Der digitale Patient: Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems [1. Aufl.] 9783839415290

Innovative Gesundheitstechnik erfreut sich einer großen Popularität: Viele Entscheidungsträger im Gesundheitswesen erwar

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Der digitale Patient: Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems [1. Aufl.]
 9783839415290

Table of contents :
Inhalt
Der digitale Patient: Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems
Fragestellung dieser Studie
Überblick über die Studie
Danksagung
Informations- und Kommunikationstechnologien im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem
Der Aufstieg des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems
Vergleichende Erwartungsanalyse
[email protected]
Die ›Modernisierung‹ des NHS
Die Bekämpfung der »Projektitis« in Deutschland
Das Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor
Ergebnisse der vergleichenden Erwartungsanalyse
Das technowissenschaftliche Gesundheitssystem und der »Aktivierungsdiskurs«
Zusammenfassung und Ausblick
Theoretische und forschungspraktische Wege aus dem Soziodeterminismus
Tatsachen und ihre legitimierende Kultur – das Strong Programme
Das radikale Symmetrieprinzip – die Akteur-Netzwerk-Theorie
»After ANT« – Praxis statt Ordnung
Wie studiert man Aktualisierungen?
Die Ethnomethodologie
Welche Daten wurden erhoben?
Auf welche Weise wurden die beobachteten Daten schriftlich fixiert?
Wie wurden die Daten analysiert?
Zusammenfassung
Die Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme
Studien zu telepflegerischen Arbeiten
Das Framing der Herzinsuffizienz
Das telemedizinische Zentrum
Stabilisierungsarbeiten
Die Einbindung von Patienten
Die Einbindung von technischen Artefakten
Die Einbindung der Krankenhausorganisation
Die Einbindung der Hausärzte
Die Einbindung der elektronischen Infrastruktur
Digitale Körper
Der »Eintritt« des Patienten
Zahlenkörper
Körper mit Normbereichen
Körper mit linearen Zeitlichkeiten
Körper mit spezifischer Topographie
Die Grenzen des Körpers
Fazit: Mikropolitische Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme
Schluss
Der »dritte Weg«: Interaktionistische Science & Technology Studies
Pragmatistische Wurzeln
Der symbolische Interaktionismus
Soziale Welten bei Strauss
Strauss’ Forschungen zur Bewältigung chronischer Krankheit
Die interaktionistischen Science & Technology Studies
Disziplinierender Blick vs. Perspektive: Die Einbettung Foucaults
Materialität explizit: Die Einbeziehung der Akteur-Netzwerk-Theorie
Situational Analysis
Situational mapping
Social worlds/arenas maps
Positional Maps
Forschungspraktische Konsequenzen
Diskussion: interaktionistische STS als dritter Weg
Technowissenschaft im Patientenalltag
Angetroffene Projekte und Patienten
Zugang zum Feld
Interaktionen mit den Patienten
Die Einrichtung des Heimlabors
Routinen herstellen
Interaktionen mit Zahlen
Drei Patientenperspektiven
Patiententypus 1: Das Präventive Selbst
Patiententypus 2: Das Praeventive.Selbst++
Patiententypus 3: Der Präventionsverweigerer
Konsequenzen der Interaktion mit Zahlen
Konsequenzen für das Präventive Selbst
Konsequenzen für das Praeventive.Selbst++
Konsequenzen für Präventionsverweigerer
Körper-Identitäten-Trajektorien
Zusammenfassung
Die Logik und die Grenzen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme
Die Bedeutung des gesundheitsökonomischbürokratischen Vernunftstils
Die Bedeutung der Technologie
Die Logik des Neosozialstaats
Wille zur Kontrolle
Für ein »Telemedizin Trajektorie-Modell«
Für die Berücksichtigung unterschiedlicher Patientenprofile
Für den Ausbau der Telepflege
Für eine Erweiterung der »intellektualisierten Perspektive«
Schluss
Literatur
Sach- und Namenregister

Citation preview

Thomas Mathar Der digitale Patient

Band 10

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Tom Mathar (M.A.) arbeitet als Forscher im Gesundheitsdirektorat der Schottischen Regierung.

Thomas Mathar

Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems

Gefördert durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Programm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog«, Sektion Anthropologie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat: Ulrich Korn Satz: Thomas Mathar Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1529-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für Josi natürlich

I N H AL T Der digitale Patient: Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems Fragestellung dieser Studie Überblick über die Studie Danksagung Informations- und Kommunikationstechnologien im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem Der Aufstieg des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems Vergleichende Erwartungsanalyse [email protected] Die ›Modernisierung‹ des NHS Die Bekämpfung der »Projektitis« in Deutschland Das Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor Ergebnisse der vergleichenden Erwartungsanalyse Das technowissenschaftliche Gesundheitssystem und der »Aktivierungsdiskurs« Zusammenfassung und Ausblick Theoretische und forschungspraktische Wege aus dem Soziodeterminismus Tatsachen und ihre legitimierende Kultur – das Strong Programme Das radikale Symmetrieprinzip – die Akteur-Netzwerk-Theorie »After ANT« – Praxis statt Ordnung Wie studiert man Aktualisierungen? Die Ethnomethodologie Welche Daten wurden erhoben? Auf welche Weise wurden die beobachteten Daten schriftlich fixiert? Wie wurden die Daten analysiert? Zusammenfassung

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Die Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme Studien zu telepflegerischen Arbeiten Das Framing der Herzinsuffizienz Das telemedizinische Zentrum Stabilisierungsarbeiten Die Einbindung von Patienten Die Einbindung von technischen Artefakten Die Einbindung der Krankenhausorganisation Die Einbindung der Hausärzte Die Einbindung der elektronischen Infrastruktur Digitale Körper Der »Eintritt« des Patienten Zahlenkörper Körper mit Normbereichen Körper mit linearen Zeitlichkeiten Körper mit spezifischer Topographie Die Grenzen des Körpers Fazit: Mikropolitische Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme Schluss Der »dritte Weg«: Interaktionistische Science & Technology Studies Pragmatistische Wurzeln Der symbolische Interaktionismus Soziale Welten bei Strauss Strauss’ Forschungen zur Bewältigung chronischer Krankheit Die interaktionistischen Science & Technology Studies Disziplinierender Blick vs. Perspektive: Die Einbettung Foucaults Materialität explizit: Die Einbeziehung der Akteur-Netzwerk-Theorie Situational Analysis Situational mapping Social worlds/arenas maps Positional Maps Forschungspraktische Konsequenzen Diskussion: interaktionistische STS als dritter Weg

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Technowissenschaft im Patientenalltag Angetroffene Projekte und Patienten Zugang zum Feld Interaktionen mit den Patienten Die Einrichtung des Heimlabors Routinen herstellen Interaktionen mit Zahlen Drei Patientenperspektiven Patiententypus 1: Das Präventive Selbst Patiententypus 2: Das Praeventive.Selbst++ Patiententypus 3: Der Präventionsverweigerer Konsequenzen der Interaktion mit Zahlen Konsequenzen für das Präventive Selbst Konsequenzen für das Praeventive.Selbst++ Konsequenzen für Präventionsverweigerer Körper-Identitäten-Trajektorien Zusammenfassung Die Logik und die Grenzen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme Die Bedeutung des gesundheitsökonomischbürokratischen Vernunftstils Die Bedeutung der Technologie Die Logik des Neosozialstaats Wille zur Kontrolle

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Für ein »Telemedizin Trajektorie-Modell« Für die Berücksichtigung unterschiedlicher Patientenprofile Für den Ausbau der Telepflege Für eine Erweiterung der »intellektualisierten Perspektive« Schluss

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Literatur

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Sach- und Namenregister

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Der digitale Patient: Zu de n Konseque nz e n e ines te c hnow isse nsc haftlic he n Ges undheits sys te ms

Der Werbefilm eines großen Telekommunikationsunternehmens zeigt einen Patienten im Krankenwagen. Sein Oberkörper liegt frei, Elektroden kleben auf seiner Brust. Er schaut apathisch und leer. Sein Kopf wird hin und her gerüttelt von der schnellen Fahrt ins Krankenhaus. Neben ihm steht der Notfallarzt, der einen kleinen tragbaren Computer in der Hand hält: »Hallo Frau Dr. Krust«, ruft er in sein Mobiltelefon, das Martinshorn übertönend. »Ich habe hier einen Patienten von Ihnen mit akutem Herzanfall. Herrn Reimann… Ja, bekomme ich!« Der Werbfilm zeigt jetzt den Bildschirm des tragbaren Computers. In einem Programm öffnet sich eine Akte mit Gesundheitsdaten. »Ja, alles klar«, bestätigt der Notarzt. In der nächsten Szene sieht man den Krankenwagen zur Notfallstation des Krankenhauses vorfahren. Ärzte nehmen den Patienten in Empfang. »Was für ein Fortschritt«, wundert sich eine die Trage begleitende Ärztin. Auch sie hält einen kleinen Computer in der Hand und fährt erstaunt fort: »Ich bin schon über die Krankengeschichte des Patienten informiert, bevor ich die Untersuchung beginne«. Und während der Film die Ärzte bei den schnell eingeleiteten Maßnahmen zeigt, erklärt ein unsichtbarer Sprecher: »Es gibt eine Möglichkeit, unser Gesundheitssystem, seine medizinischen Abläufe und die Handlungen für uns Menschen zu verbessern. Durch vernetztes Wissen!« Dieser Werbefilm zeigt ein Szenario, das heutzutage noch nicht realisiert ist, an dessen Verwirklichung aber viele Akteure arbeiten. Denn seit ca. Mitte der 1990er Jahre erwarten viele Entscheidungsträger im Gesundheitswesen, dass zentrale Probleme der Versorgungsstrukturen 11

DER DIGITALE PATIENT

und -prozesse mittels solcher und ähnlicher Informations- und Kommunikationstechnologien gelöst werden können. Die maßgeblich vom Bundesgesundheitsministerium initiierte elektronische Gesundheitskarte zum Beispiel, welche helfen soll, patientenbezogene »Daten systematisch zu erfassen, zu ordnen, zu verwalten, zu transportieren, aufzubereiten und zu interpretieren« (Bundesministerium für Gesundheit 2009: 3), ist eine solche Anwendung. Man verspricht sich durch eine solche elektronische Infrastruktur, ähnlich wie in dem Werbefilm, eine »bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten« (ebd.), insbesondere chronisch Kranker, sowie mehr Effizienz und Effektivität durch die Vermeidung von Doppeluntersuchungen und den schnelleren Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern (Ärzten in Krankenhäusern und ambulanten Praxen, Rehabilitationszentren, Apotheken etc.). Ein weiteres Beispiel für spezielle Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen sind telemedizinische Lösungen. Hierbei handelt es sich um die Technologien, von denen in der vorliegenden Arbeit vor allem die Rede sein wird. Bei telemedizinischen, oder genauer: Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit chronischen Krankheiten handelt es sich um Anwendungen, die vor allem von Krankenkassen insbesondere für »ältere Patienten, die durch ihre Krankheit an Mobilität verloren haben« (Techniker Krankenkasse 2008: 7) angeboten werden und die es ihnen ermöglichen sollen, ihre Erkrankung besser zu bewältigen. Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit Herzinsuffizienz – diejenige Patientenklientel, die in dieser Studie angetroffen wurde – funktionieren zum Beispiel derart, dass Patienten die Risikofaktoren ihrer Krankheit – insbesondere den Blutdruck, Puls und das Gewicht – von entsprechenden Instrumenten erheben lassen und die erfassten Werte sodann automatisch an telemedizinische Zentren übertragen. Dort befindet sich, oft kilometerweit vom Patienten entfernt, medizinisches und pflegerisches Personal, das die Daten auswertet und überprüft, ob der Gesundheitszustand des Patienten stabil ist. Werden auffällige Entwicklungen festgestellt – zum Beispiel solche, die auf Wassereinlagerungen verweisen oder die einen Herzinfarkt oder Vorhofflimmern andeuten –, kontaktieren die Experten im telemedizinischen Zentrum sowohl den Patienten als auch dessen Arzt und leiten somit eine schnelle Behandlung ein. Ähnlich wie im Werbefilm der Telekommunikationsfirma sollen alle an diesem Prozess beteiligten Akteure profitieren: Patienten sollen ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben erhalten können und Leistungserbringer (Ärzte und Pflegepersonal) nicht unnötig belastet werden. Leistungsfinanzierer (das heißt die Krankenkassen) tragen insgesamt, so wurde es zumindest in diversen Studien belegt, weniger Kosten für die Behandlung des Patienten, da durch das Telemonitoring12

EINLEITUNG

Programm insbesondere die teuren Krankenhausaufenthalte verhindert werden können. Diese Technologien haben also einen bestimmten Zweck: Wenn chronisch Kranke die Haushalte von Krankenkassen belasten, wenn Leistungserbringer und Entscheidungsträger über ineffiziente und ineffektive Strukturen klagen und Telemonitoring-Lösungen versprechen, diese Herausforderungen zu bewältigen, dann sollen mit ihnen makrosoziale Probleme gelöst werden. Hierunter fallen zum Beispiel die Effekte einer von in vielen ökonomischen, gesundheitswissenschaftlichen und epidemiologischen Studien attestierten spezifischen demographischen Entwicklung. Aber auch der Anstieg relativer Kosten (in der die Anzahl Älterer zunimmt, wohingegen die Anzahl derjenigen, die in die Sozialsysteme einzahlt, geringer wird), die Zunahme an chronischen Erkrankungen, eine in manchen Regionen ausgemachte Verkleinerung der Bevölkerung, eine geringere Ärztedichte u. v. m. sind makrosoziale Trends, die Leistungsfinanzierer häufig als problematisch darstellen. Ebenso wie diverse politische Gesundheitsreformen (zum Beispiel die Einführung von Pflegestufen, höhere Beitragszahlungen für Patienten) sind Gesundheitstechnologien wie die elektronische Gesundheitskarte, telemedizinische Netzwerke und Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit chronischen Krankheiten politische Instrumente, da sie diesen Problemen versuchen, entgegenzuwirken. In dieser Arbeit wird die These vertreten, dass die bislang genannten Technologien im Allgemeinen und Telemonitoring-Lösungen im Besonderen Kennzeichen eines Gesundheitssystems sind, dass als technowissenschaftlich bezeichnet werden kann. Die genauen Facetten dieses Gesundheitssystems sollen über die empirischen Kapitel dieser Arbeit erörtert werden. Hier sei schon festgehalten, dass mit der Betonung eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems zunächst gemeint ist, dass in aktueller Gesundheitspolitik Entscheidungen vor dem Hintergrund von in wissenschaftlichen Studien ausgemachten Trends gefällt werden (zum Beispiel vor dem Hintergrund der eben genannten, in diversen Studien ausgemachten makrosozialen Entwicklungen). Damit wird Hubert Dreyfus’ und Paul Rabinows Argument bestätigt, dass ein Kennzeichen gegenwärtiger (Sozial)Politik sei, dass die debattierten Probleme und die dem folgenden Reformen »[are being] remov[ed] from the realm of political discourse, and recast[ed] in the neutral language of science« (Dreyfus und Rabinow 1982: 196). Die eingeleiteten Maßnahmen und Problemlösungsstrategien erscheinen als objektive und notwendige Handlungsschritte, als etwas, dass nicht vermeidbar sei, weil es belegbare Zustände und Probleme reflektiere. Technowissenschaftli-

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che Gesundheitssysteme widerspiegeln also eine spezifische Rationalität, auf der zeitgenössische Politik basiert. Mit dem Fokus auf das technowissenschaftliche Gesundheitssystem wird die Regierungspraxis betont. Es wird angedeutet, dass die Rationalität nicht nur auf der diskursiven Ebene sichtbar wird, sondern auch in eben solchen Technologien wie den hier bereits erwähnten. Die Phantasie einer gemeinsamen elektronischen Infrastruktur (Balka, Kahnamoui et al. 2007) für alle Leistungserbringer – wie die oben erwähnte elektronische Gesundheitskarte – ist ein Beispiel für die Bedeutung von Technologien in aktueller Gesundheitspolitik. Das im einleitend dargestellten Werbefilm verkündete Potenzial von »vernetztem Wissen« verdeutlicht, dass es sich bei Wissen nicht um etwas rein Kognitives handelt, sondern um etwas, das auf Technologien verteilt ist.

Fragestellung dieser Studie Für eine ethnographisch arbeitende Studie hält die Erforschung technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme im Allgemeinen und von Telemonitoring-Lösungen im Besonderen viele faszinierende Fragen bereit. Unter Einnahme einer ethnomedizinischen Perspektive könnte zum Beispiel untersucht werden, welche kulturspezifische Definition von Körper und Heilung, Krankheit und Gesundheit mit solchen Technologien einhergeht. Es könnte erforscht werden, welchen Einfluss solche Gesundheitstechnologien auf das subjektive Befinden des Patienten haben oder wie dieser seine Krankheit erfährt. Mit der Perspektive der Medizinanthropologie (für Unterscheidungen in den Bezeichnungen siehe Lux 2003; Sperling 2003) könnte gefragt werden, welche makrosozialen Verhältnisse hinter dieser »symbolischen Wirklichkeit« (Kleinman 1980: 28) von Gesundheit, Krankheit, Körper und Heilung erkennbar werden. Die damit verbundene machtanalytische Frage könnte zum Beispiel untersuchen, welche neuen Verhältnisse zwischen Medizin und Pflege oder Leistungserbringern und Patienten entstehen, wer Profiteure und Verlierer solcher Medizinsysteme sind und welche alternativen Erklärungsansätze in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen verloren gehen. Auch die Fokussierung auf Widerstände gegen dieses Gesundheitssystem könnte in einer medizinanthropologischen Studie aufgenommen werden. In der Tat sind dies wichtige Fragen, die in dieser Arbeit berücksichtigt werden sollen. Dennoch liefern nicht die Ethnomedizin und die Medizinanthropologie die Instrumente der »theoretischen Werkzeugkiste« (Foucault 1976: 53), mit denen hier gearbeitet wird. Wenn in dieser Ar14

EINLEITUNG

beit nach Telemonitoring-Lösungen im Alltag und den praktischen Konsequenzen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme gefragt wird, verortet sich die vorliegende Forschung vielmehr in den jüngeren, empirisch arbeitenden Science & Technology Studies (STS). Der Fokus richtet sich auf Praxis (Savigny, Schatzki et al. 2000). Die zentrale Frage dieser Arbeit lautet: Was passiert in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen? Konkreter: Welche praktischen Konsequenzen haben welche Erwartungen von welchen Akteuren zu welchen Technologien? Welche medizinischen und pflegerischen Praktiken entstehen durch sie? Welche Konsequenzen hat das techno-wissenschaftliche Gesundheitssystem in Patientenalltagen? Anstatt eine Pro- oder Kontrahaltung einzunehmen, soll untersucht werden, welche Körper in der Praxis entstehen, welche Arbeiten Entscheidungsträger, medizinisches Personal und Patienten in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen unternehmen und wie sie dies tun. Bei den empirisch arbeitenden STS handelt es sich um eine Forschungsrichtung, die sich vor allem in angloamerikanischen Ländern in den letzten ca. 25 Jahren verbreitet hat und dabei auch die Medizinsoziologie und -anthropologie massiv revolutionierte (Webster 2007b; Jensen 2008). Der wesentliche Vorteil einer STS-Perspektive gegenüber den etablierten Ansätzen – so soll über die theoretischen und empirischen Kapitel dieser Arbeit dargelegt werden – besteht darin, dass bis dato mitgedachte Dichotomien – zum Beispiel zwischen (medizinischer) Wissenschaft und Kultur, Technik und Gesellschaft, Laie und Experte u. v. m. – nicht als a priori gegeben betrachtet werden, sondern als in der Handlung erst hergestellt. Telemonitoring-Lösungen (und ebenso Patienten, Herzkrankheiten und andere Elemente) sind keine stabilen Entitäten, sondern mit immer wieder anderen Elementen verwobene Gefüge. In dieser Hinsicht funktioniert eine STS-Perspektive »as an antidote against essentializing tendencies of many studies in German-speaking anthropology that used to treat biomedicine [and technology, patients, and others, T. M.] as a homogeneous entity« (Beck 2007: 25f). Mit anderen Worten: eine STS-Perspektive ermöglicht eine relationale und prozessuale Analyse. Was genau es jedoch bedeutet, eine derartige Perspektive einzunehmen, ist nicht selbsterklärend. Allein in der Ethnologie (oder Sozialanthropologie) wurden in dessen Fachgeschichte mehrere Ansätze entwickelt, auf die diese Bezeichnung zutreffen könnte. Der Ethnologe Marcel Mauss zum Beispiel hat mit seiner Studie über »die Techniken des Körpers« (1975) gezeigt, dass nicht nur individuelle Erfahrungen den Körper und die Körperpraktiken beeinflussen, sondern auch kulturelle und soziale Faktoren. Mauss definiert einen »totalen« oder »vollständi15

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gen« Menschen als jemanden, der sowohl von seinem fleischlichen Körper als auch von der Gesellschaft geprägt ist: »Wir begegnen also einem Menschen aus Fleisch und Geist, zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Gesellschaft« (Mauss und Karady 1969: 280f.). Die Analyse von Körperpraktiken erlaubt Mauss somit, Dichotomien von Köper/Individuum und Gesellschaft zu überwinden. Neben Mauss könnten auch Pierre Bourdieu, Clifford Geertz, Margaret Lock und andere Ethnologen/Sozialanthropologen als Analytiker begriffen werden, die eine relationale und prozessuale Perspektive einnehmen. Nicht nur aufgrund all derer unterschiedlichen Untersuchungsfelder, epistemologischen Hintergründe und politischen Ziele ist es deshalb nicht selbsterklärend, was es bedeutet, eine »relationale Anthropologie« (Beck 2008) zu praktizieren. Diese Arbeit strebt an, hier mehr Klarheit zu schaffen, indem drei unterschiedliche relational-prozessuale Ansätze auf ihre Reichweite, ihren Nutzen und ihre Grenzen hin überprüft werden: »sociology of expectations«, »Akteur-Netzwerk-Theorie« und »interaktionistische STS«. Die Auswahl dieser Ansätze begründet sich, wie im Überblick über die Kapitel dieser Arbeit gezeigt werden soll, vor allem mit dem zur Verfügung stehenden empirischen Material. Der rote Faden der Diskussion dieser drei unterschiedlichen relationalen und prozessualen Ansätze geht der Frage nach, welche Bedeutung der Materialität zugesprochen werden sollte oder – negativ formuliert – wie soziodeterministisch eine relationale Anthropologie sein darf. In den empirischen Kapiteln dieser Arbeit sollen diese unterschiedlichen relationalen-prozessualen Ansätze operationalisiert werden, das heißt, es soll überprüft werden, welche Sichtweisen diese Theorien erlauben (oder welche Wahrheiten sie kreieren), wenn sie als Analysematrix und epistemologische Fundierung dienen.

Überblick über die Studie Die vorangegangene Skizzierung der thematischen und theoretischen Fragestellungen dieser Studie verdeutlicht das Rahmenwerk derselben. Der im Folgenden dargelegte Überblick über die Arbeit soll zeigen, dass sich die Erforschung von Telemonitoring-Lösungen sehr gut für die Erprobung unterschiedlicher relationaler und prozessualer Perspektiven eignet: hier verweben sich Erwartungen mit bestimmten Projekten, Körper mit Technologien; hier regulieren gesundheitsökonomische und epidemiologische Diskurse medizinische Praxis und hier trifft pflegerisches

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EINLEITUNG

Personal Entscheidungen über Gesundheit und Krankheit auf der Grundlage von Kurven in Graphen und Zahlen in Tabellen. Der Einstieg in diese Arbeit erfolgt durch eine Diskussion über unterschiedliche Informations- und Kommunikationstechnologien des Gesundheitswesens in ihrem historischen Kontext. Es soll gezeigt werden, dass ein technowissenschaftliches Gesundheitssystem nicht zufällig entstand, zum Beispiel nicht nur deshalb, weil es seit Mitte der 1990er Jahre mit dem Aufkommen des Internets neue technologische Möglichkeiten der Vernetzung gibt. Es wird herausgearbeitet, dass solche Technologien mit einigen konkreten Erwartungen für ein besseres (das heißt insbesondere effizienteres und effektiveres) Gesundheitswesen verwoben waren und entsprechend – so wird argumentiert – bestimmte Zukunftsszenarien in diese Technologien eingeschrieben wurden. Unter Rückgriff auf einige Konzepte und Theorien von anderen international tätigen Sozialforschern wird der Aufstieg eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems als Kennzeichen neosozialer (Lessenich 2003) Regierungspraktiken und -technologien und somit als Kennzeichen typischer Rationalitäten und Logiken gegenwärtiger Sozial- und Gesundheitspolitik dargestellt. Die Entstehung des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems wird anhand einer vergleichenden Erwartungsanalyse und somit einer spezifischen Form der Diskursanalyse rekonstruiert. Es wird gefragt, welche Erwartungen und Zukunftsszenarien von Entscheidungsträgern zweier neosozialer Staaten – Deutschland und England – zu unterschiedlichen Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen (insbesondere jedoch zu elektronischen Patientenakten und Telemonitoring-Lösungen) formuliert wurden. Das hierfür verwendete empirische Material sind von zentralen versorgungspolitischen Institutionen verabschiedete Strategiepapiere sowie aus Experteninterviews gewonnene Aussagen einiger Entscheidungsträger. Anhand dieser Daten soll gezeigt werden, dass in beiden Ländern einerseits ähnliche Praktiken, Rationalitäten und Subjektivierungsstrategien festgestellt werden können. Zum Beispiel wurden ähnliche Technologien vor dem Hintergrund gleicher wahrgenommener Probleme eingesetzt; in beiden Ländern wurde auch – wie zu zeigen sein wird – der Patient als ein »Präventives Selbst« (Niewöhner 2007) konzeptionalisiert. Zugleich enthüllt die vergleichende Erwartungsanalyse andererseits aber auch Unterschiede zwischen Deutschland und England und somit zwei unterschiedliche technowissenschaftliche Gesundheitssysteme. In diesem Kapitel wird deshalb dafür plädiert, dass die für die jeweiligen Sozialsysteme spezifischen Versorgungsstrukturen und -prozesse ernst genommen werden müssen. Die Entstehung eines technowissenschaftli17

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chen Gesundheitssystems ist nicht Kennzeichen eines überall aufkommenden »Dispositivs«, sondern eher wie eine »global assemblage« (vgl. Rabinow 2004: 25) zu verstehen. Auch wenn in vielen westlichen oder OECD-Ländern ähnliche Technologien populär wurden, so fügten sich diese immer noch unterschiedlich in länderspezifische Gesundheitssysteme ein. Dies erschwert auch, so soll gezeigt werden, eine unkritische Übernahme von in anderen Kontexten entstandenen Konzepten – zum Beispiel das Konzept der »Biomedikalisierung« – für die Beschreibung der Situation in Deutschland. Mit der vergleichenden Erwartungsanalyse wird auch eine erste relationale Perspektive erprobt. Der Fokus auf Erwartungen folgt den Vorschlägen der Vertreter der »sociology of expectations« und erlaubt, Technik und Gesellschaft – oder genauer: Technik und Zukunftsszenarien von einigen zentralen Akteuren und sozialen Welten – als miteinander verwoben zu betrachten. Elektronische Patientenakten und Telemonitoring-Lösungen werden als Technologien dargestellt, die mit (politischen) Interessen verflochten sind. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit, einem eher theoretisch gehaltenen, wird dieser Forschungsansatz und diese relationale Betrachtungsweise weiterentwickelt. Ausgangspunkt dieses Kapitels ist eine Kritik von Vertretern der poststrukturalistischen Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) an der ersten Generation moderner Wissenschaftsforscher: denen des Strong Programme. Die Rekonstruktion des Streits zwischen den Vertretern der und denen des Strong Programme hat zum Zweck, zu verdeutlichen, warum eine relationale Perspektive, die nur Erwartungen und/oder Interessen betrachtet, nicht weit genug geht bzw. als »soziodeterministisch« gelten kann. Die ANT, die von ihren Gründern auch die »Soziologie der Übersetzung« genannt wird, schlägt demzufolge einen »radikalrelationalen« oder »radikalsymmetrischen« Ansatz vor, der auch die Handlungsträgerschaft von Dingen anerkennt. Dieses Argument soll anhand einiger von den wichtigsten Vertretern der ANT erarbeiteten Konzepte und Thesen verdeutlicht und diskutiert werden. Außerdem werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit einige aktuelle Gegenargumente gegen diese Form der Netzwerkanalyse vorgestellt und diejenigen Ansätze präsentiert, die sich als Post- oder After-ANT begreifen. Diese Ansätze behalten den wichtigsten Punkt der »ersten Generation« von ANT-Studien bei, sie analysieren also materiell-semiotische Praktiken bzw. wie Handlungsprogramme auf Menschen, Dinge, Diskurse und andere Elemente in einem Netzwerk verteilt sind. AfterANT- Ansätze fokussieren jedoch weniger Stabilisierungs- und Reinigungsarbeiten – das heißt, wie Netzwerke sich so fügen, dass sie dem 18

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einen Zweck (machtvoller Akteure) dienen. Vielmehr betonen sie noch stärker die Instabilität und Fluidität der untersuchten Objekte/Subjekte. Zum Ende dieses Kapitels werden sodann – teilweise recht kleinteilig – Methoden dargelegt, die veranschaulichen, wie Daten generiert werden können, die für die spezifische von der ANT und After-ANT vorgeschlagene relationale Perspektive und Analyse zugänglich sind. Damit wird ansatzweise eine Lücke geschlossen, die in der Theoriedebatte aufgemacht und hinterlassen, jedoch auch von Vertretern der ANT nie – so wird argumentiert – überzeugend überwunden wurde. Nicht zuletzt aufgrund dieser minutiösen Darlegung der eingesetzten Fragetechniken und Analysewerkzeuge ist dieses Kapitel überschrieben mit »theoretische und forschungspraktische Wege aus dem Soziodeterminismus«. Im dritten Kapitel dieser Arbeit werden telemedizinische Zentren als soziotechnische Netzwerke und damit im Sinne der ANT- (und AfterANT-)Forschung vor dem Hintergrund in teilnehmender Beobachtung erhobenen empirischen Materials analysiert. Telemedizinische Zentren sind solche Einrichtungen, an die Patienten mit Herzinsuffizienz diejenigen Vitalparameter übertragen, die in der aktuellen Forschung als Risikofaktoren der Erkrankung gelten (also vor allem der Blutdruck, Puls und das Gewicht). Im telemedizinischen Zentrum erscheinen diese Vitalparameter in Graphen und Tabellen von dafür speziell hergestellten Computerprogrammen. Telepflegerisches Personal, sogenannte Teleschwestern, wertet sodann diese Daten aus und trifft insofern Entscheidungen über den Krankheitsverlauf und Gesundheitszustand von Patienten auf der Grundlage von Daten. Wenn in diesem Kapitel dieser Arbeit eine Praxiographie eines telemedizinischen Zentrums unternommen wird – also die Praxis von Teleschwestern mittels ethnographischer Methoden untersucht wird –, dann wird damit die Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme untersucht. Im dritten Kapitel dieser Arbeit soll vor allem gezeigt werden, dass die von Teleschwestern unternommenen Handlungen in zweierlei Hinsicht inhärent politisch sind: zum einen sind sie die Konsequenz der zuvor dargelegten Zukunftsszenarien und Problemlösungsstrategien von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen. Zum anderen sind sie politisch, da die darin unternommenen Handlungen diverse Akteure tangieren. In telemedizinischen Zentren bilden sich zum Beispiel Hierarchien zwischen pflegerischem und medizinischem Personal. Deren Entscheidungen über Gesundheitszustand und Krankheitsverlauf betreffen zudem Patienten. Auch diese befinden sich in bestimmten (hierarchischen) Verhältnissen zu dem sie betreuenden Personal. Damit gehen neue Anforderungen einher, die sie erfüllen müssen, und es entstehen auf Patien19

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tenseite neue Erwartungen darüber, was medizinische und pflegerische Betreuung leisten muss. Kurz, in telemedizinischen Zentren entstehen neue Machtverhältnisse (vgl. Foucault 1994: 255). Nachdem Stabilisierungsarbeiten von Teleschwestern beschrieben wurden und somit das telemedizinische Zentrum als soziotechnisches Netzwerk vorgestellt wurde, wird genauer untersucht, welcher Körper in den Praktiken von Teleschwestern behandelt wird. Mit dieser Frage werden die »ontological politics« (Mol 2002: viii) von telepflegerischen Praktiken untersucht, das heißt, es wird die Frage behandelt, wie Körper mit Hilfe bestimmter Technologien, Handlungsschritte und am Behandlungsprozess beteiligter Akteure geformt oder konzeptionalisiert werden. Dabei entsteht, wie zu zeigen sein wird, ein Zahlenkörper, ein Normenkörper, ein Körper mit spezifischen Zeithorizonten und mit einer spezifischen Topographie. Auch dieser spezifische Körper, so soll gezeigt werden, reflektiert die spezifischen, in telemedizinischen Zentren anzutreffenden politischen Verhältnisse und Machtverteilungen. Dieser Körper hat nicht nur eine spezifische Ontologie; vielmehr korrespondiert diese Ontologie mit den zwei genannten Dimensionen der Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme. Ab dem vierten Kapitel beschäftigt sich diese Arbeit vor allem mit Patienten. Es wird untersucht, welche Wirkmächtigkeit unter anderem der im telemedizinischen Zentrum hergestellte Körper in Patientenalltagen hat. Wenn bei dieser Frage berücksichtigt wird, dass telepflegerische Arbeit in den beschriebenen soziotechnischen Netzwerken stattfindet, lautet die Frage anders formuliert, wie das technowissenschaftliche Gesundheitssystem unter die Haut geht (Niewöhner, Kehl et al. 2008). Damit wird nicht nur gefragt, welche neuen Körperpraktiken Patienten unternehmen, sondern auch, welche anderen und neuen Perspektiven sie auf ihren Körper (sowie auf Krankheit und Prävention) einnehmen. Diese Fragestellung berücksichtigt zum einen die zuvor beschriebenen Netzwerke, widmet sich jedoch nicht einer weiteren Analyse derselben. Die Erforschung der Patientenperspektiven zeigt sich vielmehr inspiriert von neueren Ansätzen der interaktionistischen STS. Dies ist der dritte relational-prozessuale Ansatz, der in dieser Arbeit erprobt werden soll. Im vierten Kapitel wird er dargelegt und zu den beiden zuvor diskutierten – sociology of expectations und Akteur-Netzwerk-Theorie – abgegrenzt. Es soll gezeigt werden, dass die interaktionistische STS insofern einen dritten Weg geht, als dass mit ihr sowohl die Handlungsträgerschaft von Dingen als auch Interessen (oder Perspektiven), also vermeintlich soziodeterministische Kategorien berücksichtigt werden können. Die interaktionistische STS stellt insofern einen Kompromiss dar, 20

EINLEITUNG

der aus mehreren Gründen sinnvoll erscheint: Zunächst steht die interaktionistische STS durch ihre Verankerung im symbolischen Interaktionismus in einer Tradition der Erforschung der Marginalisierten oder derjenigen, die Adele Clarke als »implicated actors« bezeichnet. Es sind insofern politische Gründe, die dafür sprechen, Patienten sowie deren Stile und Perspektiven zu erforschen. Ein weiterer Grund für die Verfolgung des Ansatzes der interaktionistischen STS liegt darin, dass diese mit ihrer Fundierung in pragmatistischer Philosophie nicht nur aktuelle Trends (zum Beispiel zum practical turn) reflektiert, sondern auch poststrukturalistische Theorien mitberücksichtigt und anerkennt. Die interaktionistische STS wird somit einerseits zu einem epistemologischen Hybrid, andererseits dabei jedoch nicht zu eklektisch und umfangreich, sondern zu einem Ansatz, der diverse, für sozialwissenschaftliche Studien relevante Debatten aufnimmt und sehr plausibel in Versöhnung bringt. Im vierten Kapitel dieser Arbeit soll dargelegt werden, wie insbesondere die Philosophie Foucaults und die Vorschläge der Vertreter der AkteurNetzwerk-Theorie mit Thesen und Konzepten des symbolischen Interaktionismus und des Pragmatismus in Einklang gebracht werden können (und somit den Rahmen interaktionistischer STS definieren). Ein letzter Grund, der für die Einnahme der Perspektive der interaktionistischen STS spricht, ist die darin sehr reflektiert geführte Methodendiskussion. Mit Situational Analysis soll im vierten Kapitel dieser Arbeit die meiner Kenntnis nach einzige Analysemethode diskutiert werden, die die Bezeichnung »relational-prozessual« für sich beansprucht und dabei auf all die zuvor skizzierten Theoriediskussionen zurückgreift. Im fünften Kapitel dieser Arbeit werden Patientenperspektiven unter Berücksichtigung der sozialtheoretischen Annahmen, Thesen und Konzepte sowie unter Verwendung der Analysemethoden der interaktionistischen STS ergründet. Indem zunächst gezeigt wird, welche MenschObjekt-, oder konkreter: Mensch-Zahl-Interaktionen stattfinden, sollen die Arbeiten präsentiert werden, die für Patienten in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen anfallen. Hierunter fallen nicht nur bestimmte Vorkehrungen, die Patienten in der Wohnung vornehmen oder bestimmte Routinen, die Patienten erlernen müssen. Hierunter fallen vor allem spezifische Formen des Selbstmanagements oder der Selbstevaluation, zu denen Patienten idealerweise durch die TelemonitoringTechnologien angeleitet werden. Zum Teil, so soll im fünften Kapitel gezeigt werden, koproduzieren die Telemonitoring-Lösungen den Patiententypus des Präventiven Selbst. Manche Menschen nutzen diese Technologien, um mittel- bis 21

DER DIGITALE PATIENT

langfristig von medizinischer Expertise unabhängig zu werden. Das Präventive Selbst unternimmt Rückschlüsse vom Gewichtsverlauf auf das Ess- und Trinkverhalten, es wägt die Aktivitäten des Alltags mit dem aktuellen Blutdruck ab und berücksichtigt (und produziert) diverse wietere Daten für seine Krankheitsbewältigung. Diese Patientenklientel, so wird sich zeigen, ist nicht nur die Konsequenz eines neo-sozialen Aktivierungsdiskurses (der sich im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem äußert), sondern er fordert die Praktiken und Rationalitäten dieser Form von Sozialstaatlichkeit selbst aktiv ein. Im fünften Kapitel soll jedoch ebenso gezeigt werden, dass es auch andere Patientenklientele gibt. Diejenigen, die als Praeventives. Selbst++ und Präventionsverweigerer bezeichnet werden, sind durch ihre Perspektiven und die von ihnen unternommenen Handlungen nicht diejenigen Patienten, die durch Telemonitoring-Programme erzeugt werden sollen. Statt willig und bereit zu sein, aktiv in Therapie- und Behandlungsmanagement einbezogen zu werden, fordern sie medizinische Expertise ein, so dass sie selbst weniger Leistungen erbringen müssen (Praeventives.Selbst++), oder sie erachten die eingeleiteten Maßnahmen und die damit an sie herangetragenen Aufgaben als überflüssig oder unnötig (Präventionsverweigerer). Technowissenschaftliche Gesundheitssysteme gehen, so soll anhand dieser drei Patientenklientele gezeigt werden, unterschiedlich unter die Haut. Wohingegen sie massive Konsequenzen in Alltagspraktiken und auf Identitäten von denjenigen haben, die hier als Präventives Selbst bezeichnet werden, haben sie weniger weitreichende oder wenigstens andere Konsequenzen in den Alltagen von Präventionsverweigerern und dem Praeventiven.Selbst++. Dies soll, ebenso unter -Rückgriff auf einen Vertreter des interaktionistischen Paradigmas, anhand von unterschiedlichen Körper-Identitäten-Trajektorien (Corbin und Strauss 1993; Timmermans 1996) verdeutlicht werden. Dieses Modell wird genutzt, um zu zeigen, dass der im telemedizinischen Zentrum hergestellte Körper (der Zahlenkörper, der Normenkörper etc.) von den drei Patiententypen unterschiedlich handelnd in deren Alltag eingebunden wird. Die Arbeit wird durch zwei Schlusskapitel beendet. Im sechsten Kapitel soll zusammenfassend die Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme diskutiert werden, indem auf die wesentlichen Ergebnisse der drei empirischen Kapitel dieser Arbeit zurückgegriffen wird. Es werden drei Facetten als zentrale Kennzeichen dieses Gesundheitssystems herausgearbeitet. (1) Der darin vorherrschende gesundheitsökonomisch-bürokratische Vernunftstil wird als ein historisch neuartiger definiert, der insbesondere 22

EINLEITUNG

in den letzten 10-15 Jahren in Deutschland immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Die derartige Bezeichnung dieses Vernunftstils soll zum Ausdruck bringen, dass erst in dieser Zeit das Gesundheitswesen als ökonomisch bedeutsamer Wirtschaftssektor verstanden wurde; als ein Sektor, der aufgrund seiner spezifischen Allokations-, Effizienz-, Verteilungs- und Wertschöpfungsprobleme einer spezifischen Analyse und Gestaltung bedarf. Es soll gezeigt werden, dass die Algorithmisierung oder Bürokratisierung medizinischer und pflegerischer Praxis mit dieser Betonung des Gesundheitswesens als besonderer Wirtschaftssektor zusammenhängt. (2) Im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem wird zudem davon ausgegangen, dass Technologien wie die in dieser Arbeit diskutierte Telemedizin immer die Lösung eines Problems darstellen und damit am Ende eines linearen Prozesses stehen. Sowohl auf der Makroebene – also zum Beispiel hinsichtlich der ausgemachten demographischen Trends – als auch auf der Mikroebene – zum Beispiel hinsichtlich des Bedarfes von chronisch Kranken, ihre Krankheit zu »managen« – wird die Technik als etwas verstanden, das Probleme beseitigt. (3) Schließlich unterstellt die schon kurz angerissene neosoziale Logik einen »kompetenten Patienten«, das heißt jemanden, der aktiv eingebunden sein will in Therapie- und Krankheitsmanagement und der die damit anfallenden Arbeiten fähig ist zu erbringen. Diese Logik, so soll gezeigt werden, hat bestimmte Grenzen. Sie berücksichtigt lediglich eine Perspektive und vernachlässigt dabei viele weitere relevante Facetten der Betreuung chronisch Kranker. Im siebten Kapitel soll hierzu eine Synthese entwickelt werden. Mit anderen Worten, es sollen bescheidene Vorschläge gemacht werden, wie die zuvor ausgemachten Grenzen überwunden werden können und wie eine Gesundheitsversorgung aussehen könnte, die die Bedenken aus den Science & Technology Studies berücksichtigt. Wenn in Anlehnung an Strauss ein Telemedizin-Trajektorie-Modell vorgestellt wird, dann wird damit eine Versorgungspolitik vorgeschlagen, die chronische Krankheiten als etwas Relationales und Prozessuales versteht und nicht als etwas, das objektiviert oder essenzialisiert werden sollte. Die mit dem Trajektoriemodell einhergehenden Vorschläge – konkret: a) die Berücksichtigung von unterschiedlichen Patientenprofilen, b) der Ausbau der Telepflege und c) die Erweiterung der »intellektualisierten Perspektive« – erkennen das Potenzial von telemedizinischen Lösungen an, plädieren jedoch für eine Übernahme mehrerer Facetten aus dem, was in Anlehnung an An-nemarie Mol die »Logik der Pflege« genannt werden kann.

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DER DIGITALE PATIENT

Danksagung Obwohl auf dem Titel dieses Buches allein mein Name steht, haben diverse Menschen dazu beigetragen, dass diese Forschung stattfinden, entwickelt und zu Ende geführt werden konnte. Mein größter Dank gilt Stefan Beck und Jörg Niewöhner! Diese haben den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Forschungsschwerpunkt »Präventives Selbst« und hierbei vor allem das am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität angesiedelte Teilprojekt »Repräsentationen des Menschen als Leitbild in sozialer und professioneller Praxis – eine symmetrische Untersuchung am Beispiel kardiovaskulärer Präventionsprogramme« initiiert. Das Promotionsstipendium, das damit für mich entstand, ermöglichte mir nicht nur ideale Arbeitsbedingungen und die Teilnahme in einem hochaktuellen, interdisziplinären und international ausgerichteten Forschungsprojekt, sondern auch die Mitarbeit in einem Kollegenkreis, die sehr, sehr viel Freude und Spaß gemacht hat! Dazu trugen nicht zuletzt die anderen Projektteilnehmer bei: Katrin Amelang und Michalis Kontopodis, die auch mit dem anthropologischen Teilprojekt assoziiert waren; Martin Lengwiler und Jeannette Madarász vom am Wissenschaftszentrum Berlin angesiedelten historischen Teilprojekt; Christoph Heintze und Ulrike Metz vom mit der Charité assoziierten allgemeinmedizinischem Teilprojekt; sowie Regine Kollek und Martin Döring vom BIOGUM an der Universität Hamburg. All die genannten Personen, insbesondere aber Jörg Niewöhner, haben mir nicht nur viele wichtige Tipps und Hinweise beim jeweiligen Forschungsstand, sondern auch sehr hilfreiche Rückmeldungen zu früheren Versionen von einzelnen Kapiteln dieser Arbeit gegeben. Darüber hinaus sorgten all diese Personen für einen sehr anspruchsvollen Diskussionszusammenhang. Ich profitierte sehr davon, an diesem teilnehmen zu dürfen. Darüber hinaus konnte ich über den Zeitraum des Arbeitens an dieser Studie von weiteren, am Berliner Institut für Europäische Ethnologie bestehenden Arbeitsgruppen oder Diskussionszusammenhängen profitieren. Besonders zentral ist hier das »Labor: Sozialanthropologie und Lebenswissenschaften« – das institutsintern auch schlicht das »STSLabor« genannt wird. Auch hier hat die regelmäßige Teilnahme von teilweise schon genannten Personen, aber auch von Susanne Bauer, Sven Bergmann, Christine Bischoff, Christoph Kehl, Stephan Gabriel Hauffe, Martina Klausener, Maren Klotz, Michi Knecht, Lydia-Maria Ouart, Sonja Palfner, Nurhak Polat, Jörg Potthast, Estrid Sørensen sowie unseren diversen Gästen in dieser Zeit dazu beigetragen, dass ich stets

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EINLEITUNG

auf einem intellektuell hohen und stimulierenden (und stets freundschaftlichen) Niveau mitdiskutieren durfte. Des Weiteren möchte ich Thomas Lemke dafür danken, dass er spontan als Zweitgutachter eingesprungen ist und mir ebenso viele hilfreiche und nützliche Hinweise zur Pointierung meiner Thesen gab. Viele weitere wichtige Rückmeldungen bekam ich zu diversen Anlässen von Tanja Bogusz, Michael Guggenheim, Wolfgang Kaschuba und Thomas Scheffer. Ich bin dankbar für Anmerkungen und Hinweise von Nicolas Eschenbruch, Marion Hamm, Dagmar Hänel, Helle Meister und Klaus Schönberger. Danken möchte ich auch den aktiven Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Seminare »Neoliberale Reformen« und »Einführung in die Science & Technology Studies« (im Wintersemester 07/08 und Sommersemester 08) sowie, erneut, Maren Klotz und Christoph Kehl, mit denen ich diese Seminare durchführte. Zweifelsohne haben mir auch diverse Menschen »aus dem Feld« geholfen, diese Forschung zu realisieren. Ganz ausdrücklich möchte ich mich bedanken bei den Initiatoren und Entwicklern des Projektes »Telemedizin fürs Herz«, das heißt bei Mitarbeitern von der Techniker Krankenkasse und der Deutschen Stiftung für Chronisch Kranke. Selbiger Dank gilt den Mitarbeitern des Telemedizinischen Zentrums in Brandenburg und Herrn Smidt und seinen Mitarbeiterinnen von den Telemedizin Segeberger Kliniken GmbH in Bad Segeberg. All dies waren für mich zentrale Unterstützungen. Des Weiteren möchte ich mich bei den hier anonymisierten Patienten bedanken. Sie waren nicht nur spontan bereit, mich in ihre Wohnung oder in ihr Haus zu lassen. Sie waren außerdem so aufgeschlossen, mir auf viele seltsame Fragen zu antworten. Sie warteten lange auf meine Ergebnisse und erklärten sich dann auch noch bereit, diese mit mir zu diskutieren und unterbreiteten mir häufig wichtige Verbesserungsvorschläge. Dies war immer sehr hilfreich und erweiternd. Zentraler Dank gilt außerdem dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Finanzierung dieses Buches (im Programm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog«, Sektion Anthropologie) sowie Ulrich Korn für das Lektorat. Furthermore, there are various non-German speakers whose contributions I want to gratefully acknowledge. Most notably, there is Carl May, Professor at the Institute for Health and Society at University of Newcastle. I am extraordinary grateful for welcoming me for three months as a Visiting Member of Staff in his research group »Health Technologies and Human Relations«. I appreciated the hospitality and support of his and the group: Tracy Finch, Ben Heaven, and Tim Rapley. Likewise, 25

DER DIGITALE PATIENT

James Cornford, Vincent Deary, Catherine Exley, Neil Jenkins, Frances Mair, Tiago Moreira, and Rob Wilson all contributed to making my time in Newcastle so pleasant and inspiring! At conferences or workshop(-dinner)s, I met diverse people who took their time to answer questions of a PhD student. As part of this, I would like to thank Geoff Bowker, Simon Cohn, Don Kullick, Emily Martin, Annemarie Mol, Davide Nicolini, Morten Nissen, Nelly Oudshoorn, Rayna Rapp, Ann Rudinow Saetnan, Leigh Star, Stefan Timmermans, Catherine Will and Allan Young for giving me very helpful comments and feedback! I’m afraid, you probably can only anticipate how it turned out in the end and that you have to trust me I got your point. Zu guter Letzt möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich daran erinnert haben, dass neben der Doktorarbeit auch andere Dinge wichtig sind. Vielen Dank an die Familie in Hamburg und an meine Frau Josi. In dieser Kategorie auch vielen Dank an meine besten Freunde Sebastian und David.

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Informations- und Kommunika tions tec hnologien im tec hnow isse ns c haftlic hen Ges undheits sys te m 1

Seit etwa einem Vierteljahrhundert werden in Deutschland und in vielen anderen Sozialstaaten (Nullmeier 2003) der Welt Gesundheitssysteme hinsichtlich ihrer Versorgungsstrukturen und -prozesse sowie hinsichtlich ihres Leistungsangebots überdacht und umgebaut (OECD 1995; Ham 1997). Die von Entscheidungsträgern immer wieder hervorgebrachten Legitimationen für diese Reformen sind die in diversen Studien belegten makrosozialen Trends, die einen Anstieg relativer Kosten (Beske und Drabinski 2005) für die Gesundheitsversorgung belegen: hierunter fällt zum Beispiel eine spezifische demographische Entwicklung, in der die Anzahl Älterer zunimmt, wohingegen die Anzahl derjenigen, die in die Sozialsysteme einzahlt, geringer wird; auch eine stärkere Verbreitung chronischer Krankheiten wird in vielen Studien belegt. Diese scheint teilweise mit der demographischen Entwicklung zusammenzuhängen, betrifft jedoch zunehmend auch Menschen jüngeren Alters – zum Beispiel bei chronischen Rückenschmerzen oder stressbedingten Krankheiten (May 2005); des Weiteren wird der medizinischtechnologische Fortschritt als ein Grund für steigende Kosten zitiert, zum Beispiel wegen der damit zusammenhängenden Implementierung

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An English version of this chapter is »in press« in Healthcare Analysis (Mathar 2010). 27

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kostenintensiver medizinischer Therapien und Befundtechnologien. Auch wenn der eigentliche Einfluss all dieser Trends auf das Gesundheitswesen in vielen anderen Studien bestritten wird (Scitovsky 1988; Levinsky, Yu et al. 2001; Brockmann 2002; Yang, Norton et al. 2003), so erscheinen sie als die treibenden Kräfte zumindest in den Debatten von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen. Nebst politischen Reformen, die in die sozialpolitische Sozialgesetzgebung eingreifen und somit versuchen, diesen Trends entgegenzuwirken, wird seit einigen Jahren auch verstärkt auf neue Technologien (Collier und Ong 2005) gesetzt, von denen erwartet wird, dass sie in eine ähnliche Stoßrichtung zielen. Insbesondere von neueren Informationsund Kommunikationstechnologien wurde erwartet, dass sie nicht nur das Gesamtsystem effizienter und effektiver organisieren, sondern auch die Interaktion (zum Beispiel zwischen Arzt und Patient; das heißt auf der Mikroebene) besser regulieren. Viele solcher Instrumente, die versprachen, genau jenes Management (May 2009b) der Makro- und Mikroebene zu ermöglichen, erschienen Mitte der 1990er Jahre und somit in einer Zeit der zunehmenden Verbreitung von Computern sowie deren Vernetzung – dem Internet. Beispiele für solche technologischen Lösungen sind Instrumente wie elektronische Patientenakten, die Patientendaten auf einem Server zentral speichern und von allen Leistungserbringern eingesehen werden können. Auch tele-medizinische Netzwerke, die klinische Befunde auf schnelle und komfortable Art zwischen diversen Gesundheitseinrichtungen verschicken können, gehören zu solchen Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen. Schließlich lassen sich Telemonitoring-Lösungen, die in dieser Arbeit vor allem von Interesse sind, zu solchen Technologien subsumieren. Telemonitoring soll ermöglichen, dass Patienten mit einer chronischen Krankheit in ihren Haushalten verbleiben können, weil die Risikofaktoren ihrer Krankheiten mittels spezifischer Technologien erhoben und an medizinische Experten verschickt werden. Diese haben so einen Überblick über den Krankheitsverlauf des Patienten, ohne dass dieser eine Arztpraxis oder gar ein Krankenhaus aufsuchen muss. Diverse sozialwissenschaftliche Arbeiten haben aufgezeigt, dass eine Technisierung des Gesundheitssystems nicht bedeutet, dass nur Apparate Einzug in medizinische und pflegerische Praxis erhielten. Mit der Technisierung ging meist auch eine spezifische Form der Rationalisierung oder Verwissenschaftlichung medizinischer Arbeiten (Bowker und Star 1999; Berg und Timmermans 2003) einher: Diese Rationalisierung kommt zum Beispiel dadurch zustande, dass mit Hilfe von Informationsund Kommunikationstechnologien der aktuelle Stand medizinischen Wissens viel leichter und schneller an Leistungserbringer vermittelt 28

DAS TECHNOWISSENSCHAFTLICHE GESUNDHEITSSYSTEM

werden kann. So gibt es Technologien, die ermöglichen, dass ein Arzt die wahrscheinlichste Diagnose oder statistisch erfolgreichste Behandlung vom Computer »errechnet« bekommt. Ein anderes Beispiel für das gemeinsame Fortschreiten von Technisierung und Verwissenschaftlichung ist das just vorgestellte Telemonitoring, denn auch diese Technologien reflektieren die aus diversen Studien ermittelten Risikofaktoren und somit den aktuellen Stand medizinischen und epidemiologischen Wissens. Adele Clarke et al. sehen in einer fortschreitenden Technisierung und Verwissenschaftlichung des Gesundheitswesens einen in einer Wechselbeziehung stehenden Prozess, den sie »Biomedikalisierung« nennen. Zentrales Kennzeichen dieses – so wird unterstellt – in den allermeisten westlichen Ländern fortschreitenden Prozesses sei der Trend zu einer »Technoscientifization«, das heißt den Trend zu »[i]ncreasingly integrated infrastructures with widely dispersed access to highly standardized, digitized patients’ medical records, insurance information processing, and storage« (Clarke, Shim et al. 2003: 169). »Technoscientifization« bezeichnet also genau jene hier kurz skizzierten miteinander verwobene Prozesse: Technisierung und Rationalisierung oder Verwissenschaftlichung. In diesem, in das Thema einleitende Kapitel soll untersucht werden, in welchem Kontext das Potenzial von Instrumenten wie den eben vorgestellten erkannt worden ist. Diese Einführung erfolgt, indem untersucht wird, welche Akteure und sozialen Welten welche Erwartungen zu diesen Technologien äußerten und welche Konsequenzen diese Erwartungen hatten. Es soll damit zum einen gezeigt werden, wie sich Erwartungen und Zukunftsszenarien in konkreten gesundheitstechno-logischen Projekten oder Produkten manifestierten – und damit eine Form der relationalen und prozessualen Analyse unternommen wird, die Erwartungen und Technologien als miteinander verwoben betrachtet. Zum anderen sollen aus dieser Analyse Schlussfolgerungen über den Prozess der »Rationalisierung medizinischer Arbeiten« oder »Biomedikalisierung« gezogen werden bzw. – konkreter: – gefragt werden, wie der Aufstieg eines »technowissenschaftlichen« Gesundheitssystems in Deutschland vonstatten ging. Schlussendlich wird argumentiert, dass auch in Deutschland Prozesse ausfindig gemacht werden können, die die in internationalen Studien bezeichneten Trends bestätigen können, dass diese aber nicht immer die spezifische Situation des deutschen Gesundheitswesens berücksichtigen. Von daher wird vorgeschlagen, den Prozess der Biomedikalisierung eher als eine global assemblage (Collier und Ong 2005; Marcus und Saka 2006) zu verstehen, das heißt als einen Prozess, 29

DER DIGITALE PATIENT

der abstrakt zwar in vielen westlichen Ländern beobachtet werden kann, der sich jedoch flexibel an bestehende (Versorgungs-)Strukturen, Institutionen und Akteure anpasst und von daher unterschiedlich konkret wird. Ein Augenmerk dieser vergleichenden Erwartungsanalyse richtet sich schließlich auf das, was mit Foucault als Subjektivierungsstrategie bezeichnet werden kann, das heißt auf die von machtvollen Akteuren (Staat, anderen Regierungsorganisationen, Regierungstechnologien etc.) implizit oder explizit kreierten Konzepte des Individuums (vgl. hierzu Foucault 1989; Rose 1998). Hier wird argumentiert, dass ein technowissenschaftliches Gesundheitssystem – zumindest in den hier analysierten Fällen – mit einer neuen Form der Sozialpolitik einhergeht. Kennzeichen dieser neuen Form ist, dass sich der Staat und andere an der Gesundheitsversorgung beteiligte Akteure und Institutionen nicht aus den Versorgungsstrukturen und -prozessen zurückziehen, sondern auf neuartige Art und Weise einbringen. Es wird sich zeigen, dass zumindest in den Zukunftsszenarien von Entscheidungs-trägern Patienten eine aktivere Rolle einnehmen (sollen). Insofern können einige der im Folgenden zitierten Aussagen auch als Kennzeichen eines »Aktivierungsdiskurses« (Opielka 2003) angesehen werden – eines Diskurses also, der als zentrales Merkmal dieser neuen Form von Sozialpolitik gelten kann.

D e r Au f s t i e g d e s t e c h n ow i s s e n s c h a f t l i c h e n G e s u n d h e i t s s ys t e m s Insbesondere in der angloamerikanischen, niederländischen und skandinavischen Sozial- und Kulturanthropologie erschienen in den letzten 15 Jahren immer mehr Studien, die eine neue Medizin- und Wissenschaftskultur erforschten. Nach dem Dafürhalten dieser Forscher konnte diese insbesondere in Einrichtungen der stationären Versorgung studiert werden. Marc Berg (1997) zum Beispiel war einer der ersten, der auf Grundlage einer ethnographischen Forschung in einem niederländischen Krankenhaus untersuchte, wie Informations- und Kommunikationstechnologien medizinische Praxis rationalisieren. Seine Studie zu digitalen Behandlungspfaden – also zu solchen Instrumenten, die die Arbeitsschritte einer medizinischen Behandlung standardisieren und dabei sowohl die Kosten der Behandlung als auch den aktuellen Stand medizinischen Wissens reflektieren – betonte, dass solche Instrumente diverse politische Konsequenzen in medizinischer Praxis haben: Zum Beispiel ändern sie das Verständnis dessen, wer/was als Patient gilt, sie umstrukturieren die bis dahin etablierten Arbeitsteilungen zwischen verschiede30

DAS TECHNOWISSENSCHAFTLICHE GESUNDHEITSSYSTEM

nen Professionellen in Krankenhäusern, transformieren, was in medizinsicher Praxis überhaupt als Symptom bezeichnet wird u. v. m. Kurzum, solche Instrumente beeinflussen und verändern, was in der Krankenbetreuung als relevant gilt. Berg zeigt, dass solche Instrumente vielseitige und teilweise unintendierte Nebenfolgen mit sich bringen können, die insofern politisch sind, als dass sie diverse Akteure (Pflegepersonal, Ärzte und Patienten) tangieren. Aufgrund ihres ausschließlichen Fokus auf die »Mikropolitik« von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen, kann die Arbeit Marc Bergs jedoch auch kritisiert werden. Zwar diskutiert Berg in einem kurzen historischen Abriss über die Geschichte der Rationalisierung der Medizin auch einen Zustand des zeitgenössischen Gesundheitssystems, dennoch bleiben seine Schlussfolgerungen eher auf der Ebene dieses einen von ihm untersuchten Krankenhauses. Eine Funktion dieses Kapitels besteht darin, diese Kritik zu vermeiden. In welche weiterreichenden makrosozialen Veränderungen einige der genannten Gesundheitstechnologien verwoben sind, haben zum Beispiel die Forschungen Carl Mays et al. gezeigt. In deren diversen, zum Großteil qualitativ ausgerichteten Forschungen wurde zunächst (ähnlich wie bei Berg) untersucht, welche Praxen und Wissensstile durch telemedizinische Dienste (v. a. im Bereich der Teledermatologie) entstehen. Im Gegensatz zu Marc Berg wurden Mays et al. Befunde jedoch vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen in der Gesundheitspolitik reflektiert. Sie zeigen, dass Informations- und Kommunikationstechnologien für das Gesundheitswesen in einer Zeit verbreitet wurden, in der insbesondere evidenzbasiertes Wissen und ökonomische Kalküle eine immer größere Bedeutung erfuhren. Denn diese Technologien ermöglichen, dass genau jene den Empfehlungen der evidenzbasierten Medizin folgenden Leitlinien in medizinischer Praxis schnell verbreitet werden und sogar kontrollierbar wird, ob diese Leitlinien von Leistungserbringern eingehalten werden. May et al. schlussfolgern: »These are governmental technologies, intended to guide conduct and so to structure work. It therefore seems more appropriate to describe them – following Foucault’s notion of ›govern-mentality‹ – as ›technogovernance‹.« (May, Rapley et al. 2006: 1027) Da auch in Deutschland die evidenzbasierte Medizin zunehmende Verbreitung erfährt und diverse solcher Technologien auch in Deutschland verstärkt an Bedeutung gewonnen haben, kann auch hier der Aufstieg einer solchen »technogovernance« oder eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems konstatiert werden. Dies bedeutet allerdings nicht, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, dass dieser Prozess hierzulande genauso verlief wie in England, den USA oder den Niederlanden. 31

DER DIGITALE PATIENT

Eine Rekonstruktion der in den letzten Jahren von verschiedenen Akteuren zu Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen formulierten Erwartungen verdeutlicht einige Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens. Diese sollen im Folgenden dargelegt werden.

V e r g l e i c h e n d e E rw a r t u n g s a n a l ys e Wenn im Folgenden von verschiedenen Akteuren und sozialen Welten formulierte Erwartungen dargelegt werden, wird eine relationale und prozessuale Perspektive erprobt. Dabei wird insbesondere auf von britischen Sozialwissenschaftlern entwickelte Ansätze zurückgegriffen, welche von diesen in eine »sociology of expectations« zusammengeführt wurden. Dieses Forschungsfeld wurde in häufig ethnographisch arbeitenden Studien zu sozialen, politischen und ökonomischen Aspekten der Genomforschung erprobt und weiterentwickelt (z. B. in Martin 2001; Hedgecoe 2004). Die zentrale Annahme des ursprünglich von Brown und Michael vorgestellten Forschungsansatzes (2003) lautet, dass Erwartungen und Zukunftsszenarien als Quasi-Akteure betrachtet werden können, da diese dynamische Prozesse auslösen (können), ohne die bestimmte Technologien vielleicht gar nicht erst erprobt und/oder entwickelt worden wären. In ihrem Plädoyer für das Forschungsfeld einer Soziologie der Erwartungen nennen Borup, Brown et al. folgende vier Gründe: »[1] Expectations are foundational in the coordination of different actor communities and groups (horizontal co-ordination) and also mediate between different scales or levels of organization (micro, meso, and macro-vertical coordination). [2] They also change over time in response and adaptation to new conditions or emergent problems (temporal coordination). [3] Likewise, expectations link technical and social issues, because expectations and visions refer to images of the future, where technical and social aspects are tightly intertwined. [4] Finally, expectations constitute ›the missing link‹ between the inner and outer worlds of techno-scientific knowledge communities and fields. At the same time, expectations and visions are often developed and reconstructed in material scientific activities and disseminated in obdurate and durable forms. In a sense, expectations are both the cause and consequence of material scientific and technological activity.« (Borup, Brown et al. 2006: 286)

Ausgangspunkt von Borup, Brown et al. ist die Annahme, dass zu bestimmten Projekten oder Produkten formulierte Erwartungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, weil diese verschiedene sozia32

DAS TECHNOWISSENSCHAFTLICHE GESUNDHEITSSYSTEM

le Welten (zum Beispiel Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Politiker, Technikhersteller) zusammenbringen und interagieren lassen, obwohl einzelne soziale Welten eventuell unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was mit dem Objekt überhaupt erreicht werden soll.2 So können zum Beispiel Politiker, Ärzte und Patienten unterschiedliche Erwartungen zu den Konsequenzen der Entschlüsselung des menschlichen Gencodes haben, was sie jedoch nicht daran hindert, Allianzen zu bilden und für Räume zu kämpfen, in der diese Entschlüsselung des Gencodes erreicht werden kann. In der sociology of expectations wird davon ausgegangen – dies wurde auch im obigen Zitat deutlich –, dass Erwartungen niemals als etwas Stabiles angesehen werden können. Der prozessuale Charakter von Erwartungen kommt durch deren Verflechtung mit sozialen Welten und durch die Interaktion zwischen Akteuren verschiedener sozialer Welten zustande. Diese Interaktion ermöglicht, dass sich Erwartungshorizonte verändern und somit auch die Entwicklung des Projektes oder Produktes transformiert wird; schließlich verdeutlichen Erwartungen deshalb auf überzeugende Art und Weise die Verflechtung von Gesellschaft und Technik, weshalb die mit den Thesen der sociology of expectations arbeitenden Studien nicht nur eine spezifische Form der prozessualen, sondern auch der relationalen Analyse vorschlagen. Als grobes Raster zur Erwartungsanalyse schlagen Brown und Michael zwei Untersuchungsfragen vor: Zunächst die Frage nach den »prospecting retrospects«, das heißt nach den gegenwärtig geäußerten Zukunftsszenarien und den Aktivitäten, die unternommen werden, um diese Zukunft herzustellen; und die nach den »retrospecting prospects«, das heißt die Frage nach den vergangenen Zukünften, oder wie die Zukunft einst präsentiert wurde und welche Aktionen unternommen wurden, um diese herzustellen. In diesem Kapitel soll die letzte Form der Analyse von Zukunftsszenarien angewandt werden, indem gefragt wird, welche Akteure, wann, in welchem diskursiven Kontext, welche Erwartungen formuliert haben und welche Konsequenzen dies hatte. Die Darstellung der Erwartungen von Entscheidungsträgern in England wird vor allem deshalb unternommen, um darüber an zentrale Dimensionen und Besonderheiten der Strukturen und Akteure in Deutschland zu gelangen. Mit anderen Worten, der Vergleich ist ein Mittel zum Zweck, sich der Situation hierzulande anzunähern. Insofern handelt es sich hierbei auch nicht um einen Kontrast, der den Gütekriterien ver2

Soziale Welten bezeichnen Gruppen, die auf gleiche Art und Weise handeln und dabei gleiche Ziele verfolgen. Das von Strauss et al. entwickelte Konzept wird weiter unten in diesem Kapitel genauer erläutert und im vierten Kapitel dieser Arbeit ausführlich diskutiert (siehe S. 140ff.) 33

DER DIGITALE PATIENT

schiedener komparatistischer Schulen genügt, sondern eher um das, was mit Anselm Strauss und Juliett Corbin als die »Flip-Flop Technique« (Strauss, Corbin 1998: 84) bezeichnet werden kann: »The exercise should […] help to think analytically rather than descriptively about data, to generate provisional categories and their pro-perties, and to think about generative questions« (ebd.). Eine der Fraggen, die sich im Anschluss an diese vielleicht grobe Form des Vergleichs anschließt, lautet: Können einige Konzepte wie »technogovernance« oder »Biomedikalisierung«, die vor dem Hintergrund spezifischer Gesundheitssysteme entstanden, die Situation Deutschlands eigentlich treffend beschreiben? Die im Folgenden unternommene vergleichende Erwartungsanalyse untersucht insbesondere Textdokumente, die von Entscheidungsträgern des deutschen und englischen Gesundheitssystems herausgegeben wurden. Im Falle Englands heißt das, dass vor allem Strategiepapiere des Department of Health und von Primary Care Trusts3 analysiert wurden; zur Rekonstruktion der vergangenen Zukünfte von bestimmten Gesundheitstechnologien in Deutschland wurden Papiere unter anderem von Krankenkassen, dem Gesundheitsministerium und dem Wirtschaftsministerium untersucht. Begleitet wurde diese Textanalyse durch die Befragung von Experten aus beiden Gesundheitswesen, das heißt, es wurden Interviews geführt mit vier Vertretern von Krankenkassen (in Berlin und Hamburg), mit zwei Mitarbeiterinnen in Primary Care Trusts (in Durham und Nottingham), mit zwei Technologieherstellern (in Berlin) sowie mit drei Politikern, deren Aufgabe es ist, einen Markt für Telemonitoring-Lösungen und andere Medizintechnologien zu fördern (wiederum in Berlin).

G e s u n d h e i t s s ys t e m e @ r e f o r m . c o m Die nun folgende vergleichende Erwartungsanalyse hat zum Ziel, zu zeigen, dass sich in den letzten ca. zehn Jahren sowohl in Deutschland als auch in England technowissenschaftliche Gesundheitssysteme herausbildeten, dass diese jedoch – trotz der Verbreitung ähnlicher Denkstile und Instrumente – immer noch markante Unterschiede aufweisen. Diese Unterschiede lassen sich, so wird sich zeigen, zum einen mit spezifischen Versorgungsstrukturen und -prozessen erklären, andererseits jedoch auch mit unterschiedlichem Status und Habitus von Pro3

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In England sind Primary Care Trusts (PCTs) diejenigen Einrichtungen, die Versorgungsstrukturen und -prozesse auf lokaler Ebene planen und organisieren. Sie können auch als die lokalen Vertretungen des Department of Health bezeichnet werden.

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fessionellen (insbesondere bei Ärzten). Die vergleichende Erwartungsanalyse soll zeigen, warum es wichtig ist, bei der Rekonstruktion der Entstehung zweier technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme wesentliche Grundprinzipien und Kernelemente der sozialen Sicherung zu reflektieren bzw. besonderes Augenmerk auf zentrale Träger, Institutionen und Akteure der jeweiligen Gesundheitssysteme zu richten. Von daher wird auch dafür plädiert, dass man bei der Verwendung von Konzepten wie »Biomedikalisierung« vorsichtig sein sollte, die unterstellen, Trends von allen westlichen Ländern festzuhalten. Bevor nun im Folgenden die Erwartungen vorgestellt werden, die unterschiedliche Entscheidungsträger in den jeweiligen Gesundheitswesen zu innovativen Gesundheitstechnologien formulierten, soll einleitend festgehalten werden, dass sowohl in Deutschland als auch in England in den letzten ca. 25 Jahren (Alber 1989; Hill 1993) diverse sozial und gesundheitspolitische Reformen stattfanden, die im Wesentlichen erstrebten, die Gesundheitsversorgung effizienter und effektiver zu gestalten. Für England wurde vielfach die Einführung von Marktprinzipien ausgemacht, indem zum Beispiel private Krankenhäuser und private Zusatzversicherungen zugelassen wurden (Flynn 1997; Franklin 1997; Levitt und Wall 1999); auch die Auslagerungen nicht-medizinischer Dienstleistungen, zum Beispiel Wäschereibetriebe und Cateringdienste in Krankenhäusern, können als Reformen für die Ermöglichung von Marktprinzipien ausgemacht werden. Ebenso sind die geschaffenen Anreize zu mehr Selbstregulation, zum Beispiel mit verschiedenen Formen der Budgetierung, Teil dieses Trends. Auch in Deutschland haben die seit den 1970er Jahren unternommenen Reformen im Wesentlichen Kostendämpfungen und Entlastungen der Haushalte angestrebt: Mit dem Anstieg der Krankenkassenbeiträge und der Einführung einer Praxisgebühr wurden dabei nicht nur Leistungsempfänger direkt tangiert; auch Leistungserbringer wurden zu neuen Praktiken motiviert, zum Beispiel durch neue Finanzierungssysteme wie Diagnosis Related Groups (Braun und Müller 2004; Mathar 2007a) oder durch die Einführung von Pflegestufen (SGB XI) in der Pflege. Zudem wurden Leistungsfinanzierer, das heißt Krankenkassen, durch solche Reformen betroffen, die mehr Konkurrenz zwischen den Anbietern ermöglichen sollten. Hierunter zählen zum Beispiel die Einführung der freien Kassenwahl (im Jahre 1996) und die Einführung eines einheitlichen Kassensatzes (im Jahre 2009).

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Die ›Modernisierung‹ des NHS Seit Mitte der 1990er Jahre – und damit, wie sich zeigen wird, vergleichsweise früh – verkündet Englands Department of Health (das Pendant zum Bundesgesundheitsministerium) den Aufbau eines modernen, mittels Informations- und Kommunikationstechnologien operierenden Gesundheitswesens. Zum Teil antwortete das Department of Health damit auf ein in dieser Zeit besonders dringliches Problem des nationalen Gesundheitssystems (dem National Health Service – NHS): Insbesondere lange Wartezeiten, das heißt eine teilweise dramatische Unterversorgung (Martin, Sterne et al. 2003) könnten, so die Erwartung, mittels solcher Technologien überwunden werden. Andererseits wurde (allgemeiner) vermutet, dass Informations- und Kommunikationstechnologien sinnvolle Investitionen für ein mittel- bis langfristig effizienteres und kostengünstigeres Gesundheitswesen seien. Die Strategiepapiere »The New NHS – modern, dependable« und »Information for Health – An Information Strategy for the Modern NHS 1998 – 2005« (Department of Health 1998) zum Beispiel verkündeten, dass deswegen in Zukunft alle in den NHS involvierten Akteure von Informations- und Kommunikationstechniken profitieren würden. »Using rapidly developing information technology clinicians will be able to draw on the expertise of others, sometimes over great distances. Test results will be dispatched in a fraction of the time it has taken up to now. Patient’s details will be transmitted between primary care and hospitals rapidly and accurately. It will be possible to book hospital admissions over the phone at times which suit patients. Analysis of the data will show up any variations in the cost and effectiveness of treatments. Area studies will reveal sources of ill health or inequalities in healthcare.« (Department of Health 1998: 5f.)

Mit einer Infrastruktur, die die Speicherung und den Austausch von Daten ermöglicht, so die Erwartung, könnten diverse Probleme auf einmal gelöst werden. Kliniker, Patienten, Steuerzahler u. v. m. würden von einem solchen Informationssystem profitieren. Auch wenn, wie in diesem Zitat festgestellt wurde, die Situation aller verbessert werden sollte, betrafen die ersten angegangenen Projekte insbesondere Ärzte und Pflegekräfte. Instrumente wie Electronic Patient Records und Electronic Health Records versprachen Ärzten und Pflegern per Computer Zugang zu nationalen und lokalen Datenbanken, worüber sie folglich zu schnelleren und leichteren Entscheidungen über Therapiemöglichkeiten und Behandlungswege gelangen sollten. Es wurde angenommen, dass durch die Einrichtung solcher Datenbanken eine 36

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allseits gewünschte Erleichterung des Arbeitsalltags von Ärzten und Pflegekräften ermöglicht würde: »Our white paper The new NHS – modern, dependable […] is a radical programme to provide NHS staff with the most modern tools to improve the treatment and care of patients and to be able to narrow inequalities in health by identifying individuals, groups and neighbourhoods whose health care needs particular attention. Our new information strategy will help staff do the jobs they came into the NHS to do and to do them better.« (Department of Health 1998: 5)

Die Einrichtung, mit der Leistungserbringer dabei ihre Beziehungen intensivieren sollten, war das 1998 bereits angekündigte, aber erst 1999 gegründete, sogenannte »National Institute for Clinical Excellence« – NICE. Die Aufgabe dieser Einrichtung bestand vor allem in der Kreierung und Verbreitung von sogenannten »best-practice«-Modellen. Damit einher geht die Verabschiedung von Leitlinien, die epidemiologische und gesundheitsökonomische Studienergebnisse reflektieren. Leitlinien definieren, welche Heilmittel und Behandlungswege für Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern und Risikoprofilen am effektivsten und effizientesten sind. Es war jedoch nicht allein vorgesehen, eine einseitige Beziehung zwischen Leistungserbringern und dem NICE herzustellen. Die Kooperation mit der nationalen Einrichtung sah nicht nur vor, dass Ärzte nach der Eingabe von Befunden und Diagnosen in ein digitales Standarddokument von NICE verabschiedete Handlungsanleitungen automatisch zugestellt bekommen. Durch die digitale Erfassung von patientenbezogenen Daten und die Übermittlung derselben würde der Institution auch ermöglicht werden, Anschlussstudien zur klinischen Effektivität der verteilten Handlungsanleitungen zu unternehmen. Nicht zuletzt anhand dieser zirkulären Beziehung zwischen Leistungserbringern und dem NICE wird vielleicht besonders deutlich, was May et al. als »technogovernance« bezeichnen. Zumindest in den Ende der 1990er Jahre formulierten Zukunftsszenarien werden die Praktiken von Ärzten zunehmend – so könnte man negativ formulieren – fremdbestimmt. Welche Behandlung, Therapie und Medikation der Arzt vorschlägt, liegt nicht mehr in seinem eigenen Ermessen, sondern wird von Externen reguliert. Auch der »technowissenschaftliche« Charakter dieses Gesundheitssystems kann an dieser Stelle besonders plausibel erklärt werden: das System ist wissenschaftlich, da es in seinen Leitlinien die Ergebnisse quantitativer, groß angelegter Studien zu Populationen reflektiert (Harrison 2002); es ist »techno«, da die Verteilung der Leitlinien und die Überprüfung der 37

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Einleitung mittels jener Informations- und Kommunikationstechnologien erreicht wird. Die Ende der 1990er Jahre formulierten Erwartungen zum Potenzial der genannten Technologien waren zweifelsohne sehr optimistisch, da man vorsah, bis spätestens 2005 diese und viele andere vergleichbare Projekte im Regelbetrieb implementiert zu sehen. Tatsächlich gestaltete sich der Weg schwieriger und musste mehrfach überarbeitet werden (vgl. hierzu Department of Health 2001b; Department of Health 2006). Dennoch kann festgestellt werden, dass – gerade im Vergleich zu Deutschland – diese und andere innovative Gesundheitstechnologien das englische Gesundheitswesen relativ schnell durchdrangen. Dies wird zum Beispiel daran erkennbar, dass englische Sozialwissenschaftler vorschlagen (May 2007; Finch 2008), aufgrund der weiten Verbreitung von Telemedizin und anderen Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen ein neues Verständnis der Arzt-PatientBeziehung anzuwenden. Das in der Sozialforschung auch derzeit noch dominante Modell, so der Ausgangspunkt ihrer Argumentation, gehe fälschlicherweise immer noch von dem Paradigma Parsons’ (1977) aus, wonach angenommen werde, dass es sich beim Arzt-Patient-Gespräch um eine direkte, private, zweiteilige, klar lokalisierbare und abgrenzbare Untersuchungseinheit handele. Studien zu asymmetrischen Machtverteilungen in der Arzt-Patient-Beziehung zum Beispiel – Expertenwissen vs. Laienwissen – reproduzierten dieses Konzept. May et al. betonen jedoch, dass in einem technowissenschaftlichen Gesundheitssystem diverse Akteure (und nicht nur vor Ort präsente) in diese Beziehung intervenieren würden. Das Plädoyer Mays et al. für dieses neue Konzept der Arzt-Patient-Beziehung kann als Indikator dafür genommen werden, wie stark Einrichtungen wie das NICE das englische Gesundheitswesen mittlerweile durchdringen. Während in den Strategiepapieren des Department of Health und anderen an der Versorgungspolitik beteiligten Institutionen in einer ersten Phase insbesondere solche Erwartungen formuliert wurden, die Leistungserbringer tangierten, wurden ab ca. 2001 verstärkt innovative Gesundheitstechnologien diskutiert, die die Situation von Patienten betrafen (vgl. hierzu Department of Health 2001a; Department of Health 2002; Department of Health 2005b). Die Arbeiten von einigen Sozialwissenschaftlern aus dieser Zeit haben betont, dass spätestens hier deutlich wurde, dass nicht nur Gesundheitsstrukturen und -prozesse mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien modernisiert werden sollten, sondern auch deren Begünstigte (Exley 2002; May, Finch et al. 2005). 38

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Die den ab 2001 verabschiedeten Strategiepapieren des Department of Health häufig zugrunde liegenden Narrative lauteten »Empowerment«, »Mitbestimmung« (choice) und »Unabhängigkeit«. Auch andere, ähnliche Begriffe, die das Vorhaben zum Ausdruck brachten, Patienten zu aktivieren, indem man ihre Rechte stärkt und ihre Rolle als Partner in der Gesundheitsversorgung betont, wurden benutzt. Der damalige Premierminister Anthony Blair umschrieb das zentrale Anliegen der Strategie des »NHS improvement plan – putting people at the Heart of Public Services« (Department of Health 2004) zum Beispiel wie folgt: »We are investing to continue increasing capacity throughout the NHS. And because of this increased capacity, we can continue to extend choice. So there will be more choice given to patients over how they are treated and where. They will have the power to choose between hospitals, including the new treatment centres.« (Department of Health 2004: 3)

Wohingegen die Betonung von mehr Wahlmöglichkeiten, »choice«, zwar vor allem Englands sogenanntes gatekeeper-Prinzip herausforderte – das heißt, das Prinzip, welches festlegt, dass die erste, wenn nicht einzige Anlaufstelle für Patienten deren Hausarzt ist und der Besuch eines Facharztes nur durch diesen veranlasst werden kann –, war »choice« auch das zentrale Stichwort bei der Bewerbung von Telecare-Diensten. Partner von und Konsumenten der Gesundheitsversorgung wurden v. a. Ältere und chronisch Kranke. Dies wird zum Beispiel in dem ersten vom Department of Health allein diesem Thema gewidmeten Strategiepapier »Building Telecare in England« (Department of Health 2005a) deutlich: »Telecare offers choice and flexibility of service provision, from familiar community alarm services that provide an emergency response and sensors that monitor and support daily living, through to more sophisticated solutions capable of monitoring vital signs and enabling individuals with long-term health conditions to remain at home.« (Department of Health 2005a: 4)

Die in diesem Zitat formulierte Erwartung, dass Leistungsempfänger maßgeblich von Telecare-Diensten profitieren würden, war auch die Grundlage für den ebenso in diesem Papier verabschiedeten »Preventative Technology Grant« und damit Grundlage für die Bewilligung eines ₤80 Millionen schweren Investitionsprogramms, welches verschiedenen Primary Care Trusts Anschubfinanzierung für die Verfolgung ihrer lokalen Telecare-Strategien gab. Im Jahr 2008 haben viele dieser Primary Care Trusts verschiedene solcher Strategien implementiert und dafür jene Startfinanzierung des Preventative Technology Grant in Anspruch genommen. Es erscheint dabei auffällig, dass Primary Care Trusts auch 39

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das Narrativ von »choice« und »flexibility« als Begründung für die Einführung dieser Strategien aufführen. Der Primary Care Trust der Stadt Nottingham zum Beispiel behauptet, dass telehealthcare »[is] designed to enable older people and others remain living independently in their own homes for as long as possible« (Nottingham City Council – Health and Social Care – Adult Services). Der Primary Care Trust des County Durham begründet die Einführung seiner Telecare-Strategie damit, »[that it] is clear that most older and vulnerable people wish to stay in their own homes, remain healthy and safe and have as much control of their lives as possible« (Durham County Council 2005: i). Insbesondere aufgrund jenes Preventative Technology Grant hat heute nahezu jeder Primary Care Trust eine Telecare-Strategie, die derzeit entweder umgesetzt oder schon überarbeitet wird. Anhand der Erwartungen zu solchen innovativen Technologien, die Patienten stets bei sich tragen (oder an ihrem Wohnort installieren), kann insofern sehr deutlich nachvollzogen werden, wie sich Zukunftsszenarien auf Projektund Produktebene manifestierten und schließlich bis auf eine Alltagsebene durchsickerten. Ein weiterer Indikator für die inzwischen weit reichende Verbreitung von solchen Technologien sind die von diversen Sozialwissenschaftlern unternommenen Studien, die sich der Frage widmen, wie solche Technologien sowohl von Ärzten als auch von Patienten in ihren (Arbeits-)Alltagen normalisiert werden. In diesen Studien geht es also um das Wie, gar nicht mehr um das Ob – und hierin liegt ein zentraler Unterschied zu Deutschland. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das englische Department of Health schon frühzeitig Erwartungen zum Nutzen von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen formulierte und Strategien zu deren Umsetzung erließ; die Ende der 1990er Jahre veröffentlichten Papiere fokussierten dabei vor allem die Ebene der Leistungserbringer. Später verabschiedete Dokumente hingegen diskutierten das Potenzial von Telecare-Diensten und somit von Technologien, die eher Patienten betreffen. Es konnte nachgezeichnet werden, dass sich ein technowissenschaftliches Gesundheitssystem insofern relativ leicht verbreiten konnte, als dass insbesondere mit dem Department of Health langfristige Förderer eines solchen Systems vorhanden waren.

Die Bekämpfung der »Projektitis« in Deutschland Der Vergleich zu England enthüllt, dass das deutsche Gesundheitsministerium lange Zeit nicht als der Hauptadvokat von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen aufgetreten ist. Vielmehr waren von Mitte der 1990er Jahre bis kurz nach der Jahrtau40

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sendwende Wissenschaftler aus den Informatikwissenschaften und der Medizin sowie Vertreter von Privatunternehmungen die maßgeblichen Akteure, die entsprechende Techniken vorantrieben. Die mit den von ihnen entwickelten Produkten zusammenhängenden Erwartungen und Zukunftsszenarien können in den Papieren nachvollzogen werden, die auf Fachkonferenzen wie der Telemed vorgestellt wurden (Steyer 1996; Steyer 1997; Steyer 1998; Steyer 1999; Steyer 2000). Anhand diverser, aber auch stark unterschiedlicher Projekte wie zum Beispiel Telekonsultation in der Ophthalmologie, Teleultraschall in der Pränataldiagnostik, Teleradiologie, Telemedizin in der Neurochirurgie u. v. m., wurde das Potenzial eines vernetzten Gesundheitswesens diskutiert. Die oft aus Bundesmitteln finanzierten Projekte kamen dabei zwar meist zu dem Ergebnis, dass die erprobten Technologien zu einem effektiveren und effizienteren Gesundheitswesen beitrugen, jedoch wurden sie anschließend nur selten in den Regelbetrieb übernommen. Das im Geschäftsbereich des Bundesministerium für Gesundheit operierende Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) zitierte noch im Jahr 2002 Beschwerden über eine »Projektitis«, das heißt den zwar erfolgreichen Ausgang von vielen Projekten, »die an vielen Stellen nur durch zum Teil erhebliche öffentliche Fördermittel möglich waren, aber nicht bewirkten, dass Telematik mittlerweile flächendeckend im Gesundheitswesen etabliert ist« (Warda und Noelle 2002: 13). Und selbst im Jahre 2006 beschwerte sich der Herausgeber des »Telemedizinführers« über die Unfähigkeit der am Entwicklungsprozess beteiligten Akteure, »standes-politische Interessen« abzulegen: »Minenfelder gibt es für den Unkundigen viele und in kaum einem anderen Bereich werden die institutionellen Eigeninteressen auch unter Inkaufnahme von Nachteilen für das Gesamtsystem so schamlos vertreten wie im Gesundheitswesen. ›Jeder gegen jeden‹ ist fast überall die Devise. Niedergelassene und Krankenhausärzte sehen sich immer mehr als Konkurrenten. Leistungserbringer und Kassen streiten um Vergütungssysteme und die Kontrollmacht im System. Partnerschaftlichkeit zum Wohl des Patienten ist in diesem Haifischbecken eher eine Seltenheit.« (Jäckel 2005: 3)

Einigen der hier formulierten Problemfelder begegnete auch das Gesundheitsministerium in einem dann doch von ihm im Jahre 2003 initiierten Projekt: der »elektronischen Gesundheitskarte« (eGK). Hierbei handelt es sich um eine Chipkarte, welche die Leistungen der herkömmlichen Krankenversicherungskarte um viele Optionen erweitern soll. Die eGK soll alle relevanten administrativen und medizinischen Patientendaten zentral speichern und die davon für jeweilige Leistungserbringer re-

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levanten Daten sichtbar machen (sowie der Kartenbesitzer dem zustimmt). Ursula Schmidt, die das Projekt maßgeblich vorantrieb, verband mit der eGK mehrere konkrete Erwartungen: Zum einen sollten durch die Vermeidung von Doppeluntersuchungen Kosten gesenkt werden; des Weiteren wurde vermutet, dass die Kommunikation zwischen diversen Leistungserbringern, zum Beispiel durch die schnellere Übertragung von Behandlungsberichten oder Therapiemaßnahmen, verbessert werde; schließlich wurde erwartet, dass Patientenrechte gestärkt würden, indem Patienten verstärkt in ihr Therapiemanagement eingebunden werden, da diese nun ihre medizinischen Daten selbst einsehen und verwalten können. »Neben der Verbesserung der Behandlungs- und Lebensqualität ist die Stärkung der Patientenrechte ein vordringliches Ziel der elektronischen Gesundheitskarte. Wer mehr über seinen Gesundheitszustand weiß, kann auch mehr Eigenverantwortung für seine Gesundheit übernehmen. Patientinnen und Patienten haben die Möglichkeit, die gespeicherten Daten vollständig zu lesen beziehungsweise sich ausdrucken zu lassen und erhalten so einen besseren Überblick über ihren eigenen Gesundheitsstatus (Impfstatus, Allergien, Verlauf chronischer Erkrankungen, Vorsorgeuntersuchungen).« (Bundesministerium für Gesundheit 2009)

Anhand dieses Zitats wird ein Punkt ersichtlich, der unten noch weiter ausgeführt werden soll: Sowohl in Deutschland als auch in England wurde erwartet, dass man mit dem Vorantreiben solcher Technologien die Bedürfnisse von Patienten reflektiere. Mit anderen Worten, es wurde angenommen, dass man wisse, was kranke Menschen eigentlich wollen. Wenn Empowerment oder Patientenrechte, Eigenverantwortung und Unabhängigkeit betont werden, wird vermutet, dass Patienten sich als aktive Partner und Konsumenten begreifen. Als solche, die nicht nur fähig, sondern auch willig sind, an der eigenen Gesundheit mitzuarbeiten und dabei Aufgaben zu übernehmen, die vormals allein Leistungserbringern vorbehalten waren. Unten wird deshalb noch ausführlicher diskutiert werden, warum Technologien wie die eGK und TelemonitoringLösungen mit dem zusammenhängen, was man als den »Aktivierungsdiskurs« bezeichnen kann. An dieser Stelle genügt vorerst die Erkenntnis, dass deutsche und englische Gesundheitspolitiker ähnliche Zukunftsszenarien hatten, wenn sie erwarteten, dass mit innovativen Gesundheitstechnologien die Situation aller an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteure verbessert werden kann. Umso erstaunlicher ist es, dass die eGK, das »Prestigeprojekt der Großen Koalition« (Schweim 2007), noch im Sommer 2009

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nicht flächendeckend implementiert war, obwohl ihre Einführung 2003 beschlossen wurde und sie sich selbst laut SGB V § 291 schon ab Anfang 2006 im Regelbetrieb befinden sollte. Eine Analyse der Herausforderungen für die Einführung der eGK führt unweigerlich zu einer zentralen Eigenart der Grundlagen des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems. Denn neben einigen technischen und rechtlichen Problemen (Schweim 2007) scheint eine besondere Schwierigkeit in der flächendeckenden Einführung der eGK die immer wieder von Ärzten und ihren Verbänden formulierte Ablehnung zu sein (vgl. hierzu auch Sondohof und Weber 2006; Trill 2006; Schellhase und Schmitz-Kuhl 2007). Mit anderen Worten: die deutschen Gesundheitspolitiker wollen das technowissenschaftliche Gesundheitssystem. Allein, es scheitert an Leistungserbringern und hierbei insbesondere an Ärzten. In England hätte dies schon deshalb nicht passieren können, weil Ärzte ihre Interessen nicht derart organisiert in politische Entscheidungsprozesse einbinden können wie in der Bundesrepublik (vgl. Hunting 2002: 455ff.). Einige von Leistungserbringern auf dem 111. Ärztetag geäußerten Argumente gegen die Karte reflektieren ihre Vorbehalte: es wird nicht nur der medizinische Nutzen der Karte bezweifelt, sondern auch das allgemeine Vorgehen der Politiker, welche die eGK »von außen an die Ärzteschaft herangetragenen und uns Ärzten zur Unterschrift vorgelegt« hat (Bundesärztekammer 2008: 290). Andere Redner auf dem 111. Ärztetag befürchteten größere durch die eGK ausgelöste finanzielle Aufwendungen für kleinere Hausarztpraxen und warnten vor anderen weitreichenden politischen Konsequenzen: Befürchtungen zu den Möglichkeiten einer Umgehung des Datenschutzes wurden sehr häufig geäußert, zum Beispiel die Gefahr, dass »mithilfe der eCard jede Krankenversicherung ihren Patienten genauso durchleuchten kann und seine zukünftigen Lebensrisiken abschätzt« (Bundesärztekammer 2008: 304), oder die generelle Skepsis gegen staatspolitische Eingriffe in die Hausarztpraxis, die zum Beispiel wie folgt bewertet wurde: »[w]ir bekommen praktisch ein trojanisches Pferd ohne Füllung, in das dann später verschiedene Funktionen nachgeschaltet werden können, über die dann nicht mehr die Ärztetage weiter entscheiden. Das Ding ist dann drin und wird freigeschaltet« (Bundesärztekammer 2008: 295). Diesen vorgetragenen Vorbehalten und negativen Erwartungen lässt sich entnehmen, dass Instrumente und Eigenschaften eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems in Deutschland viel grundlegender diskutiert wurden, als dies in England der Fall war. Insbesondere Ärzte initiierten dabei eine Diskussion, in der Aspekte problematisiert wurden, die auf eine andere Rolle der Ärzteschaft im Prozess der Entschei43

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dungsfindung schließen lässt. Darüber hinaus wird in diesen Aussagen auch ein anderer Habitus der Ärzte erkenntlich: Während die Standardisierung der Praxen der englischen Ärzte relativ einfach ermöglicht werden konnte, betonen deutsche Ärzte in ihren Argumenten gegen die eGK die Tradition einer individualisierten Medizin sowie ihren Status als Professionelle besonderer Art und als einzig verbliebenen Anwalt des Patienten. Demzufolge sollten Dritte, so wurde es auch in den obigen Aussagen deutlich, nicht in deren Beziehung mit dem Patienten eingreifen – erst recht nicht der Staat, Leistungsfinanzierer oder private Firmen (vgl. hierzu auch Mathar 2007b). Die insbesondere von Hausärzten formulierten Bedenken gegen die eGK geben auch eine Erklärung für viele von Anbietern von Telemedizin-Diensten gemachten Erfahrungen. Als PHTS, Vitaphone, Anycare und einige andere der aktuell (Sommer 2009) relativ großen Anbieter von Telemonitoring-Lösungen um 2000 herum auf den Markt traten, waren ihre Leistungen eigentlich wie zugeschnitten auf die derzeit debattierten Probleme des deutschen Gesundheitswesens. Die beschlossene Einführung des Finanzierungs- und Klassifikationssystems Diagnosis Related Groups (DRGs) tangierte insbesondere das Krankenhauswesen. Es strebte an, die durchschnittliche Krankenhausaufenthaltsdauer von Patienten zu verringern und allgemein Hospitalisierungsraten zu reduzieren. Patienten mit chronischen Krankheiten wie Herzinsuffizienz oder koronarer Herzerkrankung wurden in diesem Finanzierungssystem zu großen Ausgabenposten für Krankenkassen, welche folglich ein Interesse daran hatten, diese Patientenklientel kostengünstig zu halten (Braun, Buhr et al. 2009). Diverse zu dieser Zeit veröffentlichte epidemiologische Studien belegten zudem, dass der Anteil an Menschen mit chronischen Herzerkrankungen steigt und in Zukunft weiterhin ansteigen wird (Lloyd-Jones, Larson et al. 2002; Citrome 2005; vgl. hierzu auch weitere epidemiologische Studienergebnisse, die im 3. Kapitel dieser Arbeit vorgestellt werden). Die von den genannten Firmen angebotenen Dienste antworteten somit auch auf aktuell wahrgenommene Probleme, wenn sie versprachen, dass mit ihnen die folgenden Vorteile erreicht würden: »1. Haus- und Fachärzte erhalten die Möglichkeit, Behandlungen noch engmaschiger und leitliniengerechter zu steuern und zu kontrollieren. 2. Infolge dessen reduziert sich u. a. die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Notarzteinsätze. 3. Insgesamt verbessert sich die Lebensqualität der Patienten. 4. Für Kostenträger besteht durch diese optimierte Betreuung die Möglichkeit, Versicherte zu binden und zugleich Kosten zu reduzieren.« (PHTS 2008)

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Etwa ab dem Jahr 2000 wurde das Potenzial von TelemonitoringProgrammen in diversen, von Krankenkassen initiierten randomisierten Kontrollstudien erprobt. Eine regelrechte Welle solcher Studien erfolgte ab 2004, als das Gesundheitsministerium mit einer Neufassung des Paragraphen § 140 a-d SGB V verbesserte Vergütungsregelungen einführte und mit Anschubfinanzierungen ökonomische Anreize zu integrativen Versorgungsprogrammen schuf (sogenannten Programmen der Integrierten Versorgung). Das heißt, es sollten medizinische Versorgungsprogramme kreiert werden, die eine patientenorientierte und interdisziplinäre Versorgung ermöglichen. Hierbei sollte auch ein Raum für die Erprobung von innovativen Versorgungsprojekten geschaffen werden, unter anderem auch solchen, die mit neuen Gesundheitstechnologien funktionierten. Die primäre Zielgruppe solcher Projekte waren meist Menschen mit chronischen Krankheiten, die als die Verlierer mangelnder Vernetzung zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren galten. Zentrales Ziel des integrativen Ansatzes war es also, solche Patienten problemlos und ohne Reibungseffekte durch verschiedene Einrichtungen des Gesundheitssystems behandeln zu können. Mit vielen in dieser Zeit durchgeführten Telemonitoring-Programmen war genau diese Erwartung verbunden. Es wurde angenommen, dass durch die Kreierung zentraler Einrichtungen – sogenannten telemedizinischen Zentren – Schnittstellenprobleme und Reibungseffekte überwunden werden würden. Die meisten in dieser Zeit erforschten Telemonitoring-Programme versuchten dies zu erreichen, indem sie Patienten mit chronischen Krankheiten (meist Herzkrankheiten) mit Technologien ausstatteten, welche ihre Risikoparameter erhoben und dann an solche telemedizinische Zentren übersandten. Stellt eine Pflegekraft in diesem Zentrum eine Verschlechterung des Allgemeinzustands fest, so das Zukunftsszenario, wird der Haus- oder Facharzt des Patienten benachrichtigt, damit dieser den Patienten in seine Praxis einberuft. Insgesamt würden, so die Erwartung, durch dieses integrative Telemonitoring-Programm Hospitalisierungen vermieden, da einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands frühzeitig entgegengewirkt werde. Anhand der diversen Studien zu Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit chronischen Krankheiten lässt sich ablesen, dass diese ökonomische Effektivität in der Tat das maßgebliche Erkenntnisinteresse dieser Kontrollstudien war. Patientenzufriedenheit und Lebensqualität wurden zwar reflektiert, Kosten-Nutzen-Überlegungen gehörten jedoch zu den primären Endpunkten (Zugck, Nelles et al. 2005; Köhler, Schieber et al. 2007; K & N 2008; Katalinic, Waldmann et al. 2008a; Müller, Schwab et al. 2008).

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Auch am Beispiel Telemonitoring lässt sich feststellen, dass die hier diskutierten Gesundheitstechnologien in Deutschland sich nicht so schnell verbreiteten wie in England. Auch hier stellte sich jenes Symptom einer »Projektitis« heraus. Denn viele dieser Studien stellten in ihrer gesundheitsökonomischen Evaluation positive Ergebnisse hinsichtlich einer Kosten-Nutzen-Relation fest, wurden jedoch nur selten in den Regelbetrieb übernommen. Andere Telemonitoring-Projekte, die ihre Leistungen auch über die Projektphase hinaus angeboten hatten, beendeten ihre Dienste mit der Beendigung der Phase der oben genannten, staatlich garantierten Anschubfinanzierung für Integrierte Versorgungsprogramme. Dem schlussendlichen Scheitern vieler Programme gingen meist noch weitere Studienprojekte voraus, in denen belegt wurde, dass Telemonitoring-Lösungen günstige Kosten-Nutzen-Relationen aufweisen. Dass solche Evidenzen jedoch nicht ausreichten bzw. nicht die eigentlichen Fragen beantworteten (Grätzel von Grätz 2007), ist ein Indikator dafür, dass der Aufbau eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems in Deutschland vor allem ein soziales Problem hatte: Wie schon bei der eGK scheint das Problem mit Telemonitoring-Lösungen darin zu bestehen, dass diese an der strukturell starken Position von Fach- und Hausärzten scheiterte. Diese These wird auch dann bekräftigt, wenn man das einzige, über einen längeren Zeitraum von einer bundesweit agierenden Krankenkasse angebotene Telemonitoring-Programm betrachtet. Das TelemonitoringProjekt der Techniker Krankenkasse – »Telemedizin fürs Herz« (Helms, Pelleter et al. 2007) – verfolgt interessanterweise nicht jenen oben vorgestellten integrativen Ansatz, das heißt, es versucht nicht, verschiedene Leistungserbringer miteinander zu vernetzen. Vielmehr hat es zum Ziel, Patienten für ihre Risikofaktoren zu sensibilisieren und somit zu trainieren. Die mit einem telemedizinischen Zentrum vernetzte Waage und das ebenso mit ihm verbundene Blutdruckmessgerät (Geräte also, die mit ihrer Erhebung des Gewichts und des Blutdrucks Risikodaten von Patienten mit Herzinsuffizienz erheben) übermitteln die Werte zwar genauso wie in den anderen Programmen, haben aber primär zum Ziel, die Patienten daran zu gewöhnen, diese Parameter auch tagtäglich zu erheben. Insofern ist das Bemerkenswerte an diesem Programm, dass es nicht oder nur sehr wenig in die Alltagspraktiken von Hausärzten eingreift, sondern diese tendenziell eher umgeht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen – wenigstens im Vergleich zu England – relativ langsam in die Leistungserbringungsebene vordrangen. Sowohl die elektronische Gesundheitskarte als auch diverse Telemonitoring-Dienste scheiterten insbesondere an den spezifi46

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schen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens, in welchem – das ist ein zentraler Unterschied – Ärzte anders eingebunden sind in politische Entscheidungsprozesse. Die vergleichende Erwartungsanalyse konnte zeigen, dass auf Ebene der Gesundheitspolitiker sowohl in Deutschland als auch in England ähnliche Erwartungen zu innovativen Gesundheitstechnologien formuliert wurden, dass sie jedoch aufgrund der Interaktion mit unterschiedlichen sozialen Welten (Krankenkassen, Ärzteorganisationen, Technikherstellern) in beiden Ländern unterschiedliche Dynamiken auslösten. Ein technowissenschaftliches Gesundheitssystem – so kann man an dieser Stelle vorsichtig schlussfolgern – hat sich also in beiden Ländern anders ausgeprägt.

Das Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor Der Vergleich zwischen Deutschland und England enthüllt nicht nur die just vorgestellten Unterschiede, sondern eine weitere wichtige Differenz, die als Kennzeichen zeitgenössischer deutscher Gesundheitspolitik gesehen werden kann: das Eintreten von privatwirtschaftlichen Unternehmungen, die im Gesundheitswesen einen potenziellen Markt sehen. Hierbei handelt es sich um einen nicht unwichtigen Widerspruch, da die Entdeckung des »Gesundheitsmarktes«, also die Betonung des »Gesundheitswesens als Wachstumsfaktor«, stark der Debatte um das »Gesundheitswesen als Kostenfaktor« entgegensteht. Dieser Widerspruch wird vor allem durch unterschiedliche Akteure in der »sozialen Arena Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen« (siehe hierzu Graphik 1 und 2 und eine Begriffsklärung weiter unten) ausgelöst. Es sind nämlich nicht nur Krankenkassen und Gesundheitsministerien, die Erwartungen zu elektronischen Patientenakten, Telemonitoring-Lösungen etc. formulieren, sondern auch Wirtschaftsministerien, die sich durch die Förderung des Gesundheitstechnologiemarktes die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland erhoffen. Das gemeinsam vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung veröffentlichte Aktionsprogramm »Informationsgesellschaft Deutschland 2006« verdeutlicht Erwartungen zum Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor, wenn es das Potenzial von Informations- und Kommunikationstechnologien wie folgt umschreibt: »Gesundheit gehört einerseits zu den Infrastruktur- und Dienstleistungsbereichen, die durch den Einsatz von IT beeinflusst und neu strukturiert werden, aber auch selbst Impulse für die technische, wirtschaftliche und gesellschaftli-

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che Entwicklung geben und auch für neue Wachstumsimpulse und Exportchancen sorgen.« (BMWA und BMBF 2003: 65)

Auch in anderen sich diesem Thema widmenden Veröffentlichungen werden solche Narrative sichtbar. Der oben schon zitierte »Telemedizinführer« zum Beispiel berichtet nicht nur aus der medizinischen Forschungspraxis, sondern stellt in den Vorworten zu den jährlich herausgegebenen Bänden auch optimistische Erwartungen von Vertretern aus Wirtschaft und Industrie vor. Zum Beispiel verkündete der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Michael Glos in einem Vorwort: »Die Telemedizin wird in den nächsten Jahren ein enormes Wachstum erleben und zu einem der wichtigsten Zukunftsmärkte im Gesundheitssektor werden. Expertenschätzungen gehen bis zum Jahr 2010 von einem jährlichen Umsatzwachstum von rund 42 Prozent pro Jahr in Europa aus, entsprechend einem Anstieg des Marktvolumens auf 1,5 Milliarden Euro.« (Glos 2009)

Eine Koexistenz von Vertretern aus Wirtschaft und Gesundheitsversorgung in der »sozialen Arena Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen« kann zwar auch in England festgestellt werden, jedoch besteht der Unterschied darin, dass in Deutschland wenig Interaktion zwischen diesen sozialen Welten stattfindet. Ein Vergleich der eingeladenen Redner auf telemedizinischen Fachkonferenzen in Deutschland und England – zum Beispiel ein Vergleich der Telemed und der National Telehealth and Telecare Conference – zeigt, dass in England Praktiker und Technologieanbieter stärker kooperieren. Auch die starke, massive finanzielle Förderung von Anbietern von innovativen Gesundheitstechnologien allein von Wirtschaftsministerien ist in England nicht derart ausgeprägt. In Deutschland hatten diverse in der Vergangenheit initiierte Landesinitiativen für innovative Gesundheitstechnologien zwar auch zum Ziel, Versorgungsnetzwerke zu kreieren, die eine effektivere und effizientere Form der Versorgung erlauben; mindestens ebenso wichtig scheint diesen Initiativen aber auch die Kreierung eines lokalen Marktes zu sein. Sowohl das im November 1999 von diversen Akteuren aus der Wirtschaft Nordrhein-Westfalens gegründete Unternehmen Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen GmbH (ZTG 2007) als auch Strategiepapiere aus anderen Bundesländern – zum Beispiel dem »Masterplan Gesundheitsregion Berlin-Brandenburg« (Netzwerk Gesundheitswirtschaft 2007) – verdeutlichen, dass Gesundheitstechnologien wie Telemedizin und Telemonitoring als Teil des aufkommenden Biotechnolo-

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giemarktes vermutet wurden, welcher die Region mit neuen Arbeitgebern versorgen könnte. Staatlich geförderte Agenturen, wie zum Beispiel der Zukunftsfonds der Technologiestiftung Berlin oder die ZukunftsAgentur Brandenburg (2008), unterstützen unter anderem auch Firmen, die telemedizinische Lösungen herstellen, indem sie ihnen Startfinanzierung geben oder Vernetzungsarbeiten für diese anbieten. Der Unterschied zu der vom britischen Department of Health im »Preventative Technology Grant« erlassenen Startfinanzierung ist der, dass in den deutschen Agenturen in Unternehmen investiert wird, von denen erwartet wird, dass sie der Region Arbeitsplätze verschaffen und als Wirtschaftsstandort stärken, und nicht so sehr, um bessere medizinische oder pflegerische Leistungen anzubieten. Tatsächlich gestanden mir Mitarbeiter einiger zitierter Einrichtungen in Interviews, von der medizinischen und versorgungstechnischen Seite wenig zu verstehen und allein eine ökonomische Evaluation hinsichtlich dessen Potenzials zu unternehmen. Von Krankenkassenvertretern hingegen wurde mir gegenüber immer wieder geäußert, dass ein Problem in diesem Feld das Aufkommen von immer mehr Marktakteuren sei, die nicht nur wenig von der versorgungstechnischen Seite und der Struktur des Gesundheitssystems verstünden, sondern auch unrealistische Gewinnerwartungen in ihre Produkte hegen würden. Das deutsche Gesundheitswesen sowohl als Kostenfaktor als auch als Wachstumsfaktor zu verstehen – also als einen Markt, in dem Geld gespart werden soll und gleichzeitig neue und größtenteils nicht unaufwendige Produkte untergebracht werden sollen –, gehört wohl zu den größeren sich widersprechenden Trends im aktuellen Umstrukturierungsprozess. Die unterschiedlichen Aktivitäten von Gesundheits- und Wirtschaftsinstitutionen führen dazu, dass unterschiedliche Entwicklungen von innovativen Gesundheitstechnologien zeitgleich stattfinden, diese jedoch nicht aufeinander bezogen sind; tatsächlich kann im Falle Deutschlands festgestellt werden, dass es wenig Interaktion zwischen reinen Privatanbietern und Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen gibt.

Ergebnisse der vergleichenden Erwartungsanalyse Die vergleichende Erwartungsanalyse verdeutlichte einige Gemeinsamkeiten im Prozess der Entstehung technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme in Deutschland und England. Es konnte gezeigt werden, dass in beiden Ländern Anstrengungen unternommen wurden, mit Informations- und Kommunikationstechnologien eine bessere Gesund49

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heitsversorgung zu erreichen. In England erwarteten das Department of Health und die zitierten ihm untergeordneten Institutionen, dass die Technologien genutzt werden können, um Leistungserbringer mit Informationen zur Kosteneffizienz und klinischen Effizienz zu bestimmten Therapien und Behandlungsstrategien zu versorgen und damit deren Leistungen zu regulieren. Von Telemonitoring-Programmen wurde erwartet, dass diese den Handlungsspielraum von Leistungsempfängern vergrößern und sie Patienten zu Partnern in und Konsumenten von der Gesundheitsversorgung überführen. In Deutschland wurden ähnliche Zukunftsszenarien um ähnliche Technologien formuliert: Von der elektronischen Gesundheitskarte versprachen sich Gesundheitspolitiker die Vernetzung diverser Leistungserbringer – Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser, Apotheken etc. – auf Basis einer standardisierten Infrastruktur, womit die Technologie für eine »bessere und effizientere Versorgung für 80 Millionen Menschen in Deutschland sorgen« (Schmidt 2006) würde. Mit Hilfe von Telemonitoring-Lösungen versprachen sich insbesondere Krankenkassen die Versorgung ihrer Patienten entlang von Leitlinien, die sowohl den aktuellen Stand medizinischen Wissens als auch Kosten-Nutzen-Relationen reflektierten. In beiden Ländern, so kann also festgestellt werden, gab es Bestrebungen, technowissenschaftliche Gesundheitssysteme aufzubauen und Formen der Regulation zu etablieren, die May et al. als »Technogovernance« bezeichneten. Allerdings konnte auch gezeigt werden, dass sich der Aufbau solcher techno-gouvernementaler Strukturen in beiden Ländern unterschiedlich schwierig gestaltete: Einige der herausgearbeiteten wesentlichen Unterschiede reflektieren die unterschiedlichen Versorgungsstrukturen oder »Wohlfahrtsregime« (Esping-Andersen 1990) Deutschlands und Englands: In England konnten innovative Gesundheitstechnologien deshalb leichter verbreitet werden, weil in dem zentralisierten System alle Leistungserbringer dem Department of Health untergeordnet sind (NHS Confederation 2007). Das auf London und Leeds verteilte Ministerium determiniert dabei die Praxen der ca. 50 auf das Land verteilten Primary Care Trusts, das heißt diejenigen Einrichtungen, die Versorgungsstrukturen und -prozesse auf lokaler Ebene planen und organisieren. Auch diverse andere Institutionen wie das vorgestellte National Institute for Clinical Excellence (NICE) arbeiten unter der zentralen Leitung des Department of Health. Im Vergleich zu England ist Deutschlands Gesundheitswesen eher dezentral organisiert; das Gesundheitsministerium (das Pendant zum Department of Health) definiert lediglich gesetzliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel zur Finanzierung der Versorgung, und übernimmt die Garantie dafür, dass die Qualität der Versorgung in allen Bundesstaaten 50

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auf einem ähnlichen Niveau liegt (Rosenbrock und Gerlinger 2004; Simon 2007). Die eigentliche Planung der Gesundheitsversorgung jedoch wird von den Bundesländern selbst übernommen. Des Weiteren wird die Leistungsfinanzierung von Krankenkassen erbracht, also selbstverwalteten Unternehmungen, dessen Handlungsraum jedoch durch diverse Sozialgesetze definiert wird (vgl. § 29 SGB IV). Die Strukturierung dieses Gesundheitswesens reflektiert die grundlegenden Prinzipien des deutschen Sozialstaats, welche – formelartig – lauten: Zentralismus, Föderalismus und Korporatismus (Lampert und Althammer 2007). Um zu verhindern, dass politische Machtausübung zentral von einer Institution ausgeht, werden diverse Akteure in die Politik eingebunden und somit mehrere Interessen und Positionen berücksichtigt, um damit sowohl schrittweise fortschreitenden Wandel als auch Stabilität zu ermöglichen. Es zeigte sich, dass diese Organisation des Gesundheitswesens sowie die darin sich widerspiegelnden Grundwerte des Sozialstaats in Deutschland einige der wesentlichen Probleme in der Verbreitung von Informationsund Kommunikationstechnologien darstellen. Im Folgenden sollen die Unterschiede von Deutschlands und Englands technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen dargelegt werden, indem die wesentlichen, an dessen Herausbildung beteiligten Akteure in »social worlds/arenas maps« präsentiert werden. Hierbei handelt es sich um eine Darstellungsform, die von Adele Clarke vorgeschlagen wurde, um »sites of action« (Clarke 2005: 86) festzuhalten sowie diejenigen Akteure zu nennen, die in einer Arena zwar diskutiert und problematisiert werden, ohne dabei jedoch aktiv in den Diskurs eingebunden zu werden: sogenannte »implicated actors« (vgl. Clarke 1998: 267; Clarke 2005: 46). Eine ausführliche Erläuterung des von Anselm Strauss entwickelten Konzepts der »sozialen Welt« und der »sozialen Arena« (Strauss 1978) soll später erfolgen (vgl. S. 140ff); zu diesem Zeitpunkt reicht die grobe Definition einer sozialen Welt als eine Gruppe, die auf gleiche oder ähnliche Art und Weise handelt (Becker 1986). Der Fokus auf Praxis betont dabei, dass diese sozialen Zusammenhänge erst in ihren handlungspraktischen Konsequenzen sichtbar werden. Diesem Verständnis zufolge wird zum Beispiel ein Arzt erst zu einem Arzt durch bestimmte Tätigkeiten, die von ihm und anderen als ärztliches Handeln verstanden werden. Soziale Arenen hingegen bezeichnen größere Gruppenzusammenhänge, in denen Probleme mehrerer sozialer Welten behandelt und gelöst werden. Mit Hilfe von »social worlds/arenas maps« kann nun skizziert werden, welche sozialen Welten in einem Feld angetroffen werden können und somit die darin auftretenden Probleme definieren und angehen. Die Präsenz unterschiedlicher sozialer Welten in der »sozialen Are51

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Abbildung 1: »Soziale Arena Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen Großbritanniens« na Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen« erklärt – so wird im Folgenden behauptet –, dass sich technowissenschaftliche Gesundheitssysteme in Deutschland und England unterschiedlich entwickelten und deshalb ein Konzept wie »Biomedikalisierung« für unterschiedliche Sozialstaaten unterschiedlich konkretisiert werden muss. In Anlehnung an den oben geschilderten Prozess können für England staatliche Institutionen als die besonders aktiven sozialen Welten ausfindig gemacht werden: Insbesondere das Department of Health, diesem untergeordnete Strategic Health Authorities und die auf lokaler Ebene ausführenden Primary Care Trusts bestimmen maßgeblich, wann und wofür welche innovativen Gesundheitstechnologien eingesetzt werden. Zwar gestalten sich die Prozesse der Normalisierung dieser Techniken im Arbeitsalltag von Leistungserbringern häufig nicht einfach und reibungslos, wie in diversen Studien belegt wurde (May, Williams et al. 2002; May 2006; Jenkins 2007; May, Finch et al. 2007; Willson, Baines et al. 2007; May und Finch 2009; Wilson und Baines 2009), jedoch haben Ärzte, Pfleger unter anderem – gerade im Vergleich zu Deutschland – relativ wenig Mitspracherechte, wenn es um die Formulierung von Zukunftsszenarien und Implementierungsstrategien geht. Das National Institute for Clinical Excellence (NICE) ist in dieser »social world/arena map« nicht unmittelbar mit der Arena assoziiert, sondern eher hinter dem Department of Health und den Primary Care Trusts angesiedelt, da diese nicht direkt die Zukunft von Gesundheitstechnologien mitbestimmen, sondern eher mit den durch sie kreierten und verbreiteten Denk- und Handlungsstilen dessen Funktionen und Gebrauchswert indirekt mitgestalten. Auch Anbieter von innovativen Gesundheitstechnologien werden nicht als so tief in der Arena verankert skizziert, da ihre Tätigkeiten eher an den Strategien des Department of Health ausgerichtet

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Abbildung 2: »Soziale Arena Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen Deutschlands« sind. Dennoch heißt dies nicht, dass solche Anbieter nur auf die vom Department of Health initiierte Politik re-agieren (vgl. Sugden, Wilson et al. 2008). Die Punkte in der Mitte der Arena symbolisieren jene »implizierten Akteure«, das heißt diejenigen Akteure, die vom Diskurs der Arena zwar maßgeblich betroffen sind, darin jedoch relativ wenig involviert sind. Wie schon angedeutet, sind in England Leistungserbringer – das heißt insbesondere Pflegekräfte und Ärzte – implizierte Akteure; ebenso jedoch können Patienten als am Diskurs unbeteiligt betrachtet werden, da sie ihre Interessen nicht kollektiv und organisiert hineintragen können. In Deutschland können relativ viele soziale Welten in der Arena angesiedelt werden. Neben dem Gesundheitsministerium sind auch Krankenkassen und – wie geschildert – Ärzteverbände wichtige soziale Welten, die mitbestimmen, welche Zukunftsszenarien formuliert und umgesetzt werden. Dieses vergleichbar komplexere, weil dezentralere System erklärt, dass die Normalisierung von innovativen Gesundheitstechnologien in Deutschland weniger daran scheitert, dass sie nicht in die Arbeitsroutinen der Leistungserbringer integrierbar sind, sondern dass sie mit dem spezifischen System der Gesundheitsversorgung schwieriger vereinbar sind. Selbiges gilt zum Beispiel für Leitlinien und best-practice-Modelle, die den Kriterien der evidenzbasierten Medizin genügen und welche in Deutschland anders in den medizinischen Alltag integriert werden (Heintze, Metz et al. 2008) oder gar von den Ärzteverbänden abgewehrt wurden (Vogd 2002; Raspe 2003; Raspe 2007). Ärzteverbände werden in der social worlds/arenas map deshalb als relativ isolierte Gruppe dargestellt, weil ihre Positionen, zumindest in der hier skizzierten Arena, relativ selten mit den Zukunftsszenarien der Gesundheitsministerien und Leistungsfinanzierer übereinstimmen. 53

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Darüber hinaus sind in Deutschland zwei weitere soziale Welten in der Arena anzutreffen, die wenig mit Leistungserbringern und anderen Entscheidungsträgern interagieren: diejenigen, die das Gesundheitswesen als Wachstumsfaktor betrachten und Produkte anbieten, welche insbesondere der Herausbildung und dem Aufbau eines Gesundheitsmarktes dienen. Hierunter sind die oben genannten Wirtschaftsministerien (auf Bundes- und Landesebene), Fördereinrichtungen (wie der zitierte Zukunftsfonds oder das Zentrum für Telematik im Gesundheitswesen) sowie Technikhersteller zu subsumieren. Ebenso wie in England können die eigentlich Begünstigten von den hier diskutierten Gesundheitstechnologien als implizierte Akteure bezeichnet werden. Die angebotenen Lösungen wie die genannten Telemonitoring-Dienste versprechen zwar, ihre Bedürfnisse zu erfüllen, jedoch treten Patienten nicht in organisierten Gruppen auf und können deshalb die Zukunftsszenarien und Implementierungsstrategien wenig mitbestimmen und mitgestalten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit dieser »social world/arena map« in einer vergleichenden Erwartungsanalyse gezeigt werden kann, welche Akteure und soziale Welten in Deutschland und England welche Zukunftsszenarien zu Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen formulierten. Es konnte gezeigt werden, dass sich technowissenschaftliche Gesundheitssysteme in beiden Ländern herausbildeten, dass diese aber dennoch Unterschiede aufweisen, die vor allem die jeweiligen spezifischen Versorgungsstrukturen der jeweiligen Länder reflektieren. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass ein Konzept wie »Biomedikalisierung«, welches, wie eingangs dargelegt, unterstellt, dass der Prozess der »technoscientification« in allen (wenigstens westlichen oder OECD-) Ländern beobachtet werden kann, nicht weit genug greift. Es sollte gezeigt werden, dass der unterstellte Prozess auf einer abstrakten Ebene zutrifft, damit jedoch nicht jene Besonderheiten erklärt werden können, die bis hierhin herausgearbeitet wurden.

D a s t e c h n ow i s s e n s c h a f t l i c h e G e s u n d h e i t s s ys t e m u n d d e r » Ak t i v i e r u n g s d i s k u r s « Dieses in das Thema einleitende Kapitel hatte vor allem zum Ziel, zu verdeutlichen, welche Akteure und Institutionen maßgeblich am Prozess der Herausbildung eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems beteiligt waren. Hierfür bot eine vergleichende Erwartungsanalyse einen 54

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geeigneten Zugang: Zum einen, da mittels eines Vergleichs Besonderheiten und Charakteristika des (vor allem interessierenden) deutschen Gesundheitswesens herausgearbeitet werden konnten; und zum anderen bot eine Fokussierung auf vergangene Zukunftsszenarien einen Zugang zu von Entscheidungsträgern wahrgenommenen Problemen sowie zu ihren Rationalitäten und Denk- und Handlungsstilen. Das Kapitel soll nicht abgeschlossen werden, bevor nicht noch einmal genauer untersucht worden ist, welche Patientenbilder oder Konzepte von »future patients« (Kendall 2001) in diesen Zukunftsszenarien sichtbar wurden. Dies erfolgt einerseits, um die im Diskurs um das effizientere und effektivere Gesundheitswesen formulierten Annahmen über »implizierte Akteure« noch einmal zu pointieren; andererseits erfolgt diese Analyse, weil dieses Konzept der »future patients« im 5. Kapitel mit den tatsächlichen Praxen von Patienten kontrastiert werden soll. Oben wurde bereits festgestellt, dass eine Gemeinsamkeit des deutschen und englischen Gesundheitswesens darin besteht, dass Entscheidungsträger im Zusammenhang mit den diskutierten Technologien erwarteten, dass Leistungsempfänger Begünstigte davon sein werden. Wenn in einem Strategiepapier des Department of Health beispielsweise festgestellt wird, dass »telecare offers choice and flexibility« (Department of Health 2005a: 4), und wenn Gesundheitspolitiker von der elektronischen Gesundheitskarte erwarten, dass durch diese die »Stärkung der Patientenrechte« (Bundesministerium für Gesundheit 2009) erreicht werden würde, dann gehen damit auch unweigerlich moralische Aussagen einher. May (2007) zufolge müsse anerkannt werden, dass der Prozess einer »individualisation« – worunter er zum Beispiel jene Bekenntnisse zur Stärkung der Patientenrechte und Wahlfreiheit subsumiert – Intentionen verdeutlicht, die insbesondere von Sozialwissenschaftlern lange Zeit geäußerte Kritik reflektiere. Mit dem Vorhaben, den Patienten aktiver in die Gesundheitsversorgung einzubinden, würde nämlich jenes paternalistisch organisierte und operierende Medizin- und Gesundheitssystem überwunden werden, welches den Patienten objektiviert bzw. systematisch in einer schwachen Position hält (solch eine Kritik wird zum Beispiel angedeutet und entwickelt in Foucault 1973; Illich 1975; Illich 1976; Scheper-Hughes und Lock 1987). Durch den Prozess der »individualisation« hingegen – der sich zum Beispiel im Fokus auf Gesundheitsprävention und Selbstbefähigung äußere –, wird die aktive Rolle des Patienten betont und dieser somit aus dem »ohnmächtigen« Verhältnis befreit. Dennoch erkennen May und andere aktuelle sozialwissenschaftliche Forschungen zum Gesundheitswesen in dieser Aktivierung des Patienten 55

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immer noch bzw. neue Probleme. So wird moniert, dass in dem, was auch als der Aktivierungsdiskurs (Opielka 2003) bezeichnet werden kann, Patienten nicht nur neue Rechte zugestanden, sondern auch neue Verbindlichkeiten zugeschoben werden. Die Kritik lautet, dass wenn Patienten dem Arzt gegenüber eine emanzipierte Position einnehmen, diese auch mehr Aufgaben in der Leistungserbringung übernehmen müssen. In den vorgestellten Telemonitoring-Programmen wird zum Beispiel erwartet, dass Patienten nach Aufklärung und Training zum richtigen Umgang mit ihren Risikofaktoren besser mit diesen umgehen können. Das sich auf diese Weise in die Telemonitoring-Programme einschreibende (Akrich 1992) Konzept des Patienten sieht in diesen die folgenden Eigenschaften (vgl. May 2009a): Es wird angenommen, Patienten seien a) umsichtig, das heißt, sie überdenken, wann medizinische Leistungen überhaupt in Anspruch genommen werden müssen und sind willig und bereit, so viele Aufgaben wie möglich selbst zu übernehmen. Ferner gelten sie als b) erfinderisch und kompetent genug, um das ihnen vermittelte Wissen zu operationalisieren und in bestehenden Versorgungsstrukturen anzuwenden. Es wird erwartet, sie wollen c) aktiv in das Therapieund Behandlungsmanagement involviert werden. Schließlich gelten sie als d) kenntnisreich, das heißt im Besitz des benötigten Wissens oder der Fähigkeiten, sich dieses Wissen anzueignen. Diese vier Eigenschaften können in gewisser Hinsicht auch als zentrale Kategorien des präventiven Selbst angesehen werden, also des »idealen, an seiner Gesundheit arbeitenden Individuums« (Niewöhner 2007: 34). Dieses Konzept eines aktivierten oder »präventiven Selbst« kann dabei als Resultat einer neuen Form von Sozialstaatlichkeit verstanden werden, die auch im Aufstieg des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems sichtbar wurde: Stephan Lessenich zufolge ist ein typisches Kennzeichen zeitgenössischer sozialer Sicherungssysteme, dass sich der Staat und andere relevante Akteure und Institutionen in der Versorgungspolitik nicht zurückziehen, sondern vor allem die »Logik und Gestalt« (Lessenich 2008: 14) ihrer Interventionen ändern: »Der ›aktivierende‹ Sozialstaat ist eine große institutionelle Bewegung der Individuen. Fluchtpunkt dieser Bewegung ist nicht – nicht mehr und jedenfalls nicht primär – das Wohlergehen (well-being oder, im Wortsinne, well-fare) der Bürgerinnen und Bürger, der Individuen und Haushalte. Der neue Geist des Wohlfahrtskapitalismus zielt vielmehr vorrangig auf das Wohl […] der ›kollektiven Einzelnen‹, auf die Wohlfahrt der – im Kern immer noch national gedachten – ›gesellschaftlichen Gemeinschaft‹. ›Sozial‹ ist (bzw. wird) hier, was im Interesse der Allgemeinheit geschieht. ›Sozial‹ ist der bzw. die Einzelne, wenn, soweit und solang er/sie Eigenverantwortlichkeit, Selbstsorge und

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pro-aktives Verhalten zeigt – im Sinne und Dienste ›der Gesellschaft‹.« (Lessenich 2008: 17)

In Abgrenzung zu anderen Sozialforschern (z. B. Rose 1996) bezeichnet Lessenich diese Form des Sozialstaats als »neo-sozial« (Lessenich 2003) und nicht »neo-liberal« oder »advanced liberal«, da es sich um keinen liberalen Regierungstypus insofern handelt, als dass bei der Organisation, Gestaltung und dem Ausmaß sozialpolitischer Leistungen nicht auf Marktkonformität und geringen Staatseinfluss geachtet wird (vgl. hierzu auch Moran 1999)4. Auch anhand der Anstrengungen vom Department of Health und des Bundesgesundheitsministeriums konnte gezeigt werden, dass eher das Gegenteil der Fall ist: diese Akteure ziehen sich nicht zurück, sondern bringen sich auf hochkomplexe Art und Weise neu ein. In dem was May et al. eine »technogovernance« bezeichnet haben, reguliert und steuert der Staat (in England sind es mit dem Department of Health und NICE, wie dargelegt, tatsächlich allein staatliche Akteure) nahezu jeden Handlungsschritt eines Leistungserbringers. Anhand der oben dargelegten Konzeption des aktiven Patienten oder des »präventiven Selbst« kann erschlossen werden, dass sich ein technowissenschaftliches Gesundheitssystem und neosoziale Sozialpolitik gut ergänzen. Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit wird sein, die Grenzen dieser Form von Sozialstaatlichkeit aufzuzeigen und zu belegen, dass nicht alle Patienten der Konzeption entsprechen. Dies wird vor allem im fünften Kapitel geschehen, wenn dargestellt wird, welche Arbeiten Patienten vollbringen und welche Perspektiven auf Körper, Heilung, Krankheit und Prävention in ihren Handlungen sichtbar werden. Daran

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Es sollte betont werden, dass Lessenich und Rose grundsätzlich denselben Trend beschreiben: Beide stellen fest, dass in zeitgenössischer Sozialpolitik Effizienz und Effektivität eine größere Bedeutung zukommt. Beide stellen eine Veränderung in Expertensystemen fest, wenn sie festhalten, dass es heutzutage eher die kalkulativen Wissenschaften sind, die machtvoll sind: die Buchhalter, Auditoren/Evaluatoren und Qualitätskontrolleure. Außerdem stellen beide fest, dass in zeitgenössischer Sozialpolitik die Verantwortung für das funktionierende Sozialwesen auf kleinere Einheiten verteilt wird – zum Beispiel auf Unternehmen, die Kommune und die Individuen selbst. Der Unterschied zwischen Rose und Lessenich besteht insbesondere darin, dass Letzterer diesen Trend nicht als neoliberal oder fortgeschritten liberal bezeichnen möchte, weil diese Form der Sozialpolitik erstens wenige liberale Elemente enthält, das heißt wenige Ideen der politischen Philosophie des Liberalismus; zweitens, so moniert Lessenich, sei die Vokabel »neoliberal« heutzutage überstrapaziert und würde nicht analytisch, sondern insbesondere von Kritikern aktueller Sozialpolitik benutzt werden. Dieser Punkt wird im sechsten Kapitel, insbesondere auf den Seiten 226ff ausgeführt. 57

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anschließend wird im sechsten Kapitel die Diskussion um den Zusammenhang von technowissenschaftlichem Gesundheitssystem und neosozialer Versorgungspolitik wieder aufgegriffen.

Z u s a m m e n f a s s u n g u n d Au s b l i c k In diesem in die Arbeit einleitenden Kapitel sollte der Kontext des im Folgenden eher auf der Mikroebene behandelten Themas dargelegt werden. Wenn in den folgenden empirischen Kapiteln von den Arbeiten von Teleschwestern und den Praktiken von Patientinnen und Patienten berichtet wird, dann wird hoffentlich deutlich, dass diese Handlungen vor dem Hintergrund einer spezifischen Situation des Gesundheitswesens geschehen. Diese Handlungen, so sollte verdeutlicht werden, sind Kennzeichen einer spezifischen Form von Biomedikalisierung; sie sind Kennzeichen eines sich herausbildenden technowissenschaftlichen Gesundheitssystems. Die zentralen Eigenschaften dieses »technowissenschaftliches« Gesundheitssystems, so sollte deutlich geworden sein, bestehen darin, dass die eingeleiteten Maßnahmen vor dem Hintergrund wissenschaftlich nachgewiesener Trends stattfinden. Ein Anstieg relativer Kosten, eine spezifische demographische Entwicklung, eine größere Anzahl an chronischen Krankheiten leidenden Menschen konnte in diversen Studien belegt werden. Vor dem Hintergrund dieser Statistiken finden viele der aktuellen von Entscheidungsträgern unternommenen Handlungen statt. Zugleich reflektieren die eingeleiteten Maßnahmen (elektronische Gesundheitskarte, Telemonitoring-Programme etc.) die diversen Ergebnisse gesundheitsökonomischer und epidemiologischer Studien. Telemonitoring-Programme für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz zum Beispiel, berücksichtigen die von Fachgesellschaften definierten Risikofaktoren und die in den Leitlinien verfassten Empfehlungen zur Therapierung. Schließlich geht mit der Verwissenschaftlichung oder Rationalisierung medizinischer und pflegerischer Arbeiten eine Technisierung einher, das heißt, Leistungserbringern werden Instrumente zur Verfügung gestellt, die es erlauben, zum Beispiel solche Leitlinien zu verbreiten oder als Werkzeuge einzusetzen, die die medizinische Leistung neu strukturieren (zum Beispiel in Behandlungspfaden). Diese miteinander verwobenen Trends sind drei Eigenschaften eines »technowissenschaftlichen« Gesundheitssystems, welches zum Beispiel auch in Adele Clarkes et al. Konzept der Biomedikalisierung ausfindig gemacht wird. Ziel der in diesem Teil unternommenen vergleichenden Erwartungsanalyse war es, zu untersuchen, welche Besonderheiten das deutsche 58

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technowissenschaftliche Gesundheitssystem aufweist. Indem gefragt wurde, welche Akteure, wann welche Erwartungen oder Zukunftsszenarien zu welchen Produkten formulierten und welche Konsequenzen dies hatte, sollten wesentliche an der Verbreitung von innovativen Gesundheitstechnologien beteiligte Akteure und Institutionen herausgearbeitet werden. Es konnte gezeigt werden, dass im Unterschied zu England das deutsche technowissenschaftliche Gesundheitssystem eines ist, das insbesondere von Krankenkassen und Gesundheitspolitikern forciert wurde. Auch Anbieter aus der Privatwirtschaft sind an diesem Prozess beteiligt. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass es in Deutschland insbesondere mit der deutschen Ärzteschaft auch organisierte Gegner von bestimmten Informations- und Kommunikationstechnologien gibt. Es wurde dafür plädiert, das die Berücksichtigung solcher versorgungspolitischer Dimensionen wichtig ist, weil dies verdeutlicht, dass ein Konzept wie »Biomedikalisierung«, das unterstellt, Trends in allen (wenigstens westlichen oder OECD-) Ländern ausfindig zu machen, diese Besonderheiten (zum Beispiel die Widerstände von Ärzteorganisationen) nicht einfängt. Über die Analyse der am Prozess der Herausbildung technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme beteiligten Akteure und hierbei insbesondere mit Hilfe der »social worlds/arenas map« konnte gezeigt werden, dass Leistungsempfänger oder Patienten im Diskurs »implizierte Akteure« sind. Das heißt, sie wurden zwar in die Zukunftsszenarien eingebunden und sind von diversen gesundheitstechnologischen Projekten betroffen, waren jedoch nicht an der Mitgestaltung dieser Projekte beteiligt. Dies ist umso erwähnenswerter, als dass sich in vielen Gesundheitstechnologien neuartige Konzepte von Patienten eingeschrieben haben, die dessen neue Rolle betonen und damit neue Aufgaben an diese delegieren. In diesem Zusammenhang sollte gezeigt werden, dass das technowissenschaftliche Gesundheitssystem auch als ein »neo-soziales« bezeichnet werden kann, da in ihm ein spezifisches, neues Verhältnis zwischen Individuen und Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen kreiert wird.

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The oretisc he und fors c hungs praktisc he We ge a us de m Soziode terminismus

Über die soziale Konstruktion von X zu sprechen, so konstatiert Ian Hacking, hat etwas Befreiendes. Ganz gleich, ob X für »Geschlecht«, »Nation«, »Rasse« oder andere Kategorien stehe, die Entlarvung von X als etwas sozial Konstruiertes erreiche womöglich, dass wir uns vorstellen können, ohne X zu leben, weil wir erfuhren, dass »X hätte nicht existieren müssen oder […] keineswegs so sein [müsste,] wie es ist« (Hacking 1999: 19). Die austauschbare Variable X wird somit auch leicht der Kritik zugänglich, weil dadurch das X als Konstruktion entlarvt wurde, klar würde, dass »X – oder X, wie es gegenwärtig ist – […] nicht vom Wesen der Dinge bestimmt [ist]. Es ist nicht unvermeidlich.« (ebd.). Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurden Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen in gewisser Hinsicht als soziale Konstruktion in diesem Sinne dargestellt. Es wurde enthüllt, dass die elektronische Gesundheitskarte und Telemonitoring-Lösungen typische Kennzeichen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems sind. Eines Systems also, welches meint, auf spezifische, wahrgenommene Probleme mit spezifischen Mitteln antworten zu können. Es wurde entlarvt, dass in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen weitere soziale Konstruktionen unternommen werden: zum Beispiel würden Patienten darin als Konsumenten oder Partner konstruiert werden (dies wurde als Kennzeichen eines Aktivierungsdiskurses dargestellt). Auch wenn zu scharfe kritische Untertöne vermieden werden sollten, so hätte die Herausbildung eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems als etwas Vermeidliches verstanden werden können. Hätten wir keinen 61

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Aktivierungsdiskurs, würde die demographische Entwicklung nicht als derartige Herausforderung begriffen werden. Wenn wir keinen Diskurs über das Gesundheitswesen als Kostenfaktor hätten, dann hätten wir vielleicht auch kein technowissenschaftliches Gesundheitssystem und vielleicht auch keine Technologien wie Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit chronischen Krankheiten. Vielleicht wäre das besser, weil Patienten dann auch keine Verpflichtungen zugeschoben bekämen und sich allein in ihrer ohnehin schon schweren Rolle als Kranke befinden könnten Vor allem die vergleichende Erwartungsanalyse unterstützte die Darstellung des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems als eine soziale Konstruktion. Indem gefragt wurde, welche Akteure und Institutionen welche Erwartungen zu welchen Technologien äußerten, wurde gezeigt, dass die Form und Verbreitung dieser Technologien und Rationalitäten mit den Aktivitäten und wahrgenommenen Problemen von spezifischen sozialen Welten verwoben sind. Wenn in diesen andere Probleme wahrgenommen werden würden oder wenn sie andere Interessen gehabt hätten, wenn sie vielleicht weitere Akteure in die Arena zugelassen hätten (zum Beispiel Patienten) und infolgedessen eventuell andere Erwartungen formuliert worden wären, dann hätten wir heute vielleicht ganz andere Gesundheitstechnologien und ein anderes Gesundheitswesen. In diesem Kapitel wird argumentiert, dass – obwohl mit dem Fokus auf Erwartungen eine relationale und prozessuale Perspektive auf Gesundheitstechnologien erreicht wurde – dieser Fokus nicht weit genug geht. Es soll gezeigt werden, dass insbesondere die Herausarbeitung von sozialen Konstruktionsprozessen problematisch ist, weil diese mit ihrem Hauptaugenmerk auf das »Soziale« vieles auslässt. Mit der AkteurNetzwerk-Theorie soll hierfür ein Ansatz vorgestellt werden, der die Analyse von »sozialen Konstruktionen« überwindet und etwas betreibt, was man radikalen Konstruktivismus nennen könnte. Denn die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie, so wird sich zeigen, nehmen nicht nur soziale, sondern auch andere am Herstellungsprozess beteiligte Elemente (zum Beispiel auch leblose Objekte) ernst. Hierin besteht, so wird sich zeigen, die wesentliche Erweiterung in der relationalen und prozessualen Betrachtungsweise. Aus einem bestimmten Grund sollen die zentralen Thesen und Konzepte der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) als Resultat einer jüngeren Fachgeschichte der Science Studies oder Science & Technology Studies (STS) dargestellt werden: Zum einen werden die Kernideen der ANT in der Abgrenzung zu dem insbesondere praktizierten Forschungsansatz – dem des Strong Programme – besonders klar. Zum anderen lässt sich die 62

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Kritik der Vertreter der ANT am Strong Programme auch als eine Kritik am Ansatz der sociology of expectations lesen. Anders formuliert: die Debatte zwischen den Vertretern der ANT und denen des Strong Programme ist hier relevant, weil sie verdeutlicht, wie die im ersten Kapitel erprobte Herangehensweise weiterentwickelt werden kann. Insbesondere veranschaulicht sie, welche wesentlichen Erweiterungen in einer relationalen und prozessualen Perspektive unternommen werden können. Dieses Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst sollen die wesentlichen Thesen und der Forschungsansatz des Strong Programme (SP) rekonstruiert werden. Sodann soll gezeigt werden, dass insbesondere der Fokus des SP auf Interessen und Erwartungen hin zunehmend – hinterfragt wurde, und es soll erklärt werden, warum es sich hierbei – der Kritik zufolge – um soziodeterministische Analysen handelt. Im zweiten Abschnitt sollen die Synthesen dieser Kritiker, eben von jenen Vertretern der Akteur-Netzwerk-Theorie, vorgestellt und veranschaulicht werden, was diese unter relationalen und prozessualen Analysen verstehen. Hier soll auch verdeutlicht werden, was es bedeutet, Untersuchungsgegenstände nicht zu essenzialisieren, sondern auf Netzwerke verteilt zu verstehen. Im dritten Abschnitt sollen vor dem Hintergrund dieser neuen Analysekategorien Erhebungs- und Analyseverfahren vorgestellt werden, die diese neuen relationalen und prozessualen Perspektiven ermöglichen. All dem übergeordnet steht das Ziel, theoretische und forschungspraktische Auswege aus dem Soziodeterminismus zu bereiten.

Tatsachen und ihre legitimierende Kultur – das Strong Programme In den 1970er Jahren formierte sich ein sozialwissenschaftlicher Forschungszweig, der in dieser Zeit unter der Bezeichnung Science Studies oder Science & Technology Studies (STS) insbesondere im angloamerikanischen Raum bekannt wurde. Als eine wesentliche und diesen Forschungszweig etablierende Denkschule gilt hierbei das unter anderem von David Bloor, Barney Barnes, Simon Schaffer, Steve Yearly und anderen entworfene Strong Programme (SP). Hierbei handelt es sich tatsächlich eher um ein Programm als um eine ausgereifte Wissenschaftstheorie, die darlegt, was eine Analyse von wissenschaftlichen Tatsachen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive berücksichtigen sollte (Bloor 1976; Bloor 1991; Barnes, Bloor et al. 1996). Der wesentliche in den Forschungen des SP erarbeitete Standpunkt lautete, dass soziale Faktoren nicht nur bei widerlegten wissenschaftlichen Fakten festgestellt wer63

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den können oder dann, wenn sie Wissenschaftler auf dem Weg zur Wahrheit abbringen, sondern auch bei den vermeintlich wahrhaftigen oder derzeit geltenden Fakten. Ähnlich wie Karin Knorr-Cetina richteten sich diese Forscher »gegen das Modell der ›Kontamination‹ des Wissenschaftlichen durch das Soziale« (Knorr-Cetina 1988: 85). Das seinerzeit noch radikale Argument (Turner 2008) lautete also, dass es sich bei wissenschaftlicher Forschung generell und immerzu um sozial gesteuerte Prozesse handele und deshalb Faktoren wie Interessen oder Erwartungen nicht nur als Begleitumstände der Wissensproduktion angesehen werden sollten, sondern als ko-konstitutiv für die durch sie entstehenden wissenschaftlichen Tatsachen. Dem Strong Programme zufolge wird Wissenschaft nicht als etwas Rationales, weil Kulturfreies angesehen. Vielmehr werden die Wissenschaft und die durch sie produzierten Tatsachen als ein Bereich definiert, der wie jeder andere Teilbereich der Kultur oder des sozialen Lebens analysiert werden kann und von daher dem Sozialwissenschaftler gleichermaßen zugänglich ist. Einige der zentralen Thesen sowie der Forschungsansatz des SP können anhand einer ihrer bekanntesten Studien verdeutlicht werden: Harry Collins (1975) stellte auf Basis von Interviews mit Physikern, die Gravitationswellen erforschen, fest, dass die um deren Untersuchungsgegenstand entflammten Debatten nicht mit der »objektiven« Natur der Gravitationswellen zusammenhängen, sondern damit, dass sich noch keine Kultur oder soziale Struktur herausgebildet hat, die mitbestimmt, welche Parameter und Kriterien bei deren Vermessung als relevant erachtet werden können. In seiner Studie rekonstruiert Collins den sozialen Prozess der Erarbeitung und der Verhandlung dieser Parameter und belegt damit, dass es sich schon allein bei dem Experiment der Vermessung von Gravitationswellen um ein soziales Ereignis handelt, welches allein durch den sozialen Kontext gefärbte Ergebnisse produzieren kann. Collins zeigt auf, welche Aspekte relevant sind bei der Erarbeitung und Übereinstimmung von relevanten Parametern und stellt fest, dass Gewohnheiten und Autoritäten darin eine ebenso zentrale Rolle spielen wie persönliche Interessen einzelner Akteure und/oder institutionelle Ziele. In seiner Studie zur Erarbeitung eines Kanons zur Vermessung von Gravitationswellen liefert Collins somit eine sozialwissenschaftliche Erklärung für die Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen. Mit seinem Fokus auf das Soziale – Akteure, ihre Interessen, die Ziele von Gruppen, Hierarchien in wissenschaftlichen Gruppen etc. – definiert er auch die relevanten Analysekategorien für diese besondere Untersuchung. Die Fragestellung und das Studiendesign Collins, so wird hier vielleicht deutlich, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der im ersten Kapitel dieser Arbeit unternommenen Herangehensweise. Dort wurde 64

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dargelegt, dass in derzeitigen gesundheitspolitischen Entscheidungen immer auch wissenschaftliche Ergebnisse reflektiert werden. Die Politik von Entscheidungsträgern erscheint in dieser Hinsicht rational und objektiv. Dennoch konnte gezeigt werden, dass sowohl die reflektierten als auch die produzierten wissenschaftlichen Daten nicht frei von sozialem Kontext waren – sie waren zum Beispiel mit neosozialer Sozialpolitik verwoben. Das technowissenschaftliche Gesundheitssystem, so wurde daher argumentiert, ist ein soziales Phänomen. So wie Collins behauptet, dass es sich bei Gravitationswellen um sozial konstruierte Erscheinungen handelt, so konnte im ersten Kapitel gezeigt werden, dass das technowissenschaftliche Gesundheitssystem mit diversen sozialen Konstruktionen unterfüttert ist. Die sociology of expectations, mit der dabei gearbeitet wurde, ist insofern sehr nah an den Thesen des SP, als dass sie behauptet, dass Erwartungen (also soziale Prozesse) ko-konstitutiv für bestimmte Produkte oder Projekte sind. Collins und andere Vertreter des SP folgten in ihren Analysen den vier von Bloor (1976) formulierten Bedingungen einer Wissenssoziologie. Diese sollen im Folgenden erörtert werden, da auf ihnen die später geäußerte Kritik der Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) fußt. Denn die vier Symmetrieprinzipien, wie diese Bedingungen auch bezeichnet werden können, wurden später von den Vertretern der ANT zu dem erweitert, was man als radikale Symmetrie bezeichnen kann. Da diese radikale Symmetrie im nächsten empirischen Kapitel dieser Arbeit erprobt werden soll, erfolgt mit der Diskussion der von Bloor programmatisch geäußerten Prinzipien die Einleitung zur Erläuterung der epistemologischen Fundierung des nächsten Kapitels. Die erste Bedingung Bloors, das »Kausalitätsprinzip«, gibt vor, dass wissenschaftliche Tatsachen in kausalem Zusammenhang mit ihren sozialen Konstellationen gesehen werden sollen – seien es gesellschaftliche Zusammenhänge, ökonomische, technische oder industrielle Voraussetzungen, Wissenschaftlergruppenhierarchien oder von involvierten Akteuren persönlich gemachte Erfahrungen. Dieses Prinzip widerspricht vor allem einem etablierten Verständnis von Wissenschaften, das davon ausgeht, dass wissenschaftliche Fakten in dem Sinne real sind, als dass sie unabhängig von der Außenwelt existieren. Die Vertreter des SP weisen darauf hin, dass durch Wissenschaften produzierte Fakten nicht das Ergebnis von mit objektiven Methoden arbeitenden und rationalen Akteuren sind. Stattdessen betonen sie, dass wissenschaftliche Tatsachen das Ergebnis von mit sozialen Kontexten verwobenen Handelnden sind. Das zweite Hauptprinzip des SP, »Symmetrie«, formuliert den Anspruch, alle wissenschaftlichen Tatsachen und den Grund ihrer Entstehung nach dem gleichen Argumentationsschema zu erklären. Wie oben 65

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dargelegt, soll es der Wissenschaftsforschung nicht länger nur noch darum gehen, »falsche« Tatsachen oder Annahmen mit sozialen Faktoren zu erklären, sondern auch die derzeit als wahr geltenden. Das Prinzip wird als symmetrisch bezeichnet, weil darin die Produktion falscher (das heißt zwischenzeitlich widerlegter) und wahrer Tatsachen gleichermaßen analysiert wird (Bloor 1976). Ein drittes formuliertes Prinzip wird von den Vertretern des SP »Unvoreingenommenheit« genannt und bezeichnet eben jenen Versuch, einen »neutralen Blick« anzuwenden. Das heißt, es soll vor allem die Frage ausgeklammert werden, ob eine bestimmte wissenschaftliche Aussage immer noch gilt oder zwischenzeitlich widerlegt wurde. Dieses Prinzip betont die dem Symmetrieprinzip folgende Forschungshaltung, die der Soziologe bei der Analyse einnehmen sollte. Das letzte Prinzip plädiert für eine »Selbstreflexivität«, das heißt die selbstkreierte Verpflichtung, die eigenen Vorannahmen, Standpunkte und Erkenntnisinteressen zu hinterfragen und zu explizieren. In dieser Hinsicht wird argumentiert, dass es wichtig ist anzuerkennen, dass die soziologische Wissenschaftsforschung selbst eine Wissenschaft ist, auf die die zuvor genannten Prinzipien angewandt werden können. Der besondere Verdienst der Vertreter des SP besteht darin, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass wissenschaftliche Tatsachen mit sozialen Prozessen – das heißt Akteure in bestimmten sozialen Konstellationen mit ihren Interessen und ihren Beziehungen zu anderen Akteuren (mit anderen Interessen) – verwoben sind. Wissenschaftliche Aussagen, so zeigten sie, entspringen nicht den gedanklichen Leistungen von besonders intelligenten Personen, sondern sind Ergebnisse von sozialen Handlungen und von daher auch wie jedes andere Phänomen als Kultur und soziale Praxis analysierbar. Es ist richtig, dass sich die Thesen des SP nicht grundsätzlich von dem unterscheiden, was Ludwik Fleck schon Anfang des 20. Jahrhunderts als das »Denkkollektiv« (Fleck 1980) oder was Karin Knorr-Cetina als »epistemic cultures« (Knorr-Cetina 1999) bezeichnete. Der Grund, warum hier vor allem die insbesondere in Edinburgh lehrenden Wissenschaftsforscher berücksichtig werden, liegt vor allem darin, dass diese eine Debatte initiierten, die einige wichtige Konzepte und Ansätze hervorbrachte, die auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit wichtig werden. Damit wird schon angedeutet, dass obwohl die Vertreter des SP die STS international populär und teilweise gegen heftige Kritik aus den Naturwissenschaften verteidigten (Cayley 2007), einige zentrale Aussagen und Konzepte dieser Denkschule seit Ende der 1980er Jahre teilweise radikal überworfen und weiterentwickelt wurden. Eine besondere Rolle spielen dabei Bruno Latour, Michel Callon und John Law und damit Vertreter der von ihnen gegründeten sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie oder Soziologie der Translationen. 66

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D a s r a d i k a l e S ym m e t r i e p r i n z i p – die Akteur-Netzwerk-Theorie Die die Akteur-Netzwerk-Theorie maßgeblich prägenden Soziologen und Anthropologen Bruno Latour, Michel Callon, John Law, Annemarie Mol und Madeleine Akrich (um nur einige wichtige Vertreter zu nennen) folgten in ihrem Ansatz zunächst einer zentralen Anregung Bloors et al.: in ihren Forschungen interessierten sie sich nicht primär für die Endprodukte der Forschung, nicht für Paradigmenwechsel (Kuhn 1970), die in Publikationen nachvollziehbar würden. Vielmehr wollten sie den Prozess der Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen nachzeichnen. Wie jedoch dieser Prozess erforscht und welchen Aspekten dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, darüber bestand die erste Uneinigkeit. Im Vergleich zur Edinburgh School benutzten die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie in ihren Forschungen nicht nur qualitative Interviews als empirische Methoden, sondern auch die teilnehmende Beobachtung5. Weil damit ebenso andere Dinge sichtbar wurden, gehen mit dieser methodischen Erweiterung auch inhaltliche (und theoretische) einher, wie anhand einer der ersten Studien der Akteur-NetzwerkTheorie verdeutlicht werden kann: In den ethnographischen Forschungen zu Laboratory Life (1986) fragten Latour und Woolgar insbesondere danach, wie wissenschaftliche Tatsachen produziert, akzeptiert, stabilisiert und schließlich geblackboxed werden. Sie untersuchten dies am Beispiel des Neurohormons TRH, welches, so zeigen Woolgar und Latour, in spezifischen Laboralltagspraxen des kalifornischen Salk Institute entstand. In diesem Laboralltag wurde nicht nur gedacht, sondern bestimmte beobachtete Phänomene auch unter den Forschern (teilweise auch in informellen Situationen) diskutiert. Des Weiteren wurde mit bestimmten zur Verfügung stehenden Arbeitsmitteln, spezifischen Präparierungen von Abschnitten des Zwischenhirns u. v. m. hantiert. Nachdem sich Latour und Woolgar all diese Praxen angeschaut und analysiert hatten, theoretisierten sie, dass die von ihnen angetroffenen Wissenschaftler vor allem mit Inskriptionen beschäftigt seien, oder dem, was Callon später als Translationen (Callon

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An dieser Stelle kann hinzugefügt werden, dass eine oft und auch später in dieser Arbeit geäußerte Kritik an Forschungen der Akteur-NetzwerkTheorie lautet, dass die genauen Forschungsprozesse und Forschungsdesigns intransparent sind (z. B. bei Collins 1992). Welche Methoden Law (2002) bei der Rekonstruktion der Geschichte der gescheiterten Fertigstellung des Militärflugzeugs TSR2 oder Latour (1993) in seiner bekannten Studie zu Louis Pasteurs erfolgreicher Bekämpfung der Schafspest angewandt hat, ist diesen Kritikern zufolge oft erstaunlich vage und unklar. 67

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1986) bezeichnete. Darunter verstanden sie Prozesse der Verschiebung, die zum Beispiel dann sichtbar werden, wenn die einst durch die bildgebenden Verfahren sichtbar gemachten Phänomene zu-nächst in Tabellen, dann in Graphen und schließlich – nach einer Reihe weiterer Translationen – in wissenschaftliche Journals verschoben werden. Während eines solchen Translationsprozesses, so konstatiert Callon später in seiner ausführlichen Darlegung zu »some elements of a sociology of translation« (1986), gelangen Wissenschaftler zu Autorität, weil sie aus allen vorhandenen Elementen ein Netzwerk geschmiedet hätten, das vor allem ihnen diente. Um zum Beispiel das Neurohormon TRH überhaupt sichtbar zu machen, »verhandelten« die Wissenschaftler mit den Vorlappen der Hirnanhangsdrüse, indem sie diese auf spezifische Art und Weise vorbereiteten. Sie berücksichtigten dabei die diversen Eigenarten der Physiologie dieser Körperregion und verbanden somit, so würde Callon es ausdrücken, die Kräfte des Portalgefäßsystems mit den Zielen der Wissenschaftler. Als das Neurohormon TRH schließlich sichtbar (und mit Dokumentationsmethoden erfassbar und quantifizierbar) wurde, wurde das den Wissenschaftlern dienende Netzwerk erfolgreich geschmiedet. Die Forscher haben – um einen weiteren viel zitierten Ausdruck zu benutzen – Allianzen mit den Bildungs- und Ausschüttungsmechanismen von TRH gebildet. Die bislang ungekannten Vorgänge in dieser Hirnregion wurden erfolgreich in den Kontext wissenschaftlicher Argumentation verschoben. Heute verschleiert eine weitestgehend akzeptierte Definition der Kategorie TRH diese dahinter stehenden Translationsprozesse – die Kategorie ist eine Blackbox. »[The process of blackboxing] is the way scientific and technical work is made invisible by its own success. When a machine runs efficiently, when a matter of fact is settled, one need focus only on its inputs and outputs and not on its internal complexity. Thus, paradoxically, the more science and technology succeed, the more opaque and obscure they become.« (Latour 1999b: 304)

Durch diese Art der Rekonstruktion der Entstehung des Neurohormons TRH, oder allgemeiner, der Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen, unterscheidet sich die ANT fundamental vom Forschungsansatz des Strong Programme: Latour et al. argumentieren, dass die Stabilisierung von wissenschaftlichen Aussagen nicht allein Resultat des sozialen Kontexts der Wissenschaftler ist, sondern auch die Folge der eingesetzten Instrumente (Mikroskope, Reagenzgläser, Graphen, Tabellen, Computerinfrastrukturen etc.) und der materiellen Beschaffenheit dieser Hirnregion (des Portalgefäßsystems, Hirnanhangsdrüse etc.). Sie unterstellen somit, dass nicht nur die Wissenschaftler handeln, sondern auch diese 68

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Instrumente und physiologischen Merkmale. Der hierfür geschaffene Terminus Aktant versucht genau diese Handlungsträgerschaft von nichtmenschlichen Akteuren festzuhalten: Unter Aktanten verstehen Latour et al. keine asozialen und ahistorischen Artefakte, sondern Handelnde insofern, als dass diese formierende Kraft besitzen. Ohne jene genannten in den Laborsettings anzutreffenden Objekte, so wird unterstellt, wäre eine andere Wahrheit produziert worden, weil andere Dinge sichtbar, messbar, zählbar geworden wären und in dessen Folge entweder (von Wissenschaftlern) andere Arbeitswege gewählt worden wären oder (Aktanten) zu anderen Arbeitswegen angeleitet hätten. Es ist das hier angedeutete Verständnis von Handlung, das dabei die vielleicht größte Herausforderung für die Sozialwissenschaften darstellt: In der ANT wird unterstellt, dass Handlung nicht nur, wie zumindest in den deutschen Sozialwissenschaften spätestens seit Weber (1913), mit dem subjektiv gemeinten Sinn erklärt werden kann. Im Konzept des Aktanten wird nicht davon ausgegangen, dass nicht-menschliche Dinge intentional handeln. Vielmehr unterstellen Latour et al., dass (menschliche und dingliche) Handlung durch permanente Verbindung mit anderen (menschlichen und dinglichen) Elementen zustande kommt. Wenn ein Mann, um ein viel zitiertes Beispiel Bruno Latours zu bedienen, Rache an jemanden nehmen möchte, dann wird dieses Vorhaben zu einer anderen Handlung, wenn dieser Mann dazu eine Pistole benutzt. Nun verändert die Pistole nämlich die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Auch die bis zu diesem Zeitpunkt unberührt in einer Schublade liegende Pistole wird zu einem anderen Gegenstand, wenn sie in der Hand des Mannes liegt und zu Rachezwecken benutzt wird. Handlung, so kann man hieraus schlussfolgern, ist also nicht etwas rein Soziales, sondern immer etwas, das mit Netzwerken verwoben ist. Spätestens anhand dieses Beispiels wird auch die von der ANT verwandte relationale und prozessuale Perspektive deutlich: Latour interessiert sich in jenem Beispiel weniger für die Pistole oder den Menschen als Essenz, sondern für deren Relation. In der ANT wird bezweifelt, dass eine scharfe Trennung zwischen Subjekt (das heißt dem Menschen) und Objekt (dem Ding) überhaupt unternommen werden kann und – so kann man es auf den Punkt bringen – die Vermeidung von Essenzdenken und die Anwendung von Relationsdenken gefordert wird. Dadurch würde eine Aufhebung von Kategorien wie Individuum, Gesellschaft, Objekt, Maschine etc. erreicht und eine radikale relationale und prozessuale Perspektive eingenommen werden. In einer expliziten Abgrenzung dieses Ansatzes gegenüber dem des Strong Programme erklären Michel Callon und Bruno Latour:

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»All the shifts in vocabulary like ›actant‹ instead of ›actor‹, ›actor-network‹ instead of ›social relations‹, ›translation‹ instead of ›interaction‹, ›negotiation‹ instead of ›discovery‹, ›immutable mobiles‹ and ›inscriptions‹ instead of ›proof‹ and ›data‹, ›delegation‹ instead of ›social roles‹, are derided because they are hybrid terms that blur the distinction between the really social and human-centered terms and the really natural and object-centered repertoires.« (Callon und Latour 1992: 347)

Tatsächlich verdeutlicht der hier verwendete Terminus Hybride das Ziel der Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie, eben jene ontologisch unterschiedlichen Elemente in der Forschung zu berücksichtigen und nicht das zu unternehmen, was Latour später als »Reinigungsarbeit« (Latour 2002: 20) bezeichnete: In dieser für die Moderne so typischen Arbeit werden die nicht-menschlichen Dinge von den menschlichen Dingen, die Natur von der Kultur, das Körperliche vom Sozialen etc. getrennt, obwohl eigentlich Hybride vorliegen – das heißt Mischwesen, in denen sich all die vermeintlich unterschiedlichen Elemente verschränken. Die Arbeit der Wissenschaftler, die das Neurohormon TRH herstellen, als die soziale Konstruktion von Fakten zu bezeichnen, unterstellt in dieser Hinsicht, dass sich dieser Prozess auf das Soziale reduzieren ließe; er verkennt damit jedoch, dass die Reaktionen von Aminosäuren tatsächlich beobachtet werden konnten, dass Bewegungen in Pfortadersystemen wiederholt festgestellt wurden und dass die Schlaf-Wach-Regulation unterschiedlicher Menschen mit TRH manipuliert werden konnte. Diese Phänomene lassen sich, so die Vertreter der ANT, nicht auf das Symbolische oder Soziale reduzieren. Der Standpunkt der Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie übt in dieser Hinsicht auch starke Kritik an ontologischen Grundannahmen des Wissenschaftsbetriebs; für Sozialwissenschaftler sei es allzu üblich, allein menschliches Handeln zu untersuchen und beispielsweise nach Erfahrungen, Werten, Interessen etc. zu fragen. Das Soziale und/oder Kulturelle wird hierbei als eine a priori vorhandene Kategorie gedacht. Für Naturwissenschaftler hingegen ist es unhinterfragter Bestandteil der Arbeit, nahezu ausschließlich das Natürliche zu untersuchen, zum Beispiel Moleküle, Erbfaktoren und Organsysteme. Beide reproduzieren damit zentrale Dichotomien der Moderne (Latour 2002) und die durch sie kreierten Asymmetrien – das heißt, sie reflektieren nur die für ihre jeweilige Disziplin vermeintlich relevanten Kategorien. Selbiges gilt zum Beispiel auch für Ethnologen – zumindest dann, wenn sie in ihren heimischen, westlichen Kulturen forschen: »Als Marc Augé sich unter den Lagunenbewohnern der Elfenbeinküste aufhielt, versuchte er das ganze soziale Phänomen zu verstehen, das sich in der 70

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Zauberei zeigt (Augé 1975). Seine Marginalität hinderte ihn nicht daran, die ›totale soziale Tatsache‹ der alladianischen Kultur zu erfassen. Doch nach Hause zurückgekehrt, beschränkt er sich darauf, nur die oberflächlichsten Aspekte der Pariser Metro zu untersuchen: er interpretiert die Graffiti an den Wänden der Metrostationen (Augé 1988). Mit der westlichen Ökonomie, Technologie und Wissenschaft konfrontiert, fühlt er sich durch seine Marginalität eingeschüchtert. Ein symmetrischer Marc Augé hätte das gesamte soziotechnische Netz der Metro untersucht, ihre Ingenieure und Fahrer, ihre Direktoren und Kunden, den staatlichen Betreiber, kurz: den ganzen Laden. Er hätte ganz einfach zu Hause getan, was er ›dort unten‹ immer getan hat.« (ebd: 135)

Anhand dieses Zitats wird plausibel, was Latour unter einer – wie er es nennt – »symmetrischen Anthropologie« versteht. Im Gegensatz zu den Symmetrieprinzipien des Strong Programme kann hier von »radikaler Symmetrie« gesprochen werden, da die Notwendigkeit betont wird, die Dinge in ihren weiteren soziotechnischen Netzwerken zu sehen. Auch hier findet sich also jenes Plädoyer für Relationsdenken und nicht Essenzdenken. Mit seinem Fokus auf Interessen, zentrale Akteure, (instituts-)politische Ziele, oder kurz: soziale Strukturen, erscheint das Strong Programme vom Standpunkt der Akteur-Netzwerk- Theorie somit als soziodeterministisch. Collins’ oben genannte Studie zu Gravitationswellen untersucht die sozialen Dynamiken und diskursiven Strategien in der Herausbildung einer sozialen Konstellation unter Physikern; er fragte nach den Gründen, warum Wissenschaftler an Experimente glauben, warum Variationen in Strömungen unterschiedlich wahrgenommen wurden etc. Er berücksichtigte jedoch nicht die spezifischen angewandten Verfahren und Arbeitsschritte, fragte nicht nach der besonderen Beschaffenheit des Zylinders, in dem die Wellen erzeugt wurden, den Drähten, an denen er hing und dergleichen. Kurzum, die Entdeckung von Gravitationswellen wurde zwangsläufig als eine soziale Konstruktion und nicht als das Ergebnis verschiedener aufeinander treffender Akteure und Aktanten in ihren Netzwerken definiert. Das Verdienst der ANT besteht entsprechend darin, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass es sich bei in empirischen Forschungen angetroffenen Akteuren/Aktanten nicht um a priori gegebene Entitäten handelt, sondern um solche, die in ihren situativen Kontexten oder Netzwerken hergestellt werden und als solche analysiert werden müssen. Sie schlagen damit jene andere oder, genauer, weiterreichende Form der relationalen und prozessualen Analyse vor, als die von den Vertretern des Strong Programme oder der im vorherigen Kapitel diskutierten sociology of expectations. In der ANT wird davon ausgegangen, dass die In-

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teressen von Ärzten, Patienten als »implizierte Akteure« und klare, langfristige Pläne von Gesundheitsministerien oder neue Politiken von Krankenkassen erst in Praxis sichtbar werden, und dass es sich dabei nicht um per se gegebene stabile Entitäten handelt, sondern um solche, die sich in unterschiedlichen Situationen auf immer wieder unterschiedliche Netzwerke neu verteilen.

» Af t e r AN T « – P r a x i s s t a t t O r d n u n g Auch wenn es sich bei der ANT um einen Denk- und Forschungsansatz handelt, der in gegenwärtigen Science & Technology Studies (STS) häufig angewandt wird, sind einige der Untersuchungsfragen und die daraus resultierenden Konzepte des Öfteren kritisiert und hinterfragt worden. Einige Kritiker beklagen, dass Latour, Callon und andere mit ihrem Fokus auf Stabilisierungsprozesse eine managerial bias haben (Bowker 1993; Strathern 1996; Haraway 2006), das heißt, dass sie ihren Fokus zu stark auf die Tätigkeiten als zentral ausgemachter Akteure richten und dabei die Handlungsträgerschaft anderer im Prozess der Faktengenerierung präsenter Personen oder Aktanten ausblenden. Die Forschung Latours zur »Pasteurisierung Frankreichs« beispielsweise, fokussiert dieser Kritik zufolge zu sehr das Verhandlungsgeschick eines Mannes und missachtet die diversen Tätigkeiten anderer an diesem Prozess beteiligter Akteure. Auch die im vierten Kapitel vorgestellten interaktionistischen Science & Technology Studies und die von ihnen kreierten Konzepte wie »boundary objects« (Star und Griesemer 1989) oder »standardized packages« (Fujimara 1992) reflektieren diese Kritik und bauen ihre Thesen zum Teil auf dieser auf. Aber auch einige der »Gründungsmitglieder« der ANT haben diese Problematik gesehen und in ihren neueren Forschungen berücksichtigt. John Law und John Hassard leiteten regelrecht eine »After ANT«Periode ein (1999b); zusammen mit Annemarie Mol (2001) rekonstruierte Ersterer eine Geschichte der Akteur-Netzwerk-Theorie, welche inzwischen zu jener Neuausrichtung geführt hat, die nicht die Stabilität, sondern die Fluidität von Dingen, Fakten, Personen etc. betont: »Too often – not always – [the network metaphor, T. M.] became functionalist. The focus was on control: on the work needed to hold a configuration stable; on the effort required to create a wider network fit for the transmission of immutable mobiles. But there is another problem: it is, quite simply, that often enough ideas, facts, information, even technologies, turn out to spread in a

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manner that is much more fluid. It is precisely a lack of rigidity that most helps movement.« (Law und Mol 2001: 619)

Die Idee, dass gerade die Fluidität von Objekten deren Erfolg ausmacht, haben Mol und Marianne de Laet (2000) in einer praxiographischen Forschung zur simbabwischen Buschpumpe – einem vermeintlich simplen Instrument – belegt. Obwohl die zweite Generation dieser Pumpen, Typ B, mit klaren Nutzungsszenarien und Zielen von seinem Erfinder belegt war, zeigt sich deren eigentliche Fluidität in verschiedensten Mustern ihrer Nutzung. Die Buschpumpe ist nicht nur ein Instrument zur Wassergewinnung, sondern auch eines, das die Gesundheit der Bevölkerung verbessern soll. Außerdem schaffte es die Buschpumpe in diverse nationale Strategien für den Wiederaufbau der Nation – wurde geradezu zu einem nationalen Mythos – und wurde auf lokaler Ebene in bestehende Dorfstrukturen und Rituale eingebettet. In der Argumentation de Laets und Mols erwies sich die simbabwische Buschpumpe gerade deshalb als erfolgreich, weil sie all diese Aspekte bediente; sie war nicht nur ein von einem planenden Ingenieur entwickeltes und von bestimmten Produzenten nach bestimmten Verfahren erbautes Instrument, sondern auch ein Mittel zur Erreichung gewisser Gesundheitsstandards. Sie war ein Symbol für den Wiederaufbau eines Dritte-Welt-Landes und ein Objekt, das Menschen dazu einlud, sie in bestimmte Rituale einzubinden und – evtl. deshalb – in dessen Folge zu pflegen und zu nutzen. Im Gegensatz zu Latours Studie zum Erfolg Louis Pasteurs erzählen die Autorinnen in ihrer Geschichte zur Buschpumpe Simbabwes kein Heldenepos, sie berichten nicht davon, wie trickreich ein Akteur in besonders kniffligen Situationen mit allen möglichen anderen Akteuren oder Aktanten verhandelt hat. Sie betonen vielmehr die Kontingenzen in dem Prozess der Stabilisierung, den Erfindungsreichtum in der Anpassung und Verwendung der Pumpe, kurz: deren Multiplizität und Varianz. »The first aspect of the Pump’s fluidity is that its boundaries are not solid and sharp. The Pump is a mechanical object, it is a hydraulic system, but it is also a device installed by the community, a health promoter and a nation-building apparatus. It has each of these identities – and each comes with its own different boundaries. To write about the Bush Pump in this fashion means that we do not mobilize the arid trope of describing a small technological artefact as if it were surrounded by large social environments – to which it inevitably remains alien. In each of its identities the Bush Pump contains a variant of its environments. […] The second, related aspect of the Bush Pump’s fluidity is that whether or not its activities are successful is not a binary matter. There are many more relevant answers to this question than a simple ›yes‹ or ›no‹. The Pump may work as a water provider and yet not bring health. It may work for 73

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extended families but fail as a connecting element in larger communities. It may provide health in the dry season but not in the rainy season.« (de Laet und Mol 2000: 252)

Auch die im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutierten Informations- und Kommunikationstechnologien können in dieser Hinsicht als fluide Objekte analysiert werden. Die mit einem telemedizinischen Zentrum verbundene Waage oder die elektronische Gesundheitskarte sind Annemarie Mol folgend keine homogenen, klar definierbaren Dinge; die dargelegte Praxis mit jenen Technologien demonstriert ihre Multiplizität. Die Techniken sind nicht nur simple Gegenstände mit der Funktion, Vitalparameter zu messen oder Patientendaten zu speichern, sondern Instrumente, die die Krankenversorgung effizienter und kosteneffektiver gestalten sollen (Technik für Effizienz und Kosteneffektivität), die den Behandlungsablauf zu standardisieren verhelfen (Technik für Standards) oder die Transparenz schaffen (Technik für Transparenz). Letzteres allein verweist auf Verflechtungen der Technologie mit drei verschiedenen Zielen, und sie reflektieren noch nicht einmal die genannten Perspektiven von Leistungserbringern nach Autonomie (Technik für Therapiefreiheit) und mehr Datensicherheit (Technik für Datenschutz) oder die Perspektiven von Leistungsempfängern. Es ist wichtig zu betonen, dass die von Mol vorgeschlagene Perspektive bedeutet, dass nicht nur die Varianz von Einstellungen, Interessen und Erwartungen zu Technologien untersucht werden soll, sondern auch die materielle Ausführung oder Anwendung derselben. Das Vorhaben, Kosteneffektivität zu erreichen, führt zum Beispiel zu »Add-ons«, die entsprechende Tabellen generieren können. Die von vielen Seiten geäußerte Skepsis zur Datensicherheit resultiert in hochkomplexen ClientServer-Strukturen, und die spezifische Haltung einiger Leistungserbringer führt zur spezifischen Gestaltung von Telemonitoring-Programmen, welche Haus- und Fachärzte evtl. umgehen. Mit anderen Worten, es entstehen verschiedene Variationen derselben Technologien. Die Objekte sind nur in spezifischen Kontexten definierbare Entitäten und variieren mit ihren Kontexten oder Aktualisierungen.

W i e s t u d i e r t m a n Ak t u a l i s i e r u n g e n ? Die oben schon kurz genannte Methode der Praxiographie hat Annemarie Mol in einer anderen Studie zu enactments – oder deutsch: Aktualisierungen – von Arteriosklerose weiterentwickelt (2002). Mit dem Terminus Praxiographie betont sie zunächst, dass ihr Fokus nicht dem 74

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ethnos, also dem ethnischen Volk oder deren Kultur gewidmet ist, sondern sich auf Praxen richtet, also auf die Frage, wie Werkzeuge, Diskurse, Akteure etc. einen Gegenstand wie Arteriosklerose in verschiedenen Situationen herstellen und formen. Diese Methode »no longer follows a gaze that tries to see objects but instead follows objects while they are being enacted in practice« (Mol 2002: 152). Darüber hinaus impliziert dieser Denk- und Forschungsstil »a shift from asking how sciences represent to asking how they intervene« (ebd.). In diesem Sinne knüpft Mol an die oben rekonstruierte Kritik der Vertreter der Akteur-NetzwerkTheorie an den Sozialkonstruktivisten an. Sie verneint, dass es sich bei den bestehenden Wissensvorräten zu Körper oder Geschlechtlichkeit beispielsweise, um soziale Konstruktionen handelt, die schlicht Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen reproduzieren und repräsentieren. Stattdessen interessiert sie der Prozess der Herstellung dieses Wissens, wie Körper und Geschlechtlichkeit in bestimmten Situationen – sei es in Forschungslaboren oder im Alltag – enacted oder aktualisiert werden. Zugleich reflektiert Mol mit ihrem praxiographischen Ansatz die Kritik an der »ersten Generation« von der Akteur-Netzwerk-Theorie inspirierten Forschungen, welche sich zu einseitig auf Stabilisierungsprozesse fokussiert habe und lediglich an der Frage interessiert schien, wie Wissen universal und unhinterfragbar wird. Ihre Studie zu Arteriosklerose demonstriert entsprechend, wie diese chronische Herzkreislaufkrankheit in unterschiedlichen Situationen gemacht wird und dabei am Ende mehrere Arteriosklerosen existieren. Die daran Erkrankten zum Beispiel berichten ihrem Arzt davon, dass sie nur noch unter Schwierigkeiten einkaufen gehen können, weil sie nicht mehr lange gehen und schon gar nicht den schweren Einkaufswagen vor sich herschieben können. Einige besuchen auch nur noch selten ihre Kinder, da diese in einem hohen Stockwerk in einem Haus ohne Fahrstuhl wohnen und sie die Treppen nicht mehr schaffen; »[l]iving with legs that hurt when walking does not only invite a person to make sense and give meaning to his or her new situation, but it is also a practical matter« (Mol 2002: 15). Der Fokus auf die Praxis ermöglicht es also, unterschiedliche Arteriosklerosen sichtbar zu machen; die Arteriosklerose der Erkrankten ist verwoben mit ihren schwachen Körpern, Blutgefäßen, Treppenhäusern, Einkaufswagen etc. Der Hausarzt hingegen stellt eine andere Arteriosklerose her: er produziert sie, indem er sich die Geschichten der Patienten anhört, Fragen dazu stellt, in der Patientenakte nach Ereignissen sucht, die relevant sein könnten, den Puls fühlt, die Farbe der Haut beurteilt etc. Die vom Hausarzt hergestellte Arteriosklerose ist folglich verwoben mit der Patientenakte, der Fragetechnik, dem gefühlten Puls, dem Blutdruck75

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messgerät etc. Und ebenso ist eine dritte Arteriosklerose – die des Pathologen – mit dem Mikroskop verwoben, welche Blutzellen, Gefäße, innere Schichten der Lymphgefäße und dergleichen sichtbar und damit existent macht. »When they talk bodies, doctors switch. Sometimes they add ›under a microscope‹ or some equivalent of that. Sometimes they don’t. My ethnographic strategy hinges on the art of never forgetting about microscopes. Of persistently attending to their relevance and always including them in stories about physicalities. It is with this strategy that disease is turned into something ethnographers may talk about. Because as long as practicalities of doing disease are part of the story, it is a story about practices. A praxiography.« (ebd: 31)

Auch viele Arbeiten der klassischen Akteur-Netzwerk-Theorie können in gewisser Hinsicht als praxiographische Arbeiten ausgelegt werden. Latour und Woolgar zum Beispiel verfolgten in der oben zitierten Studie zum Neurohormon TRH eine ähnliche Forschungsstrategie wie Mol. Auch sie haben Technologien wie Mikroskope oder andere im Prozess der Faktengenerierung anwesende Objekte mitberücksichtigt. Mol hingegen würde argumentieren, dass praxiographische Arbeiten fluids und keine Netzwerke aufzeigen. Wohingegen letztere Metapher eher stabile Relationen zwischen verschiedenen Elementen betont und die von machtvollen Akteuren unternommenen Translationsprozesse beschreibt, fokussiert sie die koexistierenden, multiplen Arteriosklerosen, die Formund Strukturlosigkeit von Objekten und deren permanente Mutation. Auch wenn sie unterschiedliche Facetten in materiell-semiotischen Phänomenen betonen, so kann festgestellt werden, dass Mol und Latour dahingehend ähnliche Forschungen betreiben, als dass sie ähnliche Forschungsstrategien verfolgen: ihr Fokus auf Praxis ermöglicht ihnen, ontologisch unterschiedliche Elemente sichtbar zu machen und im Prozess der Interpretation und Analyse zu berücksichtigen. In diesem Fokus auf Praxis, so erwähnen es sowohl Latour als auch Mol, reflektieren sie einen von den Ethnomethodologen inspirierten Forschungsansatz. Dieser soll im Folgenden etwas genauer erörtert werden und somit die Diskussion um theoretische Auswege aus dem Soziodeterminismus an dieser Stelle abgeschlossen werden. Die Diskussion der forschungspraktischen Auswege aus dem Soziodeterminismus erfolgt vor allem deshalb, da die Arbeiten der ANT vielfach dafür kritisiert wurden, dass eine ausführliche Methodenreflektion in diesen nicht unternommen wurde und von daher intransparent blieb, wie konkret geforscht wurde. Dieser Punkt ist umso erstaunlicher, als dass selbst wichtige Vertreter der ANT darauf aufmerksam gemacht haben, dass eine 76

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Hinterfragung der angewandten Methoden wichtig sei, weil durch Methoden Wahrheiten koproduziert würden (Law 2006). Aussagen über den Zusammenhang zwischen Nikotinkonsum und Lungenkrebs zum Beispiel wurden durch die in den Studien benutzten statistischen Instrumente, Methoden und Vorannahmen koproduziert. Was für die Epidemiologie gilt, gilt jedoch auch für die europäische Ethnologie. Auch sozialwissenschaftliche Forschungen schaffen Ordnungen in einem Feld, das eigentlich unordentlich ist. Mit Hilfe von Frage- und Beobachtungstechniken werden spezifische Wahrheiten produziert, indem bestimmte Dinge präsent und andere Dinge abwesend gemacht werden. Wenn im Folgenden die von den Ethnomethodologen vorgeschlagenen Methoden vorgestellt werden, dann wird in gewisser Hinsicht nachgereicht, von welchem Forschungsansatz Latour, Mol et al. angaben, inspiriert gewesen zu sein. Es wird sich jedoch zeigen, dass nicht alle der just diskutierten Thesen, Konzepte und Ansätze der ANT in dem von den Ethnomethodologen erarbeiteten Werkzeugkasten erkennbar werden. Von daher wird im Folgenden teilweise recht kleinteilig dargelegt werden, welche Erweiterungen unternommen werden müssen, um das zu betreiben, was man vor dem Hintergrund der bis hierhin dargelegten epistemologischen Fundierung der ANT als eine materiell-semiotische Ethnomethodologie bezeichnen könnte.

Die Ethnomethodologie Die zentrale Frage der von Harold Garfinkel (1967) im Wesentlichen gegründeten soziologischen Theorie ist die nach der Entstehung von Struktur in Handlung. Die wesentlichen von ihm und anderen begründeten Konzepte, Begriffe und Thesen beleuchteten somit die Annahmen aus Parsons’ Strukturfunktionalismus (1951) auf der Mikroebene. Parsons ging davon aus, dass gesellschaftliche Phänomene mittels eines systemtheoretischen Modells erklärt werden können und konzeptionalisierte seinen Kritikern zufolge den einzelnen Handelnden quasi als einen »Beurteilungstrottel« (Bergmann 1988: 20), weil dieser nicht anders könne, als sich auf bestehende Strukturen hin zu konstituieren. Die in den neueren Science & Technology Studies wiederentdeckten Sozialwissenschaftler der interpretativen Sozialforschung – wie Garfinkel, Mead und andere – betonen einen weit kreativeren Handlungsprozess und belegen in diversen Studien zur Mikroebene, wie Strukturen, Bedeutungen, Annahmen zur Beschaffenheit der Welt etc. im alltäglichem Handeln hergestellt, reproduziert oder verändert werden. Auf Grundlage der Phänomenologie Alfred Schütz’ entwickelt Garfinkel die Annahme, 77

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»dass es in jedem sozialen Gebilde (ethnos), sei es eine Gruppe, ein soziales Milieu oder die Gesellschaft insgesamt, typische Methoden gibt, mit denen die Individuen ihren Alltag bewältigen und eine gemeinsame Wirklichkeit konstruieren« (Abels 2007: 117). Ziel der Ethnomethodologen ist es, in kleinteiliger Analyse zu rekonstruieren, wie diese Wirklichkeit in sozialer Interaktion hergestellt wird. Ähnlich wie im Konzept des fluids betonen diese Forschungen die Kontingenzen und Instabilitäten von bestimmten Entitäten, da verdeutlicht wird, dass es sich bei bestimmten Handlungen nicht schlicht um Kopien von zuvor unternommenen Aktivitäten handelt, sondern um stets neu hergestellte, nie ganz identisch ablaufende (vgl. Busse 1991: 91). Wichtiger als die diversen Facetten der Ethnomethodologie sind im Kontext dieser Arbeit die von diesen Sozialwissenschaftlern erarbeiteten Vorschläge zu Frage- und Analysestrategien, welche, im Vergleich zu Mol et al., häufiger explizit dargelegt und detailreicher diskutiert wurden. Garfinkel selbst hat Rahmenempfehlungen und Vorschläge geliefert, wie Feldnotizen verfasst und analysiert werden könnten (1967). Andere wichtige Vertreter der Ethnomethodologie haben dies weiterentwickelt und spezifiziert – zum Beispiel für die Analyse von Bildmaterialien (Goffman 1976). Das Forschungsdesign der im nächsten Kapitel unternommenen Studie geht zurück auf das von den Ethnomethodologen Robert Emerson, Rachael Fretz und Linda Shaw verfasste Methodenbuch »Writing Ethnographic Fieldnotes« (1995), dessen Vorschläge in dieser Arbeit maßgeblich reflektiert wurden, um eine systematische und einigermaßen transparente Praxiographie zu betreiben. Im Folgenden sollen die für diese Arbeit übernommenen Vorschläge dargestellt werden, um zu verdeutlichen, wie die im nächsten Kapitel dargelegten Ergebnisse dieser Forschung entstanden sind.

Welche Daten wurden erhoben?6 Der im Folgenden vorgestellte Fragenkatalog, welchen ich ausgedruckt und mit Leerfeldern versehen bei mir trug und in entsprechenden Situationen mit Notizen füllte, spiegelt einige der von Ethnomethodologen unterbreiteten Vorschläge über die Art von empirischen Daten wider, die erhoben werden sollten: Unter Erste Eindrücke fixierte ich – auch im Vergleich zu vorab festgehaltenen Vorannahmen – persönliche und spontan aufkommende Impressionen zu Gerüchen, Farben, Equipment, Umgebung, Leuten etc. Besonderes Augenmerk sollte hierbei auch auf

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Eine relativ ausführliche Beschreibung des Ortes, an dem die Daten erhoben wurden, erfolgt in der Einleitung zum dritten Kapitel dieser Arbeit.

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Überraschungen gerichtet werden, das heißt auf Vorkommnisse, die mir seltsam vorkamen, zum Beispiel auf Grundlage jener Vorannahmen oder Erzählungen anderer. Unter Unsicherheiten subsumierte ich, wann im Feld welche Unsicherheiten auftraten und welche Strategien bereitlagen oder Taktiken erarbeitet wurden, um diese zu überwinden. Unter Unsicherheiten wurden hierbei irgendwelche, auch kleinere die Routine störenden Situationen verstanden, die Bedenken aufgrund von spontaner Verwirrung, Unwissen, der Einzigartigkeit des Ereignisses etc. hervorriefen. Ein »Huch, was ist denn hier?« war diesem Verständnis zufolge schon eine Unsicherheit. Diese Szene wurde so lange möglichst detailgetreu verfolgt, bis eine Aufklärung für das Ereignis vorlag: »Ach so, verstehe – das ist nur…«. Unter Dies scheint wichtig ordnete ich Dinge unter, die von den Gewährsleuten auf irgendeine Art und Weise betont wurden – zum Beispiel Klatsch oder außergewöhnliche Beispiele und Erzählungen, starke emotionale Reaktionen, worüber gelacht und über was sich beschwert wurde. Für die Kategorie Bedeutungen konzentrierte ich mich auf Situationen, in denen die Bedeutung des beobachteten Ereignisses erklärt wurde. Zum Beispiel wurde hierfür festgehalten, wie bestimmte beobachtete Ereignisse anderen Personen im Nachhinein und in meinem Beisein erklärt wurden oder welche Theorien für bestimmte Phänomene gegeben wurden. Schließlich wurden in dem Leerfeld Interaktionen die Szenen festgehalten, in denen auf die spezifische Beziehung zwischen einzelnen beobachteten Akteuren sowie zwischen den beobachteten Akteuren und mir als Forscher geschlossen werden konnte. Eine Aussage wie »Ist das überhaupt interessant für Sie?« lässt zum Beispiel darauf schließen, dass die beobachtete Person unsicher im Umgang mit mir war und evtl. vermutete, dass sie meine Zeit verschwende. Zugleich verdeutlicht es, dass die Anwesenheit meiner Person in dieser Situation reflektiert und somit relevant gemacht wurde. Beim nachträglichen Ausformulieren der Feldnotizen wurden die im Feld schnell in die Leerfelder eingetragenen Notizen ausformuliert und der Kontext der Situationen wieder stärker in den Vordergrund gerückt. Dem Paradigma der Ethnomethodologen folgend wurde somit vertreten, dass es nicht reicht, zu wissen, wann welche Unsicherheiten auftraten, worüber getratscht wurde, welche Interaktionsmuster beobachtet werden konnten, sondern wann und wo, in welchem Kontext und unter welchen besonderen Umständen diese auftauchten.

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Auf welche Weise wurden die beobachteten Daten schriftlich fixiert? Ebenso den Vorschlägen der Ethnomethodologie folgend war es mir wichtig, die beobachteten Ereignisse und Prozesse nicht zu deuten oder zu interpretieren, sondern das tatsächlich Beobachtete festzuhalten. Der Fokus richtet sich auf Aktionen, nicht auf das, was die Aktionen bedeuten könnten. Anstatt zum Beispiel zu schreiben, »die Person XY schaute genervt«, was eine Interpretation des Gesichtsausdrucks bedeuten würde, wurde geschrieben, »die Person XY rollte mit den Augen und schüttelte dabei den Kopf«, was lediglich die Aktion beschreibt und hinterher eventuell uminterpretiert werden kann. »Indeed, verbatim quoting, along with accompanying gestures and facial expressions, is one of the most effective means of portraying a person’s views« (Emerson, Fretz et al. 1995: 57). Auch Annemarie Mol hat in ihren oben zitierten Studien darauf geachtet, zur Beschreibung der beobachteten Aktualisierung von Arteriosklerose Aktionsvokabular zu benutzen: die Pathologen schauen in das Mikroskop, der Hausarzt fasst an die Beine und fühlt den Puls, der Patient berichtet von Problemen beim Gehen etc. In der Beschreibung dieses praktischen Handelns steckt wenig Wertung oder Interpretation des Beobachteten, sondern lediglich das, was passiert und gemacht wird. Andere von Ethnomethodologen gegebene Hinweise, wie dies konkret erreicht werden könnte, wurden im Kontext der für diese Arbeit geführten Praxiographie verfolgt. Goffman (1989: 131) hat vorgeschlagen, dass, um Abstraktionen zu vermeiden, üppige oder ausgedehnte Beschreibungen unternommen werden sollten und dabei möglichst viele Adjektive und Adverbien benutzt werden sollten, um viele Details wiedergeben zu können – zum Beispiel »details present color, shape, and size to create visual images; other details of sound, timbre, loudness, and volume evoke auditory images; those details describing smell or fragrance recreate olfactory images; and details portraying gestures, movements, posture, and facial expressions convey kinetic images« (Emerson, Fretz et al. 1995: 69).

Die Benutzung von vielen Adjektiven soll auch helfen zu vermeiden, vermeintlich Klares zu behaupten oder Stereotypen zu reproduzieren. Anstatt im Feldtagebuch von »Gewichtsanstiegen« zu schreiben, wurde von »über längere Strecken waagerecht verlaufende, dann plötzlich ansteigende Kurven zwischen x- und y-Achsen« geschrieben. Ich machte keine Notizen zu schwer lesbaren EKG-Bildern, sondern zu unregelmä-

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ßig verlaufenden, zackigen Linien, die auf spezifische Weise bearbeitet wurden, um lesbar gemacht zu werden. Um zu garantieren, dass bestimmte Fachausdrücke, Wortkombinationen, Erzählstrukturen etc. möglichst genau wiedergegeben werden, lief während der Phase der teilnehmenden Beobachtung ein Aufnahmegerät. Diese Audiodokumente wurden hinterher transkribiert, wobei jedoch in dieser Übersetzung lediglich verbale Verhaltensmerkmale dokumentiert wurden und hierbei Dialekte, Silbendehnungen, die Länge der Pausen, Hörerrückmeldungen und Stimuli etc. ignoriert wurden. Dieses Vorgehen zeichnet sich zwar nicht durch ein Höchstmaß an erzielbarer Genauigkeit aus, schien mir jedoch im richtigen Verhältnis zur Fragestellung zu stehen (Kowal und O’Connell 2000). Zusätzlich zu den transkribierten Daten wurden im Nachhinein, sofern ich mich an die Situation erinnern konnte, zusätzliche Details wie Gesichtsausdruck, Gesten, dabei unternommene Taten und dergleichen dokumentiert. Die transkribierten und mit den zusätzlichen Informationen versehenen Audiodokumente wurden in digitalen Textverarbeitungsprogrammen gespeichert (MS Office) und im weiteren Verlauf digital analysiert (Atlas.ti).

Wie wurden die Daten analysiert? Zur Auswertung des empirischen Materials wurden drei Analyseverfahren angewandt: zunächst mehr oder weniger grobe Voranalysen, eine insbesondere der Anselm Strauss folgenden Strategie der grounded theory; und schließlich eine Erweiterung dieser konventionellen Form von grounded theory – Situational Analysis. Letztere Analysemethode soll jedoch nicht hier, sondern im vierten Kapitel dargelegt werden, da für Situational Analysis auch Ansätze des symbolischen Interaktionismus und Pragmatismus reflektiert werden, die auch weiter unten vorgestellt werden sollen (siehe Seite 150ff). In der Voranalyse wurden zwei Verfahren angewandt, die sich als Randkommentare und »In-Process-Memos« bezeichnen lassen. Bei Randkommentaren handelte es sich um kurze Reflexionen über das Erlebte, die nicht in die oben beschriebenen Arten und Weisen der Datendokumentation passten. Typische Randkommentare begannen mit »an dieser Stelle habe ich nicht ganz verstanden, warum…« oder »im Nachhinein habe ich mich hier noch geärgert, weil…«. Im Ansatz handelte es sich bei diesen Randnotizen also um eine Form des theoretischen Samplings (Glaser und Strauss 1967), da darüber reflektiert wurde, welche Daten sinnvollerweise demnächst eingeholt werden, um ein bestimmtes Phänomen noch besser zu verstehen.

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Bei den sogenannten »In-Process-Memos« handelte es sich um im Moment der Transkription schriftlich fixierte Interpretationen, theoretische Notizen oder Erklärungsansätze, das heißt um Textpassagen, die über die Verschriftlichung des Gesprochenen und die reine Beschreibung des Erlebten hinausgingen. Mit anderen Worten, beim Verfassen von »In-Process-Memos« wurde eine Auszeit vom Prozess der Transkription und Beschreibung genommen, und ich habe Aspekte notiert, die in diesem Moment und für einen späteren Zeitpunkt (empirisch oder theoretisch) als interessant empfunden wurden. Typische »In-ProcessMemos« begannen mit: »Dieser Punkt ist interessant, denn er verdeutlicht…«, oder »diese Formulierung ist ein Indiz dafür, dass…«. In seiner Rezeption über die in der Strauss’schen Version von grounded theory vorgeschlagenen Methode des »Memoing« definiert Strübing den Unterschied des Verfassens analytischer Memos und dem Ethnographieren wie folgt: »Anders […] als in der Ethnographie zielen Strauss u. a. mit ihrem Credo für das Schreiben von ›Memos‹ nicht auf das Produzieren von Daten ›im Feld‹, sondern auf die Unterstützung von Prozessen der Datenanalyse im Verlauf des Kodierens« (Strübing 2004: 33). Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden beide Verfahren in der Voranalyse (das heißt also auch noch nicht im Prozess des Kodierens) im verschriftlichten Transkript farblich anders markiert und im weiteren Verlauf anders analysiert. Die eigentliche Analyse der erhobenen Daten erfolgte mit der von Strauss und Glaser gegründeten Analysemethode grounded theory. Da jedoch oft moniert wird, dass hinter »dem lapidaren Hinweis, nach ›Glaser und Strauss zu arbeiten‹ […], häufig qualitativ und konzeptionell unterschiedliche Vorgehensweisen« (Dausien 1996: 94) stehen, wird im Folgenden spezifiziert, was genau darunter verstanden wird. Es kann vorausgeschickt werden, dass aus mehreren Gründen die Analysestrategie von Strauss gewählt wurde. Zunächst lag das in einem Verständnis von »theoretischer Sensibilität« begründet, die näher an das Konzept von Strauss und Corbin kommt als an das von Glaser. Insbesondere in ihren späteren Werken verdeutlicht sich, dass sich nach Strauss und Corbin theoretische Sensibilität zusammensetzt aus »Literaturkenntnissen, beruflichen und persönlichen Erfahrungen und aus den Erkenntnissen […], die im Rahmen des laufenden Forschungsprojektes gewonnen werden« (Truschkat, Kaiser-Belz et al. 2007: 237). Glaser hingegen betont, dass relevante Kategorien aus dem Feld gewonnen werden sollten und nicht zu sehr durch vorab studierte Literatur, seien es Theorien oder Texte zum Untersuchungsgegenstand, geprägt werden sollten (1992). Davon abgesehen, dass Glasers Konzept fundamental den oben genannten Erkenntnissen der jüngeren Science & Technology Studies wider82

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spricht (da diese betonen, dass Erkenntnis ohne Vorprägung oder Vorwissen gerade nicht möglich ist), ergab sich im Kontext dieser Arbeit der besondere Fall, dass meine vorab unternommenen Literaturrecherchen zum Untersuchungsgegenstand als auch meine Zugehörigkeit zu einem Forschungsprojekt mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse meine gestellten Fragen maßgeblich mit beeinflussten (siehe hierzu Danksagung S. 24). Dass Strauss’ Version von grounded theory in der pragmatistischen Philosophie verankert ist, war der zweite Grund für die Auswahl der von ihm vorgeschlagenen Analysemethode (dieser Punkt wird ebenso im vierten Kapitel ausgeführt – siehe S. 150ff). Strauss und Corbin entwickelten drei Stufen des Kodierens, die sie offenes, axiales und selektives (oder diskriminierendes) Kodieren nannten. Diese drei Kodierungsstufen sollen hier nur grob umrissen werden, da sie an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden (Denzin und Lincoln 1994; Strauss und Corbin 1997; Strauss und Corbin 1998). Da Strauss und Corbin immer wieder betonten, dass es sich bei den von ihnen entwickelten Auswertungsmethoden um Vorschläge und nicht streng einzuhaltende Regelwerke handele, spezifiziere ich die Analyseverfahren insbesondere an den Stellen, wo ich eigene Strategien erarbeitet habe. Von mir kreierte offene Kodes bezogen sich entweder auf von Gewährsleuten geäußerte einzelne Wörter, Wortkombinationen, Sätze oder Absätze. Sie wurden benutzt, um das geäußerte Phänomen in ein dieses Phänomen abstrahierendes Wort zu übersetzen. Da dieser Prozess über Atlas.ti – also einem speziell dafür entwickelten Datenanalyseprogramm – erfolgte und es darin gelingt, mit wenigen Handgriffen einen neuen Kode zu kreieren, gab es entsprechend viele dieser offenen Kodes nach ein paar Analysestunden. Die kreierten Kodes wurden des Weiteren definiert, das heißt, es wurde eine kurze Beschreibung gegeben, was unter diesem Kode subsumiert werden soll. Manchmal wurden diese Definitionen erweitert oder spezifiziert, was dann dokumentiert wurde, so dass eine nachvollziehbare Geschichte zu den Kodes vorlag. Ziel des nächsten Kodierungsprozesses, dem axialen Kodieren, ist es, ein höheres Abstraktionsniveau zu erreichen, indem Kategorien entwickelt werden, oder vereinfacht ausgedrückt: Kodes, die sich auf Kodes und nicht direkt auf empirisches Datenmaterial beziehen. Unter verschiedenen Vertretern der grounded theory gibt es einen Streit darüber, ob diese Kodes in ein vorgefertigtes Kategoriensystem eingefügt werden sollen. Für diese Arbeit wurde aus forschungspraktischen und erkenntnistheoretisch geleitetem Interesse wieder die Strategie Strauss’ et al. verfolgt, das heißt, es wurde auf die von ihm entwickelten sowie von Bogdan und Biklen (1992) teilweise weiterentwickelten Kode-Rubriken zurückgegriffen. Dies geschah jedoch unter besonderer Berücksichti83

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gung der oben rekonstruierten Geschichte der jüngeren Science & Technology Studies und wurde von daher für die besonderen Zwecke dieser Arbeit weiterentwickelt. Insgesamt wurden sechs axiale Kodes oder Kategorien angefertigt, die im Folgenden erläutert werden: Handlungs-Kodes beziehen sich auf routinierte Tätigkeiten der begegneten Gewährsleute oder, genauer, auf die die immer wiederkehrenden Arbeitsschritte des angetroffenen Pflegepersonals. Da Handlungs-Kodes, wie oben erörtert, nicht a priori nur menschliches Handeln umfassen müssen, wurden Aktanten-Kodes verwendet, um auf die Handlungsträgerschaft von Dingen – insbesondere die spezifischen, in telemedizinischen Zentren verwendeten Werkzeuge – zu fokussieren und die durch sie erledigten oder an Personen delegierte Aufgaben zu beleuchten. Ereignis-Kodes bezeichnen ferner außergewöhnliche Geschehnisse, die die Arbeitsroutinen auf irgendeine Art und Weise herausforderten: beobachtete Unsicherheiten irgendeiner Art wurden zum Beispiel hierunter subsumiert. Werte-Kodes, oder das, was von Bogdan und Biklen als Situationsdefinitionskodes bezeichnet wurde, beziehen sich auf dargebotene Wert- oder Moralvorstellungen, wie beispielsweise den Wert der Gesundheit, den Wert von vermiedenen Hospitalisierungen, oder den Wert des Lebens im Eigenheim. Die Idee hinter Konsequenzen-Kodes wird im vierten Kapitel noch ausführlicher erläutert. An dieser Stelle sei vermerkt, dass es sich hierbei um die bestimmten Ereignissen oder Moralvorstellungen folgenden Tätigkeiten – die Konsequenzen – handelt. Schließlich reflektieren Interaktions-Kodes die Aussagen und Beobachtungen über Beziehungs- und Handlungsmuster zwischen angetroffenen Personen. Auch der Begriff der Interaktion wird im vierten Kapitel dieser Arbeit erörtert. Nach Strauss et al. sollte sich im dritten Kodierungsprozess – dem des selektiven Kodierens – eine Kernkategorie herausbilden, zu welcher alle anderen Kategorien in Beziehung gesetzt werden können. Dieser Schritt der Theorieentwicklung wurde in dieser Forschung zwar auch unternommen, jedoch nicht derart weitreichend wie vorgeschlagen. Das heißt im Wesentlichen, dass die von Strauss vorgeschlagenen Dimensionalisierungskategorien nicht angewandt wurden, vor allem, weil sie zu sehr dem Anliegen widersprachen, Kontingenzen und Unordentlichkeiten zu betonen. Strauss erhob für seine Studien den Anspruch, Vorhersagen zu liefern und zum Beispiel aussagen zu können: »Unter diesen Bedingungen (Auflistung) passiert das und das; während unter anderen Bedingungen das und das eintritt« (Strauss und Corbin 1999: 110). Auch wenn zum Beispiel das im fünften Kapitel generierte Konzept des Präventiven Selbst und des Praeventiven.Selbst++ eine Konsequenz des selektiven Kodierens ist, erreicht es weniger als zum Beispiel das Konzept 84

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»Bewusstseinskontext« (Glaser, Strauss et al. 1995). Die von mir konstruierten Konzepte eignen sich nämlich nicht, um Vorhersagen oder generalisierte Aussagen zu bestimmten Patiententypen machen zu können. Da, wie beschrieben, die Analysearbeit in Atlas.ti – einem dafür eingerichteten Analyseprogramm – erfolgte, soll abschließend eine kurze reflexive Notiz dazu verfasst werden: Während einige betonen, dass Atlast.ti kreativere, schnellere und evtl. auch komfortablere Analysemethoden ermöglicht (z. B. Konopásek 2007), sei auch auf die Gefahren hingewiesen: Zunächst besteht die Gefahr, in der Analyse nur so weit zu gehen, wie von den Softwareherstellern ermöglicht. Werden unkritisch nur die von dem Programm bereitgehaltenen Funktionen benutzt, verkommt die Analyse allzu leicht selbst zu einem automatisierten und wenig reflektierten Prozess. Des Weiteren sollte bedacht werden, dass durch in einem Computerprogramm unternommene Analysen – aus denen man mit »Alt + Tab« problemlos ins E-Mail-Programm, den Internetbrowser oder ähnliche Dienste gelangen kann – andere Ergebnisse produziert werden können als durch eine Analysetechnik, die darauf baut, viele ausgedruckte Seiten auf großen Tisch- oder Bodenflächen mit unterschiedlichen Farbstiften zu durchforsten. Es geht dabei nicht nur um die Gefahr der Ablenkung, sondern auch, der Argumentation Mols folgend, um eine andere Form der Aktualisierung empirischer Daten durch – zum Beispiel – das Einholen von Begriffsdefinitionen oder Hintergrundinformationen über Internetsuchdienste. Davon abgesehen, dass in Computerprogrammen andere Möglichkeiten der Verlinkung von Kodes, der Korrektur oder Ergänzung verfasster Memos, des gleichzeitigen Aufschlagens mehrerer Primärdokumente etc. bestehen. Kurz, es sollte bedacht werden, dass erhobene Daten mit Hilfe unterschiedlicher Medien unterschiedlich analysiert und entsprechend unterschiedliche Wahrheiten über diese produziert werden können (vgl. hierzu auch Hirschauer 2001).

Zusammenfassung Dieses mit »Theoretische und forschungspraktische Wege aus dem Soziodeterminismus« überschriebene Kapitel diente zum einen als eine theoretische und forschungspraktische Überleitung vom ersten eher diskursanalytisch gehaltenen Teil zur im nächsten Kapitel unternommenen Praxiographie in einem telemedizinischen Zentrum. Die Rekonstruktion der jüngeren Geschichte der Science & Technology Studies – von Strong Programme zu Akteur-Netzwerk-Theorie oder gar »After ANT«Ansätzen – hatte zum Ziel, neuere prozessuale und relationale Ansätze 85

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zu diskutieren und somit weiterreichende und vielleicht radikalere Ansätze als die der sociology of expectations anzuwenden. Es sollte verdeutlicht werden, dass es sich diesen neueren Ansätzen zufolge sowohl beim Fokus auf Erwartungen als auch auf Interessen oder der Annahme klar definierbarer Akteure – Krankenkassen, Staat, Ärzteorganisationen etc. – den Vertretern der Akteur-Netzwerk-Theorie zufolge um Ansätze handelt, die essenzialisieren. Diese Essenzialisierung kommt vor allem dadurch zustande, dass davon ausgegangen wird, dass diese Entitäten stabil und singulär sind. Studien der Akteur-Netzwerk-Theorie betonen hingegen, dass weder Menschen, noch Werkzeuge, noch übergeordnete Begriffe wie Kultur oder Natur angemessene Termini sind, da diese nicht a priori vorausgesetzt werden können. Sogenannte After-ANTAnsätze haben diese Fokussierung auf Verflechtungen und Instabilitäten in gewisser Hinsicht noch ausgeweitet und mit ihrem Fokus auf »Aktualisierungen« die ontologische Wirksamkeit von Praxis zentral gestellt. Im letzten Teil dieses Kapitels wurde auf die Arbeit und die Vorschläge von Vertretern der interpretativen Sozialforschung zurückgegriffen, um konkrete Werkzeuge darzulegen, mit denen Aktualisierungen analysiert werden können. Die dem zugrunde liegende These lautete, dass insbesondere die von vielen Ethnomethodologen kreierten Fragetechniken und Vorschläge zum Verfassen von empirischen Daten angemessen erscheinen. Die Techniken der grounded theory zur Analyse dieser Daten erwiesen sich als sinnvolle Ergänzung, die auch mit den epistemologischen Fundierungen von Ethnomethodologie und neuerer Science & Technology Studies (wie es im vierten Kapitel noch zu zeigen sein wird) übereinstimmen. Im nächsten Kapitel werden diese Methoden in der Praxiographie eines telemedizinischen Zentrums angewandt und die dabei gebildeten Kategorien auf die hier diskutierte Frage- und Analysetechnik zurückzuführen sein.

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Die Mikropolitik technow issenschaftlicher Ges undheits sys te me

Telemedizinische Zentren wurden vor dem Hintergrund ganz spezifischer Probleme des Gesundheitswesens eingerichtet. Hierunter fallen eine spezifische demographische Entwicklung, in der der Anteil Älterer zunimmt und die Anzahl derjenigen, die in die Versicherungssysteme einzahlt, abnimmt; ein teilweise damit zusammenhängender Anstieg chronischer Erkrankungen und ein definitiv mit all dem (und weiteren Entwicklungen) zusammengebrachtes Kosten- und Finanzierungsproblem. Diese und viele andere entdeckte Trends markieren den Ausgangspunkt vieler in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen initiierten Projekte oder Programme. Wenn erwartet wur-de, dass in telemedizinischen Zentren der Krankheitsverlauf insbesondere älterer Menschen positiv beeinflusst werden kann, dann wurde ebenso angenommen, dass in telemedizinischen Zentren diese Herausforderungen des Gesundheitswesens zumindest teilweise bewältigt werden können. Telemedizinische Zentren sind aus zwei Gründen politisch: Zum einen sind sie die Konsequenz solcher Zukunftsszenarien und Problemlösungsstrategien von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen. Zum anderen sind sie politisch, da die darin unternommenen Handlungen diverse Akteure tangieren. In telemedizinischen Zentren bilden oder reproduzieren sich zum Beispiel spezifische Beziehungen zwischen pflegerischem und medizinischem Personal – sogenannten Teleschwestern und Ärzten. Deren Entscheidungen über Gesundheitszustand und Krankheitsverlauf betreffen zudem Patienten. Auch diese befinden sich in bestimmten (hierarchischen) Verhältnissen zu dem sie betreuenden Perso87

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nal. Damit gehen neue Anforderungen einher, die sie erfüllen müssen, und es entstehen auf Patientenseite neue Erwartungen darüber, was medizinische und pflegerische Betreuung leisten muss. Kurz, in telemedizinischen Zentren entstehen neue Machtverhältnisse (vgl. Foucault 1994: 255) In diesem Kapitel werden die Arbeiten von Teleschwestern beschrieben und somit verdeutlicht, wie diese und andere Aspekte in der Praxis ausgehandelt werden. Denn Teleschwestern, so wird sich zeigen, übernehmen viele der zentralen Aufgaben in telemedizinischen Zentren: sie kommunizieren mit Ärzten und Patienten, machen erste Diagnosen, dokumentieren Erfolge und Misserfolge für Krankenkassen und vieles mehr. Vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel vorgestellten Akteur-Netzwerk-Theorie werden telemedizinische Zentren hier als soziotechnische Netzwerke verstanden, in welchen sich diverse, ontologisch unterschiedliche Elemente verschränken: zum Beispiel Menschen, technische Artefakte, Diskurse etc. Indem diverse Arbeiten von Teleschwestern in soziotechnischen Netzwerken und sich dabei bildende oder reproduzierende Beziehungen untersucht werden, wird eine Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme diskutiert. Im ersten empirischen Abschnitt dieses Kapitels wird untersucht, wie telepflegerisches Personal dieses soziotechnische Netzwerk stabilisiert. Hierfür wird, in Anlehnung an das Translationskonzept von Michel Callon, untersucht, welche Rollen und Funktionen Teleschwestern verschiedenen, in die telemedizinische Infrastruktur einzufügenden Entitäten zuteilen und was sie unternehmen (müssen), damit die Entitäten diese tatsächlich akzeptieren. Im zweiten Abschnitt soll untersucht werden, welcher Körper in telemedizinischen Zentren durch welche Technologien und Handlungen sichtbar gemacht wird. Diese Frage folgt Annemarie Mols Vorhaben »to theoriz[e] medicine’s ontological politics: a politics that has to do with the way in which problems are framed, bodies are shaped, and lives are pushed and pulled into one shape or another« (Mol 2002: viii). Konkreter formuliert: es soll untersucht werden, welche Wahrheiten über den Patientenkörper unter anderem durch im Computerprogramm hinterlegte Eigenschaften produziert werden. Es wird gefragt, welche spezifischen Patientengeschichten Graphen zwischen x- und y-Achsen und Zahlen in Tabellen erzählen. Und es soll gezeigt werden, dass in telemedizinischen Zentren ein Zahlenkörper, ein Normenkörper, ein Körper mit verschiedenen Zeithorizonten und ein Körper mit einer spezifischen Topographie erstellt wird. Wenn daraufhin gezeigt wird, dass der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper ein »globales Phänomen« ist, dann werden damit 88

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auch jene mikropolitischen Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme angesprochen: Der Körper, so wird sich zeigen, ist verteilt auf einen medizinischen Lehrbuchkörper, einen rationalen, ärztlichen Blick, auf mechanistische Konzeptionen des Herzens, auf epidemiologische und gesundheitsökonomische Studien und vieles mehr. Allerdings enthüllt der Fokus auf die Aktualisierungen dieses Körpers auch Inkonsistenzen: Telemedizinische, oder genauer, telepflegerische Praxis wird auf der einen Seite zwar determiniert von technokratischen Machtpraktiken und »Vorschreibeapparaten« (Foucault 1989: 36), dennoch entstehen auch hier neue Handlungsräume und Versorgungsmöglichkeiten. Bevor diese Fragen auf Grundlage von in teilnehmenden Beobachtungen gesammeltem empirischem Material diskutiert werden, sollen im nächsten Abschnitt andere sozialwissenschaftliche (und teilweise ethnographische) Arbeiten vorgestellt werden, die ebenso in telemedizinischen Zentren erhobene Daten diskutieren. In einem zweiten, vor dem empirischen Teil behandelten Abschnitt, werden kurz einige Basisinformationen zur Herzinsuffizienz – der von den Teleschwestern in dem hier angetroffenen telemedizinischen Zentrum behandelten Erkrankung – gegeben. Damit geht eine kurze Analyse des Framing von Herzinsuffizienz einher – das heißt, es soll gezeigt werden, wie und warum insbesondere in den letzten zehn Jahren immer mehr Wissen zu dieser chronischen Herzschwächekrankheit akkumuliert wurde.

S t u d i e n z u t e l e p f l e g e r i s c h e n Ar b e i t e n In der letzten Dekade entstanden einige sozialwissenschaftliche Arbeiten, die telemedizinische Zentren in qualitativen Studien erforscht hatten. Die meisten von ihnen widmeten sich dabei ebenso der Untersuchung des Arbeitsplatzes von Teleschwestern, also demjenigen pflegerischen Personal, das in diesen Einrichtungen einen Großteil der Arbeit unternimmt. Der Ausgangspunkt der Studie von Francis Mair, Julia Hiscock und Susan C. Beaton (2008) liegt in einer Faszination für die spezifische Pflege-Patient-Begegnung, die in telemedizinischen Zentren stattfindet. Meist kennen die Schwestern die von ihnen angetroffenen Patienten nicht persönlich, haben sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, sondern begegneten ihnen am Telefon oder entschieden über den aktuellen Gesundheitszustand der Patienten auf der Grundlage der von letzteren übermittelten Daten. In ihrer Forschung gingen die Autorinnen insbesondere der Frage nach, welche Interaktionsformen und -strategien 89

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Teleschwestern erlernen müssen und überprüften, inwiefern diese Anforderungsprofile ihren Einstellungen und Werten als Professionelle entsprechen. Sie interviewten hierfür Pflegekräfte, die Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung betreuten und stellten fest, dass telemedizinische Arbeiten für das Pflegepersonal mehrere Herausforderungen und Probleme bedeuteten: »Communications problems reflected difficulties for the professionals in terms of the interactional workability of the system. The clinical interaction was perceived as being less effective and less satisfying for nurses because communication was inhibited.« (Mair, Hiscock et al. 2008: 112)

Ebenso bemängelten die von Mair et al. angetroffenen Schwestern, dass das durch die elektronische Infrastruktur entstandene Pflegekraft-Patient-Verhältnis »was not ›as good‹ as home visiting and that it affected their relationships with patients in a negative way« (ebd.). Insgesamt empfanden die von Mair et al. angetroffenen Teleschwestern telemedizinische Arbeiten als Bedrohung für die pflegerische Profession und sahen – im Gegensatz zu den Patienten – keinen Vorteil in einer solchen Betreuungsform. Die Forscherinnen schlussfolgerten deshalb, dass, um telemedizinischen Programmen mehr Erfolg zu bescheren, die Bedenken, Werte und Arbeitsethiken von pflegerischem Personal ernst genommen werden sollten. Eine weniger auf Gebrauchstauglichkeit und Benutzerfreundlichkeit fokussierende Studie wurde von Davide Nicolini (Nicolini 2006; Nicolini 2007) unternommen: Er analysierte, ähnlich wie es im Folgenden unternommen werden soll, die telemedizinische »technology-in-use« und wertete dabei die von den Teleschwestern alltäglich praktizierten Arbeiten erheblich auf. Im Fachdiskurs, so monierte er, würden die Arbeiten von Teleschwestern als solche dargestellt werden, die leicht und schnell erledigt werden könnten, die in ein vollends standardisierbares Format gepresst werden könnten und von denen entsprechend erwartet wurde, dass sie rein ausführende Tätigkeiten sind. Nicolini zeigt in seiner Studie jedoch, dass ein erheblicher Teil telepflegerischer Arbeiten darin besteht, die an und für sich perfekte elektronische Infrastruktur (die ermöglichen soll, alles digital abzuarbeiten) mit den höchst kontingenten Gesprächsverlaufen mit Patienten zu versöhnen. Er zeigt zum Beispiel, dass der in der Computersoftware hinterlegte digitale Fragebogen zur Abfrage von relevanten Risikofaktoren in einer logischen Form aufgebaut war, der die Interaktionsmuster zwischen Teleschwester und Patient eigentlich vollends gerecht werden sollte. Zumindest die Entwickler dieser Software waren überzeugt, dass dies die alten Papierfragebögen 90

DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

überflüssig machen würde. Die Teleschwestern des von Nicolini angetroffenen telemedizinischen Zentrums jedoch »preferred using a more loosely structured pattern that helped them in establishing more informal and warm interactions. This meant, however, that once they started to use the EPR [electronic patient record] to keep track of patient’s information while on the phone, nurses had to start ›searching‹ for the appropriate screens in order to input data. This would take some time and required that nurses draw their attention from the patient to attend to such tasks. These very short interruptions of rhythm were however soon picked up by patients, who started to ask whether anything was wrong. They had learned that pauses in the rhythm of the conversation often meant that the nurses had found something wrong and that they were double checking or thinking about it. In response to these emerging difficulties, some nurses reverted back to paper and pencil, and decided to input data after the call.« (Nicolini 2006: 2758)

Diese von den Teleschwestern letztlich also doch handschriftlich erhobenen Daten wurden später bei einer sich bietenden Gelegenheit im Nachhinein in den Fragebogen des Computerprogramms nachgetragen. Andere Teleschwestern wiederum wählten andere Strategien: um jene Verwirrung auf Seiten der Patienten zu vermeiden, kündigten sie den Patienten an, dass sie jetzt kurz still seien, da sie etwas im Computer suchen würden. Wieder andere Teleschwestern machten einen Witz, um den unterbrochenen Rhythmus zu verschleiern. Nicolini nannte diese spezifische Arbeit »repair work« (Nicolini 2006: 2758). Reparierungsarbeiten sind eben solche diversen, von Teleschwestern schnell und situativ ausgeführte Tätigkeiten, die die neuen und fremden Artefakte (Fragebögen, Protokolle etc.) in bestehende Arbeits- und Wissenssettings aufnehmen und routinisieren. Ebenso wie Nicolini hat Nelly Oudshoorn auf der Basis von ihren teilnehmenden Beobachtungen in telemedizinischen Zentren spezifische Aufgabenprofile von Teleschwestern ausfindig gemacht. Sie greift für ihre Analysen auf das von interaktionistischen Forschern hergestellte Konzept der sichtbaren und unsichtbaren Arbeit (Star and Strauss 1999) von Teleschwestern zurück. In einem telemedizinischen Programm, das, ebenso wie das in diesem Kapitel untersuchte, seine Patienten mit einem EKG-Gerät ausstattete, bestand die sichtbare Arbeit der Teleschwestern darin, Patienten in die Gebrauchsweisen dieses Gerätes einzuweisen. Teleschwestern bringen darin Patienten bei, wo sie die Elektroden anlegen sollen, wie sie dabei zu sitzen haben, wie die Übertragung ablaufen sollte etc. Aber es gibt auch diverse unsichtbare Arbeiten, die hierbei anfallen können:

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»An exploration of the work of home-care nurses indicates that the role of the nurses in making this technology work is much broader than that of instructing patients how to use the new technology. Sometimes patients can become very nervous and worried when they realise that they have to operate the ECG recorder themselves. When this happens, nurses have to put quite some effort into comforting and reassuring them that they will be able to master the technology. Other patients make objections when they learn that they have to carry the device day and night. Then nurses have to convince them of the benefits of the new technology by telling the patients how this ECG recorder enables them to produce a continuous registration of their ECG instead of an occasional registration, thus increasing the chance to monitor irregularities of their heart rhythm.« (Oudshoorn 2008: 279)

Eine besonders wichtige unsichtbare Arbeit von Teleschwestern besteht Oudshoorn zufolge in dem, was sie »articulation work« (283) nennt. Indem sie Patienten vergewissern, dass es gut ist, dass EKG-Gerät auch in der Nacht zu tragen, indem sie sie in dem Selbstbewusstsein aufbauen, das Gerät sicherlich leicht bedienen zu können, aber auch in diversen Beruhigungen zum Krankheitsverlauf und zu aktuell erhobenen Werten, findet diese Artikulationsarbeit – die gut gemeinte und aufbauende Unterstützung – statt. All die hier zitierten Arbeiten verweisen schon auf mikropolitische Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme: Sowohl die Arbeit Mairs et al., Nicolinis als auch die Oudshoorns (sowie diverse andere an dieser Stelle nicht näher aufgeführte Arbeiten, u. a. Mort, May et al. 2003; Langstrup and Winthereik 2008) plädieren dafür, die Bedeutung der Rolle des pflegerischen Personals anzuerkennen. Die dahinterstehende politische Aussage lautet, dass in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen allzu häufig davon ausgegangen wird, dass Gesundheitsversorgung kalkulier- und technisch steuerbar ist. Mair et al., Nicolini, Oudshoorn und andere weisen darauf hin, dass sich dies oft schwieriger gestaltet. Leitlinien für Diagnostik und Therapie sowie die Instrumente, die Arbeiten entlang dieser organisieren sollen, so ihre Hinweise, lassen sich mit der tatsächlichen Komplexität pflegerischer und medizinischer Arbeiten nicht leicht in Einklang bringen. Die Betreuung chronisch Kranker, so betonen sie, ist ein offener und kontingenter Prozess, der viele Tätigkeiten erfordert. Bezeichnenderweise fallen in telemedizinischen Zentren insgesamt nicht weniger Arbeiten an. Im Gegenteil, es fallen viele neue Arbeiten an; Arbeiten, die häufig unsichtbar sind (oder unsichtbar gemacht werden), das heißt Arbeiten, die besonders wichtig sind, die jedoch unsichtbar sind »in the clinical record and therefore also to health policy circles in medical education« (Star 1995: 501) 92

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In gewisser Hinsicht – um es in politischem Vokabular auszudrücken – ergreifen diese Arbeiten Partei für die Pflegekräfte. Sie unterstellen, dass es im Diskurs um neue Versorgungsstrukturen einen blinden Fleck gebe, der die diversen neuen Arbeiten, die insbesondere auf Seiten der Teleschwestern anfallen, nicht anerkennt und nicht mit einplant. Insofern reproduzieren sich, so die Kritik, im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem auch etablierte Hierarchien, weil diejenigen Professionen, die auf spezialisiertes und systematisches Wissen zurückgreifen, darin eher planerisch mitgestalten dürfen als diejenigen, in denen Erfahrungswissen, Intuition und situatives Handeln wichtige Aspekte im Arbeitsalltag ausmachen. Mair, Nicolini, Oudshoorn, et al. betonen, dass nicht alle Arbeiten, die wichtig sind, standardisierbar und in technowissenschaftlicher Rationalität operationalisierbar sind. Die im Folgenden entwickelte Perspektive widerspricht nicht dem Standpunkt der just vorgestellten Forschungen. Telepflegerische Arbeiten werden jedoch anders beleuchtet. Mit der Analyse von telemedizinischen Zentren als soziotechnische Netzwerke sollen Teleschwestern als mit anderen Entitäten verwoben betrachtet werden, als – so könnte man es ausdrücken – Teleschwester-Netzwerke. Neben den im zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgestellten theoretischen und methodischen Zielen sollen damit ähnliche Dimensionen in telemedizinischen Zentren untersucht werden. Indem gezeigt wird, welche Stabilisierungsarbeiten Teleschwestern unternehmen, wird skizziert, welche Entitäten andere kontrollieren und wie ausgerechnet Pflegekräfte »obtain the right to express and to represent the many silent actors of the social and natural worlds they have mobilized« (Callon 1986: 221). Wenn daraufhin untersucht wird, welcher an Herzinsuffizienz erkrankte Körper von Teleschwestern behandelt wird, soll dargelegt werden, welche Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme anhand dieser spezifischen Körper sichtbar wird.

Das Framing der Herzinsuffizienz Die Teleschwestern des von mir besuchten telemedizinischen Zentrums betreuten Patienten mit Herzinsuffizienz. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine chronische Herzmuskelschwäche, die verhindert, dass das Gewebe und die Organe des Körpers mit genügend Blut und somit mit genügend Sauerstoff versorgt werden. Genau genommen wird die Herzinsuffizienz nicht als Krankheit bezeichnet, weil sie meist die Folge einer Erkrankung ist. Insbesondere die Arteriosklerose und ein langjähriger, nicht entdeckter oder nicht ausreichend behandelter Bluthochdruck 93

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werden als Auslöser von Herzschwäche genannt. Aber auch Erkrankungen des Herzmuskels oder des Herzmuskelgewebes, seien sie angeboren, durch Entzündungen oder Lebensstilfaktoren (wie Nikotin- und Alkoholkonsum) ausgelöst, gelten derzeit in der Medizin als Verursacher. Als Symptome einer Herzinsuffizienz werden insbesondere Wassereinlagerungen und Atemnot ausgemacht. Wenn die linke Herzkammer von der Herzinsuffizienz betroffen ist, das heißt, wenn der die Lungen und die Haut mit Blut versorgende Kreislauf aufgrund einer Herzschwäche nicht ausreichend funktioniert (man spricht auch von einer Linksherzinsuffizienz), können Patienten Atemnot aufgrund von Wassereinlagerungen in der Lunge spüren. Bei einer Rechtsherzinsuffizienz, das heißt einer Herzschwäche im rechten Herzen, welches die restlichen Organe versorgt, kommt es typischerweise zu Wassereinlagerungen in den Beinen und im Bauchraum. Die Herzinsuffizienz kann als eine typische Begleiterscheinung des Alters angesehen werden. Jeder ältere Mensch hat zu einem gewissen Grad eine Herzmuskelschwäche. Um die Schwere der Erkrankung festzustellen, ist es deshalb üblich, diese in eine der vier der 1928 von der New York Heart Association (NYHA) erarbeiteten Kategorien einzusortieren. Diese vier Stufen – schlicht NYHA I bis NYHA IV genannt – wurden seit ihrer Erschaffung mehrere Male überarbeitet und umformuliert (vgl. hierzu The Criteria Committee of the New York Heart Association 1964; The Criteria Committee of the New York Heart Association 1974). Heute lautet die medizinisch korrekte und folgenreiche Bezeichnung der Stufen NYHA I bis NYHA IV: »NYHA I: Herzerkrankung ohne körperliche Limitation. Alltägliche körperliche Belastung verursacht keine inadäquate Erschöpfung, Rhythmusstörungen, Luftnot oder Angina pectoris. NYHA II: Herzerkrankung mit leichter Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Keine Beschwerden in Ruhe. Alltägliche körperliche Belastung verursacht Erschöpfung, Rhythmusstörungen, Luftnot oder Angina pectoris. NYHA III: Herzerkrankung mit höher gradiger Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit bei gewohnter Tätigkeit. Keine Beschwerden in Ruhe. Geringe körperliche Belastung verursacht Erschöpfung, Rhythmusstörungen, Luftnot oder Angina pectoris. NYHA IV: Herzerkrankung mit Beschwerden bei allen körperlichen Aktivitäten und in Ruhe. Bettlägerigkeit.« (Hoppe, Bohm et al. 2005: 490)

Auch wenn die Herzinsuffizienz als Alterskrankheit schon seit langem bekannt ist, so ist auffällig, dass es ungefähr seit dem Jahr 2000 immer mehr Studien gibt, die zusätzliches Wissen über diese Erkrankung produzieren. Zum Beispiel wurden in dem für die Jahre 2002 bis 2007 lau94

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fenden 6. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union im Schwerpunkt Lebenswissenschaften mehrere Studien zur Erforschung der Herzinsuffizienz gefördert. In Deutschland hat das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung seit 2003 finanzierte und sich nunmehr in der dritten Förderphase befindende »Kompetenznetzwerk Herzinsuffizienz« (2007) die Herzschwäche von verschiedenen Fachdisziplinen aus ergründet. Unter dem Motto »gemeinsam stark für schwache Herzen« kooperierten Epidemiologen, Molekularbiologen, Kardiologen und andere Disziplinen in 16 Teilprojekten und mehreren assoziierten Projekten mit Vertretern aus klinischer und ambulanter Praxis, um Wissensdefizite zu dieser Erkrankung zu füllen und eine verbesserte Versorgungssituation für Betroffene zu erreichen. Die des Weiteren von einigen Fachmedizinern initiierte SHAPEStudie (Study group on Heart failure Awareness and Perception in Europe) hatte insbesondere zum Ziel, die große Mehrheit der europäischen Bevölkerung und Leistungserbringer auf die Gefahren der Herzinsuffizienz hinzuweisen. Das von einigen Privatfirmen – darunter auch Telemedizinanbietern wie PHTS – mitfinanzierte Projekt erstrebte dabei die »alarmierende Unkenntnis der deutschen Öffentlichkeit über Herzschwäche« (2005: 3) anzugehen, in der nur drei Prozent in der Lage seien, »die auftretenden Beschwerden und Symptome einer Herzschwäche zuzuordnen« (ebd.). Der körperliche Zustand der eingeschränkten Pumpfunktion des Herzens, so wird anhand all dieser Studien deutlich, wurde zunehmend nicht mehr als eine normale Begleiterscheinung des Alters angesehen, sondern als ein Problem. Bei der Herzinsuffizienz handelte es sich alsbald um eine »lebensbedrohliche Erkrankung«, die sogar »tödlicher als Krebs« (Huber 2004) sei. Darüber hinaus belegten diese Analysen auch die dramatischen gesundheitsökonomischen Auswirkungen von verbreiteter Herzinsuffizienz, welche insbesondere bei einer Krankenhauseinweisung hohe Ausgaben mit sich bringen kann. Im Sinne Aronowitz’ (2008) kann also festgestellt werden, dass mittels dieser seit ca. 2000 laufenden und inzwischen abgeschlossenen Studien die Herzinsuffizienz maßgeblich ge-framed wurde, das heißt, sie entstand in einem Wechselspiel aus beobachteten körperlichen Phänomenen, diversen Expertenmeinungen sowie aus wahrgenommenen moralischen, sozialen und politischen Problemen. In dieser Akkumulation von Wissen zur Herzinsuffizienz lässt sich ein Trend feststellen, der auch in vielen anderen sozialwissenschaftlichen Studien ausgemacht wurde: die zunehmende Fokussierung auf Risiken. Beim Risikofaktorenmodell handelt es sich, so zeigen insbesondere medizinhistorische Arbeiten (Aronowitz 1998; Timmermann 2006), 95

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um einen recht neuen Ansatz, der die Forschungen in der Medizin und der Epidemiologie spätestens seit der Framingham Heart Study (LloydJones, Larson et al. 2002) verstärkt geprägt hat. In den oben zitierten, seit ca. 2000 laufenden Studien zu Herzinsuffizienz wurden solche Risiken auch herausgearbeitet und an Betroffene vermittelt. Es wird festgehalten, dass eine Verschlechterung der Herzinsuffizienz vermieden werden kann, wenn mindestens drei Risikoparameter stabil gehalten werden: der Puls, der Blutdruck und das Gewicht. Die ersten beiden Werte ermöglichen Aussagen über die Pumpfunktion des Herzens. Da insbesondere ein erhöhter Blutdruck vermieden werden soll, gilt es, auf diesen einzuwirken, wenn dies eintreten sollte. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie empfehlen hier zum Beispiel neben dem unbedingten Verzicht auf Nikotin und Alkohol eine möglichst natrium- und kaliumarme Ernährung. Das Körpergewicht sollte zum einen stabil gehalten werden, um den Kreislauf nicht mit zu viel Körpermasse zu überbeanspruchen; außerdem ist zu viel Körpergewicht ein Indikator für Wassereinlagerungen – eine typische Konsequenz der verschlechterten Pumpfunktion des Herzens. Wenn innerhalb kurzer Zeit ein stetiger Gewichtsanstieg festgestellt wird, so kann dies in vielen Fällen auf Wassereinlagerungen in Lunge und/oder Bauch und Beinen zurückgeführt werden. In diesem Fall können Patienten entgegenwirken, indem sie zum Beispiel weniger Wasser trinken und/oder eine höhere Dosis Entwässerungstabletten zu sich nehmen. Wenn der Patient den Wassereinlagerungen nicht rechtzeitig entgegengewirkt hat, muss die Flüssigkeit im Krankenhaus abgepumpt werden. Hierbei handelt es sich um für die Patienten unangenehme und für Leistungsfinanzierer teure Prozeduren, die mit regelmäßiger Gewichts- und Blutdruckkontrolle vermieden werden sollen. Eine Ausstattung mit Blutdruckmessgerät und Waage ist aufgrund der Aussagekraft der durch sie erfassten Vitalparameter in jedem telemedizinischen Programm meiner Kenntnis vorhanden. Einige Anbieter oder telemedizinische Programme erfassen auch noch weitere Ereignisse, wie zum Beispiel die Bewegungen der Herzmuskelfasern oder die Sauerstoffsättigung. Ersteres wird mit Hilfe eines Elektrokardiogramms ermöglicht, um zum Beispiel eventuelle Leitungsstörungen zu erkennen, die auf falsche Medikationsformen schließen lassen könnten. Außerdem kann mit Hilfe dieser Untersuchung, welche Herzgröße, die Herzklappen-, aber auch Herzfunktions- und Pumpfunktionsleistung misst, sogenanntes Vorhofflimmern festgestellt werden. Hierbei handelt es sich um Herzrhythmusstörungen die zum Schlaganfall führen können und bei vielen Patienten mit Herzinsuffizienz auftauchen. Auch wenn Elektrokardiogramme eine Standarduntersuchung für Herzschwächepatienten geworden ist, ist derzeit noch umstritten, wie oft 96

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diese Untersuchung tatsächlich durchgeführt werden muss. Einige telemedizinische Programme verzichten vollständig auf die Erfassung eines EKGs, andere lassen es einmal pro Woche von den Patienten selbst erheben; einige gar jeden Tag. Mit einer Erhebung der Sauerstoffsättigung, der zweiten in manchen telemedizinischen Programmen erfassten Ereignisse, wird erstrebt, Situationen festzustellen, in denen Anstiege und Abfälle der Füllungsdrücke Patienten mit Herzinsuffizienz gefährden könnten (vgl. Böhm 2000: 53). Es ist derzeit zwar unbestritten, dass mit Hilfe einer Oxymetrie wichtige Aussagen zum Status der Erkrankung getroffen werden können. Allerdings sind die praktischen Anforderungen an diesen Messvorgang so hoch, dass auf dieses Prozedere häufig verzichtet wird.

Das telemedizinische Zentrum Sowohl einige Anbieter von telemedizinischen Lösungen als auch die oben zitierten sozialwissenschaftlichen Studien stellen telemedizinische Zentren immer wieder als futuristisch und hochinnovativ dar7. Telemedizinische Zentren werden präsentiert als Kompetenzzentren mit herausragender medizinischer Expertise, in denen zugleich mit neuesten Technologien gearbeitet wird. Sie erscheinen wie Flaggschiffe moderner, medizinischer Praxis, gar als real gewordene Science-Fiction. Auch wenn es sich zweifelsohne um neuartige Versorgungsformen handelt, geht mit dieser Inszenierung allzu leicht die Implikation einher, dass es sich um technokratische, patientenferne und vielleicht gar kühle Institutionen handelt. Befürchtungen dieser Art begegnete ich im Laufe meiner Forschungen nicht nur auf Seiten der Patienten, die berichteten, aus solchen und ähnlichen Gründen anfänglich nicht in ein solches Programm eingeschrieben werden zu wollen. Darüber hinaus wird diese Haltung in Ressentiments von anderen Leistungserbringern angedeutet, wenn diese sich zum Beispiel in Fachforen, in denen über neuartige Versorgungskonzepte diskutiert wird, darüber auslassen, dass an der Basisversorgung aller Orten gespart, wohingegen in neuartige Produkte zu viel investiert werden würde. Diese Befürchtungen können in gewisser Hinsicht relativiert werden, wenn das tatsächliche Erscheinungsbild von telemedizinischen Zentren 7

Als Beispiel hierfür kann die Inszenierung des telemedizinischen Zentrums des an der Charité Berlin angesiedelten Projektes »Partnership for the Heart« aufgeführt werden. next generation media, B. (2008). Zuletzt besucht am 22.01.2009, from http://www.partnership-for-the-heart.de/ presse/medienarchiv/. 97

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in Betracht gezogen wird. Es handelt sich bei diesen Einrichtungen – zumindest in den von mir angetroffenen – um am Rande der Krankenhäuser angesiedelte Büros, die sich auf den ersten Blick nicht von einem herkömmlichen Stationszimmer unterscheiden. Statt einer Science-Fiction-Einrichtung, in der zum Beispiel die Vision des papierlosen Krankenhauses verwirklicht ist, befanden sich darin – freilich neben einem Computer, Bildschirm, Tastatur etc. – Stempelkissen, Ablageboxen, Stifteköcher, Zettelkasten, Locher und Enthefter sowie diverse andere Instrumente und Werkzeuge zum Ordnen, Sortieren oder zum sonstigen Bearbeiten von Papier. Auch die in dem Zentrum anzutreffenden sogenannten Teleschwestern – ausgebildete Pflegekräfte oder Arzthelferinnen – widersprachen der oben dargestellten Befürchtung, dass es sich bei telemedizinischen Zentren um technokratische oder kühle Einrichtungen handelt. Dies wird zum Beispiel in der Aussage einer von mir angetroffenen Teleschwester deutlich, ausgerechnet im tele-medizinischen Zentrum wieder »näher« am Patienten zu arbeiten. Diese erstaunlich anmutende Aussage führte Frau Heise8 wie folgt aus: »In der Arztpraxis heutzutage, aber doch auch in der Pflege im Krankenhaus, da ist doch alles sehr auf Zeit orientiert und auf Abrechnung orientiert. In der Praxis muss man den Patienten oft sagen, ›wir können nicht anders; wir haben den nächsten Termin erst in sechs Wochen‹, und wenn der Arzt sagt, ›das und das ist nicht wichtig‹, dann können wir auch nichts hinzufügen. Und hier [im telemedizinischen Zentrum] steht der Patient doch irgendwie anders im Mittelpunkt. Ich muss sagen, das hat mir wirklich gut getan. Es ist auch irgendwo schon fast etwas Mütterliches, was wir hier machen. Wir kennen jeden Patienten, und manchmal rufen die auch an und fragen, ›ist der und der da‹. Das macht schon Spaß, auch wenn’s jetzt nicht so viel Kontakt ist, aber es macht schon Spaß!« (Interview Teleschwester: Heise)

In dieser Sequenz wird deutlich, dass – entgegen der populären und wissenschaftlichen Darstellung telemedizinischer Zentren – zumindest in dem hier angetroffenen telemedizinischen Zentrum immer noch das erkannt werden kann, was als »traditionelle Pflege« bezeichnet werden kann. Trotz dessen, dass Teleschwestern »ihre« Patienten nie oder nur sehr selten zu Gesicht bekommen, vor allem deren digital übermittelten Vitalparameter bewerten und höchstens einmal ein Telefonat mit ihnen führen, erachten Erstere sich als nahe bei ihnen und betonen ein fast schon pastorales Verhältnis. Im Vergleich zum herkömmlichen Kran8

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Sowohl die Namen der Teleschwestern, als auch die der Patienten sind pseudonymisiert.

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kenhaus- oder Arztpraxisbetrieb könnten Pflegekräfte im telemedizinischen Zentrum dieser traditionellen, fürsorglichen Pflege nachkommen und sich auf weitere Aspekte von Krankheit und Leiden konzentrieren. Die Aussage Frau Heises, als Teleschwester ein mütterliches Verhältnis zu den ca. 100 eingeschriebenen Patienten zu haben, verweist auf jenes traditionelle Konzept von Pflege, welches insbesondere soziale und emotionale Unterstützung und Betreuung betont. In diesem Zitat von Frau Heise wird auch noch einmal der aus den oben zitierten sozialwissenschaftlichen Forschungen herausgearbeitete Punkt deutlich, der die Bedeutung pflegerischer Arbeiten in telemedizinischen Zentren betont. Zugleich kann einem Befund Mairs et al. anhand dieses empirischen Befundes widersprochen werden: Zumindest die von mir angetroffenen Teleschwestern sahen in einem telemedizinischen Zentrum keinen Widerspruch zu pflegerischer Berufsidentität und – ethik. Im Gegenteil: sie sahen, dass mit Hilfe von digital hinterlegten Diagnosen, Behandlungsschritten etc. und über das Telefon vermittelten, zusätzlich eingeholten Informationen eine vielleicht sogar bessere, individuellere und patientenzentriertere Pflege möglich sei als in der Arztpraxis oder der Krankenhausstation. Die im Folgenden präsentierten praxiographischen Sequenzen wurden in teilnehmender Beobachtung zwischen Januar und April 2008 generiert (siehe Kapitel 2, S. 78 »Welche Daten wurden erhoben« und »Auf welche Weise wurden die beobachteten Daten schriftlich fixiert«) und daraufhin analysiert (siehe Kapitel 2, S. 81 »Wie wurden die Daten analysiert?«). Es gehört sich, dass an dieser Stelle auch genauere Angaben zu Orten und Kontexten der teilnehmenden Beobachtung gemacht werden. Allerdings vereinbarte ich mit meinen Kooperationspartnern, auf die Bekanntmachung dieser Daten hier zu verzichten und auf eine Art und Weise zu anonymisieren und zu pseudonymisieren, die es keinem Leser erlaubt, Rückschlüsse auf die Einrichtungen schließen zu lassen.

Stabilisierungsarbeiten Telemedizinische Zentren, so wurde eingangs dargelegt, können dem Ansatz der Akteur-Netzwerk-Theorie zufolge als soziotechnische Netzwerke verstanden werden, da sich darin diverse, ontologisch unterschiedliche Elemente befinden: Menschen (Patienten, Teleschwestern und Ärzte), Symbole, technische Artefakte, Krankenhausorganisationsstrukturen etc. Im Folgenden sollen einige Entitäten dieses soziotechnischen Netzwerkes präsentiert werden, indem von Teleschwestern ausge99

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führte Stabilisierungsarbeiten dargelegt werden. Dabei handelt es sich um Tätigkeiten, die unternommen werden (müssen), damit Menschen und Materialitäten eine Struktur bilden, die das soziotechnische Netzwerk nach einem Zweck hin ausrichten. In Translationsprozessen, so unterstellt Callon, versuchen Akteure Allianzen, das heißt Bündnisse aus sozialen und materialen Entitäten zu bilden, die die Eigenart der jeweiligen Entitäten versuchen zu überwinden oder umzulenken. Die im Folgenden dargelegten Stabilisierungsarbeiten sind also insofern Translationsprozesse, als dass verschiedene Entitäten in ein soziotechnisches Netzwerk so eingebunden werden, dass sie den Zweck eines telemedizinischen Zentrums (und übergeordnet: den Zielen des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems) nachkommen.

Die Einbindung von Patienten Die ersten Akteure, die in ein soziotechnisches Netzwerk eingebunden werden, sind die in das telemedizinische Programm eingeschriebenen Patienten. An Herzinsuffizienz Leidende spüren die mit der Erkrankung einhergehenden Einschränkungen und haben meist entsprechende Bedürfnisse, diese zu überwinden oder zu bewältigen. Das telepflegerische Personal ist bereit und unter anderem dafür da, um auf diese Bedürfnisse einzugehen. Jedoch fordern Teleschwestern auch den Patienten bestimmte Arbeiten ab, damit sie diese Leistungen erbringen. In der folgenden empirischen Sequenz wird deutlich, welche kleinteiligen Gegenleistungen Patienten idealerweise erbringen: »›Wo kommt denn das noch alles her?‹, fragt Frau Flick – die Teleschwester. Sie blickt auf die im Computerprogramm aufgeführte Patientenliste und hat auf den sich darüber befindenden ›Reload‹-Button des Programms geklickt. Nun erscheinen in der Patientenliste Namen, von denen einige von ihnen mit einem Symbol, einem Briefumschlag versehen sind. Was ist passiert? Frau Flick erklärt es: ›Ich habe jetzt gerade noch mal den Server abgerufen und sehe, dass jetzt noch ca. 10 Fälle neu dazu gekommen sind. Diese hier – mit dem Briefumschlag. Das ist eigentlich…‹, sie blickt auf die Uhr – es ist kurz vor 11 Uhr. ›Eigentlich ist es so, dass die Patienten gebeten werden, möglichst bis um 10 Uhr ihre Sendungen zu machen. Damit man irgendwann gut anfangen kann zu arbeiten. Manche Tage klappt das wunderbar. Manchmal aber klappt’s gar nicht und… es sind auch so ein paar Patienten dabei, die es einfach auch nicht begreifen.‹ Inzwischen ist sie mit einem Doppelklick auf eine Patientendatei in die Kartei des Patienten gelangt und überblickt dessen übermittelten Werte. ›Da haben wir auch so übliche Verdächtige bei – die wir schon kennen. Der hier zum Beispiel: da wissen wir, das hat keinen Sinn, den pausenlos anzurufen. Der macht absolut so, wie er denkt und will, und mit dem haben wir schon 100

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viel gesprochen und versucht… aber… wir führen es weiter mit ihm, aber er passt eigentlich nicht so ganz ins Schema.‹« (Beobachtungsnotiz 31.01.2008)

Um die Patienten entlang ihrer Bedürfnisse zu unterstützen, fordern die Teleschwestern deren Kooperation ein. Interessement zu betreiben, so konzeptionalisierte Callon (1986), bedeutet, Akteure für ihre Rollen und Aufgaben zu interessieren. Vor dem Hintergrund des just präsentierten empirischen Beispiels heißt das, dass Patienten nicht primär das Interesse haben, die zu Hause erhobenen Werte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu übertragen. Vielmehr haben sie Interesse daran, gut betreut zu werden. Teleschwestern betreiben interessement, wenn sie den Patienten vermitteln, dass eine gute Betreuung eher dann ermöglicht wird, wenn das gewünschte Kooperationsverhältnis zustande kommt. Teleschwestern zeigen dadurch, dass ihr Interesse auch das der Patienten ist. Eine spezifische Rolle in so einem arbeitsteiligen Verhältnis zu akzeptieren ist, wie anhand dieses Beispiels deutlich wurde und wie im fünften Kapitel dieser Arbeit noch an weiteren empirischen Beispielen deutlich wird, für viele Patienten gar nicht so leicht. Eine erfolgreiche Allianz wird nicht nur durch Charaktereigenschaften von Patienten verhindert (der – im obigen Beispiel – »so macht, wie er will«), sondern beispielsweise auch durch das Bedürfnis, länger zu schlafen, oder nicht dann den Arm freimachen zu wollen, um den Blutdruck zu messen, wenn (wie insbesondere im Winter) die Wohnung noch nicht geheizt ist. Um ein stabiles Verhältnis zwischen Teleschwestern und Patienten zu erlauben, sollen Patienten nicht nur bestimmte Morgenroutinen einhalten. Um »ins Schema« zu passen, (mit dieser Metapher reflektiert auch die Teleschwester in gewisser Hinsicht eine Netzwerkperspektive), müssen die Patienten zum Beispiel auch in der Wohnung bestimmte Vorkehrungen treffen. Andernfalls liefern sie evtl. keine verwertbaren Ergebnisse. Auch dieser vielleicht harmlos klingende Punkt kann anhand eines praktischen Problems verdeutlicht werden: »›Das ist aber seltsam‹, sagt die Teleschwester und fügt lachend schnell hinzu: ›Ach!‹ Ich rücke näher und folge somit ihrer schnellen Geste, mir erklären zu lassen, was gerade passiert ist. ›Hier, der Herr Meier hat wahrscheinlich gerade Kinderbesuch.‹ Ich frage, woran sie das sehe, und sie zeigt auf das Gewicht: ›Hier. 17 ½ Kilo… Das ist wohl kaum der Herr Meier, der gestern noch 80,5 Kilo gewogen hat. Ich ruf’ ihn gleich mal an und frage nach… Der Herr Meier ist nämlich neu dabei und weiß wahrscheinlich nicht, dass hier gerade irre Werte angekommen sind.‹ Inzwischen hat sie auf der Stammdatenregistrierkarte schon die Telefonnummer von Herrn Meier herausgefunden und gibt seine Nummer ins Telefon ein. Sie wartet. Ich höre das Klingelzeichen. Je-

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mand nimmt ab: ›Ja hallo, hier ist das Telemedizinzentrum, die Frau Flick. Wie geht’s Ihnen denn heute Herr Meier?...‹ Nach einer kurzen Erklärung und einem abschließenden Lachen, was auf beiden Seiten erfolgt zu haben scheint, ist das Missverständnis aus dem Weg geräumt. Nachdem sie aufgelegt hat, erklärt Frau Flick mir, dass Herr Meier gerade seine Enkelin zu Besuch hat und die sich im Badezimmer der Großeltern wohl auf die mit dem telemedizinischen Zentrum verbundene Waage gestellt hat. Dass dieser Wert automatisch übermittelt und in der Gewichtsverlaufskurve von Herrn Meier dokumentiert wird, wusste er nicht. ›Er hat jetzt versprochen, die Waage an einen Ort zu stellen, wo nur er rankommt, so dass das nicht noch mal passiert‹, sagt sie lachend. ›Das passiert manchmal‹, fügt sie hinzu, ›auch beim Blutdruck. Wir haben das schon gehabt, dass ein Herr vollkommen irre Blutdruckwerte hatte. Das passte vorne und hinten nicht, und dann haben wir mal nachgefragt. ›Ja, meiner Frau ging’s nicht so gut, und ich hab dann mal gemessen.‹ Da haben die nur gesehen, ›Ah, hier ist ja das Blutdruckmessgerät‹ und haben gemessen. Dass wir dann die Werte kriegen…‹, sagt sie wieder lachend und ergänzt abschließend: ›Ist ja möglich, aber wir müssen das wissen. Es macht halt einen Tick mehr Arbeit, weil man das dann natürlich erst mal wieder bereinigen muss.‹« (Beobachtungsnotiz 23.01.2008)

Damit stabile Allianzen zwischen Teleschwestern und Patienten entstehen können und aufrechterhalten werden, müssen die Patienten bestimmte Vorkehrungen in der Wohnung treffen. Wenn die Waage nicht an einem sicheren Ort verstaut wurde und sie ihren Lebenspartnern die Technologien nicht vorenthalten, wird dieses Verhältnis leicht destabilisiert. Ein Bündnis zwischen Teleschwester und Patient zu kreieren, ist jedoch noch relativ leicht. Da die meisten Patienten ein Sicherheitsbedürfnis haben und die medizinische Betreuung zu schätzen wissen, akzeptieren die meisten die ihnen zugewiesenen Rollen und Funktionen. Würde das soziotechnische Netzwerk nur aus einer Teleschwester-PatientBeziehung bestehen, wäre es also schnell stabilisiert. Allerdings sind auch andere Entitäten involviert, deren Eigenarten und Ziele zu definieren und einzubinden schwieriger ausfällt.

Die Einbindung von technischen Artefakten Anhand des letzten empirischen Beispiels wurde schon angedeutet, welche Aktanten in ein soziotechnisches Netzwerk eingebunden werden: Waagen und Blutdruckmessgeräte. Eine Stabilisierungsarbeit, die Teleschwestern oft mehr als »einen Tick mehr Arbeit« macht, ist die Analyse von Elektrokardiogrammen, also die Analyse der Graphen, die die Aktivitäten der Herzmuskelfasern graphisch festhalten. Die Technik bzw. die 102

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Abbildung 3 und 4: Normales und »verklatschtes« EKG im Fall dieses spezifischen telemedizinischen Programms ausgelieferte Technik hält gewisse Eigenschaften bereit, mit der oft härtere Verhandlungen durchgeführt werden müssen. »Frau Heise, die Teleschwester, zeigt mir das EKG-Gerät, das sich die Patienten auf der Seite der Elektroden an drei verschiedene Stellen um den Brustkorb herum anlegen sollen. ›Und dieses EKG wird dann geschrieben und auf diesem Gerät gespeichert und dann an uns übertragen. Das passiert über das Telefon. Die Patienten rufen also eine Nummer an, nennen dann einen Code, einen Zugangscode sozusagen, und werden dann gebeten, das EKG zu übertragen. Das geht dann so, dass sie dieses Gerät an die Sprechmuschel vom Telefon halten und auf diesen Knopf drücken.‹ Frau Heise zeigt mir einen roten Knopf, der sich zwischen den Elektroden befindet. Sie schaut mich an, legt ihren Zeigefinger auf ihre Lippen, um mich um Stille zu bitten, und drückt dann den Knopf, um mir zu demonstrieren, wie genau eine Übertragung des EKGs geschehen soll. Schrille, hohe Töne kommen aus dem Gerät. Sie erinnern mich an die Geräusche bei der Einwahl ins Internet mit Hilfe eines 56K-Modems. Frau Heise richtet sie direkt in das Mikrofon des Telefons und schweigt weiter. Sie deutet still mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm des Computers, auf welchem, parallel zu den Tönen, EKG-Kurven gezeichnet werden [etwa so wie in Abbildung 3 rekonstruiert]. Wenn der ohnehin schon hohe Ton kurzzeitig noch höher wird, schlägt sich das gleich in einem Zacken in der EKG-Kurve nieder. Nach ca. einer Minute ist auf diese Art ein komplettes EKG geschrieben worden und liegt zur Auswertung bereit. Sie legt das Gerät beiseite, legt den Hörer auf und ergreift wieder das Wort. Sie erklärt mir, wodurch dieser Vorgang häufig erschwert wird: ›Dadurch, dass ja die genauen Töne wichtig sind, muss da ja immer absolute Ruhe sein… ja aber… dann schnackt einer mal zwischendurch, das Radio läuft, der Patient hustet, der Hund bellt… das ist ja immer nicht ganz einfach, den Leuten das beizubringen, dass man das bitte in absoluter Ruhe macht.‹ Um mir zu demonstrieren, was passiert, wenn keine absolute Ruhe im Moment der Tonaufzeichnung vorherrscht, löscht sie die just ins Programm übertragenen EKGKurven, klickt sich in das Startfenster zurück und drückt erneut auf den Knopf. Wieder erscheinen die schrillen, hohen Töne. Jetzt aber ist Frau Heise nicht so ruhig wie eben zuvor. Sie bittet mich: ›Klatschen Sie mal laut.‹ Ich komme dem nach, klatsche drei Mal und sehe, wie sich dieses laute Klatschen 103

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im Bild in Ausreißern in den EKG-Kurven niederschlägt [so wie in Abbildung 4 rekonstruiert]. ›Das ist also oft unser Problem‹, erklärt Frau Heise, während sie die zweite Aufzeichnung eines EKGs vorzeitig abbricht. Sie verwirft das ›verklatschte‹ EKG-Bild und schließt das Programm.« (Beobachtungsnotiz 22.01.2008)

Auch EKGs, Waagen und Blutdruckmessgeräte müssen in ein soziotechnisches Netzwerk eingebunden werden, damit telepflegerische Arbeiten vollbracht werden können. Ohne diese können Vitalparameter nicht evaluiert werden. Patienten gelangen dann nicht zu der Sicherheit, die sie verlangen. Es ist in beider Interesse, auf die spezifischen Eigenarten dieser Aktanten einzugehen, damit diese sich dem Zweck der zwischen Teleschwester und Patient gebildeten Allianz fügen. Das spezifische, hier vorgestellte EKG-Gerät hat selbstverständlich nicht von sich aus Interesse daran, Patienten zu helfen oder Teleschwestern den Arbeitsalltag zu erleichtern. Allerdings wurde ihm eine Funktion (oder Rolle) zugeschrieben, die beiden menschlichen Akteuren helfen soll, ihr Ziel zu erreichen: »Interessement is the group of actions by which an entity […] attempts to impose and stabilize the identity of the other actors it defines through its problematization.« (Callon 1986: 207) Um stabilisierbar zu werden, müssen Teleschwestern und Patienten auch die Eigenarten der Aktanten anerkennen, die eine Kooperation erlauben oder verhindern. Um ein verwertbares Elektrokardiogramm zu übersenden, müssen die Aufzeichnung und Übertragung von Umgebungsgeräuschen geschützt werden. Das heißt, um sie erfolgreich in ein soziotechnisches Netzwerk einzubinden, müssen Teleschwestern und Patienten die technischen Voraussetzungen und Eigenschaften von lärmempfindlichen EKG-Geräten oder die mit Sendern versehenen Waagen und Blutdruckmessgeräten akzeptieren. Hier wird das Netzwerk tatsächlich sozio-technisch.

Die Einbindung der Krankenhausorganisation Auch medizinisches Fachpersonal muss in das soziotechnische Netzwerk eingebunden werden, weil für die Auswertung von Elektrokardiogrammen die Teleschwestern auf Expertise angewiesen sind. Dies regulieren nicht nur die Approbationsordnungen, die vorschreiben, dass für bestimmte Aspekte der Gesundheitsversorgung – und die Begutachtung von EKGs fällt hierunter – an einer medizinischen Hochschule erlernte Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vorliegen müssen. Auch die von mir angetroffenen Teleschwestern bestätigten selbst: »EKGs zu befunden ist eine Kunst – das muss man einfach lernen«. Aus diesem 104

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Grund sollen die Graphen, die Herzmuskelfaseraktivitäten sichtbar machen, an einen im Krankenhaus tätigen Kardiologen übermittelt werden, der diese dann begutachtet und die Patienten auf Grundlage dieser diagnostiziert. Allerdings haben die Kardiologen aus dem Krankenhaus, in dem das hier angetroffene telemedizinische Zentrum angesiedelt war, oft nicht genügend Zeit, um alle Elektrokardiogramme zu begutachten. Des Öfteren, so informierten mich die Teleschwestern, beschwerten sich die Ärzte, dass sie EKGs befunden mussten, die »offensichtlich« keine Auffälligkeiten aufwiesen, die vom Computerprogramm nur deshalb als auffällig deklariert wurden, weil darin Artefakte – also andere Reize als die der Herzmuskelfaseraktivitäten – festgehalten wurden. Solche »offensichtlich falsch dokumentierten« EKGs sollten die Teleschwestern möglichst nicht an die Ärzte weiterleiten, um diese nicht in ihrem ohnehin schon stressreichen Arbeitsalltag von den Tätigkeiten abzuhalten, die sie auf den Stationen erbringen müssen. Dies bedeutete für die Teleschwestern, dass sie selbst erste Analysen unternahmen, wofür sie mit einem speziellen Instrument arbeiteten: dem EKG-Lineal. Dieses Instrument stellt – so erkläre ich weiter unten – eine Materialisierung des in dieser spezifischen Krankenhausorganisation vorherrschenden Arzt-PflegeVerhältnisses dar. »Frau Flick zeigt auf die Patientenliste. ›Sehen Sie hier? Dieser Patient erscheint im Alarm wegen eines schlechten EKGs.‹ Sie klickt auf den Namen des Patienten und geht in den Reiter EKG des Computerprogramms. Es erscheinen zwei große Felder, in denen EKG-Kurven zu sehen sind [etwa so wie in Abbildung 5 rekonstruiert]. Im unteren Feld sieht man mehrere Episoden der Herzrhythmen. Im oberen, größeren Feld sieht man eine Vergrößerung eines Ausschnitts aus dem unteren Feld. Sie benutzt die Maus, um über die untere Bildlaufleiste die Stelle zu finden, die der Computer wohl als Grundlage für seine Warnung genommen hat. ›Ah, das hier‹, sagt Frau Flick, als sie wenige Sekunden später eine Stelle findet, die nicht ganz in die gleichmäßig verlaufenden Kurven hineinpasst [wie in Abbildung 5 rekonstruiert]. ›Das ist wohl ein Artefakt‹, mutmaßt sie und greift zum vor der Tastatur liegenden EKGLineal, das sie dann an den Bildschirm des Computers hält. Sie zählt flüsternd. ›Ja‹, sagt sie schließlich, ›das ist ein Artefakt.‹ Auf meine Bitte hin, mir zu erklären, was Sie gerade gemacht hat, erläutert sie: ›Der Computer kann nicht unterscheiden, ob es sich hier um normale Herzimpulse handelt oder um irgendwas anderes – zum Beispiel Husten. Und der zählt dann jeden Zacken nach oben als einen Herzimpuls und denkt, das ist ein unregelmäßiger Herzschlag. War’s aber gar nicht – der hat nur kräftig gehustet oder so was. Ich kann’s mir ja schon denken, wenn ich das hier seh’. Aber mit dem EKG-Lineal weiß ich’s, weil ich da schön die Rhythmen von 105

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Abbildung 5: Ein Artefakt den Kurven zählen kann. Und danach kann ich jetzt also entscheiden, dass es nichts Schlimmes ist, was hier passiert ist. Das ist ein Artefakt.‹« (Beobachtungsnotiz 31.01.2008)

Ähnlich wie ein herkömmliches Lineal ist ein EKG-Lineal ein ca. 20 cm langes Instrument, welches man über EKG-Kurven halten kann, um den Abstand von Herzimpulsen zu überprüfen. Auf der Längsseite zeigt es jedoch keine Längenmaße, sondern Herzfrequenzen an. Mit Hilfe des EKG-Lineals kann die Teleschwester also, um obiges und recht simples Beispiel aus der Abbildung 5 zu nehmen, leicht feststellen, dass die Ausreißer nach oben, trotz des vergleichsweise zackigeren Kurvenverlaufs, noch immer in regelmäßigen Abständen geschehen. Das Zählen der Abstände von Ausreißern nach oben auf der horizontalen Linie eines EKGs war nicht die einzige »Vorarbeit«, die Teleschwestern für Ärzte unternahmen. Die mit dem telemedizinischen Zentrum assoziierten Ärzte baten die Teleschwestern nicht nur die durch Artefakte »im Alarm« erscheinenden EKGs zu beseitigen, sondern auch diejenigen EKGs zu bearbeiten, die aus welchem Grund auch immer »unsauber« waren. Unsaubere EKGs sollten auf eine Art und Weise präpariert werden, die ihnen das schnelle Befunden ermöglichte. Auch diese Tätigkeit spiegelt die spezifische Krankenhausorganisation und die Bedürfnisse der Ärzte wider. Und auch diese Tätigkeiten erbringen Te106

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leschwestern, um beide, die medizinische Profession und die Krankenhausorganisation in das soziotechnische Netzwerk einzufügen: »›Manchmal können wir auch noch filtern… dann wird’s ein bisschen weniger‹, erklärt mir Frau Heise und bewegt die Maus auf drei Buttons oberhalb der beiden EKG-Fenster. So wie F, K, U in einem Textverarbeitungsprogramm (für fett, kursiv und unterstrichen) stehen, steht in diesen Buttons 15, 25 und 40. Sie klickt auf 40 und sagt: ›Das ist, um die Sachen etwas deutlicher zu machen. Dafür gibt’s diesen Filter. Sehen Sie? Wenn ich hier auf die 40 klicke, dann wird’s ein bisschen klarer, weil die ganz groben Zacken sind dann… ja… weggefiltert.‹ Der Graph ist tatsächlich viel dicker geworden [so wie in Abbildung 6 und 7 rekonstruiert]. ›Das Problem ist nur‹, erklärt sie weiter, ›wenn man die Sachen zu doll filtert, dann filtert man eben auch die Sachen mit raus, die man eigentlich untersuchen muss, und das… soll ja nicht unbedingt sein.‹ Während sie dies erzählt, hat sie den 25er Button getätigt und somit eine mitteldicke Linie konstruiert.« (Beobachtungsnotiz 27.01.2008)

Sowohl diese Bearbeitungen des EKG-Graphen als auch das davor beschriebene Zählen der Abstände von EKG-Kurven können als Tätigkeiten verstanden werden, die die mit dem telemedizinischen Zentrum assoziierten Kardiologen und die Krankenhausorganisation in ein soziotechnisches Netzwerk einfügt. Ärzte sind an der Ausführung der ihnen zugewiesenen Rollen weniger interessiert, wenn sie Aufgaben vollbringen müssen, die ihnen »unnötigerweise« die Zeit rauben. Auch der schon im ersten Kapitel diskutierte Habitus der Ärzte wird in diesen empirischen Sequenzen angedeutet. Ärzte akzeptieren auch dann weniger leicht die an sie delegierte Rolle, wenn sie Tätigkeiten vollbringen müssen, für die es nicht ihre Expertise braucht, sondern die auch Leute ohne ihre Ausbildung durchführen können. Insofern stellen das EKG-Lineal und die Linienbreitefunktion der Software eine Materialisierung des spezifischen, in diesem telemedizinischen Zentrum anzutreffenden ArztPflege-Verhältnisses dar. Diese Instrumente existieren und werden benutzt, um Interessen und (soziale) Positionen von Ärzten zu berücksichtigen.

Die Einbindung der Hausärzte Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde dargelegt, dass – zumindest gemäß der Erwartung von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen – mit telemedizinischen Zentren Versorgungsstrukturen und -prozesse effektiver und effizienter gestaltet werden können. Nicht zuletzt aufgrund dessen, dass Teleschwestern Arbeiten durchführen, die eine Konsequenz dieses Zukunftsszenarios sind, ist – so wurde einleitend zu diesem Kapi107

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Abbildung 6: EKG in 15

Abbildung 7: EKG in 45 108

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tel festgestellt – ihre Arbeit politisch: Teleschwestern unternehmen Tätigkeiten, die vernetzte Handlungsschritte ermöglichen sollen, um unter anderem zu erreichen, dass Kosten dadurch reduziert werden, dass Leistungserbringer sich untereinander abstimmen. Dies bedeutet, dass Teleschwestern, sofern sie oder ihre ärztlichen Kollegen aus der kardiologischen Station des Krankenhauses eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes festgestellt haben, den Haus- oder Facharzt des Patienten kontaktieren, damit dieser entsprechende Handlungsschritte einleitet. Wenn Teleschwestern die Haus- und Fachärzte des Patienten in das soziotechnische Netzwerk einbinden, dann reflektieren sie auch die Herausforderungen des Gesundheitssystems. Dies kann anhand der folgenden Aussage von Frau Heise belegt werden: »Unser Kontakt zu den Hausärzten ist nun nicht der enormste. Wir schicken denen die Informationen über ihren Patienten. Wie sie das jetzt aber für sich bewerten, kann man im Einzelnen nicht sagen. Der eine findet’s gut, und der ruft dann wirklich den Patienten an und bestellt ihn kurzfristig ein. Das ist natürlich gut. Den anderen überfordert das aber, und der sagt dann: ›Wir kriegen hier ständig einen Haufen Papier‹. Und wenn die sich mit den Informationen überlastet fühlen, dann weisen sie den Patienten einfach nur [ins Krankenhaus] ein. Das ist natürlich genau das, was wir eigentlich vermeiden wollen, aber… Das liegt dann in der Entscheidung der Ärzte, wir haben unser Bestes getan – das können wir nachweisen und – wie gesagt – oft auch mit Erfolg!« (ebd.)

In dieser Aussage Frau Heises wird deutlich, dass Teleschwestern in ihren Tätigkeiten die dem telemedizinischen Zentrum übergeordneten Ziele reflektieren. In ihren Stabilisierungsarbeiten berücksichtigen sie das Ziel aktueller Gesundheitspolitik (und hierbei insbesondere der Krankenkassen). Sie wissen, dass insbesondere die teuren Krankenhauseinweisungen verhindert werden sollen und mobilisieren die Ärzte deshalb, solche Leistungen zu erbringen, die genau dies verhindern. Allein, Ärzte sind – wie ebenso im ersten Kapitel dieser Arbeit dargelegt werden konnte – oft nicht interessiert daran, diese Allianz einzugehen. Tatsächlich sind sie die renitentesten Entitäten in diesem Stabilisierungsprozess. Anhand der folgenden empirischen Sequenz soll verdeutlicht werden, warum ein Großteil der weiter oben beschriebenen (nicht papierlosen) Büroausstattung eines telemedizinischen Zentrums mit der Einbindung der Haus- und Fachärzte und der Einbindung der Herausforderungen des Gesundheitssystems zu tun hat: »›Dieser Patientin hier geht’s nicht so gut. Das steht hier, ne?‹ Frau Flick zeigt auf ein Freifeld, in dem ein ›Verdacht auf Lungenembolie‹ vermerkt wurde. ›Das hat die letzte Woche mal so nebenbei erwähnt‹, ergänzt Frau Flick la109

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chend. ›Und wenn wir jetzt diese Herzrate sehen… Sehen Sie hier… wie die runter geht? Das schick’ ich jetzt gleich an den Hausarzt. Der soll sich das mal angucken.‹ Frau Flick bewegt die Maus auf ein ›Drucker‹-Symbol und lässt somit sämtliche im Computer dokumentierten Vitalparameter auf Papier ausdrucken. Währenddessen hat sie aus einer Ablagemappe einen mit dem Logo des telemedizinischen Zentrums versehenen DinA4-Bogen herausgeholt und handschriftlich hinter das zunächst eingetragene Datum vermerkt: ›Bitte um Kontrolle, MfG Flick‹. ›Das steck’ ich jetzt hierein‹, sagt sie und zeigt derweil auf das Faxgerät. ›Ach so! Stempel. Da – können Sie mir den mal bitte reichen?‹ Ich komme der Bitte nach. Sie drückt den Stempel zuerst auf das Kissen, dann auf die acht ausgedruckten Papierbögen. Aus dem Adressverzeichnis holte sie inzwischen auch die Visitenkarte des Hausarztes der Patientin. Dann legt sie die Seiten ins Faxgerät, tippt die entsprechenden Nummern ein und bestätigt diese. Während des Sendevorgangs steht sie neben dem Faxgerät – schweigend. Nachdem alle Seiten im Ablagekorb des Faxgerätes liegen, nimmt sie diese, sortiert und locht sie. Daraufhin heftet sie sie in einen Ordner.« (Beobachtungsnotiz 24.01.2008)

In der hier beschriebenen Tätigkeit dokumentierte Frau Flick die von ihr unternommene Arbeit. Stempel, Ablagekorb, Locher, Ordner etc. sind wichtige Akteure in diesem Prozess, weil unter anderem sie den Arzt auffordern und die offizielle Erlaubnis geben, den Patienten zu behandeln (durch das Siegel auf den Ausdrucken wird der Hausarzt daran erinnert, dass er einer Kooperation mit einem anerkannten Partner nachgegangen ist), sie ermöglichen die schnelle Abarbeitung dieser Dokumentation (vorgedrucktes Papier liegt griffbereit in Ablagemappen) und ermöglichen zugleich, dass später überprüft werden kann, welche Leistungen erbracht wurden (da die verschickten Blätter im Ordner abgeheftet werden). Insbesondere die möglichst lückenlos verfolgbare Dokumentation ist wichtig, weil die Leistungen telemedizinischer Zentren (vor allem von oder für Krankenkassen) evaluiert werden. Schon oben deutete Frau Heise diese Evaluation an, als sie aussagte, dass sie den Erfolg ihrer Handlungen nachweisen könne. Für Finanzierer von telemedizinischen Zentren ermöglichen diese hier eingeholten Dokumentationen – vor allem weiterverarbeitet in Statistiken und korreliert mit den Kosten – wichtige Aussagen über den finanziellen und versorgungstechnischen Erfolg von telemedizinischen Zentren. Auf Grundlage dieser Dokumentationen wird festgestellt, ob telemedizinische Zentren die Ziele erreichen, von denen erwartet wird, dass sie sie erreichen können. Die Bemühungen der Teleschwestern, Allianzen mit Haus- und Fachärzten einzugehen, verdeutlichen insofern nicht nur die Einbindung dieser ambulanten Leistungserbringer, sondern auch die Einbindung der Krankenkassenperspektive oder (weil Krankenkassen die derzeitigen 110

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Herausforderungen des Gesundheitswesens besonders deutlich spüren) die Einbindung der Gesundheitssystemperspektive oder Gesundheitspolitik in das telemedizinische Zentrum.

Die Einbindung der elektronischen Infrastruktur Ein letztes, in einem soziotechnischen Netzwerk zu stabilisierendes Element ist die elektronische Infrastruktur (oder das Softwareprogramm, das die Schnittstelle zu dieser Infrastruktur bildet). In den zuvor präsentierten empirischen Sequenzen konnte schon verdeutlicht werden, dass diese elektronische Infrastruktur eine besonders zentrale Rolle einnimmt: über diese werden körperliche Vitalparameter von Patienten an Teleschwestern versandt. Letztere verschicken auffällige Werte über das Wiedervorlagesystem an Ärzte. Kurzum, die elektronische Infrastruktur verbindet die über das soziotechnische Netzwerk verteilten Entitäten. Bevor gezeigt wird, wie Teleschwestern elektronische Infrastrukturen in einem soziotechnischen Netzwerk stabilisieren, soll dargelegt werden, wie das Computerprogramm deren Handlungen mitbestimmt: »Frau Heise bewegt die Maus auf ein Feld unterhalb der Bildlaufleiste. Es erscheint ein Tooltipp, das ›Vorhofflimmern‹ anzeigt. ›Bei diesem Patienten bin ich mir jetzt nicht so sicher‹, erklärt sie mir ihr zögerliches Handeln. ›Das hier könnte ein Artefakt sein – ein komisches Artefakt zwar, aber dennoch… Ich sehe jetzt hier aber auch, dass dieser Mann Vorhofflimmern hat.‹ Sie greift noch einmal zum EKG-Lineal und zählt leise vor sich hin. Zum Vergleich legt sie das EKG-Lineal an einen Teil des EKGs, wo die Kurven gleichmäßig verlaufen. ›Nein, ich weiß es hier nicht. Ich bin unsicher. Deshalb mache ich jetzt hier ein Fähnchen rein.‹ Frau Heise klickt auf ein kleines Feld, in dem ein hellgraues Fähnchen angezeigt wird – ich habe es bis dahin vor dem ohnehin grauen Farbschema des Programms gar nicht gesehen. Nachdem sie darauf geklickt hat, erscheint das Fähnchen rot. ›Wenn ich irgendeine Frage habe oder unsicher bin, mache ich hier ein Fähnchen, und das heißt, dass sich das der Herr Professor [gemeint ist ein Arzt auf der kardiologischen Station] später noch mal anguckt. Wenn er denn mal Zeit hat.‹ Sie betrachtet schnell den Rest des übersendeten EKGs, welcher gleichmäßig verläuft, und beendet dann diese Ansicht.« (Beobachtungsnotiz 30.01.2008)

Das Computerprogramm, so wird anhand dieser Sequenz deutlich, bestimmt den Handlungsspielraum von Frau Heise: Wenn das Fenster »Vorhofflimmern« sich öffnet, weiß die Teleschwester, dass hier ein weiteres Krankheitsbild vorliegt und sie sich entsprechend vergewissern sollte, ob der Herzrhythmus unauffällig ist. Ohne die schnell eingeholte Zusatzinformation hätte sie nicht sofort gezögert, hätte nicht erneut das 111

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EKG-Lineal an den Bildschirm gelegt und sich schlussendlich nicht dafür entschieden, das Fähnchen zu aktivieren und somit an den Arzt wieterzuleiten. In welche Verhandlungen die Teleschwestern mit der Infrastruktur treten – wie sie diese in das soziotechnische Netzwerk stabilisieren –, kann anhand der folgenden empirischen Sequenz verdeutlicht werden: »›Das hat sich insgesamt schon stark verbessert‹, erklärt mir Frau Heise. Sie erklärt mir die Hintergründe zu dem Tooltipp und dem roten Fähnchen. ›Wenn ich mir früher nicht sicher war, ob der noch was hat, dann musste ich immer hier in dieses Fenster zurückgehen‹, und sie klickt sich zurück in die Stammdatenregistrierkarte. ›Dann hätte ich jetzt hier gesehen, dass der Vorhofflimmern hat oder vielleicht einen Schrittmacher. Jetzt‹, sagt sie und klickt wieder zurück in das Fenster, in dem das EKG angezeigt wird, ›muss ich einfach nur die Maus hierüber legen, und dann öffnet sich dieses Ding und zeigt mir ›Vorhofflimmern‹. Das macht es insgesamt schon leichter, weil ich seh’s dann ja auf den ersten Blick.‹ Etwas später erklärt sie mir, dass auch die Hinterlegung des roten Fähnchens in dem Computerprogramm etwas Neues ist: ›Das haben wir den Herstellern mitgeteilt‹, erklärt sie. ›Die haben uns gefragt, ob sie was verbessern könnten, und dann haben wir denen gesagt, dass das hier also schon etwas nervig ist mit dem, wie’s war. Jetzt ist es insgesamt schon sehr viel leichter geworden.‹« (Beobachtungsnotiz vom 30.01.2008)

Tooltipps, rote Fähnchen etc. definieren die Rolle der elektronischen Infrastruktur: die Funktion der Software besteht darin, den Teleschwestern eine Koordinationshilfe zu bieten und ihre Arbeitsroutinen so gut wie möglich zu erleichtern. Mittels der Verhandlung mit den »Vertretern« der elektronischen Infrastruktur – den Herstellern und Entwicklern – erreichen die Teleschwestern, dass sich diese elektronische Infrastruktur noch besser an die von ihnen erlernten Routinen anpasst. Die elektronische Infrastruktur wird noch feiner in das soziotechnische Netzwerk einfügt. Stabilisierungsarbeiten, so kann hier abschließend festgehalten werden, bezeichnen die Tätigkeiten der Kreierung und Instandhaltung eines soziotechnischen Netzwerkes. Teleschwestern und die anderen Akteure und Aktanten in diesem Netzwerk beteiligen sich an dieser Allianz, weil sie alle aufeinander angewiesen sind: Patienten wollen eine Verschlechterung ihrer Krankheit verhindern; Ärzte wollen keine unnötigen Arbeiten vollbringen; elektronische Infrastrukturen wollen hilfreiche Koordinationsinstrumente sein; EKGs wollen keine Umweltgeräusche etc. Teleschwestern berücksichtigen in ihrer Arbeit diverse Entitäten und definieren Rollen und Funktionen von diesen. Im Sinne Callons, an dessen 112

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Translationskonzept sich in der Analyse dieser Stabilisierungsarbeiten gehalten wurde, kann festgestellt werden, dass Teleschwestern auch machtvolle Akteure sind, die die Eigenarten, Stärken und Schwächen aller in Verbindung zu bringenden Entitäten kennen und die wissen, wie diese so »interessiert gemacht« werden können, dass sie die ihnen zugewiesene Rolle akzeptieren. Zugleich wird in den Stabilisierungsarbeiten der Teleschwestern deutlich, wer oder was die Macht besitzt, ihre Arbeit zu determinieren. Die mit dem telemedizinischen Zentrum assoziierten Ärzte haben offensichtlich die Möglichkeit, Forderungen zu stellen. Sie wollen keine trivialen Aufgaben erledigen und können deshalb den Wunsch äußern, dass Teleschwestern ihnen zuarbeiten. Hiermit wird auch das weiter oben dargestellte, in sozialwissenschaftlichen Studien kritisierte Medizin-Pflege-Verhältnis reproduziert, in der die Pflegekräfte eher als Hilfskräfte konzeptionalisiert werden, wohingegen die Mediziner als diejenigen gelten, die ausführend agieren und die eigentliche Arbeit vollbringen. Auch wenn Teleschwestern also einerseits eine zentrale Position zukommt, weil diese viele im telemedizinischen Zentrum zentrale Aufgaben vollbringen, reproduzieren sich in telemedizinischen Zentren auch bestehende Medizin-Pflege-Hierarchien.

Digitale Körper In diesem Abschnitt soll untersucht werden, welcher Körper in telemedizinischen Zentren durch welche Praktiken von Teleschwestern und dabei eingesetzte Technologien sichtbar gemacht werden. Diese Frage folgt Annemarie Mols Vorhaben »to theoriz[e] medicine’s ontological politics: a politics that has to do with the way in which problems are framed, bodies are shaped, and lives are pushed and pulled into one shape or another« (Mol 2002: viii). Mit dem Fokus auf Aktualisierungen soll gezeigt werden, dass der dabei hergestellte Körper nicht nur Resultat eines ärztlichen Blicks (Foucault 1988) oder das Resultat einer spezifischen Erzählweise über den Patienten ist, sondern auch das Ergebnis der zuvor beschriebenen, stabil gehaltenen Elemente. Wenn im Folgenden Aktualisierungen beschrieben werden, dann werden zum einen die Praktiken des Lesens und Schreibens untersucht (Suchman 1987), die diesen Körper hervorbringen und andererseits die von dem Computerprogramm selbst bereitgehaltenen Eigenschaften analysiert, mit denen die Teleschwestern während ihrer alltäglichen Arbeit interagieren (Berg and Goorman 1999; Berg, ter Meulen et al. 2001; Berg and Harterink 2004). Es wird sich dabei zeigen, dass im telemedizinischen Zentrum ein 113

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Körper mit mindestens vier Eigenschaften hergestellt wird: mit Zahlenund Normbereichen sowie mit einer spezifischen Zeitlichkeit und Topographie. Diese Darstellung soll schlussendlich dazu führen, über die Grenzen von dem im telemedizinischen Zentrum behandelten Körper nachzudenken. Es soll gezeigt werden, dass der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper insofern grenzenlos ist, als dass er auf jenes oben skizzierte soziotechnische Netzwerk verteilt ist.

Der »Eintritt« des Patienten Anhand einiger Sequenzen aus dem vorherigen Abschnitt konnte ein erstes Bild darüber vermittelt werden, welche Körper in einem telemedizinischen Zentrum behandelt werden. Im Vergleich zu einer Hausarztpraxis treten Patienten nicht leibhaftig auf, werden nicht aufgerufen, in ein Gesprächszimmer hineingelassen, zum Setzen aufgefordert und auf Basis direkt beobachtbarer physischer Erscheinungen beurteilt. Sie müssen sich nicht ihrer Kleidung entledigen, werden nicht abgetastet etc. Patienten in telemedizinischen Zentren werden anders aktualisiert. Sie werden mit der Maus angeklickt, entlang von pixeligen Registrierkarten beurteilt und dergleichen. Was sind das für Patienten, denen die Teleschwestern begegnen? Welche Eigenschaften von ihnen werden sichtbar? Wie werden sie deshalb behandelt? Wie oben schon angedeutet, haben die Teleschwestern in den meisten Fällen diejenigen Menschen, die sie betreuen, nie gesehen. Sie kennen lediglich aus ein paar Gesprächen ihre Stimmen und können auf einige digital hinterlegte Eckdaten zugreifen. Eine erste Annäherung an die Frage, wie und welche Patienten in einem telemedizinischen Zentrum erscheinen, kann anhand des »Eintritts« eines Patienten rekonstruiert werden. Während wir am Schreibtisch sitzen, weist mich die Teleschwester in ihren virtuellen Arbeitsplatz ein – das heißt in das Computerprogramm, in dem sie sich den ganzen Arbeitstag über bewegt. »Frau Heise sitzt vor dem Computer und schaut geradeaus. Den Kopf in die Richtung des Bildschirms gerichtet, erklärt sie: ›Wenn ich jetzt hierauf klicke, dann kommen wir ins Programm‹, welches sich nach einem Mausklick an entsprechender Stelle auch öffnet. Genau jetzt‹, kommentiert sie den Vorgang, ›sind wir drinnen.‹ Es öffnet sich ein Fenster [das ähnlich aussieht wie das in Abbildung 8 rekonstruierte]. Auf der linken Seite befindet sich die Patientenliste, auf der rechten Seite wird nur eine graue Fläche angezeigt. Zumindest dann, wenn in der Patientenliste kein Patient ausgewählt wurde. ›Und wenn ich jetzt auf einen Patienten klicke‹, fährt Frau Heise fort, während sie die Maus auf einen Namen bewegt und einen anklickt, ›dann öffnet der sich hier... 114

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Abbildung 8: Die Startseite des Computerprogramms auf der rechten Seite… Da! Auf diesem Blatt kann man die wichtigsten Sachen sehen. Die ganzen Medikamente, Adresse, Telefon. Hier in dieses Freifeld ›Bemerkungen‹ tragen wir immer alles ein, was noch passiert ist. Wann wir zum Beispiel EKGs an Hausärzte geschickt haben oder das Datum, wann wir mit Patienten telefoniert haben. Dann tragen wir da ein, was die gesagt haben zu ihrem Allgemeinbefinden… das steht dann immer hier in ›Bemerkungen‹ drin.‹« (Beobachtungsnotiz 24.01.2008)

Ein Patient in einem telemedizinischen Zentrum ist demzufolge der, der in dieser Datenbank aufgenommen wurde. Patienten werden darin eingetragen, und wenn sie gesucht werden, in die Suchmaske des Systems »eingegeben«. Und wenn der Patient gefunden wird, dann »öffnet« er sich. Ganz offensichtlich ist der Patient im telemedizinischen Zentrum ein anderer als der der Hausarztpraxis. Letzterer hat ein Gesicht und einen leibhaftigen Körper. Bei seinem ersten Anblick kann festgestellt werden, ob er blass aussieht oder munter. Es lässt sich darüber mutmaßen, ob er gebrechlich ist oder robust. Im telemedizinischen Zentrum kann man nicht anhand seines äußeren Erscheinungsbildes auf den körperlichen Zustand, die emotionale Verfassung oder Schichtzugehörigkeit schließen. Der erste Blick auf den Patienten im Computerprogramm ermöglicht andere Aussagen: das in der virtuellen Akte hinterlegte Geburtsdatum bspw. lässt auf das Alter des Patienten schließen, was in manchen Situationen wie folgt relevant werden kann:

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»Also diese Patientin hier hat Adipositas; das heißt, die ist immer hoch im Gewicht. Das wäre gut für sie, wenn sie abnehmen würde – haben wir ihr auch schon mehrfach mitgeteilt. Aber gut: die Frau ist auch schon 78 Jahre alt.« (Beobachtungsnotiz 22.01.2008)

Obwohl die Teleschwester diese Person auch aus persönlichen Telefongesprächen zu kennen scheint und darüber weitere Informationen über sie erhalten hat, betont sie hier vor allem die Bedeutung des Alters für die persönliche Motivation, Tätigkeiten zu unternehmen, die zur Bekämpfung ihrer Krankheit als sinnvoll gelten. Es ist jedoch eine ganz spezifische Komponente des Alters, die dabei berücksichtigt wird: die Jahreszahl. Die Frau, so betont die Teleschwester, ist 78 alt. Mit dieser Aussage wird das Alter objektiviert und diverse andere mit dem Prozess des Alterns zusammenhängende Faktoren (soziale, körperliche, sensorische, kognitive etc.) werden dabei ausgeklammert. Die Teleschwester macht das hier aufgebrachte Verständnis für die Patientin nicht von geistigen Fähigkeiten oder sozialen Dimensionen, sondern allein von ihren Lebensjahren abhängig. Auch andere in dem Computerprogramm vorhinterlegte Informationsfelder entscheiden mit darüber, wie Patienten beraten oder behandelt werden. Im Freifeld »Bemerkungen« der virtuellen Patientenakte eines Patienten stand zum Beispiel folgender Eintrag: »Risikopat!!! 12.02 EKG z.K. an HA 07.02 abwarten 29.01 EKG z.K an HA 22.01. EKG an HA«. Hinter dieser kryptischen Sprache verbirgt sich die Information, dass es sich bei dem Patienten um einen sogenannten »Risikopatienten« handelt. Insbesondere aufgrund seiner Herzaktivitäten sollte dieser Patient besonders beachtet werden, weshalb in den vergangenen drei Wochen – vom 22. Januar bis zum 12. Februar – immer wieder ein Elektrokardiogramm (EKG) zur Kenntnis an den betreuenden Hausarzt des Patienten geschickt wurde. Diese Information wurde jede Woche, jedes Mal nach dem Eintreffen eines neu geschriebenen EKGs, in die elektronische Patientenakte eingetragen und erinnert die Teleschwestern »beim Öffnen des Patienten« daran, wieder erneut die Herzaktivitäten zu analysieren. In diesem Beispiel bestimmt vor allem die Bezeichnung »Risikopatient« die Handlung der Teleschwester. Ohne diese Bezeichnung würde der Teleschwester nicht sofort deutlich sein, dass diesem Patienten aufgrund seiner Herzaktivitäten eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden sollte. Vorübergehend lässt sich festhalten, dass im Computerprogramm des telemedizinischen Zentrums andere Patienten sichtbar werden. Anstatt sich leibhaftig vorzustellen und dann auf Grundlage direkter, an einem klaren Ort stattfindender Interaktion beurteilt zu werden, öffnen 116

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sich Patienten nach Mausklick auf ihren Namen auf Bildschirmoberflächen. In den sich daraufhin öffnenden virtuellen Patientenakten werden ganz spezifische (meist vordefinierte) Facetten sichtbar. Wichtig daran ist, dass die in dem Computerprogramm hinterlegten Daten handlungspraktische Konsequenzen haben. Sie bestimmen mit darüber, wie Patienten eingeschätzt, beurteilt oder weiterbeobachtet werden. Im Folgenden soll genauer untersucht werden, welcher Körper in einem telemedizinischen Programm hergestellt wird. Hierfür werden insbesondere die im Computerprogramm anzutreffenden Graphen, Tabellen, Bewertungsfelder etc. untersucht, sowie die Art und Weise, wie die Teleschwestern diese lesen und weiterverarbeiten.

Zahlenkörper Im telemedizinischen Zentrum sind Zahlen omnipräsent. Oben konnte anhand des Beispiels »Alter« gezeigt werden, dass eigentlich komplexe Phänomene in telepflegerischer Praxis auf einen Code reduziert werden. Dieselbe Praxis kann auch in anderen Bereichen ausfindig gemacht werden. Der Druck auf Arterienwände wird in Zahlen übersetzt. Ebenso wird die Masse des Körpers in Ziffern ausgedrückt. Die Schläge des Herzens werden gezählt, ebenso wie die Abstände zwischen einzelnen Kurvenabschnitten in Elektrokardiogrammen. Mit der Übersetzung diverser Phänomene in Zahlen beginnen viele telepflegerische Arbeiten: »›Sooooo‹, sagt Frau Heise. ›Das hier muss ich mir wohl noch mal genauer ansehen. Sehen Sie das? Gestern hatte der noch 83,2, heute schon 84,9. Das sind 1,7 Kilo, wenn ich richtig rechne. Ja! 1,7 Kilo sind das. Und 1,7 an einem Tag ist schon ziemlich viel. Der hat gestern schon ein bisschen zugenommen. Vorgestern war er 82,5 und davor 82,3. 1, nein 2,6 Kilo in 4 Tagen. Das ist mir doch ein bisschen viel.‹« (Beobachtungsnotiz 27.01.2008)

Diverse medizinhistorische und wissensanthropologische Analysen (vgl. z. B. Hacking 1990; Haraway 1991; Schlich 2006) haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Quantifizierung von Gesundheit und Krankheit eine relativ neue Unternehmung in medizinischer Praxis ist. Nicht immer war es üblich, körperliche Phänomene in Ziffern zu übersetzen. Nicht immer haben Zahlen zur Zustimmung verpflichtet. Vielmehr ist diese Praxis Kennzeichen eines wachsenden »trust in numbers« (Porter 1995; siehe hierzu auch Porter 2010). In der Tat ist die Bewertung eines Zahlenkörpers eine besonders zentrale Tätigkeit von Teleschwestern. Zahlen ermöglichen, wie anhand dieser Aussage von Frau Heise deutlich wird, eine spezifische Annähe117

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rung an körperliche Vorgänge, sie ermöglichen einen ersten Vergleich. Zahlen sind, mit Latour gesprochen, »immutable mobiles« (Latour 1987): sie können in unterschiedliche Bereiche wandern, ohne dabei ihre spezifische Bedeutung zu verlieren. Zahlen ermöglichen Allianzen, indem sie erlauben, dass alle am Behandlungsprozess beteiligten Disziplinen (Teleschwestern, Hausärzte, Kardiologen) sich verstehen. Alle im Folgenden skizzierten weiteren Aspekte des im telemedizinischen Zentrum hergestellten Körpers basieren auf diesem Zahlenkörper bzw. auf einer durch Zahlen ermöglichten Verräumlichung und Verzeitlichung des Körpers.

Körper mit Normbereichen Die im telemedizinischen Zentrum behandelten Körper haben teilweise vordefinierte, teilweise von den Teleschwestern eigens kreierte Normbereiche zugewiesen bekommen. Auch diese Normbereiche manifestieren sich in Zahlen. In der folgenden empirischen Sequenz wird beschrieben, wie eine Höchstgrenze für das Gewicht eines Patienten hergestellt wird: »Frau Heise betrachtet die Gewichtsverlaufskurve eines Patienten. ›Bei dem zeigt der Computer schon seit Tagen an, dass der im Übergewicht ist [was auf Wassereinlagerungen deuten könnte]. Jetzt sehe ich aber hier, der ist in den letzten 2 Monaten kontinuierlich gestiegen‹, kommentiert sie den Graphen. ›Hier war er im Krankenhaus‹, erklärt sie mir und zeigt auf eine Stelle in der x-Achse. ›Damals wurden die Werte runtergesetzt, weil er da ziemlich abgenommen hat. Jetzt setz’ ich sie mal wieder hoch. Weil ich sehe ja: der hat einfach wieder ein bisschen zugenommen. Da muss ich mir keine Sorgen machen, dass der irgendwo Wasser hat. Das ist jetzt wieder sein Normalgewicht.‹ Frau Heise klickt sich in ein Fenster, in dem sie Höchst- und Tiefstwerte im Gewicht dieses Patienten bestimmen kann. Sie ändert das Höchstgewicht. Statt 73 ist jetzt eine 75 vermerkt.«

Der hier von Frau Heise behandelte Patient erschien in den letzten Tagen und Wochen immer »im Alarm«. Dies lag darin begründet, dass die von dem Patienten übermittelten Gewichtsdaten über den im Computerprogramm hinterlegten Höchstwerten lagen. Die Software richtet somit die Aufmerksamkeit der Teleschwester auf diesen Patienten, um ihr zu ermöglichen, eventuelle Wassereinlagerungen frühzeitig zu entdecken (dies – zur Erinnerung – ist ein zentrales Ziel telepflegerischer Arbeit: zu viel Wasser im Körper resultiert häufig in Krankenhausaufenthalten; genau dies soll vermieden werden). In dem just präsentierten Fall waren jedoch nicht die Wassereinlagerungen der Auslöser für die Überschreitung der vordefinierten Höchstgrenze. Vielmehr hat der Patient zwei 118

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Monate nach seinem Krankenhausaufenthalt, in dem er an Gewicht verlor, inzwischen wieder sein Normalgewicht erlangt. Dies konnte Frau Heise über die x-Achse, die den Gewichtsverlauf der letzten 3 Monate anzeigt, einfach rekonstruieren. Entsprechend konnte sie die Normbereiche wieder anpassen und muss sich keine Sorgen darüber machen, ob sie eventuell Wassereinlagerungen übersehen könnte. Tatsächlich besteht eine wesentliche Aufgabe der Teleschwestern darin, zu überprüfen, ob die von den Patienten übermittelten Vitalparameter Normbereiche verlassen. Zur Erledigung dieser Aufgabe gelangen sie immer wieder in das oben schon kurz erwähnte Startfenster des Computerprogramms. Alle Patienten, deren aktuellen Vitalparameter außerhalb der Normbereiche liegen, werden darin klar markiert: »Frau Flick gelangt in das Startfenster des Computerprogramms. Alle Patienten, die an diesem Tag ihre Werte schon übermittelt haben, erscheinen darin. ›Heute sind wieder einige im Alarm‹, sagt Frau Flick, während sie die Liste herunterscrolled. Sie erkennt die Patienten ›im Alarm‹ daran, dass sie ein rotes Ausrufungszeichen vor ihrem Namen haben [so wie in Abbildung 8 rekonstruiert]. Nachdem sie bis ans untere Listenende gelangt ist, geht sie wieder an dessen Anfang und klickt auf den ersten Patienten mit Ausrufungszeichen. ›Der hat einen zu hohen Blutdruck‹, sagt sie prompt und zeigt auf die Blutdruckverlaufskurve [die ähnlich aussah wie in Abbildung 9 rekonstruiert].« (Beobachtungsnotiz 22.01.2008)

Blutdruck

Gewicht

EKG

Alarm aktiviert

Abbildung 9: Die Blutdruckverlaufskurve 119

DER DIGITALE PATIENT

Wohingegen die Normbereiche des Gewichts von den Teleschwestern selbst eingegeben werden, sind sie beim Blutdruck vom Programm vordefiniert. »›Der hier erscheint fast täglich im Alarm‹, erklärt mir Frau Flick [immer noch auf jenen Blutdruckverlauf ähnlich wie in Abbildung 9 schauend] und ergänzt: ›Er hat nämlich immer einen zu hohen Blutdruck.‹ Meiner Reaktion darauf zuvorkommend, fügt sie gleich an: ›Fragen Sie mich nicht, was das ist. Das sind medizinische Werte. Das wurde standardmäßig so eingestellt. Der Blutdruck ist standardmäßig immer zwischen 90 bis 140. Also zumindest der systolische. Und der diastolische ist immer 60 bis 90. Der erste Wert und zweite Wert sind standardmäßig definiert. Das sind medizinische Werte. Und wenn man darüber kommt, dann ist man im Alarm.‹ Sie geht mit der Maus auf ein Kontrollkästchen und deaktiviert dieses, indem sie ein Häkchen daraus entfernt. ›Den nehme ich jetzt erst mal aus dem Alarm‹, sagt sie, während sie dies unternimmt, ›denn der hat ja immer einen erhöhten Blutdruck, wie Sie sehen. Da muss ich mir also keine Sorgen machen.‹« (ebd.)

Anhand dieser empirischen Sequenz wird deutlich, dass Frau Flick auf den ersten Blick sehen kann, dass es sich bei dem Patienten um einen handelt, der täglich über dem vordefinierten Standardwert erscheint. Zwei in den Graphen eingetragene gestrichelte Linien definieren genau den Punkt, ab dem ein Patient »im Alarm« erscheint. Und tatsächlich können Frau Flick und ich an dieser Stelle sofort sehen, dass der obere Wert der von diesem Patienten übertragenen Daten immer oberhalb dieser roten Linie eingetragen ist. Im telemedizinischen Zentrum, so wurde anhand dieser empirischen Sequenzen deutlich, werden Körper mit Normbereichen behandelt. Teilweise werden diese Normbereiche selbst kreiert. Im Fall der Blutdruckverlaufskurve jedoch werden von der WHO herausgegebene Standardwerte zu normalem Blutdruck berücksichtigt. Das heißt, dass die auf Grundlage groß angelegter Studien definierten absoluten Risiken als Schablone für die Bewertung des individuellen Patienten dienen. An der zuletzt präsentierten empirischen Sequenz wird ein in diesem Kontext interessanter Umgang mit den von der WHO herausgegebenen Normbereichen zum Blutdruck sichtbar: Frau Flick setzt sich nämlich über diese hinweg, indem sie schnell urteilt, dass ein Überschreiten der Höchstgrenze bei dem konkreten Fall unproblematisch ist. Das heißt, dass Frau Flick zur Kenntnis nimmt, dass die in der gestrichelten Linie sich widerspiegelnden, ermittelten absoluten Risiken in keine Aktionen des hier vorliegenden Falls resultieren müssen. Indem Frau Flick mit der Deaktivierung des Kontrollkästchens den Patienten »aus dem Alarm« entfernt, berücksichtigt sie in ihrer Arbeit patientenspezifische Bewer120

DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

tungsmaßstäbe. Da der Patient »immer im Alarm« ist, kann er getrost aus demselben entfernt werden. Leigh Star und Geoff Bowker problematisierten in ihrer Analyse zu Standardisierungsinstrumente deren Macht in medizinischer und pflegerischer Praxis. Sie gaben zu bedenken, dass Standards die medizinische Praxis auf eine Art determinieren würde, die gefährlich werden könnte, weil andere relevante Perspektiven, Erklärungsmuster und Rationalitäten dadurch vernachlässigt, eventuell gar ignoriert werden würden. Zumindest auf Grundlage der hier zuletzt dargelegten empirischen Sequenz kann diese Sorge nicht geteilt werden: die standardmäßig definierte Höchstgrenze für den Blutdruck ist zwar präsent, sie wird jedoch in dem vorliegenden Beispiel als irrelevant empfunden. Es gab allerdings auch andere Fälle. Bei denjenigen Patienten, deren individuell-normaler systolischer Blutdruck bei unter 140mmHg lag, wurde deren Wert problematisiert, wenn er über einen bestimmten Zeitraum (zum Beispiel drei Tage hintereinander) über jenen von der WHO definierten Grenzwerten lag. Daran wird deutlich, dass dieser Wert in anderen Fällen durchaus handlungspraktische Konsequenzen haben konnte. Abschließend kann hier festgestellt werden, dass anhand telepflegerischer Arbeiten mit Vitalparametern außerhalb der Normbereiche besonders deutlich wird, wie sehr das technowissenschaftliche Gesundheitssystem deren Praktiken mitbestimmt. Die von der WHO getroffenen Entscheidungen zum Blutdruck und die Perspektive der Leistungsfinanzierer (das heißt der Krankenkassen) sind insofern nicht präsent, als dass sie in der Situation immer explizit als WHO-Norm verhandelt werden. Sie sind nicht sichtbar. Allerdings werden von der WHO reflektierte Studien und Interessen von Krankenkassen in der Analyse von Normbereichen aktualisiert – sie sind »manifest absent« (Law 2006: 84), das heißt, sie sind machtvolle Akteure, die räumlich abwesend sind, deren Ziele, Perspektiven und Interessen jedoch permanent mitgedacht werden.

Körper mit linearen Zeitlichkeiten Der hier zuletzt analysierte Graph reproduziert nicht nur einen kalkulierbaren Zahlenkörper und einen sich »im Alarm« befindenden Körper, der deshalb auf eine spezifische Art und Weise behandelt werden muss. Insbesondere die Verlaufskurven produzieren auch einen Körper mit einer besonderen Geschichte. Es ist keine private oder berufliche Lebensgeschichte, die rekonstruiert wird, keine Geschichte, die die Identität des Patienten berücksichtigt, sondern eine spezifische medizinische, von der 121

DER DIGITALE PATIENT

auch nur die letzten drei Monate als relevant definiert werden. Der sich zwischen den Achsen befindende Graph bewegt sich von links nach rechts durch stabile Zeiteinheiten. Entlang der x-Achse werden mit Strichen und den dazu vermerkten Daten Wochenbeginne dokumentiert, wodurch die Zeit in lineare, gleichmäßig verlaufende Abstände sortiert wird – Tage, Wochen und Monate verlaufen in gleichen Abständen (und reproduzieren damit auch eine verräumlichte Zeitkonzeption, vgl. Beck 1992: 17). Dem Gewicht und Blutdruck werden eine geordnete, systematisierte und generalisierte Geschichte gegeben. Im Sinne Bowkers und Bergs (1997) kann festgestellt werden, dass eine doppelte Kontinuität hergestellt wird. Zum einen wird der Körper selbst konstant gemacht, indem er immer wieder in die gleichen Variablen eingetragen wird, der immer entlang der gleichen Zeitachse läuft. Zum anderen bleibt die Zeitachse selbst konstant und verändert sich nicht. Sie bleibt dieselbe. Es ist dieser in jene lineare, stabile Geschichte transformierte Körper, der in der Folge von den Teleschwestern behandelt wird. »Frau Flick öffnet die Registrierkarte ›Gewicht‹ und mustert den dokumentierten Gewichtsverlauf des jetzt geöffneten Patienten. ›Der hat in letzter Zeit wieder etwas zugenommen‹, kommentiert sie einen Graphen [der ähnlich verläuft wie der in der Abbildung 10 rekonstruierte]. Da sie vermutet, dass es sich hierbei um eine Wassereinlagerung handeln könnte, dokumentiert sie in das Freifeld unter dem Graphen: ›Gewicht!‹. Sie erklärt: ›Wenn ich oder meine Kollegin dann morgen darauf gucken, dann werden wir dran erinnert, das jetzt hier im Auge zu behalten.‹« (Beobachtungsnotiz 22.01.2008)

In dieser empirischen Sequenz wird deutlich, dass Frau Flick innerhalb weniger Sekunden den an diesem Tag übertragenen Gewichtswert in Relation zu den Werten stellen kann, die in den drei Monaten zuvor übermittelt wurden. Sie weiß die Besonderheit des tagesaktuellen Gewichts nicht aus dem Kopf oder weil sie den Patienten leibhaftig sieht, sondern sie entnimmt es jener spezifischen medizinischen Geschichte des Patienten – einer in dem beschriebenen Koordinatensystem dokumentierten Geschichte. Die Zeit der letzten drei Monate kann in diesen wenigen Sekunden beurteilt werden; tatsächlich können insgesamt etwa 100 Fälle auf diese Weise komfortabel innerhalb einer Arbeitsschicht beurteilt werden. Dies verdeutlicht – obwohl die Zeitabstände entlang der xAchse suggerieren, dass es sich bei Zeit um etwas Lineares und Konstantes handelt –, dass in dieser Sequenz gesehen werden kann, dass es sich bei Zeit auch um etwas Qualitatives handeln kann, um etwas, das nicht in gleichmäßiger Geschwindigkeit voranschreitet, sondern dass Zeiträume mal gedehnt, mal gedrängt und verdichtet sind.

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DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

In telemedizinischen Zentren werden unterschiedliche Zeithorizonte des Körpers auch aktualisiert. In der Zeit, die man als die der »aktuellen Situation« bezeichnen kann, werden insbesondere die letzten drei oder vier Tage relevant gemacht und verfolgt, indem zum Beispiel eine Erinnerungsnotiz wie »Gewicht!« in dem Computerprogramm hinterlegt wird; evtl. wird am nächsten Tag nur noch diese aktuelle Situation relevant sein: »Ich frage sie, was passieren würde, wenn der Patient am nächsten Tag noch einmal ein halbes Kilogramm schwerer geworden wäre. ›Naja‹, sagt Frau Flick und schaut auf den Graphen [ähnlich wie in Abbildung 10]. ›Dann wäre er jetzt schon ziemlich hoch gekommen, und da würden wir ihn vielleicht schon mal anrufen und fragen, wie’s ihm geht, ob Probleme aufgetaucht sind, wie die Beine aussehen, wie’s mit dem Atmen ist, wie’s mit dem Schlafen ist. Das fragen wir alles ab. Ob er an seine Tabletten gedacht hat. Und dann eben auch noch mal der Hinweis auf die Trinkmengenbegrenzung. Und vielleicht kommt dann, dass es heißt: ›Ich war am Wochenende zum Geburtstag.‹ So, dann wissen wir, warum’s hoch ist.‹« (Beobachtungsnotiz 11.02.2008)

Im Zeithorizont der »aktuellen Situation« werden Informationen über den gegenwärtigen Zustand eingeholt und insbesondere die für die Herzinsuffizienz typischen Symptome wie Wassereinlagerungen in den Beinen oder Atemnot sowie die ausgemachten Risikoparameter, wie falschBlutdruck

Gewicht

EKG

Alarm aktiviert

Abbildung 10: Die Gewichtsverlaufskurve 123

DER DIGITALE PATIENT

es Trinkverhalten oder falsche Ernährung, abgefragt. Anhand dieser Aussage wird aber auch deutlich, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eindeutig erklärt werden kann, wie dieser Gewichtsverlauf interpretiert werden soll. Er kann als Indikator für Wassereinlagerungen angesehen werden, vielleicht ist es aber auch nur ein zwischenzeitlicher Anstieg des Gewichts aufgrund einer Geburtstagsfeier oder Ähnlichem. Dies verdeutlicht auch, obwohl der 3-Monats-Zeithorizont linear und stabil ist und dieser insofern fluide und instabil ist, als dass er im Nachhinein neu uminterpretiert werden kann. Heute deutet der Gewichtsanstieg vielleicht noch eine Wassereinlagerung an; morgen vielleicht nicht mehr; übermorgen vielleicht doch wieder.

Körper mit spezifischer Topographie Neben einem Zahlenkörper und einem Körper mit spezifischen Geschichten produziert das Computerprogramm im telemedizinischen Zentrum auch einen Körper mit einer besonderen Topographie oder, mit Foucault gesprochen, mit einer spezifischen »Geometrie«. Im Graph wird der Druck des Blutes auf die Gefäße von Vorgängen abgelöst, die unter der Haut des Patienten vorgehen. Ebenso wird die Masse des Körpers von dem Ort losgelöst, an dem er fleischlich erscheint. Er wird in logische Koordinatensysteme mit Höhen und Tiefen übersetzt. Es handelt sich somit um eine komplexe De- und Rekontextualisierung von Körpermasse und Blutdruck in eine Topographie zwischen x- und yAchsen. Diese Topographie des Körpers wird gar in der Rhetorik der Teleschwestern deutlich: »Frau Flick öffnet den Reiter ›Gewicht‹ des Patienten. Aufgrund eines klar erkennbaren Anstiegs innerhalb der letzten fünf Tage erscheint er ›im Alarm‹. ›Huch, wo will er denn hin‹, fragt Frau Flick und kommentiert so die ansteigende Tendenz. ›Hier muss ich jetzt auf jeden Fall mal anrufen, was los ist.‹« (Beobachtungsnotiz 31.01.2008)

Wenn Frau Flick fragt, wo er denn hin möchte, fragt sie nicht nach Reisezielen oder dergleichen. Sie kommentiert eine im Koordinatensystem angedeutete Richtung welche ihr erlaubt, eine Aussage über die Körpermasse des Patienten zu machen. Es ist der Körper in dieser Räumlichkeit, den Frau Flick sieht und den sie behandelt, indem sie Maßnahmen einleitet, die den Graphen in eine andere Richtung lenken sollen. Foucault argumentierte, dass die Verzeitlichung und Verräumlichung des Körpers in rationale und gegliederte Schemata die in der Moderne gewonnene Macht der Medizin ermöglichte. Durch Techniken wie 124

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diese werden im Körper vorgehende Prozesse dem ärztlichen Blick dargeboten. Die in solchen Ordnungssystemen beobachteten Symptome sind eine »ganz dem [ärztlichen] Blick dargebotene Wahrheit; ihre Verbindung und ihr Status verweisen nicht auf eine Wesenheit, sondern zeigen eine natürliche Totalität an, die lediglich Kompositionsprinzipien und mehr oder weniger regelmäßige Zeitbestimmungen aufweist.« (Foucault 1988: 105) In Praktiken und in Instrumenten wie den hier beschriebenen, wird dieses rationale und sichere medizinische Wissen reproduziert.

Die Grenzen des Körpers Diverse ethnologische und medizinanthropologische Forschungen haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Grenzen des Körpers nicht mit dessen Haut enden. Vielmehr gibt es vielseitige Wechselbeziehungen zwischen, um es zum Beispiel mit Mauss auszudrücken, einem Körper und individuellem und kulturellem Bewusstsein (Mauss 1975). Telemedizinische Zentren sind ein aktuelles und sehr offensichtliches Beispiel dafür, dass Körper keinen klaren Anfang und kein klares Ende haben: hier sind Körper allein deshalb grenzenlos, weil deren Vitalparameter mittels bestimmter Technologien erhoben, verkodiert und mit Informationstechnologien versandt werden können. Wenn Teleschwestern Patienten auf der Grundlage von Daten behandeln und es dabei sekundär ist, wo Teleschwester und Patient sich befinden, dann ist dies ein sehr plausibles Beispiel für ein Konzept des Körpers, dass dessen Verteiltheit und globalen Charakter betont. Der Körper ist aber nicht nur deshalb grenzenlos, weil er mittels moderner Informationstechnologien verlinkt und verteilt werden kann. Wenn, wie im ersten Abschnitt gezeigt werden konnte, das telemedizinische Zentrum ein soziotechnisches Netzwerk ist, dann ist auch der hierin behandelte Körper auf all die mit ihm assoziierten Elemente verteilt. Er besteht aus dem Körper der Patienten, dem Körper-aus-Fleisch-undBlut, den die an Herzinsuffizienz Leidenden jeden Morgen vermessen. Der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper ist verwoben mit diesem Körper, den Patienten morgens enthüllen, um daran ein Blutdruckmessgerät anzulegen oder dessen Gewicht zu erheben. Er ist verwoben mit dem Körper, dem Patienten bestimmte Tabletten zufügen und der ihnen Schmerzen, Sorgen und Probleme bereitet. Teleschwestern behandeln jedoch nicht nur diesen Körper aus Fleisch und Blut. Im telemedizinischen Zentrum wird auch ein medizinischer Lehrbuchkörper behandelt – ein Körper, der den ärztlichen Blick reprodu125

DER DIGITALE PATIENT

ziert. Blutdruck, Puls, Gewicht und Herzaktivitäten sind, wie weiter oben gezeigt werden konnte, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand relevanten Kategorien von Herzinsuffizienz. Teleschwestern und Kardiologen behandeln in ihren Routinen diesen in ihrer Ausbildung erlernten Körper. Sie benutzen die medizinischen Fachbegriffe wie Vorhofflimmern, Adipositas, Lungenkreislauf, Aorta etc. Die Beurteilung der Herzwände, Herzklappen und Pumpleistungen anhand eines Elektrokardiogramms verdeutlicht zum Beispiel, wie die im Medizinstudium erlernten Methoden den Körper koproduzieren. Auch damit einhergehende Repräsentationen körperlicher Vorgänge koproduzieren den Körper. Zum Beispiel das mechanistische und rationalistische Konzept des Herzens als eine Pumpe oder einen Motor, der bei einer bestimmten Frequenz eine bestimmte Menge Blut durch die Adern befördert. Der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper ist also auch auf diesen Lehrkörper und diese Repräsentationen verteilt. Noch weiter oben konnte gezeigt werden, dass das Framing der Krankheit Herzinsuffizienz vor allem in den letzten zehn Jahren erfolgte. In dieser Zeit wurden viele medizinische Studien initiiert, die Risikofaktoren der Krankheiten diskutierten und gesundheitsökonomische Dimensionen der Herzschwächekrankheit problematisierten. Auch diese Studien koproduzieren somit den im telemedizinischen Zentrum behandelten Körper. Es konnte gezeigt werden, dass gesundheitsökonomische und epidemiologische Studienergebnisse in den Praktiken von Teleschwestern berücksichtigt werden. Wenn eine wesentliche Arbeit der Teleschwestern darin bestand, zu überprüfen, ob die übertragenen Vitalparameter auf Wassereinlagerungen und Bluthochdruck verweisen, dann sind Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, so wurde, argumentiert, »manifest absents« in telepflegerischer Arbeit. Schließlich ist der von den Teleschwestern behandelte Körper auch auf all die beschriebenen Instrumente verteilt. Der medizinische Blick wäre machtlos, hätte er keine Graphen, Tabellen, Zahlen, EKG-Geräte etc., die ihm erst erlauben, die körperlichen Vorgänge zu fixieren, zu klassifizieren und zu bewerten. Nicht nur Diskurse sind als »Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie reden« (Foucault 1973: 74), sondern auch die in medizinischer Praxis benutzten Instrumente haben eine den Körper konstituierende Kraft. Der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper, so lässt sich schlussendlich festhalten, ist ein grenzenloses Hybrid. Der Körper aus Fleisch und Blut vermischt sich mit Standards, Grenzwerten, Gesundheitsökonomie und mit einem modernen ärztlichen Blick. Der im telemedizinischen Zentrum behandelte Körper ist ein globales Phänomen mit fluiden und offenen Anfängen und Enden. Besonders wichtig dabei 126

DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

ist, dass dieser im telemedizinischen Körper behandelte Körper ein anderer ist als derjenige, den Ärzte und Pflegerinnen in herkömmlicher Praxis behandeln. Technowissenschaftliche Gesundheitssysteme, so lautet das dem übergeordnete Argument, produzieren Körper mit einer anderen Ontologie – sie produzieren eine andere Wahrheit.

Fazit: Mikropolitische Dimensionen t e c h n ow i s s e n s c h a f t l i c h e r G e s u n d h e i t s s ys t e m e Indem in diesem Kapitel nach Stabilisierungsarbeiten von Teleschwestern und den im telemedizinischen Zentrum hergestellten und geformten Körpern gefragt wurde, sollte die Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme diskutiert werden. Ausgangspunkt hierfür war ein insbesondere von Marc Berg und Stefan Timmermans vorgeschlagener political gestalt switch, der betont, dass alle Medizintechnologien are »inherently political because their construction and application transform the practices in which they become embedded. They change positions of actors: altering relations of accountability, emphasizing or deemphasizing preexisting hierarchies, changing expectations of patients.« (Berg and Timmermans 2003: 22)

Einige der bis hierhin angesprochenen, in telemedizinischen Zentren praktizierten mikropolitischen Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme sollen im Folgenden zusammengefasst werden. Anhand der Darlegung der Stabilisierungsarbeiten von Teleschwestern konnte gezeigt werden, dass sich in telemedizinischen Zentren ein spezifisches Arzt-Pflege-Verhältnis reproduziert. Teleschwestern bekommen damit in gewisser Hinsicht ihren Expertenstatus aberkannt. Sie erscheinen als diejenigen, die vor allem Hilfsarbeiten erbringen, wohingegen Ärzte diejenigen Dinge erledigen, die als wichtig gelten. In diesem Abschnitt wurde, ebenso wie in den zuvor dargelegten sozialwissenschaftlichen Studien zu telepflegerischen Arbeiten (die Studien von Mair et al., Nicolini und Oudshoorn), dargelegt, dass Teleschwestern mit diesen Stabilisierungsarbeiten eigentlich für das telemedizinische Zentrum und für Patienten essenziell wichtige Arbeiten erbringen. Diese Arbeiten bleiben jedoch weitestgehend unsichtbar bzw. werden in der populären und wissenschaftlichen Präsentation der Projekte oft unsichtbar gemacht. Weitere mikropolitische Dimensionen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme konnten in der Darstellung der Art von Körpern ge127

DER DIGITALE PATIENT

zeigt werden, die in telemedizinischen Zentren entstehen. Das Problem des medizinischen Blicks, des rationalen, ordnenden und klassifizierenden Begutachtens liegt nicht nur darin, dass ihn nur bestimmte Experten ausüben können, sondern auch darin, dass er normalisierenden und disziplinierenden Charakter hat. Die Herzinsuffizienz, so wurde einleitend auch angedeutet, wurde vormals als eine relativ normale Begleiterscheinung des Alter(n)s angesehen. Heute ist sie ein medizinisches Problem, das behandelt werden muss. Die daran in vielerlei sozialwissenschaftlichen Studien geäußerte Kritik lautet, dass dieser Blick Patienten medikalisiert (Illich 1975) und auf ihre Krankheit reduziert (Scheper-Hughes and Lock 1987). Er fokussiere diejenigen Vorgänge, die unter der Haut vorgehen, die mittels bestimmter Technologien sichtbar gemacht werden können und klammert dabei andere Aspekte (soziale, psychische, emotionale etc.) der Krankheit (oder schlicht des Alters) aus. Der Vorwurf eines im telemedizinischen Zentrum praktizierten Reduktionismus kann auf der einen Seite nachvollzogen werden, ist jedoch aus mindestens zwei Gründen auch zu vorschnell. Zunächst fordert jene Aussage der Teleschwester, ausgerechnet im tele-medizinischen Zentrum näher am Patienten zu sein und ein »mütterliches Verhältnis« zu diesem zu pflegen, die Kritik an einem rationalisierenden und objektivierenden (vielleicht auch technokratischen) Blick heraus. Zweitens unterstellt der Begriff »Reduktionismus«, dass es so etwas wie einen realen Körper gäbe. Das hier mit dem Vokabular der Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelte Argument lautete, dass es viele Realitäten gibt, die durch viele Aktualisierungen des Körpers zustande kommen. Selbst in der beschriebenen telemedizinischen Praxis konnte die Aktualisierung multipler Realitäten gezeigt werden. Als Frau Flick einen Gewichtsanstieg bei einem Patienten feststellte und im internen Wiedervorlagesystem vermerkte, dass am nächsten Tag unbedingt das Gewicht kontrolliert werden sollte, behandelte Frau Flick keinen Körper in einem 3-MonatsZeithorizont. Sie behandelte einen Körper mit einem 4-TageZeithorizont und forderte damit jenes beschriebene und modernistische Konzept von gleichmäßig verlaufender Zeit heraus. In der Aktualisierung des 4-Tage-Zeithorizonts wird deutlich, dass es sich in telepflegerischer Praxis bei Zeit um etwas Qualitatives handelt, etwas, das in nicht gleichmäßiger Geschwindigkeit voranschreitet, sondern in dem Zeiträume mal gedehnt, mal gedrängt und verdichtet sind. Eine dritte mikropolitische Dimension technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme besteht darin, dass die gesundheitspolitischen und -ökonomischen Intentionen permanent mitregieren, obwohl sie unsichtbar sind. Gesundheitspolitik und -ökonomie sind von daher »manifest absents«. Wenn Teleschwestern das Gewicht und den Blutdruck begut128

DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

achten, deren Austritt aus Normbereichen etc. evaluieren, dann sieht dies nach neutraler, quasi-wissenschaftlicher Praxis aus. Wenn Standards und medizinische Kategorien jedoch, Latour folgend, als black-boxes (siehe die Definition von blackboxing auf S. 68) verstanden werden, dann ermöglicht dies die Berücksichtigung von deren politischen Dimensionen. Gehandelt wird hier vor allem deshalb, weil es darum geht, Hospitalisierungen zu vermeiden und damit Kosten zu sparen. Auch wenn mit der Vermeidung von Hospitalisierungen die Verhinderung von Ereignissen einhergeht, auf die vermutlich viele an Herzinsuffizienz Leidende selbst verzichten wollen, ist es nicht unwichtig zu betonen, dass telepflegerische Arbeiten vor dem Hintergrund ganz spezifischer makrosozialer Probleme stattfinden, die auf diese Weise bis in die Alltagsebene von Patienten heruntergebrochen werden. Wie die im telemedizinischen Zentrum praktizierte Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme Patienten tangiert, wurde in diesem Kapitel nur am Rande behandelt. Es konnten zwar Sequenzen dargelegt werden, in denen deutlich wurde, dass auch Patienten bestimmte Verbindlichkeiten eingehen, dass sie Arbeiten vollbringen müssen und dass ihre Alltage von telemedizinischen Zentren mitbestimmt werden. Die diversen anderen, in der Tat weitreichenden Konsequenzen der Interaktion von Patienten mit Teleschwestern, sollen jedoch im nächsten empirischen Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargelegt werden. Dann wird sich zeigen, dass viele der im telemedizinischen Zentrum hergestellten Eigenschaften des Körpers – das heißt Zahlenkörper, Körper mit Normen, Zeitlichkeiten etc. – auch in Praktiken von Patienten sichtbar werden.

Schluss Auch wenn Foucaults Arbeiten damit beschäftigt waren, diejenigen (Wissens-)Ordnungen herauszuarbeiten, die darauf abzielten, die Wahnsinnigen, die Kranken, die Straffälligen, die Schüler etc. zu disziplinieren und zu normalisieren, richtete sich seine Aufmerksamkeit auch auf solche Räume, in denen nicht nur Praktiken sichtbar werden. Zwischen dem utopischen und sozialen Raum, so konzeptionalisierte er, liegt Heterotopia: »There are also, probably in every culture, in every civilization, real places – places that do exist and that are formed in the very founding of society – which are something like counter-sites, a kind of effectively enacted utopia in which the real sites, all the other real sites that can be found within the culture, 129

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are simultaneously represented, contested, and inverted. Places of this kind are outside of all places, even though it may be possible to indicate their location in reality. Because these places are absolutely different from all the sites that they reflect and speak about, I shall call them, by way of contrast to utopias, heterotopias.« (Foucault 1986: 24)

Wenn im vorliegenden Kapitel nach im telemedizinischen Zentrum entstehenden und reproduzierten Machtverhältnissen gefragt wurde, dann war diese Frage unter anderem inspiriert von Foucaults Arbeiten. Ebenso war die Darstellung von Teleschwestern, die empfinden, im telemedizinischen Zentrum näher am Patienten zu sein, oder die Betonung von flexiblen Normbereichen und mehreren Zeitlichkeiten von Foucaults Suche nach heterotopischen Räumen geprägt. Dennoch unterschied sich die hier gewählte Form der Machtanalyse von der Foucaults. Zunächst wurde in diesem Kapitel nicht historisch argumentiert. Die hier betriebene Praxiographie präsentierte Handlungen, die in der Gegenwart unternommen werden; genauso wurden Inkonsistenzen in und Alternativen von telemedizinischer Rationalität in derzeit stattfindenden Routinen dargelegt. Vor allem aber unterschied sich der hier gewählte Ansatz von dem Foucaults, als dass die von der Akteur-Netzwerk-Theorie vorgeschlagene Machtanalyse angewandt wurde. Dies erfolgte vor allem dadurch, dass von Teleschwestern unternommene Stabilisierungsarbeiten im Sinne von Callons Translationskonzept untersucht wurden: »Translation is the mechanism by which the social and natural worlds progressively take form. The result is a situation in which certain entities control others. Understanding what sociologists generally call power relationships means describing the way in which actors are defined, associated and simultaneously obliged to remain faithful to their alliances. The repertoire of translation is not only designed to give a symmetrical and tolerant description of a complex process which constantly mixes together a variety of social and natural entities. It also permits an explanation of how a few obtain the right to express and to represent the many silent actors of the social and natural worlds they have mobilized.« (Callon 1986: 209, eigene Hervorhebung)

Diese Form der Machtanalyse ermöglichte zum Beispiel anzuerkennen, dass machtvolle und disziplinierende Blicke nicht ohne Zahlen, Graphen und Tabellen möglich werden. Auch EKG-Geräte, Waagen, rote Fähnchen, Kontrollkästchen und vieles mehr waren an diesem Prozess der Erstellung des Körpers beteiligt. Die Handlungsträgerschaft von solchen technischen Artefakten ernst zu nehmen, ermöglichte zu zeigen, dass in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen hergestellte Körper 130

DIE MIKROPOLITIK TECHNOWISSENSCHAFTLICHER GESUNDHEITSSYSTEME

nicht nur das Resultat von Diskursen oder geistiger Leistungen sind, sondern auch von diesen Objekten. Die in diesem Kapitel eingehaltene Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie und die der »After ANT« (siehe S. 7sff) ermöglichte, das telemedizinische Zentrum als eine mit diversen Elementen verwobene Einrichtung zu analysieren. Nicht nur vor Ort beobachtbare Menschen und Dinge, so konnte gezeigt werden, haben die Praxis der Teleschwestern determiniert, sondern auch und vor allem diverse »manifest absents«. Ein medizinischer Blick, epidemiologische Studien, gesundheitsökonomische Probleme und vieles mehr bestimmten über das mit, was Teleschwestern tun, auch wenn – wie gesagt – hierbei neue Freiräume entstanden. Es war insbesondere diese hier angewandte Netzwerkperspektive, die es ermöglichte, in den von Teleschwestern unternommenen Handlungen mehr zu sehen, als die eigentlichen Handlungen. Anstatt allein eine dichte Beschreibung (Geertz 1973) der vor Ort zusammengekommenen Elemente zu unternehmen, wurden die Elemente als mit dem spezifischen Kontext verwoben betrachtet, in dem sie entstanden.

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Der »dritte Weg«: Interaktionistische Sc ie nce & Te chnolog y Studies

Das folgende Zitat entstammt einem Interview mit Herrn Hinze, der in einem telemedizinischen Programm eingeschrieben ist und an Herzinsuffizienz leidet: »Herr Hinze: Das sind meine Listen, die ich da immer führe. TM: Wow! Herr Hinze: Ja, ne? Ich mess’ mich also – Blutdruck, Puls, Gewicht –, und dann mach’ ich das in den Computer. Und dann druck’ ich mir die aus. Und so hab’ ich dann entsprechend für jeden Monat… Ja? Hier sehen Sie das Datum, und hier genau, wie die Dinge laufen…Nicht, also hier ist Blutdruck. Hier ist das Gewicht. Also ich mein’, ich hab’ zugenommen, ein bisschen. Aber das ist kein Wasser, sondern das sind jetzt echt Muskeln. Nicht…« (Herr Hinze)

Während Herr Hinze dies aussagte, zeigte er mir einen Sichthefter, in den er mehrere DinA4-Zettel einsortiert hatte. Auf jedem dieser DinA4Zettel waren die Gewichts-, Blutdruck- und Pulswerte aller Tage eines Monats eingetragen. Insgesamt hatte er sich auf diese Weise eine Übersicht über die letzten ca. drei Jahre verschafft. Durch diese Praxis, so kann hier schon angedeutet werden, entsteht auf Seite der Patienten ein sehr ähnlicher Körper wie der im telemedizinischen Zentrum behandelte: ein Zahlenkörper und Normenkörper sowie ein Körper mit einer linearen Zeitlichkeit. Von nun an widmet sich diese Arbeit der Erforschung von Patientenperspektiven. Konkreter formuliert: Es soll untersucht werden, welche Konsequenzen technowissenschaftliche Gesundheitssysteme in Patientenalltagen haben; welche Arbeiten auf Patientenseite anfallen, welche Perspektiven und Alltagsroutinen sie entwickeln. Kurz, es soll unter-

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DER DIGITALE PATIENT

sucht werden, wie technowissenschaftliche Gesundheitssysteme unter die Haut gehen (Niewöhner, Kehl et al. 2008). Diese Fragen berücksichtigen einerseits die zuvor skizzierten Netzwerke. Auch hier wird bedacht, dass es sich bei den von Patienten gepflegten Körpern um globale Phänomene handelt. Um Körper also, die verteilt sind auf Fleisch und Blut, auf bestimmte Instrumente (wie zum Beispiel Sichthefter), auf Konzepte von Krankheiten, auf Repräsentationen vom Herzen sowie auf gesundheitsökonomische und epidemiologische Diskurse etc. Andererseits werden mit dem Fokus auf Arbeiten von Patienten – auf deren Perspektiven und Einstellungen – vor allem Thesen, Konzepte und sozialtheoretische Annahmen der interaktionistischen Science & Technology Studies bedacht. Bei diesem Ansatz der Wissenschafts- und Technikforschung handelt es sich um einen, dessen Grundlagen zwar in pragmatistischer Philosophie und dem symbolischen Interaktionismus liegen, dessen zeitgenössischen Studien jedoch auch Thesen und Konzepte der Akteur-Netzwerk-Theorie berücksichtigen. Bevor in einem empirischen Kapitel Patientenperspektiven behandelt werden, soll in diesem Teil die interaktionistische STS als ein »dritter Weg« vorgestellt werden: als eine Position, die in gewisser Hinsicht zwischen Akteur-Netzwerk-Theorie und denjenigen Ansätzen liegt, die Latour et al. als »soziodeterministisch« bezeichnen würden (also zum Beispiel den Ansätzen der sociology of expectations und dem Strong Programme). Diese »Zwischenposition« rührt daher, dass die Handlungsträgerschaft von Dingen einerseits sehr ernst genommen wird, in der interaktionistischen STS andererseits jedoch auch dafür plädiert wird, eben solche soziodeterministischen Kategorien wie »Einstellungen«, »Interessen«, »Perspektiven«, »Milieu« etc. ernst zu nehmen. Die interaktionistische STS wird hier deshalb auch als eine Möglichkeit verstanden, die von inzwischen mehreren Ethnologen und Sozialanthropologen geäußerte Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie aufzunehmen, die diese als zu metatheoretisch oder zu unbescheiden in ihren Anliegen betrachtet (vgl. Henare, Holbraad et al. 2006: 7). Dieses Kapitel gliedert sich wie folgt: Zunächst wird die Geschichte der interaktionistischen STS rekonstruiert, indem deren epistemologische Fundierung im Pragmatismus, symbolischen Interaktionismus und den darauf aufbauenden Erweiterungen Anselm Strauss’ dargelegt wird. Letzterem wird insbesondere deshalb mehr Aufmerksamkeit zuteil, weil er und seine Kolleginnen sich der Erforschung von chronischen Krankheiten aus sozialwissenschaftlicher Perspektive widmeten. Diverse, von Strauss entworfene Konzepte werden auch für die Interpretation von Patientenperspektiven (das heißt im nächsten empirischen Kapitel) berücksichtigt. Hier sollen sie vor dem Hintergrund ihrer spezifischen erkennt134

INTERAKTIONISTISCHE SCIENCE & TECHNOLOGY STUDIES

nistheoretischen Grundannahmen dargelegt werden. Die Geschichte der interaktionistischen STS endet mit der Skizzierung der in jüngerer Zeit unternommenen Erweiterungen. Hier wird, wie schon angedeutet, erklärt, wie sich Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie mit denen der pragmatistischen Philosophie und des symbolischen Interaktionismus in Einklang bringen lassen und worin die Unterschiede liegen. Auch in diesem Kapitel sollen – neben einer Diskussion von (erkenntnis-)theoretischen Grundlagen – forschungspraktische Schlussfolgerungen diskutiert werden. Wenn zum Ende des Kapitels mit »situational analysis« eine Methode der interaktionistischen STS vorgestellt wird, dann wird damit auch eine weitere in dieser Arbeit angewandte Analysemethode erörtert. Des Weiteren werden hier die Fragetechniken dargelegt und begründet, mit denen die Aussagen generiert wurden, die im nächsten empirischen Kapitel dieser Arbeit präsentiert werden.

Pragmatistische Wurzeln Das wesentliche Anliegen der maßgeblich von John Dewey, Charles Sanders Peirce und William James begründeten pragmatistischen Philosophie bestand darin, durch einen Fokus auf Handlungen diverse cartesianische Dichotomien zu überwinden – zum Beispiel den Körper-GeistDualismus. Dewey et al. bestritten nicht nur die hinter dieser metaphysischen Trennung enthaltenen Annahmen über das, was als wahr gelten kann. Sie bestritten gar, dass die Suche nach »objektiver Realität« (Descartes 1972: 3. Meditation, 4) wichtig sei. Ziel wissenschaftlichen Denkens müsse vielmehr sein, die handlungspraktischen Konsequenzen von bestimmten Situationen (Empfindungen, Aussagen, oder anderen Ereignissen) zu untersuchen bzw. als Ausgangspunkt der Analyse oder Forschung zu nehmen. In einer viel zitierten Maxime hielten William Isaac Thomas und Dorothy Swaine Thomas fest, dass »situations defined as real are real in their consequences« (1970). Es ist dieser Argumentation zufolge gleichgültig, ob die von Menschen beobachtete Welt real ist oder nicht. Wichtiger ist, dass die Welt so wahrgenommen wird und Menschen ihre Handlungen, Einstellungen und Perspektiven diesen Beobachtungen anpassen. Insbesondere Dewey entwickelte seine Thesen in Abgrenzung zu der Anfang des 20. Jahrhunderts aufgekommenen behavioristischen Psychologie. In dieser sah er eine Reproduktion des Körper-Geist-Dualismus durch ein darin hergestelltes sensorisch-motorisches Körperbild (das unterstellte, dass die Ursache für menschliches Verhalten in Umwelteinflüssen begründet liegt). Die behavioristische Psychologie versuchte, 135

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zum Beispiel in den seinerzeit angewandten Reiz-Reaktions-Modellen, nachzuweisen, dass der Mensch nur über die auf ihn einwirkenden Reize die Umwelt erfahren könne. Die Außenwelt – und weniger die Gedankenwelt –, so die damit einhergehende Aussage, determiniert deshalb menschliches Handeln. Dewey, wie Anselm Strauss später rekonstruierte, grenzte sich von dieser Argumentationslinie wie folgt ab: »His essential argument was this: it is incorrect to assert that a stimulus external to an organism elicits a response. Quite the reverse: organisms need not be set into motion, for any stimulus must play into whatever is the ongoing activity, so that the response elicited is the result of an interaction between the two.« (Strauss 1993: 2)

Eine wesentliche Annahme Deweys und der Pragmatisten lautete also, dass das Kennzeichnen lebender Organismen nicht ihr fester, stabiler Zustand sei, sondern deren Handlung und Interaktion. Anstatt jenes zyklischen Modells – Stimulus resultiert in Reaktion, und Reaktion ist neuer Stimulus – schlug Dewey den Behavioristen vor, allein Handlungen zu untersuchen und Menschen in diesen Versuchen damit als aktive Akteure zu verstehen und nicht als solche, die immer nur auf Reize reagieren. Deweys Argumentation zufolge reagiert ein Mensch zum Beispiel nicht nur dann, wenn er sich in stiller, konzentrierter Arbeit befindet und beim Klingeln des Telefons erschrickt. Vielmehr ist er an der aktiven Konstruktion des Schrecks mitbeteiligt. Nicht nur er selbst hat sich in diese Umstände für konzentriertes Arbeiten gebracht, sondern auch von den in dieser vermeintlich banalen Situation diversen ausfindig zu machenden Reizen wird in dieser Situation das Läuten des Telefons selektiv und somit aktiv als Umweltreiz aufgenommen und relevant gemacht. Es scheint kein Zufall zu sein, dass pragmatistische erkenntnis-, wissenschafts- und sozialtheoretische Annahmen in vielen zeitgenössischen empirisch arbeitenden und sozialwissenschaftlichen Studien wieder neu entdeckt werden. Die von John Dewey et al., später auch von George Herbert Mead und Herbert Blumer vorgeschlagene Fokussierung auf Handlungen passt allzu gut zu dem in den Sozialwissenschaften unternommenen practical turn (Savigny, Schatzki et al. 2000), nach welchem betont wird, dass Praxis als eine eigenständige Untersuchungseinheit verstanden werden sollte, da in dieser diverse Elemente, die zuvor einzeln betrachtet wurden – zum Beispiel Diskurs, Symbol, Körper – zusammenkommen und sichtbar werden. Neben den Sozialwissenschaften im Allgemeinen erfreuen sich pragmatistische Erkenntnistheorien auch in der Wissenschafts- und Technikforschung immer größerer Popularität (Pickering 1995; Strübing 2005; Latour 2007; Rammert 2007). Die auch 136

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von Latour zitierten Arbeiten werden dabei auch deshalb wieder berücksichtigt, weil sie, ähnlich wie die Vertreter der Akteur-NetzwerkTheorie, den Standpunkt vertreten, dass lange Zeit mitgedachte Dichotomien und Essenzialisierungen vermieden werden sollten und stattdessen eine relational-prozessuale Perspektive und Forschungspraxis angewandt werden sollte. Ähnlich wie bei Latour, Callon, Law und Mol wird bei Dewey et al. nicht davon ausgegangen, dass zum Beispiel Technik und Gesellschaft a priori gegeben sind. Vielmehr handelt es sich auch ihnen zufolge hierbei um Unterschiede, die in wechselseitigen Prozessen – in vorläufigen Interessen, technischen Möglichkeiten, Sinngebungen etc. – hergestellt und relevant gemacht werden.

D e r s ym b o l i s c h e I n t e r a k t i o n i s m u s Die wesentlichen Vorschläge des Pragmatismus – also insbesondere Handlungen zu fokussieren, Realität als etwas Prozessuales und als etwas zu verstehen, das in handlungspraktischen Konsequenzen sichtbar wird – wurden von Robert Park und seinen Kollegen des Chicagoer Instituts für Soziologie übernommen. Zusammen mit seinen Schülern, unter anderem Everett Hughes und Herbert Blumer, bildete er die erste Generation der soziologischen Chicago School (Travers 2001). Letzterer von beiden war es, der maßgeblich den Namen »symbolischer Interaktionismus« prägte. Aus einem Zitat seiner Antrittsvorlesung wird ersichtlich, was sich für ihn hinter dem Begriff »symbolischer Interaktionismus« verbarg und wie er mit der pragmatistischen Philosophie zusammenhängt: »All sociologists – unless I presume too much – recognize that human group activity is carried on, in the main, through a process of interpretation or definition. As human beings we act singly, collectively, and societally on the basis of the meanings which things have for us. Our world consists of innumerable objects – home, church, job, college education, a political election, a friend, an enemy nation, a tooth brush, or what not – each of which has a meaning on the basis of which we act toward it. In our activities we wend our way by recognizing an object to be such and such, by defining the situations with which we are presented, by attaching a meaning to this or that event, and where need be, by devising a new meaning to cover something new or different. This is done by the individual in his personal action, it is done by a group of individuals acting together in concert, it is done in each of the manifold activities which together constitute an institution in operation, and it is done in each of the diversified acts which fit into and make up the patterned activity of a social structure or a society. We can and, I think, must look upon human group life 137

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as chiefly a vast interpretative process in which people, singly and collectively, guide themselves by defining the objects, events, and situations which they encounter. Regularized activity inside this process results from the application of stabilized definitions.« (Blumer 1956: 687f.)

Die Übersetzung der pragmatistischen Philosophie in eine pragmatistische Soziologie wird an mehreren Stellen deutlich: Zunächst sind die von Blumer9 in diesem Zitat gegebenen Beispiele allesamt Gegenstand soziologischer Forschung. Es geht nicht mehr um metaphysische Dualismen, sondern um Gruppenaktivitäten und um in Interaktion hergestellte Identitäten, Bedeutungen oder Symbole. Zum anderen wird mit der Betonung dessen, dass es sich bei den genannten Gegenständen sozialwissenschaftlicher Analyse um solche handelt, die erst in sozialem Handeln bedeutungsvoll werden und sich diese Bedeutungen aufgrund ihrer Einbettung in soziale Prozesse ändern können, eine der wesentlichen pragmatistischen Kernthesen übernommen. Schließlich wird mit der Hervorhebung der Besonderheit von Situationen und Ereignissen (events) eine Analyseeinheit definiert, die dem Vorschlag der Pragmatisten nachkommt, Handlung und Interaktion als relevante Untersuchungskategorien zu definieren. Ähnlich wie die im zweiten Kapitel vorgestellte Ethnomethodologie, die im Übrigen ebenso maßgeblich von Dewey, Peirce und anderen Pragmatisten geprägt und inspiriert wurde (Cuff, Sharrock et al. 1998), wird damit eine Analyse der Mikroebene vorgeschlagen: eine Analyse von zeitlich und örtlich begrenzten Situationen (Thomas 1923), in denen Menschen (einzeln oder kollektiv) und Dinge aufeinander treffen und damit Identitäten, signifikante Symbole, soziale Positionen, Autorität etc. in Aktion herstellen, reproduzieren oder transformieren. Die Thesen und Analysekategorien der soziologischen Chicago School wurden insbesondere in diversen stadtsoziologischen und ethnographischen Forschungen entwickelt und angewandt (für einen Überblick siehe Lindner 2004). Diese sich meist den underdogs (Clarke 2005: 58) widmenden Forschungen – zum Beispiel Obdachlosen, irischen Migranten, Räubern – untersuchten zum Beispiel soziale Interaktionen in Bars, und wie unter anderem Religionszugehörigkeit, Nationalität, Geschlecht, Rasse in unterschiedlichen Milieus relevant und neu verhandelt wurden, welche Bedeutung Alkohol, Sport, Gangzugehörig9

Es sollte ergänzend hinzugefügt werden, dass Blumers Übersetzungsleistungen im Wesentlichen durch die vorausgegangenen Arbeiten von George Herbert Mead ermöglicht wurden (Mead und Morris 1934). Blumer bündelte und fixierte Meads Ideensammlung nach dessen plötzlichem Tod (Abels 2007).

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keit und vieles mehr für Individuen und Gruppen in bestimmten Situationen hatten. Kurz, in den diversen Untersuchungen auf Mikroebene wurde gezeigt, wie sich Identitäten und signifikante Symbole in Interaktion wandeln, warum sie nicht stabil sind und wieso sich aufgrund welcher Praxis für unterschiedliche soziale Welten spezifische Moralsysteme und Wertvorstellungen herausbildeten. Mit Hilfe des pragmatistischen Erkenntnismodells und Wirklichkeitsbegriffs wurde menschliches Verhalten in Großstadtmilieus analysiert und die sich im urbanen Milieu herausbildenden Praxen und Identitäten in ethnographischen Arbeiten festgehalten. Neben konkreten Vorschlägen zur Stadtpolitik und -entwicklung erstrebten diese Arbeiten eine Dokumentation der diversen im urbanen Raum anzutreffenden Perspektiven auf soziale Realität und wie diese Realität von den einzelnen Akteuren in ihren sozialen Welten koproduziert wird. Die Begriffe »Perspektive« und »soziale Welt« sind Kerntermini der interaktionistischen Theorie, die auch später in den interaktionistischen Science & Technology Studies relevant werden (zum Beispiel im Konzept des »boundary object«, vgl. Star und Griesemer 1989). Tamotsu Shibutani (1955) war der erste Interaktionist, der insbesondere den Begriff der Perspektive genauer konzeptionierte und in Verbindung setzte mit dem, was er Bezugsgruppe (reference groups) nannte (und was später »soziale Welt« genannt wurde). »A perspective is an ordered view of one’s world – what is taken for granted about the attributes of various objects, events, and human nature. It is an order of things remembered and expected as well as things actually perceived, an organized perception of what is plausible and what is possible; it constitutes the matrix through which one perceives his environment. The fact that men have such ordered perspectives enables them to conceive of their ever changing world relatively stable, orderly, and predictable.« (Shibutani 1955: 564)

Die Annahme einer Matrix, durch die Menschen ihre Umwelt hindurch evaluieren und wahrnehmen, verdeutlicht – Shibutani zufolge –, warum der soziale Alltag eigentlich doch nicht so unordentlich ist, wie vielleicht ursprünglich in interaktionistischen Arbeiten dargestellt. Tatsächlich bestand in der von Interaktionisten immer wieder unternommenen Betonung der Unordnung – zum Beispiel in der Beschreibung der dynamischen Lebenswelten von Wanderarbeitern und Obdachlosen (Anderson 1961), romantisierend »Dschungel« genannt – wiederum eine explizite Abgrenzung gegenüber dem seinerzeit vorherrschenden Strukturfunktionalismus Parsons’. Wohingegen letzterer, so monierten zumindest Parsons’ Kritiker, nur Strukturen und Systeme und somit eher 139

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die Stabilität in Gesellschaften erklären konnte, fokussierten die Interaktionisten die Mikroebene und somit die kontinuierlichen Herstellungsprozesse von Identität, sozialer Lebenswelt, relevanten Symbolen etc. und damit auch die Veränderungen von sozialer Realität. Dies wird in Shibutanis Definition von Perspektive in gewisser Hinsicht relativiert. Er gesteht zwar ein, dass Symbole (attributes of various objects) permanent reinterpretiert und damit immer auch verändert werden, behauptet jedoch zugleich, dass es so etwas wie eine Sozialisation gibt, also ein strukturelles Element, welches diese Interpretation mitbestimmt und somit nicht nur dafür sorgt, dass der Wandel wahrgenommen wird, sondern dieser auch insofern nicht radikal ist, als dass alle bestehenden Strukturen überworfen werden. Tatsächlich wird hier eine erste vorsichtige Verbindung der beiden großen soziologischen Kategorien – Struktur und Handeln – geschaffen (Fujimara 1991). In den Arbeiten von Anselm Strauss wird dies weiterentwickelt.

Soziale Welten bei Strauss Viele verschiedene soziologische Schulen haben mit unterschiedlichen Metaphern gearbeitet, um Gruppen von Menschen zu beschreiben. Der eher marxistisch ausgelegte Begriff der »Klasse« (Weber 1980; Marx 1987a; Marx 1987b) beispielsweise bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Verhältnis zu den Produktionsmitteln der Industrie stehen und berücksichtigt deshalb vor allem bestimmte ökonomische Merkmale. Der Begriff der »Schicht« (Geiger 1932) ist insofern etwas nuancierter, als dass er meist noch weitere soziale Merkmale und Dimensionen (wie Bildungsgrad, Alter, Nationalität etc.) reflektiert. Die noch nuanciertere Gruppenmetapher »Milieu« (Bourdieu 1987) berücksichtigt weitere Faktoren wie politische und moralische Haltungen, Stile und Herangehensweisen. Anselm Strauss hat diesem Repertoire an Gruppenmetaphern mit dem Begriff der »sozialen Welt« eine weitere hinzugefügt. Soziale Welt reflektiert die oben vorgestellte pragmatistische und interaktionistische Epistemologie: »In each social world, at least one primary activity (along with related activities) is strikingly evident […]. There are sites where activities occur: hence space and a shaped landscape are relevant. Technology (inherited or innovative means of carrying out these social world’s activities) is always involved. […] In social worlds, at their outset, there may be only a temporary division of la-

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bor, but once underway, organizations inevitably evolve to further one aspect or another of the world’s activities.« (Strauss 1978, 122)

Mit der Kreierung der Gruppenmetapher der sozialen Welt hat Strauss zum einen die wesentlichen Thesen des symbolischen Interaktionismus übernommen, sie gleichzeitig aber auch weiterentwickelt. Der Fokus auf gemeinsame Aktivitäten und gemeinsame Techniken, wozu auch gehört, »dass sich die Akteure in ihrem Handeln aufeinander als Angehörige einer Gruppe, Gemeinschaft oder Kultur beziehen, etwa durch gemeinsame Verwendung eindeutig konnotierter Symbole (zum Beispiel bestimmte Kleidung, Sprache, Haltung, Essgewohnheiten oder Arbeitsstile)« (Strübing 2007a: 85), ist eindeutig eine vom symbolischen Interaktionismus übernommene These. Das Vorhaben jedoch, mit dem Konzept der sozialen Welt eine Kategorie der Mesoebene zu etablieren, geht über die Ansprüche der mit der Mikroebene beschäftigten ersten Generation der Chicago- School-Soziologen hinaus. Nunmehr sind nicht mehr nur noch einzelne Personen Handelnde, sondern auch Organisationen und Professionen, zum Beispiel pflegerische und medizinische Professionen in psychiatrischen Institutionen, die Strauss in seinen frühen Arbeiten erforschte (Bucher und Strauss 1961). Nicht nur Individuen interagieren in dieser Hinsicht, sondern auch die soziale Welt der Pflege und die soziale Welt der Medizin. Eben aufgrund jener spezifischen Aktivitäten und der spezifischen von ihnen angewandten Technologien werden die Professionen Medizin und Pflege in einer psychiatrischen Einrichtung zu einer eigenständigen sozialen Welt. Strauss’ Konzept der sozialen Welten kann hinsichtlich einer seiner drei Dimensionen leicht kritisiert werden: Seine Unterstellung von Kernaktivitäten, die an klar lokalisierbaren Orten stattfinden, wird zum Beispiel auch durch das in dieser Arbeit behandelte Thema herausgefordert. In telemedizinischen Projekten ist nicht eindeutig, wo welche Arbeiten von wem erbracht werden. Haus- und Fachärzte müssen nicht in der Arztpraxis oder im Krankenhaus sein, um EKGs zu befunden. Patienten können ihre Vitalparameter an jedem Ort erheben – sie müssen nicht zu Hause sein. Susan Leigh Star (selbst Schülerin von Anselm Strauss) und Geoffrey Bowker haben daher für ihre Arbeiten entschieden, den von Lave und Wenger (1991) entworfenen Begriff »communities of practice« zu übernehmen, »rather than social world, although we believe that they have the same meaning« (Star, Bowker et al. 2005: 263). Diese Aussage reflektiert vor allem dem in ihren Forschungen begegneten Phänomen, dass an computerisierten Arbeitsplätzen die Kernaktivität »is not contained in a single spatial territory. […] It contains strong ties that are not covered by the terms family, formal organization, or voluntary 141

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association« (ebd. 243). Wenn von mir hier der Begriff der sozialen Welt verwendet wird, dann soll damit nicht jenes euklidische Raumverständnis mit übernommen werden. Der Begriff wird vielmehr deshalb benutzt, um bewusst »das Soziale« zu betonen. Strauss unterstellt, dass jeder Mensch Mitglied mehrerer sozialer Welten ist. Eventuell widersprechen sich diese Zugehörigkeiten gar. Ein Krankenkassenvertreter kann zum Beispiel auch ein Arzt oder Mitglied in einer Patientengruppe sein und unternimmt damit an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Kernaktivitäten – eventuell gar solche, die sich widersprechen. Unter anderem aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Mitglied gleich mehrerer, sich potenziell widersprechender sozialer Welten sind, kommt Strauss zufolge Dynamik und Transformation zustande, weshalb soziale Welt nicht nur eine Substanz-, sondern auch eine Prozesskategorie ist (und damit wiederum wird das anti-funktionalistische und anti-essenzialistische Anliegen oder, positiv formuliert, der relational-prozessuale Charakter des Konzeptes betont). Soziale Welten können sich neu formieren sowie neue Handlungsziele und einen neuen »going concern« (Hughes 1971) entwickeln, je nachdem, mit wem gerade interagiert wird. Zum Beispiel können Krankenkassen und Technikhersteller für die gemeinsame Konzeption eines telemedizinischen Programms zusammenkommen, wohingegen sie in anderen Angelegenheiten nicht kooperieren und interagieren. Eine weitere von Strauss entworfene Metapher – die der »sozialen Arena« – beschreibt »universes of discourse« (Mead und Morris 1964), also Verhandlungsräume, in denen verschiedene soziale Welten aufeinander treffen und ein Problem, das sie derzeit beschäftigt, gemeinsam angehen. Die im ersten Kapitel skizzierte soziale Arena bestand zum Beispiel aus allen denjenigen sozialen Welten, die zwecks der Verbreitung (oder Verhinderung) von innovativen Gesundheitstechnologien zusammenkamen und von daher über deren Fortbestand und Weiterentwicklung mit entschieden. Der Unterschied zwischen sozialer Welt und sozialer Arena ist somit vor allem einer des Umfangs, wobei jedoch keine klaren Größenangaben gemacht werden können (Clarke 1991). Auch eine Krankenkasse kann als eine soziale Arena begriffen werden, wenn man die darin anzutreffenden Professionen (Gesundheitsökonomen, Prokuristen etc.) als soziale Welten analysieren möchte. Ebenso kann die medizinische Profession als eine soziale Arena begriffen werden, bestehend aus den sozialen Welten Chirurgen, Anästhesisten, Kardiologen etc. Soziale Welt und soziale Arena sind von daher skalierbare analytische Konzepte (vgl. Strübing 2007a: 91), deren Ränder vom Analytiker für jeweilige Forschungszwecke konstruiert werden (Strauss 1978).

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Strauss’ Forschungen zur Bewältigung chronischer Krankheit Auch wenn Strauss et al. das Konzept der sozialen Welt in diversen auch hier zitierten Studien zu Professionen in medizinischen Institutionen entwickelt haben, wurden die Perspektiven von Betroffenen selbst nie ausgeklammert oder ignoriert. Tatsächlich entstammen viele, noch heute vielfach zitierte Konzepte wie »unsichtbare Arbeit« oder »Bewusstheitsarbeit« aus seinen Studien zu Bewältigungsstrategien von Menschen mit chronischen Krankheiten (zum Beispiel Glaser und Strauss 1965; Strauss 1984; Corbin und Strauss 1988). Da insbesondere die im nächsten Kapitel behandelte Frage nach den Arbeiten, die mit telemedizinischen Lösungen ausgestattete Patienten erbringen, die von Strauss et al. kreierten Arbeitskonzepte reflektiert, sollen zwei von ihnen im Folgenden erörtert werden. Sobald Menschen mit der Diagnose einer schweren chronischen Erkrankung konfrontiert werden, ist mit das Erste, was von den Betroffenen unternommen wird, eine Tätigkeit, die Strauss und seine langjährige Kollegin Juliet Corbin Biographiearbeit nannten. Als Biographiearbeit bezeichneten sie die aktive Integration der Krankheit in die Biographie oder Identität des Betroffenen, das heißt die anfallende Arbeit, um die Diagnose und die Abfindung mit einem Leben mit dieser Krankheit in die eigene Biographie einzubinden. Es geht, anders ausgedrückt, darum, die Krankheit sinnvoll mit bis dahin einigermaßen stabilen Identitäten in Einklang zu bringen. Anhand mehrerer Fallbeispiele zeigten Strauss et al. die diversen Kniffligkeiten, die mit dieser Arbeit verbunden sind. Sie berichteten regelrecht von einem »Kampf«, der aus »einem kontinuierlichen Jonglieren mit Zeit, Raum, Energie, Geld, Arbeitsplätzen, Aktivitäten und Identitäten« (Corbin und Strauss 1993: 13) bestünde. Schon die hier verwendeten Metaphern, insbesondere Kampf und Jonglieren, verdeutlichen wieder jenes interaktionistische Paradigma, das die Kontingenzen, das Aktive und Prozessuale dieser Arbeit betont. Eine weitere Tätigkeit, die Strauss und Corbin Körperarbeit nannten, umschreibt die diversen anfallenden Aufgaben, um die Krankheit so im Griff zu haben, dass man die diversen Aktivitäten des Alltags einigermaßen gut bewältigen kann. Das fängt bei kontinuierlich unternommenen Selbstreflexionen an – zum Beispiel mit der Überprüfung, ob man sich schlecht fühlt, ob man Fieber hat etc. –, geht weiter über selbstpflegerische Tätigkeiten – die zum Beispiel anderer Art sind bei Menschen, die sich gerade einer Chemotherapie unterziehen – bis hin zu den diversen anfallenden Aufgaben, um auf den aktuellen Krankheitszustand einzuwirken – Tabletten einnehmen, zusätzliche Informationen 143

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einholen und operationalisieren etc. Auch im Konzept der Körperarbeit wird dessen epistemologische Fundierung im Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus deutlich, wenn bemerkt wird: »Bei der Durchführung der Arbeit, die zur Bewältigung einer Krankheit notwendig ist, sind außerdem interaktionale Prozesse von entscheidender Bedeutung. Das heißt, daß die Betroffenen, wenn sie ihre Aufgaben mit Hilfe bestimmter Arbeitsverfahren verrichten, miteinander handeln. Soll der Interaktionsprozeß erfolgreich sein, dann müssen die Handlungen der Akteure eine Ausrichtung haben. […] Wichtig sind hierbei die der Interaktion vorausgehenden Überlegungen der Betroffenen und die auf die Interaktion folgenden Bewertungen der Handlung. Diese Bewertungen können dann wieder in die Planung eines erneuten Ausrichtungsversuchs eingehen.« (Corbin und Strauss 1993: 250f)

Der von Strauss und Corbin unternommene Fokus auf die Arbeit von chronisch Kranken hat insbesondere zwei Vorteile: Zum einen betont er, dass im Prozess der Krankheitsbewältigung nicht nur Arbeiten für medizinisches und pflegerisches Personal anfallen, sondern auch diverse weitere, die auf der Seite der Patienten für banal und nicht beachtenswert gehalten werden könnten. Wichtig ist weniger, wer die Aufgaben übernimmt, sondern eben die Betonung dessen, dass es sich eben nicht um banale Tätigkeiten handelt. Strauss et al. betonen, dass die von allen Seiten erbrachten Arbeiten von immenser Bedeutung sind, um die Krankheit behandeln zu können. Der andere Vorteil des Fokus auf Arbeit liegt darin, dass er – ganz in der Tradition Deweys – essenzialistisches Denken vermeidet. Denn obwohl es eine begriffliche Trennung von Körperarbeit und Biographiearbeit gibt, heißt das nicht, dass Strauss et al. jenen cartesianischen LeibSeele-Dualismus reproduzierten. Im Gegenteil verdeutlicht der Fokus auf das Handeln, wie Körper und Biographie miteinander verwoben und eben nicht voneinander getrennt sind. Diese Verwobenheit von Körper und Biographie oder Körper und Identität wird auch in Strauss’ Konzept der Körper-Biographie-Trajektorien deutlich. Der aus der Ballistik stammende Begriff der Trajektorie umschreibt eigentlich die kontingenten Routen von Flugobjekten, ist jedoch gerade deshalb eine die pragmatistischen und interaktionistischen erkenntnistheoretischen Annahmen reflektierende Metapher. Das Konzept betont Instabilitäten in Verlaufskurven. Wie sich die Krankheit entwickelt, wie sich das auf die Identität niederschlägt – oder umgekehrt: Welche Konsequenzen durch soziales Handeln verursachte Unsicherheiten auf den Verlauf von Krankheit haben, ist eben nie im Vornherein klar, sondern ist ein Prozess mit immer relativ offenem Ende. Was die 144

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Abbildung 11: Körper-Biographie-Trajektorien nach Strauss Metapher der Körper-Biographie-Trajektorien jedoch auch verdeutlicht, ist, wie eng Körper und Identität miteinander verwoben sind. Graphisch kann das der Abbildung 11 entnommen werden; die Körpertrajektorie markiert den Krankheitsverlauf, und die Biographietrajektorie verläuft ähnlich dazu. Jedoch sind sie nicht vollkommen deckungsgleich. Wenn sich die Krankheit verschlechtert, muss das keine unmittelbaren Konsequenzen für die Arbeitskarriere oder die Partnerschaft haben. Genauso kann eine Veränderung in der Biographietrajektorie – zum Beispiel plötzliche Arbeitslosigkeit – Konsequenzen für die Körpertrajektorie haben. Auf das Konzept der Körper-Biographie-Trajektorien soll im nächsten Kapitel noch genauer eingegangen werden. Dann sollen die unterschiedlichen Arbeiten von mit telemedizinischen Lösungen ausgestatteten Menschen mit chronischer Krankheit erforscht werden und die Konsequenzen dieser Arbeit auf das, was dann Körper-Identitäten-Trajektorien genannt wird, erörtert werden.

Die interaktionistischen Science & Technology Studies Unter anderem Strauss’ Studentinnen Susan Leigh Star, Adele Clarke, Joan Fujimara, aber auch andere Forscher wie zum Beispiel Stefan Timmermans und Monica Casper waren stark an der Herausbildung dessen beteiligt, was man als eine interaktionistische STS bezeichnen könnte. Welche spezifischen Beiträge diese Ausrichtung der Wissenschaftsund Technikforschung beisteuert, wurde schon recht bald nach den ersten Veröffentlichungen Callons, Latours und anderer Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich. In einem im Jahre 1989 veröffentlichten Artikel antworteten Leigh Star und James Griesemer (1989) mit dem 145

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Konzept des »boundary object« auf die in dieser Zeit in Frankreich und England entstehende Schule. Mit dem Konzept des boundary object wird betont, dass Objekte, die zwar denselben Namen und dieselbe äußere Erscheinung haben, für mehrere soziale Welten unterschiedliche Bedeutung besitzen können. Star und Griesemer untersuchten dies am Beispiel der Klassifikationsarbeit von unterschiedlichen in der kalifornischen Wildnis anzutreffenden Tierarten. Verschiedene soziale Welten – Jäger, Museumsleiter, Wissenschaftler, Amateursammler etc. – waren an der Klassifikation (der Bestimmung der Eigenarten und zentralen Kategorien) der Tiere beteiligt, obwohl sie alle etwas anderes unter diesen Klassifikationen verstanden: »[Boundary object] is an analytic concept of those scientific objects which both inhabit several intersecting social worlds […] and satisfy the informational requirements of each of them. Boundary objects are objects which are both plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. These objects may be abstract and concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable, a means of translation. The creation and management of boundary objects is a key process in developing and maintaining coherence across intersecting social worlds”. (Star und Griesemer 1989: 393)

In diesem Zitat werden nicht nur einige wesentliche Begriffe der interaktionistischen Theorie reflektiert (soziale Welt, identity, meanings), sondern auch die pragmatistische Auffassung, dass Objekte erst dann zu Objekten werden, wenn sie handelnd mit Bedeutung aufgeladen werden – wenn sie handlungspraktische Konsequenzen haben. Zugleich wird hierin eine Kritik am Translationskonzept der Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich. Das Konzept des boundary object ermöglicht eine andere Machtanalyse. Es beschäftigt sich ebenso mit Stabilisierungsarbeiten, der Frage also, wie Dinge oder Konzepte kohärent werden. Gleichzeitig betont es jedoch, dass der Prozess des »interessement« (vgl. S. 101) – also des »interessiert machen« – kein einseitiger ist oder einer, der nur von machtvollen Wissenschaftlern unternommen wird. Star und Griesemer kritisieren, dass mit dieser Frage Callons, Latours et al. eine managerial bias einhergeht: »The story in th[eir] case is necessarily told from the point of view of one passage point – usually the manager, entrepreneur, or scientist«. Jedoch, »there is an indefinite number of ways entrepreneurs from each cooperating social world may make their own work and obligatory point of passage for the whole network of participants. 146

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There is, therefore, an indeterminate number of coherent sets of translations.« (ebd. 390) Im Folgenden sollen einige weitere Eigenschaften und Kernthesen der interaktionistischen STS vorgestellt werden. Dabei wird insbesondere die Arbeit Adele Clarkes herangezogen. Sie umriss genauer, was die Kennzeichen einer interaktionistischen Wissenschafts- und Technikforschung sind. Die Schülerin Anselm Strauss’ erweiterte das interaktionistische Paradigma zu einer interaktionistischen Wissenschafts- und Technikforschung, indem sie insbesondere Foucaults Erkenntnistheorien und die Thesen der Akteur-Netzwerk-Theorie damit verknüpfte.

Disziplinierender Blick vs. Perspektive: Die Einbettung Foucaults Der Ausgangspunkt Clarkes markiert einen Bruch mit bis dato praktizierten interaktionistischen und pragmatistischen Argumentationslinien. Mit ihrer Forderung, dass der Fokus auf »action is not enough« (Clarke 2005: 305) liegt, geht ein Plädoyer einher, unter anderem machtanalytische Konzepte und Thesen Foucaults stärker in interaktionistischen Forschungen zu berücksichtigen. Sie reflektiert damit in gewisser Hinsicht ein umgekehrtes Problem: Denn jener oben zitierte practical turn ist unter anderem gerade Kennzeichen einer in den Sozialwissenschaften unternommenen Abwendung von diskursanalytischen Forschungen. Die Kritik an letzteren lautet, stark vereinfacht, dass sie den Handlungsspielraum und die Macht von dem vom Diskurs Betroffenen unterschätzt und systematisch missachtet. Das umgekehrte Problem kommt dadurch zustande, dass es, Clarke zufolge, in den interaktionistischen Forschungen geradezu eine naive Faszination für die Akteure auf Mikroebene gebe. Eine Faszination, die nicht berücksichtige, dass auch die »underdogs« in ihren Handlungen machtvolle Diskurse reflektieren (müssen). Einfach ausgedrückt: Die Interaktionisten waren einseitig auf die Frage fokussiert, was passiert und ermöglicht wird, wohingegen Foucault eher danach fragte, wie Handlung begrenzt oder eingeengt wird. Foucaults Metapher des »Feld des Sagbaren« zum Beispiel beschreibt mit dieser Wortformulierung einen Raum, der Diskurse durch verschiedene Praktiken kontrolliert und diszipliniert. Es sei das Ziel der Macht, so stellt er es in der »Ordnung der Diskurse« (1974) fest, die Kräfte und Gefahren des Diskurses unter Kontrolle zu halten, ihn »zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere Materialität zu umgehen« (Foucault 1974: 7). Zu diesen Kontrollpraktiken zählt Foucault neben dem Verbot und dem Ausschluss, den Ritualisierungen von Redesituation unter anderem auch das Tabuisieren. Auch 147

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die Praxis des naturwissenschaftlichen, »ärztlichen Blicks« ist im Vergleich zu Blumer, Strauss et al. eine, die den Handlungsspielraum einschränkt. In der Biomedizin wird, Foucault zufolge, Krankheit zunehmend ausschließlich als etwas behandelt, das man klassifizieren, diagnostizieren und lokalisieren kann mit dem Ziel, zu isolieren, zu vergleichen und zu unterscheiden. Clarke argumentiert, dass, obwohl es signifikante epistemologische Unterschiede in Foucaults und Strauss’ Fragen und Thesen gibt, dennoch Gemeinsamkeiten bestehen: »Foucault’s question is: Where can things go from here? Strauss’s parallel but differently inflected question is: What’s the action here?« (Clarke 2005: 56). In dieser Frage von Strauss jedoch, zum Beispiel im »negotiated order«-Konzept (Strauss 1993), wird prinzipiell auch ermöglicht, restriktive Praktiken zu berücksichtigen. Um dies in einem eher Foucault’schen Sinne zu unternehmen, sei es Clarke zufolge wichtig, nicht nur das Handeln einzelner, sondern auch die in einer Situation anzutreffenden diskursiven Elemente zu berücksichtigen. Ein solches könnte zum Beispiel – um auf meine eigene Forschung zurückzugreifen (vgl. S. 120f) – der von der WHO ernannte Grenzwert von 140 mmHG im systolischen Blutdruck sein: Diesen Grenzwert in der erforschten Situation zu berücksichtigen bedeutet nicht nur, die handlungspraktischen Konsequenzen zu reflektieren, sondern auch anzuerkennen, dass hier eine den Handlungsspielraum potenziell eingrenzende, machtvolle Instanz in die telepflegerische Arbeit interveniert. »Adding to such analytic consideration of the gaze, similar consideration of the perspectives of other entities (individual and/or collective, human and/or nonhuman) in that situation can disrupt the hagiographic moment without abandoning analysis of the gaze. Representing the multiplicity of perspectives in the situation, the various prisoners of various kinds of panopticons, ›minority‹ views, ›marginal positions‹, and/or the ›other(s)‹/alternity, also disrupts representational hegemony. Representing is intervention.« (Clarke 2005: 59)

Clarke strebt also eine Versöhnung beider Standpunkte an, indem sie vorschlägt, Blick (das heißt Kontrolle, Subjektivierung, Disziplinierung) und Perspektive (das heißt Multiplizität, individuelle Praktiken) analytisch zu kombinieren. Der von ihr dabei entwickelte Machtbegriff ist insofern auch zweiseitig oder, kritisch formuliert, widersprüchlich: der erste ist negativ-restriktiv und betont, wie Handlungsspielräume verkleinert und fremdbestimmt werden. Darüber hinaus wird jedoch auch die produktive Seite von Macht betont, welche Gestaltungsoptionen entstehen und genutzt werden. Clarke kommentiert dieses Problem nicht. Al148

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lerdings betont sie die Notwendigkeit, Widersprüche anzuerkennen und zu präsentieren (vgl. S. 151).

Materialität explizit: Die Einbeziehung der Akteur-Netzwerk-Theorie Der Ausgangspunkt für die zweite wesentliche Erweiterung des interaktionistischen Paradigmas kann – in Anlehnung an obiges Zitat – sloganartig zusammengefasst werden mit »human action is not enough«. Mit anderen Worten, Clarke plädiert dafür, die Handlungsträgerschaft von Dingen explizit mit zu berücksichtigen. Sie moniert, dass die Interaktionisten einerseits die Bedeutung von nicht-menschlichen Objekten stets betont haben; Herbert Blumer zum Beispiel hat, um noch einmal aus jener Antrittsvorlesung zu zitieren, festgestellt, dass »[o]ur world consists of innumerable objects – home, church, job, college education, a political election, a friend, an enemy nation, a tooth brush, or what not« (Blumer 1956: 685), und auch in Shibutanis Definition von Perspektiven wird die Bedeutung von Objekten betont. Ein wesentliches Argument der Vertre-ter der Akteur-Netzwerk-Theorie wurde, so Clarke, von daher in interak-tionistischer Forschung immer schon berücksichtigt: Materialität wurde Ernst genommen. Andererseits jedoch wurde dies selten expliziert: »It was through actor-network theory, developed since circa 1975 especially by Latour, Callon, Law, and Akrich in the transdisciplinary field of science and technology studies and pursued both qualitatively and quantitatively, that I first encountered this move [to the nonhuman]. Actor-network theory initiated a much more explicit and full(er) theoretical and methodological status for the nonhuman, and explicitly uses this term.« (Clarke 2005: 61, meine Hervorhebungen)

Die Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie haben in der Tat viele aktuelle, interaktionistische Arbeiten inspiriert. In »Sorting Things Out – Classifications and it Consequences« beispielsweise untersuchen Leigh Star und Geoff Bowker, wie medizinische Kategorien und Standards moderne Krankenhausinfrastrukturen, ärztliche Praktiken und die Wahrnehmung von Krankheiten koproduzieren. Der Ausgangspunkt dieser Studie ist die Annahme, dass »classifications and standards are material, as well as symbolic« (Bowker und Star 1999: 39) – womit genau jene zentrale These der Akteur-Netzwerk-Theorie aufgegriffen wird (weil materiell-semiotische Praktiken symmetrisch untersucht werden). Im Vergleich zu Vertretern der Akteur-Netzwerk-Theorie verfolgen jedoch vie-

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le interaktionistische Forschungen ein anderes politisches Ziel. Geoff Bowker und Leigh Star interessieren sich weniger für ontologische Fragen – sie fragen nicht danach, was Klassifikationen sind –; sie fragen eher danach, welche Konsequenzen sie in unterschiedlichen sozialen Settings haben und wie sie sich mit anderen Perspektiven versöhnen lassen. Gegen genau diese Fokussierung auf Perspektiven grenzt sich zum Beispiel Annemarie Mol ab, wenn sie für eine Praxiographie plädiert: »Here’s the task I’ve set myself. That is why I will not tell about the perspectives of medical doctors, nurses, technicians, patients, or whoever else is concerned. Instead I’ll try to find a way out of perspectivalism and into disease ›itself‹.« (Mol 2002: 12)

Die das interaktionistische Paradigma vertretenden Bowker und Star argumentieren dagegen, dass die Anerkennung von unterschiedlichen Perspektiven sehr wichtig ist. Die Erforschung von modernen Klassifikationssystemen beispielsweise ist deshalb zentral, weil »each standard and each category valorizes some point of view and silences another. This is not inherently a bad thing – indeed it is inescapable. But it is an ethical choice, and as such it is dangerous – not bad, but dangerous.« (Bowker und Star 1999: 5f). Damit lässt sich schlussendlich festhalten, dass die Wahl für unterschiedliche relationale und prozessuale Analysen immer auch eine politische ist. Während mit der Akteur-Netzwerk-Theorie weniger stark normativ argumentiert werden kann, weil Akteure, Dinge, Diskurse, Handlung etc. immer auf Netzwerke verteilt angesehen werden und – zum Beispiel – deshalb alle Menschen per se Cyborgs sind, wird in der interaktionistischen Forschung immer auch Kritik möglich, weil auch benachteiligte soziale Welten oder Perspektiven aufgezeichnet werden können. Dieser Unterschied ist wichtig zu betonen, auch wenn interaktionistische STS und Akteur-Netzwerk-Theorie vielleicht näher beieinander liegen, als dadurch suggeriert.

S i t u a t i o n a l An a l ys i s Die Erweiterung des interaktionistischen Paradigmas zu dem der interaktionistischen STS resultierte auch in einer Methodendiskussion. Die von Strauss et al. in Anlehnung an die interaktionistische und pragmatistische Epistemologie entwickelte grounded theory (Strübing 2004) enthält Clarke zufolge – gerade vor dem Hintergrund der Impulse aus den Science & Technology Studies – einige Probleme: 150

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»Conventional grounded theory has focused on generating the ›basic social process‹ occurring in the data concerning the phenomenon of concern – the basic form of human action […]. In traditional grounded theory study, the key or basic social process is typically articulated in gerund form connoting ongoing action, and at an abstract level […]. What I propose is to supplement basic grounded theory with a situation-centered approach that in addition to studying action also explicitly includes the analysis of the full situation, including discourses – narrative, visual, and historical.« (Clarke 2005: xxxii)

Es ist insbesondere jene von Clarke benutzte Metapher des »basic social process«, die die Intention erklärt, konventionelle grounded theory zu erweitern. Jene weiter oben genannten Körper-Biographie-Trajektorien können als Beispiel für einen stark vereinfachten, von Komplexität und Widersprüchen befreiten, basalen sozialen Prozess genannt werden. Clarke vermutet, dass solche stark vereinfachten Prozesse jedoch nur das logische Resultat einer Analysemethode sein können, deren ultimatives Ziel darin besteht, zentrale Eigenschaften von bestimmten Phänomenen festzustellen. Damit einher gingen nicht nur grobe Vereinfachungen. Darüber hinaus sieht Clarke im für die grounded theory typischen dreistufigen Kodierungsverfahren eine geradezu positivistische Reinigungsarbeit. Die von ihr vorgeschlagene Erweiterung besteht aus Situationsanalysen. Sie schlägt vor, zu verschiedenen Zeitpunkten des Forschungsprozesses die diversen, in einer Situation anzutreffenden Elemente auf spezifische Art und Weise festzuhalten und dies als Grundlage dafür zu nehmen, die Analyse in einem konstruktiven Sinne zu stören. Tatsächlich ist die Provozierung von Unsicherheiten und die Produktion von Unordnung ein erklärtes Ziel von Clarke: »That is, we need to find ways of discussing that which we have in the past scraped or trimmed off or somehow left behind in our research process while still telling coherent analytic stories. We need to address head-on the inconsistencies, irregularities, and downright messiness of the empirical world – not scrub it clean and dress it up for the special occasion of a presentation or a publication. This does not at all mean presenting raw data – but rather doing even more analysis and extended reflection that can take rawness into fuller and more explicit account.« (Clarke 2005: 15)

Um diese Herausarbeitung von Inkonsistenzen, Widersprüchen und Unordnungen sowie die Aufbrechung konventioneller, akademischer Denkarten zu ermöglichen, schlägt Clarke eine Analysetechnik vor, die aus drei Mappingverfahren besteht:

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• In situational maps sollen alle Akteure (Individuen und Gruppen), Aktanten (Objekte, Technologien etc.), Diskurse und andere Elemente auf einer bestimmten Fläche, zum Beispiel einem Papierbogen, flüchtig notiert werden, um dann in einem zweiten Schritt die Qualität der Beziehungen der unterschiedlichen Elemente zu analysieren. • In social worlds/arenas maps sollen soziale Welten – wie von Anselm Strauss definiert – graphisch festgehalten werden, um »sites of action« (Clarke 2005: 86) fixieren zu können. • Positional maps sollen schließlich genutzt werden, um die in einer sozialen Arena getroffenen Aussagen oder Positionen skizzieren zu können. Clarke verspricht sich mit Hilfe dieser Analysetechnik, auch die nicht in einer Arena formulierten Positionen und Aussagen herauszuarbeiten. Nicht zuletzt weil das für diese Forschung erhobene empirische Material mit wenigstens zwei dieser Mappingverfahren analysiert wurde, soll im Folgenden anhand eigener Beispiele demonstriert werden, wie diese Analysetechnik konkret umgesetzt werden kann.

Situational mapping Clarke schlägt für die Erstellung von situational maps ein zweistufiges Verfahren vor: Zunächst sollen auf einer relativ großen Fläche, zum Beispiel einem DINA3-Papierbogen, alle in einer empirischen Sequenz (einem Interview, einer Interviewsituation, einer Sequenz aus einer teilnehmenden Beobachtung etc.) anzutreffenden Elemente schriftlich festgehalten werden. Wichtig dabei ist, dass es im Moment des Aufschreibens nicht relevant ist, ob es sich um menschliche oder nichtmenschliche Elemente, um Text oder andere Dinge handelt. Beim situational mapping geht es explizit um eine sehr offene, explorative Tätigkeit, in welcher schnell und flüchtig schriftlich fixiert wird, welche Elemente beobachtet wurden und welche Assoziationen diese wecken. Als Beispiel für eine situational map kann eine ganz kurze praxiographische Sequenz aus dem vorherigen Kapitel herangezogen werden: die Parallelität verschiedener Zeithorizonte in einem telemedizinischen Zentrum (vgl. S. 121ff). Die konstruierte Situation – das heißt die von mir als eine Situation definierte Sequenz – ist die des »Abarbeitens« des sich »im Alarm« befindenden Patienten X. Nicht nur er und die Teleschwester werden in einer situational map festgehalten, sondern auch die Instrumente, die den Patienten X koproduzieren und für Frau Flick handhabbar machen.

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Abbildung 12: Eine situational map Die Tastatur, das EKG-Lineal, die Maus etc. sind alle in dieser Situation anzutreffen. Des Weiteren gibt es mit dem von Frau Flick geäußerten Kommentar »Der hat in letzter Zeit wieder etwas zugenommen« auch Textelemente in dieser empirischen Sequenz. Adele Clarke schlägt vor, nicht nur diese, sondern – bei entsprechender Beobachtung – auch politische und ökonomische Gegenstände, Symbole und räumliche Elemente (zum Beispiel geographische Besonderheiten etc.) in solche situational maps einzutragen (siehe Abbildung 12). Sofern es dem Forschenden im Prozess des situational mapping hilft, legt Clarke ihm oder ihr ein Kategoriensystem zur Seite, welches auf solche und weitere Elemente aufmerksam machen könnte. Der zweite Schritt des situational mapping besteht aus der Analyse der Relationen zwischen den einzelnen Elementen. Dies steht im Einklang mit dem übergeordneten Ziel nahezu aller zeitgenössischen Ansätze innerhalb der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung: dem Versuch der Vermeidung essenzialistischer Argumentation und der Etablierung relational-prozessualer Perspektiven. Im Prozess des relational mapping werden die bis hierhin erarbeiteten Karten mehrfach kopiert (oder ausgedruckt), um dann von immer wieder anderen Elementen ausgehend die Beziehung mit den anderen Elementen zu analysieren. Hierbei muss nicht zwangsläufig jedes Element berücksichtigt werden, sondern nur das für das Forschungsinteresse relevante. Dies kann wieder anhand der ausgewählten Situation verdeutlicht werden: Im dritten Kapitel wurde beschrieben, dass der Graph eine spezifische Geschichte über den Patienten erzählt; eine Geschichte, die in stabilen, gleichmäßig verlaufenden Abständen verläuft und deshalb den Patienten X und seinen Körper konstant macht. Dieser Punkt war im 153

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Abbildungen 13 und 14: Zwei relational maps Wesentlichen Resultat der Reflexion über das Patient-Graph-Verhältnis (siehe Abbildung 13). Hier wurde gefragt: Was für eine Geschichte erzählt der Graph über den Patienten? Was wird relevant gemacht, was wird irrelevant gemacht und welche Wahrheit wird dadurch produziert? Im Kapitel 3 wurde jedoch auch gezeigt, dass die stabile, lineare Zeitlichkeit nicht der einzige Zeithorizont ist, der im telemedizinischen Zentrum produziert wird. Als ein weiterer wurde der der »aktuellen Zeit« ausgemacht, in welchem die letzten drei oder vier Tage relevant gemacht werden. Dies manifestiert sich zum Beispiel in der Aussage »Der hat in letzter Zeit wieder etwas zugenommen«. Der Graph ist, rein formell betrachtet, immer noch derselbe. Jedoch bekommt er eine andere Dimension, einen anderen Zeithorizont, wenn er nicht vom Patienten, sondern von dieser Aussage her gedacht wird (siehe Abbildung 14 auf der vorherigen Seite). Nicht der durch den Graphen produzierte Patient 154

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steht jetzt im Mittelpunkt der Analyse, sondern diese Aussage selbst wird hinsichtlich ihres Einflusses auf den Graphen untersucht: Was macht diese Aussage mit dem Graphen? Welche Konsequenz hat diese Aussage? Situational maps, so viel kann vorerst abschließend festgehalten werden, sind Verfahren, die dafür genutzt werden, alle in einer als relevant erachteten Situation anzutreffenden Elemente zu fixieren und im Anschluss daran die Qualität der Beziehungen unter diesen Elementen zu untersuchen. Es ist vielleicht nicht unwichtig, erneut zu betonen, dass Clarke nicht den Standpunkt vertritt, dass durch diese Verfahren fertige Konzepte generiert werden, sondern dass es sich hierbei um vorsichtige Annäherungen handelt, die auf kreative Art und Weise versuchen, Multiplizität zu generieren und Unsicherheiten zu schaffen. Das Ziel ist es, am Ende keinen bereinigten »basic social process« zu skizzieren. Auch sei noch einmal verdeutlicht, dass es sich hierbei um eine Ergänzung des etablierten grounded-theory-Verfahrens handelt und nicht um dessen Ablösung. Tatsächlich ist zum Beispiel das Verfassen analytischer Memos – eine der zentralen Tätigkeiten der traditionellen grounded theory Strauss’scher Prägung – auch im Prozess des relational mapping eine wichtige und unbedingt notwendige Tätigkeit in der Analyse.

Social worlds/arenas maps Eine Erläuterung des Konzepts der sozialen Welten und sozialen Arenen ist ein paar Absätze zuvor unternommen worden und muss deshalb hier nicht weiter erörtert werden. Diesem Konzept folgend bedeutet die Kreierung einer social world/arenas map nach Clarke »[that one] enters into the situation of interest and tries to make collective sociological sense out of it, starting with the question: What are patterns of collective commitment and what are the salient social worlds operating here? The analyst needs to elucidate which social worlds and subworlds or segments come together in a particular arena and why. What are their perspectives and what do they hope to achieve through their collective action? What older and newer/emergent nonhuman technologies and other nonhuman actants are characteristic of each world? What are their properties? What constraints, opportunities, and resources to they provide in that world.« (Clarke 2005: 110)

Obwohl Clarke sich mit dem Konzept der sozialen Welten und sozialen Arenen einerseits auf Strauss beruft, werden in diesem Zitat auch die durch sie unternommenen Erweiterungen durch die Einfügung der Denkanstöße und Vorschläge Foucaults und der Vertreter der AkteurNetzwerk-Theorie deutlich. 155

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Eine wesentliche Herausforderung im mapping von sozialen Welten besteht Clarke zufolge in der Tätigkeit des Malens oder Kreierens dieser Karten, da hierfür genau über Positionen, Größen und Überschneidungen der sozialen Welten reflektiert werden müsse. Die im ersten Kapitel dargelegten Graphiken der sozialen Arenen »innovative Gesundheitstechnologien« (siehe S. 52f) in den beiden kontrastierten Ländern reflektierten insofern auch mehr als die angetroffenen »sites of action«. Dass es im Falle Deutschlands beispielsweise Überschneidungen zwischen Gesundheitsministerium und Krankenkassen gibt, aber keine zwischen Ärzteorganisationen und andern sozialen Welten, spiegelt bestimmte Kooperationen und Reibungen wider. Darüber hinaus hält Clarke social worlds/arenas maps auch deshalb für wichtige analytische Werkzeuge, weil sie im Prozess des Gestaltens dieser Graphiken den Forscher zwingen, das breitere Feld zu verstehen und somit die Bedingungen der Situation zu reflektieren, die – ihrer Argumentation zufolge – immer auch den Handlungsraum der Situation mitbestimmen: »the conditions of the situation are in the situation: there is no such thing as context« (Clarke 2005: 71). Ein weiterer wesentlicher Vorteil des social world mapping liegt in jener Herausarbeitung der – auch im ersten Kapitel vorgestellten – implizierten Akteure. Clarke versteht unter diesen diejenigen Akteure (oder Aktanten), die zwar innerhalb einer sozialen Arena problematisiert oder die von dem in der Arena behandelten Thema tangiert werden, die jedoch keine soziale Welt insofern darstellen, als dass sie durch gemeinsames Handeln die Arena mitbestimmen können. Patienten sind, sofern sie sich nicht in bestimmten Interessengruppen zusammengefunden haben, dem Strauss’schen Konzept zufolge eben keine Gruppe, die eine gemeinsame Kernaktivität aufweisen und an einem gemeinsam geteilten Ort auftauchen (so wie das zum Beispiel Krankenkassen oder Ärzteorganisationen tun). Das Konzept des »implicated actor« (vgl. Clarke und Montini 1993; Clarke 1998: 267; Clarke 2005: 46) ist insofern geeignet, um Machtanalysen bzw. Möglichkeitsanalysen zu unternehmen, und es reflektiert dahingehend den Vorschlag Clarkes, von Foucault inspirierte Fragen mit aufzunehmen. In den social worlds/arenas maps erscheinen implizierte Akteure deshalb als Punkte, um die keine Kreise gezogen werden (siehe Abbildung 1 und 2 auf S. 52 und 53).

Positional Maps Im positional mapping, dem letzten von Adele Clarke vorgeschlagenen Analyseverfahren, sollen in einer Arena geäußerte Positionen schriftlich und graphisch fixiert werden. Ziel dabei ist es nicht nur, den »going 156

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concern« (Hughes 1971) einer Arena herauszuarbeiten, sondern auch diejenigen Positionen herauszufiltern, die aus welchem Grund auch immer nicht formuliert wurden. Die erste Aufgabe in dieser Analysetechnik besteht entsprechend darin, das Feld insofern abstrakter zu denken, als dass herausgearbeitet werden soll, welche Meinungen und/oder Aspekte betont werden, aber nicht, von wem sie betont werden: »I am ironically arguing that articulating positions independently of persons, organizations, social worlds, arenas, nonhuman actants, and so on allows the researcher to ultimately, downstream, see situated positions better. Contradictions abound and positional maps enable us to see the broader situations, as well as specific positions, better.« (Clarke 2005: 127)

Da dieses Verfahren für diese Arbeit nur erprobt, aber nicht angewandt wurde, soll es nur der Vollständigkeit wegen kurz dargelegt werden: Adele Clarke schlägt vor, für das positional mapping einen herkömmlichen Graphen mit einer x- und einer y-Achse zu zeichnen, in welchen an den beiden Enden der jeweiligen Achsen jeweils ein +++ (für »stark/ mehr/häufig«) und ein --- (für »schwach/selten/we-nig«) zu notieren sei. Womit genau die Felder +++ oder --- gefüllt werden, hängt von dem vom Forscher als relevant erachteten Problem ab (für eine weitere Kurzzusammenfassung mit Graphiken siehe Mathar 2008b). Im Kontext dieser Arbeit wurde mit situational analysis gearbeitet, weil es sich hierbei um eine Methode und Analysetechnik handelt, die viele für diese Arbeit relevante theoretische Stränge reflektiert. Auch wenn es sich um den meiner Kenntnis nach einzigen Vorschlag für relationalprozessuale Analysen handelt, ist es nicht unwichtig zu betonen, dass situational analysis auch einige Probleme birgt. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, dass im Moment des Niederschreibens von in der Forschung begegneten Phänomenen diese zwangsläufig essenzialisiert werden: die relationale Perspektive besteht eher darin, Beziehungen zwischen Elementen zu untersuchen, nicht jedoch, wie Elemente auf soziotechnische Netzwerke verteilt sind oder wie sie sich in einem AkteurNetzwerk zu einem Element verdichten. Die Vertreter der AkteurNetzwerk-Theorie würden monieren, dass genau im Moment des Fixierens von ontologisch unterschiedlichen Elementen auf einem Stück Papier diese reproduziert werden. Wohingegen anerkannt wird, dass dieses Verfahren insofern im Widerspruch zu den Vorhaben steht, Kategorien nicht als a priori gegeben zu betrachten, wird hier vor allem deshalb für situational analysis argumentiert, weil es sich als heuristisches Mittel für eine Annäherung an radikalsymmetrische Analysen sehr gut eignet. 157

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Forschungspraktische Konsequenzen Die bis hierhin erörterte Methoden- und Theoriediskussion resultierte in dem von mir während meiner Patienteninterviews verwandten Interviewleitfaden. Im Folgenden soll dieser kurz dargelegt werden, um zu verdeutlichen, dass die von mir verwandten Werkzeuge und theoretischen Erkenntnisinteressen die im nächsten Kapitel präsentierten Ergebnisse koproduzierten. Ausführlichere Informationen zu den von mir angetroffenen Patienten sowie zu den Interviewsituationen werde ich wieter unten geben. In dem von mir verwandten Fragenkatalog wurden für den Einstieg in das Interview mit Patienten eher biographische Informationen eingeholt, die unter anderem auch Strauss’ Konzept der Biographiearbeit reflektierten. Dieser Teil, der eher offen gehalten war und den Interviewpartner möglichst wenig beeinflussen sollte, teilte sich in zwei Fragen auf. Sie lauteten, um direkt aus dem Fragebogen zu zitieren: »● Wenn Sie zurückdenken an die Zeit ohne die chronische Krankheit; welche Unterschiede gibt es zwischen dem ›Leben damals‹ und dem ›Leben heute‹? ● Haben Sie Strategien entwickelt, um den damals von Ihnen gelebten Alltag (Rückgriff auf Antworten von vorheriger Frage) so gut wie möglich in die Zeit mit Herzschwäche zu übertragen?«

An diese Fragen schlossen weitere an, die die Erschließung des Kontexts des eigentlichen Themas erstrebten. Das heißt, dass nebst diesen beiden Fragen zum Beispiel auch nach der Krankheitsgeschichte gefragt wurde (was die Vorgeschichte der Herzinsuffizienz war; wann der Arzt/die Ärztin ihn/sie das erste Mal mit der Diagnose konfrontierte; wie er/sie von dem telemedizinischen Programm gehört hat; warum er/sie daran teilnahm etc.). In einem weiteren Frageblock zur Techniknutzung zielten meine Fragen vor allem darauf ab, jene tagtäglich unternommenen Arbeiten mit der Technik zu explizieren. Da sich nach einem Pretest herausstellte, dass die folgende Frage einen guten Zugang zu diesem Themenkomplex ermöglichte, begannen die Interviews nach jenen Techniknutzungsfragen gewöhnlich wie folgt: »Können Sie bitte einmal den Grundriss Ihres Hauses/Ihrer Wohnung aufmalen und darin die Wege einzeichnen, die Sie üblicherweise morgens zurücklegen?«

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Auch hier galt das Erkenntnisinteresse zum einen den mit der Technik anfallenden Arbeiten und der Frage, welche diversen kleinteiligen und vermeintlich banalen Handlungsschritte erbracht werden müssen, um die Technik zu normalisieren. Ein weiteres Ziel dieser Frage war die Erfassung von dem, was man einen Reflexionsgrad nennen kann; das heißt, ich wollte erfahren, wie stark diese Routinen oder Interaktionen mit der Technik reflektiert wurden. Letzterer Punkt – Interaktion mit Technik – berücksichtigt auch jene zitierte Kritik Adele Clarkes an Anselm Strauss. Wohingegen letzterer insbesondere auf Mensch-Mensch-Interaktionen achtete, plädierte Clarke für die systematische Analyse von Mensch-Ding- (oder MenschTechnik-) Interaktionen. Clarke berücksichtigt damit einen wesentlichen Vorschlag der Akteur-Netzwerk-Theorie. Da sich in den Pretests herausstellte, dass sich diese Mensch-Ding-Interaktion insbesondere beim Handeln mit Zahlen und Indikatoren als theoretisch interessant und empirisch dominant erweist, wurden hierzu zusätzliche Fragen in den Leitfaden übernommen: »● Dokumentieren Sie eigentlich Ihre Messergebnisse? Zum Beispiel in Kalendern oder dergleichen? ● Können Sie mir bitte erklären, was gute Ergebnisse sind und was schlechte? (zum Beispiel bei Gewicht, Blutdruck, EKG etc.)?«

Mit Hilfe dieser Fragen sollten Antworten zu einem spezifischen Mensch-Zahl- und Mensch-Indikator-Verhältnis generiert werden. Unter wiederum stärkerer Berücksichtigung der Thesen und Konzepte des klassischen Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus wurde auch den Konsequenzen dieser Messtätigkeiten oder dieser Interaktion mit Zahlen im Fragebogen ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Es stellte sich jedoch heraus, dass allein Fragen nach den Konsequenzen keinen ausreichenden Erzählreiz darstellten, vor allem weil den Informanten meistens der Bezugsrahmen dieses Konzeptes fehlte und ihnen zum Beispiel nicht klar war, dass auch vermeintlich banale Dinge im Sinne meiner Frage als Konsequenzen zählen könnten. Deshalb war es meistens nötig, als potenzielle Konsequenzen konkrete Beispiele zu nennen: »● Welche Konsequenzen hat das Messen? (Müssen Sie den ganzen Tag an Ihre Ergebnisse denken? Reden Sie mit Ihrem Arzt darüber? Mit Ihrer Partnerin/Ihrem Partner?) ● Vergessen Sie die Zahl sofort, oder gibt es andere praktische Konsequenzen? (Denken Sie zum Beispiel bei niedrigem Gewicht, dass Sie heute mehr essen dürfen? Entwickeln Sie Ziele – zum Beispiel Zielgewichte 159

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oder einen bestimmten Blutdruck? Haben Sie schon einmal Angst bekommen aufgrund bestimmter Werte?)«

Ein weiteres Erkenntnisinteresse galt machtanalytischen Fragen. Konkret sollte der Frage nachgegangen werden, inwieweit diskursive Elemente, wie Adele Clarke sie nennen würde, im Alltag mitregierten und – wiederum – welche handlungspraktischen Konsequenzen diese hatten. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei den in Präventionsprogrammen immer wieder behandelten Themen Ernährung und Bewegung gewidmet: »● Achten Sie auf das, was Sie essen? (Achten Sie auf die Kalorienmenge? Fettgehalt? Kennen Sie den Wert Ihres Body-Mass-Index?) ● Haben Sie Ihre Ernährung umgestellt, und wenn ja, ist Ihnen das schwer gefallen? ● Waren Sie schon immer sportlich? Machen Sie jetzt mehr Sport? ● Müssen Sie sich stark überwinden, um sportlich aktiv zu sein?«

Da mich in diesem Zusammenhang auch interessierte, welche Rolle den Teleschwestern bei der Vermittlung ernährungswissenschaftlicher Informationen zukommt, stellte ich an dieser Stelle meistens weitere Fragen zur Interaktion mit jenen Expertinnen, fragte jedoch auch nach anderen Informationsquellen, aus denen sie möglicherweise an Tipps zu gesunden Verhaltensweisen gelangten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von mir gestellten Fragen die diversen in diesem Kapitel diskutierten epistemologischen Fundierungen reflektierten. Es ist vielleicht unnötig zu betonen, dass dieser Leitfaden selbst die Antworten und somit die Forschungsergebnisse koproduziert und von daher die im nächsten Kapitel präsentierten Resultate Ergebnisse meiner eigenen Konstruktionsprozesse sind. Die pragmatistische Antwort auf dieses Problem lautet zum einen, dass Interviewsituationen immer konstruierte Ereignisse sind und eine Nichtbeeinflussung der Interviewpartner ein forschungstheoretisches Ideal darstellt, das tatsächlich nie geleistet werden kann. Zum anderen scheint mir die durch mich unternommene aktive Kokonstruktion »meines Feldes« unproblematisch, weil ich meine Erkenntnisinteressen und epistemologischen Werkzeuge transparent mache. Eine Kernthese des Pragmatismus reflektierend stellen Strauss und Corbin fest, dass »truth is enacted« (Strauss und Corbin 1994: 279) und von daher Objektivität, Validität, Reliabilität etc. nicht die Gütekriterien ihrer wissenschaftlichen Forschung darstellen (Strübing 2002; Strübing 2004; Strübing 2007b). Ihnen zufolge ist ein Qualitätsmerkmal empirischer Arbeiten die Offenlegung eben jener Erkenntnisinteressen sowie der im Forschungs160

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prozess gefällten Entscheidungen über Informanten, Theoriegebäude, Methoden etc. Nicht zuletzt deshalb wurden diese im zweiten und dem hiesigen Kapitel in relativ detaillierter Form dargelegt.

Diskussion: interaktionistische STS als dritter Weg In der Überschrift zu diesem Kapitel werden die interaktionistischen Science & Technology Studies als ein dritter Weg dargestellt. Was ist damit gemeint? Es sollte verdeutlicht werden, dass interaktionistische STS und die Akteur-Netzwerk-Theorie einerseits sehr nahe beieinander liegen. Sowohl Latour als auch Star, Clarke et al. reflektieren in ihren Ansätzen die pragmatische Philosophie. Sie fokussieren Aktionen und Handlungen und versuchten, lange Zeit mitgedachte Dichotomien zu vermeiden. Darüber hinaus erkennen beide die Bedeutung der Materialität (Dinge, Technologien etc.) an und fragen von daher nach materiellsemiotischen Praktiken. Andererseits jedoch würden die Vertreter der Akteur-NetzwerkTheorie den interaktionistischen Forschungen, insbesondere aufgrund ihrer Fokussierung auf Interessen, Perspektiven, »meaning-making ressources« etc. – und nicht zuletzt aufgrund ihres Interesses für soziale Welten – vorwerfen, eine soziodeterministische Forschung zu betreiben. Im zweiten Kapitel dieser Arbeit konnte gezeigt werden, wie die Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie dieses Argument insbesondere gegen die Vertreter des Strong Programme richteten. Aus genau jenem Grund, das heißt aufgrund ihres Fokus auf Interaktionen und Handlungen als relevante Untersuchungseinheit, die sowohl erlaubt, Materialität als auch Interessen, menschliche Perspektiven und die Handlungsträgerschaft von Dingen ernst zu nehmen, stellt die interaktionistische STS für mich einen dritten Weg dar. Sie befindet sich in gewisser Hinsicht zwischen diesen Ansätzen, die das Soziale betonen und denen, die Handlungen auf Netzwerke verteilt wissen wollen. Der wesentliche Grund für die Wahl dieser Zwischenposition – oder dieses dritten Weges – liegt auch im spezifischen Erkenntnisinteresse des folgenden Kapitels: im Interesse der Patientenperspektiven. Der Akteur-Netzwerk-Theorie geht es um die Analyse von Netzwerken, um die Darlegung multipler, materieller Realitäten. Der interaktionistischen STS geht es um multiple Perspektiven, die zum Beispiel in Technologien wie Standardisierungsinstrumenten, Klassifikationssystemen oder Archivierungspraktiken (Bowker 2005) eingeschrieben sind und dabei auch andere Perspektiven unsichtbar machen oder – möglicherweise – 161

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diskriminieren. Damit geht ein politisches Anliegen einher, das von mir als relevant erachtet wird. Wenn untersucht wird, wie technowissenschaftliche Gesundheitssysteme unter die Haut gehen, dann soll dabei auch untersucht werden, welche Gefahren diesem Prozess innewohnen könnten. Es soll untersucht werden, ob alle von der in den Telemonitoring-Programmen eingeschriebenen Rationalität gleichermaßen profitieren, oder ob es auch Verlierer gibt oder gar Widerstände dagegen. Die Frage ist aus politischen Gründen bewusst soziodeterministisch gehalten. Auch die einleitend schon angedeutete Kritik insbesondere aus ethnologischen und sozialanthropologischen Diskursen an der AkteurNetzwerk-Theorie scheint mir mit der interaktionistischen STS aufgehoben: Die assoziationistische Sichtweise (vgl. Rammert 2007: 21) der Akteur-Netzwerk-Theorie, die Handlungsträgerschaft auf einen weiten Raum verteilt sieht, ist häufig nicht mit einer soliden Datengrundlage zu beantworten. Hingegen sind die Vorschläge, konkrete Situationen, Interaktionen und deren Konsequenzen zu analysieren, zumindest mit den hier zur Verfügung stehenden empirischen Daten beantwortbar. Die Begründung für eine im Folgenden angewandte interaktionistische STS soll schließlich mit zwei weiteren, eher forschungspraktischen Argumenten abgeschlossen werden: Zunächst ist die in dieser Ausrichtung stark ausgeprägte Methodenreflexion zu nennen. Sowohl bei grounded theory als auch bei situational analysis handelt es sich um Analysetechniken, die nicht nur eine theoretisch inspirierte Forschungshaltung reflektieren, sondern auch um solche, die in diversen Studien erprobt und weiterentwickelt wurden. Nicht nur Strauss, sondern auch Clarke haben ihre Methodenvorschläge in langjähriger Arbeit verfeinert und in teils harschen Diskussionen verteidigen müssen (Glaser 1992; Charmaz 2000; Cisneros-Puebla 2004; Kelle 2007). Für die von Strauss’ Schülerin vorgeschlagene Methode, Methodologie und Analysetechnik sprechen meines Erachtens zudem, dass sie einen aufwändigen und die für meine Zwecke relevanten Debatten reflektierenden Versuch darstellen, eine relational-prozessuale Forschung zu unternehmen. Es gibt viele plausible Einwände gegen Clarkes Mappingverfahren (unter anderem, dass darin bestehende Kategorien reproduziert werden). Die vielleicht saloppe Antwort jedoch lautet: Irgendwo und irgendwann muss man anfangen. Annemarie Mol liefert mit der Praxiographie einen Ansatz, wie relational-prozessual geforscht werden kann (wobei ihr Verfahren, wie im zweiten Kapitel kritisiert, nie vollkommen transparent gemacht wurde). Andere wichtige Vertreter wie John Law haben Bücher und Aufsätze verfasst, die radikal problematisieren, ohne Lösungen zu liefern (Law 2006). In einigen Konzepten, die als radikalsymmetrisch bezeichnet 162

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werden können, so wie Haraways Cyborg-Konzept (1991) oder Stratherns Konzept der »partial connections« (1992), bleibt weitestgehend unklar, wie diese erforscht werden sollen. Der zweite praktische Grund für die Entscheidung für die interaktionistischen Science & Technology Studies liegt in der Möglichkeit, Konzepte aus einer vergleichsweise langen Tradition zur Erforschung chronischer Krankheiten aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu berücksichtigen. Es ist von daher die Entscheidung für einen bestimmten etablierten Diskurs- und Forschungsstil, der damit gewählt wird und der es ermöglicht, in Diskussion mit vielen anderen Forschungen zu treten, die sich diesem oder ähnlichen Themen gewidmet haben (Mathar 2008a).

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Technow isse nschaft im Pa tiente nallta g 10

Bis zu diesem Punkt dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass telemedizinische Lösungen für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz vor dem Hintergrund ganz spezifischer Probleme und Herausforderungen des Gesundheitswesens implementiert und verbreitet wurden. Insbesondere Leistungsfinanzierer (das heißt Krankenkassen) hatten ein Interesse daran, mit solchen Programmen Patienten ein Leben zu Hause zu ermöglichen und somit vor allem Krankenhauseinweisungen zu vermeiden. Diese stellen einerseits für die Patienten ein unangenehmes Ereignis dar, andererseits haben stationäre Aufenthalte ökonomische Bedeutungen, die hohe direkte und indirekte Kosten verursachen. Im dritten Kapitel dieser Arbeit konnte anhand der Arbeit von Teleschwestern gezeigt werden, dass diese Krankenkassenperspektive und somit die gesundheitsökonomische Dimension chronischer Krankheiten ein »manifest absent« telepflegerischer Praxis darstellt. Das heißt, dass viele der von Teleschwestern unternommenen Arbeiten vor dem Hintergrund genau dieser Herausforderungen und Probleme des Gesundheitswesens erfolgten. Mit Hilfe des praxiographischen Ansatzes konnte zudem gezeigt werden, dass in telepflegerischen Tätigkeiten ein anderer Körper behandelt wird als einer, den Haus- oder Fachärzte in direkter, an einem Ort stattfindender Arzt-Patient-Interaktion versorgen. In einem telemedizinischen Zentrum gepflegte Patienten haben einen Zahlenkörper, einen flexiblen Normenkörper, einen Körper mit spezifischen Zeitlichkeiten und Topographien, der sich auf eine komplexe Art und Weise mit dem Körper-aus-Fleisch-und-Blut der Patienten verwebt. In diesem Kapitel soll untersucht werden, welche Arbeiten mit telemedizinischen Lösungen ausgestattete Patienten unternehmen und dabei unter anderem nach der Wirkmächtigkeit der in telemedizinischen Zent10 An English version of this chapter was published in Mathar 2010c. 165

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ren hergestellten Körper in Patientenalltagen gefragt werden. Wenn bei dieser Frage berücksichtigt wird, dass telepflegerische Arbeit in den im dritten Kapitel beschriebenen soziotechnischen Netzwerken stattfindet, lautet die Frage anders formuliert, wie das technowissenschaftliche Gesundheitssystem unter die Haut geht (Niewöhner, Kehl et al. 2008). Damit wird nicht nur gefragt, welche neuen Körperpraktiken Patienten unternehmen, sondern auch, welche anderen und neuen Perspektiven sie auf ihren Körper (sowie auf Krankheit und Prävention) einnehmen. Die Fragestellung dieses Kapitels zeigt sich inspiriert von den interaktionistischen Forschungen zu Strategien und Taktiken der Lebensführung von Patienten mit chronischer Krankheit. Die wesentliche Erweiterung der hier verfolgten Frage liegt jedoch in der Untersuchung von Mensch-Technik- und Mensch-Zahlen-Interaktionen. Diese Frage geht über den etablierten interaktionistischen Ansatz hinaus und berücksichtigt die im vierten Kapitel dieser Arbeit dargelegten Erweiterungen der interaktionistischen Science & Technology Studies. Über die Beschreibung von unterschiedlichen Perspektiven auf Zahlen, Krankheit, Körper und Heilung soll gezeigt werden, welche praktischen Konsequenzen Telemonitoring-Lösungen im Alltag von Patienten haben können und wie insofern das technowissenschaftliche Gesundheitssystem Einzug in Haushalte erhält. Hierfür wird, wieder in Anlehnung und Erweiterung an Strauss, von Körper-Identitäten-Trajektorien gesprochen.

An g e t r o f f e n e P r o j e k t e u n d P a t i e n t e n Die für diese Studie angetroffenen Patienten verteilten sich auf zwei telemedizinische Projekte, die unter anderem Unterschiede in ihrer technischen Ausstattung aufwiesen. Das erste von mir begleitete Telemonitoring-Projekt stattete seine Patienten lediglich mit Waage und Blutdruckmessgerät aus (wobei mit diesem Gerät auch der Puls gemessen wird). Das andere Projekt stellte seinen Patienten auch ein EKG-Gerät sowie einen kleinen Computer zur Verfügung, in den Patienten einmal am Tag standardmäßig Antworten zum allgemeinen Befinden eingaben. Die beiden telemedizinischen Projekte unterschieden sich jedoch nicht allein hinsichtlich der materiellen Ausstattung. Auch die Konzeption der Projekte unterschied sich. Im Fall des ersten Projektes wurden die Patienten nur über sechs Monate mit der Technik ausgestattet, um sie vor allem daran zu gewöhnen, die Risikoparameter ihrer Krankheit täglich selbst zu erheben. Nach dieser sechsmonatigen Einstiegsphase wurden die Patienten in ein Betreuungsprogramm überführt, in dem sie zunächst täglich, dann wöchentlich und dann in immer geringeren Frequenzen 166

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von den Teleschwestern des Telemedizin- Zentrums telefonisch kontaktiert wurden. In diesen Telefonaten wurde nur noch fernmündlich abgefragt, ob die Selbstüberwachung weiterhin erfolgte. Das zweite Projekt – jenes, in dem die Patienten mehr Technik zur Verfügung gestellt bekommen hatten – lief unbefristet. Zwar wurde den Patienten in Aussicht gestellt, dass keine unendliche Finanzierung des Projektes garantiert sei und ihnen die Technik entsprechend irgendwann wieder entzogen werden könne. Jedoch war dies bis zum Zeitpunkt der Patienteninterviews nicht eingetroffen, so dass ich Patienten begegnete, die seit vier Jahren mit telemedizinischem Equipment ausgestattet waren. Auch in der Konzeption dieses Projektes wurde eine »Hilfe zur Selbsthilfe« erstrebt. Eine Priorität dieses Programms bestand jedoch auch darin, unterschiedliche Ärzte des Patienten über das telemedizinische Zentrum zu vernetzen. Dies erfolgte insbesondere dadurch, dass die Ärzte über eine Verschlechterung des Gesundheitszustands informiert und gebeten11 wurden, den Patienten in die Praxis zu bestellen und Maßnahmen einzuleiten, die dem Trend entgegenwirken. Grob lässt sich also festhalten, dass im ersten telemedizinischen Projekt der Fokus auf Selbsthilfe, im zweiten eher auf Vernetzung von Leistungserbringern lag.

Zugang zum Feld Der Zugang zu an telemedizinischen Programmen teilnehmenden Patienten erwies sich als sehr mühselig. Dies hatte mehrere Gründe: Zunächst stellte die Zerstreuung der telemedizinischen Projekte eine Zugangsproblematik dar. Herauszufinden, wo solche Programme überhaupt stattfinden, gestaltete sich als unerwartet kompliziert. Oft handelte es sich um kleinere Programme innerhalb der integrierten Versorgung (§ 140 SGB V), die gar nicht breit beworben wurden. Manchmal wurden telemedizinische Technologien erst im Rahmen von klinischen Studien erprobt. Da es sich bei solchen Studien um sehr engmaschige Forschungsprojekte handelt, in denen keinerlei Verzerrungen auftreten dürfen, wurden ethnographische Begleitforschungen als potenzielle Gefahr gesehen, da die 20 bis 30 von mir angetroffenen Gesprächspartner, so die Befürchtung, anders behandelt werden würden als der Rest der an der Studie partizipierenden Patienten. Dies sei, so wurde befürchtet, eine unkontrollierbare Variable, die später die Ergebnisse leicht der Kritik aussetzen und somit die Wirksamkeit der Erkenntnisse mindern könnte. 11 Teleschwestern können die Haus- und Fachärzte nur darum bitten, entsprechende Leistungen zu unternehmen. Die Sozialgesetzbücher verbieten es, dass andere Leistungserbringer als die behandelnden Ärzte in die Versorgung der Patienten eingreifen. 167

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An Privatzahler telemedizinischer Lösungen heranzukommen, das heißt an solche Patienten, die die Leistungen bei Anbietern wie PHTS oder Vitaphone selbst einkaufen, gestaltete sich als schwierig, weil diese Firmen die Daten ihrer Kunden nicht ohne weiteres herausgeben dürfen. Die Patienten von Vertretern dieser Anbieter für meine Zwecke kontaktieren und anfragen zu lassen, stellte für diese einen zu hohen Aufwand dar, der (verständlicherweise) von keinem erbracht werden wollte. Schließlich wurde dieser Aufwand jedoch von denjenigen erbracht, deren telemedizinischen Projekte ich begleiten konnte: Deren Vertreter unternahmen aufgrund des sehr ernst genommenen Datenschutzes die Erstanfrage zum Interview. Auch wenn es sich hierbei um kurze Gespräche handelte, in denen erfragt wurde, ob beim Patienten eine generelle Bereitschaft bestünde, ein Interview zu geben, so mussten dennoch meine Person, meine Institution und mein Forschungsinteresse vorgestellt sowie eventuelle Rückfragen beantwortet werden. Erst wenn die Patienten diesem Vertreter gegenüber dem Gespräch zugestimmt hatten, konnte deren Telefonnummer an mich weitergegeben werden und die Kontaktaufnahme durch mich erfolgen. In diesen Erstgesprächen mit den Patienten stellte ich mich als jemand vor, der die Nummer von Mitarbeitern des Telemedizin-Projektes bekommen habe. Ich fragte, ob sie sich noch an dieses Gespräch erinnerten und ob sie noch grob im Kopf hätten, worum es mir ginge. Da dies überwiegend der Fall war, dauerten diese Gespräche dann meistens nicht lange und drehten sich nur um eine Terminvereinbarung. Schlussendlich gelangte ich auf diese Weise zu insgesamt 25 Interviewpartnern; neun von ihnen traf ich ein zweites Mal. Die Gespräche mit ihnen dauerten im Median ca. 75 Minuten und wurden anschließend transkribiert und über Atlas.ti kodiert und analysiert. Einleitend zu dem Interview, das bis auf eine Ausnahme bei den Patienten zu Hause stattfand, erklärte ich ihnen detailliert mein Anliegen. Ich erläuterte, dass ich in einem sozialwissenschaftlichen Projekt über zeitgenössische Präventionsprogramme forsche und etwas über das Leben mit Herzinsuffizienz lernen wollte. Insbesondere, so erzählte ich weiter, interessierte ich mich dafür, wie Patienten mit der Bewältigung von beidem, der Krankheit und der Telemedizin, zurecht kämen.

Interaktionen mit den Patienten Qualitative Forschung zu betreiben bedeutet, die dem Feld zugehörigen Personen tatsächlich anzutreffen und somit von Person zu Person zu interagieren. Diese Interaktion zu reflektieren ist nicht nur wichtig, weil sie zum einen Aussagen über zentrale Eigenschaften der angetroffenen 168

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Klientel bereithalten. Durch eine Reflexion der Interaktion mit den Informanten wird zum anderen ermöglicht, Hinweise zum Verlauf des Interviews zu geben sowie darüber, welcher Art die Situationen waren, denen die Daten entsprungen sind (vgl. hierzu die methodologische Debatte aus dem zweiten und vierten Kapitel). Hier sollen deshalb kurz einige Interaktionen dargelegt werden, die sowohl erste Hinweise über das Feld bereithalten als auch verdeutlichen, wie einige der im Folgenden präsentierten Daten generiert wurden. Der vielleicht wichtigste Bestandteil der Interaktion war, dass ich aufgrund meines Alters und meines physischen Erscheinungsbildes als gesund wahrgenommen wurde. Dies führte auf Seite meiner meist über 65-jährigen »Gewährsleute« zu der Annahme, dass ich gar nicht nachvollziehen könne, was es bedeute, alt zu sein und/oder an einer chronischen Erkrankung zu leiden. Oft wurden lange Erzählungen über physische und soziale Einschränkungen im Alltag eingeleitet mit: »Als ich so alt war wie Sie, habe ich mir darüber auch noch keine Gedanken gemacht, aber heute...«. Ähnlich verhielt es sich, wenn meine Gesprächspartner mir mitteilten, wie schwierig es für sie sei, ein bestimmtes sportliches Programm zu betreiben. Mir wurde erklärt, dass diese Übungen für mich sicherlich lächerlich seien, sie selbst sich aber anstrengen und oft überwinden müssten, diese auszuführen. Des Weiteren spielte meine geographische Herkunft eine Rolle: Einige hörten an meinem Akzent, an bestimmten Formulierungen und/oder Begriffen heraus, dass ich aus Hamburg und somit – und dies war insbesondere bei Bewohnern der ehemaligen DDR wichtig – aus Westdeutschland stamme. Dies war insofern relevant, als dass dies einige Male dazu führte, dass wir über die Gesundheitssysteme der beiden Staaten sprachen und insbesondere über diejenigen Aspekte, die den in Ostdeutschland sozialisierten Menschen im Vergleich aufgefallen sind: Zum Beispiel wurde über empfundene Ungerechtigkeiten gesprochen, darüber, dass man das Gefühl hätte, nur behandelt zu werden, damit der Arzt Geld verdiene, oder – umgekehrt – dass man befürchtete, einige Medikamente nicht ausgestellt zu bekommen, weil der Hausarzt sonst sein Budget überschreite. Dies wurde mit der eigens gemachten Erfahrung ergänzt, dass es das in der DDR so nicht gegeben habe. Wenn das Gespräch auf Themen wie Datenschutz oder Angst vor Überwachung kam, spielte die Sozialisation oft explizit eine Rolle. Einige Interviewpartner erklärten mir sehr eifrig, dass es sich hierbei quasi um eine westdeutsche Paranoia handele, die für sie nicht nachvollziehbar sei. Des Weiteren war meine soziale Herkunft, zumindest meine Sozialisation im akademischen Milieu, für einige Gesprächspartner von Bedeutung. Viele meiner Informanten gaben mir Einblicke in ihre Berufsbio169

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graphien und kamen dabei nicht nur auf die teilweise körperlich sehr harten Anforderungsprofile zu sprechen, sondern auch auf die damals an den Tag gelegten Lebensstile. Sie verdeutlichten mir, dass sie in ihrem Arbeitsalltag als Maurer, Schmied oder Fleischer weder daran gedacht hätten, etwas Obst zu sich zu nehmen, noch dass sie nach Feierabend die Zeit und Muße gehabt hätten, etwas besonders Gesundes zu kochen. Dies wurde mit den in dieser Zeit geltenden Arbeitslogiken und -routinen erklärt, die, so wurde es zumindest angedeutet, ich als jemand, der nie in dieser Zeit und in diesem Milieu gearbeitet habe, gar nicht nachvollziehen könne. Auch wenn die meisten der von mir angetroffenen Personen in solchen Berufen arbeiteten, habe ich auch Personen getroffen, die einen Hochschulabschluss hatten und dies auch nicht nur auf Nachfrage erzählten. Auch an für die übergeordnete Frage nicht irrelevanten Daten gelangte ich über diese Interaktion: Zum Beispiel traf ich zwei ausgebildete Ingenieure, die davon berichteten, dass die Motivation, an einem telemedizinischen Programm teilzunehmen, vor allem daher rührte, dass sie neugierig seien auf neue technologische Errungenschaften. Schließlich wurde auch die Erstkontaktierung durch den Vertreter des Telemedizin-Projektes von einigen meiner 25 Interviewpartnern angesprochen. Sie fragten oft nach, wie mein Verhältnis zu den Mitarbeitern des telemedizinischen Projektes sei. Insbesondere wenn tendenziell kritische Aussagen über das telemedizinische Programm gefallen waren, vergewisserten sich einige, dass sich dieses jetzt hoffentlich nicht negativ auf »meine Kollegen« auswirken würde. Auch bei positiven Äußerungen, zum Beispiel zu freundlichen Teleschwestern, wurde manchmal hinzugefügt, dass ich diese Äußerung gerne weiter kommunizieren könne. Dies zeigt, dass die von mir angetroffenen Patienten reflektierten, dass ich nicht »netzwerkfrei« war, sondern mit den Leitern oder Mitarbeitern des telemedizinischen Projektes in Kontakt stand. Sowie sich dann die Situation ergab, teilte ich mit, dass ich nicht unmittelbar mit dem Projekt assoziiert sei und ihre Äußerungen unter uns bleiben würden, wenn sie dies wünschten. Umgekehrt bestätigte ich, dass ich positive Resonanz gerne weitergäbe. Meinem Empfinden nach handelte es sich trotz dieses vielleicht heiklen Punktes eher um offene und ehrliche Gespräche, in denen der Verlauf nicht durch den in gesundheitswissenschaftlichen Forschungen immer wieder problematisierten Dankbarkeitseffekt (Hensen 2007) verzerrt wurde. Es gab selbstverständlich noch viel mehr Facetten der Interaktion mit meinen Gesprächspartnern. Abschließend sei noch kurz erläutert, dass das Geschlecht der Personen insofern weniger bedeutend war, als dass die von mir angetroffenen Personen in großer Mehrheit männlich 170

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waren. Dieser Punkt wurde mir insbesondere klar, als ich nach einer Reihe von Interviews mit männlichen Patienten das erste Gespräch mit einer Frau führte und in einen verdutzten Blick sah, als ich eine Frage zum Gewichtsverlauf stellte. Diese Frage, die zum Hintergrund hatte, die bei Wassereinlagerungen ergriffenen Maßnahmen zu erfragen, war bei Männern nie seltsam aufgestoßen. In den folgenden Abschnitten sollen nun die von Patienten unternommenen Arbeiten analysiert werden, die dazu beitragen, dass die Medizintechnologien in deren Wohnraum und die Handlungen mit diesen normalisiert werden. Nach der Skizzierung einiger zentraler Arbeiten sollen die praktischen Konsequenzen dieser Handlungen dargelegt werden und anhand der für diese Zwecke kreierten Körper-Identitäten-Trajektorien sichtbar gemacht werden.

Die Einrichtung des Heimlabors Die Analyse der von Patienten unternommenen Arbeiten beginnt mit der Untersuchung der Einrichtung dessen, was ich als das »Heimlabor« bezeichne. Heimlabore sind in diesem Falle diejenigen Arbeitsplätze, an denen die Patienten ihre Körper vermessen, wo sie sich wiegen und ihren Blutdruck erheben, evtl. auch – dies jedoch in Abhängigkeit des telemedizinischen Programms, in das sie eingeschrieben waren – ein EKG schreiben lassen. Neben den Erhebungen dieser Werte werden diese von dort aus meistens auch an das telemedizinische Zentrum versandt und in eigenen Dokumentationsverfahren festgehalten. Heimlabore müssen, wie schon in der Praxiographie eines telemedizinischen Zentrums gezeigt werden konnte, bestimmte Eigenschaften aufweisen, damit sie eine reibungslose und störungsfreie Datenweiterverarbeitung garantieren. Auch Patienten erfahren schon bald, dass zu diesen Eigenschaften des Heimlabors unter anderem gehört, dass bestimmte Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden müssen und deshalb ein spezifischer Ort eingerichtet werden muss: »Ich hab’ mir die Waage nicht ins Badezimmer gestellt, ich habe die am Schreibtisch stehen, damit nicht jeder da drauf steigt. Weil jeder, der da drauf 12 steigt, wird automatisch mit dem Zentrum dort verbunden.« (Herr Bauer )

12 Auch die Patientennamen sind Aliase. 171

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Indem er sich sein Zimmer so einrichtet, vermeidet Herr Bauer das, was der Teleschwester Frau Heise, wie sie im dritten Kapitel zitiert wurde, einen »Tick mehr Arbeit« machen würde (wenn sich zum Beispiel die Enkelin von Herrn Bauer auf die Waage stellen würde). Herr Bauer deutet hier zwar schon an, dass es etwas seltsam anmuten könnte, die Waage nicht im Badezimmer stehen zu haben, liefert jedoch gleich die plausible Erklärung dafür, dass dies so eingerichtet wurde, damit »nicht jeder da drauf steigt«. Entsprechend hat Herr Bauer seinen Schreibtisch, der am Ende seines Zimmers steht, geräumt und für die Telemedizin freigemacht. Zum einen berücksichtigt diese Einrichtung sein arbeitsteiliges Verhältnis mit dem telemedizinischen Zentrum. Zum anderen hat er an seinem Schreibtisch auch einen Stuhl stehen, und somit Voraussetzungen (geschaffen), die es ihm erlauben, sich dort auf eine für ihn angenehme Weise zu vermessen – denn auch den Blutdruck kann er dort im Sitzen erheben. Auch Herr Essmann hat die Waage nicht im Badezimmer aufgestellt, sondern einen anderen zur Verfügung stehenden Raum zum Heimlabor umfunktioniert: »Wiegen tue ich mich im ehemaligen Zimmer unserer Tochter. Da war Platz und dann… ich hab’ die Waage auf den Fußboden gestellt, und auf dem alten Bett liegt dann das Blutdruckmessgerät, und dann bin ich eben dahin marschiert. Bad raus, da rein, und dann hab’ ich mich angezogen.« (Herr Essmann)

Auch Herr Essmann deutet in diesem Zitat an, dass das Aufstellen der Waage im ehemaligen Zimmer der Tochter etwas seltsam anmuten könnte. Zumindest die Praxis, dass er »eben dahin marschiert«, gibt vielleicht ein etwas komisches Bild ab. Zugleich wird in diesem Zitat jedoch auch eine gewisse Pragmatik deutlich, und zwar mit dem Umstand, dass diese Praxis zu einer eigentlich unhinterfragten Routine geworden ist. Das Zimmer befindet sich auf der anderen Seite des Badezimmers und damit in komfortabler Nähe. Auch dass das ehemalige Bett der Tochter heute nicht mehr als Bett fungiert, sondern als angenehme Sitzmöglichkeit beim Messen des Blutdrucks, ist zur Routine geworden. Das, was über Zeit zum Heimlabor geworden ist, was unhinterfragt in bestimmte Routinen eingebettet wurde, ist das Ergebnis vieler vorausgegangener Überlegungen und später in der Wohnung vorgenommener Veränderungen. Andere von mir angetroffene Patienten haben Telefonleitungen verlegt, damit die Messung und Übertragung der Werte nicht im Schlafzimmer erfolgen muss (wo es die noch schlafende Partnerin stören könnte); manche tauschten nur die bis dahin gewohnten 172

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Seiten im Bett (damit der Patient auf der Seite schläft, von der aus er die Technik vom Bett aus bedienen kann). Beide der letztgenannten Tätigkeiten betreffen insofern nicht nur die Räumlichkeiten der Wohnung oder des Hauses, sondern auch die Lebenspartner der Patienten. Auch in anderen Situationen bestimmen diese über die Eigenschaften des Heimlabors mit. Zum Beispiel dann, wenn Platzmangel in der Wohnung vorherrscht und der Patient deshalb kein eigenes Zimmer nutzen kann und sich stattdessen im Flur vermessen muss. Die Partnerin von Herrn Weigelt besteht daher darauf, dass das Heimlabor nach jedem Messvorgang wieder abgebaut wird: »Wenn das hier immer stehen würde, das wär’ zu viel. Das würde meine Frau dann auch wegpacken. Ein Gerät allein geht ja noch, aber wenn ich dann noch das Blutdruckmessgerät da hätte und die Kabel hier noch rauskommen; nee, das will sie nicht. [...] Wenn jetzt alles draußen stehen würde, dann sieht’s auch zu doll nach Krankheit aus. [...] Es ist letztlich ja auch kein Akt. Mich würde es wahrscheinlich auch eher anstinken, wenn das alles hier liegen würde, hier Blutdruckmessgerät und da… Ja, das ist so… So steril, aber so sieht’s normal aus... Es soll ja schließlich noch ein Flur bleiben.« (Herr Weigelt)

In all diesen empirischen Sequenzen wird ersichtlich, dass die telemedizinischen Technologien nicht nur Objekte sind, die einen Gesundheitszustand messen, sondern dass es sich auch um Dinge handelt, die mit diversen anderen Elementen in Verhandlung treten können – der Wohnungsgröße, der Raumaufteilung, persönlichen Geschmäckern und vielem mehr. Es handelt sich bei diesen Einrichtungstätigkeiten des Heimlabors vielleicht um banale Aktivitäten. Sie sind jedoch nicht unwichtig abzubilden, da, wie andere sich diesem Thema widmenden Sozialforscher immer wieder verdeutlicht haben, die Bereitschaft von Patienten, Medizintechnologien zu Hause zu nutzen, von deren Einschätzung über »constraints and opportunities associated with the technology in relation to their illness trajectory, their social network, and the place where it is used« abhängt (Lehoux, Saint-Arnaud et al. 2004: 618). Darüber hinaus sind diese Fragen im Kontext dieses Kapitels wichtig zu reflektieren, da sie veranschaulichen, dass Patienten, wenn sie zum Beispiel ihren Blutdruck oder das Gewicht messen, weit mehr tun als Vitalparameter zu erheben. Die anfallenden Arbeiten sind weiterreichend und vielseitiger. Dahinter stehen Diskussionen, Entscheidungen und Kompromisse, die unter den Patienten und deren Angehörigen ausgehandelt werden mussten und insofern wenigstens in ihrem Alltag nicht trivial waren. Neben Fragen zu Kniffligkeiten in der Nutzbarkeit und Aneignung (Oudshoorn und Pinch 2003) verdeutlichen diese empiri-

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schen Sequenzen zudem, dass die Installation von Medizintechnologien im Wohnraum der Patienten nicht nur das Ende eines Problems markiert, sondern auch dessen Anfang. Annemarie Mol präsentierte in ihrer Studie zu Blutzuckermessgeräten ein ähnliches Ergebnis (Mol 2000). Auch wenn die Hersteller dieser Technologien verkünden, dass mit diesen Geräten neue Freiheiten geschaffen werden würden, zeigte sie, dass diese Geräte auch viele neue Fragen aufwerfen, die das Leben dieser Patienten nicht unbedingt nur leichter machen. Dieser Punkt wird im sechsten Kapitel dieser Arbeit wieder aufgegriffen, wenn die Grenzen der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme diskutiert werden (siehe insb. S.215ff.).

Routinen herstellen Im vorherigen Abschnitt wurde ansatzweise schon herausgearbeitet, dass Gesundheitstechnologien nicht nur dann erfolgreich genutzt werden können, wenn Patienten einen spezifischen Ort einrichten, sondern sie diese auch in bestimmte Routinen einbetten. Sowohl bei Herrn Essmann ist dies verdeutlicht worden (als er aussagte, dass er immer vom Bad ins Zimmer der Tochter geht) als auch in der Aussage von Herrn Weigelt (wenn er beschrieb, dass er nach dem Messen die Technik immer wieder abbaut, weil es ihn ästhetisch stören und ihn und seine Frau stets an seine Erkrankung erinnern würde). Tatsächlich konnte ich bald feststellen, dass diese Routinen in den meisten Fällen höchst reflektiert waren. Dies ist mitunter damit zu erklären, dass die Patienten gebeten werden, für die Messungen möglichst gleiche Bedingungen zu schaffen. Blutdruckmessergebnisse beispielsweise, so wurden sie aufgeklärt, lassen sich eher dann miteinander vergleichen und sind somit erst dann aussagekräftig, wenn sie immer entweder vor oder immer nach der Einnahme von blutdrucksenkenden Tabletten erhoben wurden, jedoch nicht mal davor und mal danach. Unter anderem hatte diese Bitte und Information zur Konsequenz, dass ich nur wenige Menschen antraf, die nicht ziemlich detailliert darlegen konnten, in welcher Abfolge sie welche Tätigkeiten erbrachten. Herr Vossmann ist ein Beispiel hierfür. Im folgenden Zitat beschreibt er die Chronik der alltäglich unternommenen Aktionen entlang eines für diese Zwecke von ihm aufgezeichneten Grundrisses der Wohnung (den Grund für die Praxis des Grundrissaufzeichnens sowie die Vorgehensweise habe ich im vierten Kapitel dargelegt; siehe S. 158ff). Nachdem er in diesen die allmorgendlich abgegangenen Stationen eingetragen hat, beschreibt er den Besuch derselben wie folgt: 174

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»Morgens früh steh’ ich auf... immer zur gleichen Zeit, muss ich ja, wegen Tabletteneinnahme. So… um sieben Uhr… halb sieben steh’ ich auf, und dann geh’ ich zuerst in die Küche und mach Kaffee [er zeigt mit dem Stift auf den Ort im Grundriss, wo die Küche ist]. Und dann mach’ ich mich fertig, geh’ hier ins Bad [zeigt mit dem Stift auf den Ort, wo das Bad ist], mich waschen und so weiter. Dann ist erst mal für Toilette eine Tasse Kaffee drin [geht also wieder zurück in die Küche]... Dann kommt das Wiegen mit derselben Bekleidung – nämlich Schlafanzug –, damit das konstant ist [geht mit dem Stift den Weg ins Wohnzimmer nach. Unter dem Wohnzimmer hat er, wie er mir zuvor mitteilte, seine Waage unter einem Sofa versteckt. Diese holt er zum Messvorgang also immer wieder heraus]. Dann bleibe ich erst mal hier für Blutdruck – das Blutdruckgerät –, da sehen Sie es ja. TM: Ach, da ist es, ja... [schaue hinter mich – es befindet sich auf der linken Seite des Sofas]. Herr Vossmann: Ja… dann sitze ich hier erst mal… so fünf Minuten, weil, man braucht dann eine gewisse Ruhephase, bevor man draufdrückt. TM: Ach so. Und dann setzen Sie sich noch so einen Moment hin und... Herr Vossmann: Ja… Weil der Blutdruck muss erst mal zur Ruhe kommen. Der ist ja immer anders. Und wenn man sich gerade erst hinsetzt, dann ist er wieder anders. Wenn man aufsteht, irgendwas macht, dann geht der Blutdruck gleich schon… TM: Und dann sitzen Sie immer so fünf Minuten auf diesem Sonnenblumenkissen und messen immer danach den Blutdruck? Herr Vossmann: Ja (lacht)… und wenn das fertig ist… inzwischen ist dann acht, und dann ist meine Frau auch fertig. Und dann wird gefrühstückt. Gemeinsam. Schön, in aller Ruhe. TM: Und dann müssen Sie die Werte noch übertragen, oder? Herr Vossmann: Ja, muss ich auch jeden Tag machen. Dann sag’ ich immer nach dem Frühstück: ›Ick geh’ jetzt anne Strippe‹, sag’ ich... (lacht). Ich nenn’ das Strippe... [zeigt auf das Gerät, das die Werte überträgt]. Sie sagt: ›Ist gut!‹ Und zwar: Ich muss das sagen, weil, falls mal das Telefon klingelt, und ich sitz’ hier dran, dann funktioniert das nicht. Das seh’ ich dann hier [zeigt auf eine Lampe am Gerät, die wohl bei Übertragungsfehlern aufleuchtet]. Und wenn das klingelt, dann ruf’ ich: ›TELEFON AUS!!!‹ Das ruf’ ich dann von hier.« (Herr Vossmann)

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Anhand dieser Aussage wird deutlich, wie viele einzelne Schritte in dem Messvorgang involviert sind. Man kann erahnen, dass diese allmorgendlich stattfindenden Ereignisse das Ergebnis einer über einen längeren Zeitraum, bis hin in kleinere Details geplanten Tätigkeit sind – wie das Trinken einer Tasse Kaffee zwischen Duschen und Toilettengang –, die perfektioniert wurde. Auch die Aussage, dass er immer mit den gleichen Bekleidungsstücken auf die Waage steigt, um keine Verzerrung durch andere Kleidung zu verursachen, verdeutlicht diese höchst reflektierten Einzelschritte. Die zusätzlich eingelegte Fünf-Minuten-Pause vor dem eigentlichen Messen des Blutdrucks berücksichtigt zudem nicht nur die Erfahrung, dass die durch das Messgerät hervorgebrachten Ergebnisse beinahe immer wieder anders als vorherige sind (weil zu viele Parameter darauf einwirken), sondern zeigt auch eine von ihm (und, wie sich zeigen wird, von vielen anderen) erarbeitete Strategie, wie man möglichst viele dieser Einflussfaktoren eliminieren kann. Sowohl das Wissen als auch die Erfahrung des Blutdruckmessens wird hierfür mobilisiert. Tatsächlich steckte hinter dieser Erarbeitung der Routinen viel Arbeit, für die die Patienten mehrere kleinere Herausforderungen überwinden mussten. Gerade das Blutdruckmessen konnte den Patienten vielerlei Probleme bereiten, die im Anfang gar nicht so leicht gelöst werden konnten. Herr Binder beispielsweise berichtet im folgenden Zitat von der Schwierigkeit, immer gleiche Bedingungen herzustellen (und damit einer Anweisung der Teleschwestern nachzukommen): »Das Übertragen von den Werten muss nicht pünktlich um sechs sein, aber… immer ungefähr zur gleichen Zeit oder unter gleichen Bedingungen. Möglichst nicht… Ich bin dann auch schon einmal, hab’ schon früh um viere Tabletten genommen und so, das sollte ich aber nicht. Das wollten sie nicht. Sondern, ich sollte also früh morgens, immer ungefähr zur gleichen Zeit und unter gleichen Bedingungen das Gewicht kontrollieren und den Blutdruck. […] Na... das hat mir eigentlich keine Probleme gemacht, nur... wenn Sie gut schlafen können, ist alles gut. Aber manchmal hab’ ich auch schlecht geschlafen, nicht deswegen, sondern überhaupt.« (Herr Binder)

Herr Binder berichtet hier von einem für ihn nicht leicht lösbaren Konflikt. Auf der einen Seite verordnete ihm sein Hausarzt, die blutdrucksenkenden Tabletten gleich nach dem Aufstehen und noch vor dem Frühstück zu sich zu nehmen. Auf der anderen Seite plagten ihn jedoch manchmal Schlafprobleme. Er konnte somit nur schwer die von den Teleschwestern geforderten gleichen Bedingungen herstellen, wenn er um sechs Uhr die Daten für sie erhob. Sein Rhythmus war durcheinander gebracht worden.

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Im Zusammenhang mit dem, was man »Blutdruckarbeiten« nennen kann, berichteten andere Patienten von weiteren Problemen, die beim Messen auftreten konnten: »Mein Blutdruck, der… bei mir schwankt der... mal ist er bei 120. Und dann ist er aber auch mal bei 105. Irgendwas so… TM: Sehen Sie da irgendwelche Zusammenhänge, warum das so ist? Herr Gunter: Manchmal sitze ich auch keine fünf Minuten da, so dass ich dann vorher schon messe, weil ich eher rauchen möchte… ja… TM: Entschuldigung: Wie hängt das mit dem Rauchen zusammen? Herr Gunter: Na, ich will meistens rauchen vorm Frühstück. Und dann kann ich da nicht einfach sitzen für fünf Minuten und Däumchen drehen. Dann rauch’ ich gleich.« (Herr Gunter)

Auch Herr Gunter, so wird in dieser Aussage deutlich, weiß um die ungleichen Ergebnisse, die das Blutdruckmessgerät anzeigt, und wie einige Faktoren ausgeschlossen werden können, die sich auf den Blutdruck auswirken. Ebenso wie Herr Vossmann in obigem Zitat, würde er gerne eine Fünf-Minuten-Pause vor dem Frühstück einrichten. Sobald er jedoch mitbekommt, dass seine Frau den Frühstückstisch bald fertig gedeckt hat, möchte er noch eine Zigarette rauchen. Die dadurch gebotene Eile verhindert, dass er fünf Minuten still sitzt, ehe er den Blutdruck misst. Auch andere Bedingungen können mit der Messsituation oder – genauer – mit der davor eingerichteten Fünf-Minuten-Pause in Konflikt geraten: »Im Sommer ist immer besser als jetzt, wo’s kalt ist. Wir haben noch keine Zentralheizung hier, und morgens dauert das, bis es warm wird. Und dann hier sitzen… so stille rumsitzen mit kurzen Ärmeln, das ist dann nicht so gut.« (Herr Schneider)

Erneut kann anhand dieser Zitate abgelesen werden, dass die diskutierten Technologien viel mehr tangieren, als sie eigentlich sollen. Allein eine Situation einzurichten, in der man ein vergleichbares Blutdruckmessergebnis herstellen kann, betrifft viele andere Elemente der Patienten und ihrer Partner. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass allein ein Blutdruckmessgerät – eine im Vergleich zu anderen elektronischen An-

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wendungen harmlose und extrem simple Anwendung – schon viel Unordnung und Unruhe schaffen kann.

Interaktionen mit Zahlen Wenn die mit telemedizinischen Technologien ausgestatteten Patienten mit Herzinsuffizienz in ihren allmorgendlichen Routinen ihr Heimlabor betreten und dabei der Waage und dem Blutdruckmessgerät begegnen, werden sie auch mit Zahlen konfrontiert. In diesem Abschnitt soll diese Interaktion mit Zahlen diskutiert und analysiert werden. Und ferner, in welche diversen Handlungen Zahlen eingebunden werden. Zunächst soll kurz dargelegt werden, welche Bedeutung die Zahlen für einige von mir angetroffenen Patienten hatten – zum Beispiel beim Blutdruck. Denn die in den telemedizinischen Projekten vergebenen Blutdruckmessgeräte unterschieden sich von den klassischen Sphygmomanometern dahingehend, dass sie keine analoge Anzeige hatten, sondern vollautomatisch den systolischen und diastolischen arteriellen Blutdruck ermittelten. Dass das Ergebnis sodann in Ziffern angegeben wurde und nicht – wie im Moment des Druckablassens bei der klassischen Variante – in einem kurzen Moment von dem analogen Ziffernblatt abgelesen werden musste, war für einige relevant. Zum Beispiel für Herrn Kindler, der Folgendes gutheißt: »Hier ist das Ergebnis nicht subjektiv. Ich kann bei dem klassischen Gerät immer fünf bis zehn rauf oder runter ablesen. Das ist ‘ne Frage des Gehörs und des Auges und des... was man messen will. Hier stehen die Zahlen.« (Herr Kindler)

Anhand dieser Aussage wird die besondere Bedeutung von Zahlen angedeutet: Zahlen erscheinen objektiv, denn sie sind nicht vom Willen der messenden Person beeinflussbar. Nicht zuletzt aufgrund dessen verpflichteten Zahlen zur Zustimmung. Sie geben vor, Fakten zu sein und werden als Aussagen verstanden, die nicht uminterpretiert werden können. Im Folgenden wird die These vertreten, dass es dieses spezifische Verständnis von Zahlen und die besondere Interaktion mit Zahlen sind, die schlussendlich deren durchschlagenden Erfolg erklären. Zunächst sind Zahlen insofern aktiv, als dass sie nicht nur registriert, sondern auch auf vielerlei Weise be-handelt werden. Solch eine aktive Behandlung von Zahlen wird zum Beispiel in der folgenden empirischen Sequenz deutlich, in der Herr Vossmann beschreibt, wie er das an diesem Tag erhobene Gewicht in ein spezielles telemedizinisches Gerät 178

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eingibt, welches die Daten dann nach entsprechender Bestätigung an die Teleschwestern übermittelt. Im Display dieses Gerätes sieht er zunächst die vom Vortag gespeicherte Zahl. Mit Hilfe der ›Plus‹- und ›Minus‹Tasten kann er dann in Zehntelschritten per Knopfdruck das aktuelle Gewicht eingeben. Im folgenden Zitat demonstriert er, wie er die Gewichtseingabe von 100,6 (vom Vortag) auf den aktuellen Wert 100,9 eingibt. »(Auf das Display zeigend:) Und so war das gestern: Gewicht 100,6. Und jetzt drück’ ich... 100,6 – Gewichtszunahme… 100,7, 100,8, 100,9 [drückt dabei jeweils auf den »Plus«-Knopf]. So! Jetzt kommt der Blutdruck. Der hat sich auch etwas erhöht… Dann drück’ ich hier... Halt! Zurück… So, 100,9. Jetzt hab’ ich mich vertan... Jetzt muss’ ich das ehm... Moment!... So 100,9... So, jetzt hab’ ich das gespeichert: 100,9. Ja.« (Herr Vossmann)

Durch die Eigenschaften dieses telemedizinischen Gerätes, das die Werte übermittelt, wird erreicht, dass die Zahlen nicht nur einmal kurz gesehen werden. Herr Vossmann handelt aktiv mit ihnen – er erhebt sie, liest sie, gleicht sie ab, tippt sie ein, speichert sie etc. Die Handlung mit Zahlen geht nach deren Übersendung an das telemedizinische Zentrum weiter. Für die meisten von mir angetroffenen Patienten begann die eigentliche Arbeit gar erst dann, das heißt, fast alle entwickelten Wege, die erhobenen Zahlen schriftlich festzuhalten. Diese »Dokumentationsarbeit« wurde auf verschiedene Art und Weise unternommen. Zum Beispiel in Kalendern: »Ich habe hier so einen Kalender... Das ist so bloß hier für mich, die Werte, so… und die übertrage ich dann hier in so’n Kalender… eh... in so’n Jahreskalender, und da... na... So, und da… ...Warten Sie mal, ich muss mir die Brille aufsetzen… So, und da stehen dann diese: Gewicht, Blutdruck, der Puls. Steht da alles drinne.« (Herr Vossmann)

Zum Zwecke der Dokumentation seiner Werte trägt Herr Vossmann jeden Tag die drei genannten Parameter in das tagesaktuelle Kalenderblatt ein. Seit vier Jahren praktiziert er dies, hat insofern auch schon vier Jahreskalender auf diese Art und Weise gefüllt und konnte – was auch vorkam – die in all diesen Jahren erhobenen Werte miteinander vergleichen. Andere von mir angetroffene Patienten fanden andere Mittel der Dokumentation. Einige zeigten mir nur lose Blattsammlungen, in denen auf leeren Blättern Spalten und Zeilen eingezeichnet und die täglich erhobenen Werte hinter den zuvor eingetragenen Daten notiert wurden. Andere von mir angetroffene Patienten zeigten mir recht ausgeklügelte Dokumentationsverfahren: 179

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»Ich les’ es [die Werte] ab und schreib’ das auch jeden Tag auf. Zuerst sind das nur so kleine Zettelchen, wo ich das aufschreibe. Und wenn ich mal Zeit habe, geb’ ich das in Excel ein [...] mit Datum und Uhrzeit. Und dann dahinter Puls, Druck, Blutdruck... Also, das mach’ ich für mich selbst, nicht für die vom Telemedizinzentrum.« (Herr Bauer)

Tatsächlich ist Herr Bauer nicht der einzige, der die von ihm erhobenen Werte im digitalen Format »für sich selbst« gespeichert hat. Herr Bertram übertrug die Daten ebenso in Tabellenkalkulationsprogramme. In seinem Fall gehen die Dokumentationsarbeiten gar noch weiter, indem er weitere Funktionen dieses Programms nutzte: »Meine Blutdruckwerte, die übertrag’ ich in eine Excel-Tabelle. Da freut sich der Arzt immer, dass ich die Kurve mitbringe und die Max- und Min-Werte und die Durchschnittswerte, ja… TM: Ach so: Sie machen da richtig eine Kurve draus? Herr Bertram: Jaja. Das ist ja bei Excel alles kein Problem, ne? TM: Ja, das stimmt. Das stimmt. Herr Bertram: Und alle Vierteljahre, die ich da [zum Arzt] hingehe, da kriegt er auch die Daten dazu… Den Wert vom Blutdruck, den kann man da ja abspeichern in dem Gerät für 30 Tage. Und dann übertrage ich das in den Rechner, und dann kriege ich da die Tabellen, ne.« (Herr Bertram)

Das Dokumentationsverfahren von Herrn Bertram ist im Kontext dieser Arbeit aus mehreren Gründen beachtenswert. Zunächst verdeutlicht die Praxis des Herstellens von Graphen und Maximum- und MinimumWerten eine weitere Eigenschaft der Möglichkeiten von Zahlen. Sie sind nicht nur »objektiv« in dem Sinne, dass sie unabhängig vom messenden Subjekt erhoben wurden. Sie geben des Weiteren nicht nur eine »genaue« Auskunft über den aktuellen, körperlichen Zustand. Zahlen erlaubten darüber hinaus verschiedene Varianten des Vergleiches von Messergebnissen. Die Übersetzung der Zahlen in einen Graphen ermöglichte es ihm, schnell und ohne viel Aufwand, Aussagen über die Stabilität seines Blutdrucks zu treffen. Darüber hinaus ist ein Vorteil der Zahlen, dass sie ortsungebunden, ja universal gültig sind – sie sind »immutable mobiles« (Latour 1987). Zumindest konnte er sie seinem Arzt zeigen, und dieser konnte nach kurzer Beobachtung zu einem höchstwahrscheinlich ähnlichen Ergebnis gelangen, wie die Teleschwestern oder Herr Bertram selbst. 180

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Des Weiteren ist die Praxis von Herrn Bertram deshalb so interessant, weil er Kurven produzierte, die denen der im Computerprogramm des telemedizinischen Zentrums generierten sehr ähneln. Auch die von Herrn Bertram gezeichneten Tabellen wiesen klare Zeitabstände auf und erzählten von daher dieselbe lineare, konstante Geschichte des Körpers (vgl. hierzu S. 121ff). Genauso wie die Teleschwestern konnte Herr Bertram innerhalb weniger Sekunden eine Evaluation des körperlichen Zustands pro Monat unternehmen. Mit der automatischen Errechnung der Höchst- und Tiefstwerte benutzte er in seinen Graphen zwar keinen Standard-Blutdruck (so wie die Teleschwestern, die mit der auf Höhe 140mmHG eingetragenen Linie einen Grenzwert der WHO berücksichtigen). Jedoch konnte er mit diesen Werten zu Aussagen darüber gelangen, in welchem Bereich sein Blutdruck in einer bestimmten Zeitperiode war und somit ebenso Beziehungen zwischen dem herstellen, was als normaler, hoher oder tiefer Blutdruck gelten kann. Schließlich ist im Kontext eine Begründung interessant, die Herr Bertram für diese Art und Weise der Dokumentation der aktuellen Werte nennt. Bemerkenswert ist, dass er berücksichtigt, dass es seinen Arzt freue, wenn er diese Tabellen derart aufbereitet mitbringe. An einer anderen Stelle im Gespräch führte er diesen Punkt aus, als er Folgendes erklärte: »Der kann sehr schnell was erkennen daraus. Die Ärzte haben ja auch immer alle keine Zeit, und dann guckt er sich die drei Werte an und die Kurve, und dann ist gut. Also (lacht), dem gefällt das.« (Herr Bertram)

Hier zeigt sich, dass Herr Bertram diese Dokumentationsarbeiten nicht nur für sich unternimmt, sondern dass er sie auch als eine Möglichkeit versteht, seinem Arzt die Arbeit zu erleichtern. In dieser Aussage wird in gewisser Hinsicht ein Zustand des Gesundheitssystems reflektiert, in dem »die Ärzte […] ja auch immer alle keine Zeit« hätten und in der er entsprechende Beiträge leisten kann, die diesem Zustand entgegenkommen. Auch wenn die von Herrn Bertram betriebene Interaktion mit Zahlen auf eine sehr ausdifferenzierte Praxis verweist, habe ich noch andere Patienten getroffen, die ähnlich anspruchsvolle Dokumentationsverfahren entwickelten. Es geht bei diesen jedoch nicht immer nur um die Dokumentation der erhobenen Zahlen. Viele von mir angetroffene Personen entwarfen in Ergänzung zu der Dokumentation der Zahlen zum Beispiel eigene Klassifikationssysteme, die in zusätzlichen Spalten in losen Blattsammlungen, Kalendern oder Excel-Tabellen festgehalten wurden. Herr Striegel hat zum Beispiel, nachdem ihn sein Arzt darüber aufklärte, dass 181

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70 kg sein Idealgewicht sei, hinter der Gewichtsspalte immer ein »U«, »G« oder »D« vermerkt. Er erklärt, wofür diese Buchstaben stehen, während wir durch seinen Kalender blättern: »Jetzt hier hab’ ich mir mal gemacht: Ungenügend, gut, ungenügend, ungenügend, ungenügend… Das ist hier vom Gewicht: gut, ungenügend oder drüber. TM: Wo steht das? Striegel: Hier, da – diese Kürzel: U, G, D [er zeigt auf das Ende der Zeile]. Das ist hier vom Gewicht.« (Herr Striegel)

Während er dies erzählt, zeigt Herr Striegel auf die hinter der Gewichtsspalte stehenden Buchstaben. Über Monate hinweg wurden auf diese Weise die erhobenen Gewichtswerte mit der Aussage seines Hausarztes zum Idealgewicht abgeglichen und bewertet. Andere von mir angetroffene Personen entwickelten ebenso Klassifikationssysteme, die sie in ihren Dokumentationsheften anwandten. Herr Kindler zum Beispiel beachtete nicht so sehr den Hinweis seines Arztes, sondern verzeichnete Vorgänge, die nur er selbst hat spüren können: »Also ich hab’ das noch für meine Zwecke ein bisschen erweitert… Und meine Hausärztin fand’s auch ganz spannend. Die studiert das auch jedes Mal, wenn ich dort antrete. Sorgfältig... Ich hab’ also Abkürzungen eingeführt: A, B; A für ›tagsüber stark müde‹, B für ›trotz Tabletteneinnahme starke Unregelmäßigkeiten im Herzschlag‹, und dann noch so ein Kreuzchen bzw. so eine ausgefüllte Ecke, wenn der erste Versuch des Blutdruckmessens nicht geklappt hat. Das hing früher mit dem Gerät zusammen, kommt jetzt aber seltenst oder eigentlich gar nicht vor, oder nur in Extremsituationen, zum Beispiel wenn ich zu einem völlig unpassenden Zeitpunkt gemessen habe. Also wenn ich zum Beispiel abgehetzt war, mich keine fünf Minuten hingesetzt und ausgeruht habe und so weiter. Das kommt bei mir aber, trotz ausgeruht, kommt’s bei mir mal zu einer Fehlmessung, wo also das Messgerät sagt: Entweder sind die Herzschläge zu schwach, um oszillographisch zu messen, oder es ist zu unregelmäßig, und dann verwirft er einfach das Messergebnis, und dann muss man eben nach zwei, drei Minuten noch mal aufsetzen. Im zweiten Anlauf hat’s bisher immer noch geklappt… Aber auch diese Fehlschüsse, die vermerk’ ich mir halt auch mit.« (Herr Kindler)

Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, dass Herr Kindler als Beispiel für einen Patiententypus gelten kann, den man als das »Präventive Selbst« bezeichnen könnte. Hier wird schon ersichtlich, dass unter anderem die Operationalisierung von Expertenwissen eine zentrale Eigenschaft dieses Patiententypus darstellt. Auch der hohe Reflexionsgrad – das heißt 182

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eine sehr weitreichende und systematische Form von Selbstanalyse – zählt zu den Eigenschaften dieses Patiententypus. Wichtig im Zusammenhang dieses Abschnitts ist, dass dieser Patiententypus oft willens ist, weitere Facetten des Krankheits- und Behandlungsverlaufs in rationalisierter – vielleicht gar bürokratischer – Form zu dokumentieren und somit der eigenen oder ärztlichen Evaluation zugänglich zu machen. Auf ein weiteres, recht ausgeklügeltes Dokumentationsverfahren stieß ich bei Frau Isen, als sie mir ihre digitale Tabelle und die darin dokumentierten Werte zeigte (die jedoch nicht in einem Tabellenkalkulations-, sondern einem Textverarbeitungsprogramm gespeichert wurden). Als sie das Dokument geöffnet hatte, präsentierten sich die diversen zusätzlichen Eigenschaften ihres Dokumentationssystems, nachdem sie mir ursprünglich eigentlich nur ihren Gewichtsverlauf demonstrieren wollte: »Sie sehen, es tut sich nichts. Ich komme mit dem Gewicht nicht runter. TM: Moment, ich hab die Spalte noch nicht gefunden… Frau Isen: [Sie zeigt auf eine Spalte] Hier, gewichtsmäßig. TM: Ach da... Frau Isen: Es tut sich absolut nichts [scrollt im Dokument herunter]… TM: Warum sind manche Zeilen rot? Frau Isen: Dann ist immer ein neuer Monat, oder wenn sich was getan hat, wenn sich wie hier mal eine andere Zahl eingestellt hat, ja? Also hier war 66, da 65 – aber immer nur kurzfristig [Frau Isen zeigt auf eine Stelle in der Tabel-le, wo das Gewicht 65,8 kg betrug; am Vortag waren es noch 66,1 kg – die Zeile des Tages, an dem das Gewicht unter 66 kg kam, wurde entsprechend rot markiert]. TM: Ach so, wenn’s quasi runtergeht… Frau Isen: Genau. Sooooo [sie scrollt weiter herunter]. Das ist alles noch 2005, ja. Und... es tut sich einfach nichts. Und dann geht’s aber los... Im August. Im Mai geht’s langsam los, und im August tut sich dann richtig was... Ja. Aber nur bis hier [zeigt auf eine Stelle, ab wo das Gewicht wieder zulegt]): Und dann hab ich hier wieder so viel Wasser... TM: ...Moment, wo sehen Sie jetzt, dass das Wasser ist?

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Frau Isen: Hier, hab’ ich extra ein Ausrufezeichen gemacht. TM: Ach da… okay. Und was sind denn hier diese Zahlen eigentlich? [Ich zeige auf eine Stelle, wo ›8 – 61‹ steht] Frau Isen: Das ist meine Laufroute. Ich laufe immer zwei Strecken. Einmal [nennt den Ort], das sind so 4 Kilometer, und dann nochmal [nennt einen anderen Ort], und das sind so 8 Kilometer. Wobei… da haben wir uns verschätzt, das haben wir jetzt ausrechnen lassen, wie viel das ist, also acht stimmt nicht. TM: Verstehe, also acht ist dann die Strecke, und dann... Frau Isen: Genau… 8 Kilometer in 60 Minuten. 60 oder 61 Minuten. … Und das hier [sie zeigt auf die letzte Spalte der digitalen Tabelle] war dann immer mein Puls. Und das hier war, wie viel Fett ich da verbraucht habe, laut dieser Uhr, die ich da gekriegt hab’.« (Frau Isen)

Das Dokumentationsverfahren von Frau Isen war insofern ein relativ hochentwickeltes, als dass sie eigene Markierungssysteme (ein neuer Monat wurde ebenso markiert wie eine Veränderung des Gewichts vor dem Komma) und eigene Symbole (das Ausrufungszeichen) für relevante Zusatzinformationen entworfen und mit angewandt hatte. Des Weiteren berücksichtigte sie in ihrem digitalen Textdokument nicht nur die Zahlen, die sie für das telemedizinische Zentrum erhob. Auch diverse andere Daten, wie zum Beispiel die verbrauchte Fettmenge sowie die Anzahl an abgelaufenen Kilometern und die Minutenanzahl, in der diese geschafft wurden, wurden in ihrem Dokumentationsverfahren festgehalten. Für letzteres hat sie gar, wie in diesem Zitat ersichtlich, die Strecke vermessen lassen, um die genaue Streckenlänge zu dokumentieren. Bis hierhin konnte gezeigt werden, welcher Art die Patient-ZahlInteraktionen im hier untersuchten Feld sind. Eingangs wurde festgestellt, dass Zahlen selten hinterfragt oder angezweifelt, sondern als solche Fakten verstanden wurden, die den Zustand des Körpers und den Verlauf der Krankheit festhalten. Des Weiteren wurden einige zentrale Handlungen mit Zahlen veranschaulicht. Dies begann mit der Übermittlung der erhobenen Werte, für welche die Zahlen auf spezifische Weise be-handelt wurden. Außerdem konnten von den Patienten unternommene Dokumentationsarbeiten oder Dokumentationsstile präsentiert werden. Schließlich konnte gezeigt werden, dass diese Dokumentationsverfahren manchmal auch den Ausgangspunkt für weitere Arbeiten markierten. Einige Patienten wurden durch sie dazu eingeladen, diverse weitere Aspekte des Krankheitsverlaufs in ähnlicher Logik und Rationalität erfassen zu lassen. Insgesamt konnte somit veranschaulicht werden, dass 184

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Zahlen für die bis hierhin angetroffenen Patienten (ab dem nächsten Abschnitt werden auch ein paar Ausnahmen dargestellt) zu unhinterfragten Begleitern im Alltag wurden. Die meisten bis hier vorgestellten Personen konnten sich keine Welt ohne Zahlen vorstellen, sondern nahmen sie tendenziell sogar zum Ausgangspunkt, um weitere Parameter zu messen, zu ordnen oder zu bewerten.

D r e i P a t i e n t e n p e r s p e k t i ve n Im Folgenden sollen einige der praktischen Konsequenzen von Zahlen im Alltag der Patienten dargelegt werden. Die damit zusammenhängende Frage reflektiert die im vorherigen Kapitel diskutierte Erkenntnistheorie des Pragmatismus, der davon ausgeht, dass Techniken oder Zahlen keine Existenz ohne deren aktive Einbindung haben. Da die Konsequenzen der Interaktion mit Zahlen jedoch auch von unterschiedlichen Perspektiven auf Körper, Krankheit und Heilung (oder dem, was Shibutani als die »Evaluationsmatrix« bezeichnete – siehe S. 139) abhängen, sollen im nächsten Abschnitt drei idealtypische Patientenklientele auf der Grundlage drei unterschiedlicher Perspektiven herausgearbeitet werden. Es handelt sich dabei um die Patiententypen »Präventives Selbst«, »Praeventives.Selbst++« und so genannte »Präventionsverweigerer«.

Patiententypus 1: Das Präventive Selbst Oben wurde schon kurz angedeutet, warum Herr Kindler als ein Musterbeispiel für den Patiententypus des »Präventiven Selbst« gelten kann. Im Folgenden sollen anhand eines anderen Berichtes von ihm einige zentrale Eigenschaften der Perspektiven des Präventiven Selbst herausgearbeitet werden. Im folgenden Zitat berichtet der 56-Jährige von einem Unfall, der sich in einem der letzten Sommer ereignete, und in dem die spezifische Perspektive dieser Klientel deutlich wird: »[I]ch hatte im vergangenen Jahr und in dem Jahr, wo’s so heiß war, da hatte ich ein paar Mal Entgleisungen. Die sind aber damals auch noch dadurch verursacht worden, dass ich eben trotz der Hitze zu wenig getrunken habe. Und dann hab’ ich hier… ich sag immer zu meiner Frau (lacht): ›Mich packt der Flimmerich‹. Da hab’ ich dann so erhebliche Flimmererscheinungen gehabt, so dass ich erstens Schweißausbrüche, zweitens Angstzustände gekriegt habe und dann wirklich anfing hier… Gleichgewichtsbewusstsein… also man hat gemerkt: ›Du solltest jetzt nicht mehr allzu groß durch die Gegend laufen‹. […] Das hat dann meine Trinkgewohnheit psychologisch beeinflusst. Wenn

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ich in dem Moment dann einen halben Liter Flüssigkeit eingeworfen habe, dann war zumindest dann eine sehr zügige Stabilisierung zu erreichen. Und dann hab’ ich mir gesagt: ›Okay, das hängt mit dem Trinken zusammen. Du musst also drauf achten, dass der Flüssigkeitspegel ausgeglichen ist.‹ Und wenn man das so schnell regeln kann, durch Nachwerfen von Flüssigkeit, eh... gut... dann musst du in Zukunft mal ein bisschen was tun dafür.« (Herr Kindler)

In diesem Zitat erzählt Herr Kindler von einem Vorfall, der sich bei heißem Wetter im Sommer ergab. Beachtenswerterweise nannte Herr Kindler als Grund für den Kollaps jedoch nicht nur die heißen Temperaturen. Vielmehr übernimmt er selbst Verantwortung bzw. sagt aus, dass er selbst eine Mitschuld an dem Unfall trage, da er »trotz der Hitze« zu wenig Wasser zu sich genommen habe. Heute ziehe er die richtigen Schlussfolgerungen aus dieser Erfahrung. Er operationalisierte das Wissen, dass eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr bei bestimmten Witterungsbedingungen bestimmte Konsequenzen mit sich bringen kann. Das Ereignis des Kollapses war für ihn eine derart prägende Erfahrung, dass er dazugelernt hat bzw. – so deutet zumindest die Aussage an, dieses Ereignis habe seine Trinkgewohnheiten psychologisch beeinflusst – die korrekte Verhaltensweise internalisierte. Neben der Eigenschaft, dass er die Verantwortung für den richtigen Umgang mit sich selbst bei sich selbst sieht, wird in diesem Zitat auch eine bestimmte Form der Selbstevaluation ersichtlich. Als Herrn Kindler der »Flimmerich« packte, wie er es nannte, spürte er gewisse Vorgänge in sich – zum Beispiel spürte er Schweißausbrüche, dass er Angstzustände bekam und sein Gleichgewichtssinn herausgefordert wurde. Er machte, mit anderen Worten, Beobachtungen, die nach innen gerichtet waren und somit solche, die nur er selbst machen konnte. Auch wenn er die Schlussfolgerung zog, dass er jetzt nicht mehr »allzu groß durch die Gegend laufen« sollte, kommt diese die körpereigenen Vorgänge vorsichtig reflektierende Beobachtung zum Ausdruck. Herr Kindler wendet eine nach Zusammenhängen und Struktur suchende Perspektive an. Im Moment der Selbstreflexion, das heißt der Reflexion des physischen Zustands, fragte er nach den dahinter stehenden Kausalitäten, rekonstruierte das vorausgegangene Verhalten und mobilisierte unter anderem auch medizinische Erklärungen, um zu einem abschließenden Urteil zu gelangen. Dass das Ergebnis dieses Reflexionsprozesses operationalisiert wurde, indem er zum Beispiel fortan auf seine Flüssigkeitszufuhr achtete, verdeutlicht zudem, dass diese Person nachhaltig denkt. Eine unmittelbare Konsequenz dieser Interpretation des Kollapses war, dass Verhaltensweisen unternommen werden müs186

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sen, die verhindern, dass dieses Ereignis erneut eintrifft. Insofern ist das Präventive Selbst ein zukunftsorientiertes Selbst. Eine weitere zentrale Eigenschaft der Patientenklientel des Präventiven Selbst kann in dessen typischer Beurteilung von telemedizinischen Programmen liegen. Herr Andersen zum Beispiel bewertet dieses wie folgt: »Also das telemedizinische Programm ist für mich schon sehr gut. Es hat schon mal dazu geführt, dass ich mich sehr intensiv mit Ernährung und purinhaltigen Lebensmitteln beschäftigt habe, und da hab’ ich meine Ernährung wirklich komplett umgestellt. Auch wenn ich, ja… Ich dachte ja, ich sei zu dick, aber da hab’ ich auch von den Damen vom telemedizinischen Zentrum erfahren, dass… Die Dame da sagte mir: ›Sie sind zwar relativ schwer für Ihre Größe, aber ihr BMI liegt noch im unteren Bereich. Aus unserer Sicht sind Sie kein Problemfall.‹ Ich habe also erfahren, dass das mit dem BMI altersabhängig zu sehen ist. Wie sich das beim Blutdruck irgendwann sicher auch mal gewandelt hat, anstelle dieser starren Grenzen, dass ich mit ‘nem BMI von knapp 27 in meinem Alter doch noch halbwegs im Normbereich liege. Und dann ist das sicherlich nicht schlecht, dass man die Werte da immer wieder hinschicken muss, dass man… also… dass das dann im Langzeitgedächtnis so abgespeichert ist… ne, also… Das ist nicht schlecht, sage ich mal.« (Herr Andersen)

Hieran wird besonders deutlich, dass der Patiententypus »Präventives Selbst« telemedizinische Programme insbesondere deshalb gutheißt, weil ihm dadurch diejenigen Lebensstile vermittelt werden, die es ihm nach derzeitigem medizinischem Kenntnisstand ermöglichen, ein eigenständiges, autonomes Leben zu führen. Die Informationen über Ernährung sorgten dafür, dass Herr Andersen die den medizinischen Ratschlägen zufolge korrekten Lebensmittel konsumierte. Die Nachricht, dass er aus Sicht der Teleschwestern trotz eines recht hohen Gewichts keinen Problemfall darstellte, war für ihn eine Beruhigung. Insgesamt war die Kommunikation mit den Schwestern des telemedizinischen Zentrums deshalb begrüßenswert, weil sie ihn mit solchen Hinweisen versorgten, die er in seinem Alltag operationalisieren konnte und ihn mittel- bis langfristig unabhängig von medizinischer Expertise machten. Auch ein Trainingseffekt des telemedizinischen Programms, das heißt die Konzeption desselben, die vorsah, dass er »die Werte da immer wieder hinschicken muss«, ermöglichte ihm ein autonomes Leben ohne die Notwendigkeit, Ärzte allzu häufig zu konsultieren oder andere um Rat zu fragen: Durch das recht engmaschige Monitoring wurde er daran gewöhnt, relevante Vitalparameter täglich zu erheben und verschaffte sich somit selbst einen Überblick über Krankheits- und Therapieverlauf. 187

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Dreizehn der 25 von mir angetroffenen Patienten können als Präventives Selbst bezeichnet werden. Es ist nicht unwichtig zu betonen, dass diese Patientenklientel nur knapp die Hälfte der von mir Interviewten ausmacht. Denn dies verdeutlicht, dass die im Diskurs vermutete Patientengruppe nicht vorausgesetzt werden kann. Die Patienten, die hier als Präventives Selbst bezeichnet wurden, wiesen in der Tat die vier Eigenschaften auf, die im ersten Kapitel dargelegt wurden (als über die im Diskurs über Telemedizin angenommenen Menschenbilder von Leistungsempfängern berichtet wurde – siehe Seite 56): Das Präventive Selbst ist a) umsichtig, da es versucht, so viele Aufgaben in der Gesundheitsversorgung selbst zu übernehmen. Damit geht einher, dass Ärzte und andere Leistungserbringer erst dann kontaktiert werden, wenn man selbst nicht mehr anders kann. Es ist b) kenntnisreich, das heißt im Besitz des benötigten Wissens oder der Fähigkeit, sich dieses Wissen anzueignen und zu verstehen. Es ist c) erfinderisch und kompetent, so dass es das ihm zur Verfügung gestellte Wissen auch anzuwenden weiß; und es ist d) willig, aktiv an Therapie- und Behandlungsmanagement involviert zu werden. Tatsächlich kann hier geschlussfolgert werden, dass diese vermutete Patientenklientel ausfindig gemacht werden kann. Bemerkenswerterweise sind jedoch sieben der von mir angetroffenen Patienten solche, die ich Praeventives.Selbst++ bezeichne; fünf von ihnen sind von mir sogenannte »Präventionsverweigerer«.

Patiententypus 2: Das Praeventive.Selbst++ Der zweite Patiententypus, dessen Bezeichnung »Praeventives. Selbst++« ich weiter unten begründen werde, hat eine andere Perspektive auf Körper, Krankheit, Prävention und Heilung. Anhand der Erzählung der Eheleute Schmidt kann zum Beispiel rekonstruiert werden, welche Herangehensweisen hier als die zentralen und charakteristischen verstanden werden können. Wie auch bei Herrn Kindler handelt es sich in der erzählten Geschichte um eine, die sich im Sommer ereignete und wo starke Hitze ebenso in einem Kollaps resultierte: »Frau Schmidt: Aber wir hatten mal ‘ne Situation. Das war im Sommer, und es war sehr heiß und die Luftfeuchtigkeit war sehr hoch. Und da ging’s ihm plötzlich nicht gut; wo er plötzlich zusammengesackt ist und sagte: ›Oh Gott, was is’n mit mir?‹ Herr Schmidt: Mein ganzer Blutdruck ist weg gewesen.

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Frau Schmidt: Denn fing der an zu zittern, und der war vollkommen… Na ja, ein ganz desolater Zustand. Herr Schmidt: Bin ich noch nach hinten... rückwärts nach hinten gefallen und denn in die Scheibe rein. Da hab’ ich gedacht: ›Um Gottes Willen: Hauptsache geht die Scheibe nicht kaputt. Denn schneidest du vielleicht noch ganze [Wort unverständlich] auf.‹ Frau Schmidt: Im Herzzentrum wurde das dann überprüft zwei Tage später. Herr Schmidt: In Potsdam. Da haben sie mich doch, haben sie mich doch auseinander genommen. Da haben sie alles, haben sie Blutbild gemacht, alles, denn sagt er: ›Wissen Sie: Sie sind kerngesund.‹ ›Danke schön‹, hab’ ich gesagt. ›Na, und was? Irgendwas muss ich doch haben?‹ ›Ja‹, sagt er, ›Sie haben zu wenig getrunken‹ (lacht). Das war denn alles.« (Eheleute Schmidt)

Ebenso wie bei Herrn Kindler kann die hohe Luftfeuchtigkeit als Ursache für den Unfall ausgemacht werden. Im Gegensatz zu ihm jedoch, sahen die Eheleute den Kollaps nicht in ihrem Fehlverhalten begründet. Die Aussage, dass es ihm plötzlich nicht gut gegangen sei, unterstreicht, dass dem Ereignis nichts vorausgegangen war, das diesen Kollaps hätte verhindern können. In den Erzählungen der Eheleute Schmidt scheint das Ereignis eher das Resultat eines Zufalls, als das Resultat willkürlicher Prozesse zu sein, die man nicht kontrollieren und in den Griff bekommen kann. Auch die ärztliche Aufklärung über das Geschehene verdeutlicht diese Annahme des Vorliegens eines eher willkürlichen und unkontrollierbaren Vorgangs. Zunächst bedankte sich Herr Schmidt fröhlich für die Nachricht, dass er kerngesund sei, entdeckte dann jedoch den offensichtlichen Widerspruch, den er auch ansprach. Die Antwort des Arztes, dass er zu wenig getrunken habe, quittiert Herr Schmidt mit einem Lachen, womit er eine gewisse Faszination für diese Willkür ausdrückt. Die abschließende Aussage, dass das dann alles war, verdeutlicht zudem, dass Herr Schmidt das Ereignis nicht als derart komplex ansah wie Herr Kindler im obigen Beispiel. Dies wird auch daran ersichtlich, dass Herr und Frau Schmidt keinen Zusammenhang zwischen dem Kollaps und dem Trinkverhalten kreierten. Anhand der Erzählungen der Eheleute Schmidt wird auch eine andere Form der Selbstevaluation ersichtlich: In der Erzählung des Vorfalls werden vor allem beobachtbare Ereignisse festgehalten: Er beschrieb, wie er rückwärts in die sich hinter ihm befindende Scheibe fiel. Vorweg schickte er noch die offensichtlich nicht von einem Mediziner stammende Aussage, dass sein »ganzer Blutdruck« »weg gewesen« sei. Auch wenn dies als eine nach innen gerichtete Selbstbeobachtung gelten könn189

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te, so fällt sie bei weitem nicht so nuanciert und reflektiert aus wie bei Herrn Kindler. Tendenziell wurden von ihm Dinge beschrieben, die jeder in dieser Situation Anwesende hätte beschreiben können. Diesen Patiententypus »Praeventives.Selbst++« zu nennen, hat die folgenden Gründe: Zunächst soll damit festgehalten werden, dass präventives und gesundes Verhalten in dieser Perspektive auch als wichtig erachtet wird. Herr Vossmann zum Beispiel, der auch als ein Praeventives.Selbst++ bezeichnet werden kann, beschrieb mir, wie er nach dem Eintritt in das telemedizinische Programm seine Ernährungsgewohnheiten umzustellen begann. »Ich hab’ früher ein bisschen besser... na ja, nicht besser gelebt… das ist Quatsch. Ehm... na ja... anders gegessen ein bisschen… Na ja, wie soll ich sagen... [...] Na ja, ich hatte früher viel fettes Zeug gegessen und sowas alles… Und das… Jetzt ess’ ich mehr Gemüse.« (Herr Vossmann)

Die Ambivalenz in Herrn Vossmanns Aussage ist beachtenswert. Er erkannte zwar an, dass die fettreiche Ernährung, die er früher eher konsumiert hatte, nicht gerade den medizinischen Ratschlägen folgte, sagt jedoch zunächst, dass er früher besser gelebt habe. Seine Umformulierung in das neutralere »anders« scheint dann jenen medizinischen Standpunkt zu berücksichtigen. Wenn er abschließend ergänzt, dass er heute auch viel Gemüse esse, wird eine Essgewohnheit präsentiert, von der er zu wissen scheint, dass diese als die gesunde angesehen werden kann. Im Vergleich zu Herrn Kindler und Herrn Andersen bleibt es jedoch bei Herrn Vossmann bei diesem Wandel. Er akzeptiert einen medizinischen Rat und versucht nicht, diesen in ein größeres, dieses Phänomen erklärende kausales System einzuordnen. Er holte auch keine Zusatzinformationen zu purinhaltiger Nahrung ein und sorgte sich nicht über seinen Body Mass Index. Er verfolgte den gut gemeinten Ratschlag des Arztes oder der Teleschwester und beließ es mehr oder weniger dabei. Der Zusatz »++« versucht eine spezifische Beziehung zwischen Patient und telemedizinischen Experten festzuhalten. Wohingegen es dem Präventiven Selbst darum geht, weitere gesundheitsbezogene Informationen zu sammeln und die damit formulierten Ratschläge eigenständig zu operationalisieren, befürwortet das »Praeventive.Selbst++« insbesondere, dass es sich in medizinischer Betreuung, ja Überwachung befindet. Es erstrebt keine Unabhängigkeit, sondern bevorzugt, von Teleschwestern unter Beobachtung zu stehen. »Das ist ganz gut mit der Telemedizin. Wenn irgendwas ist – war ja schon ein paar Mal gewesen –. dann rufen die hier sofort an. Denn fragen sie, ob alles in

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Ordnung ist. Sofort ist dann die Schwester dran und fragt: ›Herr Ullrich, was macht Ihr Bein? Wasserablagerung ja oder nein?‹ Da braucht man sich also gar keine Gedanken machen. Wenn wirklich was ist, dann melden sie sich sofort. Wird alles automatisch erledigt.« (Herr Ullrich)

Das Konzept des Praeventiven.Selbst++ betont die von den Patienten gutgeheißene, durch Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichte Verteilung des Selbst auf ein Netzwerk medizinischer Expertise. Dabei ist wichtig, dass nicht nur der Körper auf ein Netzwerk verteilt ist, sondern auch die Verantwortung für diesen. Während das Präventive Selbst Eigenverantwortung übernimmt und die Krankheit selbst im Griff haben möchte, verlässt sich das Praeventive.Selbst++ darauf, im Zweifel kontaktiert zu werden und von Experten Unterstützung zu bekommen. Die vielleicht kryptische Bezeichnung Praeventives.Selbst++ greift eine Idee William Mitchells auf, der vor dem Hintergrund seiner Thesen zu heute mittels diverser Kommunikationstechnologien vernetzter Menschen vom Me++ schrieb (Mitchell 2003). Das ++ geht dabei auf die Programmiersprache C++ zurück und betont die Möglichkeit, Menschen mittels bestimmter Technologien zu zerstreuen und an verschiedenen Orten wieder erscheinen zu lassen. In Anlehnung an Donna Haraway (1995) könnte man in diesem Kontext auch von einem Präventiven Cyborg schreiben, weil das Selbst in gewisser Hinsicht aufgelöst wird. Das Praeventive.Selbst++, so könnte man argumentieren, baut keine Beziehung zu sich, sondern zu Experten auf, die über ihren Körper verfügen und Verantwortung für ihn übernehmen. Ebenso könnte man das Praeventive.Selbst++ deshalb auch als »Paternalistisches Selbst« oder »Abhängigkeitsbejaher«13 bezeichnen, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Die nicht ganz trennscharfe Abgrenzung zwischen »Präventives Selbst« und »Praeventives.Selbst++« hat nicht zum Ziel, letzterer Patientengruppe einen eigenen Status abzuerkennen. Durch die lediglich graduelle begriffliche Unterscheidung soll vielmehr zum Ausdruck gebracht werden, dass auch das Praeventive.Selbst++ zum Beispiel hinsichtlich der von den Patienten vollzogenen Lebensstiländerungen ähnliche Aktivitäten vorweist. Beide vollziehen zum Beispiel die genannten Wandel in Ernährungsfragen, jedoch sind diese in andere Perspektiven eingebunden und beim Praeventiven.Selbst++ nicht derart weitreichend wie bei dem zuerst vorgestellten Patiententypus.

13 Ich danke Thomas Lemke für diesen Hinweis. 191

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Patiententypus 3: Der Präventionsverweigerer Als »Präventionsverweigerer« können diejenigen Menschen bezeichnet werden, die, aus welchem Grund auch immer, gut gemeinte Ratschläge zu ihrem Leben mit der Krankheit ablehnen und wenige bis keine Lebensstiländerungen vollziehen. Für diesen Patiententypus können auch einige der zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen Tätigkeiten von mit telemedizinischen Lösungen ausgestatteten Patienten relativiert werden. Denn Präventionsverweigerer zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie selbst der Faszination für Zahlen einigermaßen widerstehen konnten. Sie interagierten zwar mit ihnen, indem sie sie erhoben, ließen jedoch, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, wenige Konsequenzen zu. Auf meine Frage, ob er die Messergebnisse aus Gewicht und Blutdruck, nachdem sie erhoben wurden, in irgendeiner Art dokumentiert, antwortete zum Beispiel Herr Ertmann: »Ja, nee. Ich habe nur so fliegende Zettel, die ich dann auch wieder wegschmeiße, wenn die angerufen haben und gefragt haben... dann heb’ ich die nicht auf.« (Herr Ertmann)

Herr Ertmann, ein Präventionsverweigerer, notiert zwar die Zahlen. Allerdings wird deutlich, dass er dies aus reiner Pragmatik unternahm. Zum Zeitpunkt des Interviews befand er sich in einer Phase desjenigen telemedizinischen Programms, in dem die Daten irgendwann nicht mehr automatisch übertragen wurden, sondern die Teleschwestern in immer größeren Abständen anriefen, um stichprobenartig zu erfassen, wie das Gewicht und der Blutdruck zu bestimmten Zeitpunkten war. Darüber erhofften sie ihn dafür zu sensibilisieren, seine Risikoparameter selbst zu erheben und ihn mittel- bis langfristig einigermaßen unabhängig von medizinischer und pflegerischer Unterstützung zu machen. Das Programm erstrebte also, Patienten zu Experten ihres Krankheitsmanagements oder zum »Präventiven Selbst« zu machen. Bei Herrn Ertmann ging dies jedoch nicht recht auf: Er erhob die Daten eher für die Teleschwestern als für sich selbst. Es war kein mangelndes Wissen, das ihn zu dieser Praxis verleitete. Er wusste, dass er durch diese Aktionen eigentlich geschult werden und an die korrekte Lebensweise gewohnt werden sollte. Jedoch verweigerte er diese freundlich gemeinten Hinweise zur richtigen Lebensführung. Dies wurde auch an anderen Stellen des Gesprächs deutlich: »Herr Ertmann: Da fragt sie [die Teleschwester]: ›Wie viel Wein trinken Sie pro Tag?‹ Also sie fragt nach Alkohol, ja? Na, wo ich dann gesagt habe: ›Na

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ja, ‘ne Flasche Wein pro Tag.‹ (Sie nachahmend:), ›Ehhh… ja, das ist aber nicht gut‹. (Ertmann) Frau Ertmann: Das sagen Sie mal ’nem Italiener, die leben davon (beide lachen).«

In diesem Interviewzitat wird deutlich, zumal mit dem Kommentar der Ehefrau, dass die wohlwollenden Gesundheitsratschläge aus dem telemedizinischen Zentrum bei den Eheleuten Ertmann abprallten. Die Hinweise zu einem präventiven Verhalten wurden auf diffuse Art und Weise in Frage gestellt; sie machten sich sogar über sie lustig. Es ist jedoch nicht nur eine Form von Ironie, die dazu führte, die präventive Lebensform zu verweigern, sondern auch eine gewisse Resignation: »Frau Ertmann: Wir sollen uns ja immer bewegen. Und da sage ich: ›Bewegen können wir uns ja sowieso nicht mehr so‹. Man sagt: ›Au ja, man muss sich viel bewegen, viel laufen.‹ Ja, das geht bei uns nicht mehr. Wir haben alle Arthrose oder Rheuma oder irgend so was. Die Bewegung ist nicht mehr da. Da sehen Sie schon ein Elektromobil stehen – das gehört meinem Mann. Ich habe auch eins. Und wenn man dann in das Alter kommt, dann ist die Bewegung nicht mehr so... Dann können Sie einem sagen, ›Sie sollen sich bewegen‹. Das geht einfach nicht.« (Frau Ertmann)

In dieser Aussage kommt ein Körperbild zum Ausdruck, das betont, dass man mit eigenem Willen nicht den schwachen physischen Zustand überwinden könne. Im Vergleich zum Präventiven Selbst lassen sich diese Patienten nicht aktivieren und haben wenig Motivation, Aufgaben in der Gesundheitsversorgung selbst zu übernehmen. Im Vergleich zum Praeventiven.Selbst++ berücksichtigen sie Expertenmeinungen nicht unhinterfragt in ihrem Alltag. Sie widersprechen ihnen sogar und sehen dies als Legitimation dafür, den schwachen, nicht aktivierbaren Körper zu erdulden. In der letzten Aussage von Frau Ertmann wird auch angedeutet, dass der Fokus auf Prävention, zumindest die ihnen vermittelten Ratschläge, beinahe als unangenehme Penetrierungen angesehen werden. Sie werden als Hinweise verstanden, die wenig mit dem zu tun haben, was sie für praktisch möglich halten. Die omnipräsenten Botschaften aus dem Präventionsdiskurs – diese Kritik wird zumindest angedeutet, wenn Frau Ertmann erzählt, dass nicht nur das telemedizinische Zentrum zu Bewegung rät, sondern »man [allgemein] sagt« verwendet wird – werden insofern reflexartig abgelehnt. Auch die Nutzung der Wörter »Au ja« deutet an, dass man diesen proaktiven, motivierenden Ton der Präventionskampagnen ablehnt. 193

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Andere von mir angetroffene Patienten, die als Präventionsverweigerer bezeichnet werden können, beschwerten sich, dass die Hinweise zu richtiger Lebensführung oft ihren eigentlichen Bedürfnissen widersprachen. Herr Ertmann suggerierte dies schon, als er die Teleschwester mit ihrem Hinweis zur Schädlichkeit von Alkohol ironisch imitierte. Öfter jedoch wurden solche Bedürfnisse beim Tabakkonsum angesprochen: »Herr Friedrich: Ganz aufhören, ja… Also, die nach den Mahlzeiten. Die will ich behalten. Die schmeckt so gut. TM: Und wird das angesprochen in der Kommunikation mit den Damen vom Telemedizin-Zentrum? Herr Friedrich: Ja ja. Die wollen immer wissen: ›Wie viel rauchen Sie noch? Wie viel rauchen Sie denn noch? Sind Sie schon runter gekommen? Haben Sie schon aufgehört?‹ Jajaja. Das fragen die alles. TM: Ah ja… Und was sagen Sie dann? Herr Friedrich: Ja, dann sag ich: ›Nee, wissen Sie, nach dem Essen und so… nach den Mahlzeiten; fünf Stück am Tage, die kommen zusammen.‹ TM: Und was sagen die dann? Herr Friedrich: ›Haben Sie noch nicht, haben Sie noch nicht, haben Sie noch nicht?‹ ›Haben Sie’s noch nicht geschafft; wollen Sie nicht mal aufhören?‹ Ich sag: ›Ja, der Wille ist irgendwie da, aber ich hab’ mein ganzes Leben lang gequalmt wie ein Schlot und bin zufrieden, dass ich das so weit reduziert habe auf die nach den Mahlzeiten. Aber die muss sein.‹« (Herr Friedrich)

Auch in dieser Sequenz wird ersichtlich, dass denjenigen Patienten, die hier als Präventionsverweigerer bezeichnet werden, die Nachfragen der Teleschwestern in gewisser Hinsicht penetrant erscheinen. Insbesondere die Nachahmung der stets gestellten Frage der Teleschwester – »Haben Sie noch nicht; haben Sie noch nicht; haben Sie noch nicht« – deutet an, dass Herr Friedrich sich in diesem Moment belästigt fühlte und er es als besser empfände, wenn man ihn dahingehend schlicht weiter Raucher sein ließe. Herr Friedrich lässt in dieser Aussage zwar erkennen (und erzählte an einer anderen, hier nicht zitierten Stelle im Gespräch), dass er im Rahmen des telemedizinischen Programms seinen Nikotinkonsum reduzierte, fühlte sich jedoch in einer unangenehmen Position, wenn er immer wieder die wenigen Zigaretten, die er noch raucht, verteidigen musste. 194

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Dass die Patienten in diese unangenehme Position gerieten, ist von den Entwicklern des telemedizinischen Programms wahrscheinlich intendiert. Wichtig scheint mir jedoch anzuerkennen, dass Präventionsverweigerer andere Werte vertreten als diejenigen, die dieses Programm konzeptionierten: Oben wurde deutlich, dass diese Menschen einen Teil derjenigen Verhaltensweisen, die aus medizinischer Perspektive als schlecht erachtet werden, bewusst aufrechterhielten und verteidigten. In gewisser Hinsicht wurde also eine in vielen Präventionsprogrammen vertretene asketische Lebensweise verweigert. Hier wurden Alkoholund Tabakkonsum als Beispiele genannt. Andere Patienten erzählten, dass ihnen das Essen nur dann richtig schmecke, wenn es fettreich angerichtet sei. Präventionsverweigerer wussten, dass der Verzicht auf Alkohol, Tabak, fettreiche Ernährung schlecht und Bewegung und Ausdauertraining gut seien. Jedoch wiesen sie die damit notwendigerweise zu operationalisierenden Lebensstiländerungen unter anderem aus Gründen des Genusses ab. Insofern kann unter manchen Präventionsverweigerern auch eine spezifische Perspektive auf das Leben ausgemacht werden, die hier konfliktreich wird. Den Patienten ein möglichst langes und gesundes Leben zu ermöglichen, ist das ultimative Ziel der beiden hier angetroffenen telemedizinischen Programme (und wahrscheinlich kann dies für alle Präventionsprogramme verallgemeinert werden). Präventionsverweigerer teilten diesen Wert des langen, gesunden Lebens jedoch nicht immer. Dies kann an einer Stelle im Interview mit den Eheleuten Tehlmann demonstriert werden. Während er, der mit der telemedizinischen Technologie ausgestattet wurde, dem Programm eher gleichgültig gegenüberstand, war seine Frau erfreut über die Sicherheit, die es ihr gab. »Frau Tehlmann: Also mein Mann, wie gesagt, der nimmt das nicht so sehr [ernst mit der Telemedizin]. Aber für mich... Man würde unruhig sein, man würde sagen: ›Mensch, wie ist es denn heute? Wie ist das Befinden heute‹, zum Beispiel. Und wenn wir die Telemedizin nicht hätten, dann… ja... Dann fällt er mir eines Tages um, und was ist dann? Herr Tehlmann: Dann biste Witwe! Frau Tehlmann: … … (leise) Na ja, so kannste auch nicht an die Sache rangehen. Tehlmann: Na ja, warum nicht? Dann... dann ist halt Schluss.« (Eheleute Tehlmann)

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Diese vielleicht krass anmutende Aussage verdeutlicht, dass es zumindest Herrn Tehlmann gleichgültig wäre, ob er noch länger lebt. Frau Tehlmanns leise Kritik, dass er so ja auch nicht »an die Sache« herangehen könne, verdeutlicht das riesige moralische Problem, das sich mit dieser Bemerkung aufdrängt. Seine dann noch geäußerte Verteidigung jedoch unterstreicht jene Perspektive von Herrn Tehlmann, und dass es ihm gleichgültig erscheint, ob er am Leben erhalten wird oder nicht. Eine letzte zentrale und damit zusammenhängende Eigenschaft der Präventionsverweigerer ist, dass diese oft explizit nicht nachhaltig dachten. Die Gründe für eine damit oft einhergehende Abfindung mit dem Tod war dabei nicht zwangsläufig das Resultat von allgemeinem Frust (auch wenn ich Patienten begegnete, die mir mitteilten, dass sie kein schönes Leben hatten und von daher ein Programm, das sie weiter »hier behalte«, nicht ganz verstünden). Die Gründe für nicht nachhaltiges Denken lagen oft auch darin, dass Menschen auf ein Leben zurückblickten, das sie für abgeschlossen hielten, zum Beispiel weil sie meinten, all das daraus mitgenommen zu haben, was es zu bieten hätte. Dieser Punkt ist aus medizinethischer Perspektive selbstverständlich sehr heikel. Er ist auch nicht geeignet, um gesundheitspolitische Programme darauf aufzubauen. Jedoch zeigt der von Präventionsverweigerern missachtete Wert des gesunden, langen Lebens die klaren Grenzen von Präventionsprogrammen auf.

Konsequenzen der Interaktion mit Zahlen Der im vorherigen Abschnitt unternommene Exkurs über unterschiedliche Perspektiven zu Gesundheit, Körper, Heilung und Prävention bildete zum einen die Grundlage für die drei daraufhin kreierten Patiententypen. Darüber hinaus sollen diese Patiententypen genutzt werden, um nun in diesem Abschnitt die unterschiedlichen praktischen Konsequenzen der Interaktion von Mensch und Zahlen zu demonstrieren. Die Analyse fokussiert dabei insbesondere die praktischen Konsequenzen von Blutdruckmessergebnissen. Dies liegt darin begründet, dass diese Daten zum einen wegen ihres hohen Abstraktionsgrades und zum anderen wegen ihrer teilweise recht großen Varianzen immer wieder Dreh- und Angelpunkt für Sorgen und Diskussionen bildeten.

Konsequenzen für das Präventive Selbst Die Analyse der Konsequenzen aus der Interaktion mit Zahlen für das Präventive Selbst soll mit einer Darstellung der diversen Schwierigkei196

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ten begonnen werden, die sich auch für diese Patientenklientel beim Lesen von Blutdruckmessergebnissen ergeben können. Herr Bertram berichtet im Folgenden, wie er ein solches Ergebnis einmal falsch verarbeitete: »Ich hatte mal eine Situation hier, da haben wir die Feuerwehr geholt, weil: mein Blutdruck stieg rapide an. Der war 200 oder so. Ich hab’s auf Arbeit schon gemerkt. Mir ging’s nicht so gut und dann… habe ich mich nach Hause bringen lassen. Dort hatte ich den Blutdruck schon gemessen, und zu Hause ging er immer höher noch. Und da hab’ ich Angst gekriegt, und dann hat meine Frau die Feuerwehr geholt. Aber das war so ‘ne Panikreaktion, ne. Da hab’ ich gedacht: ›Oh Gott, was passiert jetzt‹. Aber: Das ging, als die Feuerwehr dann hier war, da ging das schon wieder, also. Da bin ich noch mal mitgefahren ins Krankenhaus zur Beobachtung, aber da war alles wieder in Ordnung« (Herr Bertram)

Im Fall von Herrn Bertram war die unmittelbare Konsequenz des Blutdruckmessens ein Phänomen, das mit Hacking als Biolooping bezeichnet werden kann (vgl. Hacking 1999: 172ff). Bioloopings sind die tatsächlichen körperlichen Effekte, die Klassifikationen auslösen können, oder anders formuliert: Es bezeichnet die physischen Reaktionen, die ohne diese Klassifikation nicht zustande gekommen wären. In der zitierten Aussage von Herrn Bertram berichtet dieser von einer Panikreaktion, die dazu führte, dass der Blutdruck tatsächlich anstieg. Herr Bertram stellte an seinem Arbeitsplatz fest, dass der Blutdruck hoch war. Daraufhin ließ er sich besorgt nach Hause bringen, maß dort den Blutdruck erneut, und als er nun – wahrscheinlich aufgrund der Sorge – wirklich höher war, bekam er Panik, die den Blutdruck nun definitiv in die Höhe schnellen ließ. Heute, so sagte er an einer hier nicht zitierten Stelle im Gespräch, würde ihm das nicht mehr passieren, denn heute wisse er, dass ein hohes Messergebnis nicht zwangsläufig ein Indikator für einen schlechten Gesundheitszustand sei. Anhand des Zitats von Herrn Bertram werden zwei Aspekte deutlich, die für die Patientenklientel des Präventiven Selbst besonders charakteristisch waren: Zum einen ist es die spezifische Selbstreflexion, die körpereigene Vorgänge genauestens und vorsichtig analysiert. Zum anderen ist es die Erarbeitung von Wissenssystemen, die die gemachten Erfahrungen, medizinischen Informationen, vorliegenden Messergebnisse etc. in ein einigermaßen kohärentes, zumindest sich nicht widersprechendes Ganzes einfügen. Dass die Erlernung eines solchen sich nicht widersprechenden Wissenssystems ein mühseliger Prozess war, konnte anhand des Beispiels von Herrn Bertram gezeigt werden.

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Anhand des nächsten Beispiels kann in gewisser Hinsicht das Gegenteil, nämlich das vorläufige Ende dieses Prozesses dargelegt werden. In der folgenden Aussage verdeutlicht Frau Busse, warum ihr die unterschiedlichen Blutdruckmessergebnisse, die sie zu unterschiedlichen Zeiten des Tages erhoben hatte, zum Zeitpunkt des Interviews keine Sorgen mehr bereiteten: »Ich hatte mal einen super Blutdruck, aber seitdem ich unter diesem furchtbaren Stress bei meinem Mann stehe – ich stehe ja unter einem Dauerstress bei ihm – seitdem hat sich… mein Blutdruck spielt verrückt, auf Deutsch gesagt. Also ich kann morgens 150 zu 80 haben. Dann krieg ich… dann wart’ ich ‘ne halbe Stunde oder zwei Stunden, dann mess’ ich wieder, dann hab’ ich 125 zu 78, ja? Und bei mir also: Ich hab’ diesen springenden Blutdruck. Und das ist eindeutig der Stressblutdruck.« (Frau Busse)

Auch Frau Busse stellte in über einen längeren Zeitraum angestellten Selbstreflexionen fest, dass die Blutdruckmessergebnisse kontinuierlich schlechter wurden. Jedoch war dies für sie irgendwann kein Grund mehr zur Sorge, weil sie eine plausible Erklärung für die heute unordentlichen Ergebnisse fand: die stark fortgeschrittene Krankheit ihres Ehemannes und die damit einhergehende Belastung, die sie als »Stress« konzeptionalisierte. Es war dieses Konzept von Stress, das die gemachten Alltagserfahrungen, medizinischen Informationen und Blutdruckmessergebnisse zusammenbrachte und stabil hielt. Über die Zeit lernte Frau Busse, im Moment des Ablesens des Blutdruckmessergebnisses weit mehr zu lesen, als den Blutdruck. Es war eine erweiterte soziale Umwelt etc., die sie in die ihr vorliegenden Ziffern mit hineinlas. Wichtig im Kontext dieses Abschnittes ist, dass es sich bei dieser Stresstheorie nicht nur um etwas rein Geistiges handelte, sondern auch um etwas, das Frau Busse lebte. »Und dann nehme ich Blutdrucktabletten, und die mache ich ganz diffizil. Mal ‘ne halbe, mal ‘ne viertel… je nachdem, wie mein Blutdruck ist. TM: Also das heißt, dass Sie Ihre Dosis Blutdrucktabletten variieren? Frau Busse: Ja, ich variiere das. Aber... wie gesagt… TM: In Eigenregie sozusagen, ne? Frau Busse: Selbstständig, ja! Ich hab’ das mit dem Arzt durchgesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass wenn mein Blutdruck hoch ist, dann nehm’ ich auch ‘ne

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ganze, wenn er ein bisschen tiefer ist, nur ‘ne halbe. Und wenn er gut ist, dann nur ‘ne viertel. Da hat er gelacht und gesagt: ›Ist gut‹.« (Frau Busse)

Anhand dieser Aussage wird nicht nur wieder eine zentrale Eigenschaft des Präventiven Selbst deutlich – nämlich dessen Wille, ein selbstständiges, vom Arzt unabhängiges Leben zu führen. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass ihre Theorie zu ihrem schwankenden Blutdruck – dem Stressblutdruck, wie Frau Busse es nannte – sich in praktischen Konsequenzen manifestierte. Die hier berichtete Form der Selbstmedikation – die in der Medizin nicht unkontrovers diskutiert wird (Beers 1997) – ist jedoch nicht die einzige Konsequenz dieses Konzepts des Stressblutdrucks: »Weil ich so viel Stress habe, muss ich ruhig werden, ich darf mich nicht anstrengen. Ich darf auch nicht schwer arbeiten. Weil schwer arbeiten, das ist... Rasenmähen, Fensterputzen und so was... Also das muss’ ich jetzt... Das ist das Neueste, dass ich das jetzt alles nicht mehr mache.« (Frau Busse)

In diversen Aktivitäten des Alltags berücksichtigte Frau Busse ihren Stressblutdruck und versuchte, mittels bestimmter Verhaltensweisen diesen unter Kontrolle zu halten. Jedoch beunruhigte es sie nicht mehr, wenn sie dies nicht erreichte. Der Stressblutdruck, so konnte gezeigt werden, stellt für sie ein einigermaßen kohärentes, bedeutungsvolles Konzept dar, das selbst die Varianz der Messergebnisse erklären konnte. Für diejenigen 13 von 25 interviewten Patienten, die ich hier als Präventives Selbst bezeichne, konnten ganz spezifische Konsequenzen der Mensch-Zahl-Interaktion ausfindig gemacht werden. Die erhobenen Zahlen werden nicht nur nicht angezweifelt und in unterschiedlich aufwändigen Dokumentationsverfahren notiert. Beim Präventiven Selbst entstand auch ein einigermaßen kohärentes Konzept, das die produzierten Zahlen ursächlich erklären konnte und welches im Folgenden ein weitreichendes Handlungsprogramm bestimmte. Es war ein spezifisches zirkulierendes Verhältnis zwischen Mensch/Körper und Zahl, welches darüber entstand und in welchem das eine stets das andere bedingte. Diesem zirkulierenden Zahl-Körper-Verhältnis begegnete ich auch in vielen anderen Situationen. Andere von mir angetroffene Patienten, die ich als »Präventives Selbst« bezeichnen würde, verließen sich zum Beispiel in bestimmten Situationen weniger auf ihr Körpergefühl, sondern auf die erhobenen Daten zum körperlichen Befinden. Einige Patienten machten die Frage, ob sie noch eine Tasse Kaffee trinken, vom Blutdruckmessergebnis abhängig. Auf ein Stück Kuchen wurde verzichtet, wenn das Gewicht in den letzten Tagen eine steigende Tendenz aufwies. 199

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Auch diverse andere Tätigkeiten wurden unternommen oder unterlassen, wenn bestimmte Werte vorlagen. Davon auszugehen, dass das Präventive Selbst eine Obsession mit Zahlen entwickelte (Sætnan 2002), geht vielleicht zu weit. Dennoch erstaunt es nicht, dass viele von mir angetroffene Patienten dieser Klientel ihre aktuellen Gewichts- und Blutdruckmessergebnisse wussten und diese auch in diversen Situationen des Alltags relevant machten.

Konsequenzen für das Praeventive.Selbst++ Auch diejenigen sieben von 25 Patienten, die ich als Praeventives. Selbst++ bezeichne, entdeckten früh die immer wieder unterschiedlichen Ergebnisse, die durch das Blutdruckmessgerät produziert werden. Und auch hier wurden Strategien entwickelt, mit dieser Unordnung umzugehen. Diese Strategien unterschieden sich jedoch von denen der zuvor diskutierten Patientenklientel, wie anhand des Beispiels von Herrn Bauer belegt werden kann: »Beim Blutdruckmessen, da ist das schon manchmal irreführend, weil die Unterschiede ja schon krass sind… Ich seh’ das ja, weil ich das dokumentiere und… Aber, wenn mal was ist, was Besonderes wäre, dann nehm ich’s halt mit zum Arzt. Damit er das unter Kontrolle hat. Oder ich rufe bei Frau [nennt den Namen der Teleschwester] an. Heute gerade hab’ ich mit ihr gesprochen. Sagt sie: ›Herr Bauer, ich bin eigentlich sehr zufrieden.‹« (Herr Bauer)

Der zentrale Unterschied zwischen dem Präventiven Selbst und dem Praeventiven.Selbst++ ist, dass letzterer Patiententyp die Zahlen nicht zum Ausgangspunkt für derart weitreichende Überlegungen nahm wie der zuvor vorgestellte. Zwar konnten Blutdruckmessergebnisse auch der Auslöser von Sorgen und Unruhen werden, jedoch führten Sorgen über den Blutdruck beim Praeventiven.Selbst++ eher dazu, dass man zum Arzt ging und dessen Rat einholte. Wohingegen Frau Busse ihrem Arzt vorstellte, wie sie ihren Blutdruck mit Medikamenten eigenständig zu behandeln gedachte und sie damit eine emanzipierte Position gegenüber dem medizinischen Experten einnahm, unternahm Herr Bauer in gewisser Hinsicht das Gegenteil: Er forderte medizinische Expertise aktiv ein und begab sich damit eher in ein Abhängigkeitsverhältnis. Diese Produktion eines Abhängigkeitsverhältnisses kann auch im folgenden Beispiel gesehen werden. Herr Diestel berichtete mir von der Sorge, die aufkam, als er nach Ablauf der ersten Phase seines telemedizinischen Programms die Technologie an die Hersteller zurücksenden sollte und fortan nur noch angerufen wurde. Wie oben bereits geschil200

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dert, ist das Ziel dieses Programms, dass Herr Diestel die eigenständige Kontrolle seiner Risikoparameter beigebracht bekommt und er insofern ein Präventives Selbst wird. Die von ihm unternommene Initiative forderte jedoch genau das Gegenteil davon ein: »Jetzt rufen sie [die Teleschwestern] bloß noch alle 12 Wochen an. Das fand ich dann ein bisschen ziemlich lang – die Zeit dazwischen und so, ne. Na ja... Und dann haben wir uns unterhalten, und da sag’ ich ihr, dass mein Blutdruck, also der spinnt vollkommen und so… ›Ja‹, sagt sie. Ich sag’: ›Mir wär’s lieber, wenn Sie sich in sechs Wochen noch mal melden könnten und so. Weil 12 Wochen find’ ich ja doch ein bisschen lange‹. ›Ja‹, sagt sie, ›geht das?‹« (Herr Diestel)

Anhand der Aussage von Herrn Diestel wird deutlich, dass er die stetige, permanente Betreuung durch das telemedizinische Zentrum dem selbstständigen Behandlungsmanagement vorzog. Als die Teleschwester ihm mitteilte, dass sie sich fortan nicht mehr so häufig melden würde, äußerte er die Probleme, die er zu dieser Zeit mit seinem Blutdruck hatte und vermittelte ihr damit, dass er es gutheißen würde, wenn sie sich nicht erst in 12 Wochen melden würde. In dem von ihm rekonstruierten Dialog wird sogar der innere Konflikt der Teleschwester angedeutet. Sie bestätigte seine Sorgen zwar stets, ergriff aber nicht von sich aus die Initiative, ihm anzubieten, sich früher bei ihm zu melden. Nachdem er dies vorgeschlagen hatte, stellte sie nur die Frage in den Raum, ob ihr dies innerhalb der Konzeption des telemedizinischen Programms überhaupt möglich sei. Es ist im Kontext dieser Arbeit weniger relevant, wie diese Situation für Herrn Diestel ausging. Zentraler ist, dass Herr Diestel ausgerechnet das telemedizinische Programm, das eine Patientenklientel des Präventiven Selbst produzieren soll, darin die typischen Bedürfnisse eines Praeventiven.Selbst++ entwickelt und sich das Programm entsprechend aneignet. In der obigen Beschreibung der Kerneigenschaften des Praeventiven.Selbst++ wurde schon festgehalten, dass es nicht nur begrüßt, seinen Körper auf medizinische Institutionen verteilt zu sehen. Mit der Affirmation, sich in einem Netz medizinischer Expertise zu befinden, geht auch einher, dass es gut geheißen wurde, Verantwortungen für die eigene Gesundheit auf andere Instanzen verteilt zu wissen. Wohingegen das Präventive Selbst aus eigenem Antrieb ein möglichst unabhängiges und selbstbefähigtes Leben führen möchte, hat das Praeventive.Selbst++ weniger Probleme damit, ein Leben in Abhängigkeit und Überwachung zu führen.

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Konsequenzen für Präventionsverweigerer Oben wurde schon dargelegt, dass auch diejenigen fünf Patienten, die ich hier als Präventionsverweigerer klassifiziere, die durch die Messgeräte erhobenen Zahlen dokumentierten. Jedoch erfolgte dies weder aus dem Grund, diese Daten zum Anlass zu nehmen, die eigenen Lebensgewohnheiten zu ändern (wie beim Präventiven Selbst). Ebenso wenig wurden die Daten erhoben, um damit zum Arzt oder zu anderen medizinischen Experten zu gehen und deren Rückmeldung dazu zu bekommen (wie beim Praeventiven.Selbst++). Die in die telemedizinischen Programme eingeschriebenen Präventionsverweigerer erhoben die Werte lediglich für die Teleschwestern des telemedizinischen Zentrums: »Immer wenn sie angerufen hat, hab’ ich ihr erzählt, was ich für Werte hab’. Ich hab’ immer gesagt, ›es ist soundso viel‹ oder ›es ist gleich geblieben‹. Aber sonst haben wir nicht darüber diskutiert. Also für mich ist das an und für sich so ‘ne Sache: ›Na, wenn sie’s wissen wollen, dann sollen sie’s wissen.‹ Viel mehr war nicht. Also ich hab’ mich nicht viel mehr danach groß gerichtet.« (Herr Essmann)

Auch in diesem Zitat von Herrn Essmann wird ersichtlich, dass die Zahlen keine weitreichenden Konsequenzen in seinem Alltag hatten. Er dokumentierte sie für die Teleschwester und ließ dieses Gespräch mit ihr mehr oder weniger unbeteiligt über sich ergehen. Auch die unordentlichen Blutdruckmessergebnisse waren für ihn kein Anlass zur Sorge und wurden nach der Erhebung wieder schnell vergessen bzw. ignoriert. Frau Ertmann, anhand deren Beispiels oben einige der zentralen Kategorien von Präventionsverweigerern gezeigt werden konnten, hat gar eine Erklärung für die Ignorierung des Blutdruckmessgeräts: »Frau Ertmann: Ja ja… Wir sind jetzt ja alt genug geworden. Da kann man ja nicht sagen, wir haben alles verkehrt gemacht. Sonst wär’ man ja nicht so alt geworden. Da muss’ ich jetzt nicht noch hier mit Blutdruck… Ach!« (Frau Ertmann)

Anhand dieser Aussage wird auch wieder erkennbar, dass die ihr nahegelegten Ratschläge als unnötige, vielleicht gar penetrante Versuche gedeutet wurden, ihre Lebensweise zu verändern. Dass das Blutdruckmessgerät verwerfende »Ach« verdeutlicht, dass Frau Ertmann davon ausgeht, ihr Leben bestreiten zu können, ohne auf die ihr nahegelegten Technologien zurückgreifen zu müssen. In der Aussage, dass sie jetzt schon so alt geworden sei und man ihr von daher nicht beibringen könne, was eine richtige und was eine falsche Lebensweise sei, wird gar ei202

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ne gewisse Überheblichkeit deutlich. Die jungen Teleschwestern mit all ihrem medizinischen Wissen, so wird in gewisser Hinsicht angedeutet, könnten ihr gar nichts sagen. Manchmal steckt hinter einer Verweigerung des Blutdruckmessgeräts sogar eine andere Form von Emanzipation als die des Präventiven Selbst. Im folgenden Zitat erzählt Herr Schneider, dass er früher dem Blutdruckmessergebnis relativ viel Bedeutung beigemessen hat. Heute ist dies nicht mehr so: »Ich hab’ die Werte, ja… Ja gut... und sage jetzt nicht mehr: ›Heute hab’ ich einen Blutdruck von 103 zu 71, heute ist er gut, heut’ kann ich...‹ Nee, oder: ›Heute hab’ ich einen Blutdruck hier von 86 zu 59, heut’ mach’ ich...‹ Nee. So mach’ ich das nicht. Ich mach’ immer meins, und ich hab’ festgestellt, wenn ich das so machen tu’, so wie ich das so denke, dann geht’s mir auch wieder besser.« (Herr Schneider)

Mit der Aussage, dass er selbst festgestellt habe, dass es ihm besser bekäme, die Blutdruckmessergebnisse zu ignorieren und die diversen Dinge des Alltags so zu erledigen, wie es ihm sein Bauchgefühl nahelegt, verdeutlicht er den dahinter liegenden Emanzipationsprozess. Er deutet an, dass die durch das Gerät produzierten Zahlen auch in seinem Alltag einmal dominant waren. Auch bei ihm scheinen gute und schlechte Blutdruckmessergebnisse in bestimmten Konsequenzen resultiert zu haben. Seine persönliche Erkenntnis jedoch war, dass es ihm besser ginge, wenn er sich von diesen unabhängig mache. Im Gegensatz zum Präventiven Selbst emanzipieren sich Präventionsverweigerer nicht von der Technik und medizinischer Expertise, um zu eigenständigen und autonomen medizinischen Experten zu werden. Sie emanzipierten sich von der Technik und medizinischer Expertise, um das zu machen, was sie selbst für gut befinden, sei es, weil sie den von ihnen individuell erarbeiteten Krankheitsbewältigungsstrategien mehr vertrauten, oder weil sie feststellten, dass ihnen die allzu starke Reflexion von Zahlen und medizinischer Expertise aus welchem Grund auch immer missfällt. Die Diskussion um verschiedene Patientenprofile, deren Perspektiven auf Körper, Gesundheit, Heilung und Prävention sowie die jeweils typischen Formen der Selbstbeobachtung, die Interaktionen mit Zahlen und deren praktischen Konsequenzen dieser Interaktion soll im nun folgenden Abschnitt beendet werden. Dies wird entlang der Frage unternommen, welche spezifischen Körper-Identitäten-Trajektorien für die drei bis hierhin konstruierten Patientenprofile gezeichnet werden können.

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Körper-Identitäten-Trajektorien Anselm Strauss’ Konzept der Körper-Biographie-Trajektorien wurde im vierten Kapitel dieser Arbeit bereits ausführlich dargelegt (vgl. S.143ff). Auch wenn viele sozialwissenschaftliche Arbeiten noch heute mit diesem Konzept arbeiten und die grundlegende These anerkennen, dass Körper und Biographie miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen, haben einige Forscher dieses Konzept inzwischen weiterentwickelt. Dabei wurde auch eine ähnliche Kritik wie die von Clarke entwickelt, wenn moniert wurde, dass Strauss zu sehr einen basalen sozialen Prozess fokussiere, in dem wenig Multiplizität und Varianz zugelassen werde. Stefan Timmermans hat ein ähnliches Argument vorgetragen, als er sich dafür entschied, sich anstelle von Biographien auf Identitäten zu konzentrieren. Die Betonung des Plural – Identitäten – ist dabei zentral: Wohingegen der Begriff Biographie unterstelle, dass es so etwas wie eine sinnvolle Darstellung des Lebenslaufes geben könne, würde durch die Fokussierung auf Identitäten ermöglicht, mehrere, sich evtl. auch widersprechende soziale Rollen zu berücksichtigen. Timmermans benutzt diese These als Startpunkt seiner Untersuchung über solche Technologien, die eine Wiederbelebung von Patienten ermöglichen sollen, nachdem sich deren plötzlicher Tod nach einem Hirnschlag einstellte. Die von ihm verfolgte Frage lautete, ob in diesem Moment der Wiederbelebung nur das Leben der Patienten, aber nicht Identitäten gerettet werden: »The widespread use of resuscitation technology changes who people are when they die. Instead of dying as part of the community in which he or she lived, a person’s identities during resuscitative attempts are guided by resuscitation technology. If we follow the person through the resuscitation process, we see a double identity transformation. The resuscitation technology facilitates certain medical identities, and simultaneously renders other identities irrelevant. When the outcome is known in the resuscitative attempt, this process is reversed and some of the identities that were previously irrelevant are now reinstated. In addition, particular identities may be lost forever; while new identities may be added to the configuration of multiple identities.« (Timmermans 1996: 769)

In seiner Untersuchung entwickelt Timmermans eine Körper-Identitäten-Trajektorie, die auch in Strauss’scher Art nachgezeichnet werden kann. Timmermans unterstellt, dass im Moment des Schlaganfalls (in Abbildung 15 der Zeitpunkt 1) die diversen Identitäten der Person unwichtig werden. Im Moment der kurz darauf folgenden Wiederbelebung ist es für die Notfallärzte irrelevant, welches Alter oder welches Ge204

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Abbildung 15: Körper-Identitäten Trajektorien nach Timmermans14 schlecht die Person hat oder welcher Religion oder sozialen Gruppe sie angehörte. In diesem Moment zählt allein, die Person wieder zu beleben. Und in dieser Hinsicht hat diese Person ab sofort nur noch eine Identität: sie ist ein Patient, der gerettet werden muss. Auch in der Zeit danach, der Zeit der Anschlussheilbehandlung, oder dann, wenn der Patient lange Zeit unansprechbar auf der intensivmedizinischen Abteilung eines Krankenhauses liegt, zählt allein diese eine Identität. Es geht ausschließlich darum, den Patienten wieder ins normale Leben zurückzuführen. Indes, sobald sich der Zustand des Patienten stabilisiert, können die Identitäten des Patienten wieder relevant werden. Zum Beispiel kann dann wieder wichtig werden, welchem Sozialmilieu er angehörte oder welche Religion er oder sie praktizierte. Auch wenn der Patient die Folgen des Herzinfarkts nicht überlebt, können die Identitäten wieder zum Tragen kommen. Wenn, wie in der Graphik im Zeitpunkt 2 festgehalten, man sich nach dessen Tod wieder an die diversen Eigenschaften der Person erinnert (in der Familie, der Kommune, unter den Kollegen etc.), bilden sich dessen Identitäten wieder heraus. Im Folgenden sollen in Anlehnung an Timmermans Körper-Identitäten-Trajektorien für die drei bis hierhin konstruierten Patiententypen vorgestellt werden. Graphisch werden diese in den Abbildung 16 bis 18 festgehalten. 14 Diese Abbildung ist eine von Leigh Star und Geoff Bowker kreierte und hier reproduzierte (vgl. Bowker und Star 199ff.). 205

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Alle im Rahmen dieser Studie angetroffenen Patienten hatten diverse Identitäten, bevor an ihnen aufgrund eines Herzinfarkts oder vorausgegangener chronischer Erkrankungen eine Herzinsuffizienz diagnostiziert wurde. Kurz nach dieser Diagnose und einem durch die Erkrankung verursachten Krankenhausaufenthalt gelangten die Patienten in das telemedizinische Programm und befanden sich fortan in entsprechender Betreuung. Zusätzlich zu den Körper-Identitäten-Trajektorien wird deshalb in den Abbildungen 16 bis 18 eine Trajektorie des telemedizinischen Zentrums aufgeführt. Diese beschreibt die Praktiken von Teleschwestern, die insofern kontingent verlaufen, als dass sie zum Beispiel auf von Patienten übertragene Parameter reagieren oder Handlungsschritte auf Grundlage der gestellten Fragen seitens der Patienten einleiten. Kurz, telepflegerische Praktiken verlaufen kontingent, weil das telemedizinische Zentrum als soziotechnisches Netzwerk nie nur ein vollends stabiles Gefüge darstellt. Die Pfeile zwischen der Trajektorie des Telemedizinzentrums und der des Körpers stehen für das, was Leigh Star und Geoff Bowker als »torques« bezeichneten. Torques betonen die eher negative Dimension des interaktionistischen Machtbegriffes (siehe S. 148f): sie stehen für machtvolle Mechanismen, die Handlungsräume einschränken. Ins Deutsche kann der Begriff vielleicht am ehesten als »Mangel« oder »Quetschmaschine« übersetzt werden. Ein Beispiel für torques sind Klassifikationssysteme wie der ICD (International Classification of Diseases) oder DRGs (Diagnosis Related Groups), weil diese die medizinische Praxis zunehmend mitbestimmen und einschränken. Auch medizinische Diagnosen können als torques bezeichnet werden. Wenn ein Patient eine »Herzinsuffizienz« diagnostiziert bekommt, dann wird ein medizinisches Interpretationsschemata privilegiert, wohingegen individuelle oder vielleicht auch alternativmedizinische Erklärungen ignoriert oder anderweitig untergeordnet werden. Für den Fall der drei Patiententypen können unterschiedliche torques und unterschiedliche Qualitäten der Wirkmächtigkeit von torques festgestellt werden. Beim Präventiven Selbst lässt sich eine Anpassung von Körper- und Identitäten-Trajektorien beobachten. Das bedeutet, dass in den über einen bestimmten Zeitraum, im sozialen Leben diversen erlangten Rollen immer mehr die Krankheit oder der kranke Körper berücksichtigt werden. Kaffeetrinken mit der Familie oder Kollegen, Grillfeste oder Feiern mit Freunden und im Bekanntenkreis, aber auch andere Aktivitäten im Alltag, wie Gartenarbeit oder sportliche Betätigung, werden vom Gesundheitszustand abhängig gemacht. Bemerkenswerterweise wird vom Präventiven Selbst dabei ein Körper gepflegt, der sehr ähnlich ist wie der im telemedizinischen Zentrum hergestellte. Es ist ein Zahlen206

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körper und ein Körper mit jener spezifischen linearen und konstanten Geschichte, der sich in den handlungspraktischen Konsequenzen dieser Patientenklientel zeigt. Weniger wichtig ist zum Beispiel, wie man sich fühlt. Die Teleschwestern aus dem telemedizinischen Zentrum sind an der Herausarbeitung dieser Körperpraktiken nicht unbeteiligt. Allerdings ist die Anpassung der diversen Identitäten der Person an die Körpertrajektorie auch das Resultat der spezifischen Perspektive auf Gesundheit, Prävention, Heilung und Körper, welche unter anderem die medizinische und telepflegerische Expertise zu diesem Thema sehr ernst nimmt und stets reflektiert (und deswegen – so könnte man hinzufügen – torques einfordert). Darüber hinaus bleibt es nicht bei der Reflexion und der Einforderung telepflegerischer Perspektiven. Das Ziel des Präventiven Selbst besteht idealtypischer Weise darin, diese Expertise auch unabhängig von Ärzten und Teleschwestern anzuwenden – sie also zu operationalisieren. Die Interaktion mit Zahlen unterstützt diese Verbreitung medizinischer und telepflegerischer Expertise, weil vermutet wird, dass mit Hilfe von Zahlen sowie mit weiteren, selbst kreierten Klassifikationsverfahren der Körper und die Krankheit eigenständig unter Kontrolle gehalten werden können. Die spezifische Interaktion mit Zahlen resultiert somit in einem spezifischen dualen Verhältnis von Zahlen und Körpern. Ein zu hoher Blutdruck hat zum Beispiel zur Konsequenz, dass keine Hausarbeiten unternommen werden; sie verweisen zugleich auf den Stress mit der Krankheit des Ehemannes. Über Mechanismen wie diese erfolgt jene Anpassung von Identitäten und (Zahlen-)Körper. Beim Praeventiven.Selbst++ können auch Anpassungsprozesse festgestellt werden. Allerdings kommen die Identitäten dieser Patientenklientel eher der Trajektorie des telemedizinischen Zentrums näher als der des Körpers. Das bedeutet, dass die diversen Aktivitäten des Alltags weniger vom Zahlenkörper abhängig gemacht werden, als von der medizinischen und telepflegerischen Expertise aus dem telemedizinischen Zentrum. Es konnte aufgezeigt werden, dass diejenigen Patienten, die ich als Praeventives.Selbst++ bezeichne, sich vor allem aufgrund des Bedürfnisses nach Expertenwissen von sich aus in ein Abhängigkeitsverhältnis begaben. Ihnen ist weniger wichtig, die Krankheit autonom und eigenständig zu behandeln. Vielmehr halten sie diejenigen Personen, an die sie die Daten übersenden, für mitverantwortlich für ihren Gesundheitszustand und Krankheitsverlauf. Es konnte gezeigt werden, dass die telepflegerische Betreuung beim Praeventiven.Selbst++ auch Lebensstiländerungen vor allem im Bereich der Ernährungsgewohnheiten zur Konsequenz hatte. Für diese Klientel typischere handlungspraktische Konsequenzen waren jedoch, dass diverse Aktivitäten des Alltags eher von den Ratschlägen der Teleschwestern oder vom Arzt abhängig 207

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Abbildung 16: Körper-Identitäten-Trajektorien vom Präventiven Selbst

Abb. 17: Körper-Identitäten-Trajektorien vom Praeventiven.Selbst++

Abb. 18: Körper-Identitäten-Trajektorien von Präventionsverweigerern

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gemacht wurden. Bevor Angehörige dieser Patientenklientel mit dem Fahrrad fahren oder die Straßenbahn benutzen, Holz hacken oder in Campingurlaub fahren (um Beispiele aus dem empirischen Material zu nennen, die hier nicht zitiert wurden), fragten diese im telemedizinischen Zentrum nach, ob sie dies machen könnten oder sollten. Über diese aktive Einforderung von Expertenwissen erfolgt für das Praeventive.Selbst++ eher eine Anpassung von dessen Identitäten an die Trajektorie des telemedizinischen Zentrums. Weniger weitreichende Konsequenzen können für diejenige Patientenklientel ausgemacht werden, die hier als Präventionsverweigerer bezeichnet wurden. Zwar haben sich seit der Diagnostizierung der Herzinsuffizienz auch im Leben dieser Menschen Veränderungen eingestellt, die auch die diversen Identitäten dieser Person beeinflussten. Jedoch kann hier keine Anpassung dieser an die Körper-Trajektorie oder die Telemedizin-Trajektorie festgestellt werden. Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass der Einfluss des telemedizinischen Programms auf die diversen Identitäten dieser Patienten eher gering ausfällt. Ob aus einem (sturen) Festhalten an bislang erarbeiteten Bewältigungsstrategien, der Verteidigung der Gewohnheiten, die als Genuss konzeptionalisiert werden, oder der Emanzipation von Technik und medizinischer Expertise, um sich nicht nervös machen zu lassen: Präventionsverweigerer widerstehen torques und lassen diverse, mit dem telemedizinischen Programm einhergehende Ratschläge zur Lebensstiländerung somit eher an sich abprallen.

Zusammenfassung Telemedizinische Lösungen zu bedienen, so kann man es immer wieder in den Broschüren der Anbieter lesen, ist sehr einfach. Der »Telemedizin-Report« des Herstellers PHTS beispielsweise, belegt dies nicht nur in den abgedruckten Erfahrungsberichten seiner Leistungsempfänger. Diese betonen darin, wie spielerisch die Technik zu bedienen sei und wie oft sie dadurch schon im Notfall gerettet wurden. Auch diverse Bilder in diesen Werbebroschüren demonstrieren die simple Bedienbarkeit und die durchweg benutzerfreundliche Menüführung. Es werden zum Beispiel Bilder von Patienten gezeigt, die während des Zeitungslesens am Frühstückstisch den Blutdruck messen. Ihre Konzentration richtet sich dabei auf die Zeitung und nicht auf das Blutdruckmessgerät. Andere Bilder zeigen lächelnde, mittelalte Damen am Telefon (im Morgenmantel), das EKG-Gerät in Reichweite haltend. Diese Darstellungen suggerieren, dass es sehr einfach sei, mal eben – in welcher Situation auch immer – an eine patientennahe und exzellente medizinische Betreuung 209

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zu gelangen. Tatsächlich können der Bildsprache des »TelemedizinReports« und vielen anderen vergleichbaren Broschüren zufolge, alle mit den Gesundheitstechnologien anfallenden Aufgaben, wie das Blutdruckmessen, locker nebenher gemacht werden. In diesem Kapitel wurde jedoch gezeigt, dass auf Patientenseite sehr wohl diverse Aufgaben anfallen, auch wenn diese häufig als trivial abgetan werden könnten. Es wurde argumentiert, dass es unter anderem deshalb wichtig ist, diese Arbeiten zu betonen, weil sie weitreichende und mannigfaltige Konsequenzen haben, die nicht immer vorab berücksichtigt werden (können). Einige dieser Arbeiten wurden ausführlich dargestellt. Es konnte gezeigt werden, dass selbst mit vermeintlich kleinen Aufgaben, wie der Einrichtung eines Heimlabors, viele und oft konfliktreiche Tätigkeiten verbunden sind. Die Patienten müssen hierfür einen spezifischen Ort einrichten, für den nicht nur der Wohnraum umgestaltet wird, sondern auch Morgenroutinen entwickelt werden, die zunächst den Patienten selbst seltsam anmuten. Bei der Darstellung dieser erlernten Routinen konnte gezeigt werden, dass diverse Hindernisse überwunden werden mussten. In diesem Kapitel konnte zudem gezeigt werden, dass in Interaktionen mit Zahlen die meisten Arbeiten anfallen. Zahlen wurden nicht nur beim Messen erhoben und zum Beispiel im Moment der Datenübergabe auf spezifische Art und Weise be-handelt. Zahlen wurden auch in Kalendern, Blattsammlungen oder Tabellenkalkulationsprogrammen dokumentiert, und dies ermöglichte, dass die erhobenen Vitalparameter über längere Zeiträume verglichen und der aktuelle Zustand immer beurteilt werden konnte. Dem lag die Annahme zugrunde, dass Zahlen als Fakten verstanden werden können, als etwas, das nicht bestritten oder ignoriert werden kann. Aus der Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung ist dieser Umgang mit Zahlen insbesondere deshalb interessant, weil in diesem Verständnis von Zahlen nicht gesehen wird, dass hinter diesen diverse Diskussionen, Kontroversen und Kompromisse stecken. Carsten Timmermann hat solch kontroverse Debatten am Beispiel der Entstehung der Kategorie Bluthochdruck rekonstruiert: Noch in den 1950er Jahren war der Einfluss von Blutdruck auf Krankheiten oder Tod wietestgehend unbekannt und umstritten. Auch Aussagen über einen »guten Blutdruck«, so zeigt Timmermann, variierten (lange hielt sich zum Beispiel die Aussage, dass ein guter Blutdruck aus der Addition von Lebensalter plus 100 errechnet werden könne): »During the 1950s and 1960s clinicians debated whether hypertension itself was merely the symptom of an underlying disease whose true causes first had 210

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to be established to treat it. Since the 1970s, it has been more and more widely assumed that high blood pressure, even in relatively mild cases, needed to be treated to reduce the associated risks.« (Timmermann 2006: 133)

Diese Debatten und die daraus folgenden Kompromisse sind den mit telemedizinischen Lösungen ausgestatteten Patienten unbekannt. Für sie können bestimmte Blutdruckwerte ab einer bestimmten Höhe problematisch werden und ihnen Sorgen bereiten. Das Blutdruckmessgerät ist nicht zuletzt deshalb oft ihr ständiger, unhinterfragter Begleiter. In diesem Kapitel konnte jedoch auch gezeigt werden, dass Blutdruckmessgeräte (und Waagen) bzw. die Zahlen, die sie produzieren, nicht bei allen Patienten die gleichen Konsequenzen haben. Nicht alle wurden gleichermaßen achtsam und ließen dieselben Effekte für die diversen Rollen oder Identitäten ihres sozialen Lebens zu. In Anlehnung an die von Strauss und Timmermans entworfenen Körper-IdentitätenTrajektorien konnte gezeigt werden, dass die als objektiv geltenden Zahlen und Indikatoren viel weiterreichende Konsequenzen im sozialen Leben von denjenigen Patienten hatten, die hier als Präventives Selbst bezeichnet wurden. Diese Patienten zeichneten sich durch spezifische Perspektiven auf Körper, Gesundheit, Krankheit und Prävention aus. Sie praktizierten eine spezifische, nach innen gerichtete Selbstbeobachtung, suchten Verantwortung bei sich selbst, dachten nachhaltig und zukunftsorientiert und suchten nach medizinischen und pflegerischen Ratschlägen zur Krankheitsbewältigung, die sie selbst operationalisieren wollten. Diese Patientenklientel nutzte das telemedizinische Programm, um einigermaßen eigenständig und autonom das eigene Leben zu führen und den kranken Körper selbstständig zu behandeln. Telepflegerische Praxis unterstützte sie auf dem Weg der Entlassung in diese Unabhängigkeit. Die Perspektiven von denjenigen Patienten, die hier als Praeventives.Selbst++ bezeichnet wurden, ermöglichten andere Konsequenzen telepflegerischer Praxis. Das Praeventive.Selbst++ zeichnete sich durch eine Bereitschaft aus, den Körper und den Krankheitsverlauf als etwas Willkürliches zu betrachten, als etwas, das man selbst nicht allzu leicht unter Kontrolle bringen kann. Damit ging unter anderem einher, dass man sich im Zweifel eher auf das Urteil des Experten verließ, als dass man auf mühevolle Art und Weise Wege der Selbstbeobachtung entwickelte. Des Weiteren hatte dies zur Konsequenz, dass man nicht derart hingebungsvoll an Lebensstiländerungen (und insbesondere Ernährungsumstellungen) arbeitete wie diejenigen aus der Patientenklientel des Präventiven Selbst. Auch das telemedizinische Programm wurde von daher anders genutzt, teilweise gar für diese Zwecke angeeignet. Diejenigen, die hier als Praeventives.Selbst++ bezeichnet wurden, be211

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grüßten es, sich in Netzwerken medizinischer Expertise zu befinden. Sie ließen sich durch sie nicht in die Unabhängigkeit begleiten, sondern betreuen. Die Teleschwestern wurden zu Kontrolleuren ihrer Gesundheit – nicht sie waren es, die Kontrolle über ihren Körper ausüben mussten. Im dritten Kapitel dieser Arbeit wurde argumentiert, dass es sich bei telepflegerischen Praktiken um die »Mikropolitik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme« handelt. Telemedizinische Zentren, so wurde gezeigt, wurden vor dem Hintergrund ganz spezifischer Probleme und Herausforderungen des zeitgenössischen Gesundheitswesens initiiert. In telepflegerischen Handlungen, so lautete das Argument, ist diese gesundheitsökonomische und -politische Dimension ein »manifest absent«. Wenn diese Ergebnisse berücksichtigt werden, dann können insbesondere in den Körper-Identitäten-Trajektorien von Präventiven Selbst und Praeventiven.Selbst++ zwei Arten gesehen werden, wie das technowissenschaftliche Gesundheitssystem unter die Haut geht. Es konnte gezeigt werden, dass in den Praktiken des Präventiven Selbst ein sehr ähnlicher Körper entsteht wie der im telemedizinischen Zentrum. Die von Patienten aus den Messsituationen gewonnenen Ergebnisse – die Zahlen – wurden zwar von fast allen dokumentiert, hatten jedoch nur bei dieser einen Klientel die beschriebenen weitreichenden Konsequenzen und eine breitere Durchschlagskraft im Alltag dieser Menschen. Auch die daran anschließenden Dokumentations-, Auswertungs- und Klassifikationsarbeiten ähnelten sehr stark denen der Teleschwestern. Teilweise wurden gar ähnliche Aufbereitungsverfahren entwickelt, indem Blutdruckmessergebnisse in fast gleiche Graphenschemata übertragen wurden wie im telemedizinischen Zentrum. Auf diese Weise wurde in den Praktiken des Präventiven Selbst ein sehr ähnlicher Zahlenkörper und »linearisierter« Körper hergestellt wie im telemedizinischen Zentrum. In diesem Kapitel konnte zudem gezeigt werden, dass das, was als die Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme bezeichnet werden kann, sich am ehesten mit den Bedürfnissen und Perspektiven des Präventiven Selbst überschneidet. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, dass die im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem kreierten Vermutungen des Endanwenders tatsächlich in dessen Handlungen angetroffen werden können. Die in der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme vermuteten Eigenschaften des Präventiven Selbst ähneln den im ersten Kapitel dargelegten Eigenschaften des vermuteten Leistungsempfängers. Auch die angenommenen Konsequenzen von telemedizinischen Lösungen stellten sich beim Präventiven Selbst einigermaßen ein: Technikhersteller, Gesundheitspolitiker, Krankenkassen etc. vermuteten, dass mit den Technologien bestimmte Verhaltensweisen 212

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erzeugt werden würden, die insgesamt dazu führen, dass Menschen ein längeres, gesundes und autonomes Leben führen können. In den Handlungen von denjenigen Patienten, die hier als Praeventives.Selbst++ bezeichnet wurden, konnten weitere als die intendierten Konsequenzen von telemedizinischen Technologien herausgearbeitet werden. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass diese Menschen unter anderem durch die Interaktion mit den Zahlen zu einem Lebensstil angeleitet wurden, der nach derzeitigem Kenntnisstand als gesund gilt, konnte ebenso nachvollzogen werden, dass die diskutierten Technologien in dieser Klientel nicht derart weitreichende Konsequenzen haben wie beim Präventiven Selbst. Dennoch geht auch hier das technowissenschaftliche Gesundheitssystem insofern unter die Haut, als dass sich Patienten in dessen Sicherheit wägen. Der Alltag dieser Patienten wird auch durch die »Fremdkontrolle« aus dem telemedizinischen Zentrum stabil gehalten. Dieses Resultat ist wohl vielmehr eine unintendierte Nebenfolge der Konzeption des telemedizinischen Programms und der ausgehändigten Technologie. Es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass es diese Klientel und diese Konsequenzen in dieser Patientenklientel geben kann, weil diese die Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme am ehesten herausfordern. Denn die Logik unterstellt einen gewissen Grad an Disziplin, einen Willen zur Autonomie, eine ganz spezifische Rationalität etc., die nicht in den Praktiken des Praeventiven.Selbst++ wiedergefunden werden können.

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Die Logik und die Grenzen te c hnow isse nsc haftlic he r Ges undheits sys te me

In den drei empirischen Kapiteln dieser Arbeit wurde das deutsche technowissenschaftliche Gesundheitssystem auf mehreren Ebenen analysiert. Es wurde zunächst rekonstruiert, wie sich dieses System herausbildete, welche Probleme es reflektierte und zu überwinden versuchte. Es wurde gezeigt, dass mit diesem System diverse Konsequenzen einhergingen: Zum Beispiel wurden in diesem die Positionen von Entscheidungsträgern neu ausgehandelt, bestimmte Wissensformen gewannen Vormacht über andere, es entstanden neue pflegerische und medizinische Praktiken, und auch Patientenalltage wurden – so konnte gezeigt werden – auf vielfache Art und Weise von diesem System tangiert. In diesem abschließenden Kapitel sollen vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus den empirischen Kapiteln dieser Arbeit die Logik und die Grenzen technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme untersucht und somit gefragt werden, welche zeitspezifischen Praktiken und Rationalitäten in diesem ermöglicht und welche dadurch verhindert werden. Wenn im Folgenden von »Logik« die Rede ist, dann ist damit nicht das klassische Verständnis gemeint. Es geht nicht um die philosophische Kunst des arithmetischen Schlussfolgerns. Vielmehr wird ein von Annemarie Mol vorgeschlagenes Verständnis von Logik benutzt, welches »invites the exploration of what it is appropriate or logical to do in some site or situation, and what is not. It seeks a local, fragile and yet pertinent coherence. This coherence is not necessarily obvious to the people involved. It need 215

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not even be verbally available to them. It may be implicit: embedded in practices, buildings, habits and machines.« (Mol 2008: 8)

Dieses Logik-Verständnis korrespondiert einerseits mit dem Deweys (1938) und damit der in dieser Arbeit unter anderem reflektierten pragmatistischen Philosophie. Dewey betonte, dass es sich bei Logiken nicht um gedankliche oder rationale Leistungen handelt, sondern um etwas, das in Handlungen oder in der Alltagspraxis sichtbar wird. Ebenso wie Dewey betont Mol in ihrem Verständnis von Logik, dass es sich hierbei um etwas Prozessuales handelt, um etwas, dass nicht von der Geschichte, den Akteuren und deren Handlungen, Interessen oder Erwartungen losgelöst betrachtet werden kann. Des Weiteren reflektiert Mol in jenem Zitat die Ansätze und Vorschläge der Akteur-Netzwerk-Theorie, und damit einer weiteren Epistemologie, von der sich diese Arbeit inspiriert zeigte: Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei Logik um etwas handelt, das nicht nur Menschen, sondern auch Dinge betrifft. Mol erkennt an, dass das, was wir vor Ort beobachten können, »carries a whole world with it: a specific mode of organising action and interaction; of understanding bodies, people and daily lives; of dealing with knowledge and technologies; of distinguishing between good and bad; and so on« (Mol 2008: 7). Das, was eine Logik ausmacht, kommt dementsprechend durch an einem Ort aufeinander treffende Personen und Aktanten sowie die mit diesen verwobenen Netzwerken zustande. Im Folgenden soll die Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme diskutiert werden, indem unter Rückbezug auf die empirischen Daten und Ergebnisse dieser Arbeit ein spezifischer Vernunft- und Handlungsstil diesem zugeschrieben wird. Des Weiteren wird zusammengefasst, welches Verständnis von Technik und Technologie dieser Logik zu Eigen ist. Ebenso soll gezeigt werden, dass in diesen Gesundheitssystemen eine Rationalität sichtbar wird, die zuvor schon als neosozial bezeichnet wurde. Ein spezifischer wissenschaftlicher Vernunftstil, die Bedeutung der Technologie und das, was man neosoziale Versorgungspolitik nennen kann, sind in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen miteinander verwoben; sie bedingen sich gegenseitig. Schlussendlich soll gezeigt werden, dass allen drei Facetten gemein ist, dass darin ein Wille zur Kontrolle eine große Rolle spielt. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen in dieser Arbeit erprobten STSPerspektiven wird argumentiert, dass insbesondere dieser Wille zur Kontrolle problematisch ist, weil er verkennt, dass viele Bestandteile sozialer, materialer und physiologischer Realität kontingenten Prozessen ausgesetzt sind und sich insofern leicht der Kontrolle entziehen. 216

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

Die Bedeutung des gesundheitsökonomischbürokratischen Vernunftstils In den empirischen Kapiteln dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass in der Art und Weise, wie zeitgenössische Gesundheitspolitik problematisiert, rationalisiert, organisiert und weiterentwickelt wird, wissenschaftlichem Wissen eine große Bedeutung zukommt. Die aus wissenschaftlichen (und hierbei meist quantitativen) Studien generierten Ergebnisse markierten zum einen den Ausgangspunkt der eingeleiteten Maßnahmen oder Reformen. Die Problematisierung einer spezifischen demographischen Entwicklung zum Beispiel geht auf Bevölkerungsstudien zum Verhältnis von Geburten- und Sterberaten zurück. Durch die Berücksichtigung weiterer Variablen wie Arbeitslosenquoten, durchschnittliche Lohnniveaus, Renteneintrittsalter und anderen, wurden nicht nur aktuelle Verhältnisse beschrieben, sondern – zumindest dann, wenn all diese Daten wiederholt eingeholt wurden – auch Trends ablesbar, auf deren Grundlage sich Vorhersagen machen und spezifische Probleme erkennen ließen. Zum anderen lieferten aus wissenschaftlichen Studien gewonnene Ergebnisse auch die Lösung zum Umgang mit diesen Problemen. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass zum Beispiel die Epidemiologie maßgeblich darüber mitbestimmte, wie Patienten mit Herzinsuffizienz idealerweise versorgt und behandelt werden. In den hier diskutierten telemedizinischen Programmen für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz wurden die von der Epidemiologie definierten Risikoparameter und Grenzwerte reflektiert. Auch die Aussagen zu Technologien, die zur Überwachung der Krankheit eingesetzt werden sollen und die in den Programmen vermittelten Hinweise zur Ernährung und Bewegung, verarbeiteten Ergebnisse epidemiologischer Studien. Kurzum, in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen verpflichten wissenschaftliche Studien, zum Beispiel solche aus der Epidemiologie, zur Zustimmung – zumindest dann, wenn sie nach Überprüfung valide und verlässliche Ergebnisse geliefert haben, und wenn sie als einigermaßen repräsentativ gelten können. Wenn dies betont wird, dann soll hier nicht per se die Vormacht wissenschaftlichen Wissens problematisiert werden. Im Gegenteil: Es ist zu begrüßen, dass nur diejenigen Aussagen wirkmächtig sind, die überprüfbar und transparent sind. Der Einwurf aus der in dieser Arbeit eingehaltenen Perspektive der Science & Technology Studies (STS) richtet sich insofern nicht gegen diese historische Errungenschaft. Vielmehr wird in unterschiedlichen STS-Studien immer wieder betont, dass sich wissenschaftliches Wissen nicht der Relativierung entzieht. Es ist nicht zeitlos 217

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und universal. STS-Arbeiten zeigen, dass das, was als »gesichertes Wissen« gilt, nicht allein das Resultat des wertneutralen, vernünftig denkenden Geistes ist. Vielmehr ist es als das Resultat dessen zu begreifen, was zum Beispiel mit dem Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking als Vernunftstil (oder styles of reasoning, Hacking 1992) bezeichnet werden kann. Wenn Hacking von styles of reasoning schreibt, dann meint er damit explizit nicht ausschließlich kognitive Tätigkeiten. Vielmehr nutzt er den Terminus, um zu beschreiben, wie Wissen nach dem Dafürhalten von unterschiedlichen Experten produziert werden muss, das heißt, wie welche Daten erhoben werden und wie sie interpretiert werden sollen, was überhaupt wann als Ergebnis zählt, wie Ergebnisse aufbereitet werden müssen etc., damit sie als wahr gelten. Styles of reasoning meinen insofern eher Vernunft- und Handlungsstile. Nach Allan Young, der ein erweitertes Verständnis des Konzepts entwickelt, sind »styles of reasoning […] also self-vindicating, in that they adjust themselves to anomalies and to challenges to their authority, through a process of revising ideas and, more significantly, by tinkering with the physical conditions – raw materials, apparatuses, procedures, standards – with which researchers and clinicians create and manipulate their objects, and with whose help they devise, observe and interpret their outcomes.« (158)

Styles of reasoning beschreiben also die Art und Weise, wie Argumente und Begründungen innerhalb einer bestimmten »community of practice« aufbereitet sein müssen. Akteure, die einen gleichen Vernunftstil praktizieren, haben eine gleiche Perspektive auf den zu untersuchenden Gegenstand; sie teilen Ansichten darüber, wie dieser erforscht und erschlossen werden soll und wissen, wann etwas als wahr gelten kann. Dass das Konzept sowohl bei Hacking als auch bei Young im Plural benutzt wird – es wird nicht von einem Vernunftstil gesprochen –, ist äußerst wichtig. Young zeigt zum Beispiel anhand seiner Studie zur Traumataforschung, dass in dieser mindestens vier Vernunft- und Handlungsstile koexistieren und überlappen. »Psychiatry (research, clinical practice) intersects multiple styles of reasoning. The current mix is a product of developments over the past half-century, notably the biologization of mental illness (a process propelled by developments in psychopharmacology, neuroscience and imaging technologies), the meteoric rise of population-based epidemiological research, and the creation of the National Institute of Mental Health. DSM-III is the most conspicuous product of these developments. The manual’s editorial task force set out, in a selfconscious way, to produce a disease-based diagnostic system that would be 218

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

compatible with multiple styles of reasoning – epidemiological, statistical, clinical and experimental.« (Young, 158, meine Hervorhebungen)

Wenn berücksichtigt wird, dass die vier von Young aufgelisteten Vernunftstile allesamt als wissenschaftlich gelten können, dann reicht es im Kontext dieser Arbeit nicht, den in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen vorherrschenden style of reasoning allein als »wissenschaftlich« zu bezeichnen – es bedarf einer Spezifikation. Hier soll vorgeschlagen werden, den in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen vorherrschenden oder dominanten Vernunft- und Handlungsstil als »gesundheitsökonomisch-bürokratisch« zu bezeichnen. Damit ist zum einen gemeint, dass die im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem eingeleiteten Maßnahmen neben epidemiologischen nahezu immerzu gesundheitsökonomische Probleme und Studienergebnisse reflektieren. Die in dieser Arbeit untersuchten telemedizinischen Lösungen für Patienten mit Herzinsuffizienz zum Beispiel wurden nicht deshalb implementiert, weil Kardiologen, Internisten oder Hausärzte auf der Grundlage ihrer fachspezifischen Forschungsergebnisse oder Erfahrungen aus Interaktionen mit Patienten zu der Schlussfolgerung gelangten, dass Telemedizin hilfreich sei. Vielmehr geht die Implementierung auf die Ergebnisse von gesundheitsökonomischen Studien zurück, in denen die Wirtschaftlichkeit von Telemedizin überprüft und systematisch bewiesen wurde. Ein gesundheitsökonomischer Vernunftstil ist nicht selbstverständlich und historisch neuartig. Erst seit einer guten Dekade wird zunehmend betont, dass es sich beim Gesundheitswesen um einen ökonomisch bedeutsamen Wirtschaftssektor handelt, um einen Bereich mit spezifischen Allokations-, Effizienz-, Verteilungs- und Wertschöpfungsproblemen, und der deshalb einer spezifischen Analyse und Bearbeitung bedarf. Damit geht die Betonung der Knappheit an Ressourcen einher, weshalb in gesundheitsökonomischer Diskussion dafür argumentiert wird, dass vor allem auf Grundlage von Kosten-Nutzen-Kalkülen Entscheidungen darüber getroffen werden sollen, welche Bedarfe vordringlich sind, welche eingespart werden können etc. Der gesundheitsökonomische Denkstil ersetzte zunehmend einen, den der US-amerikanische Gesundheitsökonom Joseph Fuchs ironisch als den »romantischen« bezeichnete. Darunter versteht er eine Perspektive, die »refuses to accept the notion that resources are inherently scarce; [in the romantic view] any scarcity is attributed to some manmade problem, such as capitalism or socialism, market failure or excessive government interference. […] Because it denies the inevitability of choice, the romantic point of view is

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increasingly seen as impotent to deal with the problems of health care«. (Fuchs 1996: 4)

In Deutschland fand der gesundheitsökonomische Vernunftstil insbesondere in den ca. letzten 15 Jahren zunehmend Verbreitung. Erst seit Mitte der 1990er Jahre gibt es zum Beispiel Zeitschriften, die sich allein diesem Thema widmen (zum Beispiel die Fachzeitschrift »Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement«); seit ca. 10 Jahren gibt es häufig an Privathochschulen angebotene Studiengänge wie »Medizinmanagement«, »Pflegemanagement«, »Krankenhauswirtschaftslehre« und wietere. Auch wenn der gesundheitsökonomische Denkstil vor allem volkswirtschaftliche Modelle und Methoden anwendet, erfährt die Epidemiologie darin eine besondere Bedeutung. Denn es ist diese Wissenschaft, die in diversen groß angelegten Studien – idealerweise in sogenannten randomisierten kontrollierten Studien – besonders effiziente und effektive Therapie- und Behandlungsprogramme definiert. Durch den Fokus der Epidemiologie auf Inzidenzen, Prävalenzen und Risiken kommt ihr im gesundheitsökonomischen Vernunftstil die Aufgabe zu, zu definieren, wie Ressourcen richtig auf Bedarfe der Bevölkerung verteilt werden. In dieser Hinsicht sind Epidemiologie und Gesundheitsökonomie zwei Seiten derselben Medaille. Wenn der in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen dominante Vernunftstil zudem bürokratisch genannt wird, dann wird damit ein von Max Weber vorgeschlagenes Verständnis von Bürokratie herangezogen. Als bürokratisch bezeichnete Weber diejenigen in einer Organisation unternommenen Tätigkeiten, die nicht einem »Reich der freien Willkür und Gnade, der persönlich motivierten Gunst und Bewertung« (Weber 1980: 565) entspringen. Vielmehr sind die in einer bürokratischen Organisation unternommenen Handlungen die Konsequenz der »Herrschaft und rationale[n] Abwägung ›sachlicher‹ Zwecke und die Hingabe an sie« (ebd.). Beispiele für solch rationalisierte oder bürokratisch organisierte Therapie- oder Behandlungsprogramme sind die im dritten Kapitel dieser Arbeit dargelegten Praktiken von Teleschwestern. Diese vollführen genau abgestimmte und festgelegte Arbeitsteilungen (in deren Fall zwischen Hausärzten und den mit dem telemedizinischen Zentrum assoziierten Fachärzten) und unternahmen eine fast schon fordistische Behandlung des Patienten. Damit geht einher, dass Patienten so behandelt werden, dass die von Leistungserbringern eingeleiteten Maßnahmen vordefiniert sind und sie insofern medizinische und pflegerische Praxis massiv determinieren. Zum anderen geht damit einher, dass medizinische und pflegerische Praxis wie in buchhalterischer Logik nach220

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vollziehbar gemacht werden und somit im Zweifel von Einzelnen verantwortet werden können. Dass medizinische Praxis dadurch algorithmisiert wird, ist eine in Kauf genommene, ja erstrebte Nebenfolge dieses Systems. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde gezeigt, dass insbesondere Ärzte gegen einige Formen dieses Vernunftstils protestieren. Die in England so weit verbreitete evidenzbasierte Medizin wird hierzulande immer noch als etwas verurteilt, das die »›klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit‹, ›Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit‹ sowie das ärztliche ›Definitionsmonopol gegenüber der Gesellschaft über Gesundheit und Krankheit‹« (Raspe 2003: 690) unterlaufe. Trotz dieser Abwehrhaltung von einigen Leistungserbringern stellt sich die Frage, inwieweit sich ein Vernunft- und Handlungsstil, der sich einer gesundheitsökonomisch-bürokratischen Wissensform verweigert, noch länger halten kann. Es scheint, dass einige zentrale Entscheidungsträger im Gesundheitswesen – insbesondere einige Gesundheitspolitiker und Akteure in den Krankenkassen – ihrem politischen Willen Nachdruck verleihen und ihn gegen den Willen vieler Leistungserbringer durchsetzen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG – welches als das deutsche Pendant zu NICE gelten kann) ist ein Beispiel hierfür. Auch Diagnosis Related Groups und damit einhergehende Technologien wie Behandlungspfade, die Patienten in Abhängigkeit von Diagnosen standardmäßig so versorgen, dass sie am Tag einer – statistisch ermittelten – mittleren Verweildauer aus dem Krankenhaus entlassen werden, sind ein Beispiel für diesen gegen die Leistungserbringer durchgesetzten politischen Willen. Die Grenzen der Logik gesundheitsökonomisch-bürokratischer Vernunft liegen auf der Hand. Auf der Grundlage groß angelegter Studien errechnete Risiken (absolute Risiken) müssen nicht zwangsläufig auf die individuellen Risiken der einzelnen Person zutreffen. Die soziale Realität (aber auch Krankheiten) sind komplexer, als dass sie in ein standardisiertes/standardisierbares Format passen würden. Ellen Balka und Leigh Star schreiben, dass unterschiedliche Vernunft- und Handlungsstile sowie deren (meist elektronischen) Hilfsmittel (Epidemiologie, Klassifikationssysteme wie DRGs und ICD, elektronische Infrastrukturen) immer nur »shadow bodies« produzieren. Damit ist gemeint, dass sie nur unterschiedliche Perspektiven auf Körper entwickeln (oder Körper immer nur spezifisch beleuchten – um die Schatten-Metapher zu erklären), ohne der eigentlichen Komplexität und Unordnung der Körper gerecht zu werden. Die Grenzen des gesundheitsökonomisch-bürokratischen Vernunftstils liegen entsprechend darin, dass sich die diversen weiteren Realitäten des Lebens und der Krankheit von Patienten damit nicht einfangen lassen. 221

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Die Bedeutung der Technologie Die vielleicht kryptische Bezeichnung »technowissenschaftlich« betont nicht nur die besondere Bedeutung der Wissenschaften in der aktuellen Gesundheitspolitik, sondern auch die Bedeutung der Techniken oder Technologien. Wenn, wie im vorherigen Abschnitt betont wird, in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen ein bürokratischer Vernunftstil angetroffen werden kann, dann wird damit auch schon eine spezifische Technologie angesprochen. In dieser Arbeit sollte der Fokus jedoch vor allem auf solche Technologien gerichtet werden, die bestimmte materielle und elektronische Komponenten sowie Möglichkeiten der Vernetzung enthalten – Informations- und Kommunikationstechnologien für das Gesundheitswesen also. Der Fokus richtete sich dabei insbesondere auf Telemonitoring-Lösungen für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz. Es konnte gezeigt werden, dass solche Technologien in gewisser Hinsicht materialisierte Lösungsstrategien darstellten. Es wurde erwartet, dass diese viele Probleme und Herausforderungen des aktuellen Gesundheitssystems meistern könnten. Ein in dieser Arbeit entwickeltes Argument lautete, dass die diskutierten Technologien aus mindestens zwei Gründen politisch sind. Sie sind zum einen die Konsequenz der von Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen wahrgenommenen Probleme und Lösungswege, und sie reorganisieren zum anderen die Positionen unter – zum Beispiel – unterschiedlichen Leistungserbringern und Patienten. Im dritten Kapitel dieser Arbeit konnte gezeigt werden, wie im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem Hierarchien zwischen Medizin und Pflege teilweise reproduziert, teilweise jedoch auch transformiert wurden. Es konnte auch gezeigt werden, wie viel Macht in elektronischen Infrastrukturen eingeschrieben ist und wie diese Infrastrukturen die Handlungen von Teleschwestern (mit)bestimmen. Auch dieses Argument der »politischen Technologien« reflektiert eine zentrale These der STS. Diverse STS-Studien haben gezeigt, wie politisch relevante Kategorien in Technologien eingeschrieben werden. Nelly Oudshoorn und Ann Sætnan (2002) haben, um ein recht simples Beispiel heranzuziehen, gezeigt, wie das soziale Geschlecht sich in unterschiedlichen Objekten präsentiert. Sie untersuchten hierfür unterschiedliche Mobiltelefone, Armbanduhren, Bohrer, Puppen, Doc-Martens-Schuhe und vieles mehr. In recht kleinteiliger Analyse gingen sie unter anderem der Frage nach, wie Objekte gegendered werden, wenn Mikrowellen Symbole enthalten (wie z. B. dampfende Tassen, eine Uhr etc.) und Videorecorder mit Codes (wie »rec«, »vcr« etc.) versehen sind. Letzteres unterstellt zum Beispiel technische Kompetenz, ersteres unter222

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stellt Inkompetenz, und damit gehen, so die These, Annahmen darüber einher, welche Objekte von Männern oder Frauen bedient werden (sollen). Patricia Kaufert (2000) hat in ihrer Studie zu Technologien des Brustkrebs-Screenings gezeigt, wie sich darin bestimmte Perspektiven auf Gesundheit, Krankheit und Körper eingeschrieben haben und wie der Körper der Frau darin als Objekt konzeptionalisiert wird, das besonderer Kontrolle und Überwachung bedarf. Auch sie zeigt, wie sich Gender-Kategorien in Objekte (hier: Medizintechnologien) einschreiben. Dass politische Dimensionen in Objekte und Technologien nicht nur eingeschrieben sind, sondern dass sie auch politische Konsequenzen haben, konnte im ersten Kapitel dieser Arbeit am Widerstand der Ärzte gegen die elektronische Gesundheitskarte gezeigt werden. An diesem wurde deutlich, dass Informations- und Kommunikationstechnologien keine neutralen Geräte sind, sondern dass sie politisch sind, weil dadurch Dinge möglich werden, die den Bedürfnissen und Selbstverständnissen anderer Akteure, hier denen der Ärzte, widersprechen. Wenn diese sich, wie auf einem der Ärztetage verkündet, zum Beispiel als Anwalt des Patienten sehen, dessen Interessen sie gegen die von Krankenkassen und Politik verteidigen wollen, dann werden politische Facetten von solchen Technologien sehr schnell deutlich. Der Punkt ist: Gerade weil politische Dimensionen in die elektronische Gesundheitskarte, Telemonitoring etc. eingeschrieben sind und weil solche Technologien politische Konsequenzen haben, sind sie nicht zwangsläufig die Lösung von aktuellen Problemen. Häufig erzeugen diese Technologien neue Sorgen und Probleme. Im fünften Kapitel dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass auch die Probleme der Begünstigten – das heißt der Patienten – nicht nur gelöst werden. Am Beispiel der Normalisierung und Naturalisierung von Telemonitoring-Lösungen konnte gezeigt werden, dass in dem Moment, in dem die Technologien im Haushalt aufgestellt werden, viele neue Sorgen und Probleme entstehen: Patienten müssen ihren Wohnraum rekonfigurieren, sie müssen neue Routinen erlernen, müssen lernen, Zahlen richtig zu lesen, zu verarbeiten und zu interpretieren und vieles mehr. Anstatt den Patienten ein leicht zu erlernendes Therapie- und Krankheitsmanagement zu ermöglichen, kreieren Technologien zunächst viel Unordnung und schaffen neue Herausforderungen. Annemarie Mol hält in ihrer Studie zu Blutzuckermessgeräten fest: »Technologies are unruly. Once introduced into a world where they interfere in unexpected ways with lots of other erratic entities and configurations, they change much more than they were intended to, and are ultimately transformed

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themselves as well. Instead of being modest means, they are inventive mediators.« (Mol 2008: 50)

Annemarie Mol und die in dieser Arbeit angewandten STS-Perspektiven dämpfen entsprechend die optimistische Erwartung, dass mit Gesundheitstechnologien nur Lösungen für aktuelle Herausforderungen gefunden werden. Das ist politisch höchst relevant! Zum Beispiel für den derzeit aufkommenden Diskurs um das Potenzial von Ambient Assisted Living Technologien: Unter Ambient Assisted Living (AAL) werden solche elektronischen Technologien verstanden, die insbesondere ältere Menschen in ihr Lebensumfeld integrieren können, um ihnen dort ein sicheres und selbstständiges Leben zu ermöglichen. AAL-Technologien, so schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung in einer Pressemitteilung im Frühjahr 2008, »können das Leben im Alter in vielfacher Hinsicht sicherer und bequemer machen: Mit Trittschallsensoren ausgestattete Teppichböden zum Beispiel melden, wenn jemand gestürzt ist und nicht wieder aufstehen kann. Sensoren am Körper messen den Blutdruck, anschließend lassen sich die Daten per Mobilfunk an den Arzt senden. Spezielle Computerprogramme wiederum trainieren die motorischen und geistigen Fähigkeiten von Schlaganfallpatienten. Sensoren in Tasse oder Becher schließlich lösen ein Signal aus, das die älteren Menschen daran erinnert, dass sie regelmäßig trinken sollten.« (BMBF 2008)

Mit dieser Erwartung sind konkrete Ausschreibungen verknüpft, die nicht allein das Bundesministerium finanziell massiv unterstützt: »Allein für die erste Fördermaßnahme ›Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben‹ würden in den nächsten drei Jahren insgesamt 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, sagte Rachel [Parlamentarischer Staatssekretär im BMBF, T. M.]. Die Bundesregierung hat sich nach seinen Worten zudem bei der Europäischen Union für mehr Forschungsförderung auf diesem Gebiet eingesetzt. Diese Initiative werde inzwischen von 21 Staaten unterstützt. Geplant ist ein jährliches Budget von mindestens 50 Millionen Euro.« (ebd.)

Eine ähnliche Rhetorik wie hier zu AAL-Technologien konnte in den letzten Jahren auch zu telemedizinischen Lösungen gefunden werden. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, wie viel Unordnung und Unsicherheit allein durch ein Blutdruckmessgerät ausgelöst werden kann. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse lässt sich über die Konsequenz von mit Sensoren versehenen Tassen oder Betten wild spekulieren. 224

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

In der Art und Weise, wie AAL, die elektronische Gesundheitskarte und andere Gesundheitstechnologien diskutiert und implementiert werden, verdeutlicht sich eine wichtige Facette der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme sowie die Grenzen derselben. Es ist nahezu immer ein lineares Denkmodell, das dieser Logik zugrunde liegt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Problem zunächst entlarvt, dann genauer definiert, dann angegangen und schließlich gelöst werden kann. Diese Logik ist sowohl auf Makro- als auch auf Mikroebene anzutreffen. Das Problem der steigenden Kosten im Gesundheitswesen zum Beispiel (ein Problem der Makroebene also) wird zunächst entdeckt, dann spezifiziert (indem es zum Beispiel mit Hospitalisierungsraten in Zusammenhang gebracht wird, welche wiederum mit der demographischen Entwicklung oder dem Anstieg chronischer Krankheiten korreliert werden). Die sich an diese Analyse anschließende Lösung sieht vor, dass Alte und chronisch Kranke besseres Krankheits- oder Therapiemanagement vollbringen sollten, um seltener hospitalisiert zu werden. TelemonitoringLösungen für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz zum Beispiel, so wurde erwartet, lösen dieses Problem – die Technologien sind insofern der Endpunkt einer linearen Problemlösungsstrategie. Und auch für die Mikroebene wird vermutet, dass Probleme immer einen klaren Ausgang und ein eindeutiges Ende haben. Ein Problem auf Mikroebene könnte zum Beispiel ein Patient sein, der einen körperlichen Zustand bemerkt, der ihm Sorgen bereitet. Sobald er dies tut, so wird vermutet, erhebt er seine Vitalparameter und weiß nach Ablesen des Ergebnisses, was zu unternehmen ist und verhält sich entsprechend. Auf beiden Ebenen wird jenes lineare Modell sichtbar, weil davon ausgegangen wird, dass man ein Problem klar definieren, sich diesem annähern und dieses schließlich lösen kann. Auch hier liegt das Problem darin, dass diese Konzeption von Technik und das damit einhergehende lineare Denkmodell nicht der Komplexität sozialer und physiologischer Realität gerecht werden. Tim Rapley (2008) hat am Beispiel einer Forschung zu elektronischen Hilfsmitteln in der partizipativen Entscheidungsfindung dargelegt, dass zwischen Arzt und Patient getroffene Entscheidungen nie stabil und unumstößlich sind, sondern immer wieder neu ausgehandelt werden: Die mit dem Arzt vereinbarte Behandlungsmethode wird uminterpretiert, umgedeutet, evtl. sogar auf einmal abgelehnt, wenn sie mit Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten oder Berufskollegen erörtert wird. Die mit dem Arzt einst gefällte Entscheidung ist, Rapley zufolge, unstabil und »in action«, das heißt, sie wird je nach Kontext und Interaktion neu angepasst und verändert.

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DER DIGITALE PATIENT

Mit anderen Worten, in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen wird davon ausgegangen dass die diskutierten Technologien am Ende eines Problemlösungsprozesses stehen. Sind sie erst einmal implementiert und werden sie richtig angewandt, ist die Herausforderung (ob auf Mikro- oder Makroebene) gemeistert. Auch hier verkennt diese Logik jedoch, dass soziale Realität, aber auch der Verlauf einer Krankheit nicht linear, sondern auch mal zirkulär oder schlicht unkalkulierbar verlaufen.

Die Logik des Neosozialstaats Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde argumentiert, dass das technowissenschaftliche Gesundheitssystem eine Form neosozialer Versorgungspolitik darstellt, weil der Staat und andere zentrale Akteure sich darin auf eine neuartige Form in die Gesundheits- und Sozialpolitik einbringen. Wenn Stephan Lessenich vom Neosozialstaat spricht, dann vermeidet er damit zunächst die Rede von einem aufkommenden »Neoliberalismus«, einem Begriff also, der seiner Einschätzung zufolge »weniger analytisch denn vielmehr als bloßes Etikett benutzt [wird], um […] ›das Böse‹ in der Sozialpolitik sprachlich dingfest zu machen« (Lessenich 2008: 13). Darüber hinaus argumentiert Lessenich, das Kennzeichen heutiger Sozialpolitik sei nicht – wie im Liberalismus –, dass sich Institutionen, die sich der Garantie eines Existenzminimums, der Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens und/oder der Eindämmung sozialer Ungleichheit widmen, zurückziehen, im Hintergrund aufhalten und demzufolge weniger in das Leben der Bürger eingreifen oder seltener für dieselben bereitstehen. Kennzeichen zeitgenössischer Sozialpolitik sei vielmehr eine veränderte »Logik und Gestalt [der] Intervention« (ebd. 14). Man könne, so führt er aus, eine Art Aktivierungsdiskurs feststellen, in dem betont würde, dass die »Gesellschaft der Gegenwart [eine] ›Aktivgesellschaft‹« (ebd.) sei und der »Sozialstaat […] den Geist der ›Aktivierung‹« (ebd.) atme. Damit vollstrecke sich ein Wandel des Wohlfahrtsstaats zu einer »›investiven‹, ›präventiven‹ oder ›vorsorgenden‹ Sozialpolitik« (ebd.). Grundsätzlich unterscheiden sich Lessenichs Analysen und Konzepte nicht großartig von denen des Kultursoziologen Nikolas Rose (siehe hierzu auch Fußnote 4 auf S. 57). Auch Rose sieht eine Neuformierung des klassischen Wohlfahrtsstaats, die jedoch nicht den »Tod des Sozialen« (Rose 2004) bedeutet. Als eine »fortgeschritten liberale« Regierungspraxis beschreibt Rose jene Neuverteilung von Verantwortungen auf Individuen, Organisationen, Kommunen und andere Akteure: 226

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

»Die Menschen, die es zu regieren galt – Männer wie Frauen, Reiche und Arme –, wurden nunmehr als Individuen begriffen, die selbst einen aktiven Part bei diesem ihrem Regiertwerden zu übernehmen hatten. Ihre Mitverantwortung wurde nicht länger als ein Verhältnis gesehen, das Bürger und Gesellschaft einander verpflichtet und das durch Vermittlung des Staates umgesetzt und geregelt wird, sondern als ein Verhältnis, durch das der Einzelne denen gegenüber gebunden und verantwortlich ist, die ihm am nächsten stehen und deren Schicksal er teilt.« (Ebd: 78)

Hier wird vor allem deshalb Lessenichs Terminus des »Neosozialen und nicht »Neoliberalen« oder »fortgeschritten liberalen« benutzt, da die Bezeichnung liberal irreführend ist. Kennzeichen liberaler Philosophie und Regierungspraxis ist, so beschreibt es auch Rose, dass die Regulierung des sozialen, ökonomischen und industriellen Lebens weitestgehend dem Markt überlassen wird. Im Liberalismus des 19. Jahrhunderts gesteht der Staat den Individuen Rechte wie Religionsfreiheit zu, er betont die Autorität der Familie etc. – er hält sich somit aus dem Leben seiner Bürger heraus. Damit geht einher, dass die Bürger oder Individuen selbst verantwortlich sind für ihren Erfolg und Misserfolg – es gibt einen hohen Grad der Marktabhängigkeit. Wenn nunmehr beobachtet werden kann, dass Individuen aktiviert werden, kann einerseits nachvollzogen werden, warum dies als ein Kennzeichen liberaler Regierungspraxis verstanden wird. Es verkennt jedoch die Instrumente des Staates und anderer an der Versorgungspolitik beteiligter Akteure, die aktiv versuchen, gesellschaftliche Verhältnisse oder Ungleichheiten zu strukturieren und zu regulieren. Mit anderen Worten, an der Versorgungspolitik beteiligte Akteure halten immer noch diverse Mittel und Instrumente bereit, die die Individuen oder Bürger unterstützen sollen. Diese Institutionen entwickeln weiterhin aufwändige und komplexe Sozialversicherungsprogramme, die in die Alltage der Menschen intervenieren. Genau diese Praxis oder Intervention verdient nicht die Bezeichnung liberal. Sie umschreibt einen neuen Versuch des Staates und anderer an der Versorgungspolitik beteiligter Akteure, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit herzustellen. Sie ist deshalb neosozial. Dass sich eine neosoziale Versorgungspolitik in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen, oder genauer, in dem spezifischen charakteristischen Vernunftstil, der oben als gesundheitsökonomisch-bürokratisch bezeichnet wurde, wiederfindet, ist aus einer STS-Perspektive nicht überraschend. Arbeiten aus der Wissenschafts- und Technikforschung haben immer wieder betont, dass sich unterschiedliche politische Vernunftstile durchaus in wissenschaftlichen Studien oder Fakten niederschlagen können. Hier kann kurz auf eine Forschung des Historikers, 227

DER DIGITALE PATIENT

Soziologen und Statistikers Alain Desrosières (2002) verwiesen werden. Dieser untersuchte den Zusammenhang von Staat, Markt und Statistiken seit Mitte des 18. Jahrhunderts und zeigte, wie sich zeitspezifische Probleme und Politiken in wissenschaftlichen Studien manifestierten. In dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Liberalismus, so zeigt er, waren Politiker vor allem darauf bedacht, den freien Wettbewerb zu ermöglichen und erstrebten, hierfür einen idealtypischen Markt zu kreieren. Um dieses Ziel zu erreichen, musste zum Beispiel freier Güteraustausch ermöglicht und Monopolbildung verhindert werden. Die von diesen Politikern reflektierten Statistiken produzierten entsprechend Aussagen über den Markt – sie machten ihn transparent, indem sie Aussagen über Marktanteile und über womöglich zu besetzende Marktnischen produzierten. Einige Jahrzehnte später jedoch studierten Politiker und weitere Entscheidungsträger andere Statistiken. Denn in der Zeit, in der ein Sozialsystem entstand, das von vielen als Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird, galt es, Menschen unter anderem gegen die Risiken des Arbeitslebens abzusichern. Damit einher ging zum Beispiel, den Arbeitsmarkt als einen besonderen Markt zu schützen. Es wurden Gesetze geschaffen, die die Anzahl der Arbeitsstunden, die Arbeitsunfälle, die Verrentung sowie die Arbeitslosigkeit regulieren sollten und die ein soziales Versicherungssystem schufen. Die in dieser Zeit produzierten und reflektierten Statistiken kreierten entsprechend Aussagen über diesen Arbeitsmarkt, über die Anzahl und Art der Arbeitsunfälle, die Einkommensverhältnisse, durchschnittliche Arbeitszeiten, Überstunden und vieles mehr. Auch im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem zeigt sich jene neosoziale Versorgungspolitik in den darin verwandten und populären Statistiken: Das zurzeit verbreitete15 und dominante Risikofaktorenmodell zum Beispiel kann als Indiz für neosozialstaatliche Rationalität und Praxis und den von Lessenich ausgemachten Aktivierungsdiskurs herhalten. Das neuere Risikofaktorenmodell erlaubt Schlussfolgerungen darüber, wie Menschen mit bestimmten Krankheiten sich richtig verhalten oder wie sie sich verhalten sollen, damit keine Krankheit ausbricht (Primärprävention) oder verschlechtert wird (Sekundär- und Tertiärprävention, vgl. Leppin 2004). Das Risikofaktorenmodell erlaubt, wie es Fred Nadolny in seinem letzten Jahr als Vorstandsvorsitzender der AOK Westfalen-Lippe formulierte, »Versicherte dazu [zu] befähigen, ein Stück weit zum Manager ihrer eigenen Gesundheit zu werden« (E15 Für eine Geschichte des Risikofaktorenmodells siehe Schlich 2006. Das hier neuere oder zurzeit verbreitete Risikofaktorenmodell unterscheidet sich vom ursprünglichen Ansatz insofern, als dass ersteres individuelle Risiken (zum Beispiel Lebensstil und genetische Risiken) fokussiert und keine makrosozialen (zum Beispiel Umweltrisiken und soziale Faktoren). 228

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

Health-Com 2007). Risikofaktoren ermöglichen, dass Menschen wissen, was sie tun sollen und wie sie ihre Krankheit stabil halten können. Zum Beispiel sollten die in dieser Arbeit angetroffenen Patienten mit Herzinsuffizienz durch das tagtägliche Erheben ihrer Risikoparameter Blutdruck und Gewicht auch dazu befähigt werden, ihre Krankheit besser zu bewältigen – oder zu managen. Das neue Modell der Risikofaktoren passt insofern zur Logik des Neosozialstaats, als dass damit solche moralischen Aussagen einhergehen, die sehr gut zum neosozialen Idealbild der »Aktivgesellschaft« passen. Thomas Schlich zum Beispiel stellt in seiner historischen Analyse zum Risikofaktorenmodell fest: »The risk factor concept is an example of how scientific statements about risk embody, and at the same time, often obscure underlying moral values and implicit political decisions« (Schlich 2006: 5). Insbesondere in den letzten 20 Jahren, als das Risikofaktorenmodell verstärkt für die Erforschung von chronischen Krankheiten benutzt wurde, seien dessen neue moralische Implikationen sichtbar geworden. »[R]isk-factor discourses illustrated a tendency to personalize the responsibility for any illness, constructing risk as the consequence of ›lifestyle‹ choices made by individuals and emphasizing the need for self control« (Schlich 2006: 6). Auch die in dieser Arbeit diskutierten telemedizinischen Lösungen für Patienten mit chronischen Krankheiten reflektierten solche Risikomodelle und implizierten ebenso derartige moralische Aussagen. Gemäß der oben dargelegten linearen Problemlösungslogik wird Patienten nicht nur ermöglicht, als Gesundheitsmanager die »richtige« Entscheidung zu treffen. Es wird davon ausgegangen, dass Patienten dies immer können und wollen. Patienten, so wurde in dieser Arbeit argumentiert, werden als Präventives Selbst konzeptionalisiert, das heißt, sie gelten als solche, die aktiv involviert sein wollen in Therapie- und Behandlungsmanagement; die erfinderisch und kreativ genug sind, das ihnen vermittelte Wissen anzuwenden und zu operationalisieren; die medizinische Leistungen nicht dann in Anspruch nehmen wollen, wenn sie von ihnen selbst erbracht werden können, und die willens und fähig sind, sich wieteres Wissen anzueignen. Carl May hat in seinen Arbeiten darauf aufmerksam gemacht, dass »the tremendous epidemiological explosion in chronic illness since the 1950s has brought in its wake not only major changes in the distribution and experience of illness and ill-health, but also major changes in the work of being ill and managing illness.« (May 2009: 19). Das hier erweiterte Argument lautet, dass es auch auf die neosoziale Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme zurückzuführen ist, dass Patienten oder chronisch Kranke mit diesem Wissen überhaupt erst konfrontiert werden. 229

DER DIGITALE PATIENT

Mit neosozialstaatlicher Versorgungspolitik gingen nicht zu verachtende historische Errungenschaften einher. Diejenigen medizinischen Programme, die zum Beispiel ein »Empowerment« des Patienten betonen, reflektieren eine über mehrere Jahre geäußerte Kritik (unter anderem von Medizinsoziologen und Medizinanthropologen) an paternalistischen Strukturen in der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und in der Arzt-Patient-Beziehung im Besonderen. Dieser Kritik zufolge würden Patienten zum Beispiel bevormundet werden; sie hätten keine Mitspracherechte und würden allzu leicht durch medizinische Experten medikalisiert werden. Eine Politik, die individuelle Anreizsysteme schafft, die also ermöglichen will, dass Patienten systematisch in die Versorgungsprozesse mit eingebunden werden und dabei mehr Macht bekommen, reflektiert eine nicht irrelevante (vielleicht postmoderne; vgl. Dupret-Søndergaard 2010) Kritik an wohlfahrtsstaatlicher Logik. Dennoch gehen mit ihr auch Probleme einher: Erstens unterstellt es Patienten einen gewissen Grad an Selbstdisziplin, einen Willen zur Autonomie und eine spezifische Denkweise (oder Rationalität). In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass die Patientenklientel des Präventiven Selbst nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Diejenigen Patienten, die ich als Praeventives.Selbst++ und »Präventionsverweigerer« bezeichnete, widersprechen dieser Annahme insofern, als dass sie es entweder begrüßen, sich in Netzwerken medizinischer Expertise zu befinden, in der sie sich in Sicherheit wiegen können, ohne selbst allzu aktiv werden zu müssen (Praeventives. Selbst++). Oder sie befürworten das ihnen zur Verfügung gestellte Präventionsprogramm deshalb nicht, weil sie, aus welchem Grund auch immer, kein Interesse daran verspüren, viel dafür zu unternehmen, an ihrer Gesundheit zu arbeiten. Wichtig daran ist, dass sich beide Patiententypen einer Aktivierung verweigern. Damit hängt evtl. ein weiterreichendes Problem zusammen: In einem moralischen Klima, in dem der Wert der Gesundheit als derart wichtig erachtet wird, könnten diejenigen, die nicht aktiv an ihrer Gesundheit arbeiten, die sich nicht hinsichtlich ihrer Risikoparameter evaluieren und überwachen, die nicht zu Gesundheitsmanagern ihrer selbst werden (wollen), als Menschen gelten, die moralisch falsch handeln. Eine Konsequenz davon könnte sein, dass solche Menschen benachteiligt, ausgeschlossen oder anderweitig diskriminiert werden. Wenn Krankenkassen überlegen, solche Versicherten zu belohnen, die aufgrund eines gesunden Lebensstils weniger häufig zum Arzt gehen müssen oder höhere Versicherungsbeiträge von Rauchern debattiert werden, dann sind dies eventuell erste Anzeichen einer Entsolidarisierung im Gesundheitswe-

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DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

sen, die mit einem solchen moralischen Klima und dem besonderen Wert der Gesundheit zusammenhängen.

Wille zur Kontrolle Bis hierhin konnte gezeigt werden, dass mit der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme ein Vernunft- und Handlungsstil einhergeht, der als gesundheitsökonomisch-bürokratisch bezeichnet wurde. Es wurde veranschaulicht, dass die diskutierten Gesundheitstechnologien darin eine bestimmte Bedeutung erfahren, weil unter Entscheidungsträgern davon ausgegangen wird, dass diese die Lösung für bestimmte Probleme und Herausforderungen des zeitgenössischen Gesundheitswesens darstellen. Zuletzt wurde dargelegt, dass sich technowissenschaftliche Gesundheitssysteme mit einer neosozialen Versorgungspolitik verweben – mit einer spezifischen Form der Sozialstaatlichkeit also, mit der spezifische Subjektivierungsstrategien und Neuordnungen von Machtverhältnissen einhergehen. Mit all diesen Eigenschaften der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme – so soll in diesem abschließenden Abschnitt gezeigt werden – geht der Wille einher, dass Prozesse und Strukturen der Gesundheitsversorgung vorhersagbar und berechenbar werden. Mit anderen Worten, mit den drei skizzierten Facetten der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme geht ein Wille zur Kontrolle einher. Mit den drei empirischen Kapiteln dieser Arbeit konnte gezeigt werden, mit welchen Mitteln versucht wurde, Kontrolle zu erlangen. Es ist zunächst die Bevölkerung selbst, die mittels statistischer Erfassung, Klassifizierung und Nummerierung erfasst und kontrolliert werden soll, um einen Überblick über die Masse an Menschen, der Gruppen und Subgruppen und vieles mehr zu bekommen. Des Weiteren sollten Effekte spezifischer Trends, die bei der Quantifizierung und Kategorisierung der Bevölkerung entdeckt wurden, kontrolliert werden – zum Beispiel der relative Zuwachs älterer Menschen und der Anstieg chronischer Krankheiten und die damit einhergehenden Kostenprobleme. Schließlich wurden Mittel und Wege diskutiert, die Tätigkeiten der Leistungserbringer (Ärzte etc.) zu überprüfen – wie hoch die direkten und indirekten Kosten dieser Tätigkeiten waren, wie lange die Interventionen dauerten, welche Therapien und Medikamente verschrieben wurden etc. Auch die Patienten selbst, zum Beispiel die Körper chronisch Kranker, galt es zunehmend zu kontrollieren, bzw. es galt, den Patienten Mittel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, mit denen sie sich selbst kontrollieren können. Kurzum, in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen 231

DER DIGITALE PATIENT

besteht der Wille zur Kontrolle für viele Bereiche und auf unterschiedlichsten Ebenen. Durch die in dieser Arbeit verwandten relationalen und prozessualen Perspektiven unterschiedlicher Ansätze aus den STS wurde dieser Wille zur Kontrolle stets hinterfragt. Der Fokus auf Beziehungen und Prozesse erlaubte die Zeichnung einer recht unordentlichen und kontingenten Welt, oder dem Fokus auf das, was mit Haraway als »worlding« (Haraway 2008: 98) bezeichnet werden kann. Der Wille zur Kontrolle erscheint darin in gewisser Hinsicht geradezu als eine Phantasie, als etwas, das zwar praktisch wäre zu erreichen oder sich zumindest lohnen würde (zum Beispiel für Leistungsfinanzierer), was aber angesichts der Komplexität sozialer, materieller und physiologischer Realität nie vollends erreicht werden kann. Es wurde zum Beispiel gezeigt, dass die Interessen von unterschiedlichen Akteuren unstabil sind, dass sie sich mit neuen Errungenschaften im Bereich der Technik und Wissenschaft ändern. Ebenso waren die Zukunftsszenarien zum Potenzial von Informationsund Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen kontingent – sie änderten sich über die Zeit unter anderem aufgrund der Interaktionen unterschiedlicher, am Prozess der Herausbildung des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems beteiligter sozialer Welten. Und auch die vielen den Produkten oder Programmen unterliegenden Klassifikationssysteme (zum Beispiel das NYHA-Klassifikationssystem) und medizinischen Erklärungsmodelle (wie am Beispiel des Blutdrucks gezeigt werden konnte) veränderten sich mit der Zeit. Selbst die rationalisierten Praktiken der Teleschwestern waren insofern kontingent oder »situated actions« (Suchman 1987), als dass sie – je nach Fall und Kontext – unterschiedliche Zeitlichkeiten und Topographien eines Zahlenkörpers behandelten. Und auch die Körper der Patienten waren unstabil und nicht immer kontrollierbar. Es wurden Patienten zitiert, die von ihrem Erstaunen berichteten, dass der Blutdruck immer anders ist: einmal ist er hoch, und beim nächsten Messen gleich viel tiefer. Andere Patienten berichteten von der Schwierigkeit, dass es ihnen nicht immer möglich sei, gleiche Bedingungen für das Messen herzustellen, weil jede Situation stets eine andere sei. Auch hier scheint Kontrolle wünschens- und erstrebenswert, ist jedoch schwer zu erreichen. In der Tat konnte anhand der Patientenperspektiven gezeigt werden, dass der Wille zur Kontrolle nicht nur auf Seiten der Entscheidungsträger festgestellt werden kann. Auch viele Patienten wünschten sich, ihre Körper, Messsituationen und diverse Aspekte des sozialen Lebens sowie ihre Körper in einem stabilen Gefüge zu halten. Diejenigen Patienten, die hier als Präventives Selbst bezeichnet wurden, erweiterten oft gar ihr »Kontrollregime«, indem sie immer mehr Aspekte ihres Alltags 232

DIE LOGIK DES TECHNOWISSENSCHAFTLICHEN GESUNDHEITSSYSTEMS

und immer weitere Identitäten in rationalisierter Manier erfassten. Sie erweiterten Klassifikationssysteme und dokumentierten in ihren Tagebüchern die Kilometeranzahl ihrer Laufstrecke, die verbrauchten Kalorien und vieles mehr. Leigh Star und Geoff Bowker stellen in ihrer Arbeit fest, dass »in the face of uncertainty, patients become positivists« (Bowker and Star 1999: 180). Manche Patienten verlangen geradezu nach weiteren Richtwerten, Normbereichen und Zahlen, sie wollen Maßstäbe, an denen sie sich orientieren können und gehen in diesen Forderungen gar manchmal weiter, als dies Leistungserbringer tun würden. In gewisser Hinsicht lässt sich in solchen Praktiken auf diffuse Weise eine Veralltäglichung der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme im Allgemeinen und des gesundheitsökonomisch-bürokratischen Vernunft- und Handlungsstils im Besonderen feststellen. Viele der im Rahmen dieser Studie angetroffenen Patienten aus der Klientel des »Präventiven Selbst« verlassen sich, wie gezeigt werden konnte, bei der Einschätzung ihres Gesundheitszustandes nicht mehr auf ihr Gefühl, sondern auf die Ergebnisse von ihren Messgeräten. Es konnte gezeigt werden, dass auch die von der WHO oder anderen Gesundheitseinrichtungen unternommenen Aussagen über Grenz- oder Höchstwerte dabei reflektiert und bei der Bewertung des Gesundheitszustands berücksichtigt werden. Ist der Blutdruck unter 140mmHG – so konnte anhand eines Beispiels gezeigt werden –, besteht kein Grund zur Sorge. Die Patientenklientel des Präventiven Selbst ist kein Opfer technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme, denn sie verhält sich in ihm nicht passiv. Sie selbst verspürt einen Willen zur Kontrolle und fordert Instrumente, die ihr dies ermöglicht. Die Veralltäglichung der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme ist insofern kein Erfolg gouvernementaler Vernunft (vgl. hierzu auch Lemke 2004). Es gibt kein Bedingungsverhältnis zwischen Fremd- und »Selbsttechnologien«, wie von Foucault unterstellt (1993). In den Praktiken des Präventiven Selbst lässt sich viel mehr etwas feststellen, das Bowker und Star als Konvergenzprozess bezeichneten (vgl. Bowker 1994 S. 46, S. 109f, S. 155ff; Star, Bowker et al. 2003). Demzufolge ist die Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme eine, die von diesen Patienten gutgeheißen und eingefordert wird; tatsächlich ist dies vielleicht gar die einzige Logik, die akzeptiert ist, weil es ihnen selten möglich erscheint, anders zu denken und zu handeln als im Vernunftstil technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme (siehe hierzu auch Aronowitz 2010). Es ist nicht per se illusorisch anzunehmen, dass Kontrolle tatsächlich ausgeübt werden kann. Im dritten Kapitel dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass es manchmal sehr wohl möglich ist, verschiedene Elemente in ein stabiles Gefüge oder soziotechnisches Netzwerk einzubinden. 233

DER DIGITALE PATIENT

Es wurde demonstriert, dass Unordnung verhindert werden kann, wenn Patienten Waagen von ihren Enkelkindern fernhalten, sie beim Übertragen eines EKGs Umgebungsgeräusche eliminieren etc. Diejenigen Tätigkeiten der Teleschwestern, die als Stabilisierungsarbeiten bezeichnet wurden, können also tatsächlich einigermaßen kohärente Allianzen zwischen verschiedenen Elementen bilden. Auch Patienten, so wurde im fünften Kapitel dieser Arbeit gezeigt, übernehmen diverse Arbeiten, mit denen die komplexe und kontingente Umwelt kontrolliert werden kann. Die Erlernung von bestimmten Morgenroutinen und Interpretationsschemata, die Einrichtung der Wohnung etc. schafft Ordnung. Jedoch: Auf beiden Seiten war das Gefüge immer nur temporär stabil. Es konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass Teleschwestern Normbereiche umdefinierten oder von der WHO herausgegebene Grenzwerte ignorierten, wenn sie sahen, dass dieser Patient immer über diesem lag. Insofern veränderten Teleschwestern permanent das Gefüge und ignorierten Elemente daraus. Auch Patienten konnten nicht immer ihren Beitrag leisten, das Netzwerk stabil zu halten. Seien es Schlafstörungen, die ungeheizte Wohnung im Winter, der Stress mit dem Partner, das Bedürfnis zu rauchen und viele andere Dinge. Die Komplexität sozialer, materialer und physiologischer Realität sorgte dafür, dass Kontrolle nie vollends erreicht werden konnte. Die größte Herausforderung technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme liegt deshalb vielleicht darin, zu akzeptieren, dass viele Aspekte der Krankheitsbekämpfung nicht berechen- und kalkulierbar sind – dass sie sich schnell der Kontrolle entziehen.

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Für ein » Te leme dizin Tra jektorie -Modell«

In seinem Buch »Lean Brain Management« entwickelt der Informatiker und Mathematiker Gunter Dueck folgendes ironisches Horrorszenario über das Gesundheitswesen der Zukunft: »Ein Computer fragt ihn [den Patienten]: ›Woran leiden Sie?‹ – ›Scharlach.‹ – ›Haben Sie nebenher Herz-rheumatisches Fieber oder Nieren-Glomerulonephritis?‹ – ›Ich bin nicht sicher.‹ – ›Okay, dann sieht es so aus, als ob Sie das nicht hätten, sonst würden Sie mehr jammern. Ich frage Sie jetzt etwas. Antworten Sie klar und deutlich, die Antwort wird rechtlich verbindlich aufgezeichnet. Frage: Sind Sie einverstanden, gegen normalen Scharlach ohne septische Komplikationen behandelt zu werden?‹ – ›Ja. Ich bin nicht sicher‹ – ›Die Antwort ist nicht zulässig. Wenn Sie nicht sicher sind, muss ein viel teurerer Computer mit Ihnen sprechen, der Spezialkenntnisse hat. Also noch einmal: Sind Sie einverstanden, gegen normalen Scharlach ohne septische Komplikationen behandelt zu werden?› – ›Ja.‹ – ›Per Post bekommen Sie heute Penicillin. Per E-Mail senden wir Ihnen mit Rückantwortforderung die Einnahmevorschriften. Per E-Mail erhalten Sie Verhaltensvorschriften, die Sie einhalten müssen. Im Post-Bundle ist ein Urin-Blut-Feststellungspräparat enthalten. Sie testen sich in 14 Tagen auf Blut. Wenn Blut auftritt, rufen Sie wieder an und sagen mir, Sie haben eine Nierenkörperchenentzündung. Haben Sie alles verstanden? Bitte antworten Sie klar. Die Antwort wird für Ihre weitere juristische Verfolgung aufgezeichnet.‹ – ›Ja.‹ – ›Gut, dann stoße ich den Heilungsprozess in die Rechnungsstellung an. Piep. Meine Liquidation ist schon online erfolgt. Piep. Auf Wiedersehen. Guten Verlauf‹.« (Dueck 2007: 172f)

In gewisser Hinsicht, so könnte man unterstellen, beschreibt Dueck hier, was man im Kontext dieser Arbeit als das technowissenschaftliche Ge235

DER DIGITALE PATIENT

sundheitssystem in Reinform bezeichnen kann. Abläufe der medizinischen Versorgung und Interaktionen mit »Leistungserbringern« sind darin komplett rationalisiert und automatisiert, das Krankheitsmanagement erfolgt durch die Unterstützung von solchen modernsten Informations- und Kommunikationstechnologien, in die der aktuelle Wissensstand der Medizin eingespeist wurde. Patienten können die für sie relevanten Informationen sofort herausfinden und operationalisieren – sie können gar nicht anders, als aktiv an der Versorgung beteiligt zu sein. Und auch die Kosten-Nutzen-Relationen wurden im Lean-Brain Gesundheitswesen berücksichtigt, so dass es sich insgesamt um eine sehr effektive und effiziente Form der Versorgung handelt. Doch warum handelt es sich bei Duecks fiktivem Dialog zwischen einer sprechenden Medizinmaschine und einem Patienten eigentlich um etwas, was lustig erscheint? Die Antwort könnte lauten, dass dieses Szenario deshalb zum Lachen animiert, weil die darin beschriebenen standardisierten Problemlösungsstrategien, die regulierten Zugriffe auf Expertenwissen sowie die weiteren darin reflektierten (ökonomischen, rechtlichen etc.) Probleme die Logik und die Konsequenzen realer Bestrebungen zur Optimierung des Gesundheitswesens allzu deutlich darstellen. Wie Orwells »1984« zeichnet »Lean Brain Management« eine Dystopie, die vorstellbar ist, die aber wohl niemand erstrebenswert findet. Wenn dieses Szenario hier einleitend aufgeführt wird, dann soll damit nicht unterstellt werden, dass der Einsatz der in dieser Arbeit diskutierten Gesundheitstechnologien auf einen ähnlichen durchrationalisierten Optimierungswahn verweisen wie in Duecks Szenario. Vielmehr dient diese Zitation aus dem halbwegs ernsten Management-Buch als Ausgangspunkt für eine Reflexion über die Form von Gesundheitsversorgung, die in der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme vielleicht zu wenig berücksichtigt wird, die jedoch auch notwendig erscheint. Insbesondere im letzten Kapitel dieser Arbeit wurde auf einige Grenzen der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme hingewiesen. Hier soll also eine Synthese entwickelt werden, das heißt, es sollen bescheidene Vorschläge gemacht werden, wie diese Grenzen überwunden werden könnten und wie eine Gesundheitsversorgung aussehen könnte, die die Bedenken oder Einwände aus den Science & Technology Studies berücksichtigt. Hierfür wird über die folgenden Abschnitte hinweg – und in Anlehnung an die Arbeit von Anselm Strauss und Juliet Corbin – ein zeitgenössisches Trajektorie-Modell vorgeschlagen, welches, um es in einem Satz zusammenzufassen, dafür plädiert, eine Form der Betreuung von Patienten mit chronischen Krankheiten zu erreichen, 236

FÜR EIN »TELEMEDIZIN TRAJEKTORIE-MODELL«

die den Trajektorien der Krankheit, das heißt deren kontingenten und offenen Verlauf gerecht wird und entsprechend flexibel auf Bedarfe von Menschen eingehen kann. Damit einher geht das Plädoyer für eine Aufwertung des telepflegerischen Aspekts in der Telemedizin.

Für die Berücksichtigung unterschiedlicher Patientenprofile In den empirischen Kapiteln dieser Arbeit wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es einen Konflikt gibt zwischen der Art und Weise, wie Patienten mit Herzinsuffizienz von Entscheidungsträgern konzeptionalisiert werden, und der Art und Weise, wie ich sie auf der Grundlage der von mir erhobenen empirischen Daten interpretiert habe. Insbesondere im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde dargelegt, dass in zeitgenössischer sozialpolitischer Rationalität davon ausgegangen wird, dass Patienten kompetente Entscheidungsträger sind. Es wird angenommen, Patienten seien a) umsichtig, das heißt, sie überdenken, wann medizinische Leistungen überhaupt in Anspruch genommen werden müssen. Es wird ferner vermutet, dass sie willig und bereit sind, so viele Aufgaben wie möglich selbst zu übernehmen. Sie gelten außerdem b) als erfinderisch und kompetent genug, um das ihnen vermittelte Wissen zu operationalisieren und es in bestehenden Versorgungsstrukturen anzuwenden; Es wird erwartet, sie wollen c) aktiv in das Therapie- und Behandlungsmanagement involviert sein. Schließlich gelten sie d) als kenntnisreich, das heißt, sie sind im Besitz des benötigten Wissens oder der Fähigkeiten, sich dieses Wissen anzueignen. Diese vier Eigenschaften, so wurde gemutmaßt, können in gewisser Hinsicht auch als zentrale Kategorien des Präventiven Selbst angesehen werden, also des »idealen, an seiner Gesundheit arbeitenden Individuums« (Niewöhner 2007: 34). Im fünften Kapitel dieser Arbeit wurde auf der Grundlage von Patienteninterviews und durch die Fokussierung auf von Patienten unternommene Arbeiten unter anderem untersucht, inwieweit dieses Konzept des Patienten im Alltag angetroffen werden kann. Es konnte dabei festgestellt werden, dass es das Präventive Selbst, sehr ähnlich wie vermutet, durchaus gibt. Im fünften Kapitel dieser Arbeit konnte auch gezeigt werden, dass telemedizinische Programme den Bedürfnissen dieser Klientel durchaus entsprechen oder, anders formuliert, dass telemedizinische Programme für diese Klientel viele positive Beiträge bereithalten: Diese Patienten haben das Bedürfnis, medizinische Informationen eigenständig einzuholen, abzuwägen und zu bewerten sowie auf Grundlage dieser Informationen Entscheidungen über das Krankheitsmanagement 237

DER DIGITALE PATIENT

zu treffen. Diese Patienten haben, mit anderen Worten, nicht das Bedürfnis, dass allein der Arzt der Experte ihrer Krankheit sei. Sie streben an, selbst Experte zu sein. Es konnte auch von Patienten berichtet werden, die sich in einem direkten arbeitsteiligen Verhältnis mit ihrem Arzt sehen und die es begrüßen, diesen durch ihr Krankheitsmanagement zu entlasten. Die Vermutung eines Präventiven Selbst in diversen telemedizinischen Programmen kommt Patienten aus dieser Klientel entsprechend ihren Bedürfnissen nach. Diese Vermutung des Leistungsempfängers als ein Präventives Selbst reflektiert zudem die in vielen sozialwissenschaftlichen Studien lange Zeit unternommene Kritik an einem pastoralen Gesundheitssystem, in welchem soziale Ungleichheiten zwischen Arzt und Patient bestehen. Tatsächlich geht die Betonung des »Empowerment von Patienten« auf die lange Zeit geübte Kritik zurück, dass Patienten in der Interaktion mit dem Arzt bevormundet würden, dass vermutet würde, nur der Arzt könne Experte sein und »objektive« Entscheidungen treffen, wohingegen der Patient höchstens das subjektive »Kranksein« beurteilen könne. Insofern gehen mit der Vermutung eines kompetenten Patienten viele sympathische Implikationen einher. Es ist dennoch nicht unwichtig zu betonen, dass die Konzeption des Präventiven Selbst auch für diese Patientenklientel selbst einige Nachteile mit sich bringen kann: Stark vereinfacht könnte man die These aufstellen, dass aufgrund der sehr stark ausgeprägten Sensibilisierung für körperliche Vorgänge und dem unbedingten Willen zur Kontrolle über den Körper, diese Patienten auch leicht verängstigt werden können. Herr Bertram (siehe S. 197f) war ein Beispiel für das, was Job und Soames als eine »anxious person at risk« (1988: 166) bezeichneten. Herrn Bertram, der heute eigentlich als sehr kompetenter »Krankheitsmanager« gelten kann, bereitete das vom Blutdruckmessgerät angezeigte Ergebnis (medizinisch unnötigerweise) einmal solche Sorgen und Ängste, dass er zuletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Auch besteht eine Gefahr, stark vereinfacht ausgedrückt, dass in dieser Klientel aufgrund der sehr stark ausgeprägten Fokussierung auf Risiken immer mehr Aspekte des Alltags »medikalisiert« (Conrad 2007) werden. Zumindest konnte im fünften Kapitel dieser Arbeit festgestellt werden, dass in der Klientel des Präventiven Selbst die diversen Identitäten der Personen einer epidemiologisch und medizinisch korrekten Krankheitsführung angepasst werden. Die Nachteile der Vorannahme eines Präventiven Selbst überwiegen jedoch vor allem in anderen Patientenklientelen. Im fünften Kapitel dieser Arbeit konnte ebenso gezeigt werden, dass neben dem Präventiven Selbst mindestens zwei weitere Patientenprofile ausgemacht werden 238

FÜR EIN »TELEMEDIZIN TRAJEKTORIE-MODELL«

können: das von mir so getaufte Praeventive.Selbst++ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es ihm weniger wichtig ist, die Krankheit eigenständig zu behandeln; eher betonen diese Menschen die Mitverantwortung der Leistungserbringer für ihren Gesundheitszustand und Krankheitsverlauf. Das heißt nicht, dass in dieser Klientel keine Lebensstiländerungen unternommen wurden. Im Gegenteil wird mit der namentlich nur leichten Unterscheidung von Präventivem Selbst und Praeventivem.Selbst++ intendiert, festzuhalten, dass auch unter diesen Patienten zum Beispiel Ernährungsgewohnheiten teilweise mühselig überwunden wurden. Für diese Klientel ist jedoch typisch, dass diese eine permanente Verbindung zum medizinischen Experten wissen wollen, damit diese Entscheidungen für sie treffen können. Mit anderen Worten, diese Klientel wollte keine Autonomie, wollte nicht eigenständig Entscheidungen treffen. Diese Klientel wollte eine gute Betreuung. Die Nachteile von der in dem telemedizinischen Programm unterstellten Annahme eines Präventiven Selbst bestanden darin, dass dieses Leute in die Eigenverantwortung entlassen möchte. Das Praeventive. Selbst++, das – so kann man es krass ausdrücken – sich jedoch in Abhängigkeitsverhältnisse manövrieren möchte, fühlt sich durch den schrittweise vollzogenen Rückzug von medizinischer Expertise zunehmend allein gelassen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Erzählung von Herrn Diestel (siehe S. 201), der auf die Ankündigung der Teleschwester, dass diese sich erst in 12 Wochen wieder melden würde, aktiv eine frühere Kontaktierung einforderte. In dieser Hinsicht verlangte Herr Diestel nach jener Betreuung: Er war nicht auf der Suche nach einem unabhängigen und selbstbestimmten Leben – er wollte kein Empowerment. Er wollte möglichst viel Unterstützung durch die Teleschwester. Im fünften Kapitel dieser Arbeit wurde ein wesentlicher Unterschied vom Präventiven Selbst und dem des Praeventiven.Selbst++ in KörperIdentitäten-Trajektorien festgehalten. Es konnte gezeigt werden, dass auch beim Praeventiven.Selbst++ Anpassungsprozesse stattgefunden haben, dass jedoch – im Vergleich zum Präventiven Selbst – die Identitäten dieser Patientenklientel sich eher der des telemedizinischen Zentrums angenähert haben. Damit geht ebenso eine Anpassung von Identitäten einher: Diese spezifische Körper-Identitäten-Trajektorie bringt zum Ausdruck, dass unter der Klientel des Praeventiven.Selbst++ die diversen Aktivitäten des Alltags weniger vom körperlichen Befinden abhängig gemacht wurden (bzw. vom rational evaluierten Körper wie beim Präventiven Selbst), sondern von der medizinischen und telepflegerischen Expertise aus dem telemedizinischen Zentrum.

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DER DIGITALE PATIENT

Eine dritte von mir ausgemachte Patientengruppe war die der »Präventionsverweigerer«. Hierbei handelt es sich um Menschen, die wenig Interesse verspüren, die von dem telemedizinischen Betreuungspersonal gut gemeinten Ratschläge zu beherzigen. Sie ignorieren diese aus unterschiedlichsten Gründen – zum Beispiel weil ihnen ein Lebensstil, der als ungesund gilt, dennoch eher zusagt, weil sie glauben, dass sie in ihrem Alter nicht mehr auf Ratschläge anderer hören müssen; weil sie empfinden, dass in dem Präventionsprogramm nicht ihre tatsächliche Situation anerkannt wird; oder weil sie nicht das Bedürfnis verspüren, unbedingt lange weiter leben zu wollen. Diese Klientel kann sich gar von der »Macht der Zahlen« emanzipieren. Sie berücksichtigt Blutdruckergebnisse oder Gewichtsergebnisse nahezu überhaupt nicht und führt das Leben fort, das sie selbst als gut befindet. Im fünften Kapitel konnte angedeutet werden, dass hier in der Teleschwester-Patient-Interaktion viele Konflikte auftauchen. Teleschwestern taten sich schwer damit, zu akzeptieren, dass Menschen zum Beispiel wählten, weiterhin mehr Alkohol oder Zigaretten zu konsumieren, als von ihnen empfohlen. Die Patienten deuteten an, dass sie sich regelrecht penetriert fühlten und dass sie Anstrengungen unternahmen, den von ihnen gelebten Alltag oder die von ihnen gelebten Identitäten zu verteidigen. Mit anderen Worten: Dass das telemedizinische Programm die sozialen Rollen oder Identitäten dieser Klientel tangierte, wie in der Körper-Identitäten-Trajektorie für Präventionsverweigerer festgehalten, ging oft auf deren aktive Verteidigungshaltung zurück. Wie sollte man mit letzteren beiden Patientenklientelen, die Buetow et al. »non-modern patients« genannt haben, umgehen? Als den »modern patient« bezeichnen sie diejenigen Patienten, die weitestgehend dieselben Eigenschaften aufweisen wie diejenigen, die ich hier, Niewöhner (2007) folgend, als das Präventive Selbst bezeichnet habe, das heißt als »the more recent social actor who is disposed to learn and exercise critically and responsibly an informed capacity and entitlement to use, evaluate and influence health services« (Buetow, Jutel et al. 2009: 98). Der »non-modern patient« hingegen ist jemand, »who lacks these qualities«; someone, who is not »committed and enabled to take increased control over their own health« (99). Buetow et al. schlagen schlichtweg vor, non-modern patients als solche zu akzeptieren: »Just as patients are entitled to embrace modernity, some others may make a subjectively rational choice not to be modern. We must therefore respect the latter choice as much as the former, regardless of whether we agree with it and regardless of whether we disapprove of the inequalities it promotes.« (Buetow, Jutel et al. 2009: 102) 240

FÜR EIN »TELEMEDIZIN TRAJEKTORIE-MODELL«

Hier wird vor allem jenes Plädoyer für die Anerkennung unterstützt, dass es unterschiedliche Patientenklientele gibt, die anerkannt und respektiert werden sollten. Es scheint mir jedoch nicht unwichtig zu betonen, dass die von mir kreierten Patiententypen nicht die rationale Entscheidung treffen, solche Verhaltensweisen zu pflegen, die vor einem medizinischen Hintergrund vielleicht wenig sinnvoll erscheinen. Die von mir angetroffenen Menschen treffen keine rationalen Entscheidungen im Sinne Buetows et al; vielmehr sind ihre Praktiken die Konsequenz spezifischer Perspektiven auf Körper und Krankheit, Prävention und Heilung. Neben der Respektierung oder Anerkennung solch unterschiedlicher Perspektiven erscheint es mir sinnvoll, Patienten aus allen Klientelen, insbesondere aber das Präventive Selbst und das Praeventive.Selbst++, entlang ihrer Identitäten zu unterstützen. Es wäre wünschenswert, wenn Teleschwestern in ihrem Arbeitsalltag den Raum zur Verfügung gestellt bekämen, um die multiplen Identitäten ihrer Patienten zu berücksichtigen und aufrechtzuerhalten. In den Pflegewissenschaften zum Beispiel sind diverse Pflegemodelle entwickelt worden, die anerkennen, dass unterschiedliche Menschen individuelle Vorstellungen von sinnvoller Betreuung und Pflege kennen und entsprechend unterschiedliche Pflegebedarfe haben. In nahezu jedem Pflegeheim ist es heutzutage üblich, vor Aufnahme eines Bewohners diesen entlang der in dem jeweils praktizierten Pflegemodell bereitgehaltenen Kategorien zu befragen (unter anderem zur psychischen Sicherheit, zu bestehenden Beziehungen, Bedürfnissen im Ernährungsverhalten, Schlafgewohnheiten u. v. m.), um zu ermöglichen, dass er in diesen Belangen bedarfsgerecht unterstützt wird. Meistens handelt es sich hierbei um halboffene Fragen, so dass es eher ein qualitatives Erhebungsinstrument ist. Zudem ist hier die Rede von einem Fragebogen, der wiederholt herangezogen, immer wieder aktualisiert und somit dem gerecht wird, dass es sich bei den Identitäten einer Person nicht um etwas Stabiles und Monolithisches handelt. Natürlich sind nur wenige der im telemedizinischen Programm versorgten Patienten Pflegefälle im Sinne des SGB XI. Dennoch lohnt sich die Übernahme einiger Aspekte aus Pflegemodellen. Würde bei Aufnahme eines Patienten in ein telemedizinisches Programm, sodann dieser Patient in regelmäßig wiederkehrenden Abständen entlang dieser Kategorien befragt werden, wäre das ein großer Schritt zur systematischen Berücksichtigung der diversen Identitäten dieses Patienten (und somit nicht nur zur Unterstützung des Krankheitsmanagements, sondern auch zur Lebensqualität). Dieser Punkt führt mich zum zweiten Vorschlag zur Verbesserung telemedizinischer Programme.

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F ü r d e n Au s b a u d e r T e l e p f l e g e Im dritten Kapitel dieser Arbeit wurde eine von mir während der Forschungsphase angetroffene Teleschwester zitiert, die über ihr positives Verhältnis zu den Patienten berichtete. Hier sind noch einmal ihre Worte: »In der Arztpraxis heutzutage, aber doch auch in der Pflege im Krankenhaus, da ist doch alles sehr auf Zeit orientiert und auf Abrechnung orientiert. In der Praxis muss man den Patienten oft sagen: ›Wir können nicht anders. Wir haben den nächsten Termin erst in sechs Wochen.‹ Und wenn der Arzt sagt: ›Das und das ist nicht wichtig‹, dann können wir auch nichts hinzufügen. Und hier [im telemedizinischen Zentrum] steht der Patient doch irgendwie anders im Mittelpunkt. Ich muss sagen, das hat mir wirklich gut getan. Es ist auch irgendwo schon fast was Mütterliches, was wir hier machen. Wir kennen jeden Patienten, und manchmal rufen die auch an und fragen: ›Ist der und der da?‹ Das macht schon Spaß, auch wenn’s jetzt nicht so viel Kontakt ist, aber es macht schon Spaß!« (Interview Teleschwester: Heise)

In sozialpolitischer Hinsicht handelt es sich bei dieser Aussage meines Erachtens vor allem deshalb um eine erstaunliche, weil ich zuvor nicht davon ausgegangen wäre, zu hören, dass man ausgerechnet im telemedizinischen Zentrum näher am Patienten sein könne. So sehr dies auch als eine negative Aussage zum Zustand der Patientenbetreuung in ambulanter und stationärer Versorgung gewertet werden könnte, so sehr kann darin auch das Bekenntnis zur Telemedizin gesehen werden. Sie zeigt: Telemedizin kann definitiv mehr sein als ein Instrument zur Bewältigung diverser makrosozialer Probleme. Telemedizin hat das Potenzial, auf die diversen Probleme von Menschen mit unheilbaren Krankheiten einzugehen und sie dahingehend zu unterstützen. Mir scheint, dass insbesondere in dünn besiedelten Ländern, in denen der Hausarzt der Patienten häufig weit entfernt ist (und damit der häufig einzige Ansprechpartner fehlt, der betroffenen Patienten hilft, die familiäre, berufliche und andere soziale Integrationen zu verbessern), die Telemedizin besonders hilfreich sein kann. Trotz dieser positiven Aussage der Teleschwester konnte im dritten Kapitel dieser Arbeit dennoch gezeigt werden, dass ein Großteil der von Teleschwestern unternommenen Arbeiten nicht in pflegerischer, emotionaler, sozialer etc. Unterstützung liegt. Vielmehr sind Teleschwestern damit beschäftigt, die Patienten, die im Krankenhaus angesiedelten Kardiologen, die Hausärzte, die technologischen Geräte, die Evaluationen für Krankenkassen, die elektronische Infrastruktur u. v. m. in einem stabilen Gefüge zu halten. Sie sind ferner damit beschäftigt, vor allem ei242

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nen »objektivierten« Körper zu behandeln, das heißt einen medizinischen Lehrbuchkörper, indem mechanistische und rationalistische Konzepte des Herzens und Blutkreislaufs reproduziert werden. Sie behandeln außerdem einen Körper, der epidemiologische und gesundheitsökonomische Studienergebnisse berücksichtigt. Zumeist besteht telepflegerische Praxis von daher in ziemlich standardisierten und routinisierten Arbeitsschritten. Ihr Handlungsspielraum ist relativ eng kalkuliert und durch die elektronische Infrastruktur determiniert. Im Folgenden wird erneut dafür argumentiert, dass dieser Handlungsspielraum erweitert werden sollte. Es wird dafür geworben, dass dem tele-pflegerischen Aspekt von Telemedizin eine größere Bedeutung zukommen sollte. Der Grund für den Ausbau des Handlungsspielraums von Telepflege liegt vor allem darin, dass die Betreuung chronisch Kranker einem höchst offenen und kontingenten Prozess ausgesetzt ist – jenen Krankheitstrajektorien, wie Strauss es nannte – und in der Pflege die Voraussetzungen dafür existieren, dass diese Kontingenzen anerkannt werden. Im vierten Kapitel dieser Arbeit wurde die insbesondere von Anselm Strauss und Juliet Corbin geprägte Metapher der Körper-BiographieTrajektorie erläutert (vgl. S. 143ff). Auch die im vorherigen Abschnitt diskutierten Körper-Identitäten-Trajektorien reflektierten dieses Konzept Strauss’ und Corbins. Die Sozialwissenschaftler entwickelten diese Kategorie, um genau diesen offenen und kontingenten Prozess zu betonen, den das Leben mit chronischen Krankheiten mit sich bringt. Empirisch fassbar wurde diese Kontingenz, indem die von Patienten unternommenen Arbeiten fokussiert wurden. Im vierten Kapitel wurde zum Beispiel Strauss’ und Corbins Konzept der Biographiearbeit vorgestellt: Darunter verstanden sie die Tätigkeiten, die von Kranken unternommen werden müssen, um die diversen Kniffligkeiten vom Leben mit chronischen Krankheiten mit der Biographie (oder den Identitäten) der Personen in Einklang zu bringen. Überhaupt warben Strauss und Corbin dafür, ein Verständnis von chronischen Krankheiten zu pflegen, welches anerkennt, dass dieses für unterschiedliche Akteure unterschiedliche Tätigkeiten bedeutet: »An illness is not just experienced as part of one’s life; it must also be managed. Management requires work. At health facilities, the work is done by practitioners; at home, the ill themselves do the work, perhaps assisted by marital partners, intimates, other family members, caretakers, friends, neighbours, and health professionals.« (Strauss und Corbin 1988: 51)

Eben weil unterschiedliche mit dem Leben mit chronischen Krankheiten anfallende Arbeiten an unterschiedlichen Orten und von unterschiedli243

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chen Akteuren erbracht werden müssen, fordern Strauss und Corbin ein, dass alle an dem Prozess beteiligten Akteure von der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden müssen. Damit geht insbesondere die Anerkennung einher, dass ein Großteil der relevanten Arbeiten von den Patienten zu Hause erbracht wird: »At home, there is an interplay of three major types of work: the work of managing illness; the everyday work of keeping a household and life in general going; and ›biographical work‹ – the work associated with maintaining one’s mental and psychological concerns as one would like them to be despite the impact of the illness and its management. This work is done chiefly by the ill and their families.« (ebd.: 48)

Wenn Strauss und Corbin monieren, dass in zeitgenössischer Gesundheitspolitik Investitionen einseitig in die stationäre Akutversorgung unternommen werden würden, dann reflektiert diese Kritik sicherlich auch die spezifischen Versorgungsstrukturen und -prozesse des US-amerikanischen Gesundheitswesens in dieser Zeit. Dennoch scheint mir die von Strauss und Corbin auf dieser Kritik fußende Synthese auch für heutige Versorgungsprogramme wie telemedizinische Projekte anwendbar. Sowohl vor dem Hintergrund dieser Kritik als auch vor dem Hintergrund der von ihnen erarbeiteten Konzepte wie der Biographiearbeit oder der Körper-Biographie-Trajektorie haben die Sozialwissenschaftler für eine bessere Versorgung von Menschen mit chronischen Krankheiten ein »Trajektorie-Modell« vorgeschlagen. Mit diesem Modell, auf dessen Grundlage auch in Europa viele Betreuungsprogramme entstanden (für einen Überblick siehe Granger, Moser et al. 2006), gehen insgesamt fünf Implikationen einher, die sie wie folgt zusammenfassen: »(1) It should be recognized that with the currently incurable illnesses, efforts at health care should pertain to quality-of-life as well as strictly medical considerations. (2) Home should be regarded as the central workplace, and the families of the ill as key members in managing the illnesses, along with the health professionals. (3) The tremendous imbalance of funding and other resources between health facilities (especially the hospitals) and home care should be corrected. (4) Clinical (medical) services offered to the ill should be greatly supplemented by other types of services, including housekeeping, supportive caretaking, and various types of counselling (informational, psychological, marital, sexual, financial, legal, and so on). (5) Most of all, services should be sensitively and sensibly tailored both to changes in illness phase and to what the ill and their families can incorporate into their own continuing arrangements.« (Strauss und Corbin 1988: 49)

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FÜR EIN »TELEMEDIZIN TRAJEKTORIE-MODELL«

In telemedizinischen Programmen, so könnte man nun vermuten, wird diesen Forderungen nachgekommen: Anbieter telemedizinischer Lösungen stellen fest, dass sie die Lebensqualität von Patienten mit chronischen Krankheiten erhöhen, weil sie dafür sorgen, dass sie seltener hospitalisiert werden und ein autonomeres Leben führen können. Wenn in diese Technologien investiert wird, dann werden – so könnte man argumentieren – Investitionen in einer Form der Betreuung an deren Wohnort betrieben. Damit könnte einhergehen, wie von Strauss gefordert, dass der Wohnort des Patienten als der zentrale Arbeitsplatz zur Behandlung von chronischen Krankheiten anerkannt wird. Indes, die in dieser Arbeit vorgestellten telemedizinischen Lösungen für Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz würden den Anliegen Strauss’ et al. nicht gerecht werden. Denn tatsächlich entstehen den Patienten hier noch mehr Arbeiten, die sie ausführen müssen und die ihnen mehr oder weniger überlassen werden. Im fünften Kapitel konnte gezeigt werden, welche diversen Handlungen Patienten ausführen und erlernen müssen: neue Morgenroutinen, Rekonfigurationen des Wohnraums, Dokumentationsarbeiten, die Erlernung von Interpretationsschemata von ermittelten Vitalparametern etc. Viele der von mir angetroffenen Patienten berichteten, dass ihnen dies häufig schwer fiel, dass sie hierbei sogar neue Ängste entwickelten. Insofern wurde das Leben der Patienten, insbesondere in der Anfangsphase des telemedizinischen Projektes, nicht erleichtert. Gerade weil für Patienten durch Telemonitoring-Lösungen neue Arbeiten entstehen, bedürfe es Strauss et al. zufolge zusätzlicher Unterstützung für diese. Es könnten zum Beispiel insbesondere in der Anfangsphase des Programms Teleschwestern auf eine Art und Weise unterstützend eingreifen, die diesen Problemen, Ängsten und Sorgen entgegenkommen. Das schon im vorherigen Abschnitt genannte Beispiel von Herrn Bertram, der sich über die von ihm ermittelten Blutdruckergebnisse so gesorgt hat, dass er schlussendlich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, verweist schon auf die vielseitigen Probleme, die allein der eigentlich kompetenten Klientel des Präventiven Selbst begegnen können. Im dritten Kapitel konnte gezeigt werden, dass Teleschwestern hier zwar häufig eingreifen und beruhigend oder anderweitig unterstützend einwirken. Allerdings geschieht dies häufig eher zufällig, und wenn, dann in kleinen Zeitfenstern und eher nebenher, da die eigentliche Aufgabe dieser Professionellen immer noch eher in der Auswertung der übermittelten Daten liegt. Insbesondere weil es gerade in der Anfangsphase des telemedizinischen Programms Patienten häufig zusätzliche Sorgen und Probleme bereitet hat, wäre es erstrebenswert, wenn Teleschwestern auch hier einen größeren und flexibleren Handlungsraum zur Verfügung 245

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gestellt bekämen, um auf diese eingehen zu können und ihnen entgegenzuwirken. Darüber hinaus könnten Teleschwestern auch anderen Anliegen nachkommen, die für Strauss und Corbin zentrale Bedeutung haben: Besonders wichtig für das von ihnen geforderte Trajektorie-Modell ist die sensible und patientennahe Ausrichtung des Programms, die sowohl unterschiedliche Beratungsbedarfe anerkennt (siehe Punkt 4 des oben zitierten Trajektorie-Modells) als auch eine Unterstützung leistet, die nicht nur ein eigenständiges »Krankheitsmanagement«, sondern auch eine hohe Lebensqualität erstrebt. Diese im ersten Punkt des TrajektorieModells genannte Unterscheidung konkretisieren die Autoren an anderer Stelle wie folgt: »The major concern of the ill and their families is not merely nor primarily managing an illness, but maintaining the quality of life, as defined specifically by them, despite the illness« (Strauss und Corbin 1988: 47). Ein von mir während der Interviewphase angetroffener Patient äußerte sich dahingehend ähnlich. Er bewertet das telemedizinische Programm wie folgt: »Ja, das ist schon alles gut, aber ich meine, das ist ja praktisch bloß so... Die haben mir quasi bloß die Waage zur Verfügung gestellt. Das Blutdruckdingsgerät, und rufen mich ab und zu mal an. Wie es mir geht und so und so. Und mehr ist da nicht. Also mehr machen die nicht. Wenn sie irgendwas merken da wegen meinen Puls… Wenn der ein bisschen hoch ist, dann rufen sie an, das stimmt. Das ist gut. Aber… Insgesamt hatte ich mir schon ein bisschen was anderes drunter vorgestellt… Dass die hier irgendwo ein Beratungsding haben oder so, wo man anrufen könnte, wenn mal irgendwas ist oder so... So dass man sich da mal unterhalten kann. Nur man kann ja nicht stundenlang am Telefon hängen und sich mit dem unterhalten… Also ich meine, die Zeit haben die ja auch nicht da jetzt.« (Herr Diestel)

In diesem Zitat von Herrn Diestel wird angedeutet, worin der Unterschied liegen könnte zwischen der Unterstützung des einigermaßen eigenständigen Krankheitsmanagements und der Unterstützung zur Erlangung einer höheren Lebensqualität. Letzteres bedarf nicht allein der Stabilisierung von Risikofaktoren der Krankheit, sondern diverser anderer Aspekte, die mit einem Leben mit nicht heilbarer Krankheit einhergehen. Auch an dieser Stelle kann das Potenzial von den zum Ende des letzten Abschnitts schon vorgeschlagenen Pflegemodellen betont werden. Solche Modelle, die intendieren, die Identitäten unterschiedlicher Patienten zu erfassen, eignen sich meines Erachtens sehr gut, um auch das von den Patienten spezifische Konzept von Lebensqualität zu berück246

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sichtigen. Sie berücksichtigen milieu- oder klientelspezifische Bedarfe und erweitern damit den Fokus auf Risikofaktorenbewertung. Telepflege eignet sich meines Erachtens sehr gut, um einigen der von Strauss und Corbin geforderten Eigenschaften eines TrajektorieModells nachzukommen. Tatsächlich hätten all die von mir angetroffenen Teleschwestern die Fähigkeit, ein solches »Telemedizin-Trajektorie Programm« durchzuführen. Noch wichtiger vielleicht: Zumindest die von mir angetroffenen Teleschwestern sahen in der Telepflege nicht per se einen Widerspruch zu der von ihnen gepflegten Berufsethik oder -identität. Diese Befürchtung wurde in einigen sozialwissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere der im 3. Kapitel zitierten Studie Mairs et al. (2008) angedeutet. Ebenso wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass auch alle von mir angetroffenen Patienten die Bedeutung der telepflegerischen Unterstützung betont haben.

F ü r e i n e E rw e i t e r u n g d e r »intellektualisierten Perspektive« Strauss et al. zufolge besteht ein zentrales Problem in der Art und Weise, wie die Betreuung von chronisch Kranken geplant und umgesetzt wird vor allem darin, dass Entscheidungsträger darin zu sehr eine »intellektualisierte Perspektive« (46) einhalten. Damit geht die Annahme einher, dass eher abstrakt und/oder top-down gedacht wird. In dieser intellektualisierten Perspektive wird die Sicht der Betroffenen, deren Arbeiten, Biographien und Identitäten zu wenig berücksichtigt. Der zentrale Vorschlag Strauss’ et al., die Betreuung von chronisch Kranken auf Grundlage eines Trajektorie-Modells zu kreieren, versucht die Verzerrung durch diese intellektualisierte Perspektive zu überwinden. »To break out of the prevailing medical-clinical perspective on chronic illness, and to capture the cumulative implications of the above points, health practitioners and those concerned with health policy should think in terms of the concept of illness trajectory. This term refers not only to a course of illness, but to the work of all participants involved in controlling and shaping that set of physiological events. It also refers to the impact of that work and the evolving relationships among the workers. So defined, the trajectory encompasses physiological events as well as the work of every participant, the work relationships, the changing work patterns, and the arrangements that are made to carry out the work in the face of changing illness phases and life’s contingentcies – all in the service of some conception of quality of life.« (ebd. 49)

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Als die »intellektualisierte Perspektive« bezeichnet Strauss, so wird in diesem Zitat zunächst deutlich, die medizinisch-klinische. Ob diese in technowissenschaftlichen Gesundheitssystemen immer noch als die dominante gelten kann, darf angezweifelt werden. Im sechsten Kapitel dieser Arbeit wurde die These aufgestellt, dass es vielmehr ein gesundheitsökonomisch-bürokratischer Denkstil ist, der heute als eine vorherrschende Rationalität und insofern vielleicht als die dominante intellektualisierte Perspektive ausgemacht werden kann. An dieser Stelle soll diese Frage jedoch sekundär sein. Wichtiger als die Frage, was derzeit als der dominante Denkstil gelten kann, ist Strauss’ Erkenntnis, dass in einer intellektualisierenden Konzeption von Krankheiten tendenziell ignoriert wird, welchen Prozessen und Arbeiten die Betroffenen (und die sie Pflegenden) ausgesetzt sind. Wenn Strauss und Corbin dafür werben, Trajektorien zu fokussieren, dann geht damit genau dieses Plädoyer für die Erweiterung der intellektualisierenden Perspektive einher. Dem liegt die im vierten Kapitel dieser Arbeit erörterte pragmatistische Philosophie zugrunde (die als die epistemologische Fundierung von Strauss Konzepten gelten kann). Mit der Fokussierung auf Trajektorien geht einher – wie im Pragmatismus im Allgemeinen –, nicht zu fragen, welche Aussagen zu chronischen Krankheiten als objektiv gelten können. Viel wichtiger als das sind die handlungspraktischen Konsequenzen von chronischen Krankheiten. Chronische Krankheit wird von daher nicht essenzialisiert, sondern relational-prozessual betrachtet: »[T]he term trajectory captures aspects of the temporal phases of the illness, the work, the interplay of workers, and the nonmedical features of management along with relevant medical ones. It captures aspects of the experiences of everyone involved in the management drama, experiences that are anxious, puzzling, painful, as well as those on the brigher side. In some sense, illness is more or less fateful. The trajectory concepts adds the aspects of fatefullness, of ›undergoing and doing‹ (Dewey 1934: p. 44), to what medical people call ›treatment plans or programs‹.« (ebd. 50)

Wenn oben mehrfach dafür argumentiert wurde, dem telepflegerischen Aspekt von Telemedizin mehr Bedeutung zukommen zu lassen, dann geht damit die Annahme einher, dass in der Pflege auch diese praktische Seite vom Leben mit chronischen Krankheiten anerkannt wird. Annemarie Mol hat in ihrer bis hierhin mehrfach zitierten Studie eine »logic of care« (2008) untersucht. Pflege versteht sie dabei nicht als etwas Altmodisches; als etwas, das allein liebevolle Betreuung, Fürsorge und/oder oder Empathie bedeutet. Mol erkennt an, dass zeitgenössische

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Pflege durchaus auch das Potenzial von neueren Technologien anerkennt, einbindet und ausschöpft. Allerdings werden in der Logik der Pflege, vielleicht insbesondere im Vergleich zur Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme, Technologien anders verstanden: »The logic of care […] assumes that things are just as unpredictable as people. It does not take technologies to be ›mere‹ instruments. Instead, good care involves a persistent attempt to tame technologies that are just as persistently wild.« (Mol 2008: 50). In der Logik der Pflege wird – um Strauss’ Konzept wieder zu bedienen – insofern in Trajektorien gedacht, als dass Patientenbetreuung als ein offener, nicht endender Prozess verstanden wird. Pflegerische Praxis ist ebenso unkalkulierbar wie die Route von Flugobjekten (der Begriff der Trajektorie – um daran zu erinnern – stammt aus der Ballistik und umschreibt genau dies). Sie passt sich unterschiedlichen körperlichen, psychischen, sozialen etc. Verläufen an. Pflege ist ein »doctoring«: »Doctoring does not meet needs that may be accurately defined (to then be counted, one style fits all, the more the better) but attunes to each person’s particular preferences and needs. It does not seek total control, for that simply cannot be achieved. Instead, it creatively deals with insecurities.« (Struhkamp, Mol et al. 2009)

Technologien, wie zum Beispiel telemedizinische Lösungen oder Blutzuckermessgeräte – die Technologien, die Annemarie Mol untersucht hat –, bringen keine Ordnung in den kontingenten Pflegeprozess. Vielmehr werden solche Technologien Bestandteile des stets offenen ›doctoring‹. Die Logik der Pflege ergänzt meines Erachtens in vielerlei Hinsicht die Grenzen der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme und der darin eingehaltenen intellektualisierten Perspektive: Im sechsten Kapitel dieser Arbeit wurde festgehalten, dass die Grenzen des technowissenschaftlichen Gesundheitssystems insbesondere darin liegen, dass in dem darin typischen gesundheitsökonomisch-bürokratischen Denkstil eher absolute (und »objektivierte«) anstatt individuelle Risiken fokussiert und angegangen werden. In der Logik technowissenschaftlicher Gesundheitssysteme wird das behandelt, was in großen Datenpools als der objektive Risikofaktor einer Krankheit definiert werden konnte. Weniger zählt zum Beispiel das, was von den Kranken selbst als wichtig erachtet wird oder was individuelle Risikofaktoren sein könnten. Es wurde ferner gezeigt, dass im technowissenschaftlichen Gesundheitssystem davon ausgegangen wird, dass in den Szenarien von Entscheidungsträgern 249

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Technologien am Ende eines Problems stehen; dass diese zum Beispiel die Probleme der leeren Haushalte, der demographischen Entwicklung etc., aber auch die der kranken Individuen lösen. Wenn das Potenzial von Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen diskutiert wird, dann wird dabei allein in linearen Denkmodellen gedacht. Schließlich wurde gezeigt, dass mit dem technowissenschaftlichen Gesundheitssystem eine neosoziale Rationalität einhergeht. In dieser wird ein »kompetenter Patient« mit einem gewissen Grad an Selbstdisziplin und Willen zur Autonomie vermutet – das weiter oben schon beschriebene Präventive Selbst. Bei diesen Facetten, so wurde in den empirischen Kapiteln dieser Arbeit argumentiert, handelt es sich um Grenzen, weil diese Konzeptionen nicht die Instabilitäten, Kontingenzen und Nebeneffekte berücksichtigen. Ebenso erkennen sie andere Patientenklientele und Perspektiven wenig an. Sie vermuten eine ordentliche und überschaubare Versorgungsproblematik. Diese spezifischen Grenzen können vielleicht durch ein telemedizinisches Trajektorie-Modell überwunden werden. Ein solches kann den gesundheitsökonomisch-bürokratischen Denkstil erweitern, weil es zum Beispiel individuelle Risiken systematisch einbezieht und näher an unterschiedlichsten Bedarfen von Patienten arbeitet und argumentiert. In einem telemedizinischen Trajektorie-Modell würde zudem anerkannt werden, dass die ausgelieferten Technologien nicht sofort alle Probleme beseitigen, sondern dass – im Gegenteil – durch sie viele neue Sorgen und Probleme entstehen. In einem Trajektorie-Modell würden Technologien nicht das Ende eines Problems markieren. Da in diesem Modell prozessual und iterativ gedacht wird, das heißt indem betont wird, dass einerseits die Krankheit unterschiedliche Phasen durchläuft und andererseits nicht zuletzt aufgrund dieser unterschiedlichen Phasen unterschiedliche Arbeiten (auch mit der Technik) anfallen, können viele der immer wieder neuen von Patienten gemachten Herausforderungen unterstützend begleitet werden. Zuletzt besitzt vielleicht die Pflege besondere Voraussetzungen, unterschiedliche Patientenprofile, das heißt unterschiedliche Bedarfe und Perspektiven anzuerkennen und somit einzusehen, dass die Klientel des Präventiven Selbst oder des im Neosozialstaat vermuteten »kompetenten Patienten« nur eines von vielen ist. Viele Patienten, so weiß vielleicht vor allem die Pflege, wollen kein »Empowerment«, sie wollen nicht aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Sie wollen gut betreut werden. Eine intellektualisierende Perspektive kann nicht nur durch die Aufwertung der Pflege konstruktiv weiterentwickelt werden. Auch in der Entwicklung telemedizinischer Technologien oder Versorgungsprogramme kann diese erweitert werden. Mit den empirischen Kapiteln die250

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ser Arbeit konnte immer wieder gezeigt werden, dass der dominante Vernunftstil unter anderem auch dadurch zustande kommt, dass darin quantitativen Erhebungsmethoden eine große Bedeutung zukommt. Statistische Instrumente bringen sicherlich viele Vorteile mit sich: ohne sie könnten zum Beispiel keine Risikofaktoren und Effizienz definiert werden. Der Nachteil beispielsweise epidemiologischer Forschung liegt jedoch darin, dass sie durch ihre Fokussierung auf Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten systematisch auch relevante Randfaktoren (zum Beispiel individuelle und/oder soziale) ausklammert. Sie unterstellt Ordnung, wo häufig keine ist. Mit qualitativer, vielleicht insbesondere praxiographischer (vgl. S. 74ff) Forschung kann dies überwunden werden: Solche Methoden, die an der möglichst genauen Beschreibung von Verläufen und Sichtweisen interessiert sind, können jenes facettenreichere Bild zeichnen. Diese Studien sind vielleicht weniger handhabbar, und der Forschungsprozess ist weniger durch eine lineare Abfolge konzeptioneller und methodischer Schritte gekennzeichnet. Ebenso wenig produzieren qualitative Studien so eindeutige Ergebnisse wie in Form von Zahlen. Da es jedoch das Ziel ist, eine Verdichtung von Komplexität durch die Einbeziehung des Kontexts zu erreichen, besteht hier eher die Chance, Patientenperspektiven, relevante Arbeiten, individuelle Risikofaktoren, soziale Dimensionen etc. systematisch mit einzubeziehen und für die Technik- und Programmentwicklung zu berücksichtigen. Sowohl in der Gesundheitspolitik als auch in der Technikentwicklung gibt es inzwischen Tendenzen, diesen Aufwand zu betreiben. Insbesondere im angloamerikanischen Bereich ist einigermaßen anerkannt, dass mit qualitativen Methoden höchstrelevante Dimensionen von Gesundheitstechnologien erfasst und bestehende Modelle konstruktiv weiterentwickelt werden können. In Schottland zum Beispiel, wo der telemedizinische Bereich aufgrund der geographischen Besonderheiten sehr stark ausgeprägt ist, wird die Begleitung unterschiedlichster Programme durch qualitative Forscher regelrecht angestrebt (vgl. McKinstry, Pinnock et al. 2009). Auch der Chiphersteller Intel wirbt damit, dass die für den Gesundheitsmarkt entwickelten Technologien in ethnographischer Forschung getestet und weiterentwickelt wurden: »[R]esearch teams in Intel’s Digital Health Group are using ethnography to identify ›designable moments‹—spaces, times, objects, issues and practices which suggest opportunities for appropriate interventions. […] The Product Research and Incubation (PRI) division […] is chartered with understanding people’s health needs and aspirations worldwide across the continuum of care. Understanding their daily practices, processes, values and systems helps us to 251

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invent and test tomorrow’s health and wellness technologies and usage models. The PRI teams in Ireland and USA are currently involved in a number of local and global projects exploring how technology innovation can help to support independent living practice and develop culturally and contextually appropriate enhancements that contribute towards wellbeing and a life of quality for older people.« (Prendergast und Roberts 2009: 59)

Natürlich pflegen auch solche qualitativen Forschungen eine intellektualisierte Perspektive insofern, als dass diese in wissenschaftlich geführten Methodendebatten problematisiert, verteidigt und weiterentwickelt werden. Sie reflektieren jahrzehntelang andauernde Diskurse und Streits und sind insofern nicht auf der »Alltagsebene« entwickelt worden. Ein großes Alleinstellungsmerkmal qualitativer Methoden besteht jedoch darin, dass darin eine andere Bereitschaft existiert, Prozesse, Kontingenzen, Widersprüche und Unordnungen zu entlarven. Im vierten Kapitel dieser Arbeit konnte mit »Situational Analysis« gar eine Analysemethode präsentiert werden, die die Provozierung von Unordnung regelrecht erstrebt. Dass solche Methoden auf der schottischen Entscheidungsträgerebene und bei Herstellern wie Intel anerkannt worden sind, stimmt durchaus hoffnungsfroh. Es verdeutlicht, dass eine Bereitschaft existiert, möglichst wenige »implizierte Akteure« (vgl. S. 51) zu produzieren und das zu betreiben, was Jasanoff »technologies of humility« nannte: »These are methods, or better yet institutionalized habits of thought, that try to come to grips with the ragged fringes of human understanding – the unknown, the uncertain, the ambiguous, and the uncontrollable. Acknowledging the limits of prediction and control, technologies of humility confront ›head-on‹ the normative implications of our lack of perfect foresight. They call for differrent expert capabilities and different forms of engagement between experts, decision-makers, and the public than were considered needful in the governance structures of high modernity. They require not only the formal mechanisms of participation but also an intellectual environment in which citizens are encouraged to bring their knowledge and skills to bear on the resolution of common problems.« (Jasanoff 2003: 227)

Schluss Vielleicht wird vor dem Hintergrund der hier geführten Diskussion noch einmal besonders deutlich, was an dem einleitend dargelegten ironischen Horrorszenario Gunter Duecks zum Lachen anregt: In dem von ihm entworfenen Lean-Brain Gesundheitswesen ist die Leistungserbringer252

FÜR EIN »TELEMEDIZIN TRAJEKTORIE-MODELL«

Patient-Interaktion komplett standardisiert. In dem von dem Computer geführten Dialog gibt es keinen Platz, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Perspektiven von Patienten anzuerkennen. Es wird angenommen, dass alle Patienten gleich sind, nicht zuletzt aufgrund des gleichen Zugangs zu Wissen. Des Weiteren sind die vom Computer geführte Interaktion und die von ihm initiierte Therapie derart standardisiert, dass darin auf die diversen Kontingenzen der Krankheit überhaupt nicht eingegangen werden kann. Die dem Computerprogramm offenbar zugrunde liegende Infrastruktur geht von einer komplett kalkulierbaren Welt aus. Zuletzt wird im »Verhalten« des Computers jene einseitige intellektualisierte Perspektive deutlich, in der schlicht Daten eingespeist wurden und sämtliche Aktionen diese – natürlich rein quantitativen – Daten reflektieren. Eingangs wurde schon betont, dass dieses Zitat lediglich dafür genutzt werden soll, um Klarheit darüber zu schaffen, welche Gesundheitsversorgung definitiv nicht erstrebenswert ist. Es sollte nicht suggeriert werden, dass die hier diskutierten telemedizinischen Lösungen auf dieselbe Rationalität und Praxis verweisen. Im Gegenteil sollte insbesondere mit dem hier entwickelten »Telemedizin Trajektorie-Modell« betont werden, dass diese Gesundheitstechnologien durchaus das Potenzial haben, Menschen mit chronischen Krankheiten zu unterstützen. Die hier unterbreiteten Vorschläge zur Anerkennung unterschiedlicher Patientenprofile, zur Aufwertung der Telepflege und zur Erweiterung der intellektualisierten Perspektive sollten als bescheidene Beiträge zu einer Verbesserung dieser Versorgungsform angeboten werden. Dabei handelt es sich freilich um solche Vorschläge, die vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit verfolgten Perspektive sinnvoll erscheinen.

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Sach- und Namenregister

Akrich, Madeleine: 56, 67, 149 Aktant: 69, 71-73, 84, 102, 104, 112, 152, 156, 216 Akteur-Netzwerk Theorie: 67-76, 85, 86, 88, 99, 128, 130, 134135, 137, 145-147, 149-150, 155, 157, 159, 161-162, 216 Aktivierungsdiskurs: 42, 54-61, 226-230 Aktualisierung: 74-77, 86, 89, 113, 128 Ambient Assisted Living: 224225 Assemblage: 18, 29 Beck, Stefan: 15, 16, 122 Berg, Marc: 20, 30-31, 127 Biographiearbeit: 143-145, 158, 243, 244 Biomedikalisierung: 18, 29, 34, 35, 52, 58, 59 Blackbox: 68 Blumer, Herbert: 136-138, 149

Boundary Object: 72, 139, 146 Bowker, Geoffrey: 28, 72, 121, 122, 141, 149-150, 161, 206, 233 Callon, Michel: 66, 67, 68, 69, 70, 72, 88, 93, 100, 101, 108, 112, 130, 148 Clarke, Adele: 29, 51, 58, 138, 145, 147-157, 159, 204 Community of Practice (siehe soziale Welt) Collins, Harry: 64-65. Cyborg: 150, 163, 191 Dewey, John: 135-137, 216 DIMDI: 41 Doctoring: 249 DRG (Diagnosis Related Groups): 44, 206, 221 Elektronische Gesundheitskarte: 41-44, 55, 223, 225

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Enactment (siehe Aktualisierung) Erwartungen (siehe sociology of expectations) Evidenzbasierte Medizin: 31, 53, 221 Ethnomethodologie: 77-78, 130 Foucault, Michel: 14, 20, 30, 33, 55, 88, 89, 115, 124, 125, 126, 129, 147-149, 231 Gesundheitskarte (siehe Elektronische Gesundheitskarte) Global Assemblage (siehe Assemblage) Grounded Theory: 81-85, 150, 151, 155, 162. Hacking, Ian: 61, 117, 97, 218 Haraway, Donna: 72, 117, 163, 191, 232 Heimlabor: 171-174, 210 Herzinsuffizienz: (Definition): 93-96 Implizierte Akteure / Implicated Actors: 53-54, 156, 252 Interessement: 101, 104, 146 Latour, Bruno: 66-73, 76, 118, 129, 134, 149-150, 161, 180 Law, John:66, 72-73, 77, 121, 162 Lebensqualität:44-45, 241, 245247 Logik: 215-216. Looping-Effekt: 197 May, Carl: 52, 54-55, 229 Mikropolitik (Definition): 87-89 Mol, Annemarie: 20, 67, 72-77, 88, 113, 137, 150, 162, 134, 215, 216, 223, 248, 249 282

Neosozialstaat: 57, 58, 226-230 New York Heart Association: 94 Pragmatismus: 135-137 Präventives Selbst (Definition): 56, 188 Praeventives.Selbst++ (Definition):190-191 Präventionsverweigerer (Definition): 195-196 Praxiographie: 73-76, 80, 150, 162, 251 Situational Analysis: 150-157 Sociology of expectations: 32-33 Soziale Welt / social world: 3233, 53-54, 140-143, 146, 154156. Sozialkonstruktivismus: 61 Soziologie der Übersetzung (siehe Akteur-Netzwerk Theorie) Star, (Susan) Leigh: 121, 141, 145, 149-150, 206, 221, 223. Strong Programme: 63-66 Symbolischer Interaktionismus:137-140 Technowissenschaftliches Gesundheitssystem (Definition): 13, 28-29 Telepflege: 89-93, 205-207, 212, 242-247 Timmermans, Stefan: 127, 145, 204-206 Trajektorie: 144, 248-249 Translationen: 68-70, 76, 100, 115, 130, 146. Torque: 206 Zahlen: 88, 117-118, 159, 178185, 198-203, 208-211 Zeit: 121-12

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper Juli 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0

Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag November 2010, 228 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9

Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik August 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? Juli 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Januar 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de