er ihr Haupt zurückgebogen auf seine Knie und drückte, nachdem er auf diese Weise ihr Kinn mit der rechten Hand ergriffen hatte, mit der linken die Stirn mit Kraft zurück, aber vermochte auch so nicht, die Zähne oder wenigstens die Lippen zu öffnen, entsprechend dem Wort, das sie als Lebende vorhergesagt hatte. Als er keinen Fortschritt erzielte, obwohl er danach ein Messer und andere Werkzeuge verwendete, und sich schon anschickte, den Leichnam vor enttäuschter Hoffnung auf die Bahre zurückzulegen, kam ihm plötzlich und unverhofft in Erinnerung, was die Magd Christi ihm als Lebende davor vorausgesagt hatte, und auch, was er selbst ihr gleichsam im Spaß geantwortet hatte. Bald also warf er sich zu Boden und redete den verehrungswürdigen Leichnam mit flehentlicher Bitte an: “Wahrhaftig”, sagte er, “Herrin, ich wollte töricht handeln in dem Versuch, deine Worte zu entkräften. Aber in Wirklichkeit habe ich mich nicht daran erinnert, und wenn ich mich erinnert hätte, hätte ich die Worte, die damals von dir vorgebracht worden sind, auf jeden Fall doch für leer und lächerlich gehalten, aber wie ich jetzt sehe, wird keines deiner Worte vergebens verhallen. Ich bitte also dringend deine überaus sanfte Liebe, mich einen Teil deiner Zähne zum Trost für meinen Schmerz empfangen zu lassen. Und du weißt es, und es ist auch wirklich so, dass ich das, was ich machen wollte, wenn auch nicht auf die Weise, wie ich sollte, weil eine solche Gewalt, wie es jetzt wirklich offenkundig ist, sich der Verehrung für dich nicht ziemte, dennoch zu deiner Ehre und zu deinem Ruhm zu tun beabsichtigte: erlaube nun also, was ich von dir fordere.” Und, wunderbare Sache, kaum hatte der Prior nach diesen Worten seinen Mund geschlossen, als der leblose Leichnam, gleichsam den Worten des Bittenden zulächelnd, den Mund öffnete und von sich aus sieben Zähne in die Hand des Priors auswarf. Was gibt es ruhmreicheres als die Wunder dieser wunderbaren Dinge? Dieses Wunder haben sehr viele, die dabei waren und noch leben, bezeugt, an deren Glaubwürdigkeit auch ein Ungläubiger nicht leicht zweifeln könnte.

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Supplementum, 14–15

15. Wie Herr Hugo, Bischof von Ostia und Kardinal, durch die Reliquien der Magd Christi vom Geist der Gotteslästerung befreit wurde.

15

Als zur Zeit des Herrn Honorius, des dritten Papstes dieses Namens,a der verehrungswürdige Jakob, damals noch Bischof von Akko, nach Rom gekommen war, wurde er von Papst Honorius selbst und den Brüdern Kardinälen, insbesondere von Herrn Hugo, damals Bischof von Ostia und Kardinal der römischen Kurie, einem aller Heiligkeit wahrhaftig besonders würdigen Mann, äußerst zuvorkommend empfangen: es wünschte dieser verehrungswürdige Bischof von Ostia aber seit langem, ihn zu sehen. Man darf nicht unerwähnt lassen, dass, als dieser Bischof von Akko eben dem Bischof von Ostia ein wertvolles und schön anzusehendes Geschenk, das heißt eine silberne, von Gewicht schwere Schale voller Muskatnüsse übersandt hatte, jener Mann, ein höchst standhafter Verweigerer eines jeglichen Geschenkes, dem Herrn Bischof von Akko die Schale sogleich zurückschickte, die Muskatnüsse aber behielt und sagte: “Diese Frucht der Muskatnüsse ist eine Frucht des Orients, die silberne Schale aber ist eine Frucht der Stadt Rom.” Er sprach gewiss gewählt und wahr. Nachdem es ihnen also möglich gewesen war, ein geheimes Gespräch untereinander zu haben, sagte der Herr Bischof von Ostia dem Bischof von Akko: “Wahrhaftig”, sprach er, “liebster Bruder, ich beglückwünsche mich sehr, dass du in diese Gegend gekommen bist, seit langem schon wünschte ich mit dir zu sprechen und die Geheimnisse meiner verborgenen Gedanken aufzuschließen, zumal ich es kaum unternahm, sie jemals einem anderen zu offenbaren. Damit mir also durch Rat und Hilfe deiner Gebete eine gewisse Gnade vom allmächtigen Herrn gestattet wird, will ich dir das ganze Geheimnis meines Herzens ausbreiten: wäge sorgfältig ab, was ich dir sagen werde. Deshalb wisse, dass ich genauso wie der heilige Hiob den Stacheln des (bösen) Feindes vom Herrn ausgeliefert wurde,b aber umso schlimmer, als jener körperlich, ich a  b 

Honorius III. (1216–1227), s. (H). S. 186, Anm. zu Z. 532. Vgl. Hi 1, 6–12 (vgl. II Kor 12, 7).

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aber seelisch ausgeliefert wurde. Der Geist der Gotteslästerung quält meine Seele so sehr und überschwemmt sie mit verschiedenen Fluten von Versuchungen, und ich werde fast täglich bis in Verzweiflung hinabgestoßen; allein darin atme ich auf, und das jedoch sehr wenig, dass, während ich mit den Brüdern Kardinälen im Konsistorium an den notwendigen Angelegenheiten sitze, das Leiden, durch das ich verstört werde, zwischendurch ein wenig nachlässt. Aber ach, wenn ich zu den gewohnten Beschäftigungen zurückkehre, überfällt mich der Stachel der unermesslichen Qual wieder und lässt mich auch nicht durch irgendwelche Speisen oder Getränk oder Schlaf zur Ruhe kommen, sondern zwingt den nahezu blutleeren Körper, indem der Geist durch endloses Nachdenken erschöpft ist, zur Verödung; und damit nichts, was in mir ist, für dich unbesprochen bleibt, das fürchte ich besonders stark, dass ich eine solche Last nicht zu tragen vermag und vom Stand des heiligen Glaubens vollkommen abfalle.” Als der Bischof von Ostia unter schwerem Seufzen das und dergleichen ausführte, brachte der Herr Bischof von Akko, ein Mann frommen Geistes wie er war, in solche Seufzer des heiligen Mannes auch selbst schwere Seufzer ein, und, indem er sich den Schätzen der heiligen Schriften und der göttlichen Barmherzigkeit zuwandte, predigte er dem Mann, der aber solche Dinge sehr wohl kannte, das, was in solchen Versuchungen geeignet und passend schien. Aber weil der Bischof von Akko, ein kluger und erfahrener Mann, selbst wusste, dass es in solchen Angelegenheiten oft geschieht, dass der Verstand von den Fluten insbesondere solcher Versuchungen überschwemmt, so schnell nicht zu Vernunft kommt, wenn er nicht durch besonders offensichtliche Beispiele bestärkt wird, fügte er auch folgendes hinzu, indem er sagte: “Ich hatte vor meinem Bischofsamt im Gebiet Lothringen eine mir sehr liebe Freundin, die auf Grund eines Vorrechts der Heiligkeit und eines in ihrer Zeit einzigartigen Verdienstes vom Herrn die besondere Gnadengabe zum Vertreiben von Geistern der Gotteslästerung erhalten hatte: Es finden sich davon aber in dem Buch über ihr Leben, das ich selbst verfasst habe, sehr viele Beispiele dafür. Eben diese Gnadengabe gegenüber denen, die sie anriefen, behielt sie nicht nur während ihres Lebens, sondern auch

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Supplementum, 15–17

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nach ihrem Tod. Wenn du also das Buch über dieses Leben mit dir herumträgst, wirst du es immer wieder lesen und sie, wenn du sie für würdig erachten wirst, um Hilfe anrufen, und ich nehme von ganzem Herzen im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und die Heiligkeit seiner Dienerin an, dass du dich binnen kurzem von der Versuchung, in der du treibst, erlöst fühlen wirst.” Dessen Wort nahm der Herr Bischof von Ostia mit Herzensfreude auf und sagte zum Bischof von Akko: “Über diese Frau habe ich, liebster Bruder, viel sehr Wundersames gehört; aber ich bitte darum, wenn du irgendwelche Reliquien von ihr besitzt, lass sie mir zukommen. Mit Hilfe von deren Verehrung wird es mir angenehmer sein, jene Heilige anzurufen als wäre sie anwesend.” Nun lachte der Bischof seinerseits den Bittenden voller Freude an: “Es hängt”, sagte er, “ihr in einem silbernen Kästchen aufbewahrter Finger,a mir beständig um den Hals, der mich unter allen Umständen in verschiedenen Gefahren und in den Gefährdungen der Seefahrt immer unversehrt bewahrte. Den also kannst du haben, wenn du willst.” Bald darauf empfing der Bischof von Ostia dankbar das Geschenkte und widmete sich zuerst wachsam der Lektüre des Lebens der Magd Christi und fand darin wunderbare Hoffnung und innere Ruhe für sich, und in Bezug auf das übrige, was blieb, empfand er in seinem bereits frohlockenden Geist große Zuversicht. Es dauerte nicht lange, dass seinen Geist, als er in einer Nacht vor dem Altar, den er an einem abgelegenen Ort besaß, allein betete, die Starrheit der üblichen Versuchung beschlich. Er erhob sich sofort vom Boden und nahm den Finger der Magd Christi in seine frommen Hände, den er fest an seine Brust drückte und rief die Dienerin Gottes und den Beistand ihrer Gebete flehentlich an. Unverzüglich wurde er, nachdem der Geist der Gotteslästerung und die Erstarrung des Geistes ganz und gar vertrieben waren, innerlich durch das Licht der himmlischen Gnade erleuchtet und schmeckte auf dem Gaumen des Herzens, wie süß der Herr istb und empfing aus der Hand des Herrn durch die Bitten seiner a 

600. b 

S. auch Jakob von Vitry, Epistulae 1, 44–45, s. (H), S. 188, Anm. zu Z. 598– Vgl. Ps 33, 9.

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Magd einen Schild unverletzlichen Schutzes und der Sicherheit gegen die Geister des Bösen.a Ob er aber ebenda etwas Weiteres im Geist spürte, ob er etwas an geheimer Offenbarung empfing, weiß er selbst, ich aber weiß es nicht, aber sein Geheimnis für ihn, ist sein Geheimnis für ihn,b mir selbst aber gebührt nur, das den Lesern anzuzeigen, was ich sicher weiß. Nun also ist zu überlegen, warum jener Mann, über den wir solches berichteten, ein Mann, sage ich, von herausragendster Heiligkeit, ein Mann, den der allmächtige Gott, wie wir im folgenden sagen werden, auf einen solchen Gipfel erhob, warum, sage ich, er ihn preisgab, um ihn durch so bittere Versuchungen vom Geist der Gotteslästerung quälen zu lassen. Aber der offensichtlichste Grund liegt zur Genüge vor, wenn wir seinen Vorgänger, den Apostel Petrus anführen, den der Satan auswählte, um ihn durchzusieben wie Weizenc und den sein Glaube nach der dreimaligen Verleugnungd vollständig verlassen hätte, wenn der Sohn den Vater nicht für ihn gebeten hätte.e Aber er musste durch die Versuchung erzogen werden, damit der mit den Schwächen der Untergebenen mitzufühlen verstünde, der als Haupt aller Christen aufgestellt werden sollte. 16. Wie eine andere heilige Frau vom Geist der Gotteslästerung versucht und vom Herrn befreit wurde. Ich habe aber im Gebiet von Lothringen auch eine andere, sehr vornehme Frau erlebt, die durch wunderbaren Eifer des Geistes das Kreuz nahm und mit eiserner Kette umgürtet und ohne Gefährt sogar barfuss bis ins Heilige Land nach Jerusalem wanderte. Und du, verehrungswürdiger Jakob, damals Bischof von Akko, zwangst sie, zu Pferd und mit Schuhen angetan, in die Heimat zurückzukehren. Sobald sie zurückkehrte, trat sie unverzüglich in den Zisterzienserorden ein und verließ ihr Haus, ihre unzähligen Besitztümer und ihre Kinder. Als sie das so mannhaft aus Liebe zu Vgl. Eph 6, 12. Vgl. Jes 24, 16. c  Vgl. Lk 22, 31. d  Vgl. Mk 14, 66–72 (Mt 26, 34 und 75; Lk 22, 34 und 61). e  Vgl. Lk 22, 32. a 

b 

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Christus vollführt hatte, wurde sie so sehr vom Geist der Gotteslästerung geplagt und gereizt, dass sie mir unter größtem Schmerz mitteilte, sie werde durch jene sehr starke Versuchung mehr gepeinigt als sie jemals anderweitig gequält worden sei. Aber führte das etwa zur Verdammnis oder zum Schaden ihrer Kraft, wenn Kraft in jedem Fall in Schwachheit zur Vollendung kommt?a Das sei fern, denn nicht lange Zeit danach wurde sie vom allmächtigen Herrn befreit und mit solcher Gnadenfülle beschenkt, dass sie, wo immer sie sich im Bereich des Klosters aufhielt, die Stunde der Ankunft Christib am Altar durch den Dienst des Priesters, wie verborgen auch immer er geschah, ohne jegliches Zögern erkannte, und als die Stimme in ihrer Kehle taubengleich geworden war, ertönte sie mit solchem Wohlklang, dass keiner der Sterblichen sie im Klang nachzuahmen vermochte. Davon bin ich ein Zeuge, der ich beim Zelebrieren der Messe an diesem Ort diese taubengleiche Stimme gehört und an ihr noch etwas anderes sehr Wunderbares gesehen habe. Sie war dabei, die Kommunion mit dem Leib und dem Blut des Herrn zu vollziehen. Also herbeigeführt in den Armen derer, die sie stützten, tanzte sie mit allen ihren Gliedern und ihr Gesicht, ganz voller Gnaden, zeigte beim Tanzen Beifallsgesten von solcher Anmut, dass nicht daran gezweifelt werden konnte, dass sie zum Hochzeitsmahl des Lammes gerufen wurde,c bei dem der allmächtige Vater mit unsichtbarer Kraft Himmlisches mit Irdischem, Niedriges mit Höchstem verband. Aber was ziehe ich die Worte in die Länge? Ich habe viele gesehen, von vielen durch den Geist der Gotteslästerung bedrängten Menschen erfahren, aber nicht einen unter allen gefunden, der nicht nur befreit, sondern nach der Versuchung sogar in die Hand einer größeren Gnade gegeben wurde; es gibt allerdings nur wenige, die würdig werden, die himmlischen Geheimnisse zu schauen, ohne vorher durch diese Versuchung gereinigt oder geprüft zu werden. Und darin begegnet uns zwar ein höchst würdiger Grund, aber nun mögen die Beispiele der vorangegangenen Fälle genügen: wir Vgl. II Kor 12, 9. Mit der Ankunft Christi am Altar ist die Realpräsenz Christi in der Hostie gemeint, entsprechend der katholischen Lehre von der Transsubstantiation. c  Vgl. Apk 19, 9. a 

b 

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haben also einen Hohenpriester, der mit unseren Schwächen mitzuleiden versteht, der in jeder Hinsicht versucht ist wie auch wir.a

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17. Wie man wahrgenommen hat, dass die Magd Christi für einen Bischof, der ihr Grab besuchte, betete. Ungefähr zu derselben Zeit kam aus dem Gebiet von Italien ein Bischof zu ihrer Grabstätte, demütig und fromm, dessen Namen wir nicht zu verraten wagen, da er verboten hat, genannt zu werden,b weil er jene heilige und gotteswürdige Frau Maria zu Lebzeiten sehr geliebt hatte. Und als er eines Nachts an ihrem Grab wachte, um zu beten, sah er, plötzlich entrückt, im Geist, wie die verehrungswürdige Maria vom Ort ihrer ewigen Ruhec mit zum heiligen Altar hin ausgestreckten Händen und gebeugten Knien betete und für ihn zum Herrn flehte. Zur großen Freude des hohen Geistlichen blieb die Art der außergewöhnlichen Vision etwa zwei Nachtstunden hindurch unbeweglich bestehen. Am nächsten Tag aber, beim Lebewohl von den Brüdern von Oingnies, eröffnete er dem Prior ganz im geheimen, was ihm nachts beim Gebet am Grab der verehrungswürdigen Maria geschehen sei. Das jedenfalls haben wir durch den zuverlässigen Bericht eben jenes Priors vernommen und für würdig befunden, in das vorliegende Werk aufzunehmen.

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18. Wie sie beim Befreien des verehrungswürdigen Magister Jakob, ihres einstigen Beichtvaters, aus Meeresgefahr, gewisse zukünftige Ereignisse offenbarte. Als also der verehrungswürdige Jakob, Bischof von Akko, aus der Stadt Rom ins heilige Land zurückgekehrt war und wegen auftauchender Gründe wiederum nach Rom zurückreiste und über das Mittelmeer fuhr, zog plötzlich ein Unwetter auf, so dass alle, die Vgl. Hebr 4, 15. Nach Angabe in Thomas‘ Bonum universale de apibus 1, 9(2), Hg. Douai 1627, S. 37 handelt es sich um Konrad, einen Zisterzienserabt, der später Kardinal der römischen Kurie wurde, s. (H), S. 191, Anm. zu Z. 674f. c  Vgl. Act 7, 49. a 

b 

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Supplementum, 18–21

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mit ihm unterwegs waren, ganz und gar am Leben verzweifelten. Darauf entledigte sich der verehrungswürdige Bischof seiner Kleider und war nur mit einem † Ziegenfella umgürtet, damit er, wenn das Schiff etwa an Klippen zerschlagen würde, ins Meer tauchen und vielleicht durch Schwimmen das Festland erreichen könnte. In dieser Not fanden sich also alle, die in diesem Schiff waren, und je nachdem welche Frömmigkeit einen jeden bewegte, riefen die einen den heiligen Nikolaus, andere den heiligen Klemensb und wieder andere andere Heilige mit Gebeten um Hilfe an. Der Bischof von Akko aber, der sich beflissen an die Reliquien der Magd Christi, Maria von Oingnies, erinnerte, die er immer um den Hals hängen hatte, begann, ihren Schutz einzufordern und sagte: “O du, verehrungswürdige Mutter und Herrin, du hast mich zu Lebzeiten mit besonderer Zuneigung geliebt, ich habe deine Liebe auch erwidert, wenn auch nicht so sehr wie ich sollte, jedoch gemäß dem, was das Maß meiner Unvollkommenheit vermochte. Da ich mich also in diesen Nöten befinde, rufe ich kraft des Vorrechts deiner Verdienste mit Gebeten deine Hilfe an: Ich plane mein Leben bei weitem anders zu ordnen, und deswegen fürchte ich, jetzt den mir bevorstehenden Tod zu sterben.” Als der Bischof mit diesem und dergleichen sein Plädoyer mit verängstigtem Sinn und zitterndem Mund beendete, wurde er von einem plötzlichen Traumgesicht ergriffen und sah, wie die Magd Christi ihm sagte: “Siehe, ich bin als deine Beschützerin da, du hast mich ja gerufen. Ich habe dich im Leben wirklich geliebt, aber nach dem Leben höre ich nicht auf, für dein Heil zu beten. Fürchte dich nicht, das hier wird nicht das Ende deines Lebens sein.” Als jene das sagte, hatte der Bischof die Erscheinung, dass die Magd Christi ihn in der Kirche von Oingnies herumführte und ihm, als er mit ihr durch die Kirche in ein höheres Gewölbe hinaufstieg, fünf aufgestellte Altäre zeigte und sprach: “Diese vier sollst du meiner Ermahnung entsprechend zu Ehren der Heiligen a  Mit Ziegenfell ist wohl ein Schlauch, eine Art aufblasbare Schwimmweste aus Ziegenfell gemeint, s. (H), Einleitung S. 31. b  Nikolaus und Klemens galten als Schutzheilige der Seefahrer, insbesondere Klemens wurde bei Unwetter, Sturm und Schiffbruch angerufen, s.  (H), S.  192, Anm. zu Z. 701f.

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weihen, die dir der Prior dieses Ortes zeigen wird, den fünften aber zur Ehre der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit.” Und sie zeigte mit dem Finger auf den Ort und sagte: “Vor diesem Altar wird dir Christus, wenn du willst, die erhoffte Ruhe schenken und du wirst dort das finden, was du mit viel Eifer gesucht hast. Aber du, ein Mensch mit eigenem Willen, wolltest mit meinen und den Ratschlägen derjenigen, die dich geistlich liebten, nie einverstanden sein und folgtest immer deinen eigenen und nicht fremden Urteilen.” Nachdem sie also diesen Tadel hinzugefügt hatte, verschwand sie sogleich, der Bischof aber führte seinen Geist zu den äußeren Dingen zurück und fand das Meer vollkommen befriedet und still vor. Und ohne Zögern gab er sich ganz dem Lobpreis Christi und seiner Magd hin, zeigte jedoch niemandem, was ihm offenbart worden war, weil er auf alle Fälle prüfen wollte, ob das so eintreffen würde, was er als Offenbarung voraus sah. 19. Wie der besagte verehrungswürdige Jakob entsprechend der vorher von der Magd Christi gezeigten Vision die Kirche von Oingnies weihte. Nicht lange Zeit später kam er nach Rom und erbat vom Herrn Honorius, dem dritten Papst dieses Namens, vom Bischofsamt entbunden zu werden. Davon entband ihn jener, von der Inständigkeit der vielen Bitten überwunden. Entbunden also kam er nach Oingnies, aber das Bauwerk der Kirche, das ihm auf dem steinernen Gewölbe im Geist gezeigt worden war, fand er noch nicht gebaut vor; er zögerte jedoch nicht und wartete den Ausgang der Angelegenheit schweigend ab. Während er also weit entfernt liegende Gegenden Lothringens besuchte und dort eifrig predigte, beeilte sich der verehrungswürdige Prior Egidius von Oingnies, den Bau der Kirche zu vollenden und ließ nach Gottes Ratschluss jene ganze Konstruktion mit den fünf Altären herstellen, so wie es dem verehrungswürdigen Bischof im Geist gezeigt worden war. Als diese vollendet war, ließ der Prior dem Bischof Jakob sagen, er möge kommen und die nunmehr vollendete Kirche von Oingies mit ihren Altären weihen. Ohne Verzögerungen entstehen zu lassen, kam der Bischof und stieg gemeinsam mit

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Supplementum, 21–22

dem Prior und den Brüdern durch die früher im Geist gesehene Kirche auf das Gewölbe und fand die fünf in der vorher gezeigten Ordnung aufgestellten Altäre, freute sich mit großem Herzensjubel über das Bauwerk und fragte den Prior: “Wem wird”, fragte er, “dieser Altar in der Mitte gehören?” Und der Prior sagte: “Als ich im vergangenen Jahr am Quartanfiebera litt, gelobte ich bei der höchsten Majestät, dass ich, wenn ich die Gesundheit wiedererlangen würde, diesen Altar zu Ehren der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit errichten würde. Ich erlangte wieder, was ich erbat und bin bestrebt, das Versprochene einzulösen.” Das vernahm der verehrungswürdige Bischof mit höchster Verwunderung, erfüllt von unermesslicher Freude betrachtete er mit großartiger Verehrung und mit Erschrecken die Erfüllung der göttlichen Offenbarung, die sich in allen Dingen so offen zeigte und nachdem die Altäre bald danach geweiht waren, erzählte er dem Prior und den Brüdern alles, was ihm in dem oben Erzählten widerfahren war. 20. Wie die Magd Christi dem besagten verehrungswürdigen Jakob in Träumen erschien und danach trachtete, ihn von seinem gefassten Vorsatz abzubringen.

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Als die verehrungswürdigen Väter Kardinäle der römischen Kurie also, nach dem Tod des Papstes Honorius III., den oben genannten Bischof Hugo von Ostia, einen Mann, der in jeder Tugend besonders hervorstach, zu Papst Gregor, dem neunten dieses Namens, nach göttlicher Anordnung einvernehmlich erhoben hatten, plante der verehrungswürdige Bischof Jakob, der, wie wir oben gesagt haben, bestens befreundet und bekannt mit dem (neuen) Papst war, ihn aufzusuchen. Daher waren der Prior und die Brüder nicht wenig traurig und begannen, wie es nachher, o Schmerz, auch so geschah, heftig zu fürchten, dass ihn der genannte Papst durch irgend eine Würde eingebunden, bei sich zurückhalten würde. Als der Tag also bevorstand, an dem der Bischof zur Stadt Rom aufbrechen sollte und sich nach den Morgengebeten ein wenig dem Schlaf hingegeben hatte, siehe, da erschien a 

Fieber, das alle vier Tage wiederkehrt.

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die Magd Christi, die verehrungswürdige Maria, einer Kranken ähnlich, dem Bischof im Schlaf. Und als es dem Bischof schien, dass er sich mit großer Sorgfalt bemühte, sie wie eine Schwerkranke mit der (letzten) Ölung zu versehen, sah sie den Bemühten mit finsterer Miene, einer Empörten gleich, an und sagte: “Du wirst mich nicht salben können, da deine Dienstordnunga nicht enthält, auf welche Art und Weise ich gesalbt werde, sondern salbe unseren Prior gemeinsam mit den Brüdern, die, wie auch ich, auf Grund deines Weggangs schwer leiden.” Und ohne Zögern ruft der Bischof, nachdem er aufgewacht ist, den Prior und die Brüder herbei und zeigt an, was ihm von der Magd Christi im Schlaf gesagt worden ist, weicht jedoch nichtsdestoweniger von seinem Vorsatz ab und setzt alle seine Bemühungen fort, die Reise anzutreten. 21. Wie derselbe Jakob die Reise zur Kurie trotz der gegenteiligen Ermahnungen der Magd Christi und der anderen antrat. Sobald der verehrungswürdige Prior Egidius das gesehen hatte, empfand er vor äußerster Ungeduld Schmerz und begann, die Magd Christi zu bitten, die Abreise des Bischofs zu verhindern. Da erschien die heilige Frau selbst in einer Vision. Sie sagte ihm auch: “So wie dir die Abreise des Bischofs widerstrebt, so zweifle nicht daran, dass sie auch mir widerstrebt, und deshalb werde ich ihn auf der Reise nicht begleiten; aber es begleiten ihn auf alle Fälle drei Frauen, deren Händen er später, wenn er will, nicht entgehen wird. Lass also zu, dass er tut, was er will, du wirst ihn jetzt von seiner Absicht nicht zurückhalten können.” Sobald die Magd Christi dem genannten Prior das gesagt hatte, erschien plötzlich der Bischof. Durch dessen Stimme aus der Ekstase zurückgerufen, berichtete er jenem, was ihm die Herrin Maria, in eben diesem Augenblick selbst in einer Vision erscheinend, über seine Abreise vorausgesagt hat. Staune, Leser, betrachte das Wunder! Durch diese Worte keineswegs bewegt, fügte der Bischof gegenüber dem Das lateinische ordinarius (liber) ist das Pontificale, das heißt die Ordnung, die den Dienst eines Bischofs vorschreibt. a 

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Supplementum, 22–24

Prior lächelnd hinzu: “Auch zu mir”, sagte er, “hat die Herrin Maria Ähnliches gesagt. Derartige Dinge beunruhigen mich keineswegs, die Tür steht offen genug,a ich werde schneller zurückkehren, als ihr erwartet. Lass dich nicht verwirren, liebster Bruder. Um deiner Liebe die Wahrheit zu gestehen, es wäre für mich schwer und für jenen vielleicht noch schwerer, angesichts einer so großen Veränderung der Situation einen so großen Freund nicht zu besuchen und nicht zu sehen. Außerdem glaube ich nicht, nehme vielmehr mit Sicherheit an, dass mich der Papst keineswegs gegen meinen Willen bei sich festhält, wie ihr befürchtet.” Mit diesen Worten tröstete er, wie er konnte, den Prior und die übrigen Brüder und brach nach Rom auf und, wie Gott es durch seine Magd dem Prior offenbarte, wurde er eben dort von zwei Frauen, das heißt von der Bischofs- und der Kardinalswürde ergriffen; was aber die dritte Frau sein konnte, können wir, jedenfalls gegenwärtig, nicht mit Sicherheit wissen. 22. Klage über die Abreise des besagten Magister Jakob, und wie gefährlich es ist, dem eigenen Willen zu folgen.

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Nun muss ich mich also wieder dir zuwenden, Bischof von Tuskulum, Kardinal der römischen Kurie. Die Dienerin Gottes sprach die Wahrheit und wie es dabei ein jeder bemerken kann, nichts als die Wahrheit, indem sie bezeugte, dass du ein Mann mit eigenem Willen bist. Ihr bestandet in jedem Fall trotz der so äußerst offensichtlichen Offenbarungen der Magd Christi darauf, dass Ihr auf keine Weise vom eigenen Willen abgebracht werden konntet. Es soll also, Brüder, jener Tuskulaner sehen, ob er mit Hilfe der Wirkung seines Willens (wirklich) profitiert hat, ob er davon keinen Schaden genommen hat, wenn er inzwischen Dinge unterlassen hat, die der Ehre Christi und dem Heil der verlassenen Seelen hätten nützen können, das heißt, derjenigen Seelen, die Jesus, der Fürst unseres Heils, mit dem eigenen Blut und dem schändlichen Tod am Kreuz losgekauft hat. Er möge, sage ich, seinen Gewinn sehen, seinen Profit im Geist überdenken: Er besetzt als Bischof a 

Vgl. Mt 24, 33.

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einen Sitz der römischen Kurie, besetzt einen als Kardinal, studiert die Schriften, wie ich höre, er genießt die Ruhe – und in den Gebieten Lothringens, in die er, wie wir mit Sicherheit glauben, von Christus, dem höchsten Priester, aus dem Gebiet des Orients als Gesandter geschickt worden ist, sind die von Rat und Hilfe verlassenen Seelen im Begriff, in die Hölle zu fahren. Die größte Ehre in der Kirche ist es, in Rom unter den Kardinälen eine Stelle inne zu haben, aber was soll das für ihn und die Ehre? Christus, zum Gespött der Menschen und zum Hohn des Volkes geworden,a hinterließ uns sein Vorbild, damit wir seinen Spuren folgen.b Wenn er jedoch nach Ehre strebt, was keineswegs zu glauben ist, welche Ehre ist größer als, wenn man eine Ehre abgelegt hat, eine so große Ehre zu finden, der keine Ehre unter allen Ehren gleichkommen kann? Aber damit nicht etwa jemand seine Aufmerksamkeit auf einen Sinnspruch und dessen Deutung richtetc und meint, ich spräche in diesem Abschnitt von der zukünftigen Ehre nach diesem Leben: er soll keineswegs glauben, dass er in jenem Abschnitt von dem, was wir in der zukünftigen Welt besitzen werdend †,e jetzt will ich von der Ehre sprechen, die sich um diese Welt bemüht. Es möge mir jetzt jener Bischof von Tuskulum, Kardinal der römischen Kurie, antworten und seine Ehre, die er jetzt in seinem Gemach pflegt, mit jener Ehre vergleichen, die er früher im Gebiet von Lothringen als Bettelarmer und ohne Amt innehatte. Ich habe ‚arm’ gesagt, aber das ist schlecht gesagt, vielmehr äußerst reich. Aber nun ist er auch nicht reicher oder war es nie: was fehlte ihm nämlich dort jemals an Lebensnotwendigem? Und wenn in den so reichlich vorhandenen Mengen, die ihm verdientermaßen zuflossen, irgendein Mangel vermutet worden wäre, wären da unzweifelhaft tausend Hände gewesen, die um die Wette dafür gesorgt hätten, ihn auszugleichen. Und kein Wunder! Warum? Die Welt staunte nämlich über eine unbekannte Erscheinung, das Vgl. Ps 21, 7. Vgl. I Petr 2, 21. c  Vgl. Prov 1, 6. d  Gemeint ist die Glorie in der jenseitigen Welt. e  Hier ist die Stelle verderbt. a 

b 

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Supplementum, 24–25

heißt über einen Bischof einer sehr bevölkerungsreichen Stadt in überseeischen Gebieten, der aus freien Stücken sein Herrschaftsgebiet verlassen hatte, unter Aufgabe der Reichtümer des Ostens arm geworden war und an dem bescheidenen Ort von Oingnies die Ruhe gewählt hatte unter den Schäflein der Beginen, wie sie die Ägypter ganz und gar verabscheuen.a Die Welt besitzt viele und in fast unzählbarer Menge Bischöfe, ganz Gallien mit seiner Weite genügt kaum für die jährlichen Einkünfte der Kardinäle, aber die Welt hatte häufig hohe geistliche Würdenträger ohne Sitz, die Christus nachahmen, der sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm,b Gallien aber hatte niemals einen Kardinal ohne Pracht und Würde,c Spanien aber hat einen einzigen und das in neuerer Zeit, wie ich höre, vor drei Jahren, erworben, Lothringen aber hatte diesen (Jakob) als ersten unter dem Schutz Christi durch die Gebete seiner Magd Christi Maria. ´Durch die Gebete seiner Magd` habe ich gesagt, aber ich gestehe, dass ich mit Zweifel gesprochen habe. Ich weiß nämlich nicht, ob sie in ihrem Zorn ihre Gebete noch immer zurückhält,d weil sie zuvor gesagt hatte, dass die Abreise des Bischofs gegen ihren Willen stattfinde. Ich glaube jedoch, auch wenn sie bisher im Zorn die höchst frommen Bitten und die beharrlichen Gebete zum Herrn der religiösen Männer und Frauen in unserer Gegend zurückgehalten hat, so veränderte die Magd Christi vielleicht ihre Rede und fleht den allmächtigen Herrn um die Rückkehr jenes Mannes an, damit er ihn durch sein Einschreiten aus der Hand der beiden Frauen, das heißt der Bischofs- und der Kardinalswürde, befreien und nach Gallien zurückschicke: die dritte Frau, die Kirche von Lothringen, wie jemand von den Unseren dargelegt hat, die ihm gleichsam mit erster Liebe verbunden ist, wird ihn durch ein Ehebündnis Zeit ihres Lebens besitzen. Denn es ist nämlich nicht verwunderlich, vielmehr sehr mit dem göttlichen Gesetz im Einklang, nach Zurückweisung der beiden, die er früher der ersten Vgl. Gen 46, 34, vgl. Ex 8, 26. Vgl. Phil 2, 7. c  Nach der Textausgabe der AASS handelt es sich um den heiligen Raymundus Nonnatus, s. (H), S. 198, Anm. zu Z. 870–872. d  Vgl. Ps 76, 10. a 

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vorzog, diese erste wieder zu nehmen und ihr mit desto größerer Hingabe anzuhängen, je größer die Entfremdung war, mit der er sich von ihr getrennt hatte: das ist es nämlich, was Euch, bester Bischof, als Ihr damals in unser Gebiet versetzt wart, durch göttliche Offenbarung gesehen habt. 23. Eine andere klagende Ermahnung, den Zustand des besagten Magister Jakob betreffend, von dem Autor dieses bescheidenen Werkes vorgebracht.

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Lange bevor jener zu verehrende und wahrhaft würdige Herr Hugo, Bischof von Ostia, zur apostolischen Würde erhoben wurde, hast du bezeugt, dass dir in einer göttlichen Offenbarung erschienen sei, dass der heilige Papst Gregor,a der denjenigen, der jetzt Papst ist,b sowohl durch den Namen wie auch durch seine Wirksamkeit schon andeutet, dir zwei sehr schöne aber tote Vögel gab, der heilige Lambert aber, der Märtyrer und Bischof von Lüttich,c dir zwar einen einzigen, aber viel schöneren und lebenden: Das ist es auch, was die heiligste Frau Maria von Oingnies selbst, eine sich gewiss nicht täuschende Prophetin, dir einst, als sie noch lebte, vorhersagte, nämlich, dass der heilige Märtyrer Lambert dir die Mitra auf dein Haupt gesetzt habe. Dass das zweifelsohne geschehen ist, haben wir gesehen, als die Betreuung des ganzen Lütticher Bistums dir gleichsam als die Mitra der Macht und der Verwaltung vollständig anvertraut worden ist, und das als Gabe des heiligen Lambert. Die Macht über die weltliche Verwaltung aber unterstand ihm nicht, weil sie das Vorrecht der irdischen Herrschaft war; dir wurde jedoch von dort weltliche Unterstützung zuteil, weil niemand jemals mit Hilfe seiner eigenen Mittel gekämpft hat.d Diesen (Vogel) der geistlichen Verwaltung aber, durch die Flügel der Kontemplation offenbar, durch die Federn der Tugend glänzend, durch die heilige Handlung beseelt, Gemeint ist Gregor der Große, s. (H), S. 198, Anm. zu Z. 895f. Gregor IX. (1227–1241), s. (H), S. 198, Anm. zu Z 896. c  Lambert ist im 7. Jahrhundert als Bischof verbürgt, s. (H), S. 199, Anm. zu Z. 898. d  Vgl. I Kor 9, 7. a 

b 

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Supplementum, 25–27

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hört Lambert, der Märtyrer und Bischof von Lüttich, immer noch nicht auf, dir täglich durch die heiligen Gebete der heiligen Männer und Frauen darzubringen. Wer unter den Klugen, wer unter deinen geistlichen Freunden wird es in Ruhe aushalten können, wenn ein so großer Märtyrer mit einem so großen Geschenk von dir abgewiesen wird? Die Vögel freilich, die dir der heilige Papst Gregor gab, auch wenn sie durch ihre große Schönheit auffällig sind, sind doch tot, und du hast bezeugt, dass sie dir wirklich tot gegeben wurden, ja, tot waren sie bestimmt, und du hast selbst gesagt, dass jene Vögel tot waren, und ich erinnere mich, dass sie tot waren. Aber auf welche Art und Weise sind sie tot? Warum leben sie nicht? Wenn du sie untersuchst, weißt du selbst es besser als ich. Sag also, wo ist ihr Leben, wo ist die Kraft lebendiger Tat, wo ist die Glut eifriger Predigt, wo ist jene reiche, beim Hören der Bekenntnisse äußerst wirksame und sehr heilige Frucht, wo ist der Eifer und die geschickte Bemühung beim Ausrotten von Lastern? Darüber, wie in unserer Gegend das Gerücht geht, hast du jetzt dort drüben entweder wenig oder gar keine Vorstellung. O, Du unter den Sterblichen vom Herrn besonders auserwählte und in solchen Dingen säumige Mann, der zwar innerlich in göttlicher Liebe brennt, wie wir absolut sicher sind, aber dennoch, auf den Leuchter gestellt,a nicht für alle leuchtet! O schöne und tote Vögel! Tot sind sie, die Vögel, sage ich, aber auf welche Art und Weise tot? In Wirklichkeit haben jene zwar toten Vögel einen Mund, aber sie sprechen nichtb durch Euch, weil Ihr die Sprache des Vaterlandes nicht versteht. Augen haben sie, aber sie sehen nichtc durch Euch beim Unterscheiden in gerichtlichen Angelegenheiten, weil Eure Augen wie die Fischteiche von Hesbond sind, die sich am Tor Bar-Rabbim befinden.e Sie haben Ohren, aber sie hören nichtf durch Euch, weil Eure Ohren offen stehen für die Eintreiber von Würden, mit denen sie die armen Vgl. Mt 5, 15. Vgl. Ps 134, 16. c  Vgl. Ps 134, 16; Ez 12, 2. d  Vgl. Cant 7, 4. e  Vgl. Cant 7, 4. f  Vgl. Ps 134, 17; Ez 12, 2. a 

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Kinder der Kirche unterdrücken können, aber nicht die Schreie der Armen hören und diejenigen mit Christus versöhnen, die als Kinder des Zornsa der Hölle zustreben. Wenn also jene, dir übergebenen Vögel weder sehen noch hören noch sprechen, was muss man anderes von ihnen denken, außer dass sie tot sind? Wenn sie aber tot sind, warum werden sie gehegt und gepflegt wie lebende? Hüte Dich also, heiliger Vater, hüte Dich davor, hoch zu verehrender Bischof, dass Dir die toten Vögel mehr Verwesungsgeruch als Ehre bereiten: denn die Natur der Dinge zeigt sich bekanntlich darin, dass sie die Eigenschaft hat, dass Vögel, wie schön auch immer sie seien, wenn sie des Lebens entbehren, nicht lange ohne Verwesungsgeruch auskommen können. Ihr wisst gewiss, dass es nichts Vorwurfsvolleres gibt als das, was in unserem gallischen Sprichwort von der toten Henne gesagt wird.b Ich bitte Dich also, heiliger Vater, bitte Dich unter Tränen, mir gegenüber nicht ungehalten zu sein, wenn ich das sage. Gott und seine heiligen Engel sind meine Zeugen, dass ich mit diesen, wenn auch äußerst harten Worten, aus keinem anderen Grund als wegen größter Liebe Dir gegenüber bewegt werde. Denn mit welcher Liebe ich Euch liebe, mit welcher aufrichtigen Zuneigung ich Euch umarme, weiß der, der alles weiß.c Ich hatte ja noch nicht das Alter von fünfzehn Jahren erreicht, als ich Euch in Lothringen predigen hörte, als Ihr noch nicht Bischof wart und Euch mit so großer Verehrung lieb gewann, dass mich das Hören allein Eures Namens froh machte: von da an bleibt die Liebe zu Euch ungeteilt bei mir. Und das ist nicht verwunderlich, weil das, was wir als Kinder lernen, in gewisser Weise mit uns verschmilzt. Verzeih also, heiliger Vater, verzeih mir, insbesondere, weil ich dir nur das vor Augen geführt haben werde, was du lange vorher schon als offenbart gesehen hast.†d Wenn aber mit Hilfe dieser Aussagen, die gegen Eure Person vorgebracht worden sind, meine Zuneigung die Verwirklichung ihres Wunsches mit Eurer Rückkehr wird erreichen können, werde ich, Vgl. Eph 2, 3. Das Sprichwort war nicht zu finden, s. (H), S. 200, Anm. zu Z. 947f. c  Vgl. I Joh 3, 20. d  Hier ist der Text verderbt. Das im Text stehende vos volo (ich will, dass ihr) ergibt keinen Sinn, wird deshalb nicht übersetzt, vgl. (H)., Einleitung, S. 30. a 

b 

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Supplementum, 27

der ich mir anmaßte, Euch, einen verehrungswürdigen Kardinal und Bischof der heiligen allgemeinen Kirche, mit zwar in gewisser Weise beleidigenden, aber doch von Liebe zeugenden Worten herauszufordern, es nicht übelnehmen, der Torheit angeklagt zu werden, die ich verdiene.

211

Indices

Bibelstellen*

Genesis (1. Buch Mose) 3, 19

102

Psalmen 83, 3 121, 6 139, 12 (26, 13)

72 169 103

Sprichwörter (Sprüche) 8, 12 29, 11

140 142

Canticum (Hoheslied) 2, 5 4, 1 4, 11 7, 6

71 169 107 169

Jesus Sirach 19, 1 24, 29 Jesaja 6, 3 28, 10 28, 13 64, 4 Joel

2, 28

85, 110 150 98 168 168 169

Matthäus 4, 4 7, 16 7, 20 11, 8 16, 24

89 69 69 101 86

Lukas 1, 46–55 2, 29 2, 29–32 4, 4 9, 23

163 163 163 89 86

Johannes 6, 54–55 12, 26 15, 3 15, 19 15, 20 20, 17

155 99 135 69 69 139

1. Korintherbrief 3, 7 11, 5

108 104

2. Korintherbrief 12, 10

106

100

*  Die in den Registern angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe.

215

Bibelstellen

Kolosserbrief 1, 23

69

1. Thessalonicherbrief 5, 19

75

2. Thessalonicherbrief 3, 10

103

216

1. Timotheus 2, 9 5, 6

78 68

1. Petrusbrief 3, 3

78

Zitate und Anspielungen aus patristischen und Mittelalterlichen Autoren*

Acta Thomae c. 2150 Ambrosius Explanatio psalmorum XII (Ps. 36, 53)

Augustin (Pseudo-) Sermo 247, 7 138 Siehe auch Ivo von Chartres Beda In Marcum 14, 51–52

112

Anselm von Canterbury Epistulae 58120

112

Bernhard von Clairvaux Epistulae 42, De moribus et officio episcoporum Exordium Magnum dist. 5, 17

Augustin De baptismo 3, 17, 22 95 De civitate dei 1, 11 176 De gestis Pelagii 25, 49 156 Enarrationes in psalmos 61, 1 151 Sermo 149151 Tractatus in evangelium Iohannis 7, 2 151 36, 1 153

Canon missae Romanae Gratian C. 1 q. 1 c. 106 Gregor der Grosse Dialogi Moralia in Iob 9, 32, 48

79 70

98, 180 79 77 144

*  Die in den Registern angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe.

217

Zitate und Anspielungen

Hieronymus Epistulae 71, 3 112 108, 10 150 Liber interpretationis hebraicorum nominum 77 Vitae Patrum Egyptiorum 70

Petrus Damiani Sermo 54, 1

79

Phaedrus Fabulae 1, 24

128

Isidor Etymologiae 16, 14, 1

Regula s. Benedicti 7, 63 Prol. 3

104 86

Ivo von Chartres (Ps.-Augustin) Sermo 6138

Sulpicius Severus Vita s. Martini 5, 1–3

134

Jakob von Vitry Epistulae 1, 44–45 197 6, 5–6 123 7, 6 123 Historia occidentalis 123, 125,  153, 166 Sermo de sacramento altaris 166

Thomas von Cantimpré Bonum universale de apibus 1, 9(2) 2, 54(10) 2, 54(18) Vita Christine Mirabilis

200 152 189 73

74

Vitaspatrum b. Antonii abbatis s. Symeonis stylitae

218

70, 87 87

Namen- und Sachregister

Berschin, W., 21, 22, 34, 48 Bessele, Magd, 143 Bethlehem, 150 Blaise, A., 119, 171 Bolton, B. M., 33, 36, 42, 50 Brabant, 9, 17, 25, 28, 41, 47, 152 Siehe auch Heinrich I. Herzog von Brabant Brown, J. N., 24, 45

Absalom, 110 Acedia, 29 Siehe auch Mönchskrankheit, Überdruss Ägypten, 67 Ägypter, 69, 207 Viten der ägyptischen Väter, 65 Aigulf, 154 Albigenser, 31, 45, 179 Siehe auch Häretiker Ambrosius, 112 Andreas, Apostel, 42, 160, 164 Andreas, Konversbruder, 187 Anselm von Canterbury, 120 Antonius, heiliger, 87 Art der Kaufleute, 119 der Kleriker, 123 der Menschen, 126 der Sophisten, 93 einer Gebärenden, 84, 122, 161 Augustin, 95, 151, 153, 156, 176 Pseudo-, 138 Aulne, Abtei, 20, 69

Calzà, M. G., 50 Cambrai, 17, 105 Cambrai, Guido von Siehe Guido, Kantor von Cambrai Cantimpré, Chorherrenstift bei Cambrai, 17, 175 Cantimpré, Thomas von Siehe Thomas von Cantimpré Christina Mirabilis, 17, 73, 176 Clementia, Magd, 158 Constable, G., 26, 112 Dämon(en), 43, 44, 50, 81, 92, 93, 117, 118, 122, 124, 126, 128, 135, 136, 141, 146, 147, 148 David, 72 Degler-Spengler, B., 28 Dinant, Johannes von Siehe Johannes von Dinant, Beiname: der Gärtner

Baix, F., 166 Baker, D., 33, 50 Bauer, D. R., 42 Beda, 112 Begine, Einleitung: passim, 207 Bernhard von Clairvaux, 20, 35, 69, 70, 79, 153

219

Namen- und Sachregister

Guerricus, Priester von Nivelles, 121 Guido, Kantor von Cambrai, 105 Guido, Magister von Nivelles, 121, 143, 156, 158 Siehe auch Johannes, Magister von Nivelles

Dinzelbacher, P., 25, 30, 45, 47, 50, 51 Dor, J., 28 Egidius, 1. Prior von Oignies, 175, 176, 178, 187, 188, 190, 191, 192, 193, 194, 200, 202, 203, 204, 205 Eizenhöfer, dom L., 98, 180 Engel, 34, 38, 42, 43, 75, 88, 92, 93, 94, 96, 98, 99, 100, 101, 118, 120, 123, 136, 145, 146, 148, 151, 152, 157, 160, 162, 164, 168, 210 des Herrn, 161 Engelsgeister, 98 wie ein persönlicher Abt, 28, 100

Hadewijch, 40 Hanslik, R., 104 Häretiker, zeitgenössische, Katharer, 18, 66, 67, 73, 74, 145, 146, 159 Siehe auch Albigenser Heigne, Kirche Heilige Maria, 91 Heiliger Geist, 13, 20, 32, 66, 69, 75, 79, 89, 93, 94, 98, 103, 104, 114, 117, 120, 131, 132, 135, 136, 140, 148, 162, 165, 167, 170, 171 Gaben des Heiligen Geistes, 22, 39, 40, 43, 46, 109, 144 Heiliges Land, 16, 178, 198, 200 Heinrich I. Herzog von Brabant, 69 Helwidis, Inkluse, 143 Henneau, M.-É., 28 Hesbon, Fischteiche von, 12, 209 Hettinger, A., 26 Hieronymus, 46, 48, 65, 77, 112, 150 Hilarius, heiliger, 33, 134 Hofmann, G., 46 Honorius III., 16, 195, 202, 203 Hugo von Ostia, Bischof, 195, 203, 208 Siehe auch Gregor IX. Hugues (II de Pierrepont), Bischof von Lüttich, 188 Hungersnot, 70 Huygens, R. B. C., passim Huy, Jutta von Siehe Jutta von Huy

Fegefeuer, 34, 43, 44, 45, 73, 91, 103, 118, 119, 120, 146, 165, 179, 180, 181, 189 Feiss, H., O.S.B., 10, 35 Fichefet, J., 45 Flandern, 25, 28 Fontaine, J., 134 Fößel, A., 26 Frankreich, Königreich, 15, 70, 143, 149 Fulko, Bischof von Toulouse, 13, 20, 47, 48, 66, 107, 165, 166 Galiläer, 69 Gallien, 66, 177, 207 Gärtner Siehe Johannes von Dinant Geist, dämonischer, 127 Gertrudenkult, 152 Gertrud, heilige, 147, 152 Gertrud, Kirche St. Gertrud, 152 Geyer, I., passim Gratian, 79, 141 Gregor der Große, 46, 48, 66, 77, 144, 208 Gregor IX., 18, 203, 208, 209 Siehe auch Hugo von Ostia, Bischof Griesser, B., 70 Grundmann, H., 24 Gryson, R., 104

Indien, 150 Innozenz III., Papst, 27 Isidor, 74 Italien, heilige Väter Italiens, 66 Ittre, Städtchen, 136 Ivo von Chartres, 138

220

Namen- und Sachregister

Loth, Frau des, 125 Lothringen, 15, 17, 176, 186, 189, 196, 198, 202, 206, 207, 210 Löwen, Herzog von, 119 Löwen, Herzog von, Ehefrau, 167 Lutgard, Vita, 17 Lüttich, Bistum, 14, 16, 20, 66, 67, 70, 77, 163, 188, 208 Lüttich, Stadt, 17, 69, 74, 122, 123, 163 Luzifer, 94

Jakob, Jakobsleiter, 21, 37, 88, 103 Jakob von Vitry, Bischof von Akko, Tuskulum, passim Jelinek, F., 101 Jeremia, 66 Jerusalem, Stadt, 198 Jerusalem, Tochter von, 144 Johannes der Täufer, 101, 153, 159, 169, 170, 171 Johannes, Ehemann Marias, Bruder von Guido, 21, 23, 79, 80, 156 Johannes Evangelist, 42, 88, 112, 153, 169, 185, 186 Johannes, Magister von Nivelles, 14, 123 Siehe auch Guido, Magister von Nivelles Johannes vom Pomerium, 51, 193 Johannes von Dinant, Beiname: der Gärtner, 45, 120, 165 Johannes von Liro, 14 Johnson, L., 28 Josef, heiliger, 99, 103 Josef, Patriarch, 40, 112, 149 Judas, 148 Juden, 18, 69, 155, 167 Juliana von Cornillon, 40 Jutta von Huy, 17

Majérus, P., 15, 23, 36 Margarete von Willambroc, 44, 119 Margarete von Ypern, 18 Margery Kempe, 24 Maria, heilige Jungfrau, Gottesmutter, 41, 42, 91, 92, 95, 96, 103, 118, 121, 122, 134, 151, 159, 160, 162, 163, 164, 165 Maria, heilige von Heigne, 91 Maria Magdalena, 37, 51 Maria/Marthaleben, 36, 41 Marias Brüder, 130 Marias Ehemann, 21, 68, 79, 80, 156 Marias Eltern, 77, 78 Maria von Oignies (Oegnies, Oingnies), von Nivelles, von Willambroc, Einleitung: passim, 75, 77, 80, 88, 98, 120, 122, 143, 164, 171, 175, 177, 178, 185, 188, 190, 200, 201, 204, 205, 207, 208 allerheiligste Frau, 177 als heilige Frau, 102, 105, 107, 120, 124, 129, 134, 139, 140, 142, 147, 149, 154, 161, 168, 179, 180, 189, 190, 193, 197, 200, 204 die Heilige, 185 die Heilige Gottes, 183, 184, 186, 192 die heiligste Frau, 208 Martha/Magistra, 26 Martin, heiliger, 33, 100, 134 Martyrologium, 42, 152 Masnuy, Städtchen, 122 McGinn, B., 14, 33, 34, 35, 38, 42, 52

Kalender, 152, 192 King, M. H., 10 Kirche, kämpfende/triumphierende, 119 Klemens, heiliger, 201 Köln, 17, 46, 167 Krebber, W., 46 Kreuzritter, 45, 146 Lambert, Bischof von Lüttich, 208, 209 Lambert, Kleriker, 121 Larrington, C., 41 Lauwers, M., 32, 34, 37, 51, 69 Leclercq, dom J., 79 Lenlos, Sancta Gertrudis, 152 Leprahäuser, 36, 111 Leprakranke, 21, 81 Leviathan, 96

221

Namen- und Sachregister

Reliquien, 19, 42, 45, 51, 102, 153, 154, 183, 184, 195, 197, 201 in Oignies, 34, 42, 99, 153, 154, 159, 191 Richard von (la) Chapelle, 120, 165 Ritter, 13, 124, 125, 134 Ritterspiele, 18 Rochais, H., 79 Röckelein, H., 42 Rom, 16, 18, 144, 195, 200, 202, 203, 205, 206 romanische Volkssprache, 162, 163 Ruth, 176

Miniac, J., 10 Minnis, A., 72 Misonne, D., O.S.B., 35 Mittagsdämon, 93, 128 Mittelmeer, 200 Mombritius, B., 70, 87, 150 Mönchskrankheit, 29 Siehe auch Acedia Mongey, 146 Mulder-Bakker, A. B., 10, 23, 26, 28, 29, 33, 34, 35, 40 N., Bruder, 175 Nikolaus, heiliger, 153, 156, 157, 201 Nivelles, 22, 35, 77, 81, 111, 118, 121, 124, 125, 133, 135, 136, 147, 156, 163, 179

Salomon, 147 Samaritaner(in), 69, 112 Sambre, Fluss, 20, 186 Satan, 68, 98, 124, 170, 198 Schmitt, F. S., 120 Seraphim, 87, 161 Simeon, 151, 163 Simeon Stylit, 87 Simons, W., 14, 25, 26, 27, 29, 35, 45, 72 Spanien, 207 Stephanus, heiliger, 162 Südwind, 84, 92 Sulpicius Severus, 134

Oignies (Oegnies, Oingnies), Einleitung: passim, 91, 99, 117, 120, 121, 122, 123, 133, 143, 144, 146, 147, 149, 154, 155, 156, 157, 177, 178, 182, 186, 187, 190, 191, 194, 200, 201,202, 207 Opitz, Cl., 27, 42 Osten-Sacken, V. von der, 27, 36, 37, 38, 47, 51 Ostia Siehe Hugo von Ostia, Bischof Otto, A., 119, 126

Teufel, 34, 43, 95, 97, 126, 134, 141, 177 Thomas, heiliger, 150 Thomas von Aquin, 18 Thomas von Cantimpré, Einleitung: passim, 73, 152, 189, 200 Toulouse Siehe Fulko, Bischof von Toulouse Toulouse, Stadt, 107 Trasegnies, 135 Traum, ein böser Geist, 94 Tuskulum Siehe Jakob von Vitry, Bischof von Akko, Tuskulum

Paris, 14, 17, 143, 148, 149, 176, 177 Paula, heilige, 150 Paulus, heiliger, 49, 78, 162, 163 Petrus, 45, 49, 78, 118, 165, 198 Petrus Damiani, 79 Petrus und Paulus (Fest), 118 Phaedrus, 128 Pharisäer, 141 Pomerium Siehe Johannes vom Pomerium Provence, 145 Provins, 154 Raimund von Uzès, 15 Reiner, adeliger und religiöser Mann, 178

222

Namen- und Sachregister

Willambroc, 22, 35, 37, 44, 81, 111, 118, 126, 133, 134, 143, 156, 167, 179 Williams, G. Huntston, 112 Wogan-Browne, J., 26, 27, 28

Überdruss, 128, 137, 152 Siehe auch Acedia, Mönchskrankheit Vauchez, A., 10, 15, 27, 28, 36, 47 Vauclair (Laon), 36 Villers, Abtei, 35 Voaden, R., 72

Ypern, Margarete von Siehe Margarete von Ypern Ywan von Rèves, 124

Walcourt Brüder von (Hugo, Johannes, Robertus, Theodericus, Werricus), 23 Walther, H., 99, 130 Wankenne, A., 10 Weber, R., 104 Wehrli-Johns, M., 27, 32, 36, 41, 42 Widder, Sternzeichen, 150

Zisterzienser Mönch, 49, 127, 171 Nonne, 94, 167 Orden, 28, 49, 70, 78, 94, 128, 130, 153, 167, 198 Zuchtrute, 92, 106

223