Digitale Kindheiten [1. Aufl.] 9783658317249, 9783658317256

Die Digitalität der Gesellschaft ist durch einen Strukturwandel in allen gesellschaftlichen Bereichen gekennzeichnet. Wi

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German Pages VI, 252 [247] Year 2020

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Digitale Kindheiten [1. Aufl.]
 9783658317249, 9783658317256

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VI
Front Matter ....Pages 1-1
Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien (Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange, Bina Elisabeth Mohn)....Pages 3-17
Front Matter ....Pages 19-19
Children as becomings2. Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘ (Sabine Bollig)....Pages 21-38
Un/Doing Digital. Eine Digital-Analogie (Jochen Lange)....Pages 39-53
Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien: Wie Großeltern ‚sprechende Köpfe‘-Begegnungen zwischen Kindern und ihren migrierten Eltern in China organisieren (Yumei Gan, Christian Greiffenhagen, Christian Licoppe)....Pages 55-77
Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen in der familialen Videotelefonie mit Kindern (Clemens Eisenmann)....Pages 79-105
Front Matter ....Pages 107-107
Medium und tool. Doing family und digitale Medien (Dominik Krinninger)....Pages 109-128
Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern (Inka Fürtig)....Pages 129-147
Trumpfkarte Smartphone. Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse & die Ent-Pädagogisierung der Kindergarten-Ethnografin (Ursina Jaeger)....Pages 149-165
Front Matter ....Pages 167-167
Unterscheiden, verbinden und teilen. Zur Resonanz und Differenz (digitaler) Medienpraktiken in der frühen Kindheit und beim Forschen (Bina Elisabeth Mohn)....Pages 169-195
„Willst du mit gucken?“ Intervenieren – arrangieren – etwas sichtbar machen (Astrid Vogelpohl)....Pages 197-215
Bilder hier und dort. Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras (Pip Hare)....Pages 217-230
Kindheit unter Beobachtung (Klaus Amann)....Pages 231-250
Back Matter ....Pages 251-252

Citation preview

Medien der Kooperation – Media of Cooperation

Jutta Wiesemann  Clemens Eisenmann  Inka Fürtig · Jochen Lange  Bina Elisabeth Mohn Hrsg.

Digitale Kindheiten

Medien der Kooperation – Media of Cooperation Reihe herausgegeben von Erhard Schüttpelz, Siegen, Deutschland

Digital vernetzte Medien werden als kooperative Werkzeuge, Plattformen und Infrastrukturen gestaltet, die bestehende Öffentlichkeiten transformieren und neue Öffentlichkeiten ermöglichen. Sie sind nicht mehr als Einzelmedien zu verstehen, sondern verlangen eine praxistheoretische Auffassung der Medien und ihrer Geschichte. Alle Medien sind kooperativ verfertigte Kooperationsbedingungen. Ihre Praktiken und Techniken entstehen aus der wechselseitigen Verfertigung und Bereitstellung gemeinsamer Mittel und Abläufe. Darum verläuft die Erforschung digitaler Medien quer zur gängigen wissenschaftlichen Arbeitsteilung und verlangt eine gezielte Engführung von Medientheorie und Sozialtheorie. Digital network media are designed as cooperative tools, platforms and infrastructures which transform existing publics and give rise to new ones. Digital media can no longer be understood as individual media, but demand a practicetheoretical perspective on media and their history. All media are cooperatively accomplished devices of cooperation. Media practices and techniques evolve from the mutual making of shared resources and joint processes. That’s why the study of digital media disturbs our scientific division of labour and remains a challenge for the intersections between media theory and social theory.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15624

Jutta Wiesemann · Clemens Eisenmann · Inka Fürtig · Jochen Lange · Bina Elisabeth Mohn (Hrsg.)

Digitale Kindheiten

Hrsg. Jutta Wiesemann Department Erziehungswissenschaft und Psychologie Universität Siegen Siegen, Deutschland Inka Fürtig Department Erziehungswissenschaft und Psychologie Universität Siegen Siegen, Deutschland

Clemens Eisenmann Konstanz, Deutschland Jochen Lange Institut für Erziehungswissenschaft Abteilung Grundschulpädagogik Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung Pädagogische Hochschule Freiburg Freiburg, Deutschland

Bina Elisabeth Mohn Berlin, Deutschland Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187 „Medien der Kooperation“

ISSN 2520-8349 ISSN 2520-8357  (electronic) Medien der Kooperation – Media of Cooperation ISBN 978-3-658-31724-9 ISBN 978-3-658-31725-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Teil I: Einleitung ................................................................................................. 1 Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien................................................ 3 Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn Teil II: Kindheit(en) – Agency, Materialität und digitale Praxis.................. 19 Children as becomings2. Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘ .................................................................. 21 Sabine Bollig Un/Doing Digital. Eine Digital-Analogie ........................................................... 39 Jochen Lange Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien: Wie Großeltern ‚sprechende Köpfe‘-Begegnungen zwischen Kindern und ihren migrierten Eltern in China organisieren .............................................................. 55 Yumei Gan, Christian Greiffenhagen & Christian Licoppe Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen in der familialen Videotelefonie mit Kindern ...................... 79 Clemens Eisenmann Teil III: Medienpraktiken und doing family ................................................. 107 Medium und tool. Doing family und digitale Medien ...................................... 109 Dominik Krinninger Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern ...................................................................... 129 Inka Fürtig

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Inhalt

Trumpfkarte Smartphone. Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse & die Ent-Pädagogisierung der Kindergarten-Ethnografin ........................................................................... 149 Ursina Jaeger Teil IV: Medienkindheiten medienethnographisch erforschen .................. 167 Unterscheiden, verbinden und teilen. Zur Resonanz und Differenz (digitaler) Medienpraktiken in der frühen Kindheit und beim Forschen .......... 169 Bina Elisabeth Mohn „Willst du mit gucken?“ Intervenieren – arrangieren – etwas sichtbar machen .............................................................................................................. 197 Astrid Vogelpohl Bilder hier und dort. Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras ............................................................... 217 Pip Hare Kindheit unter Beobachtung ............................................................................. 231 Klaus Amann Autorinnen und Autoren ................................................................................ 251

Teil I: Einleitung

Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn

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Einleitung

Schon wieder eine neue „Kindheit“? Das wissenschaftliche Begreifen des Neuen und bislang Unerforschten bringt das Erproben neuer Begriffe mit sich. Wir spüren und sehen soziale Veränderungen, die wir jedoch erst noch in den bewährten Begriffen und mit erprobten Unterscheidungen verstehen wollen. Für die Kindheitsforschung ist die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen eine solche bewährte Unterscheidung und zugleich Teil ihrer eigenen Identitätsherstellung (siehe Kelle 2005). In der Spezifizierung maßgeblicher Eigenschaften sind verschiedene „Kindheiten“ erforscht und begriffen worden. So waren es Kindheitsorte wie die Straße, das zu Hause oder spezifische Institutionen, die ins Zentrum der Analyse des Aufwachsens der nachwachsenden Generation gerückt wurden. „Wo findet Kindheit in der Moderne statt?“, fragte Jürgen Zinnecker in seinem 2001 veröffentlichten Band zu 30 Jahren Forschung zum „Kinderleben zwischen Straße und Schule“ (Zinnecker 2001). Ausgehend vom „Straßenkind“ ist Kindsein zu Hause als „Verhäuslichung“ (Behnken 2001) beschrieben worden, das Pendeln der Kinder zwischen ihren Kindheitsorten mit der These der „Verinselung“ (Zeiher 1994) beschrieben und Kindsein in Institutionen als „betreute Kindheit“ (Rauschenbach 2011) charakterisiert worden. Mit der Auseinandersetzung rund um die Mediatisierung und Technologisierung des Alltags geriet die Mediennutzung der Kinder als „Medienkindheit“ bzw. „mediatisierte Kindheit“ (Fuhs 2014, S. 319) in den Fokus der Kindheitsforschung. Damit sind neben den Räumen und Orten die Medien als spezifische Phänomene der Kindheit ins Zentrum ihrer differenzierten Bestimmung gerückt. All diese nebeneinander bestehenden, erkenntnispraktisch genutzten Eigenschaftsbestimmungen von „Kindheit“ variieren ein gemeinsames, wiederkehrendes Motiv: Gesellschaftliche Entwicklungen sind Anlass, die stattfindende Kindheit mit Hilfe eines Labels neu zu beschreiben. Gesellschaftliche Veränderungen wirken sich auf das Verhältnis der jeweiligen Erwachsenen zur Kindergeneration und umgekehrt aus – als auch auf die Beschreibungsweisen der zeitgenössischen Kindheit. Dem Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts konstatierten „Verschwinden der Kindheit“ (Postman 1983) als einen Verlust der realen Unterscheid© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_1

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Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien

barkeit einer Kinder- und Erwachsenenwelt, steht nach wie vor ein großes gesellschaftliches Interesse an der Veränderung von Kindheit, nun unter den Bedingungen des sogenannten digitalen Wandels, gegenüber. Zweifellos verändern die gesellschaftlichen Digitalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte das Aufwachsen der nachfolgenden Generationen in gravierender Weise. Hengst (2013, S. 11) beschreibt diesen Prozess als Öffnung der Kindheitskontexte über Konsum und Medien hin zur Gesamtgesellschaft. Vieles spricht dafür, dass insbesondere der zunehmend barrierefreie digitale Zugang zur Erwachsenenwelt die Konstellationen der Generationen neu aufstellt – jedoch ohne Kindheit als relevante gesellschaftliche Form erkennbar zum Verschwinden zu bringen. Pädagogische Programme und Konzepte rund um die Medienkompetenzentwicklung von Kindern können auch als Indiz dafür gewertet werden, Kindheit unter den Bedingungen der Digitalität neu zu formieren und zu stabilisieren (vgl. Wiesemann und Fürtig 2018, S. 204ff.). Durch medien- und kindheitspädagogische Forschung ist zunächst das Phänomen Digitalisierung als kindliches Medienverhalten in den Fokus gerückt. Dabei stehen die Besonderheiten einzelner Medien und deren Kindertauglichkeit sowie kommunikative, soziale und kognitive Einflüsse auf Kinder und Kindheit (Aufenanger 2015) und die Medienaneignung in der frühen Kindheit (Lange und Eggert 2015) im Fokus. Die begriffliche und praktische Unterscheidung zwischen analogen und (neuen) digitalen Medien klassifiziert dabei die Beobachtungen. Die spezifisch „kindlichen“ Formen der Welterkundung und damit der Digitalität ihrer Welt geraten erst langsam in den Blick. Wenn wir davon ausgehen, dass durch die Digitalität der Gesellschaft eine „neue kulturelle Konstellation“ (Stalder 2016, S. 11) entstanden ist, stellt sich die Frage nach den neuen Weisen der Wahrnehmung der Welt, der anderen und von sich selbst. Mit dieser Frage geht es weniger um die technische Beschaffenheit, Möglichkeiten und Gefahren digitaler Geräte, als vielmehr um die kulturelle Dimension der Digitalisierung des Alltags und seiner Praktiken. Digitale Medien erscheinen darin als die (noch) haptischen Verbindungsobjekte zwischen Menschen und ihren Daten. Sie bleiben dann jedoch nicht mehr nur als neue und in ihrer Bedeutsamkeit relevanter werdende Werkzeuge in einer ansonsten weiterhin als grundlegend verstandenen, analogen Welt erkennbar. Die aus einem ersten begrifflichen Verstehensversuch des „Neuen“ gebrauchte Unterscheidung von analog und digital steht selbst grundlegend infrage. Kindheit ist Kindheit in der digitalen Welt. Die Erfahrungen, die Kinder mit den Blumen auf der Wiese und beim Buddeln im Sand machen, sind nicht abgekoppelt von den Erfahrungen, die sie mit Filmen auf dem Smartphone und beim Selfiemachen mit dem Opa machen. Digitale Kindheit resultiert aus neuen medialen Formen von Kindsein und Familiesein.

Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn

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Was macht Kindheit im Zeitalter der Digitalität aus und wie werden digitale Medien in ihren Vollzug eingebettet? Die Beobachtung der heranwachsenden Generation zeigt – trotz aller Mahnungen vor den Gefahren –, dass und wie Kinder spätestens mit der Geburt an dem Medienalltag in ihren Familien teilnehmen und diesen gestalten. Die alltäglichen medialen Aktivitäten in der häuslichen Umgebung – insbesondere mit dem Smartphone – geben Aufschluss darüber, in welcher Weise die gesellschaftlichen Digitalisierungsprozesse sich mit dem Familienalltag verbinden. Medienpraktiken in der Kindheit konstituieren die Selbst- und Sachbezüge, den Bezug auf Andere und das Zusammensein als Familie. Die Beobachtung der Einbettung digitaler Geräte in diese alltäglichen Interaktionen der Kinder und Erwachsenen verweist nicht nur auf die Allgegenwärtigkeit unterschiedlicher Medien und Apps im familialen Gebrauch, sondern auf die Eigenschaften der Kindheit unter den Bedingungen der Digitalität. Das Smartphone ist dabei allerdings eben nicht ein besonderes Gerät in Kinderhand; ein Medium der „Medienkindheit“, sondern ein normales Medium, das sich einreiht in eine Vielzahl multifunktionaler, „digitaler Haushaltsgeräte (Smarthone, Tablet, Konsolen, etc.) und ihre[r] kommunikativen Vernetzungen in virtuellen Welten“ (Wiesemann und Fürtig 2018, S. 197) – ein normales Medium, mit dem Kinder und Erwachsene ein Verhältnis zu sich und der Welt entwickeln. Es wird deutlich, wie familiale Medienpraktiken das Alltagsleben mit gesellschaftlichen Digitalisierungsprozessen verbinden. Ähnlich wie Knorr-Cetina et al. (2017, S. 36) danach fragen, wie „situationale Interaktionsordnungen in von Medien durchdrungenen Gesellschaften zu beschreiben“ sind, liegt der Fokus des vorliegenden Bandes auf alltäglichen Situationen und ihren Praktiken, in denen und durch die hindurch medialisierte oder digitale Gesellschaften prozessiert werden. Mit dieser kultur- und praxistheoretischen Perspektive stehen die digitalen Geräte, ihre Techniken oder Algorithmen weniger im Fokus, als vielmehr deren Teilnahme an Alltagsituationen und die sich darin entfaltenden Praktiken ihrer Bewältigung. So wird mit „digitalen Kindheiten“ eine empirisch zugängliche, methodisch erforschbare Gesellschaftsentwicklung auf einen weiterhin anschlussfähigen Begriff gebracht. Wir beschreiben damit systematisch erweiterte und veränderte Alltagswirklichkeiten von Kindern (und ihren Erwachsenen), in denen hergebrachte soziale Mechanismen und Herstellungsweisen durch digitale Formate im praktischen Vollzug neu gelebt werden. Mit dieser begrifflichen Rahmung steht eine „umfassende gesellschaftliche Analyse [an], in der die generationale Ordnung und damit auch die gesellschaftliche Kindheit eine zentrale theoretische und empirische Kategorie darstellt“, wie Bühler-Niederberger (2020, S. 203) für die Erforschung der Kindheit als Strukturkategorie fordert. Jenseits empirisch vielfältig zu beschreibenden digitalen Kindheiten bleibt die Analyse von Kindheit als soziales

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Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien

Phänomen relevant. Die empirische Frage lautet: In welchen neuen medialen Formen von Kindsein und Familiesein resultiert eine digitalisierte Kindheit? Sozialwissenschaftliche Diagnosen beschreiben die Digitalität der Gesellschaft als eine, die durch vielfältige Transformationen, Umbrüche und nicht zuletzt durch Strukturwandel in allen gesellschaftlichen Bereichen gekennzeichnet ist (vgl. Nassehi 2019). Am Beispiel der Familie als eine Instanz der Kindheit lassen sich diese Neuerungen des geteilten Alltags aufzeigen. Die lebensweltlichen Konstellationen in den Familien werden zunehmend digital strukturiert. Dies betrifft die familiale Interaktion in den Familienräumen und darüber hinaus. Eine der offen-sichtlichen Erfahrungen ist, dass Menschen mit Menschen interagieren, die nicht da sind, d. h. nicht körperlich analog anwesend sind. Dies ist allerdings ein Interaktionsformat, dass in seiner zwischenzeitlich wenig spektakulären Alltäglichkeit für das Aufwachsen der Kinder in diese ‚körperlosen‘ Interaktionen vor allem dann Aufmerksamkeit erhält, wenn die Älteren und Erwachsenen es zum Thema machen. Für Kinder ist es genauso ungewöhnlich und neu, wie alles, was ihnen in ihren ersten Lebensjahren begegnet. Sie lernen die Herstellung von Anund Abwesenheit im digitalen Modus (vgl. auch Greschke 2015). Die Präsenz an einem gemeinsamen physischen Ort erweitert sich also fortlaufend um aktive und passive, gleichzeitige und ungleichzeitige, sichtbare und hörbare An- und Abwesenheiten durch Medien und in Medien (vgl. Hare et al. 2019). Insbesondere die Untersuchungen der Videotelefonie mit Freunden und Verwandten verweisen auf neue Praktiken und Routinen der kooperativen Herstellung digitaler Kommunikation. Die digital medialisierten Formen familialer Interaktion zeigen sich außerdem in familialer und individueller Identitätsarbeit, die durch die Produktion, Evaluation und Archivierung gemeinsamer Filme und Bilder und durch ihre Einbindung in alltägliche Interaktionen geschieht. Die Spezifika der digitalisierten Selbst- und Fremdbegegnung zeigen, wie sich die heranwachsende Generation fortlaufend beim Aufwachsen beobachtet und in diesem Prozess den eigenen Standort und die unterschiedlichen Daseinsformen in ihrer Welt erarbeitet. Diese Erarbeitung verstehen wir als grundlegend für die Entwicklung familialer und individueller Identitäten. Das betrifft zum Beispiel das wechselseitige Beobachten und das gemeinsame Erinnern. Wir können davon ausgehen, dass die nun aufwachsende Generation wie keine vor ihr, sich selbst zusieht: von den ersten Schritten bis hin zu alltäglichstem Tun wie Essen und Zähneputzen und weiter zu den frühen Posen vor der Kameralinse des Smartphones der Eltern, Geschwister, Großeltern und der eigenen Geräte. Lernen, Wahrnehmen, Erinnern, einfachstes kommunikatives Äußern beziehen technische Geräte mit ein, die diese Tätigkeiten von der räumlichen und zeitlichen Gegenwart abkoppeln, diese konservieren und neu gestalten. So vollziehen sich soziale Beziehungen in neuen medialen Formaten. Dazu gehören die medialen Konzepte von Privatheit, Intimität und Öffentlich-

Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn

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keit und nicht zuletzt die der Körperlichkeit. Wie ändert sich das Selbstverständnis des „Familie-Machens“ in einer digitalisierten Lebenswelt? Werden die sozialen Beziehungen durch digitale Medien umgestaltet oder lediglich in neue Formate gebracht? Die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen in diesem Geschehen werden zu einer empirischen Frage: „Wie und als was sind ‚Kinder‘ möglich?“ (Honig 2018, S. 203). Die systematische Beantwortung dieser Frage wird Hinweise darauf geben, wie sich Kindheit unter den Bedingungen der Digitalität vollzieht. Ist das, was vor 20 Jahren Großeltern und Enkel, Eltern und Kinder und deren Beziehung ausmachte, heute möglicherweise etwas, dessen grundlegende Eigenschaften neu verstanden werden müssen? 2

Kindheit(en) – Agency, Materialität und digitale Praxis

Für die Erforschung digitaler Medienkindheit(en) ist die Frage nach der Agency von Kindern, die Rolle von Materialität und Körperlichkeit, sowie ihre fortlaufende Einbettung und Verfertigung in sozialen Praktiken von besonderem Interesse: Verbreitete Fokussierungen auf z. B. passiven Medienkonsum, vermeintliche Medienauswirkungen und Effekte des Virtuellen rücken damit aus dem Zentrum und eröffnen den empirischen Blick für neue Perspektivierungen auf situierte Prozesse, Praktiken und involvierte Dinglichkeiten. In der Kindheitsforschung und der Erziehungswissenschaft wird die Bedeutung der Agency für das grundlegende Verständnis von Kindheiten, Lernprozessen und Entwicklung bereits seit den 80er Jahren diskutiert. Im Zentrum steht bei der Betrachtung der Handlungsfähigkeit von Kindern, diese als kompetente Akteure ihrer Lebensrealität zu sehen (vgl. Honig 2018, Bollig und Kelle 2014). Ebenso grundlegend sind Fragen nach Handlungsmacht und Gebrauchspotential von Materialitäten, die jüngst in ihrer Relevanz für Bildungs- und Lernprozesse diskutiert werden (vgl. z. B. Kalthoff und Röhl 2011, Neumann 2013, Wiesemann und Lange 2014). Ein häufiger Bezugspunkt bildet Latours (2005) Perspektive der Verteilung von Agency in Netzwerken. An diese Diskussionen anschließend, fragen die Beiträge des Teil II allerdings nach der fortlaufenden Verfertigung von Agency und Materialitäten in und mit Medienpraktiken. So hat beispielsweise Meyer (2013) das Konzept der Agency ausgeweitet und gezeigt, wie Agency interaktional in Ritualen den Standort zwischen Situationen, medialen Akteuren und Personen wechseln kann. Im Kontext der alltäglichen Verbreitung von digitalen Medien, den zughörigen Objekten in Kinderhänden, vielgestaltigen Medieninhalten und z. T. körperlich abwesenden Interaktionsteilnehmer*innen, stellen sich diese Fragen in einem noch erweiterten Sinne. Welche theoretischen Zugänge erweisen sich für die Beschreibung der Materialitäten und Praxis gegenwärtiger Medienkindheit(en) als geeignet

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Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien

(Sabine Bollig)? Inwiefern trägt die Unterscheidung von digital und analog bzw. was können wir aus dem Vergleich mit analogen Materialitäten lernen (Jochen Lange)? Wie gestalten sich technisch vermittelte Interaktionssituationen und wie wird die zugrundeliegende Medienpraxis digitaler Kindheiten wechselseitig in Familien hervorgebracht (Yumei Gan et al. und Clemens Eisenmann)? Einen Überblick über unterschiedliche Theorieangebote liefert Sabine Bolligs Beitrag „Children as becomings². Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘“. Gegenwärtige Entwicklungen im Feld der childhood studies werden mit ihren Bezügen auf posthumanistische und praxistheoretische Ansätze verhandelt und für eine Perspektivierung der Agency von Kindern in der Kindheitsforschung genutzt. Vor diesem Hintergrund wird das Diktum von Kindern als beings statt becomings neu befragt und eine materialitätsorientierte Perspektive von being und becoming konturiert, welche die vielfältigen und je konkreten Konstitutionsprozesse menschlicher Agency als ein permanentes Entstehen zwischen Sozialem und Materiellem versteht. Jochen Lange geht es in seinem Beitrag „Un/Doing Digital. Eine DigitalAnalogie“ um die empirische Befragung grundlegender Konzeptionen. Gefragt wird nach den Konstitutionen sowie der Bedeutungsaufladung der vermeintlich gegebenen Markierungen „digital“ und „analog“. Ausgehend von der prominenten Polarisierung der Begriffe in pädagogischen Diskursen, wird eine Gemeinsamkeit in der impliziten Bezugnahme auf Agency ausgemacht, die vielfach einhergeht. Hieran orientiert analysiert der Beitrag das Digitale in augenscheinlich analogem Material: Die Entstehung von didaktischen Experimentierkoffern wird als Hardund Softwareentwicklung verstehbar, die durch ein Antizipieren und Austarieren von Agency charakterisiert ist. Der Beitrag von Yumei Gan, Christian Greiffenhagen und Christian Licoppe untersucht die mediale Verbindung von räumlich getrennten Familienmitgliedern in China und fokussiert „die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien. Wie Großeltern ‚sprechende Köpfe‘-Begegnungen zwischen Kindern und ihren migrierten Eltern in China organisieren“. Analysiert wird die aufwändige Orchestrierung des Anrufs, mit der Kinder in die gemeinsame Tätigkeit involviert werden. Diese orientiert sich an dem Problem langfristiger Trennungen und der Gefahr, dass die Kinder ihre Eltern nicht wiedererkennen könnten. Gan et al. zeigen, wie sich die Beteiligten orientieren und welche interaktionale Arbeit notwendig ist, um die visuelle Konfiguration von „Sprechenden Köpfen“ kooperativ zu etablieren und eine erfolgreiche Gesprächseröffnung zu orchestrieren. An der Fragestellung nach der interaktionalen Arbeit für die wechselseitige Orientierung und Wahrnehmung in technisch vermittelten Interaktionen setzt auch Clemens Eisenmann in seinem Beitrag „Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen in der familialen Videotelefonie mit

Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn

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Kindern“ an. Im empirischen Fokus stehen allerdings nicht die Eröffnungen, sondern die Verabschiedungssituationen, in denen familiale Intimität und deren Scheitern oder Gelingen besonders relevant wird. Eisenmann beschreibt empirisch das Wie von Medienpraktiken im kooperativen Vollzug und arbeitet die Verteilung von körperlicher und medialer Anwesenheit, deren Agency und interkorporale Grundlagen analytisch heraus. Somit werden oftmals unhinterfragte Praktiken zum Gegenstand der Untersuchung und anhand dieser deutlich, wie unterschiedliche interaktionale Ressourcen in sozio-materiellen Arrangements von den Interaktionsteilnehmer*innen gemeinsam genutzt werden und an der kooperativen Hervorbringung von Medienpraktiken beteiligt sind. 3

Familien: Medienpraktiken und doing family

Für die in diesem Teil versammelten Beiträge ist die Überlegung zentral, dass Kinder von Geburt an Familie machen, nicht zuletzt, da sie aus Erwachsenen Eltern machen. Sie sind in familiale Praktiken involviert, gestalten den Familienalltag mit und bringen familiale Ordnungen mithervor. Mit dieser akteurszentrierten kindheitstheoretischen Perspektive (Bollig und Kelle 2014) geraten Kinder in den folgenden Beiträgen als eigensinnige Familienakteure in den forschenden Blick. Der Familienalltag, in dem digitale Medien gleichsam als „Haushaltsgeräte“ (Wiesemann und Fürtig 2018, S. 197) Kooperation und Kommunikation neu situieren, ist in diesem Sinne zugleich zentraler Kontext und Gestaltungsraum von Kindern. Das Alltagsleben von Familien ist der privatisierte Ort, an dem generationale Praktiken dem Kind-, Erwachsen- und Elternsein eine spezifische Gestalt geben. Diese „generationierenden Praktiken“ (Honig 2018, S. 203) vollziehen sich im anhaltenden Digitalisierungsprozess in und durch Medien. Insbesondere das Smartphone als mobiles und ubiquitäres Alltagsmedium stellt Familien vor die Herausforderung, dieses Gerät in einen Alltag von Kindern und Erwachsenen zu inkludieren. Digitalisierung und die damit einhergehende nahezu flächendeckende Ausstattung der Familienhaushalte mit mindestens einem digital-vernetzten Medium befördert eine Pluralisierung familialer Medienpraktiken und die Transformation ‚etablierter‘ (analoger) familialer Praktiken. Die digitalen Medien erfüllen dabei Funktionen, die für die Konstituierung von Familien relevant sind, bspw. durch ihre Einbindung in Praktiken der Organisation, Kommunikation, der Erziehung und der Pflege. Medien gestalten so einerseits den Alltag von Familien mit, müssen sich aber andererseits auch darin (noch) bewähren. In anderen Worten: Medien werden in alltäglichen familialen Settings zu einem Aushandlungsgegenstand und sind gleichzeitig in die Praktiken der Herstellung von Familie (doing family) eingebettet.

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Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien

Die folgenden drei Beiträge schließen mit ihren ethnographischen Untersuchungen an diese kindheits- und familientheoretischen Überlegungen an. Während Dominik Krinninger auf der Grundlage empirischer Forschung im Kontext elterlicher Begleitung kindlicher Mediennutzung (parental mediation) die theoretischen Ansätze des doing familiy neu akzentuiert, sind Inka Fürtig und Ursina Jaeger am empirischen Fall orientiert und legen den Fokus auf das Smartphone und die daran gekoppelten Medienpraktiken. Dominik Krinninger geht in seinem Beitrag „Medium und tool. Doing family und digitale Medien“ aus einer erziehungstheoretischen Perspektive auf die Relevanz des familialen Gebrauchs digitaler Medien ein. Krinninger befragt die zentralen theoretischen Ansätze des doing family (Jurczyk et al. 2014 und Morgan 1996) nach deren Erklärungskraft in Bezug auf die zunehmende Digitalisierung von Familienalltag und fragt danach, wie mit digitalen Medien alltäglich Familie gemacht wird. Krinninger plädiert dafür, zwischen einem Mediengebrauch in Familien und einem spezifisch familialen Mediengebrauch zu differenzieren, mit dem Ziel, die theoretischen Konzepte des doing family zu schärfen. Zum Ende des Beitrags wirft Krinninger weiterführende, sozialisations- und bildungstheoretische Fragen auf, indem er zwei Aspekte der Digitalisierung des familialen Alltags herausgreift: die starke Ausrichtung digitaler Medien auf Visualität und die Herstellung des familialen Binnenraums. Inka Fürtig geht in ihrem Beitrag „Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern“ auf die familiale Smartphonenutzung im Familienalltag von Kleinkindern und Eltern ein. Anhand von ethnographischen Beobachtungen und deren Analyse stellt sie heraus, dass der Gebrauch von Smartphones im Familienalltag sowohl von Eltern- als auch von Kleinkindseite her reglementiert und – trotz zunehmender Veralltäglichung digitaler Medien – problematisiert wird. Den von Fürtig beobachteten familialen Smartphonegebrauch kennzeichnet, dass Kleinkinder den Mediengebrauch der Eltern beobachten, kontrollieren und je nach Situation in unterschiedlicher Weise intervenieren und die familiale Medienordnung mithervorbringen. Fürtig beleuchtet zudem die Einbindung der Ethnographin in Prozesse des doing family und des familialen Mediengebrauchs, die das ethnographische Vorgehen kennzeichnen. Ursina Jaeger stellt in ihrem Beitrag „Trumpfkarte Smartphone. Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse & die Ent-Pädagogisierung der Kindergarten-Ethnografin“ Beobachtungen und Erkenntnisse aus einer multi-sited ethnography (Marcus 1995) vor. Dabei wird deutlich, wie unterschiedliche soziale Ordnungen an den Orten der Kindheit (hier: Kindergarten, Hort, Elternhaus) einander wechselseitig konstituieren und mitunter stark auf den jeweils anderen Alltag der Kinder Bezug nehmen. An Objekten wie dem Smartphone lassen sich Jaeger zufolge nun Aufschlüsse über die gegenseitige

Jutta Wiesemann, Clemens Eisenmann, Inka Fürtig, Jochen Lange & Bina Elisabeth Mohn

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Bedingtheit der Orte gewinnen. Anhand einiger empirischer Blicklichter und methodologischer Überlegungen wird das Smartphone in seinen unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen erfasst: als pädagogisierend, hierarchisierend und als Medium zur sozialen Positionierung. Zudem zeigt Jaeger auf, wie sich ihre Position bei den Eltern der Kinder im Laufe der Forschung von einer zunächst als drohender Schatten des Staates angesehenen Mitarbeiterin einer staatlichen Institution hin zur ent-pädagogisierten Ethnografin wandelte und inwiefern dieser Prozess Relevanz für ihr Forschungsinteresse hat. 4

Medienkindheiten medienethnographisch erforschen

Medien sind kooperativ verfertigte Kooperationsbedingungen, so der Medienbegriff des Sonderforschungsbereichs 1187 Medien der Kooperation an der Universität Siegen. Die Beiträge im Teil IV befassen sich mit kooperativen Medienpraktiken im beobachteten Feld der frühen Kindheit, im Forschungsalltag und beim Veröffentlichen von Forschungsergebnissen. Gemeinsamer Bezugspunkt ist die Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital1, mit kamera-ethnographischen Videoinstallationen aus dem Forschungsprojekt Frühe Kindheit und Smartphone. Anhand unterschiedlicher Perspektiven und Fragestellungen werden mediale und methodologische, kooperative und ethische Rahmenbedingungen des Entdeckens von Medien, Kindern und Kindheiten thematisiert. Bina E. Mohn nimmt in ihrem Beitrag „Unterscheiden, verbinden und teilen. Zur Resonanz und Differenz (digitaler) Medienpraktiken in der frühen Kindheit und beim Forschen“ eine forschungsreflexive Perspektive ein, die es ermöglicht, zwischen Medienpraktiken, die im Familienalltag situiert sind und Medienpraktiken, die als medienethnographische Praktiken im Forschungsalltag situiert sind, zu unterscheiden. Ein situiertes Datenverständnis (nach Garfinkel 1968) sowie ein ordnender statt Ordnung rekonstruierender Erkenntnisstil (nach Wittgenstein) unterstützen das Vorhaben, die Resonanz und Differenzverhältnisse bei der medienethnographischen Erforschung von Medienpraktiken zu untersuchen und im Rahmen einer zeigenden Ethnographie methodentheoretisch fruchtbar zu machen. An Praktiken, die in der frühen Kindheit wie auch bei deren Erforschung stattfinden, werden Schnittstellen, Überlappungen und Verwicklungen herausgearbeitet. So können schließlich im (Unter-)Bewusstsein der eigenen ethnographischen Medien- und Zeigepraktiken, Reflexivitäts- und Positionierungsbemühungen auch auf der Gegenstandsebene Medienpraktiken des Zeigens in der frühen Kindheit

1 Wiesemann, Jutta, Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018-2019. Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018-Januar 2019).

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Digitale Kindheiten. Kinder – Familien – Medien

und digitale Kindheiten als reflexive Kindheiten bemerkt, unterschieden, verbunden, entdeckt und öffentlich geteilt werden. Astrid Vogelpohl macht in ihrem Beitrag „‚Willst du mit gucken?‘ Intervenieren, arrangieren, etwas sichtbar machen“ exemplarisch die kooperative Entstehung einer der filmischen Beobachtungen transparent, die in die Videoinstallationen der Ausstellung integriert wurde. Über einen gesamten Forschungszyklus hinweg zeichnet sie die Spur der Interventionen nach. Dabei kommt ein permanentes wechselseitiges Intervenieren in den Blick und erweist sich als produktives Stören und Eingreifen, was den Forschungsprozess und seine Ergebnisse erst ermöglicht und hervorbringt. Interveniert wird auf allen Ebenen: bei der Herstellung der Forschungsbeziehungen und Begegnungen; in den Beobachtungssituationen, in die alle Akteure der Forschungssituation mitsamt einem imaginierten Publikum verwickelt sind; durch die Kamera der Ethnographin und das Smartphone der Familie, die ihrerseits Interventionspotentiale einbringen; bei Interventionen ins gefilmte Forschungsmaterial durch Blicke und Schnitte bis hin zur intervenierenden Kraft der Zeit, die bei einer Langzeitstudie die aktuellen Betrachtungen durch intervenierende Rückblicke zu irritieren vermag. Nicht zuletzt interveniert das Publikum am veröffentlichten Film in das, was die Forschenden darin zu sehen und zu zeigen meinen. Nach einer Reise durch all diese Ebenen und Etappen eines Forschungsprozesses kehrt Vogelpohl noch einmal zurück zu ihrem durch Interventionen entstandenen Forschungsfilm Takeover Marathon und analysiert das dort Beobachtete aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive heraus als Lernsituation, in der das Kind die Gesten des Smartphone-Gebrauchs imitiert und sich so als SmartphoneNutzerin mit Mitspielkompetenzen zeigt – noch bevor sie das Gerät zu bedienen weiß. Auch dies reiht sich in die Spur der Interventionen ein, bei der alle am Forschungsprozess Beteiligten wechselseitig Beobachtbarkeit hervorbringen. Pip Hare hingegen macht in ihrem Beitrag „Bilder hier und dort. Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras“ die Entfernung der in einer Ausstellung publizierten Bilder und Filme von den Orten und Kontexten ihrer Entstehung zum Thema und argumentiert aus der Perspektive einer Anwältin derjenigen, die an den Reisen der Bilder, die in ihrem persönlichen Umfeld entstanden sind, nicht teilnehmen. Sie befasst sich mit einer Problematik, die entsteht, wenn dokumentarische bzw. ethnographische Bilder und Filme nicht allein über geographische, sondern auch über disziplinäre, kulturelle und alltägliche Grenzen hinweg öffentlich gezeigt und gesehen werden. Hare wählt die Form einer Collage von in Worten beschriebenen Bildern, die zwischen einem Hier (hin) und von Dort (her) wechseln und sich als Geflecht aus Reflektionen und Einsprüchen, Erinnerungen und Widersprüchen lesen lassen. Dabei bezieht sie ihr subjektives Erleben und Empfinden ebenso ein wie Positionen aus ethnologischen Diskursen um Deutungsmacht und Forschungsethik. Wie damit umgehen, wenn die

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mit liebevollen Augen durchgeführten Beobachtungen das Publikum nicht davon abhalten, ihre wertenden Urteile an die Bilder der Ethnograph*innen zu heften? Als Anthropologin möchte Hare, Abu-Lughod (1991) folgend, „entgegen der Kulturalisierung von Kultur“ arbeiten. In diesem Zusammenhang bewertet sie die extreme Kürze und Diversität der Videofragmente des in der Ausstellung gezeigten Wordless Language Game 01 als Chance, Praktiken anstelle kultureller Eigenschaften und Zuschreibungen zu untersuchen. Bezüge zwischen audiovisuellen Beobachtungsfragmenten zu erproben und anzuregen ist insofern auch eine forschungsethisch relevante Perspektive. Klaus Amann rezensiert in seinem Beitrag „Kindheit unter Beobachtung“ die Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. In der Rolle eines Ausstellungsbesuchers bleiben seine Blicke an einer Zweikanal-Videoinstallation hängen, in die er sich vertieft: All diese Dinge (Hare et al. 2018). Dies wird zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der wechselseitigen medialen Hervorbringung von Sichtbarkeit und Verstehen auf den Ebenen Kind und Mutter, Kamerafrau und Kamera, Film und Rezipient. Auf jeder dieser Ebenen finden mediale Hervorbringungsleistungen im jeweiligen lokalen Zusammenhang statt, was ihre epistemologische Gemeinsamkeit ausmacht. Im Sinne ethnomethodologischer Analysen setzt Amann die prinzipielle Verständlichkeit sozialen Geschehens für daran Teilnehmende, Forschende und späteres Publikum ebenso voraus wie die Annahme einer Fixierung und Bezeugung beobachtbarer Aktivitäten durch filmische Darstellungen, selbst bzw. gerade dann, wenn diese einen explizit eigenen theoriegeladenen ethnographischen Blick beinhalten. Dieser Blick konstituiert sich in den Filmen der Ausstellung durch geduldige Beobachtungen des kindlichen Tuns, was die Handlungsagenda der in den Filmen beobachteten Kinder erkennbar macht. Die kamera-ethnographischen Forschungsfilme der Ausstellung interpretiert Amann daher als Darstellungen, die auf reflexive Weise das Sichtbare und seine Weisen des Zeigens sowie eine sequenziell fixierte Lesart des Bezeugten und darüber hinaus einen Zusammenhang des Entdeckens anbieten. Kinder und ihr Tun auf eine solche Weise zu zeigen, eröffnet nach Amann die Chance zu einem neuen Kinderbild, welches die Fiktion einer natürlichen Kindheit hinter sich lässt. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind das Ergebnis der Konferenz Frühe Kindheit und Smartphone. Die alltägliche Transformation familialer Ordnung, die im November 2018 im Museum für Gegenwartskunst in Siegen stattgefunden hat und von dem Teilprojekt Frühe Kindheit und Smartphone. Familiale Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation des SFB 1187 Medien der Kooperation konzeptioniert und organisiert wurde.2 Im Rahmen der Konferenz konnten For2

Der vorliegende Band und die Tagung wurden gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 262513311 – SFB 1187 „Medien der Kooperation“.

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schende aus Feldern der Kindheits- und Familienforschung sowie der Medienethnographie zusammengebracht werden, um gemeinsam analytische und methodologische Perspektiven auf die sich vollziehenden, medial bedingten Transformationsprozesse zu diskutieren. Mit unterschiedlichen, doch stets praxeologischen, Zugängen wurde die Gestalt interaktiver Medienpraktiken untersucht. Dabei wurden die Konzepte „Agency“ und „Doing Familiy“ mit den medientheoretischen Grundlagen des SFB konfrontiert: Wie sind Medien praxeologisch erforschbar, die in Kontexten mit Kindern situiert sind? „Nicht nur digitale, sondern alle Medien sind kooperativ erarbeitete Kooperationsbedingungen“ (Schüttpelz und Gießmann 2015, S. 15). Demnach werden Medien erst im Vollzug von Medienpraktiken zu Medien. „Was machen Menschen mit Medien und was Medien mit Menschen?“ (Dang-Ahn u. a. 2017, S. 7). Diese forschungsleitende Fragestellung lässt das Beobachten von Medienpraktiken als Erforschung der Erarbeitung von Kooperationsbedingungen ins Zentrum rücken. Bareither (2019, S. 4) formuliert diese medientheoretische Prämisse folgendermaßen: „Medien konstituieren sich als Medien erst im alltäglichen Umgang und gerade durch diese (...) Alltagseingebundenheit prägen sie ihre Umwelten wiederum mit.“ Praxeologisch gewendet sind Medien Ergebnis sozialer Praxis und die Untersuchung der digitalen Kindheiten fokussiert die Erarbeitung von Kooperationsbedingungen in ihren unterschiedlichen Umgebungen. Der Band möchte mit seinen Beiträgen zur Methodologie und Empirie digitaler Kindheiten die Erforschung von Kindheit und Kindheiten unter den Bedingungen der Digitalität weiter vorantreiben und schlägt mit seiner Konzeption einen Zugang vor, der insbesondere medienethnographische sowie medien- und sozialtheoretische Überlegungen zur Grundlage des Verstehens neuer Formen des Aufwachsens und Lernens macht. Literatur Aufenanger, Stefan. 2015. Wie die neuen Medien Kindheit verändern. Kommunikative, soziale und kognitive Einflüsse der Mediennutzung. merz/ medien + erziehung 59 (2): 10-16. Bareither, Christoph. 2019. Medien der Alltäglichkeit: Der Beitrag der Europäischen Ethnologie zum Feld der Medien- und Digitalanthropologie. Zeitschrift für Volkskunde 115. Jg. 2019 (1): 3-26. Abu-Lughod, Lila. 1991. Writing against Culture. In Recapturing Anthropology: Working in the Present, hrsg. von Richard G. Fox, 137–54, 161–2. Santa Fe: School of American Research Press.

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Teil II: Kindheit(en) – Agency, Materialität und digitale Praxis

Children as becomings2. Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘ Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘

Sabine Bollig

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Einleitung: Beings, not becomings! Grundlegungen zur Agency von Kindern in der kind-zentrierten neueren Kindheitsforschung

Dieser Beitrag widmet sich aktuellen Entwicklungen im Feld der childhood studies, die sich seit einigen Jahren in Rekurs auf materialitätsorientierte Theorieangebote und Forschungszugänge nachzeichnen lassen. Mit den childhood studies ist dabei ein internationales und inhaltlich heterogenes Feld von Forschungsarbeiten umrissen, das unterschiedlichste Disziplinen umspannt – Soziologie, Humangeographie, Anthropologie, Erziehungswissenschaft, Kunstgeschichte, usw. – aber dennoch auf einer gemeinsamen Prämisse aufbaut, nämlich das Kindheit als ein komplexes, soziales und kulturelles Phänomen zu verstehen ist (vgl. James und James 2008). Die childhood studies bauen entsprechend in erheblichem Maße auf den so genannten ‚new social studies of childhood‘ auf, einem zunächst sehr kleinen soziologischen Forschungsfeld, dass sich seit den späten 1980er Jahren reflexiv und kritisch mit der Stellung von Kindern in der Soziologie auseinander zu setzen begann (Prout und James 1990). Dem soziologischen Mainstream wurde dabei vorgeworfen bis dato weder Interesse an Kindheit als einem sich permanent im Wandel befindenden soziokulturellen Muster moderner Gesellschaften noch an Kindern als gesellschaftlicher Gruppe gezeigt zu haben (Thorne 1987, Qvortrup 2009). Wenn Kinder überhaupt erforscht wurden, so die Kritik, dann lediglich unter dem Blickwinkel der Sozialisation (bzw. in anderen Disziplinen von Entwicklung oder Lernen). Dies habe nicht nur dazu geführt, dass die Lebensbedingungen einer ganzen Gesellschaftsgruppe in soziologischer Gegenwarts- und Gesellschaftsanalyse unterrepräsentiert blieben, sondern auch die Kompetenzen und Perspektiven der Kinder ausgeblendet worden wären (Zeiher und Hengst 2005, Qvortrup, Corsaro und Honig 2009). Diese Frage der Perspektive von Kindern war jedoch von hochgradiger Relevanz für die neue Kindheitsforschung, richteten sich die Erneuerungsbemühungen doch im Kern auf die Abwendung von einem autistischen Blick in den Sozialwissenschaften, der Kinder und Kindheit lediglich aus der Zielperspektive und vom Standpunkt des Erwachsenen her zu formulieren vermochte. „Conceptual © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_2

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Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘

autononomy“ (Thorne 1987) lautete entsprechend die Devise, um jenseits von der Einsicht in die Abhängigkeit gerade junger Kinder von der Sorge der Älteren, Kinder aus den invisibilisierenden Konzepten bisheriger Forschung zu befreien. Das heißt, ihr Leben und ihre Stellung in der Gesellschaft theoretisch außerhalb von Begriffen wie Sozialisation, Entwicklung, Lernen zu fassen, sie statistisch als eigenständige Sozialgruppe und nicht mehr lediglich als Teile von Familie und Haushalt sichtbar zu machen sowie empirisch nach ihrem genuinen sozialen und gesellschaftlichen Alltag zu fragen. Dies implizierte auch, die kulturellen Bezüge, Deutungen und Interpretationen und das Handeln der Kinder in ihrer eigenen Dignität zu rekonstruieren, d.h. diese Deutungen und Aktionen in ihrem Gegenwartsbezug ernst zu nehmen. Spiele von Kindern wurden somit nicht mehr nur als Vorstufe und Übungsfeld für das Erwachsenwerden betrachtet, sondern als Ausdruck einer eigenständigen Kultur der Kinder, ihrer aktiven Auseinandersetzung mit der Zuweisung bestimmter Räume und Rollen an Kinder oder, wie bei Corsaro (1990), als Medium der peer-kulturellen interpretativen Reproduktion der Erwachsenenwelt im Kindergarten, und somit als ihr originärer Beitrag zur sozialen Ordnung pädagogischer Organisationen. Mit der konzeptuellen Befreiung von Kindern aus denen ihnen bisher zugedachten theoretischen Kategorien und Forschungsperspektiven ging es entsprechend um nichts weniger, als Kinder nicht mehr als becomings, als inkompetente, unfertige, noch-nicht-Erwachsene zu sehen, deren Lebensäußerungen vor allem mit Blick auf ihr zukünftiges Erwachsenensein zu interpretieren seien, sondern als beings, als gegenwärtige Gesellschaftsmitglieder und kompetente Akteure ihrer Lebensrealität als Kinder. Dieser Blickwechsel fand seinen Brennpunkt in der Frage nach der Agency von Kindern bzw. der Figur des Kindes als ‚kompetenten Akteur‘ – als „active in the construction of their own lives, the lives of those around them and of the societies in which they live“ (Prout und James 1990, S. 8). Die Annahme der Agency von Kindern als Kinder basierte dabei, zumindest im Kontext einer Soziologie der Kindheit, zunächst auf der Einsicht in die grundlegende Sozialität von Kindern und die Ausbildung eigener Interessen geknüpft an ihre Lebenslage als Kinder. Daher war mit der Figur des Kindes als kompetenten Akteurs bereits von Anfang an ein Forschungsprogramm umrissen, dass nach der Perspektive von Kindern im Sinne eines positionierten Standpunkts fragte und somit dazu anregte, auch die sich je wandelnden gesellschaftlichen, materialen und sozialen Bedingungen in den Blick zu nehmen. Bedingungen, unter denen sich Kinder als soziale Akteure und somit auch ihre genuinen Perspektiven im Kontext generationaler Ordnungen konstituieren (Honig 2009). Die Leistung der so genannten neuen Kindheitsforschung bestand insofern darin, zu fragen, wie Kinder sich selbst verstehen, welche Interessen sie entwickelten, mit welchen Erwartungen sie konfrontiert werden und welche Handlungsräume sich ihnen individuell

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wie als Gruppe bieten und dies in Abhängigkeit von der sozialen Form ‚Kindheit‘ und ihrer je historischen und soziostrukturellen Ausprägung her zu rekonstruieren. Oder anders formuliert, es ging mit Blick auf die zu jener Zeit von Anthony Giddens prominent formulierten Dualität von Struktur und Agency, um „children’s agency in the context of childhood as a structural form“ (Oswell 2013, S. 42). Mit Blick auf diese Grundprämissen der new social studies of childhood wird auch im deutschsprachigen Raum seit den 1990er Jahren von der ‚neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung‘ gesprochen, wobei mit Blick auf den mittlerweile zu konstatierenden Etablierungsgrad dieses Forschungsfeldes das ‚neu‘ nach nun fast 30 Jahren zunehmend überholt wirkt. Auch mehrt sich die Kritik an Ausgangspunkten der damals sich als neu apostrophierenden Bewegung, welche insbesondere auch für die im Kontext dieses Bandes interessierende Frage nach dem Verhältnis von Kindheit/Kindern, Agency und Materialität relevant sind. Die ‚neueren neuen Kindheitsforschung(en)‘ werden aktuell nämlich überwiegend von materialitätsorientierten Sozialtheorien und posthumanistischen Ansätzen genährt, die alle die grundlegende Bedeutung von Materialität – Dingen, Räumen, Architekturen, Pflanzen, Technologien, etc. – in den Vordergrund rücken. Daher will ich im Folgenden einige dieser Entwicklungen kurz nachzeichnen, um eine materialitätsorientierte Perspektive auf die Agency von Kindern in der Kindheitsforschung zu konturieren. Dabei lässt sich eine interessante Umkehr des Diktums von Kindern als beings anstatt von becomings aufzeigen – wenngleich unter anderen Vorzeichen. 2

Materialities matters: Beings and Becomings! – Kritik und Reformulierung des Agency-Konzepts in einer zunehmend de-zentrierten Kindheitsforschung

Eingangs habe ich bereits aufgezeigt, warum sich die childhood studies zurecht zuschreiben, die Agency von Kindern mit auf die öffentliche Agenda gesetzt zu haben. Allerdings haben die vergangenen Jahre auch eine mehr und mehr kritische Debatte dieses Agency-Paradigmas hervorgebracht (Überblicke in Tisdall und Punch 2012, Oswell 2013, Eßer et al. 2016). Heinzel, Kränzl-Nagl und Mierendorff (2012, S. 15) monieren beispielsweise, dass das Konzept des Kindes als kompetenten Akteurs mehr in seiner Funktionalität für die erfolgreiche Konsolidierung des Forschungsfelds insgesamt betrachtet werden muss, als denn mit Blick auf seine konzeptionelle Stärke. Schließlich sei die Agency von Kindern immer mehr eine heuristische Annahme gewesen, als denn eine „wirklich ausgearbeitete Theorie”; wenngleich eine sehr fruchtbare, gemessen an den vielfältigen Forschungsarbeiten zur Perspektive von Kindern, ihrer Peer-Kultur und den generationalen Praktiken, in die sie aktiv involviert sind. Auch Alan Prout hat bereits 2005

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Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘

(S. 65) angemahnt, dass die „agency of children as actors is often glossed over, taken to be essential, virtually unmediated characteristic of humans that does not require much explanation”. Für David Oswell (2013) liegt einer der Gründe für diese ‚universalistische Totalisierung‘ kindlicher Agency explizit in der Einpassung der kindheitssoziologischen Agency-Perspektive in das Giddensche Struktur/Agency Modell. Denn dieses habe mit Blick auf die dichotome Theorieanlage dazu verführt, Agency vor allem als isolierte Kapazität einzelner Individuen im Verhältnis zu strukturellen Kontexten zu fassen (vgl. ebd., S. 50). Auch wird mit Blick auf die Dominanz von der Peerkultur-Forschung auf der einen Seite und der Herausarbeitung generationaler Macht- und Ordnungsverhältnisse auf der anderen Seite kritisiert, dass die Handlungsfähigkeit der Kinder hier lediglich in der Eigensinnigkeit von Kinderkulturen oder der repressionsbezogenen Gegenüberstellung von hegemonialer Macht und Widerstand herausgearbeitet wird (vgl. Bollig und Kelle 2016). Die Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht von Kindern würde dadurch nur dort sichtbar, wo sie sich als Gegenentwurf oder Widerstand gegen die Erwachsenenkultur zeigt (vgl. auch Bühler-Niederberger 2011). Im Kontext dieser eingeengten Perspektive würden die childhood studies jedoch nicht nur Gefahr laufen, ihre eigenen Grundprämissen nur eingeschränkt nachweisbar zu machen, auch käme es zu einer Essentialisierung kindlicher Agency, die es den childhood studies erschwere, an neuere Theorientwicklungen Anschluss zu halten und Konzepte zu entwickeln, die in der Lage sind, die „mobility, fluidity and complexity” (Prout 2005, S. 62) kindlicher Agency im Kontext sich rapide ändernder Gegenwartsgesellschaften angemessen in den Blick zu nehmen. Entsprechend finden sich im internationalen Feld der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung zunehmend mehr Arbeiten, die die Handlungsfähigkeit von Kindern nicht mehr a priori setzen, sondern sich mit der Frage beschäftigen, wie und warum Kinder ihre Agency manchmal ausüben, während sie das bei anderen Gelegenheiten nicht tun (Prout 2005). Um der Plastizität und Situativität kindlicher Handlungsfähigkeit und ihren komplexen hervorbringenden/ermöglichenden/einschränkenden Bedingungen gerecht zu werden, wird dabei u.a. vorgeschlagen zwischen thick und thin agency zu unterscheiden, ihren hochgradig ambiguen Charakter zwischen Vulnerabilität und Kompetenz (vgl. Tisdall und Punch 2012) herauszuarbeiten und sie entsprechend empirisch in einem Kontinuum von Komplizenschaft und Widerstand zu verorten (vgl. Bühler-Niederberger 2011, S. 207f.). Für Oswell (2013) wie auch Eßer (2016) verbleiben diese Fragen nach der partiellen Agency aber nach wie vor in einer „simple binary“ (Oswell 2013, S. 269) zwischen Struktur und Subjekt/Agency verhaftet und daher wenig geeignet die Handlungsfähigkeit von Kindern unter den Vorzeichen umfassender De-Institutionalisierungsprozesse, mediatisierter und sich multiplizierender Lebenswelten, unsicherer Zukunftsbezüge und immer komplexeren Positionierungs-

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kontexten zu erschließen. Um vor diesem Hintergrund die Agency von Kindern als konstitutionell instabil und fluide begreifbar zu machen, benötige es entsprechend Theorieangebote, die ihren Ausgang von einem, wie Nick Lee (2001, S. 211) formuliert, „involvement in multiple becomings“ nehmen (vgl. auch Hengst 2018). Hier setzen nun die neueren materialitätsorientierten Theorieangebote an. Die bisher genannten Kritiken an den älteren Thematisierungsweisen kindlicher Agency und die daran anschließenden Re-Formulierungsversuche haben nämlich alle gemeinsam, dass sie auf Theorienangebote zurückgreifen, die den so genannten new ontologies zugerechnet werden können (vgl. Spyrou 2019). Anders als in den ehemals stark sozialkonstruktivistisch und interaktionistisch ausgerichteten childhood studies (vgl. Oswell 2013) steht dabei das „complex interplay, networking and orchestration of different natural, discursive, collective and hybrid materials“ (Prout 2005, S. 81) im Vordergrund. Dieser Neubezug auf Fragen der Ontologie – „to being-ness and the ‚real‘“ (Spyrou 2019, S. 316) – hat jedoch weniger mit den alten Ontologien im Sinne einer Metaphysik des essentiellen Seins zu tun. „It is rather a more nuanced turn which seeks to retain the critical insights of the linguistic turn and of social constructionism but declares, at the same time, that we can no longer ignore (or downplay) matter and its contributing role in the production of our worlds“ (ebd.). Kennzeichnend für diese neuen Ontologien ist daher vor allem die Dezentrierung von human beings und die konsequente Einbettung menschlicher Handlungsfähigkeit in soziomateriale Actor-Networks, Assemblages oder PraktikenArrangements. Materie wird dabei nicht als „stumme Verfügungsmasse und einfaches Objekt menschlichen Zugriffs“ (Hoppe und Lemke 2015, S. 263) konzipiert, sondern ebenfalls mit Handlungsmacht ausgestattet. Dies führt nun nicht nur dazu, die einst privilegierte Position von Menschen als Sinnzentren sozialen Geschehens aufzulösen. Vielmehr kommt es mit Blick auf immer je konkrete soziomateriale Arrangements auch zur Auflösung eines starren Denkens von Strukturen zugunsten eines pluralen und multiplen Denkens von ehemals strukturell gedachten Erfahrungsqualitäten wie Raum, Zeit und Körperlichkeit und damit verbunden, auch einem fluiden, multiplen Verständnis von Subjektivität. Gefragt wird nicht mehr, wie sich Strukturen auf die Handlungsmacht einzelner auswirken, oder mit ihnen interagieren, sondern wie in relationalen Verschränkungen von ‚Sozialem‘ und ‚Materialien‘ bestimmte Sachverhalte überhaupt zu ‚matterings‘ werden – das heißt, überhaupt material von Belang werden und Bedeutung erlangen. Handlungsfähigkeit wird in solch einer Perspektive gar nicht mehr als in menschlichen Akteuren zentrierte, universale Eigenschaft gedacht. Vielmehr kommt es zwischen Menschen und Dinge zu einem prinzipiell offenen und unvorhersehbaren „dance of agency“ (Pickering 2010), in welchem sich die Akteurschaft je konkret zwischen humans und non-humans verteilt und relational ausbildet.

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Kinder, Agency und Materialität im Lichte der neueren ‚neuen Kindheitsforschung‘

Ich werde im Folgenden zwei solcher new ontologies kurz in ihrer Bedeutung für die Kindheitsforschung vorstellen. Dabei kommt es mir vor allem darauf an, diese mit Blick auf Agency und Materialität als idealtypisch unterscheidbare Konzepte dezentrierter Handlungsfähigkeit zu differenzieren. Der erste Typus führt entlang von praktiken- und netzwerktheoretischen Ansätzen zu einem partizipatorischen bzw. distributiven Verständnis von Agency, der zweite mit Blick auf posthumanistische Ansätze zu einem streng relationalen Verständnis von Agency als entanglement und becoming. Dabei geht es mir weniger darum, die Differenzen hier scharf auf einer theoretischen Ebene zu diskutieren; dafür sind die jeweils der ein oder anderen Thematisierungslinie zugeordneten Theorien auch in sich viel zu heterogen. Vielmehr geht es mir um die Bedeutung, die diese Formen Agency zu denken aktuell in der Kindheitsforschung entfalten. 3 3.1

Becomings2 – Partizipatorische und relationale Verständnisse von Agency und Materialität Distributorische und partizipatorische Verständnisse von Agency – ANT und Praxistheorien

Eine erste Neu-Thematisierung kindlicher Agency im Kontext des so genannten ‚material turn‘ ergibt sich aus dem was AndreasReckwitz‘ (2003) in seiner einflussreichen Synthetisierung unterschiedlicher Theorieansätze als Praxistheorien oder Theorien sozialer Praktiken zusammengefasst hat. Um zu verstehen, wie hier nun das Verhältnis von Agency und Materialität gedacht wird, ist zunächst hervorzuheben, dass sich praxistheoretische Ansätze insofern von interaktionistischen oder handlungstheoretischen Ansätzen unterscheiden, als unter Praktiken jene intelligiblen und in sich organisierten Sets von körperlichen Aktivitäten bestimmt werden, die Schatzki (2002, S. 64) als „temporally unfolded and spatially dispersed nexuses of bodily doings and sayings“ definiert. Material verortet sind diese Praktiken dabei ganz grundlegend schon mit Blick auf ihre körperliche performance. Als Praktiken realisieren sie sich allerdings erst in der Verkoppelung von körperlichen Einzelakten zu den genannten Zusammenhängen (nexuses), und zwar weil sich erst in dieser Verkettung der soziale Zusammenhang von Verhaltens- und Verstehensmustern materialisiert, in denen sozialer Sinn entsteht. Insofern sind für das ‚Funktionieren‘ von Praktiken zunächst einmal Menschen unerlässlich, da nur sie diese körperlichen (materiellen) wie mentalen Leistungen in Praktiken einzubringen vermögen. Warum die humans dann jedoch nicht als Sinnzentren von Praktiken definiert werden, wird gut an dem hier in Anspruch genommenen Verständnis des Mentalen deutlich. Die für die Ausführung von Praktiken notwendigen mentalen Vollzüge und Zustände, bspw. Motive, Interessen, Inten-

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tionen, werden nämlich nicht als vorstrukturierende Elemente von Praktiken gefasst, sondern manifestieren sich vielmehr erst im organisierten Vollzug der Verkoppelung von Einzelakten zu Praktiken. „Human agency“ ist daher, so Schatzki (2002, S. 240), „to be understood as something contained in practices (i.e., as the performance of doings and sayings that constitute the actions that compose practices)”, weswegen Shove, Pantzar und Watson (2012, S. 7, Herv. i. Org.) den Menschen auch nur die Rolle als „carriers or hosts of practices“ zuweisen. Das handelnde Subjekt wird insofern durch das Konzept der Teilnehmerschaft oder Partizipation an Praktiken ersetzt (vgl. Hirschauer 2004). Diese Konzeption von Teilnehmerschaft hat auch Konsequenzen für die Frage danach, wer in Praktiken wie als Handlungsträger fungieren kann – konkret, welche Rolle Objekte und andere Materialitäten für die Ausführung von Praktiken spielen. Hier zeigen sich große Unterschiede in einzelnen Praxistheorien, wenngleich alle eint, dass sie der Materialität von Praktiken eine große Rolle zuweisen, d. h. Objekte, Artefakte, Räume, etc. als untrennbar in den Vollzug von Praktiken eingeschlossen verstehen. Dabei ist es im Familienkreis der Praxistheorien die actor-network-theory (ANT) (vgl. Latour 1996), welche die wohl radikalste Perspektive auf das Verhältnis von Objekten und menschlichen Aktivitäten entwirft, indem sie das Handeln der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure symmetrisiert. Allen Teilnehmer*innen von Praktiken, also sowohl Menschen, Objekten, Räumen, wie auch Diskursen, werden hier nämlich gleichwertig als Handlungsträger modelliert, wobei deren Handlungsfähigkeit jedoch erst aus ihrem Vermögen erwächst, sich mit anderen Entitäten zu vermitteln. Entsprechend präferiert Latour (1996) mit Blick auf dieses radikal relationale Verständnis von Akteurschaft auch den Begriff des „actants“, wobei ein actant konsequent translatorisch gedacht ist: „An ‚actor‘ in AT is a semiotic definition -an actant-, that is, something that acts or to which activity is granted by others. It implies no special motivation of human individual actors, nor of humans in general. An actant can literally be anything provided it is granted to be the source of an action“ (ebd., S. 372). Diese mit Vermittlung angesprochene wechselseitige Übersetzung der einzelnen Aktanten ist jedoch nur möglich, weil die Aktanten des Netzwerks mit eigenen Handlungsprogrammen (scripts) ausgestattet sind, die sich im Prozess der Vermittlung transformieren und transformierend auf andere Aktanten einwirken. In der Konsequenz sind Netzwerke dann als die ausgesprochen heterogenen Ensembles von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten zu begreifen, die durch diese Prozesse der Vermittlung von Handlungsfähigkeit entstehen. Zwar trifft sich dieses Interesse an den fluiden Übersetzungsketten, in denen sich soziales Handeln als das Vermögen eines Ensembles von Akteuren lokal ausbildet und fortpflanzt, mit einem ‚flachen‘ Verständnis des Sozialen, das auch die weiteren Praxistheorien auszeichnet, allerdings weist Robert Schmidt (2012, S.

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69) der ANT entlang dieser Symmetrisierung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren doch eher eine Grenzposition innerhalb des Feldes der Praxistheorien zu. Entlang dieser Symmetrisierung könne die ANT Praktiken nämlich nur als „Verkettung von acts“ konzeptualisieren, wohingegen es für Praxistheorien gerade kennzeichnend sei, dass sie Praktiken als Konglomerate von Akten begreifen, in denen Sinn gebildet und artikuliert wird. Dies könne jedoch von Artefakten und Objekten nicht selbsttätig geleistet werden. Denn, so Schmidt weiter, Artefakte ermöglichen, beschränken und transformieren zwar Praktiken, machen ihre Akte jedoch nicht selbst für andere beobachtbar und intelligibel, d.h. sie „verleihen ihren acts nicht selbst accountability“ (ebd., S. 69, Herv. i. Orig.). Insofern ignoriere die ANT, dass Objekte nicht aus sich heraus, sondern immer nur im Zusammenspiel mit menschlichen Teilnehmer*innen dazu beitragen, das soziale Geschehen, an dem sie beteiligt sind, „als dieses und jenes soziale Geschehen zu identifizieren und damit sinnhaft zu verwirklichen“ (ebd.). Um jedoch die eigenständigen Leistungen, die Objekte zu Praktiken beitragen aufklären zu können, schlägt Hirschauer (2004) eine „partizipatorische Perspektive“ auf Praktiken vor, die weniger nach den Handlungsmotiven und -optionen der einzelnen Aktanten fragt, als nach den Beiträgen, die Praktiken von ihren unterschiedlichen Partizipanden verlangen und gewinnen – „von Körpern Fertigkeiten und Handlungen, von Dingen Passungen und Tauglichkeiten und von Personen die Mobilisierung von jeweils gefragtem Wissen und die Entwicklung von angemessenen Motiven und Emotionen“ (ebd.,S. 74). Schatzki (2002)wiederum unterscheidet analytisch zwischen Praktiken und materialen Arrangements und entfaltet deren Relationierung ordnungstheoretisch. Materialitäten seien dabei so zu denken, dass sie Praktiken in je spezifischer Weise ermöglich und begrenzen, aber “how artifacts (or the parts thereof) enable and constrain one another’s action depends not just on their physical properties, but also on the organization that human activity imposes on them“ (ebd., S. 98f.). Objekte und andere Materialitäten sind in dieser Perspektive also nicht selbst Akteure von Praktiken, sondern gehören zu den sozio-materialen Arrangements, die durch Praktiken hergestellt werden, welche dann aber wiederum auch die Ordnungen, Settings und Werkzeuge zur Verfügung stellen, um Praktiken auszuführen und zu kontextualisieren. Objekte und Praktiken sind somit empirisch untrennbar miteinander verwoben, auch wenn Objekte theoretisch nicht in gleicher Weise wie die menschlichen Akteure in Praktiken positioniert werden, sondern es vielmehr um das Zusammenspiel zwischen Praktiken und Objekten geht. Den menschlichen Partizipanden kommt in diesem Zusammenspiel daher auch trotz dieses Verständnisses einer verteilten, distrubierten Agency eine besondere Position zu. Nicht nur sind lediglich sie in der Lage sozialen Sinn zu verstehen, auch werden sie im soziomaterialen Vollzug von Praktiken spezifisch für

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Akteurspositionen ‚angefragt‘ und als Handlungssubjekte anerkannt – oder anders formuliert: subjektiviert (Alkemeyer und Buschmann 2016). Die Frage nach der Agency menschlicher Teilnehmer als Akteure ist daher eine empirische Frage, die in doppelter Weise auszuformulieren ist: zum einen als Frage danach, welche Fertigkeiten konkrete Praktiken-Arrangements-Bündel von ihren unterschiedlichen Partizipanden verlangen und gewinnen und, zum anderen, als Frage danach, wie die menschlichen Partizipanden in ihrer Teilnahme an Praktiken in spezifischer Weise zu handlungsmächtigen Akteuren dieser Praktiken werden. Dabei hat insbesondere Reckwitz (2003) darauf aufmerksam gemacht, dass deren Handlungsmacht auch aus der beständigen Krisenhaftigkeit entsteht, welche sich sowohl in als auch zwischen einzelnen Praktiken und Praktikenkomplexen zeigt. Dabei ist die (relative) Offenheit und Krisenhaftigkeit des Praxisvollzugs bereits grundlegend dadurch bedingt, dass menschliche Teilnehmer als Körper in Praktiken involviert sind und dadurch unweigerlich eine je bestimmte raum-zeitliche Position einnehmen. Dies verleiht ihnen eine nicht hintergehbare Perspektivität auf das Geschehen, wodurch sich der Vollzug von Praktiken aus der Sicht der menschlichen Teilnehmer als mehrheitlich unvorhersehbare Abfolge präsentiert, die je situierte Mobilisierungen von Wissen, Emotionen und Motiven sowie ein suchendes Navigieren und Antworten auf Handlungsanforderungen notwendig macht (vgl. Alkemeyer und Buschmann 2016). Neben dieser Positionalität der Teilnehmer innerhalb von Praktiken werden Konflikte und Unvorhersehbarkeiten aber auch dadurch evoziert, dass Praktiken nie isoliert vorkommen, sondern vielmehr permanente Verhältnisse des Verkoppelns, des Ineinanderübergehens und der Integration von verschiedenen Praktiken zu sich stetig verändernden Praktiken-Ensembles aufzufinden sind (vgl. Hui, Schatzki und Shove 2017). Menschliche Teilnehmer partizipieren als subjektivierte Akteure lebensgeschichtlich wie alltäglich an einer Vielzahl von Praktiken, die nicht nur unterschiedliche Akteurspositionen für ihre menschlichen Teilnehmer vorhalten, sondern in denen sie auch zur selben Zeit heterogene, und sich widersprechende Formen praktischen Wissens inkorporieren. Daher ist es neben der Multipositionalität der Vollzugskörper auch die Heterogenität und zum Teil Unvereinbarkeit der sich in den Praktiken manifestierenden praktischen Wissensformen, die ein immer schon in Praktiken angelegtes Potenzial für die Unberechenbarkeit des Verstehens und Verhaltens der Einzelnen als auch der Transformation von Praktiken birgt. Mit Reckwitz (2003) bedeutet dies, die „Handlungsmächtigkeit von Akteuren, Situationen zu verändern, als ein Potenzial zu verstehen, das nicht über eine vorpraktische Autonomie der Subjekte, sondern über die Kontextualität, die Zeitlichkeit und die Agonalität der Praktiken selbst begründet wird“ (ebd., S. 297). Für die Frage nach der Agency von Kindern lässt sich mit diesem distributorischen Verständnis von Praxistheorien zunächst festhalten, dass alle an Praxis

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Beteiligten, also auch Kinder, immer als Partizipanden der Praktiken und damit auch der Ordnungen, die diese herstellen, zu verstehen sind, ihre Akteurspositionen jedoch variabel in Praktiken kontextualisiert sind (vgl. Bollig und Kelle 2016). Dezentrierung meint hier entsprechend Akteurschaft als Eigenschaft von Praktiken (oder Netzwerken) und verteilt über unterschiedliche Träger zu verstehen und gleichzeitig in Rechnung stellen, dass Kinder (und andere menschliche Teilnehmer) durch die Teilhabe an Praktiken mit spezifischen Verständnissen von sich selbst als Akteuren/Subjekten ausgestattet sind – was insofern auch zu einer Multiplizierung von Akteurs- und Subjektpositionen führt. Für die Kindheitsforschung ist ein solch distributorisch und/oder partizipatorisches Verständnis von Agency bedeutsam, um diese als situiert in soziomaterialen Praxisgefügen in den Blick zu nehmen und zu fragen, welche Beiträge die Kinder in den Praktiken in denen sie involviert sind, insgesamt zur Aufrechterhaltung und Wandel sozialer Ordnungen einnehmen. Entgegen einer strukturellen Positionierung als Kinder gerät entsprechend in den Blick, welche Akteurspositionen sie als Kinder oder andere Teilnehmer*innen auch jenseits peerkultureller Sinnstiftungen und generationaler Ordnungen einnehmen (vgl. Bollig und Kelle 2016) und wie sie ihre multiplen Akteurspositionen und Zugehörigkeiten gerade auch im Aufeinandertreffen und den Übergängen von Praktikenkomplexen – beispielsweise zwischen dem Zuhause und der Vorschule – mitgestalten (Bollig 2018). Dies eröffnet auch neue Perspektiven auf Lernen und Entwicklung, so wie es Alkemeyer und Buschmann (2016) mit dem Begriffspaar „Subjektivierung und Selbst- Bildung“ vorschlagen. Ersterer fokussiere stärker darauf, wie Praktiken sich mit den Beiträgen ihrer Teilnehmer entfalten, stabilisieren und wandeln, während der zweite auf den menschlichen Akteur scharf stelle. Der doppelte Fokus auf Subjektivierung/Selbst-Bildung ließe entsprechend danach fragen wie „soziale Ordnungen von ihren Teilnehmern fortlaufend erzeugt und aufrecht erhalten werden und wie die Teilnehmer im selben Prozess Befähigungen des (praktischen) Erkennens, Deutens und Beurteilens sowie eine Bedeutung oder Identität erlangen, die ihnen verschiedene Formen und Modi der (engagierten) Teilnahme ermöglichen“ (ebd., S. 129). Das Materielle ist dabei untrennbar in diese sozialen Zusammenhänge eingefügt und somit auch an den jeweiligen Produktionen von Akteurs- und Subjektpositionen beteiligt, die bestimmte Praktiken erst ermöglichen und mit ihnen koagieren. Allerdings werden in diesen theoretischen Ansätzen humans und non-humans immer noch als heterogene Partizipanden von Praktiken konzipiert und auch mit unterschiedlichen Potentialen für die Übernahme von agentiellen Positionen bedacht. Anders ist dies bei den Ansätzen, die davon ausgehen, dass diese Trennung so nicht weiter aufrechterhalten werden kann. Derart radikal werden materialitätsorientierte Ontologien zur Zeit vor allem im Feld des „new materialism“

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oder der „posthumanistischen“ Ansätze formuliert, wobei Latours ANT quasi als Scharnierstelle gelten kann. 3.2

Radikal relationale Verständnisse von Agency, entanglements und becomings – Posthumanistische Ansätze und new materialsm

Unter posthumanistischen Ansätzen und new materialism ist ein gleichermaßen heterogenes Wissenschaftsfeld umrissen, wobei neben den Arbeiten von beispielsweise Deleuze und Guattari gegenwärtig sicher Karen Barads Ansatz des agentiellen Realismus als besonders einflussreich gelten kann – auch im Feld der Kindheitsforschung (vgl. Balzer und Huf 2019). Barads (2007) agentieller Realismus zielt dabei nicht nur darauf ab, die Beziehungen zwischen Menschen und NichtMenschen und von Subjektivität und Handlungsfähigkeit neu zu überdenken, sondern auch die Annahme einer grundlegenden Kausalität (vgl. Hoppe und Lemke 2016). Die auf Bohrs Epistemiologie aufbauende Kernanahme von Barad (2017) stellt daher die grundlegende ontologische Unbestimmtheit und Untrennbarkeit von Materie, Menschen, Diskursen, Sozialem etc. dar, weswegen sie ihr Denken selbst auch als posthumanistisch ausweist, denn: „Posthumanism doesn’t presume the seperatedness of any-‘thing’“ (ebd, S. 136). Ausgehend davon interessiert sich Barad sodann insbesondere für die Trennungen und Unterscheidungen, die unterschiedliche Materien sowie humans und non-humans als in Phänomenen getrennte Entitäten hervorbringen. In konsequent relationaler Perspektive geht es ihr entsprechend um die Prozesse der Materialisierung selbst, wobei „mattering“ für Barad vor allem als „differentiating“ zu begreifen ist, als Grenzziehungs- und Unterscheidungsprozesse („agential cuts“), welche sich in den von ihr so genannten „intraactions“ gestalten. Den Neologismus Intra-actions führt Barad ein, um im der Gegenübersetzung zur Interaktion deutlich zu kennzeichnen, dass die an einer Handlung beteiligten „agencies“ vor ihrem Aktivwerden noch gar nicht als unabhängige, klar voneinander abgegrenzte Einheiten unterscheidbar sind. Stattdessen konstituieren sich diese relational erst im Tun, beispielsweise als Objekte oder Subjekte. Alle Entitäten treten in diesem Denken ausschließlich relational zutage, ko-konstituieren ‚sich‘ in materiell-diskursiven Praktiken und die fortwährende Intra-Aktivität verschiedener „agencies“ (Barad 2007, S. 333). Materie wird insofern nicht nur nicht als passive, sondern vor allem nicht als einfach gegebene, klar umgrenzte Substanz begriffen, sondern als „geronnenes Tätigsein“ (Barad 2012, S. 98) in seiner dynamischen, pluralen und wirkmächtigen Materialisierung. Analog sind auch Menschen ebenso als Phänomene zu begreifen „which come to matter“ in Intra-Aktionen, wenngleich eine der gravierenden Differenzen zu den Praxistheorien daran

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besteht, dass diese Intra-Aktionen nicht zwingend darauf angewiesen sind, dass auch Menschen an ihnen beteiligt, mit ihnen verwoben sind. Wird in Praxistheorien und auch in Latours ANT Agency als Eigenschaft von Praktiken oder Netzwerken verstanden, die in unterschiedlicher Weise auf die heterogenen Teilnehmer verteilt ist und übertragen werden kann, so wird dies bei Barad dergestalt radikalisiert, dass Agency gar nicht mehr als Eigenschaft zu verstehen ist, sondern nur noch als Tun, als wirkmächtige Praxis, durch die Phänomene und die darin sich materialisierenden Beteiligten ganz grundlegend erst entstehen. Nicht nur Agency sondern auch „existence“, ist für Barad (2007, S. ix) daher „not an individual affair. Individuals do not pre-exist their interactions; rather, individuals emerge through and as part of their entangled intra-relating“. Mit Blick auf die Praxis des Kleidens beispielsweise, gehe es dann nicht mehr um das Zusammentreffen und sich-einander-Ordnen von Mensch und Kleid. Vielmehr, so Martach (2018), werde im Kleiden als Intra-Aktion der Mensch zum Menschen und das Kleid zum Kleid, so dass ontologisch weder vom Menschen noch vom Kleid gesprochen werden könne, sondern allein vom Kleiden selbst bzw. dem Kleid-im-Kleiden und dem Mensch-im-Kleiden. Intra-Aktivität kennzeichne insofern, wie Barad (2007, S. 33) selbst formuliert, „the mutual constitution of entangled agencies“. Insofern bei Barad das entanglement, die eigene Verwobenheit mit dem Werden der Welt (und umgekehrt), im Vordergrund steht, werfen die von ihr hervorgehobenen epistemo-ontologischen Prozesse auch genuin ethische Fragen auf, die sie als „ethics of mattering“ thematisiert. Die Frage danach, was sich wie in IntraAktionen zu materialisieren vermag, ist schließlich auch untrennbar mit der Frage verbunden, was von diesen Materialisierungen ausgeschlossen bleibt („is excluded from mattering“; ebd., S. 184). Dies impliziert insbesondere für die in dieses entanglement eingeschlossenen menschlichen becomings eine notwendige Reflexion auf Verantwortung zwischen humans und non-humans, wobei diese Verantwortungsbeziehungen für Barad auch deshalb über Beziehungen zwischen Menschen hinaus reichen, da dasjenige, was als menschlich bzw. nicht-menschlich gilt, selbst einem dauernden Prozess der Neukonstitution und Neubewertung unterliegt (vgl. Hoppe und Lemke 2016). Gerade in dieser Verbindung von radikal relationaler Ontologie und Ethik liegt sicherlich auch die Attraktivität von Barads Arbeiten und ihre hohe Anschlussfähigkeit für die posthumanistische Kritik am Anthropozän und die damit verknüpfte Verantwortung gegenüber der Welt und ihren matterings. Und dies mag auch einer der Gründe sein, warum Barads Überlegungen auch in der Kindheitsforschung vielfältig aufgegriffen werden, unter anderem von Spyrus Spyrou (2018, 2019), Affrica Taylor, Veronika Pacinni-Ketchabaw und Mindy Blaise (2012), sowie von Hilavi Lenz-Taguchi (2010) mit Blick auf die

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Frühpädagogik. Dabei legt Spyrou (2018) einen Entwurf vor, der Barads relationale Ontologie für eine Neubestimmung der childhood studies insgesamt fruchtbar machen möchte. Ausgehend von der Kritik an der Kindzentrierung der älteren childhood studies und der universalistischen Figur des ‚agentic childs‘ plädiert er dafür, insbesondere Barads Konzept der entanglements zu nutzen, um das ‚becoming child’ in seinen „relational encounters with other entities“ (ebd., S. 130) in den Vordergrund zu rücken. Diese Dezentrierung erlaube es, den Fokus auf die Akteurschaft des Kindes um ethische, politische, soziale und materielle Fragen des In-der-Welt-Seins zu erweitern und insofern auch die Unordentlichkeit (messiness) und die Komplexitat der ‚Welt‘ von Kindern, oder besser gesagt, der Kinderin-der-Welt in den Blick zu nehmen. Wie dies gelingen kann zeigen aktuelle Studien zu den more-than-human worlds von Kindern mit Blick auf ihr entanglement mit Schneehaufen (vgl. Rautio und Jokinen 2015) oder Tieren (vgl. Bone und Blaise 2015) auf. Auch werden mit Bezug auf Räume und Dinge der Kindheit die entangled caring relations herausgearbeitet, in denen die emergierende Fähigkeit zu sorgen, nicht mehr einseitig bei den human becomings verortet wird (vgl. Aslanina 2017). Hohti et al. (2019) arbeiten mit Blick auf Smartphone-Schüler-Schuleentanglements die „complex ways in which humans and technologies co-evolve and co-constitute each other in a material and relational dynamic“ (ebd., S. 89) heraus. Sie zeigen in ihrer ethnographischen Studie nicht nur auf, wie und in welch multipler Weise mit dem Smartphone als „companion“ (in Anlehnung an Donna Harraway) Körper erweitert, Handlungsfähigkeiten erworben und sich vervielfältigende Zeit- und Raumkonfigurationen materialisiert werden. Auch stellen sie mit Blick auf die Affekte, die sich in diesen entlangements ausbilden, heraus, dass es nicht nur die Kinder sind, die Smartphones nutzen, sondern umgekehrt auch die Smartphones die Kinder. Diese führe zu „shifting positions in power“ in den smartphone-child-school entanglements: „generating other kinds of non-individualistic affects than addiction only. Whether as dance partners or things to take a leap with, smartphones as educational companions are always partly unpredictable“ (ebd., S. 92). Diese posthumanistischen Forschungsbemühungen sind dabei auch mit Bestrebungen verknüpft, neue Formate der Präsentation dieses entanglements zu entwickeln, die jenseits der Linearität von Sprache angesiedelt sind. So entwickeln beispielsweise Osgood et al. (2015) eine Darstellungsform von sich transparent ineinander verschiebenden Bildern und Photographien um entanglements sichtbar zu machen; auch werden weitere methodische Anregungen der sogenannten postqualitativen Forschung aufgegriffen (vgl. St Pierre 2016).

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So what? Ein kurzes Fazit

Beide hier vorgestellten Ansätze zur Neu-Konzipierung der Agency von Kindern – die distributorische oder partizipatorische Agency der neueren Praxistheorien und das relational becoming der posthumanistischen Ansätze – eignen sich gut, um die von Prout (2005, S. 62) eingeforderte Beachtung der „mobility, fluidity and complexity” kindlicher Agency heraus zu arbeiten. Insofern verwundert es auch nicht, dass mit Blick auf vorliegende Forschungsarbeiten, die Differenzen zwischen beiden Ansätzen nicht immer deutlich ins Gewicht fallen. Als flache Ontologien sind schließlich beide Ansätze vor allem auch mit Fragen des Wandels, der Vielfalt und fluiden Verschränkungen beschäftigt, wenngleich der Posthumanismus der Unordentlichkeit (messiness) von fortwährend sich neu konstituierenden becomings eine höhere Bedeutung zuweist. Beide Perspektiven eint zudem, kindliche Agency nicht als Eigenschaft von Individuen, sondern von Praktiken, Netzwerken, Assemblages oder entanglements zu konzipieren. Hinzu kommt, dass bei einigen Forschungsarbeiten die analytische Radikalisierung des relationalen Blicks von posthumanistischen gegenüber praxistheoretischen Perspektivierungen eher postuliert als wirklich eingelöst zu werden scheint. Worin allerdings ein gewichtiger Unterschied liegt, ist die Theoretisierung die aus solchen Analysen erfolgt. Hier bleiben mit der praxistheoretischen Reformulierung von Agency die Anfänge der childhood studies als neue Soziologie der Kindheit weitaus stärker präsent, insofern Praxistheorien ja explizit nach sozialer Ordnung fragen. Posthumanistische Kindheitsforschung bewegt sich demgegenüber mit ihrem Interesse an den matters of childhood stärker hin zu einer Philosophie der Kindheit, wie auch Balzer und Huf (2019) anmerken. Zudem muss konstatiert werden, dass sich auffallend viele posthumanistischen Forschungsarbeiten in der Kindheitsforschung im Bereich der frühen Kindheit finden und dort eng mit pädagogischen Fragen einer neuen common-world-pedagogy verknüpft werden (bspw. Taylor und Paccini-Ketchabaw 2015). Dies hat selbstverständlich immer auch mit Entwicklungspfaden und Personen zu tun, wirft aber mit der starken Zentrierung auf Mensch-Tier- und Mensch-Natur-entanglements und dem damit verknüpften „interspecies learning“ (ebd., S.2). doch auch die Frage auf, ob hier nicht auch tradierte Konzepte der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit von Kleinkindern unter der Hand wirksam werden. Für die Kindheitsforschung ist der in posthumanistischen Arbeiten eingeforderte Blick auf die multiple and relational becomings von Kindern und Kindheit aber dennoch als hochgradig produktiv zu bewerten. Und dies auch deshalb, weil er es erlaubt, eine zeitdiagnostische mit einer ontologischen Perspektive auf Kindheiten konsistent miteinander zu verknüpfen, wie man gut bei Nick Lee (2001) sehen kann. Er arbeitet in Anlehnung an den new materialism nämlich heraus, wie

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sich gerade im Kontext unsicher gewordener Zukünfte, bedrohlicher Naturszenarien sowie mediatisierten und sich vervielfältigenden Lebenswelten auf der einen und der zunehmend rechtsbasierten, subjektorientierten sozialen Positionierung von Kindern auf der anderen, die Demarkationslinien zwischen Kindern und Erwachsenen verflüssigen. Becoming, das Werden, kann in diesem Kontext in seiner lebenslaufregulierenden Funktion nicht mehr als ein exklusives Merkmal von Kindern konzipiert werden, sondern kennzeichnet das Leben aller Menschen zu gleich welcher individuellen Lebenszeit. Menschliche Existenzen bauen unter diesen Vorzeichen auf einer Gleichzeitig von being und becoming auf, die sich in je unterschiedlichen entanglements lediglich je anders materialisiert (in stärker sozialtheoretischer Perspektive auch Oswell 2013). In diesem Sinne spricht auch Heinz Hengst (2018) von differentieller Zeitgenossenschaft und „multiplem Werden“ als Kernkategorien der Kindheitsforschung. Zum anderen lassen sich diese offenen und multiplen Prozesse der Subjektkonstitution (als beings and becomings) mit materialitätsorientierten Zugängen gut an ein Verständnis von Subjektivierierung und Handlungsfähigkeit zurückbinden, dass die vielfältigen und je konkreten Konstitutionsprozesse menschlicher Agency als ein permanentes Entstehen zwischen Sozialem und Materiellem versteht. Für die Kindheitsforschung eröffnet der Bezug auf diese new ontologies entsprechend eine „new world of research inquiry which considers, in addition to the human, the multitude of nonhuman forces which intra-act with and constitute what we come to see and recognise as ‘children’ and ‘childhood’“ (Spyrou 2018, S. 318). Und dies beginnnt, wie Spyrou (2018, S. 15ff.) herausstellt, mit der wohl größten Herausforderung für die Kindheitsforschung: einem „decentering of the child in childhood studies“. Literatur Alkemeyer, Thomas und N. Buschmann. 2016. Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis. In Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, hrsg. von Hilmar Schäfer, 115-136. Bielefeld: transcript. Andrew, Pickering. 2010. Material Culture and the Dance of Agency. In The Oxford Handbook of Material Culture Studies, hrsg. von Dan Hicks und Mary C. Beaudry, 191-208. Oxford: Oxford University Press. Aslanina, Teresa. 2017. Ready or not, here they come! Care as a material and organizational practice in ECEC for children under two. Global studies of childhood 7: 323-334. Balzer, Nicole und C. Huf. 2019. Kindheitsforschung und ›Neuer Materialismus‹. In Handbuch Philosophie der Kindheit, hrsg. von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger, 50-58. Berlin: J.B. Metzler.

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1

Einleitung: Digitales vs. Analoges?

Das Smartphone ist ein Ding, das im Alltag von Familien vielfältig relevant wird und für Kinder eine enorme Gegenwärtigkeit besitzt (vgl. z. B. Bitkom 2019, S. 12). Im Kontrast dazu scheinen Kindertagesstätten und der schulische Unterricht noch vergleichsweise weit davon entfernt, das Smartphone zum Teil ihrer sozialen Alltagsordnung werden zu lassen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 50f., 2015, S. 29). Diese mediale Kluft zwischen kindlichem Vor- und Nachmittag wird vielfach diskutiert und als „new digital divide“ problematisiert (vgl. z. B. Buckingham 2007). Analoge und digitale Medien werden in diesem Zuge auseinanderdividiert und mit Blick auf ihre jeweiligen Verbreitungen und Nutzungsquantitäten verglichen. Die mediale Spaltung wird in diesem Zuge zudem dadurch markiert, dass das Analoge und das Digitale hinsichtlich der vermeintlich je spezifischen Eigenschaften (Potenziale, Risiken, Grenzen usw.) befragt sowie gegenübergestellt werden. Dabei werden die Medien nicht selten pädagogisch auf verschiedenen normativen Stufen verortet. Exemplarisch und klassisch hierfür ist die Laudatio, die von Hentig auf die unterrichtliche Tafel hält – in seinem Buch: „Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit – Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien“ (Hentig 1984). In Buchtitel und Position spiegelt sich die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärerfahrungen (vgl. z. B. Gehlen 1983, S. 12), mit der in pädagogischen Debatten regelmäßig Auf- und Abwertungen einhergehen (vgl. z. B. Mattern 1999, S. 119). Während Primärerfahrungen mit haptischen, „echten“ Objekten der „Wirklichkeit“ gemacht würden, entstammten Sekundärerfahrungen aus den zunehmend digitalisierten (Massen-)Medien, denen die Ermöglichung sinnlicher und wertvoller Wirklichkeitserfahrungen abgesprochen wird (vgl. z. B. Spitzer 2005, S. 2). Die digitalen Medien erscheinen aus dieser Warte als weniger wertig, als Hindernis oder gar als Bedrohung für Erziehung, Lernen, Bildung oder Entwicklung – „Vorsicht Bildschirm!“ (Spitzer 2005). Demgegenüber findet sich die Position, dass die Digitalisierung der Schlüssel zur gesellschaftlichen Zukunft und zur Verbesserung des Lehrens und Lernens sei. Die „technischen Fortentwicklungen“ wurden schon sehr früh als Ansätze für „eine Revolution unseres traditionellen Unterrichtsbetriebes“ (Heimann 1965, S. 7) gesehen, denn unzweifelhaft sei, „dass die Neuen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_3

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Medien nicht nur erhebliche Rückwirkungen auf Lernen und Lehren, sondern auch auf die Erziehungs- und Bildungsaufgabe der Schule sowie generell auf alle gesellschaftlichen Bereiche pädagogischen Handelns haben.“ (Stadtfeld 2011, S. 69) Die Diskussion über die Kluft polarisiert demnach deutlich. Doch so unterschiedlich die Standpunkte auch sind, finden sich in beiden Positionen auch frappierende Gemeinsamkeiten: Die tradiert-analogen Dinge wie Wandtafel, haptische Lehr-, Arbeits- und Lernmittel werden zumeist als neutrale Werkzeuge, Instrumente und Zweckmittel des Lernens verstanden, die (je nach Sichtweise) profan oder authentische sind und einen „dienenden Charakter“ (Oelkers 2010, S. 20) für die Menschen haben sollen, die sie benutzen. Demgegenüber werden die digitalen Medien bei ihrer Dämonisierung ebenso wie bei ihrer Glorifizierung hinsichtlich ihrer wirkmächtigen Folgen diskutiert. Man müsse ernstlich prüfen „was für eine neue Welt uns die Medien bescheren, und dann entscheiden ob wir unsere Kinder dem unterwerfen oder sie abhärten oder sie davon befreien.“ (Hentig 1999, S. 155) Trotz ihrer vermeintlichen Unwirklichkeit wird die Frage gestellt: Was macht das Smartphone mit unseren Kindern? Was macht das interaktive Whiteboard mit unserem Unterricht oder gar der Welt? Mit der Gegenüberstellung von neutralen (analogen) Werkzeugen und wirkmächtigen (digitalen) Revolutionären pendeln die Blicke von der einen zur anderen Seite der Kluft vielfach zwischen technikanthropologischen und technikdeterministischen Betrachtungsweisen. Zudem wird deutlich, dass sich die skizzierten Diskurse der Analog-Digital-Differenz nicht um abzählbare oder kontinuierliche Signalverläufe drehen. Die pädagogische Verhandlung darüber, was das Digitale und was das Analoge ausmacht, scheint vielmehr einen starken – wenn auch zumeist impliziten – Bezug zur Agency der Medien zu haben: Das Maß der vermeintlichen Handlungsmacht trennt die altgedienten Lehrmittel von den umwälzenden IT-Geräten. Dem lässt sich, mit Blick auf die vielen kleinen, alltäglichen und taktilen Dinge unserer Welt, Latours Postulat entgegenhalten: „Objects too have agency“ (Latour 2005, 63ff.). Entgegen dieser prominenten Mediendualität gehe ich mit dem vorliegenden Beitrag davon aus, dass die Frage, was z. B. Smartphones grundsätzlich von Büchern unterscheidet, schwieriger zu beantworten ist als es zunächst scheint: Mit beiden lassen sich Informationen ermitteln, mit beiden lassen sich kommunikativ Diskurse austragen usw. Ähnliches gilt für einen Gänsekiel im Vergleich zum Smartpen und ein Interaktives Whiteboard kann für Schüler*innen heute genauso neu sein wie eine Wachstafel etc. Möglicherweise sind die Medien nicht immer gleich schnell, stabil oder faszinierend – auch wenn sich mit Blick auf die hier bemühten Beispiele Schnelligkeit, Stabilität und Faszination durchaus nicht immer klar auf Seiten eines der angeführten Medien in Kinderhänden zuordnen lassen dürften. Dadurch, dass Medien in diesem Beitrag nicht voranstellend Grundsatzunterschiede zugeschrieben werden, wird eine Perspektive vorgeschlagen, die

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gewollt irritiert: Die leitenden Fragen des Tagungsbands „Digitale Kindheiten“, die sich um Medien, Informationstechnologie und Agency sowie die zugehörigen Transformationsleistungen und Lernprozesse drehen, bearbeite ich nicht mit einer Zuwendung zum Smartphone, sondern mit Blick auf Medien, die gemeinhin auf der oppositionellen Seite der vermeintlichen Kluft positioniert sind: Ich fokussiere tradierte Unterrichtsmaterialien, die vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Diskurse als eindeutig analog gelten würden. An diesen Materialien entfaltet sich die Analyse, mit der die als prominent gesetzte Unterscheidung zwischen dem Digitalen und dem Analogen empirisch hinterfragt wird. Mit dieser angestrebten Irritation der Analog-Digital-Polarisierung wird selbstredend nicht bestritten, dass sich z. B. in der Nachrichtentechnik digitale und analoge Signale nutzbringend und definitorisch voneinander abgrenzen lassen – eine bedeutungsvolle Differenz für pädagogische Diskurse und Praktiken folgt hieraus jedoch nicht zwingend. Mir geht es um die empirische Frage, wie die Differenz zwischen dem Digitalen und Analogen für pädagogische Handlungsfelder sinnstiftend be- und verhandelt wird. Ähnlich wie Hirschauer mit „Un/doing Differences“ (2014) nach den Praktiken der Humandifferenzierung fragt, interessiere ich mich für die Praktiken der Medialdifferenzierung: „Welche Differenz ist wann (ir)relevant?“ (Hirschauer 2014, S. 173) Wie wird die Unterscheidung zwischen Analog und Digital gemacht oder auch nicht gemacht? Dieses Machen verstehe ich praxeologisch (als ein doing digital)1 aber auch in einem ganz umgangssprachlichen Sinne: Noch vor der Gebrauchssituation stehen die Situationen der Entwicklung von Technik, noch bevor sie in den Unterricht gelangt, wird sie z. B. in der „Bildungswirtschaft“ hergestellt. Als ökonomisches Produkt wird Technik in diesem, der Schule vorgelagertem Feld, verhandelt und geformt. In derlei Entwicklungssituationen wird z. B. „in the making“ beobachtbar, wie die Entwickler*innen gestaltend eine intentionale Aufladung der Dinge vorzunehmen versuchen, die für ihre spätere Agency als relevant betrachtet werden kann (vgl. Latour 1991, S. 104ff.). Dem umrissenen Erkenntnisinteresse gehe ich exemplarisch mit der ethnographischen Erforschung der Entstehung gewerblich entwickelter Experimentierkoffer nach. Diese Koffer stehen prototypisch für althergebrachte Unterrichtsmaterialität und sind ein prominentes Beispiel für die vorfindbaren Dinge in Kindertagesstätten und Grundschulen. Nachdem in einem ersten Schritt das methodische Vorgehen und die methodologische Verortung der Forschung beschrieben wird, werden diese Koffer vorgestellt und charakterisiert (2.). Der darauffolgende Abschnitt (3.) bildet den Kern des Beitrags, indem er dichte Beschreibungen gruppiert, die die Praxis der Entwickler*innen analysieren. Das hierbei aufgezeigte, verhandelnde Anlegen von Agency mündet (4.) in einer Bilanzierung, die die 1

Mit „Undoing the digital“ betiteln auch Burnett und Merchant (2020) ihr zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht erschienenes Buch zu „Sociomaterialism and literacy education“.

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normative Herstellung von Digital-Analog-Abgrenzungen vor dem Hintergrund empirischer Analysen befragt. 2

Forschungsfeld und -vorgehen

Mit Blick auf die dargelegten praxeologischen Fragen, ist die zugehörige Forschung ethnographisch ausgerichtet. Methodologisch zentral ist die reflexive Präsenz im Feld, aus der über Feldnotizen (vgl. Emerson et al. 1995) letztlich „dichte Beschreibungen“ (Geertz 1983) von Alltag hervorgehen, die Erfahrungen mobilisieren (vgl. Amann und Hirschauer 1997, S. 30). Diese Beschreibungen wurden mit Bezug zur Grounded Theory analytisch systematisiert. Neben dem grundsätzlichen Postulat einer theoriegenerierenden Empirie (vgl. Strauss 1994, S. 70), war das Zirkulieren von Schreibtisch- und Feldphasen ein bedeutendes Element für die Arbeit. Diese Forschungsstrategie baut darauf, dass durch erste Analysen relevant erscheinende Fragen und Phänomene entdeckt werden, die dann wiederum spezifischere und fokussiertere Beobachtungen ermöglichen. Bei der Suche nach Gegenüberstellungen, Varianten und Kontrasten hat dieses „theoretical sampling“ eine große Relevanz für die (Wieder-)Entdeckung und das ausdifferenzierende Anpassen von Kategorien. Auf diese Weise entwickelte sich ein kategoriales Netz zu den Praktiken der Akteure und Akteurinnen im Feld (vgl. Strauss 1994, S. 66), mit dem sich der Geertz’schen Fragen genähert werden kann, „what the hell is going on here?“. Bei dem gewählten Forschungsfeld handelt es sich um ein Unternehmen aus der Bildungswirtschaft bzw. der „Lehr- und Lernmittelindustrie“, in dem Experimentierkoffer entwickelt werden. Derlei Koffer sind Materialsammlungen, die als Vermittler zwischen Kinder und Naturwissenschaften geschaltet werden sollen. Die verschiedenen Koffer – oder auch „Boxen“ – des Herstellers bilden eine Produktreihe, innerhalb derer sich unterschiedliche Themenblöcke finden. In den Koffern selbst findet sich eine Sammlung von verschiedensten Einzelteilen. Diese sind zum Teil sehr alltäglich (z. B. Steine, portionierte Materialproben, Gummiringe, Schnüre, Büroklammern, Wasserschalen), teils didaktisch aufbereitet (z. B. rechteckig geschnittene Holzplättchen), teils mit fach- respektive naturwissenschaftlichem Hintergrund (z. B. Thermometer mit verschiedenen Skalen, Saughebelhaken, Erlenmeyerkolben), teils sind sie speziell für den Koffer und damit für den Unterricht entwickelt (z. B. Messgeräte mit weggelassenen Skalierungen und Maßeinheiten zum selbst Nachtragen, eigene Periskope, Halterungen und multifunktionale Ständer). Die Koffer kommen zusammen mit zugehörigen Kopiervorlagen für Schüler*innen und schriftlichen Handreichungen für Lehrer*innen zum Einsatz. Bilanziert man das Erscheinungsbild der Koffer, ihrer taktilen Materialien und handfesten Gebrauchsweisen, so scheint sich bilanzieren zu lassen: Viel „ech-

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ter“, „primärer“ und „analoger“ scheint es kaum zu gehen. Interessanterweise findet sich im Feld jedoch eine zentrale Metapher, die zur Charakterisierung des Materials genutzt wird und die nicht zu diesem Material mit seinen Eigenschaften zu passen scheint. Die Rede ist von den Begriffen „Hard- und Software“, die ich zunächst als in-vivo-codes vorstelle. 3

Der Betrieb von Hard- und Software

Der Entwickler Herr Hansmann, der seit Jahrzenten die Gestaltung der Koffer mitprägt, betonte mir gegenüber oft, dass sich das alte Unterrichtsmaterial zwar über lange Zeit nicht verändert habe, wohl aber haben sich die verbundenen Methoden und die dahinterstehende Didaktik gewandelt. Das, was man mit dem Material tue, sei auf dem aktuellen Stand der Zeit und entsprechend gut. Um dies weiter verständlich zu machen nutzt Herr Hansmann im Folgenden die Begriffe der „Hardund Software“. Mit den beiden Termini der Informationstechnologie wird eine Analogie zum Experimentierkoffer als Medienbündel gezogen, das aus taktilen Dingen und gedruckten Heften besteht. Mit der „Hardware“ sind Erstere gemeint: Herr Hansmann führt aus: „Die Hardware als solche äh (.) ist genau das, was man braucht, um den Unterricht zu machen. Und we- es is immer nur die Frage, welche Didaktik man drauf [x].“ Herr Peine macht ein verstehend-zustimmendes „Jajajaaaah, genau.“, mit dem signalisiert wird, dass er den springenden Punkt hier sieht, und auch ich vervollständige den Satz gedanklich: Es ginge um die Frage, welche Didaktik man „draufspielt“ bzw. „darauf laufen lässt“. Herr Hansmann geht daraufhin auf die andere Komponente der Koffer ein: die Kopiervorlagen bzw. Stationskarten. „Was die Stationskarten angehen, das ist die Software, die verMUTlich (.) in den nächsten fünf Jahren kippt, (.) ne?“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 317–332, 00:16:28–00:17:10)

Die mit Einzelteilen gefüllten Boxen seien demnach wie ein Computer, dessen Hardwarekomponenten unverändert ein Ensemble, einen Aufbau, bilden, auf dem aber unterschiedliche Programme in verschiedensten Versionen laufen können (vgl. auch Lange 2017, 135ff.). Als „Software“ werden hier die den Koffern beiliegenden Hefte und Kopiervorlagen bezeichnet. Diese „Software“ gilt es, in wiederkehrenden Zyklen umzuschreiben, zu aktualisieren, zu updaten, da didaktische Leitmaximen der Schule regelmäßig wechseln bzw. „kippen“. Herr Hansmann meint zu mir gewandt: „… es gibt in der Pädagogik/Didaktik alle 15 Jahren einen Wandel in den Modellen […] und das Modell hier – ‚Lernen an Stationen‘ […] – haben wir 2000 auf den Markt gebracht.“ Bald würde also wieder ein Update notwendig werden, doch „dabei bleibt die Hardware die Hardware“, sagt er. (didacta 2013 in Köln, 21.02.2013)

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Mit dem „Lernen an Stationen“ – im Feld häufig auch „Stationsbetrieb“ genannt – ist das derzeitige Betriebssystem des Koffers benannt. Ein entscheidendes Merkmal dieser „Software“ ist die Adressierung der didaktischen Maxime, dass eigenaktives Experimentieren von Schüler*innen in Kleingruppen anzustreben ist. Alle Schüler*innen der Klasse sollen gleichzeitig mit dem Koffer an verschiedenen Aufgaben arbeiten können – es ist ein Multiuser-, Multitasking-System. Dieser Aktivitätsanspruch wird im Folgenden in seiner Verwicklung aus „Hardware“, „Software“ und „User“ analytisch zentriert. 3.1

Aktivitätsanspruch „Wir sind jetzt also bei einem ganz entscheidenden Punkt“, bilanziert Herr Hansmann und fährt fort: „Ähm wenn man dieses Angebot im Rahmen von SCHUle macht, […] dann äh muss man immer dafür sorgen, dass die Kinder sich nicht nur über den Effekt freuen, […] sondern, dass sie nun irgendetwas damit TUN. Sie [die Kinder] müssen etwas machen.“ (Meeting 1B, 1. Dokumentenseite, § 1436–1448, 00:54:46–00:55:58)

Kinder sollen im Stationsbetrieb aktiv sein, so der Anspruch der Entwickler*innen. Das Handeln dürfe jedoch nicht beliebig sein, da es im Rahmen eines schulischen Formats angelegt wird. Diese Herstellung der Selbstbetätigung wird z. B. mit Aufgaben betrieben. Die Entwickler treten als Task-Manager auf, denn es gilt Aufgaben zu finden, die zu den antizipierten Kindern und zu der Hardware passen. Zudem müssen die Aufgaben zu der angestrebten Einsicht passen, zu der auch ein frontaler Anschauungsunterricht geführt hätte: Kinder sollen nicht irgendwas machen und entdecken, sondern das „richtige“, das mit Lehrplänen abgestimmt ist – der kontrollierte Output muss stimmen. Nur dann sehen die Entwickler*innen ihr Produkt als funktional an und diese Funktionalität gilt es abzusichern (vgl. Wiesemann und Lange 2014; Lange und Wiesemann 2019). Wenn die Beschäftigung mit dem Material zu frei sei, gelangen die Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu dem Phänomen, das es zu zeigen gilt. Die Eigenaktivität der Kinder ist somit nicht nur erstrebenswert, sie wird zugleich als Gefahr, als Risiko für das Funktionieren der Produkte gefasst. Damit dieses Risiko händelbar wird, versucht man die Dinge und Abläufe zu präzisieren, zu strukturieren etc. – was sich als intentionale Aufladung der Dinge analytisch beschreiben lässt.

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Die Aufladung der Dinge

3.2.1 Offerieren: Schnittstellen der Setups Zur Eigenaktivität der Kinder gehört es in einem ersten Schritt, dass sie die Experimente aus den Einzelteilen im Koffer selbsttätig zusammensetzen und im Sinne der Sache benutzen. Diese Einzelteile müssen „sinnvoll“ ineinandergreifen, um als Experiment ein neues Ganzes herzustellen. Wie sich ein dabei arrangiertes Setup der „Hardware“ konstituiert, wird im Folgenden beispielhaft beschrieben: Sehr alltägliche, allgemeine, profane, scheinbar undidaktische bzw. unwissenschaftliche Haushalts- und Bürodinge können durch ihre Kombination und die vorgeplante Weise ihres Arrangierens eine sehr spezielle und didaktische Bedeutung erhalten. Plötzlich demonstrieren die Teile – nicht länger zusammenhanglos – gemeinsam Naturphänomene und Arbeitsweisen. Durch ein determiniertes Zusammenwirken der Einzelteile sollen Bedeutungen situativ reproduzierbar und abrufbar werden. Einfache Bürogegenstände (Büroklammer, Lineal, Tesafilm) werden z. B. mit einem Magneten und einer speziellen Halterungsvorrichtung in Verbindung gebracht: Der rechteckige Magnet wird auf das Lineal gelegt und an dem mit Tesafilm auf dem Tisch fixierten Halterungsarm wird die Büroklammer eingehängt. Hält man nun die Kombination aus Lineal und Magnet in die Nähe der Büroklammer, so erhebt sich diese aus ihrer senkrechten Haltung. Ihr Winkel ändert sich mit der Position des Magneten auf dem Lineal, also mit dem Variieren der Distanz. Zum Vorschein tritt ein kanalisiertes Naturphänomen, die Kraft des Magneten bzw. das begrenzte magnetische Feld sowie die naturwissenschaftliche Arbeitsweise des Messens. Dabei greifen die Dinge auffallend harmonisch und abgestimmt ineinander: Ohne die Skalierung an der Linealschneide zu verdecken, schließt der Magnet bündig mit der nummerierten und glatten Fläche des Lineals, macht sie zur Auflagefläche und offeriert – im Zusammenspiel – geradezu sein Verschieben sowie ein Ablesen der numerischen Werte, die durch das Verschieben erreicht werden. Die Dinge stützen sich gegenseitig: Sie ruhen in ihrer physikalischen Statik aufeinander, halten sich zusammen und bilden dabei gemeinsam eine bedeutsame Einheit. Jedes Ding zieht seine Bedeutung aus einem anderen Ding des Hardware-Setups. Kein Ding ist überflüssig oder funktionslos. Mit der sorgfältigen Abstimmung der Alltagsdinge aufeinander wird versucht eine praxissichere Aufbau-, Gebrauchs- und Funktionsweise zu offerieren. Das aufeinander abgestimmte Material birgt somit selbst bestimmte Hinweise, wie es zu arrangieren ist (durch die nicht zufällige Passung der Körper zueinander, also durch Maße, Formen, tragfähige Gewichte, die Beschaffenheit von Oberflächen usw.). Um im Bild der Hardware zu bleiben: So wie sich ein Prozessor nicht in den Slot einer Grafikkarte einbauen lässt, lässt sich das Lineal hier schwerlich an den Hacken der

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Halterungsvorrichtung anstelle einer Büroklammer anbringen. Es gibt bestimmte Schnittstellen und Verbindungen die zueinander passen und zusammengeführt werden wollen: Die Entwickler*innen entwerfen eine Klarheit des Arrangements, mit der ein falsches Abbiegen im Prozess des Arrangierens verhindert werden soll. Sie gestalten mit dem Material eine deutliche Offerte, die die Funktionalität des Setups absichern soll. 3.2.2 Instruieren: Software-Skripte und -Befehle Die Sicherung von Funktionalität kann jedoch auch direkter erfolgen. Häufig wird mit schriftsprachlichen Instruktionen – als Teil der „Software“ – versucht, den Effekt und Ertrag zu garantieren. Imperative Sätze und Deklarationen strukturieren die Aufgabe bzw. den Task: In dem aktuellen Experiment geht es um die Zusammensetzung von Licht. Ein aus Papier gefalteter und geschnittener Kreisel mit Newton-Farbscheibe soll mit seiner Rotation demonstrieren, dass weißes Licht aus einem Spektrum bunter Farben besteht. Damit der Kreisel rotiert soll er angepustet werden. Herr Schmidt führt an: „Und der Pustekreisel de:r- der funktioniert ja auch gut, oder?“ Herr Hansmann widerspricht bestimmt: „Nein, der funktioniert ja eben nich. […]“ Schmidt: „Wieso?“ und Hansmann erklärt: „Der Pustekreisel muss genauer beschrieben werden. Also, ich hab mich immer gefragt, […] warum kriegt es ein Nachbarskind hin und nicht das Kind von unseren Freunden? […] Das is ne Frage natürlich, von wo man bläst und wie man das macht und da muss- muss man ganz klar ...“ Schmidt übernimmt den Satz und benennt damit den Überarbeitungsbedarf: „Ganz präzisieren. Genau präzisieren.“ Hansmann formuliert die fehlenden Anweisungen zur Luftstromrichtung skizzenhaft: „... von oben so und so pusten.“ (Meeting 3A, 2. Dokumentenseite § 514–547, 00:25:45– 00:26:54)

In der Situation wird die notwendige Eigenaktivität der Kinder verhandelt, deren Erfolg derzeit noch dem Zufall vielfältiger Variablen überlassen scheint: Es läuft noch zu instabil. Mit Blick auf die resultierenden schriftlichen Anleitungen (die unmissverständlich sein sollen), weist diese „Software“ in der Tat vielfältige Parallelen zu einem Programm auf, das auf bzw. mit der „Hardware“ läuft. Insbesondere in den Anfangsjahren der Computertechnik, etwa seit den 1940er-Jahren, war eine klare Trennung von Hard- und Software, Daten, Datenträgern und Datenverarbeitern oft nur begrenzt möglich. Beispiele sind die Programmierung durch Lochkarten oder durch schaltungstechnische Festverdrahtungen. Mit der Trennung von ihrer „Hard- und Software“ suchen die Entwickler*innen der Bildungswirtschaft Flexibilität statt statisch-optimierter Spezialisierung. Diese Flexibilisierung betreiben sie mit der Aufteilung von (modular kombinierbaren) Ein-

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zelteilen und den zugehörig-schriftlichen Skriptionen auf Papier. Der Begriff der Skriptsprache hat seine Entsprechung in der IT-Welt und bezeichnet dort eine überschaubare Programmiersprache, in der kleine Programme für alltägliche Aufgaben geschrieben werden. Diese Software-Skripte (z. B. „Makros“) sind Helfer, die beispielsweise innerhalb eines größeren Programms (Office-Umgebung, Betriebssystem o. a.) ein determiniertes Bündel an aufeinander folgenden Befehlen ausführen. Sie entlasten daher Nutzer*innen, die bestimmte Arbeitsschritte und Anweisungen nun nicht manuell und einzeln vornehmen müssen, sondern automatisiert durchführen lassen können. Mit Blick auf die Unterrichtsmaterialien ist die Analogie zum Skript letztlich die jeweilige Kopiervorlage, die zu einem bestimmten Experiment bzw. Setup gehört. Diese Zugehörigkeit ist dabei leicht lösbar, die Skripte können – zumindest in einem gewissen Maße – ausgetauscht und überarbeitet werden, ohne dass die Hardware geändert werden muss. Mit „Skript“ beschreibe ich hier also weniger das Einschreiben von (Nutzungs)Visionen der Entwickler*innen in die harten Artefakte selbst (vgl. Akrich 1992, S. 208). Vielmehr geht es um das enge Zusammenspiel von Hard- und Software, die jedoch keine Einheit bilden. Im Unterricht soll das jeweilige Skript konkrete Aufgaben der Instruktion und kleinschrittigen Anleitung übernehmen, die sonst (für jedes Experiment) von Lehrer*innen geleistet werden müssten. Zusammen mit den Dingen sollen dann die Kinder das Skript ausführen und die einzelnen Schritte sowie Prozessschleifen durchlaufen. Der „Stationsbetrieb“ soll dann – mit den Worten von Herrn Hansmann – „wie von selbst laufen“. 3.2.3 Delegieren: executable experiment Auch dieses „wie von selbst laufen“ lässt sich noch weiter steigern. Um dies zu verdeutlichen fokussiere ich weiter den Farbkreisel, der nach Ansicht der Entwickler*innen noch nicht befriedigend funktioniert bzw. „läuft“. Der Effekt (durch Rotation verschwindende Farben) erscheint nicht deutlich genug. Frau Rabe unterbreitet einen Änderungsvorschlag an der Hardware: „Das, was am besten funktioniert, wo ich den Effekt am allerbesten sehe, is wenn ich – wir nehm‘ für den Fall die 4,5 Volt Flachbatterie, zwei Kabel, Krokodilklemme inis so ein kleiner äh Modellbau-Flugzeugmotor dran ... Und lassen es am Stromkreis rotieren. Also DA is es im Prinzip ... is der Effekt am allerbesten, weil ich ne hochgenaue g- Rotationsgeschwindigkeit habe.“ (Meeting 2A, 1 Dokumentenseite § 1812– 1817, 01:56:52–01:57:23)

Da mit dem Farbkreisel – in den Händen der kindlichen User – keine „hochgenaue Rotationsgeschwindigkeit“ zu erzielen sei, diese für eine funktionale Effektstärke

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jedoch wichtig wäre, wird die Farbscheibe an einen Motor übergeben. Die damit verbundene Aufladung der Dinge kann noch weiter verstärkt werden: Die Farbscheibe des Kreisels wird erneut besprochen, Herr Hansmann fragt: „Und die Kinder sollen sie selber ausmalen?“ Frau Kran reagiert entschieden: „Nein nicht selber ausmalen, weil das ist genau der Punkt, bei den Farben muss es schon passen von den Farben her, es müssen die richtigen Farben [sein], sonst hat man den Effekt gar nicht und dann dauert dieses Ausmalen ziemlich lang und dann sind sie natürlich nicht gleichmäßig ausgemalt, die Flächen, und so weiter und so weiter. Also wenn wir die Scheibe haben, ich würde dafür ich würde für sie plädieren, dann wirklich eine fertige dazu [beizulegen].“ […] Peine nickt und bilanziert: „Drucken und dass die wirklich gut funktionieren.“ (Meeting 1B, 4. Dokumentenseite, § 38–53, 02:07:04–02:08:08)

Diese Ausführungen und Argumente der Entwickler*innen laufen auf einen fertig gedruckten und motorisierten Farbkreisel hinaus, mit dem letztlich eine „pushone-button-solution“ entsteht, wie sie auch bei der Entwicklung von IT-Infrastruktur prominent diskutiert wird. 3.3

Das Austarieren von (Quasi-)Agency

Für das Funktionieren der antizipierten Vermittlungssituationen in der späteren Unterrichtspraxis, gilt es den Entwickler*innen die Agency der Dinge und Menschen unterschiedlich gegeneinander abzuwiegen, begründet zu justieren bzw. zu dosieren. Entsprechende Entwicklungspraxen, mit denen die Agency der unterschiedlichen Akteure skaliert, reguliert und aufeinander abgestimmt werden, stehen im Zentrum der gezeigten Analyse. Da die Eigenaktivität der Kinder gleichermaßen didaktisch-normative Voraussetzung des „Stationsbetriebs“, als auch erhebliches Risiko für das Funktionieren von eben diesem ist, versuchen die Entwickler*innen die Aktivität in einem Spannungsverhältnis auszutarieren. Dabei geht es vielfach um das antizipierte Wechselspiel von Material und Kind. Die kindlichen und materiellen Akteure sitzen sich auf einer metaphorischen Aktivitätswippe gegenüber, die sich unterschiedlich neigen kann: Wo reicht es aus, den Kindern durch die Materialgestaltung bestimmte Schnittstellen und Gebrauchsweisen zu offerieren? Wo gilt es den Kindern dezidierte Instruktionen auferlegend zu „skripten“? Wo sollte eine Aktivität nahezu gänzlich den Kindern entzogen und an die Dinge delegiert werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen gestalten die Entwickler*innen ihre Artefakte und laden sie mit didaktischen Intentionen auf. Dies relativiert fraglos die autonome Handlungsmacht der Dinge: Deutlich wird, dass das was die Dinge tun und leisten sollen, der intendierten Ordnung des Lernens entsprechen soll. Es soll das geladen werden und zur Applikation kommen, was zuvor in den Materialien gesichert wurde. Wir sehen damit das Anlegen einer

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Quasi-Agency, die auf Handlungen der gestalteten Dinge baut, diese Handlungen jedoch zugleich zu kanalisieren versucht. „Die Sinnsetzungen, die objektiviert in die technischen Artefakte eingelassen sind, werden dagegen – mit Ausnahme avancierter Computertechnologien – nicht von den Artefakten selbst erzeugt, sondern von ihren Entwicklern.“ (Schulz-Schaeffer 2017, S. 18) Bei der Unterscheidung von einfachen technischen Artefakten und avancierter Computertechnologie entlang unterschiedlicher Grade der Agency darf jedoch nicht der Gemeinplatz aus dem Blick geraten, dass auch Computertechnologie entwickelt wurde, selbst komplexe Algorithmen angelegt und somit eher als teil-autonom zu beschreiben sind.2 Programmierer*innen legen bei ihrer Arbeit nicht nur Algorithmen an, sondern entwerfen auch Nutzer*innen, die sie spezifisch fassen und adressieren. Bei diesem Antizipieren geht es vielfach um „stories about users“, die bei der Erforschung von Softwareentwicklungen analytisch herausgestellt wurden (Grint und Woolgar 1997, S. 75). Es gilt mit „conceptions of users“ Auskünfte zu ihrem zukünftigen und mutmaßlichen Verhalten zu finden. In ähnlicher Weise sind in der von mir aufgezeigten Entwicklungspraxis des Experimentierkoffers und beim zugehörigen Austarieren sowie „Veranlagen“ von Agency vielfach Erfahrungen und Narrative davon grundlegend, wie Kinder sind, was sie gut und schnell können oder womit sie Probleme haben werden. Im Rahmen der Entwicklung wird versucht die Sichtweise der Nutzer*innen einzunehmen: „The user's character, capacity and possible future actions are structured and defined in relation to the machine.“ (Grint und Woolgar 1997, S. 92) Neben einer Anpassung an die Bedürfnisse des Benutzers im Sinne eines user-orientated designs, entdeckten Grint und Woolgar auch das Vorhaben, die Benutzer*innen zu einem vorgeplanten („richtigen“) Nutzungsverhalten zu erziehen bzw. zu dirigieren (1997, S. 93). Dass kindliche User von Lernmaterial zu einem vorgeplanten Nutzungsverhalten dirigiert werden sollen, ist zunächst kein neuer oder überraschender Befund – vgl. z. B. für Montessori-Material und die mit ihnen verbundene Idee der Isolierung von Eigenschaften (vgl. Montessori 2014, 15 f.) die Ausführungen von Langeveld (1955). Der alte didaktische Anspruch, dass sich Aufgabenstellungen und Nutzerlenkungen in das didaktische Lernmaterial verlagern lassen, wird mit den gezeigten Analysen zum Experimentierkoffer aber dahingehend ausgeweitet, dass auch Teile der Aufgabenausführung im Material selbst liegen können. In ihrer extremsten Form sind die Materialsetups aus dem Experimentierkoffer wie exekutive Dateien, die von Nutzer*innen nur per Knopfdruck aufgerufen werden müssen. Auch mit Blick auf die menschlichen Akteure der antizipierten Nutzungssituation geht es somit 2

Zur Semi-Autonomie und der Auslagerung des menschlichen Denkens in Algorithmen siehe auch das Teilprojekt „Agentic Media: Formationen von Semi-Autonomie“ (B08) von Marcus Burkhardt und Karin Knorr-Cetina im Siegener Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“ (SFB 1187).

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planerisch vielfach um das Anlegen einer Quasi-Agency, bei der Kinder mit dem Material zwar handelnd aktiv werden sollen, letztlich jedoch entscheidende Aktivitäten und Handlungsschritte an das materielle Arrangement abgegeben werden, damit die vorkonfigurierte Ordnung des Lernens zur Ausführung kommt. 4

Fazit: Digitales jenseits des Binären

Mit dem Beitrag wurde einleitend postuliert, dass die Konstitution der Eigenschaften „digital“ und „analog“ in pädagogischen Diskursen stark aber implizit mit Fragen der Agency verknüpft scheint: In einer binären Gegenüberstellung wird über das Zusprechen von Handlungsmacht das beherrschende Digitale und über das Aberkennen selbiger das werkzeughafte Analoge ausgemacht. Die dabei in Stellung gebrachte klare Dualität ist die Grundlage für die nicht minder eindeutigen normativen Zuschreibungen, die einhergehen und den digital divide mit Bedeutung versehen. Vor dem Hintergrund dieses postulieren Verständnisse der DigitalAnalog-Differenzierung, folgte der Beitrag empirisch dem Machen von ausgewählten Unterrichtsmaterialien und analysierte die verbundene Konstitution von Agency. Dabei zeigte sich durch die Linse der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht nur wie versucht wird Agency auch an vermeintlich profane Dinge in ihrer Verbindung zu Menschen abzugeben (vgl. Latour 2005, S. 63–86). Es zeigte sich vielmehr, dass die Verteilung von Agency – als zentrale Herausforderung der Akteure im Feld – keine binäre Zuordnung ist, sondern dass und wie die beobachteten Entwickler*innen versuchen, unterschiedliche Grade von diffusierter Agency zwischen Menschen und Dingen auszubalancieren bzw. analog zu verteilen. Die vermeintlich klaren Abgrenzungen von Werkzeughaftem und Wirkmächtigem verlieren mit den gezeigten Beispielen einer spektralen Agency die Kontur. Empirisch folgt die Differenzierung von Agency nicht der Analog-Digital-Differenz aus dem pädagogischen Diskurs. Ein Operieren mit einer derartigen Unterscheidung findet sich jedoch auch im Feld prominent und charakterisierend. Dabei sind es andere Eigenschaften der Materialien, die als relevant für die Medialunterscheidung gefasst werden und an die sich das (un)doing digital in der Entwicklungspraxis knüpft: „Hard- und Software“ wird über ihre Flexibilität, Wandlungsfähigkeit bzw. kombinatorische Modularität ausgemacht und bezeichnen somit im Feld auch die vermeintlich tradiert-analogen Dinge, die so kategorisch digitalisiert werden. Mit dieser im Feld analysierten Mediendifferenzierung zeigt sich eine durchaus unerwartete Analogie, mit der die Entwickler*innen althergebrachter Unterrichtsmaterialien operieren. Hinzukommt, dass die gezeigten Entwicklungspraktiken in der Bildungswirtschaft deutliche Parallelen zu erforschten Praktiken in der IT-Entwicklung bzw. Softwareprogrammierung aufweisen. Es folgt die Frage, wie produktiv es ist, das Digitale oder das Analoge apriorisch als Kontrast ins Feld zu

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führen und dabei zu unterstellen, dass man mit den Begriffen stets gleiches prozessiert oder ihre Bedeutung feldübergreifend feststeht. Der normativ justierte Fokus auf vermeintlich analoge oder digitale Medien erscheint weniger erkenntnisproduktiv als ein empirischer Fokus auf tradierte und sich ggf. wandelnde Praktiken, die mediale Eigenschaften (mit)konstituieren. Was wie zum Digitalen und zum Analogen gemacht wird, ist eine feldspezifische Frage. Vor diesem Hintergrund sind auch die dem vorliegenden Band den Titel gebenden „digitalen Kindheiten“ nichts, deren Bedeutung sich aus Einsen und Nullen konstituiert – oder sich ausschließlich am Smartphone entdecken lassen. Literatur Akrich, Madeleine. 1992. The De-Scription of Technical Objects. In Shaping technology, building society: Studies in sociotechnical change, hrsg. von Wiebe E. Bijker und John Law, 205–224. Cambridge u. a.: MIT Press. Amann, Klausund Stefan Hirschauer. 1997. Die Befremdung der eigenen Kultur: Ein Programm. In Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, hrsg. von Stefan Hirschauer und Klaus Amann, 7–52. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bitkom. 2019. Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt. Berlin: Bitkom. Buckingham, David. 2007. Media education goes digital: an introduction. Learning, Media and Technology 32 (2): 111–119. Burnett, Cathy und Guy Merchant. 2020. Undoing the digital: Sociomaterialism and literacy education. London, New York: Routledge. Emerson, Robert M., Rachel I. Fretz, und Linda L. Shaw. 1995. Writing ethnographic fieldnotes. Chicago: University of Chicago Press. Geertz, Clifford. 1983. Dichte Beschreibung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gehlen, Arnold. 1983. Vom Wesen der Erfahrung. In Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, hrsg. von Arnold Gehlen und Karl-Siegbert Rehberg, 3–24. Frankfurt am Main: Klostermann. Grint, Keith und Steve Woolgar. 1997. The machine at work: Technology, work and organization. Cambridge: Polity Press. Heimann, Paul. 1965. Didaktik 1965. In Unterricht: Analyse und Planung, hrsg. von Paul Heimann, Otto Gunter und Wolfgang Schulz, 7–12. Hannover u. a.: Schrödel. Hentig, Hartmut von. 1984. Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit: Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die neuen Medien. München und Wien: Hanser. Hentig, Hartmut von. 1999. Ach, die Werte: Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München: Hanser.

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Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien: Wie Großeltern ‚sprechende Köpfe‘-Begegnungen zwischen Kindern und ihren migrierten Eltern in China organisieren Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

Yumei Gan, Christian Greiffenhagen & Christian Licoppe

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Einleitung

Seit den Wirtschaftsreformen von 1978 hat es in China massive Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte gegeben. Aus einer Vielzahl von Gründen, zu denen auch das hukou-System der Wohnsitzregistrierung gehört, können Arbeitsmigranten in der Regel ihre Familien nicht nachziehen lassen. Eine Folge dieser Entwicklung ist das Phänomen der sogenannten „zurückgelassenen Kinder“ (liu shou er tong). So werden Kinder in ländlichen Gegenden bezeichnet, deren Eltern zum Arbeiten in städtische Räume migriert sind (Ye und Murray 2005; Ye und Pan 2011). Nach Zahlen der All China Women’s Federation (ACWF 2013) gab es in China 61 Millionen sogenannter zurückgelassener Kinder, das entspricht ca. einem Drittel aller Kinder auf dem Land. Großgezogen werden diese Kinder von anderen Erwachsenen als ihren biologischen Eltern, d. h. normalerweise von ihren Großeltern oder anderen weiblichen Verwandten (Chen et al. 2011; Santos 2017). In den Dörfern sind dadurch „Haushalte mit einer Generationenlücke“ entstanden (Silverstein et al. 2006), in denen Großeltern zusammen mit ihren Enkel*innen leben und die mittlere Generation abwesend ist. Die meisten dieser Kinder sehen ihre Eltern nur einmal im Jahr beim chinesischen Neujahrsfest. Die Erfahrung von Migration und Fernbeziehungen in Familien hat sich durch das Aufkommen und den Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) erheblich verändert, da hierdurch die Migrantenfamilien „in ständigem Kontakt“ (Katz und Aakhus 2002) miteinander bleiben können und ein Gefühl der „vernetzten Anwesenheit“ (Licoppe 2004) erzeugt wird. Zahlreiche Untersuchungen der transnationalen Migration belegen, dass ITKs eine bedeutsame Rolle bei der Schaffung von Nähe und der Beziehungspflege in geografisch getrennten Familien spielen (z. B. Baldassar 2008; Baldassar et al. 2016; Longhurst 2013; Lutz und Palenga-Möllenbeck 2012; Madianou 2012, 2016; Madianou und Miller 2012; Peng und Wong 2012, 2013; Wilding 2006, 2018).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_4

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Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

In einer Reihe von Studien wird darauf hingewiesen, dass videovermittelte Kommunikation (video-mediated communication, VMC) gerade Migrantenfamilien Vorteile bieten können. Die Eltern sehen ihre Kinder im Videobild und werden selbst von ihnen gesehen. Dies eröffnet den Eltern neue Möglichkeiten der Kontaktpflege mit den Kindern. Nach Angaben der Eltern hilft ihnen der Videokontakt gegen ihre Angst, von den eigenen Kindern nicht wiedererkannt zu werden. Viele Eltern berichten außerdem, dass sie sich ihren Kindern emotional näher fühlen, weil sie nicht nur mit ihnen sprechen, sondern sie auch sehen können (King-O’Riain 2015, S. 267; Longhurst 2013, S. 664; Madianou 2012, S. 291; Peng und Wong 2012, S. 214). Geografisch verteilten Familien ermöglicht VMC neue Formen des Zusammenseins, die in der Forschung als „co-presence by proxy“ (Baldassar 2008) oder „ambient co-presence’“ (Madianou 2016) bezeichnet werden. Diese Untersuchungen bieten zwar wichtige Erkenntnisse über die Erfahrungen, die Migrantenfamilien mit der Kommunikation auf Distanz machen, sie basieren allerdings überwiegend auf Interviews und somit darauf, wie die Teilnehmer*innen selbst ihre Kommunikationserfahrungen darstellen. Bisher haben nur sehr wenige Studien die tatsächlichen interaktionalen Praktiken des Einsatzes von VMC in Migrantenfamilien untersucht. Harper et al. (2017, S. 304) weisen darauf hin, dass in der Forschung vernachlässigt werde, wie die Menschen ihre EchtzeitInteraktion auf Distanz durch ihre Tätigkeiten praktisch realisieren und welche Methoden sie dazu einsetzen. Die eigentlichen Praktiken von Videoanrufen zu erforschen, erfordert die Beobachtung und idealerweise auch die Aufzeichnung realer Videoanrufe zwischen Familienmitgliedern. In jüngster Zeit widmet sich denn auch eine kleine, aber wachsende Zahl von Arbeiten der Untersuchung dessen, was bei der Distanzkommunikation in Familien im Rahmen von Videoanrufen getan wird. Themen dieser Hinwendung zu interaktionalen Praktiken der videovermittelten Familienkommunikation waren beispielsweise die familiale Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern (Busch 2018; Kelly 2015), das Management intergenerationeller Schwiegerbeziehungen (Sunakawa 2012, 2014) oder der Stellenwert, der bei Videoanrufen der Konstruktion eines interaktionalen Gerüsts durch die Betreuungspersonen zukommt (Greschke et al. 2017). Daneben gibt es auch methodologische Überlegungen zu der Frage, wie Skype-Anrufe aufgezeichnet werden können (z. B. Motowidlo und Trischler 2018). Unsere Arbeit versteht sich als Beitrag zu diesem Forschungsbereich und untersucht konkrete Videoanrufe zwischen Familienmitgliedern auf der Interaktionsebene. In diesem Aufsatz beschäftigen wir uns speziell mit einem Aspekt dieser Videoanrufe: deren Eröffnung. Klassische Studien haben bereits gezeigt, dass die Eröffnung einer sozialen Begegnung entscheidend für die Herstellung sozialer Beziehungen ist (z. B. Goffman 1963; Duranti 1992; Youssouf et al. 1976). Die Einleitungsphase von Begegnungen bietet den Beteiligten die Zeit und den Raum,

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sich zu positionieren und ab dem ersten Interaktionsmoment mit dem schrittweisen Management sozialer Beziehungen zu beginnen. Durch die Untersuchung der Eröffnungen von Videoanrufen können wir deutlich machen, dass in diesen Eröffnungen sehr viel interaktionale Arbeit steckt. Im Folgenden zeigen wir die von Großeltern geleistete „Arbeit“, mit der sie die Eröffnungsphase eines Videoanrufs zwischen migrierten Eltern und deren zurückgelassenen Kindern gestalten. Wir zeigen, wie die Beteiligten sich orientieren und daraufhin arbeiten, vom Beginn des Anrufs an eine ‚sprechende Köpfe‘-Begegnung zwischen Eltern und Kind zu etablieren. 2

Hintergrund: Eröffnungen

Jede Interaktion braucht eine Eröffnung. Wie Goffman (1963, S. 91f.) beschreibt, wird eine soziale Begegnung von den Teilnehmenden dadurch eingeleitet, dass zunächst einer von ihnen einen eröffnenden Schritt („move“) macht. Diese Eröffnung gibt den Teilnehmenden Raum und Zeit, sich zu positionieren. Darüber hinaus etablieren Menschen in Eröffnungen ihren jeweiligen sozialen Status und bearbeiten ihre sozialen Beziehungen (Goffman 1963, 1971; Maynard und Zimmerman 1984). Die Erforschung von Eröffnungen als eigenständiges Phänomen hat in der Interaktionsforschung eine lange Tradition. Ein großer Teil dieser Forschung befasste sich mit dem Beginn von Telefongesprächen. Die Pionierarbeiten von Schegloff (1968, 1979, 1986) waren nicht nur die ersten Forschungsarbeiten zu telefonischen Gesprächseröffnungen, sondern erschlossen seinerzeit das Forschungsfeld der Konversationsanalyse von natürlichen Interaktionssituationen (Sacks 1992). Schegloff zufolge zeigen telefonische Eröffnungen ein festes Muster aus mehreren Sequenzen: (i) einer „summon-answer“-Sequenz, wobei der „summon“ den Gesprächsanstoß darstellt und die „answer“ die erste Reaktion darauf, (ii) einer Identifikations-/Erkennungssequenz, (iii) einer Begrüßungssequenz und (iv) einer Sequenz mit der Frage nach dem Befinden („How-are-you“-Sequenz). Im Einzelnen führt Schegloff aus, wie die Beteiligten die Eröffnungssequenz dazu nutzen, das Zustandekommen eines Kommunikationskanals zu bestätigen, einander zu identifizieren und das herzustellen, was Goffman (1963) als „state of ratified mutual participation“ bezeichnet hat. Folgestudien zu Telefongesprächseröffnungen durch Hopper (1992) analysierten, wie Eröffnungen durch soziale Beziehungen und vor allem durch die Unterschiede zwischen vertrauten oder fremden Personen geprägt werden. Hopper und Chen (1996) stellten bei der Untersuchung telefonischer Eröffnungen im chinesischen Kontext fest, dass miteinander vertraute Teilnehmende sich wechselseitig mit einer an den Namen angehängten Begrüßungs-

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Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

partikel („a“) begrüßten („Christian-a“), was in einem westlichen Kontext möglicherweise fremdartig und formell klingt. Eine Reihe von Arbeiten haben Eröffnungen in Face-to-face-Begegnungen zum Gegenstand (ein hervorragender Überblick findet sich bei Pillet-Shore 2018a). Kendon und Farber (1973) zeigen anhand einer detaillierten Untersuchung des Begrüßungsverhaltens auf Partys, dass dieses bereits lange vor dem eigentlichen Austausch von Begrüßungen beginnt: durch wechselseitigen Blickkontakt, Grüßen auf Distanz (z. B. Kopfnicken) sowie durch die Lenkung des Blicks und Positionierung des Körpers in der wechselseitigen Annäherung. Robinson (1998) hat die Bedeutung der Eröffnungsphase in der Interaktion zwischen Arzt/Ärztin und Patient*innen herausgestellt und aufgezeigt, wie die Beteiligten unter Einsatz verbaler und nonverbaler Kommunikationsressourcen (z. B. Blick und Körper) interaktionell „zur Sache kommen“. Pillet-Shore (2012, 2018b) machten bei ihrer Forschung zu Eröffnungen in unterschiedlichen Settings sichtbar, welch wichtige Rolle Begrüßungen für die Pflege sozialer Beziehungen spielen. In jüngerer Zeit haben sich einige Arbeiten mit der Eröffnungssequenz in der videovermittelten Kommunikation befasst. Hierzu gehörten einerseits Videokonferenzen im beruflichen Umfeld (Relieu 2007; Mondada 2010, 2015) und andererseits Videoanrufe zwischen Familienangehörigen und Freund*innen über Desktop-Computer, Laptops oder Mobiltelefone (Licoppe und Morel 2012; Licoppe 2017). Dabei wurde deutlich, dass Eröffnungen auch der Interaktionsort sind, an dem die Teilnehmenden sich um eventuelle technische Probleme wie z. B. den Aufbau einer Audio- und Videoverbindung kümmern. In diesem Kontext fungieren Begrüßungen auch als „Technik-Check“, was dazu führt, dass es oftmals mehrfache Begrüßungen gibt. Im Unterschied zu telefonischen Eröffnungen, bei denen der oder die Angerufene fast ausnahmslos zuerst spricht (Schegloff 1968, S. 1076), sind Eröffnungen von Videoanrufen komplexer und sowohl die/der Angerufene als auch die/der Anrufende können als Erste sprechen (Licoppe 2017, S. 382). Nach Licoppe und Morel (2012) beginnen Videoanrufe in der Regel damit, dass die Teilnehmenden eine „talking head configuration“ herstellen, die wir als „sprechende Köpfe“-Konfiguration übersetzen und bedeutet, dass alle während der Eröffnung so viel von ihrem Gesicht wie möglich auf dem Videobildschirm präsentieren. Dies schafft nicht nur die Möglichkeit der gegenseitigen Identifikation, sondern gibt auch der jeweils anderen Person die Bereitschaft zur Teilnahme am Videoanruf zu erkennen. Ausführlicher untersucht hat dies Licoppe (2017), der die Unterschiede zwischen dem Zustand herausarbeitet, in dem die Teilnehmenden auf dem Bildschirm lediglich sichtbar sind, und jenem, bei dem sie außerdem ihre Bereitschaft zum Eintritt in die Interaktion signalisieren. Im Unterschied zur Face-to-face-Interaktion, in der die Beteiligten sich einander schrittweise nähern (vgl. Kendon und Farber 1973), erfolgt die Herstellung der techni-

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schen Verbindung bei Videoanrufen unvermittelter. Die Tatsache, dass eine oder einer der Teilnehmenden auf dem Bildschirm auftaucht, bedeutet deshalb nicht zwangsläufig, dass er oder sie interaktionsbereit ist. Teilnehmende können demnach „präsent“, aber nicht „verfügbar“ sein (Schegloff 1968, S. 1089), da sie noch mit anderen Aktivitäten beschäftigt sind. Die Begrüßung signalisiert also nicht nur Erkennung und fungiert als „Technik-Check“, sondern ermöglicht den Beteiligten auch, ihre Bereitschaft zur Teilnahme anzuzeigen. Das vorliegende aktuelle Kapitel schließt an die Befunde von Licoppe und Morel (2012) sowie Licoppe (2017) an, analysiert die „Arbeit“ der Eröffnung von Videoanrufen jedoch in einem anderen Kontext, nämlich dem der Interaktion zwischen migrierten Eltern und ihren „zurückgelassenen“ Kindern. Dieses Setting bringt zwei spezielle Aspekte der Interaktionsarbeit bei Eröffnungen mit sich: Zum einen, dass die Kinder, da sie noch sehr jung sind, ihre Eltern nicht selbst anrufen können, sondern dass ihnen eine ebenfalls anwesende Betreuungsperson (in der Regel ein Großelternteil) beim Videoanruf auf verschiedene Weise hilft. Zum anderen, dass diese Eröffnungssequenzen eine zusätzliche „emotionale Bedeutung“ besitzen: Da die meisten dieser Eltern ihre Kinder nur einmal im Jahr sehen, ist für sie die Erfahrung, dass die Kinder sie gut erkennen und im „richtigen“ Moment begrüßen, wichtig für das Gefühl der Verbundenheit mit ihnen. 3

Daten und Methode

Die Feldarbeit für dieses Forschungsprojekt wurde in der Provinz Sichuan in Südwestchina durchgeführt. Sichuan gehört zu den chinesischen Provinzen, die die meisten Arbeitskräfte aus dem ländlichen Raum exportieren, und bietet somit exemplarische Bedingungen für die Untersuchung des Phänomens der sogenannten zurückgelassenen Kinder. Für diesen Text wurden Videoaufzeichnungen aus 33 Familien ausgewertet. Das Material umfasste insgesamt 52 Videoanrufe. Die Anrufe dauerten zwischen 15 und 65 Minuten und im Durchschnitt 22 Minuten. Die Gesamtlänge des Videokorpus beträgt 19 Stunden. Die Kinder in dieser Studie waren zwischen 8 Monaten und 3 Jahren alt und wurden daher bei der Durchführung der Videoanrufe immer von ihren Betreuungspersonen (Großeltern) begleitet. Für das Projekt wurden Familien ausgewählt, in denen sowohl der Vater als auch die Mutter Arbeitsmigrant*in sind. Alle Familien nutzen den Chat-Dienst WeChat, mit dem auf Smartphones Videoanrufe getätigt werden können. Die Videoaufzeichnungen wurden am Wohnort der Kinder, auf dem Land, durchgeführt. Bei jedem Videoanruf wurden diese zum einen vom Smartphone der Betreuungsperson aufgezeichnet (z. B. Licoppe und Morel 2012; Licoppe 2017), zum anderen mit einer herkömmlichen Kamera die Interaktion, die sich vor dem Smartphone abspielte, gefilmt (Sunakawa 2012, 2014). Die gespeicherte Bild-

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Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

schirmausgabe zeigt die entfernt lebenden migrierten Eltern, während die Kamera es ermöglicht, Kinder und Großeltern im Zimmer aufzunehmen. So haben wir Zugang zu allen drei Beteiligten an dem Videoanruf: entfernt lebende Eltern, Betreuungspersonen (Großeltern) und zurückgelassene Kinder. Das Material beider Arten von Videoaufzeichnungen wurde anschließend synchronisiert (Abbildung 1).

Abbildung 1:

Verfahren der Videoaufzeichnung

Theoretisch wurde dieses Projekt durch die Perspektive der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) und der Konversationsanalyse (Sacks 1992; Sidnell 2010) fundiert; inhaltlich leitend war zudem das Interesse, die auf das Gelingen sozialer Interaktionen gerichteter Orientierungen der Teilnehmer herauszuarbeiten. Die Transkription der Videodaten erfolgte nach in der Konversationsanalyse etablierten Konventionen (Hepburn und Bolden 2017). Die in den Videos gesprochene Sprache ist der Dialekt von Zigong in der Provinz Sichuan.1 Die Legende für die in den Transkripten verwendeten Zeichen befindet sich im Anhang.

1

Das Chinesische weist eine große Zahl von Dialekten auf. Dabei kann sich selbst innerhalb einer Provinz der Dialekt von Stadt zu Stadt unterscheiden. Dies ist beispielsweise bei den Städten der Provinz Sichuan der Fall. Die Sprachdaten für dieses Forschungsprojekt gehören zum Dialekt der Stadt Zigong in Sichuan. In unserem Transkript haben wir zusätzlich zu den chinesischen Schriftzeichen die Aussprache der einzelnen Wörter im Dialekt von Zigong angegeben. Außerdem wurde eine Übersetzung ins Deutsche hinzugefügt.

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4 4.1

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Analyse Das Phänomen: „Sprechende Köpfe“-Konfiguration von Elternteil und Kind

Als grundlegende Beobachtung aus den aufgezeichneten Videoanrufen lässt sich festhalten, dass sie häufig mit einer Konstellation der Beteiligten beginnen, die wir als „Sprechende Köpfe“-Konfiguration bezeichnen. Dies bedeutet: Beim oder kurz nach dem Zustandekommen der Videoverbindung befindet sich sowohl der Kopf des Elternteils als auch der des Kindes auf dem Smartphone-Bildschirm. Diese Konfiguration stellt sich im Wesentlichen auf zwei Wegen ein: Entweder es erscheint zuerst nur der Kopf des Kindes im Bild und der des Elternteils kommt beim Verbindungsaufbau dazu; oder aber sowohl der Kopf des Kindes als auch der des Großelternteils ist in diesem Moment auf dem Bildschirm zu sehen. Beides ist in Abbildung 2 illustriert. Die erste Zusammenstellung von Screenshots zeigt exemplarisch eine „Sprechende Köpfe“-Konfiguration mit nur dem Kind und dem Elternteil, die zweite Zusammenstellung zeigt ebenfalls eine „Sprechende Köpfe“Konfiguration von Elternteil und Kind, diesmal jedoch mit zudem anwesenden Großeltern im Moment der Verbindung. In unseren Videomaterial waren durchweg Großeltern während der Videoanrufe anwesend. In den meisten Fällen waren es auch die Großeltern, die das Smartphone in der Hand hielten und den Ablauf der Anrufe organisierten. Unsere Fragestellung war deshalb: Warum erscheinen die Kinder in der Eröffnungssequenz im Bild und nicht die Großeltern? Das Fehlen der Großeltern auf dem Bildschirm schien im Widerspruch dazu zu stehen, dass sie ansonsten die „Organisatoren“ der Anrufe waren. Da wir nicht nur den Bildschirminhalt des Smartphones erfasst, sondern auch mit einer externen Kamera die Interaktion vor dem Smartphone aufgezeichnet hatten (siehe nochmals Abbildung 1), konnten wir beobachten, was vor dem Zustandekommen der Verbindung passierte und hier vor allem die Aktivitäten der Großeltern vor dem Moment der Verbindung. Es wurde deutlich, dass die Großeltern in großem Umfang Vorbereitungsarbeit leisteten, mit der sie das Kind für die Eröffnung des Videoanrufs bereit machten. Eben diese Vorbereitungsarbeit war die Voraussetzung dafür, dass der Anruf im Moment der Verbindung mit einer „Sprechende Köpfe“-Konfiguration beginnen konnte. Auszug 1 zeigt ein Beispiel. Zu Beginn des Auszugs ist der Großvater (GRV) dabei, die als Arbeitsmigrantin abwesende Mutter (MUT) auf WeChat anzurufen. Das Kind, ein Mädchen, sitzt neben dem Großvater auf dem Bett und betrachtet seine eigenen Zehen.

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Abbildung 2:

Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

„Sprechende Köpfe“-Konfiguration bei Verbindungsaufbau (z. T. nur Kopf des Kindes, z. T. Kind und Körper des Großelternteils zusammen)

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Auszug 1: “Schau mal hier” (LBC36)

Das Kind ist erst neun Monate alt und spricht daher erst wenige Wörter. Sie kann auch das Smartphone nicht selbst halten. Der Großvater beginnt den Videoanruf. Danach nähert er sich dem Mädchen und hält ihr das Smartphone so hin, dass der Bildschirm in ihr Blickfeld gerät und seine Relevanz als visuelles Objekt betont wird (siehe Bilder zu den Zeilen 03-04). Der Großvater steht und kann aus dieser Position sowohl das Kind sehen als auch das Geschehen auf dem Smartphone-Bildschirm verfolgen. In Zeile 03 gibt der Großvater dem Kind eine Anweisung (“>Schau (mal)< hier”), mit der er die visuelle Ausrichtung des Kindes lenkt – obwohl hier unklar ist, ob das Mädchen, als sie auf den Bildschirm schaut, auf die Anweisung oder auf die Handbewegung des Großvaters reagiert, mit der er das Smartphone in ihr Blickfeld hält (Zeile 05).

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Die Eröffnung von Videoanrufen in Migrantenfamilien

Jedenfalls ist die Folge dieser Vorbereitungsarbeit, dass im Moment der Verbindungsherstellung, als die Mutter visuell auf dem Bildschirm „aufzutauchen“ scheint, das Kind seine Aufmerksamkeit vom ersten Moment an auf den Bildschirm richtet. Hinzu kommt, dass der Großvater dadurch, dass er das Kind ins Bild rückt, sich selbst „unsichtbar“ und zum unterstützenden Beobachter der Szene macht, der lediglich in den ersten Sekunden des Videoanrufs als „Vermittler“ (Bolden 2012) einer bestimmten interaktionalen Konfiguration auftritt. Dieser Eröffnungsverlauf ist ein weiteres aus den Daten hervortretendes und wiederkehrendes Phänomen. Er unterscheidet sich als solcher ausgeprägt von einem anderen Eröffnungsverlauf, der ebenfalls denkbar wäre – bei dem der Großvater z. B. den Videoanruf selbst als „Sprechende Köpfe“ eröffnen würde, dann mit der Mutter plaudern und schließlich Mutter und Kind in eine gemeinsame visuelle Konstellation bringen würde. An diesem Auszug ist gut zu erkennen, wie die Teilnehmenden in Ko-Produktion das herstellen, was man als gemeinsame „Sprechende Köpfe“-Konfiguration von Mutter und Kind gleich zu Beginn der Verbindung bezeichnen könnte. Bis hierher läuft das Geschehen in Bezug auf Timing und Platzierung so reibungslos ab, dass man im Umkehrschluss feststellen kann, dass dieser Erfolg nur durch eine aufwendige und sorgfältige Interaktionsarbeit möglich ist. 4.2

Relevanzen für die Orchestrierung einer „Sprechende Köpfe“-Konfiguration

Bedingt durch die Technologie der Videoanrufe selbst lautet eine einfache Erwartung, dass die relevanten Beteiligten eines Videoanrufs sich in einer Position befinden sollten, in der sie den Bildschirm im Moment der Verbindung sehen können, also genau dann, wenn dort ein interaktionsrelevantes Geschehen zu erwarten ist. Darüber hinaus gibt es jedoch, und zwar vor allem bei Videoanrufen mit mehreren Teilnehmenden, noch mehr zu tun und zu entscheiden – beispielsweise: Wer ist die relevante Partei im Moment der Verbindung? Wie kann er oder sie ins Bild gebracht werden? In unserem Datenmaterial sind immer drei Parteien präsent: die entfernt lebenden Eltern, die Großeltern und die Kinder. Hiervon ausgehend haben wir genauer untersucht, wie die Parteien den ersten Augenblick der Interaktion gestalten, und festgestellt, dass die Großeltern das Kind als relevante Partei der Interaktions-Eröffnung behandeln und dass sie außerdem die Eröffnung als relevanten Punkt für die Orchestrierung der „Sprechende Köpfe“-Begegnung zwischen Elternteil und Kind ansehen. In Auszug 2a sitzen Großmutter (GRM) und Großvater (GRV) zu beiden Seiten des kleinen Kindes. Das Mädchen isst eine Süßigkeit. Am Anfang des Auszugs ruft der entfernt lebende Vater den Großvater an (Zeile 04). Der Großvater nimmt den Anruf entgegen und trägt das Smartphone in Richtung des Kindes, hält das Telefon jedoch am ausgestreckten Arm so, dass er weiter den Bildschirm betrachten kann (siehe Bilder zu Zeile 06).

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Auszug 2a: Süßigkeit (LBC48)

Ähnlich wie in Auszug 1 bewegt auch der Großvater im Auszug 2a das Smartphone in Richtung Kind (Zeile 06). Im Moment der Verbindungsherstellung, als der Vater erscheint, blickt das Mädchen aber weder auf den Bildschirm noch ist

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sie selbst darauf zu sehen. Stattdessen zeigt das Smartphone ein „leeres“ Bild mit einer Tür und Teilen eines Dachs (siehe Bilder zu Zeile 07). In Zeile 08 bewegt der Großvater das Smartphone tiefer und schafft es, das Kind ins Bild zu bringen. Dadurch, dass der Großvater die Smartphone-Position in situierter Weise korrigiert, kommt es also gleich nach der Verbindungsherstellung zu einer „Vater-undKind-im-Bild“-Konfiguration (siehe Bilder zu Zeile 08). Dabei ist das Kind, wie auf den Bildern zu Zeile 08 ersichtlich, auf dem Bildschirm zwar präsent, aber es beachtet ihn nicht. In der Fortsetzung von Auszug 2 ist dann zu verfolgen, wie die Großeltern nicht nur weiterhin versuchen, den Kopf des Kindes im Bild zu halten, sondern auch, seinen Blick auf das Smartphone und somit auf seine Eltern zu lenken. Insgesamt wird so deutlich, dass eine „Sprechende Köpfe“-Konfiguration im Videoanruf immer zwei Elemente beinhaltet: (i) “Sprechende Köpfe ” und (ii) “gemeinsamer Blickkontakt”. Im weiteren Verlauf (siehe Auszug 2b) ist zu erkennen, dass beide Großeltern das Kind als relevante Partei des Videoanrufs betrachten. In Zeile 09 sagt die Großmutter zu dem Mädchen „hier” (dei). Dies bedeutet, dass die Großmutter das visuelle Auftauchen des Vaters als relevant für eine Reaktion durch das Mädchen wertet. Danach zeigt die Großmutter mit dem Fächer in ihrer Hand auf den SmartphoneBildschirm, um den Blick des Kindes darauf zu lenken. Daraus lässt sich schließen, dass die Sichtbarkeit des Kopfes im Bild nicht genügt, sondern dass zusätzlich auch der Blick des Kindes erwünscht ist. Das Kind schaut bis zur Zeile 09 nicht auf den Bildschirm. Die Großmutter wertet dieses Verhalten als Nichterfüllung von Erwartungen. Sie gibt einen nochmals intensiveren Gesprächsanstoß (summon), indem sie die bisherige Äußerung wiederholt, zusätzlich das Kind mit „kleine Schwester“ anspricht (Zeile 11) und die Ansprache außerdem durch eine parallele Zeigegeste mit dem Fächer unterstützt, bei der sie diesen nah an den Kopf des Kindes bringt (siehe Bild zu Zeile 10). Hier wird deutlich, dass die Großmutter an einer Eröffnung in der gewünschten Form aktiv mitarbeitet, obwohl sie nicht selbst das Smartphone hält. Da alle geleisteten Interaktionsbeiträge gut erkennbar und beobachtbar sind, können die beiden Erwachsenen gemeinsam auf eine erfolgreiche Eröffnung hinarbeiten. Zeitgleich zu den wiederholten Anläufen der Großmutter, den Blick des Kindes zu dirigieren, beteiligt sich auch der Großvater aktiv an diesen Bemühungen. In Zeile 12 berührt er kurz die Schulter des Mädchens und übt dabei eine Form von taktilem Zwang mit dem Ziel aus, ihre Aufmerksamkeit auszurichten. Das Mädchen scheint dieser kollaborativen Einforderung ihrer Aufmerksamkeit nachzukommen, indem sie den Kopf zurücklegt und auf den Bildschirm blickt (siehe Bilder zu Zeile 13).

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Auszug 2b (Fortsetzung): Süßigkeit (LBC48)

Als die „Sprechende Köpfe“-Konfiguration mit Vater und Kind in Zeile 13 schließlich hergestellt ist, übernimmt erneut der Großvater die Initiative und ermuntert das Kind zu sprechen. Speziell zu beobachten ist hier, dass vor der Aufnahme des Gesprächs mit dem Vater das Kind zunächst visuellen Zugang zum Smartphone braucht. Hierzu leisten beide Großeltern ihren Beitrag, indem sie das Smartphone in jenem Moment in das Blickfeld des Kindes bringen, als die Videoverbindung unmittelbar bevorsteht. Von dem Kind wird aber auch erwartet, dass es sich in diesem Augenblick dem Bildschirm zuwendet. Interessanterweise nutzt der Vater nicht die erste Gelegenheit, das Kind zu begrüßen. Somit bekommt das Kind die Gelegenheit, als Erstes zu sprechen.

68 4.3

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Bemühungen der Großeltern um Orchestrierung der „Sprechende Köpfe“-Konfiguration

Die Mühe, die die Großeltern z. T. aufwenden müssen, um diese visuelle Konfiguration im Moment der Verbindung zu realisieren, kann als Beleg dafür dienen, wie wichtig es ihnen ist, diese Interaktionsleistung zu erzielen. In der in Auszug 3 dargestellten Szene ist das Kind, ein Junge, drei Jahre alt. Er ist wesentlich mobiler als die Kinder in Auszug 1 und 2. Seine Mobilität veranlasst die Großmutter zu erheblichen Anstrengungen, die Bedingungen für eine ausreichend relevante visuelle Konfiguration im Moment der Verbindung zu schaffen. Auszug 3: widerstrebendes Kind (LET07)

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Zu Beginn des Auszugs ist der Videoanruf durch die Großmutter eingeleitet und sie wartet auf das Zustandekommen der Verbindung. Über den gesamten Auszug hinweg versucht die Großmutter auch dann, wenn der Junge sich bewegt, den Bildschirm zur Beobachtung im Blick zu behalten. Zunächst formuliert sie für das Kind die erwünschte Aktivität und kleidet dies in die Form einer Einladung, die das gemeinsame Engagement als Rahmenaktivität setzt. Ihre als Vorschlag formulierte Äußerung „Lass uns X“ (Zeile 01) stellt außerdem ein potenzielles Interesse des Kindes in den Vordergrund (nämlich, sich mit seinem Vater im Video zu unterhalten). Dabei ist sie ständig damit beschäftigt, mit der anderen Hand den Jungen in einer Position vor und nahe bei sich zu halten, während er versucht von ihr loszukommen und sich widerspenstig verhält. Der Junge versucht auch, sich aus dem Griff seiner Großmutter zu lösen, indem er sich zu Boden fallen lässt (siehe Bilder zu Zeile 01). Als die Großmutter dies zu verhindern sucht, hält sie ihn

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gleichzeitig fest und fordert ihn wiederholt auf, auf das Smartphone zu schauen (Zeile 03). Diese mehrfachen Wiederholungen dokumentieren die Bemühungen der Großmutter, das von ihm gewünschte Handeln zu blockieren. In Zeile 05 scheint die Großmutter ihren Haltegriff „taktisch aufzugeben“ (Lerner und Raymond 2017), als sie zulässt, dass er sich auf die Knie fallen lässt, und sie anschließend versucht, ihn dort zu halten. Dass sie jetzt eine andere körperliche Konfiguration anstrebt, zeigt sich daran, dass sie nun das Smartphone von unten vor das Gesicht des widerstrebenden Kindes hält (siehe Bilder zu Zeile 07). Es fällt auf, dass die von ihr eingesetzten Weisungen im Unterschied zu Aufforderungen nicht auf seine Einwilligung als relevanten nächsten Schritt abzielen und stattdessen die Kontrolle des Rezipienten über seine Handlungsalternativen zu minimieren versuchen. Dies passt zu dem, was auch in anderen Settings mit Kindern (z. B. Craven und Potter 2010) beobachtet wurde. Die aufeinanderfolgenden Weisungen drücken einen zunehmenden Anspruch auf den Jungen und wenig Rücksicht auf mögliche Handlungsalternativen aufseiten des Rezipienten aus: Dieser wird buchstäblich mit handgreiflichen Mitteln in seine Position gebracht und durch das Weisungsformat wird auch sein Einverständnis irrelevant (Curl und Drew 2008; Mondada 2017). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auf die „dritte“ Anweisung in Zeile 05 ein Versprechen folgt, das als Framing für das fungiert, was nach einem erfolgreichen Video-Chat passieren könnte. Ebenso wie Drohungen sind auch Versprechungen Ausdruck asymmetrischer Handlungsmacht (der oder die Sprechende hat die Macht, etwas geschehen zu lassen). Hier sind sie als „wenn du X tust, dann Y“ formuliert und darauf gerichtet, das Kind zu einem bestimmten Handeln zu überreden und mithin „sozialen Einfluss“ auszuüben (Hepburn und Potter 2011). Das Versprechen stellt einen potenziellen „Aktivitätsvertrag“ (Aronsson und Cekaite 2011) dar und stellt dem Kind damit in diesem Moment ein größeres kommunikatives Projekt vor Augen. Das Kind scheint jedoch die Folge von Anweisungen zu ignorieren und versucht über den ganzen Verlauf von Zeile 01 bis Zeile 10 weiterhin, von seiner Großmutter loszukommen, während diese sich noch mehr nach vorne beugt und ihm gleichzeitig das Smartphone hinhält. Die Großmutter kündigt nun das bevorstehende Ereignis als „mit Mama sprechen“ an und gibt diesem ein Framing als einer Art von gemeinsamem Videoanruf mit beiden Eltern. An diesem Wendepunkt des Verlaufs wechselt sie die Grundposition ihres verkörperten Verhaltens, was vermutlich eine Reaktion auf ihre andauernden Schwierigkeiten darstellt, das Kind auf dem Boden unter Kontrolle zu bringen. Sie wiederholt ihr Versprechen, dass er anschließend spielen dürfe (Zeile 09), und richtet dann den Jungen so auf, dass er vor ihr steht (siehe Bilder zu Zeile 09). Dabei hält sie ihn mit dem rechten Arm in Position. Das Smartphone in ihrer Hand bewegt sie vor das Gesicht des stehenden Jungen. In diesem Moment kommt die Videoverbindung zustande (Zeile 10). Das Smart-

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phone wird vor das Gesicht das Jungen gehalten, sodass dessen obere Kopfhälfte und dahinter auch ihr Gesicht sichtbar ist, wie sie den Bildschirm beobachtet (siehe Bilder zu Zeile 10). Der Verbindungsbeginn wird von der Großmutter mit einem anerkennenden „Yeah!“ quittiert (Zeile 11), wodurch er zu einer Art Leistung wird, was dann eventuell auch dazu dient, die Aufmerksamkeit des Kindes zu sichern. Darauf folgt eine Anweisung an das Kind, seinen Vater zu begrüßen. Letzteres bezieht sich auf das visuelle Auftauchen des Vaters als Ressource, sodass auf diese Weise die Begrüßung durch das Kind schon als relevante Reaktion auf das Auftauchen des Vaters als „sprechender Kopf“ antizipiert wird. Die Großmutter hat unter Einsatz multimodaler, heterogener Ressourcen, darunter den beobachtenden Blick, taktilem Zwang, der Beschränkung der Mobilität des Jungen, verbalen (An-)Weisungen und Versprechungen sowie der Manipulation des Smartphones, am Ende mit größter Mühe eine „Sprechende Köpfe“-Konfiguration von Elternteil und Kind im Moment der Verbindung realisiert. Als Beobachtende(r) hat man angesichts des andauernden verkörperten Widerstrebens des Kindes das Gefühl, die Großmutter hätte den Anruf genauso gut auch selbst einleiten und das Smartphone dem Kind später bringen können. Das Verhalten der Großmutter lässt jedoch zu keinem Zeitpunkt den Schluss zu, dass dies für sie eine Option sei. Dieser Auszug vermittelt ein Gefühl dafür, wie weit die Teilnehmenden zum Teil gehen, um die „Sprechende Köpfe“-Konfiguration im Moment der Verbindung zustande zu bringen, und wie wichtig ihnen folglich diese Konfiguration ist. 5

Fazit

Wir haben in diesem Text zwei Hauptstrategien der Beteiligten an Videoanrufen beschrieben: Erstens das Orchestrieren einer bestimmten visuellen Konfiguration im Moment des Zustandekommens einer visuellen Verbindung. Diese Konfiguration wurde als „Sprechende Köpfe“-Konfiguration bezeichnet. Zweitens haben wir gezeigt, dass die Großeltern unter Umständen einen großen interaktiven Aufwand betreiben müssen, um eine "erfolgreiche" Eröffnung zu orchestrieren. Zur Beschreibung der notwendigen Arbeit und zum Verweis sowohl auf die externen zeitlichen Randbedingungen, unter denen sie geleistet werden muss, als auch auf das zu ihrem Vollzug relevante Gerüst von Aktivitäten greifen wir auf den Begriff der „Orchestrierung“ zurück, der nach unserem besten Wissen in der konversationsanalytischen Literatur im Wesentlichen als Äquivalent dessen verwendet wird, was Goodwin „Ko-operation“ nennt (Goodwin 2018). In unserem Ansatz erscheint „Orchestrierungsarbeit“ als Sonderfall ko-operativer Arbeit, bei der die Beteiligten durch Zusammenarbeit heterogene Ressourcen zu einem erkennbaren interaktionellen Spielzug (turn) zusammenfügen und außerdem die Kontingenzen einiger externer zeitlicher Randbedingungen bewältigen. Die von uns analysierten Auszüge machen die

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Orchestrierungsarbeit sichtbar, die zur Herstellung einer gemeinsamen „Sprechende Köpfe“-Konfiguration des entfernt lebenden Elternteils und des kleinen Kindes in oder kurz nach dem Moment erforderlich ist, in dem die Videoverbindung zustande kommt. Der Aufwand, den die Großeltern für die Orchestrierung aufwenden, zeigt, dass die Einbeziehung des Kindes von Beginn der Videoanrufe an von den Beteiligten als wichtig angesehen wird. Nur wenn die Kinder in der Kamera sichtbar sind und ihr entsprechend zugewandt sind, haben sie die Möglichkeit zu zeigen, dass sie ihre weit entfernten Eltern erkennen. Für Migranteneltern ist es eine schwierige Erfahrung, ihre sehr kleinen Kinder zurückzulassen. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass ihr zurückgelassenes kleines Kind sie (nach der Trennung) weiterhin erkennt. Solche Herausforderungen können zu einem starken emotionalen Schock führen, wie Pratt (2012: 55) hervorhebt: „Both mothers and children we interviewed spoke of this erasure and the shock of nonrecognition – literal nonrecognition – when mothers returned home for visits, especially when children had been left when very young.“ Mit anderen Worten, das Nicht-Erkennen kann als merklich fehlend behandelt werden und könnte die Eltern-Kind-Beziehung gefährden. Unsere Analyse legt nahe, dass sich die Teilnehmer*innen direkt mit Beginn des Videoanrufs an diesem Problem orientieren und damit umgehen. Die von den Großeltern geleistete Orchestrierungsarbeit bereitet das Kind nicht nur darauf vor, auf dem Bildschirm zu erscheinen, sondern auch darauf, in die Interaktion mit ihren Eltern einzutreten. Um dies zu erreichen, ist die Orchestrierungsarbeit daher auch anleitend, indem sie das Kind dazu bringt, sich an der Videoverbindung als interaktionale Tätigkeit zu orientieren. 6

Anhang Transkriptions-Konventionen

Die Datenauszüge wurden nach etablierten Konventionen der Konversationsanalyse transkribiert (Hepburn und Bolden 2017). Bei der Sprache handelt es sich um den Dialekt der chinesischen Provinz Sichuan (genauer, der Stadt Zigong). Es wurde eine Transkription in jeweils drei Zeilen vorgenommen. Die erste Zeile zeigt die chinesischen Schriftzeichen, die zweite Zeile die Aussprache der Wörter im Dialekt von Zigong, die dritte Zeile enthält die Übersetzung ins Deutsche. Wichtige Transkriptionszeichen und ihre Bedeutung (1.7) (.) WORT Wort

1,7 Sekunden Schweigen merkliche Pause, jedoch unter 0,2 Sekunden Großschreibung zeigt erhöhte Sprechlautstärke an Formen der Betonung, z. B. ansteigende Intonation

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:: [] = oo >< (Wort) (( )) 7

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Verlängerung eines Lauts; je mehr Doppelpunkte, umso länger der Laut Überlappung von Sprechbeiträgen unmittelbarer Sprecherwechsel ohne erkennbare Pause Abbruch (plötzliches Aufhören) leises Sprechen beschleunigtes Sprechen vermuteter Wortlaut Anmerkungen und Beschreibungen durch Transkribierende(n)

Danksagungen

Wir möchten allen Familien, die uns erlaubt haben, ihr Haus zu besuchen und ihre Videoanrufe aufzuzeichnen, unseren herzlichen Dank aussprechen. Ohne ihre Unterstützung wäre diese Forschung nicht möglich gewesen. Wir möchten auch Clemens Eisenmann, Jutta Wiesemann, Jochen Lange und Andreas Liesenfeld für ihr wertvolles Feedback und ihre Hilfe bei der Übersetzung des Kapitels danken. Literatur ACWF (All China Women’s Federation) (2013). Quan Guo Nong Cun Liu Shou Er Tong, Cheng Xiang Liu Dong Er Tong Zhuang Kuang Yan Jiu Bao Gao (Forschungsbericht zur Situation der sogenannten zurückgelassenen Kinder im ländlichen China und von Kindern im Kontext der Land-Stadt-Migration in China). Zhong Guo Fu Yun, 6, 30-34. [in chinesischer Sprache] Aronsson, Karin und Asta Cekaite. 2011. Activity contracts and directives in everyday family politics. Discourse & Society 22(2): 137-154. Baldassar, Loretta. 2008. Missing kin and longing to be together: emotions and the construction of co-presence in transnational relationships. Journal of Intercultural Studies 29(3): 247-266. Baldassar, Loretta, Nedelcu, Mihaela, Merla, Laura und Raelene Wilding. 2016. ICT‐based co‐presence in transnational families and communities: challenging the premise of face‐to‐face proximity in sustaining relationships. Global Networks 16(2): 133-144. Bolden, Galina. 2012. Across languages and cultures: Brokering problems of understanding in conversational repair. Language in Society 41(1): 97-121. Busch, Gillian Roslyn. 2018. ‘Happy birthday grandpa’: Using video-supported technologies in family communication. Research on Children and Social Interaction 2(1): 74-97.

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Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen in der familialen Videotelefonie mit Kindern Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen

Clemens Eisenmann

1

Einleitung

Familiale Intimität in der frühen Kindheit wird üblicherweise als etwas Unmittelbares und überaus Körperliches verstanden. Sie kann quasi als ‚Prototyp‘ körperlich präsenter Interaktionen gesehen werden. Dieser Beitrag fragt allerdings nach der Relevanz von Intimität bei der Videotelefonie und somit in technisch und medial vermittelten Situationen. Inwiefern gelingt oder scheitert die Beziehungspflege bspw. im Austausch von Küssen zwischen Großeltern und Enkeln face-toscreen und wie wird die, für (intime) Interaktionen notwendige, wechselseitige Orientierung und Wahrnehmung in technisch vermittelten Situationen sozial organisiert und hergestellt? Eine grundlegende Voraussetzung für die Frage nach soziotechnischer Intimität, liegt in medial vollzogenen Formen der An- und Abwesenheit: Wie orientieren sich die unterschiedlichen Interaktionspartner*innen (Kinder, Eltern, Großeltern, Freunde) jeweils zu medial vermittelten Anwesenden, wenn sich die Situation durch begrenzte audio-visuelle Sicht- und Hörbarkeit und gerade ohne körperliche Anwesenheit konstituiert. Wie wird unter diesen Bedingungen wechselseitige Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit fortlaufend hervorgebracht und praktisch gewährleistet? Wie lassen sich diese Interaktionsformen empirisch genauer beschreiben und sozialtheoretisch fassen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Interaktionssoziologie weitestgehend mit Blick auf körperliche Kopräsenz konzipiert wurde? Zu diesen Fragen, untersucht der Beitrag videotelefonische Verabschiedungssequenzen in Familien mit Kindern aus einer ethnomethodologischen Perspektive. Video-Interaktionssituationen ermöglichen Einblicke in die Methoden und Prozeduren der Hervorbringung und Etablierung von Medienpraktiken, die wir in Familien mit Kindern beobachten. Digitale Medienkindheit(en) und ihre familialen Beziehungen gestalten sich in und mit ganz alltäglichen Medienpraktiken. Kinder wachsen eingebettet im familialen Mediengebrauch auf und sind an der wechselseitigen Verfertigung und Interpretation von gemeinsamen Medienpraktiken maßgeblich beteiligt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_5

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Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen

Mit der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones ist die gesamte Bandbreite an Informations- und Kommunikationstechnologien in überaus handlicher Form als „mobile Medien“ (Thielmann 2014) zu einem gewöhnlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden. Vor diesem Hintergrund fortschreitender Mediatisierung ist eine Engführung der Interaktionssoziologie auf körperliche Anwesenheit weiter zu hinterfragen (vgl. Meyer 2014; Hirschauer 2014). Ähnlich wie Knorr Cetina et al. (2017, S. 36) danach fragen, wie „situationale Interaktionsordnungen in von Medien durchdrungenen Gesellschaften zu beschreiben“ sind, liegt der Fokus in diesem Beitrag auf ganz alltäglichen Situationen und ihren interaktionalen Praktiken, in denen und durch diese hindurch mediatisierte oder digitale Gesellschaften prozessiert werden. Für eine Präzisierung von soziotechnischen Interaktionsformen und Medienpraktiken erweist sich die Frage nach dem Gelingen und Scheitern von Intimität, dem ‚klassischen Prototyp‘ körperlicher Kopräsenz, als erkenntnisproduktiver Beobachtungsfokus. Die folgenden Abschnitte verorten den Beitrag theoretisch und methodologisch in der praxeologischen Kindheits-, Familien- und Medienforschung, mit der Zielsetzung den kooperativen und verkörperten Vollzug von Medienpraktiken ins Zentrum zu rücken. Die Fokussierung auf Medienpraktiken und die zunehmend mediatisierten Rahmenbedingungen gelten dabei sowohl für das ethnographische Untersuchungsfeld dieses Beitrags: den Alltag von Familien (Kap. 2); als auch für die im Zentrum stehende Frage nach soziotechnischer Intimität und Körperlichkeit bei der Videotelefonie mit dem Smartphone (Kap. 3). Aus diesem Blickwinkel bilden frühkindliche Verabschiedungsszenen den empirischen Hauptteil dieses Artikels, um sozio-technisch vermittelte Anwesenheit, Interaktionsformen und Medienpraktiken mit Blick auf familiale Intimität und frühkindliche Mediensozialisation genauer zu beschreiben (Kap. 4). Zusammenfassend werden weiterführende Erkenntnispotentiale dieser Perspektive aufgezeigt (Kap. 5). 2

Die Familie als ethnographisches Untersuchungsfeld

Mit Goodwin und Cekaite (2018, S. 3) betrachten wir Familien als „ongoing, unfolding organization of activities.” Das bedeutet, dass wir auch mögliche soziale Funktionen, wie Erziehung, Sorge, Intimität und Beziehungspflege (vgl. Tyrell 1976) als interaktionale Leistungen begreifen und in dieser Weise zum Gegenstand der Betrachtung machen: „The work of being a family is achieved through interactive practices” (Goodwin und Cekaite 2018, S. 116). Somit werden ganz alltägliche Aktivitäten und Interaktionssituationen in ihrer Choreographie und ihrem Detailreichtum zur relevanten Untersuchungseinheit. Diese umfassen auch verkörperte non-verbale Praktiken wie Prosodie, Blickorganisation, Gesichtsausdruck, Gestik, Körperhaltung und Orientierung sowie ihre sozio-materiellen Ar-

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rangements, die an der wechselseitigen Hervorbringung von Handlungen beteiligt sind (vgl. Meyer 2018). Im familialen Kontext gehören hierzu auch Berührungen, Umarmungen sowie der verkörperte und beobachtbare Ausdruck von Emotionen, wie etwa Empathie, Enthusiasmus oder Zuneigung. Diese sind auch bei der Koordination von alltäglichen Tätigkeiten der „daily round“ (Goffman 1953) und den damit zusammenhängenden „appropriate time-space configurations“ (Goodwin und Cekaite 2018, S. 14) von Bedeutung, wie etwa beim Aufstehen, Anziehen, Frühstücken, zur Schule bringen, zur Arbeit fahren, bis zum Zähneputzen und zu Bett bringen (vgl. ferner zum doing family auch Krinninger und Fürtig in diesem Band). Aus dieser Perspektive begleiten wir im Forschungsprojekt: „Frühe Kindheit und Smartphone. Familiale Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation“ (am SFB-1187 „Medien der Kooperation“) über 15 Familien ethnographisch (vgl. Wiesemann et al. in diesem Band).1 Die Erforschung frühkindlicher Medienpraktiken im familialen Kontext gestaltet sich methodologisch in mehrfachen Hinsichten voraussetzungsreich. Dies betrifft: (1.) das Interesse am privaten Alltag, der sich in der Regel gerade durch das Fehlen externer Beobachtung konstituiert; (2.) die spezifische frühkindliche Perspektive, die sich nur sehr bedingt aus einer Erwachsenenperspektive erfassen und beschreiben lässt; (3.) die alltägliche Verbreitung von Medienpraktiken der Dokumentation, welche die Übergänge zwischen ethnographischen und familialen Medienpraktiken fließend werden lassen (vgl. Eisenmann et al. 2019). Der Beitrag schließt daher an eine Weiterentwicklung der Medienethnographie an, die Feldforschung und Forschungsprozesse als kooperative wechselseitige Verfertigung versteht und die praktische Involvierung der Ethnograph*innen – in alltäglich eigene und familiale Medienpraktiken – systematisch reflektiert und produktiv nutzt (vgl. ebd.; Wiesemann und Amann 2018). Ethnographische Forschung kann insbesondere im familialen Kontext als eine fortlaufende ko-operative Leistung verstanden werden, bei der Forscher*innen und Familien „an der detaillierten Organisation der Handlung des jeweils anderen partizipieren“ (Goodwin 2017, S. 7). Eine solche Vorgehensweise ermöglicht insbesondere die Kon1

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187 „Medien der Kooperation“. Unter der Projektleitung von Jutta Wiesemann sind an dieser Forschung mit unterschiedlichen ethnographischen Zugängen und Perspektiven u.a. Inka Fürtig, Pip Hare, Jochen Lange, Bina Mohn, Jan Peter, Claudia Rühle, Astrid Vogelpohl, Max Wagner und Erik Wittbusch beteiligt, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Mein besonderer Dank gilt Jan Peter und Erik Wittbusch, deren ethnographische Erhebungen in diesem Beitrag genutzt wurden, sowie den beteiligten Familien, die sich bereit erklärt haben an dieser Forschung teilzunehmen. Zudem danke ich den Teilnehmer*innen von zwei Datensitzungen: a) im Rahmen des Arbeitsbereichs Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie (Prof. Dr. Christian Meyer, Universität Konstanz); b) im Nachwuchsnetzwerk Video-Analyse (mit Prof. Dr. Jürgen Streeck).

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Soziotechnische Intimität und wechselseitige Wahrnehmung bei Verabschiedungen

textgebundenheit von sozialen Phänomenen zu berücksichtigen (vgl. Bergmann 2011). Theoretische Generalisierungen beziehen sich entsprechend nicht auf abstrakte Thesen über „digitale Transformationen“, sondern auf das konkrete Wie ihrer wechselseitigen Verfertigung (vgl. ferner zur videographischen Forschungspraxis in bildschirmbasierten Situationen Motowidlo und Trischler 2018). 3

Intimität, Körperlichkeit und Videotelefonie

Mit der Bedeutung digitaler Medientechnologien im familialen Alltag haben sich insbesondere Studien im Kontext der Migrationsforschung auseinandergesetzt (vgl. Baldassar et al. 2016; Madianou und Miller 2011). Transnationale Familienzusammenhänge werden über medientechnologisch vermittelte Kommunikation aufrechterhalten und gepflegt. So spielen bspw. soziale Medien – etwa im Sinne von „mobile intimacy“ (Hjorth und Lim 2012) – in der Diaspora eine bedeutende Rolle in der Organisation transnationaler familialer Intimität (vgl. Greschke und Motowidlo 2019). Der Umgang mit medial vermittelter Anwesenheit wird in diesem Zusammenhang u.a. als „co-presence by proxy“ (Baldassar et al. 2016), „long-distance intimacy“ (Parrenas 2005) und „ambient co-presence“ (Madianou 2016) beschrieben. Insbesondere für Eltern-Kind-Beziehungen ist Videotelefonie im Umgang mit langfristiger physischer Abwesenheit zentral (etwa bei Arbeitsmigration, vgl. Greschke und Motowidlo 2019; Gan et al. in diesem Band). Eine Reihe von Studien haben sich damit auseinandergesetzt, wie sich etwa das Mutter-Sein via Skype gestaltet (Longhurst 2013) oder wie sich emotionale Intimität in transnationalen Kontexten aufrechterhalten lässt (vgl. Alinejad 2019). Harper et al. (2017) merken jedoch an, dass in diesem Forschungsfeld zwar wichtige Bereiche, wie die Etablierung von transnationalen Netzwerken und Familien oder die Bedeutung von Visualität betrachtet werden, dass aber der konkreten sozialen Interaktion, ihren technosozialen Modalitäten und multimodalen verkörperten Praktiken bisher zu wenig Beachtung geschenkt werden. Aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive weisen Andreas et al. (2016, S. 10) darauf hin, dass für die Medientheorie eine Irritation und ein besonderer Reiz in der Auseinandersetzung mit Fragen der Intimität gerade darin besteht, dass deren Semantik gewöhnlich als weitestgehend unvermittelt und unabhängig von Technik gedacht wird. Blickt man auf den gegenwärtigen normativ aufgeladenen Diskurs zur Mediennutzung in der (frühen) Kindheit, in welchem Neue Medien, wie das Smartphone, im Kontext eines romantisierenden NaturTechnik Dualismus oftmals als asozial und bedrohlich hypostasiert werden (vgl. Spitzer 2012, zu dieser Diskussion ferner Lange und Amann in diesem Band), spitzt sich die Irritation bezüglich der Frage nach technosozialer Intimität weiter zu. Dieser normative Diskurs über Mediennutzung situiert sich jedoch, wie

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Buckingham (2009, S. 134) zurecht moniert, weitestgehend unabhängig von ethnographischer Forschung und kindzentrierten Perspektiven: „Much of this debate about (…) children’s uses of new communications technologies, has been conducted over the heads of children themselves. (…) There has been very little attention to the social contexts in which the technology is used, or to the social relationships of which it forms a part.“ Richtet man allerdings den Blick auf soziale Beziehungen in der frühen Kindheit, so gilt es zunächst festzuhalten, dass sich diese weitestgehend körperlich – und eben weniger sprachlich oder diskursiv – organisieren: „Interpersonal relationships begin in infancy. They begin not verbally, but non-verbally in the silence of movement, a silence that is dynamic through and through. To understand the foundations of intercorporeity is thus to go back to those dynamics and ascertain their nature.“ (Sheets-Johnstone 2016, S. 51) Der Begriff der Interkorporalität oder der Zwischenleiblichkeit, auf den Sheets-Johnstone hier verweist, geht auf Merleau-Ponty (2002) zurück. Merleau-Ponty fasst damit zum einen die (präneotischen) zwischenleiblichen Grundlagen unserer Vertrautheit mit der Welt, zum anderen die Verflechtung der Wahrnehmung im gemeinsamen Tun zusammen. Im zweiten Fall lässt sich die Agency des Tuns nicht mehr auf einzelne Subjekte zurechnen, sondern stellt vielmehr ein gemeinsames Sein, eine „Kompräsenz“ dar (vgl. Meyer et al. 2017). Meyer und Schüttpelz (2019) sprechen von einem gemeinsamen InteraktionsRaum, in dem individuelle Fertigkeiten (skills) erst durch wechselseitige körperliche Hilfestellungen (deren Assistierbarkeit) erworben werden: „Die Lehr- und Lernbarkeit unserer technischen Fertigkeiten beruht auf einem immer möglichen ‚WechselWir‘, das die Gemeinsamkeiten eines ‚Wir-Zusammen‘ hervorbringt“ (ebd., S. 365). Diese Bedeutung der Zwischenleiblichkeit für das Erlernen und die Ausübung von Tätigkeiten ist in der frühen Kindheit zentral. Wie im folgenden Kapitel deutlich wird, spielt Interkoporalität auch für die Frage nach technosozialer Intimität eine entscheidende Rolle. Dies betrifft die wechselseitige Verfertigung sowohl von Medienpraktiken als auch der zugrundeliegenden Kooperationsbedingungen. Aus ethnomethodologischer Perspektive geht es um die „reflexivity“ und „accountability“ von Praktiken (Garfinkel 1967). Das heißt, dass wir uns im gemeinsamen Vollzug von Tätigkeiten deren Bedeutung wechselseitig erkennbar und beobachtbar machen. In diesem Zusammenhang stellen die Praktiken und Perspektiven von Kindern auch unser alltägliches Verständnis von Technologien und deren Nutzung in Frage. Man könnte im Sinne der Technomethodologie (Dourish und Button 1998)2 von 2

In den Bereichen der Human-Computer-Interaction (HCI) und des Computer Supported Cooperative Work (CSCW) wurden bereits früh interaktionssoziologische Prinzipien der Ethnomethodologie und der Science and Technology Studies (STS) berücksichtigt. Allerdings stehen hierbei oftmals Fragen des Designs im Zentrum und jüngere Untersuchungen fokussieren überwiegend auf textvermittelte Kommunikation in Chats und sozialen Medien (vgl. Harper et al. 2017).

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natürlichen Krisenexperimenten sprechen, die neue Betrachtungsmöglichkeiten aufwerfen und gewöhnlicher Weise unhinterfragte Praktiken sichtbar werden lassen (vgl. Eisenmann et al. 2019, S. 70). Der Blick auf frühe Kindheit bietet insofern Einsichten darüber, wie Medienpraktiken und deren Bedeutungen kooperativ verfertigt werden. Dies beginnt bereits mit der Frage, inwiefern interaktionale Wechselseitigkeit und reflexive Wahrnehmung in der videovermittelten Interaktion gelingt oder scheitert. 4

Videotelefon-Verabschiedungen mit und von Kindern: „Auf deine Nase“ oder „auf die Scheibe“?

Die Beendigung von Videotelefongesprächen mit Kindern in Familien bilden ein „perspicious setting“ (Garfinkel 2002, S. 181 f.) für die Frage nach der soziotechnischen Vermittlung familialer Intimität und ihren interaktiven Leitungen und kommunikativen Formen. Denn in Beendigungen werden soziale Beziehungen der Gesprächspartner gepflegt und die technischen und interaktiven Bedingungen des Gesprächs sichtbar. So stellt etwa ein plötzliches Abbrechen des Gesprächs eine Störung dar, die durch erneutes Anrufen bearbeitet wird, da eine gemeinsame Beendigung des Gesprächs erwartet wird. Gesprächsbeendigungen bilden ein klassisches Forschungsthema der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Schegloff und Sacks (1973) interessierten sich bereits dafür, wie es uns im Alltag – bzw. in Telefongesprächen – gelingt, Gespräche in wechselseitig erkennbarer Weise zu beenden: „How to organize the simultaneous arrival of the co-conversationalists at a point where one speaker’s completion will not occasion another speaker’s talk, and that will not be heard as some speaker’s silence“ (ebd., S. 73). Ihre Frage zielt auf die notwendige interaktionale Arbeit bei der methodischen Hervorbringung von gemeinsamen Gesprächsbeendigungen. Die archetypische Beendigung (vgl. Button 1990) besteht aus mindestens zwei Paarsequenzen (adjacency pairs), einem Beendigungsvorlauf (pre-closing) und einem Beendigungsaustausch (terminal exchange), wie im folgenden Transkript (aus Sacks und Schegloff 1973, S. 90): 01 02 03 04

A: B: A: B:

O.K. O.K. Bye Bye Bye

Kaerlein (2016) verweist auf frühe Formen des „intimate computing“, deren Bedeutung in den letzten Jahren jedoch vermehrt die Lernfähigkeit und Anpassung der Systeme selbst und nicht, wie noch in den 70iger und 80iger Jahren, die Kompetenzen und Subjektivierungseffekte der Anwender*innen im Blick hat.

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Es sind oftmals inhaltsleere Minimaläußerungen, wie „okay“ „gut“, „also dann“ usw., die dem Austausch der Verabschiedungsformen vorausgehen. Dazu kommen weitere Formen der Beendigungsinitiierungen, wie resümieren, danken, auf zukünftige Terminabsprachen verweisen etc. (vgl. auch Selting 2007). Gerade inhaltsleere Äußerungen bieten den Gesprächspartnern auch potentiell die Möglichkeit ein neues Thema zu eröffnen. Zu Beendigungsmarkern werden sie erst, wenn sie durch ihr Gegenüber auch als ein pre-closing interpretiert und durch eine ähnliche themenneutrale Äußerung ratifiziert werden. Dabei kann die Minimalform der Abschlusssequenz durchaus erweitert, unterbrochen (moving out of closing, Button 1987) und erneut wiederholt werden. Neben der interaktiven methodischen Organisation von Gesprächsbeendigung, geht es auch um die gesichtsverlustfreie Hervorbringung einer konsensuellen Beendigung, die Gefühle der Zurückweisung vermeidet. Pavlidou (2014, S. 367) weist in diesem Zusammenhang auf kulturelle Unterschiede hin und unterscheidet „interactionally economical“ von „interactionally exuberant“ Lösungen, wobei letztere zahlreiche Formen der Beteiligung – wie Wiederholungen, Überlappungen und Vertrautheitsausdrücke – in gar überschwänglicher Weise nutzen. Mit Blick auf deutschsprachige Telefongespräche zeigt sie die Bedeutung dieser Beteiligungsformen für die Vertiefung und Festigung von Beziehungen bei Beendigungssequenzen.3 Diese Art der interaktionalen Beziehungsarbeit wird insbesondere im familialen Kontext relevant, wenn beispielsweise, wie im folgenden Datenstück, die Großeltern mittels der Videotelefonie am Aufwachsen ihrer Enkel teilhaben. Bereits ein kurzer Blick auf den folgenden Gesprächsausschnitt (Transkript 1) verdeutlicht, dass sich dieser sichtlich komplexer als die Minimalform der Beendigungssequenz gestaltet. Ein wesentlicher Unterschied zu klassischen Studien über Telefongespräche liegt ferner in der video-vermittelten selektiven Sichtbarkeit, die es notwendig macht, die technischen Bedingungen und die verkörperte bzw. multimodale Organisation der Beendigung genauer in den Blick zu nehmen (vgl. Broth und Mondada 2013). Dies erweist sich in der frühen Kindheit als besonders relevant, nicht zuletzt da die sprachlichen Mittel der Gesprächsorganisation begrenzt sind. Der folgende Ausschnitt beginnt mit einem expliziten pre-closing in Form einer Vorankündigung der Mutter, das Gespräch potentiell zu beenden (Z. 02). Der eineinhalbjähre Niko wartet aber die Antwort und mögliche Ratifizierung der 3

Harren und Raitaniemi (2008) argumentieren für eine Erweiterung der sequenziellen Struktur im deutschsprachigen Kontext und identifizieren eine zweite Abschlusssequenz. Die erste entspricht – häufig mit „dann“-Konstruktionen – dem „pre-closing“, während eine weitere Sequenz den Beginn des „terminal exchange“ aushandelt. Ähnlich jedoch wie Button (1990) gegenüber Auer (1990) argumentiert, können diese Elemente m. E. weniger als Alternative, sondern eher als Erweiterung der Grundstruktur gelesen werden und betonen die Notwendigkeit persöhnliche Beziehungen und die spezifischen Gesprächskontexte genauer zu berücksichtigen.

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baldigen Gesprächsbeendigung durch die Oma nicht ab, sondern unterbricht diese mit einem sehr lauten „Baba“ (Z. 04), einer häufigen Verabschiedungsfloskel für Kinder im österreichischen Kontext, die in dieser Familie gebräuchlich ist. Jedoch wird die Äußerung nicht als adäquater Übergang zum terminal exchange behandelt, da es einerseits eher zu einem spielerischen Austausch mit der Großmutter kommt (Z. 05) und er andererseits von der Mutter anschließend in Zeile 06 nochmals explizit zum Tschüss-sagen aufgefordert wird. Dennoch scheint die Äußerung des Kindes die Überleitung aus dem pre-closing dahingehend zu gewährleisten bzw. zu initiieren, dass jetzt eine Verabschiedung stattfindet. Niko vollzieht das eingeforderte Tschüss-sagen durch kurzes Winken, das von der Oma überlappend verbalisiert wird. Mutter, Oma und Opa, der für die Verabschiedung, ganz im Sinne der talking head Konfiguration (vgl. Gan et al. in diesem Band), ins Bild geholt wird, stimmen in dieses Winken ein, wie in Abb. 1 sichtbar wird, in welcher die Großmutter bereits beginnt Handküsse zu versenden, die mit |* transkribiert sind.4

Abbildung 1:

4

Winken. Videostandbild: Jan Peter, Nachzeichnung: Erik Wittbusch

Ich danke Jan Peter, der dieses Material im Rahmen seiner Mitarbeit im Forschungsprojekt: „Frühe Kindheit und Smartphones“ (SFB-1187) für seine Masterarbeit „Smartphones im familiären Alltag. Eine konversationsanalytische Untersuchung der Videotelefonie“ (Universität Bielefeld, 2018; Erstgutachten Ruth Ayaß) erhoben hat.

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Transkript 1: Auf Deine Nase M: Mutter; OmV: Oma im Videochat, Ni: Niko (Kind), OpV: Opa im Videochat, J: Ethnograph 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

M: OmV: Ni: OmV: M: Ni: OmV: M: OpV: OmV: M: OmV: Ni: M: Ni: M: M: OpV: J: M: Ni: OmV:

Ni: M: OmV: M: J: M:

weiß ich nich, also da müsst ich jetzt auflegen mit euch; we[ [b!A!ba (-) ((österreichische Verabschiedungsform)) guck=guck,da (-) okay dann sag mal tschüss zur oma (-) [((winkt)) ] [tschüss niko;] (-) ((winkt und Opa kommt ins Bild)) tschühüs; ((winkt Abb.1)) [((winkt))] [|* |* |* ]|* |* |* |* ((Handküsse)) [schÖnen m]ittag- (winkt) (-) tschau (.) bye |* ((beugt sich vor und greift mit dem Daumen in Richtung des unteren Displayrand)) auf rot drücken |* ((zieht die Hand wieder zurück und gibt Handkuss)) Oh:: das aber lieb. [|*] ((Abb.2)) [|*] ((lacht)) Oh: [|*] [|*] ((küsst ihren Finger und bringt diesen langsam Richtung Telefon)) auf deine nase= auf deine nase= auf deine nase= ((Abb.3)) auf deine NA::SE::: (-)HA ((Der Finger verschwindet)) ((Niko greift und nimmt das Smartphone)) ˀh°_und auflegen; ((Skype-Darstellung verschwindet)) °h SU:per (.) tschau (.) machts [gut-] [tschA:U-] oh- ((greift und nimmt das Smartphone zurück)) ((lacht)) jetzt weiß ich nich mehr wie des geht SO:: ((legt auf))

Das Gespräch hatte am Küchentisch begonnen, an welchem Niko auf dem Schoß seiner Mutter saß. Etwa zur Mitte des Gesprächs hatte er das Smartphone ‚erobert‘ und lief mit diesem in die Mitte des Raums, auf dessen Boden die beiden sich jetzt befinden. Die Mutter sitzt in der Hocke und hält das Gerät, dessen Kameraausrichtung sie organisiert, knapp außerhalb der Griffweite von Niko, der neben ihr vor dem Smartphone steht. Das Gelingen der technischen und interaktionalen Infra-

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struktur, i. e. das sozio-technische Arrangement, wird fortlaufend durch die Mutter gewährleistet, die den Anruf tätigt, das Smartphone auf Niko ausrichtet und auch kommunikativ das Gespräch und die Handlungen ihres eineinhalb jährigen Sohnes begleitet, kommentiert, übersetzt und körperlich korrigiert. Zum „Tschüss-sagen“ (Z. 05) von Niko dreht sie das Gerät vollständig in dessen Richtung, während sich die Verabschiedung zwischen ihr und der Großmutter verbal und ohne wechselseitige Sichtbarkeit vollzieht. Während für die Verabschiedung der Erwachsenen, wie bei einem Telefonat, der Audiokanal auszureichen scheint, wird deutlich, dass es in der Situation primär um das Videogespräch zwischen Niko und seinen Großeltern geht. Das Gelingen dieses Gesprächs bedarf sowohl interaktionaler Arbeit seitens der Mutter, als auch der wechselseitigen Sichtbarkeit zwischen Niko und seinen Großeltern, die ebenso durch die Mutter gewährleistet wird (vgl. Gan et al. in diesem Band). Heath und Luff (1993) haben darauf hingewiesen, dass Gesten bei videovermittelten Gesprächen – durch die eingeschränkte wechselseitige körperliche Wahrnehmung – tendenziell weniger performative Signifikanz haben. Dies führe dazu, dass Gesten deutlich stärker akzentuiert und teilweise übertrieben eingesetzt werden, was sich durchaus auf das exzessive Winken und Küssen in dieser Szene beziehen lässt. Zudem führt die Verfügbarkeit des visuellen Kanals geradezu zur interaktionalen Erwartung einer körperlichen Reaktion bei der Verabschiedung. An das Winken anschließend bilden Zeile 12 und Zeile 13 einen klassischen terminal exchange zwischen Mutter und Großmutter, womit das Gespräch durchaus enden könnte. Deutet man den Griff des Kindes, der sich mit dem Daumen dem ‚Roten Hörer‘ auf dem Smartphone-Display nähert, wie auch dessen Mutter in Zeile 15, so zeigt Niko einen überaus kompetenten Umgang mit der gesamten sequentiellen Struktur der Beendigung, da er mit Baba, Winken und im Anschluss an die Verabschiedungsfloskeln, mit dem Griff zum Smartphone, das antizipierte Ende vollziehen würde. Dies wird auch durch die anschließende Kommentierung der Mutter als folgerichtige Handlung ratifiziert: „Auf rot drücken!“ Jedoch endet das Gespräch an dieser Stelle noch nicht. Bei der Fortsetzung der Beendigung (Z. 14 f.) zeigt sich erneut, dass der Austausch zwischen Niko und dessen Großeltern im Zentrum steht. Niko beugt sich in Zeile 14 mit der ausgestreckten Hand näher an das Gerät heran und reagiert, während seine Mutter bereits das Auflegen verbalisiert, auf den in diesem Moment sichtbaren Kussmund der Großmutter. Hierzu bricht er seine Handlung ab und sendet selbst einen Handkuss. Dies führt keineswegs zur Unterbrechung der Beendigung oder etwa dazu, dass das Ausbleiben des Auflegens thematisch würde, sondern wird direkt positiv und in affektiver Stimmlage kommentiert und gelobt: „Ohhhh, das ist aber lieb“ (Z. 17) und auch vom Großvater erwidert. Von besonderem Interesse ist, dass die Mutter

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daraufhin selbst einen Handkuss vollzieht wie in Abb. 2 angedeutet. Die offene Hand von Niko in der Nachzeichnung, markiert das Ende seines Handkusses.

Abbildung 2:

Handküsse. Videostandbild: Jan Peter, Nachzeichnung: Erik Wittbusch

Für ihren Kuss dreht die Mutter das Smartphone jedoch nicht und befindet sich weiterhin außerhalb der Sichtbarkeit der Kamera. Auch insofern scheint ihr Kuss nicht primär an die Großmutter adressiert, sondern kann eher als Reaktion auf den Kuss ihres Kindes gedeutet werden, der diesen erwidert oder ein re-enactment des selbigen darstellt. Dabei wendet sie sich ihrem Sohn am Ende des Handkusses zu und wiederholt das langgezogene „Ohh“, worauf Niko kurz den Blickkontakt zur Mutter herstellt und sogleich einen zweiten Handkuss vollzieht (Z. 22). Durch den Kuss der Mutter, finden die via Smartphone vermittelten Küsse der körperlich abwesenden Großeltern in der sozialen Situation ein körperliches Gegenüber. Die Mutter wird quasi zur stellvertretenden Interaktionspartnerin, die am Gelingen der videovermittelten Interaktion und der körperlichen Nähe des Austauschens der Küsse sowie der ‚Beziehungsarbeit‘ und deren positiven Evaluation beteiligt ist. Etwas anders gestaltet sich dies beim Nasenkuss der Oma, der als eine Art von verkörpertem upgrading (Pomerantz 1984) der interaktionalen Ressourcen (vom Winken, über Handküsse, zum Nasenkuss) gelesen werden kann. Dazu küsst die Oma zunächst ihren Finger und bringt diesen langsam Richtung Smartphone (siehe Abb. 3), während sie das Ziel des Fingers, verbal: „auf deine Nase“, – vier-

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mal schnell wiederholt (Z. 24–26). Der Finger der Großmutter verschwindet aber aus Sicht von Niko im ‚nirgendwo‘. Der Bezug zwischen Finger und Nase des Kindes erweist sich nur Seitens der Großeltern als intelligibel, die dessen Nase auf ihrem Display sehen können. Das „ha“ in Zeile 26, welches das Ankommen des Fingers markieren soll, verebbt ohne weiteren Anschluss in der Tätigkeit des Auflegens. Er wird auch Seitens der Mutter nicht weiter übersetzt oder aufgegriffen. Beispielsweise hätte die Mutter mit Ihrem Finger die Nase des Kindes berühren können, wodurch, wie beim Handkuss, ein verkörperter Anschluss in der Situation relevant geworden wäre.

Abbildung 3:

Nasenkuss. Videostandbild: Jan Peter, Nachzeichnung: Erik Wittbusch

Der eher scheiternde Nasenkuss verdeutlicht eine grundlegende Schwierigkeit videovermittelter Kommunikation, die als „Mona-Lisa“-Effekt beschrieben wurde (Rogers et al. 2003). Dieser Effekt bezieht sich darauf, dass sich den bildschirmvermittelten Interaktionsteilnehmer*innen die exakte Richtung von Zeigegesten entzieht. Bereits beim wechselseitigen Blickkontakt stellt sich dabei das Problem ein, dass man entweder in die Kamera oder auf den visuell sichtbaren Gesprächspartner blickt, womit die Wechselseitigkeit des sich Anblickens, die bereits Simmel (1908, S. 724) eindrücklich beschrieben hatte, fragil wird: „Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sichanblicken liegt. (…) Und so stark und fein ist diese Verbindung, dass sie nur durch die kürzeste, die grade Linie zwischen den

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Augen getragen wird, und dass die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehen, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. (…).“

Diese von Simmel beschriebene Fragilität der Wechselseitigkeit bei körperlicher Kopräsenz wird bei der technisch vermittelten Videotelefonie aber nur dann relevant oder thematisch, wenn sie, wie beim Nasenkuss ansatzweise, zum Problem wird. Sie zeigt sich häufig bei noch unerfahrenen Videotelefonie-Teilnehmer*innen, zu denen Großeltern teilweise gehören. Fornel (1996) beschreibt diese Problematik der Blickausrichtung als eine zu erlernende Kompetenz (sowohl auf den Bildschirm als auch in die Kamera zu blicken) beim Aufkommen der Videotelefonie, welche zumeist an stationären Computern mit externen Kameras ausgeführt wurde. Beim Smartphone führt aber bereits der geringe Abstand von Display und Kamera in der Regel zu einem scheinbar gewährleisteten und – entgegen Simmels auf face-to-face Situationen bezogene Beschreibung der potentiellen „Zerstörung“ – zu einem, für alle praktischen Gründe, unproblematischen Blickkontakt. In der Situation wird die Verbalisierung des Nasenkusses zu einem rhythmischen Hintergrund für das bereits begonnene Auflegen und somit weniger zu einem Problem, sondern vielmehr zu einer anderen Modalität der Beendigung (vgl. Auer 1990). In der Regel wird also das Simmelsche Problem des Augenkontakts interaktional kompensiert. Es erweist sich aber durchaus potentiell relevant und findet sich in gegenwärtigen Software-Entwicklungen wieder: Der Hersteller „experimentiert mit einer neuen Funktion, die die Blickrichtung bei Videotelefonaten eigenständig korrigieren soll, damit man dem Gegenüber stets in die Augen zu schauen scheint.“ (Becker 2019) Doch zurück zum Interaktionsverlauf. Im Anschluss an den Nasenkuss, greift Niko (in Z. 27) erneut, diesmal mit zwei Händen, nach dem Gerät und nimmt dieses aus der Hand der Mutter, die seine ‚Übernahme‘ sogleich mit „und auflegen“ kommentiert. Niko tippt dazu aber zunächst den Home-Button, womit Skype in den Hintergrund wechselt und die Abbildung der Großeltern auf dem Display verschwindet. Die positive Evaluation der Mutter: „super“ (Z. 9) deutet die Handlung als gelungenes Auflegen, das erst durch die weiterhin im Audio-Kanal hörbare Großmutter enttäuscht wird und sogleich zu einer weiteren überlappenden Verabschiedung führt (Z. 30 und 31). Überlappungen bei der Verabschiedung bilden eher die Regel als die Ausnahme (Auer 1990, S. 387) und ermöglichen beim terminal exchange die simultane Bestätigung der Gesprächsbeendigung. Im Gegensatz zu Beendigung von face-to-face Gesprächen, bei denen man den Ort verlassen oder anderweitig eine neue Aktivität und körperliche Ausrichtung anzeigen muss, vollzieht sich die technisch vermittelte Gesprächsbeendigung, soweit diese gelingt, abrupt mit dem Auflegen. Ein „moving out of closing“ (Button 1990) – bspw. „ach, was ich noch vergessen hab…“ – würde dann nur durch erneutes Anrufen möglich, weshalb der kommunikative Vorlauf zur Beendi-

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gung genau für solche Ergänzungen potentiell Zeit lässt. Die Finalität ist es auch, die dazu beiträgt, dass das Auflegen selbst und somit die technische Vermitteltheit des Gesprächs während der Beendigung häufig thematisiert wird. Die Relevanz der Thematisierung der Technologie und ihrer potentiellen Probleme wurde in der Literatur weitestgehend mit Blick auf die Eröffnung von Gesprächen diskutiert (vgl. Mlynar et al. 2018) und zeigt sich hier bei der Beendigung. „Den roten Knopf“ und „auflegen“ bilden zwar auch Anleitungen und positive Evaluierungen von Nikos Handlungen, sie stellen aber zugleich Kommentare dar, die das eintretende Ende des Gesprächs für die Großeltern ankündigen. Ein von den beteiligten Gesprächspartnern zu bearbeitendes praktisches Handlungsproblem liegt darin festzulegen, wer das Auflegen vollzieht. Denn im Gegensatz zur face-to-face Situation gibt es auf diesen Handlungszug keinen weiteren turn, was dem oder derjenigen die auflegt auch verunmöglicht zu sehen, ob das Auflegen als adäquate Handlung gedeutet wurde. Es ist dieses Handlungsproblem, das neben der hier verbal vollzogenen Thematisierung auch dazu beitragen mag, dass das Auflegen häufig an die beteiligten Kinder delegiert wird. Es bietet zudem die Möglichkeit diese in die Gesprächsbeendigung zu involvieren. So kann das Auflegen zum Teil des rituellen Vollzugs werden: Nach dem Tschüss-sagen, Winken und dem Austausch von Küsschen, darfst Du den roten Knopf drücken. In einer anderen Abschiedsszene, bei der das Auflegen ebenso nicht direkt gelingt, wird dies vom Vater genau in diesem Sinne kommentiert: „Sonst triffst Du doch immer den roten Hörer!“ Dabei dient, während des Gesprächs, das Halten des Telefons außerhalb der Griffweite des Kindes nicht nur zur Ausrichtung der Kamera, sondern auch dazu, ein versehentliches Auflegen zu vermeiden, das im „immer“ des Vaters durchaus mitschwingt. So ließ sich bei einer anderen Verabschiedung beobachten, dass der Kuss des Kindes auf das Display den roten Button traf, das Gespräch beendete und zu einem weiteren Anruf sowie zum erneuten Beginn der Verabschiedungssequenz führte. Die Übergabe der Tätigkeit des Auflegens an das Kind bietet insofern auch die Möglichkeit, einen adäquaten Ort für den ‚verlockenden‘ Griff zum leuchtenden Display zu markieren und einzuüben, der erst am Ende des Gesprächs stattfinden soll. Die Arten und Weisen des Auflegens werden somit zum Teil der technikspezifischen Gepflogenheiten bei der Sozialisation von Verabschiedungen, die sich in solchen Situationen beobachten lassen. Anleitungen, wie die Aufforderung zum Tschüss-sagen, und anschließende positive Feedbackschleifen und Bewertungen können als ganz alltägliche Lehr-Lern-Situationen interpretiert werden. Sie folgen der Struktur, wie sie bereits Mehan (1979) als Sequenzen von initiation, response und evaluation in Lehrer-Schüler-Interaktionen beschrieben hat. In diesem Sinne beschreiben auch Cekaite und Goodwin (2018, S. 207 f.) alltägliche familiale

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Situationen mit Blick auf das Erlernen verkörperten Könnens (socializing enskillment), durch Involvierung und Engagement in situierte gemeinsame Aktivitäten und Praktiken (vgl. Ingold 2018; Pontecorvo et al. 2001; Wiesemann 2000). Ein zentrales Element bildet dabei die Herausbildung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (choreographies of attention), der sowohl sprachlich als auch körperlich organisiert wird. Dabei spielt das Arrangement der räumlichen Orientierung eine zentrale Rolle für den ko-operativen Vollzug von Tätigkeiten (vgl. Kendon 1990). Tulbert und Goodwin (2011) beschreiben beispielsweise eine Situation des gemeinsamen Zähneputzens, bei der die Mutter hinter ihrer Tochter stehend diese umschließt als eine „nested formation“. Durch dieses körperliche Arrangement wird die Tochter bei der Aktivität des Zähneputzens begleitet und in dessen Ablauf und Rhythmus eingebunden. Eine solche Formation lässt sich bei vielen Alltagsaktivitäten mit Kindern, wie dem gemeinsamen Kochen, dem Betrachten von Bilderbüchern oder, wie in der folgenden Szene, bei der Smartphonenutzung beobachten (vgl. Abb. 4).

Abbildung 4:

Nested formation. Videostandbild: Erik Wittbusch

Das Bild verdeutlicht sowohl den etablierten gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus als auch die Rolle von körperlicher Nähe. Auf dem Schoß sitzend, lehnt sich Emily an den Körper ihres Vaters. Ihre linke Hand liegt auf dessen Hand, während ihr rechter Arm auf dem Arm des Vaters ruht, den sie mit der Hand umfasst. Das Hervorbringen körperlicher Nähe und familialer Intimität bei der Verabschiedungssequenz, die in der letzten Szene anhand des Handkusses der Mutter bespro-

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chen wurde, zeigt sich hier bereits im raum-körperlichen Arrangement der nested formation. Bereits über den Körperkontakt ist Emily an der Aktivität beteiligt, welche potentiell zu einer gemeinsamen Wir-Handlung wird (vgl. Meyer und Schüttpelz 2019). Andererseits fungiert der Vater als erweiterte Infrastruktur, quasi als Sitzgelegenheit und sich anpassende Smartphone-Halterung. Die oftmals positiv konnotierte Mobilität und Handlichkeit des Smartphones bedeuteten eben auch, dass das Gerät gehalten werden muss (so landete etwa in der Szene zuvor das Smartphone zwischenzeitlich in der Mitte der Küche auf dem Boden). Dabei reguliert der Vater den Abstand zur Kamera und spreizt, wie Abb. 4 zeigt, den Daumen zur Seite, so dass dieser einerseits nicht die wechselseitige Sichtbarkeit stört, andererseits aber zur potentiellen Bedienung des Smartphones bereitgehalten wird. Sein gesamter Körper wird zum Teil der medialen Infrastruktur, die er bereitstellt und fortlaufend aufrechterhält. Das folgende Transkript setzt ein, nachdem etwa zwei Minuten zuvor die ersten wechselseitigen Verabschiedungsfloskeln ausgetauscht wurden. Die Beendigungssequenz ist also bereits relativ weit fortgeschritten, was teilweise auch das finale Auflegen der Mutter an dessen Ende erklären kann. Es beginnt mit einem potentiellen terminal exchange der nacheinander von allen drei Interaktionspartnern mit gleichzeitigem Winken vollzogen wird (Z. 01–03), bevor von der zweieinhalbjährigen Emily mit der Verabschiedung ihres Vaters überlappend ein Abschiedskuss angekündigt und initiiert wird. Diesen vollzieht sie jedoch nicht als Luft-Kuss, sondern durch den Kuss des Displays, wie in Abb. 5a deutlich wird, was im weiteren Verlauf beim Antwortkuss der Mutter von Emily problematisiert wird (Z. 09).

Abbildung 5a und 5b:

Auf die Scheibe. Videostandbild: Erik Wittbusch

Clemens Eisenmann

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Transkript 2: Auf die Scheibe? V: Vater, E: Emily (Tochter), M: Mutter, E: Ethnograph Erik 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

M: E: V: E: V: M: V: E: V: M: E: P:

A: P: A:

tschÜ::ss ((winkt)) tschÜ:ss(-) ((winkt)) tsch[ü:::ss] ((winkt))] [ich ge]b dir noch ein kuss ((küsst die Scheibe))(-)(Abb. 5a) ((lacht)) (-) ich dir auch (.) ((Kusslaut)) ( ((lacht)) ((gibt einen Luftkuss, Abb. 5b)) auf die scheibe? (.) auf die scheibe?(.) ja (.) auf den bildschirm (-) ge(.)küsst (-) so wie du das auch immer machst(---) `SO =jetzt leg ich aber auf (--) (Emily berührt das Display und wechselt kurz die Ansicht) da guck Mal =da kann man uns auch größer sehen (.) ((wechselt die Ansicht für länger)) das ist ja auch lust= da ist die mama ganz klein und wir sind ganz (.) jetzt hat die mama aufgelegt (1.5) Zu:: En!de (--) nomma: (.) NOCHmal? (.) ne:=erstmal essen wir zu abend (--) will abba SPIE:len

In der Szene lassen sich einige der bereits ausgeführten Aspekte videovermittelter Verabschiedungen erneut zeigen und weiter ausführen. Auch hier vollzieht der anwesende Vater im Anschluss an den Kuss seiner Tochter selbst einen Kuss (vgl. Abb. 5b). Dieser wird aber in Emilys Orientierung höchstens vermittels der kleineren Darstellung auf dem Display sichtbar. Der Kuss kann auch als parallele Antwort auf den Kuss der Mutter interpretiert werden, also als eine Nische für elterliche Intimität. Dennoch zeigt sich, auch über das beschriebene körperliche Arrangement, die Involvierung des körperlich Anwesenden beim Umgang und der Vermittlung von familialer Intimität mit den körperlich abwesenden Interaktionspartnern. Ein weiterer Punkt wurde bereits bezüglich der technisch-vermittelten wechselseitigen Wahrnehmung beim ‚Nasenkuss‘ beschrieben. Während Emily ihren eigenen Kuss – bei dem sie die visuell sichtbare Mutter auf dem Display küsst – nicht weiter hinterfragt, thematisiert sie diesen jedoch bei ihrer Mutter. Da die Kamera sich am oberen Ende des Geräts befindet, zeigt der Kuss vor allem die Stirn und Nase ihrer Mutter in Großaufnahme. Der notwendige Perspektivwechsel der Sichtbarkeit von Emily auf ihrem Display wird hier von Emily problematisiert:

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„Auf die Scheibe?“ Dass das Küssen des Displays keine alltägliche elterliche Medienpraxis darzustellen scheint, deutet sich bereits im vorausgehenden Lachen des Vaters (Z. 06) an, welches die Frage der Tochter rahmt. Der Vater beginnt weiter schmunzelnd mit der Kommentierung des Kusses, in dem er zunächst „Scheibe“ durch „Bildschirm“ korrigiert und diesen zu Emilys Küssen in Bezug setzt und mit diesen parallelisiert (Z. 11). Nach zweiminütigen Anläufen der Gesprächsbeendigung bleibt die Mutter aber mit „So, jetzt leg ich aber auf“ (Z. 13) beim Vollzug des terminal exchanges. Diese Beendigung wird hier aber als scheinbar nicht relevant behandelt, stattdessen entwickelt sich, bereits im Kommentar sowie im Anschluss an Emilys kurze Vergrößerung der eigenen Ansicht auf dem Display, ein spielerisches Parallelgespräch. Der Vater nutzt die Frage der Tochter sowie das Aufblitzen der gewechselten Ansicht, um die Funktion der Videotelefonie potentiell weiter zu elaborieren. Solche situativen Elemente in Alltagsaktivitäten heben Goodwin und Cekaite (2018), im Sinne einer „mundane creativity“, als spielerisch vollzogene Lerngelegenheiten hervor. Die angesetzte Exploration des Smartphonegebrauchs findet jedoch in der Finalität des Auflegens ein abruptes Ende, das die potentielle Fragilität der Videotelefonie nochmals sichtbar werden lässt und auch vom Vater entsprechend in seinen Kommentaren als relevantes Aktivitätsende markiert wird: „Jetzt hat die Mama aufgelegt. Zu Ende.“ Hier erscheint weniger die Verabschiedung von der Mutter, als das spielerische Element im Fokus zu stehen, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Mutter schon in Kürze wieder bei den beiden sein wird und es sich nicht, wie etwa bei Gan et al. (in diesem Band), um den Kontakt zu einem längerfristig abwesenden Familienmitglied handelt. Für Emily stellt die Videotelefonie, die hier partiell auch dem anwesenden Ethnographen gezeigt wird, zwar keine Besonderheit dar, sie bildet aber dennoch eher die Ausnahme als die Regel. Eine Interpretation als gemeinsames Spiel zeigt sich auch in Emilys Anschlusskommunikation, die anstelle des Abendessens nicht „nochmals telefonieren“, sondern weiter „spielen“ möchte. Die folgende Verabschiedungssequenz, die ich nur in Ausschnitten diskutieren möchte, spielt in derselben Familie ca. eineinhalb Jahre später mit getauschten Rollen, d. h. mit anwesender Mutter. Sie zeigt, dass nicht nur die wechselseitige Sichtbarkeit und mediale Vermittlung der Anwesenheit potentiell fragil ist und einer interaktiven Leistung bedarf, sondern auch der gemeinsame Aufmerksamkeitsfokus durchaus prekär sein kann. Zu Beginn gibt Emily verbal und körperlich zu verstehen, dass sie am Videogespräch mit ihrem Vater kein Interesse mehr hat und „fertig“ ist. Dazu läuft sie vom Smartphone weg, das die Mutter auf dem Tisch im Kinderzimmer positioniert hat und wirft sich förmlich zurück auf ihr Bett. Dies wird zwar durchaus von der Mutter wahrgenommen und verbal wiederholt, wird aber nicht als adäquate Beendigungsankündigung betrachtet. Zeitgleich hatte der

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Vater bereits zweifach den Versuch unternommen eine Frage zu formulieren, deren Überlappung (Z. 06) auch auf eine leichte Verzögerung bei der Verbindung zurückzuführen ist. Transkript 3: Fertig! V: Vater, E: Emily (Tochter), M: Mutter 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 24 25 26 27 28

M: V: M: V: E: V: E: M: V: E: V: E: V: M: V: E: P: M: E: V: E: V: E: M: E: M: E: M:

und h° (.) was ich

gleich gibt’s dicke BOHnen (.)

für die emily auch hast will keih°n[e dicke Bohnen [was hast du] ich möchte einen MUFfin (.) maMa(.) ((läuft vom Tisch zurück und legt sich aufs Bett)) BIN fertig (.) die Emily ist fertig (1.5) Joa (--) wat (.) was hast du denn gegessen heute? (--) Wurstsuppe h° (--) WURSTsuppe? (.) `Ja (-) hm_hm (.) mit stinkepups eine su[ppe nur mit würstch]en?] [!mit !STIN!ke!Pups!] (--) hh°(.) und schnodderschleim? (-) das wasser war (.) SCHnodder (-) mhm se:hr lecker (1.0) ((küsst das Handy)) (-) A:h: (.) ((gibt ebenso einen laut hörbaren Kuss)) ((umarmt ihre Mutter)) mama darf ich `jetzt nen muffin? `Ja: darfst du °h hol dir (.) äh das -ist die Dose die in der küche steht °hh `Ja ((läuft in die Küche)) `SO: (.) ich glaub ich leg mal auf (.) ne? (.) tschüss

Während gegenwärtige Internetverbindungen nur noch sehr wenig delay produzieren, erweist sich eine kurze Einschränkung der Verbindungsqualität als überaus problematisch für die Zeitstruktur und das Gelingen des wechselseitigen turn-takings. Ähnlich zur Sichtbarkeit bedeutet eine solche Verzögerung für die

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auditive Wahrnehmung, dass an einem Ende der Verbindung Pausen hörbar werden, während die andere Person bereits mit dem nächsten Gesprächszug begonnen hat. Dies führt zu häufigen Überlappungen und der Notwendigkeit ihrer situativen Aushandlung. Neben dieser technischen Fragilität, die hörbar wird, ist es vor allem Emilys Präferenz für einen Muffin, der zunächst eine Antwort auf die Abendessensankündigung der Mutter notwendig erscheinen lässt. Wie in der Szene zuvor der spielerische Austausch mit dem Vater quasi in Konkurrenz zur Verabschiedung tritt, ist es hier die Interaktionssituation mit der Mutter, die einen gemeinsamen Fokus auf das Skype-Gespräch einschränkt. Es wird durchaus ‚gehört‘, dass Emily „fertig“ (Z. 09) ist und liest man ihre Äußerung als Versuch der Gesprächsbeendigung, so kann die im dritten Anlauf zu Ende gebrachte Frage des Vaters (Z. 09) als ein moving out of closing betrachtet werden, das den Beendigungsversuch ignoriert. Emily steigt auf die Frage ein und wird von ihrer Mutter (Z. 16) als Souffleuse flüsternd dazu animiert die Erzählung mit einem Familieninsider zu kombinieren, bei welchem sie Essen im Spaß als „Stinkepups und Schnodderschleim“ bezeichnen. In Zeile 20 kommentiert der Vater Emilys Erzählung mit einer positiven Evaluierung als „sehr lecker“. Zusammen mit der kurzen Pause markiert dies eine potentielle Themenbeendigung, die der Beendigungssequenz vorausgeht (vgl. Selting 2007). Die vierjährige Emily nutzt also an dieser Stelle eine typische sequentielle Position, für den im Transkript zunächst scheinbar unvermittelten Kuss des Displays. Liest man ihre Handlung als Versuch aus dem Gespräch heraus zu einem Muffin zu gelangen, so zeigt sich, dass der Versuch in Z. 09 zu scheitern scheint (aber durchaus den zweiten Anlauf vorbereitet), während sich das Küssen als erfolgreich erweist. Es wird im Sinne einer adäquaten Form der Gesprächsbeendigung interpretiert und sogleich affektiv positiv mit einem langezogenen „Ah“ vom Vater ratifiziert und ebenso mit einem Kuss beantwortet. Betrachtet man dies im Kontext der Sozialisation von angemessenen Interaktionsformen und Gepflogenheiten, so scheint das „lustlose“ unangekündigte „ich bin fertig“ als unangemessen, wohingegen eine Intimität betonende wechselseitige Verabschiedung von den Eltern als adäquate Gesprächsbeendigung interpretiert wird. Anschließend umarmt sie ihre Mutter, was ebenso strategisch mit Blick auf den begehrten Muffin gedeutet werden könnte. Was diese Verabschiedung aber auch erneut verdeutlicht, ist die körperliche Eingebundenheit und Involvierung der anwesenden Interaktionspartnerin bei der Vermittlung der Verabschiedung vom körperlich abwesenden Vater. Betrachtet man die Szene etwas genauer, so berührt Emily beim Greifen nach dem Handy und während des Kusses die Hände der Mutter, die sie teilweise umschließt (siehe Abb. 6). In dieser Haltung wartet sie vor dem Smartphone den antwortenden Kuss des Vaters ab (Z. 21), bevor sie anschließend ihre Mutter umarmt (vgl. Abb. 7). Der Körper der Mutter bietet in der Situation die Kontaktmöglichkeiten für

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körperliche Nähe, die mit dem Vater medial ausgetauscht wird. Somit wird in gewisser Weise die Körperlichkeit der Aktivitäten auf die Interaktionsteilnehmer und die situativen Ressourcen des raum-körperlichen Arrangements, zu dem auch die Sichtbarkeit auf dem Smartphone und die Materialität des geküssten Displays gehört, verteilt.

Abbildung 6:

Abschiedskuss. Videostandbild: Erik Wittbusch

Abbildung 7:

Umarmung. Videostandbild: Erik Wittbusch

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Fazit

Die analytische Frage, inwiefern soziotechnische Intimität gelingen oder scheitern kann, hat sich für die empirische Analyse der familialen Videointeraktionssituationen als überaus fruchtbar erwiesen. Dabei ging es weniger darum, zu definieren oder festzulegen, was technosoziale Intimität für digitale Medienkindheiten bedeutet, sondern vielmehr darum, dass Wie der gemeinsamen und kooperativen Medienpraktiken empirisch genauer sichtbar zu machen. Der Aufsatz zeigt in diesem Sinne, wie in Interaktionssituationen wechselseitige Wahrnehmung, über verschiedene Sinnes-Modalitäten und semiotische Ressourcen, mit technischen und körperlichen Arrangements etabliert, aufrechterhalten und gewährleistet werden kann. Das körperliche In-der-Welt-Sein und somit die Zwischenleiblichkeit bildet dabei zum einen die praktische Grundlage und Bedingung für Medienpraktiken. Zum anderen, wird auch deutlich, wie sich körperliche Anwesenheit und deren Agency bei der wechselseitigen Verfertigung von Kooperation in sozio-materiellen Arrangements verteilen kann. Zusammenfassend zeigt sich die zentrale Rolle der Körperlichkeit bei der Mediennutzung, die auch in technisch-vermittelten Interaktionssituationen keineswegs eine Nebensächlichkeit darstellt. In weiten Teilen der Interaktionssoziologie, so etwa bei Goffman und Luhmann, wurde wechselseitige Wahrnehmung im Sinne von körperlicher Anwesenheit und Kopräsenz definiert und als konstitutiv für die Interaktion behandelt (vgl. demgegenüber Meyer 2014 und Hirschauer 2014). In den empirischen Analysen wurde allerdings deutlich, wie sich unterschiedliche Blick-, Hör- und Köper-Arrangements herausbilden, die Kooperation mit unterschiedlichen semiotischen Ressourcen gewährleisten und ermöglichen. Dies legt das Augenmerk auf die interaktionale Arbeit der kooperativen Etablierung von medial vermittelter Anwesenheit. Diese kann zwar durchaus in Abgrenzung zur face-to-face Situation betrachtet werden, aber keineswegs per se als defizitär behandelt werden. Vielmehr werden (neue) Gestaltungsmöglichkeiten von Sozialität sichtbar. Die Betrachtung kindlicher Medienpraktiken erweist sich in diesem Zusammenhang als Explikationsgenerator von ansonsten stillschweigend vorausgesetzten Praktiken und Interaktionsressourcen. Diese zeigen sich in der Art und Weise von Anleitungen, in der Lehr- und Lernbarkeit von Medienpraktiken, in ihrem Scheitern sowie an Bruchstellen alltäglicher Aktivitäten. Somit werden oftmals unhinterfragte Bedingungen von Medienpraktiken beobachtbar und beschreibbar. Anstatt also vom Prototyp von Interaktion mit Erwachsenen und körperlich Anwesenden auszugehen und technisch vermittelte Interaktionen auf ihre Mängel zu befragen, wird es möglich die körperlichen Dimensionen von Kooperation in technisch vermittelten Interaktionssituationen zu beschreiben und ihre grundlegenden interkorporalen Bedingungen zu explizieren.

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Ich möchte das Argument abschließend nochmals verdeutlichen: Anstatt zu prädisponieren, dass wir für das Gelingen von Intimität (oder für eine ‚richtige‘ Interaktion) körperliche Kopräsenz oder Nähe benötigen, stellt sich die Frage danach, wie Interaktionen und Handlungen unter anderen Bedingungen möglich sind. Sozialtheoretisch wird somit deutlich, dass die Symptomfülle keineswegs das Kriterium für erfolgreiche Interaktionssituationen darstellen kann. Erfolgreiche Interaktion zeigt sich in der Art und Weise, wie die beteiligten Interaktionspartner, ihre kommunikativen Projekte und praktischen Handlungen – sei dies das Geschichtenerzählen, das Trösten eines Kindes, die Verabschiedung oder eben die Herstellung von Intimität und sozialer Nähe – als erfolgreich interpretieren. Diese Interpretation zeigen sich Interaktionsteilnehmer*innen mit den kleinsten und unscheinbarsten Praktiken fortlaufend wechselseitig an (vgl. Sacks 1968). Beispielsweise, indem man auf eine Frage eine Antwort erhält, oder eben, dass eine Verabschiedung als solche erkannt, erwidert und erfolgreich vollzogen wird. Bei den untersuchten Situationen mit dem Smartphone, lassen sich dabei (neue) Blick-, Hör- und Köper-Arrangements beobachten, die sich mit und in gegenwärtigen Medienpraktiken etablieren. Die zugrundeliegende ethnomethodologische Perspektivverschiebung leistet ferner einen Beitrag dazu: a) den strukturellen Bias einer Elternperspektive weiter zu hinterfragen; b) Lernen in gemeinsamen und beobachtbaren Tätigkeiten zu verorten; c) Natur-Technik Dualismen weiter zu hinterfragen und d) größere soziale Phänomene, wie generationale Ordnung oder die soziale Organisation von Raum und Zeitlichkeit keineswegs nur theoretisch zu diskutieren, sondern als empirische Fragen zu untersuchen. Für diese Herausforderungen sehe ich die zentrale Aufgabe aktueller Kindheits- und Medienforschung weniger darin, der fortschreitenden Technologie-Entwicklung hinterherzueilen und zu versuchen zu beschreiben, was wir mit Neuen Medien und Technologien und diese mit uns, unseren Beziehungen, Schulen und Kindern machen; sondern vielmehr darin, in ganz alltäglichen Aktivitäten empirisch genauer zu spezifizieren, wie Technologien und Medien (sowie ihre Bedeutungen, Funktionen und Auswirkungen) in sozialen Interaktionen eingebettet sind und in diesen kooperativ verfertigt werden. Literatur Alinejad, Donya. 2019. Careful Co-presence: The Transnational Mediation of Emotional Intimacy. Social Media + Society 5(2): 1–11. Andreas, Michael, Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger. 2016. Technik | Intimität. Einleitung in den Schwerpunkt. Zeitschrift für Medienwissenschaft 15, 8 (2): 10–17. Auer, Peter. 1990. Rhythm in telephone closings. Human Studies 13: 361–392.

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Teil III: Medienpraktiken und doing family

Medium und tool. Doing family und digitale Medien Dominik Krinninger

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Einleitung

Familienforschung ist ein weites Feld unterschiedlicher Interessen und Disziplinen, die ihre Gegenstände und Fragestellungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven bearbeiten. Nichtsdestotrotz zeigen sich auch breitere Übereinstimmungen. Dazu zählt eine Abkehr von strukturfunktionalistischen oder strukturellen Beschreibungen der Familie und die Entwicklung von Modellen, die sich stärker auf die Prozessualität der Konstitution von Familie richten. Der vorliegende Beitrag wird entsprechende Ansätze, die im deutschsprachigen Kontext oft mit der Losung doing family assoziiert werden, einholen und danach fragen, wie die auch in Familien gegebene gesellschaftliche Normalität des Gebrauchs digitaler Medien mit der Konstituierung von Familie zusammen gedacht werden kann. Dazu werden in einem ersten Abschnitt zunächst Tendenzen der bildungspolitischen Debatten zur Familie skizziert, um eine daran anschließende Darstellung von zwei Theoriesträngen zur Herstellung von Familialität zu kontextualisieren. In einem zweiten Abschnitt wird der Diskurs um Medien und Familien schlaglichtartig beleuchtet. Die durch die Digitalisierung veränderten Bedingungen der Mediensozialisation von Kindern werden gesellschaftlich in erster Linie mit Sorge gesehen. Dies erschwert einen differenzierten Blick auf Zusammenhange zwischen digitalen Medien und Familienleben. In der Verschränkung eines geschärften theoretischen Zugriffs und einer diskurskritischen Perspektive wird der Beitrag im dritten Abschnitt dafür plädieren, zwischen einem Mediengebrauch in Familien und einem spezifisch familialen Mediengebrauch zu unterscheiden. Erst in der analytischen Entzerrung von Fragen kindlicher Mediensozialisation und Fragen nach den medialen Dimensionen des Familienalltags lassen sich familienspezifische Aufgaben und Problemstellungen herausheben. In einem letzten Teil werden bildungs- und sozialisationstheoretische Perspektiven skizziert, die der Familie als pädagogischer Gemeinschaft im Kontext ihres Mediengebrauchs gelten. 2

Doing family: Ein Konzept in der Entwicklung

Beim Blick auf derzeitige bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Debatten zur Familie fällt auf, dass Familien in den Radar von Bildungspolitik und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_6

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Medium und tool. Doing family und digitale Medien

pädagogischem Diskurs gerückt sind. Als wichtige Hintergründe dafür können die international vergleichenden large-scale-Studien (IGLU, PISA, TIMSS) angeführt werden, deren Kritik an der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems sich auch auf eine nachgewiesene Abhängigkeit des schulischen Bildungserfolgs von der familialen Herkunft stützt. Zusätzlich spielen wohlfahrtsstaatliche Transformationen eine wichtige Rolle, im Zuge derer die Verantwortung für eine erfolgreiche (Bildungs-)Biografie mehr und mehr den privaten Akteur*innen übertragen wird (Oelkers 2009; Mierendorff 2010). Die Transformation von einem Wohlfahrtsstaat, der seine Bürger durch gesellschaftliche Sicherungssysteme im Bedarfsfall (mehr oder weniger) absichert, zum aktivierenden Sozialinvestitionsstaat, der darauf zielt, dass die Individuen Verantwortung für die eigene Lebensführung übernehmen, prägt auch bildungspolitische Interessenlagen aus. Um Elternschaft und Eltern hat sich so eine Diskursformation gebildet, in der sie für die als Humankapital verstandene institutionelle Bildung ihrer Kinder responsibilisiert werden (Lange 2010a). Vor dieser Folie überrascht es nicht, dass in jüngerer Zeit die Forschung etwa zur Kooperation von Familie und Institutionen (Betz et al. 2017) oder zu familialen Kontexten von Übergängen (Dockett et al. 2017; Kesselhut et al. 2017) zunimmt. Zwar ist staatliche Kontrollpolitik gegenüber der Familie historisch nicht neu, wie etwa die historisch-kritischen Analysen von Jacques Donzelot (1980) zeigen. Neu erscheint jedoch der Umschlag in ein präventives Denken, nach dem Familie und Kindheit maßgeblich unter vermeintlichen Risikoperspektiven in den gesellschaftlichen Blick genommen werden, was insbesondere für Lebenslagen gilt, die von Armut betroffen sind oder für die Migration eine Rolle spielt. Hier werden Bildungsrisiken markiert, die durch eingreifende Politiken präventiv bearbeitet werden sollen (Lange 2010a). Insofern gibt es gute Gründe von einem veränderten gesellschaftlichen Klima für Familien zu sprechen, die unter stärkere bildungspolitische und in der Folge auch institutionelle Beobachtung gestellt sind. Entsprechende Analysen finden sich dann auch in kritischen Arbeiten zu den Diskursen um Elternschaft (Richter und Andresen 2012; Waterstradt 2015; Jergus et al. 2017). Gesellschaftliche Verhältnisse und politische Diskurse werden dabei als Folien der von Steuerungsinteressen getragenen Adressierung von Eltern erfasst. Gegenüber dem hier nur kursorisch angerissenen gesellschaftlichen Zugriff auf Familien könnte der Ansatz des doing family als ein wichtiges Korrektiv fungieren. Die grundsätzliche Aufmerksamkeitsrichtung, die sich darauf richtet, wie Familien gesellschaftliche Bedingungen und sich ihnen stellende Aufgaben in ihrer alltagsgebundenen Lebensführung zu einer je eigenen Figur des Familie-Seins verknüpfen, könnte die Normativität des Blicks auf Familie(n) wenigstens ein Stück weit vom Kopf auf die Füße stellen. Die gesellschaftlichen, nicht zuletzt bildungspolitischen Anheischungen transportieren deutliche Erwartungen an ‚gute‘ Eltern (Betz et al. 2013) und sie verknüpfen dies, mal implizit, mal explizit,

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mit der Unterstellung, dass institutionelle Interessen in der Familie durch elterliche Regelung umgesetzt werden könnten. Über die Angemessenheit solcher Ansinnen an private Lebenswelten ließe sich in normativer Hinsicht streiten. Das Konzept des doing family erlaubt es darüber hinaus auch, auf einer gegenstandsbezogenen Ebene zu fragen, inwieweit Familien von außen induzierte Anforderungen umsetzen können; etwa, indem es die Konstituierung von Familie als je spezifischer Lebensform in die alltägliche Lebensführung einbettet und so eine Differenzierung gegenüber einer intentionalen Strukturierung von Familie ermöglicht. Dieses Potential schöpft der Ansatz derzeit allerdings noch nicht in dem Maße aus, wie dies möglich und wünschenswert wäre. Denn er ist zwar als Referenz insbesondere in qualitativ-rekonstruktiv angelegter Forschung populär, aber er hat eine gewisse theoretische Unschärfe noch nicht überwunden. Doing family ist als Konzept im deutschsprachigen Forschungsdiskurs eng verknüpft mit Arbeiten aus dem Umfeld des DJI (Jurczyk et al. 2009, Jurczyk 2011, Jurczyk et al. 2014). Kern dieses Konzepts ist, dass ‚Familie‘ keine statische Kategorie oder Struktur ist, die durch Haushalt, biologische Verwandtschaft oder Rechtssystem definiert wird. Stattdessen wird sie in ihrer spezifischen Gestalt und Ordnung aktiv von ihren Mitgliedern hervorgebracht. Auch wenn es sich um ein etwas anderes bezeichnetes Konzept handelt, bestehen große Überschneidungen zu einer Beschreibung von Familie, die Morgan um den Terminus der „family practices“ (Morgan 2011a und 2011b) entwickelt hat. Auch Morgan geht es grundsätzlich um „the way people ‚do‘ family” (Morgan 2011a, S. 6). Nicht nur wegen ihrer großen Nähe werden an dieser Stelle beide Stränge aufgegriffen; der Ansatz des doing family rekurriert selbst explizit auf Morgan. In einer ersten – noch etwas groben – Differenzierung lassen sich die beiden Beschreibungen von Familie jenseits ihrer weitgehenden Überschneidungen so unterscheiden, dass sich Morgan dem, was Familien tun und wie sie Familie machen, von – neuerer – praxistheoretischer Seite her widmet, während doing family Familie als Herstellungsleistung aus einer – eher klassischen – sozialkonstruktivistischen Perspektive erfasst. Diese Unterscheidung erscheint zunächst unscharf, weil praxistheoretische Zugänge ja durchaus auf sozialkonstruktivistischen Grundlagen aufbauen. Mit Blick auf ihre Genese zeigen sich jedoch unterschiedliche empirische Brennweiten zwischen den Ansätzen. Das im deutschsprachigen Kontext entwickelte Konzept des doing family nimmt dabei Anleihen bei einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung (Jurczyk und Rerrich 1993). Hier spielt vor allem die Verknüpfung aktiver, alltäglicher Gestaltungsleistungen der Akteure mit gesellschaftlichen Bedingungen und dadurch gegebenen Spielräumen eine Rolle. In dieser dynamischen Verknüpfung ergeben sich dann relativ stabile Muster der Lebensführung. Darauf aufbauend fokussiert der Ansatz des doing family die Perspektive der familialen Akteure und fragt in einer tendenziell größeren (sozialen wie temporalen) Brenn-

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weite nach der Konstituierung der Familie in ihrer je besonderen Situierung. Morgan baut stärker auf praxistheoretischen Bezügen auf (u.a. Reckwitz 2003 und Schatzki 1996) und bezieht sich maßgeblich auf die Verlaufsformen und impliziten Logiken familialer Praktiken, wodurch sich eine tendenziell stärker fokussierte Brennweite ergibt. Mit dem von ihm geprägten Begriff der „family practices“ erfasst Morgan also die aktive Konstituierung der Familie durch die familialen Akteur*innen. Er distanziert sich damit davon, Familie von einer als Bestimmungskriterium angenommenen Struktur, also etwa einem triadischen Beziehungsmuster, aus zu denken. Familie ist demnach nicht das, was einer bestimmten Struktur entspricht, sondern die Lebensform, die die familialen Akteur*innen gemeinsam gestalten. Morgan verortet familiale Praktiken im Rahmen des Familienalltags und schreibt ihnen eine relative Regelmäßigkeit zu. Zugleich stellt er heraus, dass sie sich durch eine gewisse Unschärfe (orig.: „fluidity“, Belegstelle 2011a) auszeichnen, was sowohl ihren Verlauf betrifft (der stärker variiert, als dies etwa bei Routinen der Fall ist), als auch ihren Kontext. Ein Beispiel ist das Füttern eines Kindes, das als fürsorgliche Praktik, als geschlechtlich konnotierte Praktik oder als Praktik des Konsums gelesen werden kann. Nicht zuletzt sieht er in familialen Praktiken eine Dimension, in der sich die jeweilige Gegenwart familialer Vollzüge mit der individuellen und familialen Biographie der Akteur*innen sowie ihrer historisch-kulturellen Situation verknüpft. Diese Konzeptualisierung entspricht praxistheoretischen Grundfiguren, insofern sie auf einer Differenzierung zwischen „‚rules‘ on the one hand and ‚strategies‘ or … ‚negotiations‘ on the other“ (Morgan 2011a) aufbaut und ein praktisches von einem diskursiven Wissen absetzt: „What matters are the day to day practices rather than any formal prescriptions or descriptions“ (ebd.). Morgan ist für die Familientheorie an einer Überschreitung heteronormativer Vorstellungen gelegen, wie sie im Bild der bürgerlichen Kernfamilie in Bezug auf Geschlechterrollenmuster oder die Verknüpfung von Familialität mit biologischer Verwandtschaft verdichtet sind. In diesem Sinn entwickelt er eine dynamische Bestimmung von Familie, die von den Besonderheiten sozialer Praktiken in der Familie ausgeht. Diese Praktiken richten sich auf andere Familienmitglieder und in ihrer Ausführung bringen sich die Familienmitglieder gegenseitig als solche hervor. Familiale Praktiken formen, bestätigen oder modulieren damit auch familiale Beziehungen (vgl. Morgan 2011a). Im Konzept des doing family lassen sich im deutschsprachigen Diskurs stärker sozialkonstruktivistische Tendenzen finden. Damit ist, wie bereits angedeutet, weniger ein Unterschied im betrachteten Gegenstand gemeint (die praktische Hervorbringung von Familie), sondern in der Perspektive. Doing family geht nicht allein von den Mikroprozessen der familialen Praktiken aus, um deren Bedeutung für die Konstituierung von Familialität zu erfassen, sondern fragt – in der Ver-

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knüpfung von Mikro- mit Meso- und Makroebenen – nach den ‚Lösungen‘, die Familien im Zuge ihrer praktischen Lebensführung für sich ihnen im gesellschaftlichen Kontext stellende Aufgaben finden. Überschneidungen zum Ansatz von Morgan liegen in der Bestimmung von Care beziehungsweise Fürsorgeleistungen als einem Kern von Familie, in der Berücksichtigung emotionaler und körperlicher Dimensionen des Familienlebens und in der Rekonstruktion der Gestaltung von Familie im Alltag. In der oben benannten, spezifischen Ausrichtung fokussiert doing family die gesellschaftliche Entstrukturierung von Familie, um „den Einfluss sich wandelnder sozial-ökologischer Umwelten (wie etwa des Bildungssystems oder der Arbeitswelt) auf Familie und ihre Wechselwirkungen systematisch zu berücksichtigen“ (Jurczyk et al. 2014, S. 13). Entsprechend werden in Forschungen, die an diese Konzeptualisierung anschließen, gesellschaftliche Aspekte wie der familiale Umgang mit Zeit (Lange 2009), die Urbanität des familialen Lebensraums (Andresen et al. 2016), der Zusammenhang von Geschlechterarrangements und Erwerbsarbeit (Schier 2014) oder die Familiengründung im Kontext der Reproduktionsmedizin (Beck 2014) thematisiert. Hier steht also im Vordergrund, wie die familialen Akteure bestimmte Aspekte ihres Familienlebens unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen gestalten, während Morgan primär die Praktiken der Familienmitglieder fokussiert und danach fragt, wie sich dadurch familiale Lebensweisen konstituieren. Epistemologisch ließen sich die Forschungen in der Linie des doing family einer Strategie des „zooming in“ und der Ansatz von Morgan einer Denkrichtung des „zooming out“ zuordnen (Nicolini 2009). Nicolini schlägt für die analytische Erfassung und Beschreibung von Praktiken zwei komplementäre Blickrichtungen vor. Zum einen geht es dabei um eine Perspektive auf konkrete Vollzüge in spezifischen lokalen Kontexten, zum anderen um die Frage nach den Zusammenhängen dieser situierten Praktiken mit rahmenden praktisch-diskursiven Formationen. Dieser Ansatz ist auf folgendes Ziel gerichtet: „[to] enable us to understand both the conditions of the local accomplishment of practice and the ways in which practices are associated into broad textures to form the landscape of our daily … life.” (Nicolini 2009, S. 1392). Eine entsprechende, stärkere theoretische Integration wäre auch für die beiden skizzierten Theoriestränge (family practices und doing family) zu wünschen. An dieser Stelle sollen kurz zwei weitere Desiderate markiert werden, die bei einer Weiterentwicklung eines Konzepts des doing family Berücksichtigung finden sollten. Erstens stehen in systematischer Hinsicht praxistheoretische Klärungen aus. In diesem Kontext wirft der Ansatz Komplexitäten auf, die theoretisch bislang kaum ausgeleuchtet werden. In der Familie interferieren generationale Differenzkonstellationen mit solchen, die sich daraus ergeben, dass die Familie zugleich als private Lebenswelt und in gesellschaftlicher Einbindung fungiert. Die sich daraus speisenden Spielräume und Strukturierungen wiederum rahmen indi-

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viduelles und gemeinschaftliches Handeln der familialen Akteur*innen. Es ist also keine triviale Entscheidung, ob man Familie praxistheoretisch von den Praktiken im familialen Binnenraum oder von den gesellschaftlichen Strukturierungen her denkt. Ebenso ist es ein bedeutsamer Unterschied, auf diesen Punkt macht auch Morgan aufmerksam (2011b), ob man doing family mit einer eher handlungstheoretischen Grundierung (etwa der Ethnomethodologie) entwirft, die den Akteur*innen mehr Spielraum dabei einräumt, welche der in Praktiken eingelagerten Handlungsmöglichkeiten sie realisieren, oder ob man das vor einer eher habitustheoretischen Folie tut; etwa mit dem Bourdieu der 1970er Jahre, der den Praktiken eine stärkere Selbstläufigkeit zuschreibt. An dieser Stelle ist zu betonen, dass hier keine Entscheidungen im Sinne eines Entweder-Oder zu treffen sind. Die hier markierten Klärungsbedarfe zeigen sich vielmehr vor dem Hintergrund der differenten Perspektiven der Ansätze von Morgan und Jurczyk et al., die in ihrem grundlegenden Erkenntnisinteresse deutliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Spannbreite zwischen diesen Ansätzen sollte aus einer familientheoretischen Perspektive also im Sinne der oben mit Bezug auf Nicolini angesprochenen Integration bearbeitet werden. Dazu wären Modellierungen zu entwickeln, die konkrete Praxisvollzüge im familialen Binnenraum mit den ihn umgebenden sozialen und kulturellen Rahmungen in Zusammenhang bringen. So könnten für die Fragen nach der Besonderheit der Familie als Lebensform und ihrer gesellschaftlichen Strukturierung, die die Familienforschung immer wieder herausfordern, neue heuristische Hebel gewonnen werden. Zweitens, darauf weist auch Meike Baader (2013) hin, wäre der Doing family-Ansatz eigentlich dafür prädestiniert, über ein eng gefasstes Interesse an Eltern als Hauptakteuren des Familialen hinauszugehen. Die eingangs skizzierte Diskurslage in Bildungspolitik und Familienforschung prägt einen „Hyperfokus auf Eltern“ (Waterstradt 2015, S. 3) aus. Demgegenüber erfahren Kinder in ihrer Beteiligung an der Konstitution von Familie weniger Aufmerksamkeit. Familie als praktische Hervorbringungsleistung zu verstehen, sollte zum Anlass genommen werden, auch Fragen nach der Akteurschaft dieser Leistungen zu stellen und die Familie in diesem Kontext als eine differenzielle Akteursgemeinschaft zu betrachten. Kinder sollten – empirisch und theoretisch – also stärker als bislang als Akteure des doing family Berücksichtigung finden. 3

Ein idiosynkratisches Verhältnis: Familien und digitale Medien

Der folgende Abschnitt wirft zwei – auf den ersten Blick vielleicht etwas disparat erscheinende – Schlaglichter auf den Diskurs über Familien und digitale Medien. Damit wird eine im darauffolgenden Abschnitt entfaltete Unterscheidung vorbereitet, mit der sich Untersuchungen zu einem medienbasierten doing family von

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der sowohl in öffentlichen als auch in fachlichen Kontexten immer wieder aufscheinenden Aufgeladenheit der Debatten um den Gebrauch digitaler Medien in Familien absetzen können. Für das erste Schlaglicht beziehe ich mich auf das Feld der Literatur. In ihrem 2010 erschienenen Roman „Der größere Teil der Welt“ (orig.: A visit from the goon squad) entwirft Jennifer Egan ein Panorama, das sich von den 1970er-Jahren bis in die nahe Zukunft erstreckt. Sie folgt in lose zusammenhängenden Erzählsträngen einer Gruppe von Protagonist*innen, die sich zunächst in der Szene des frühen Punks in New York begegnen und deren Biographien dann in ganz unterschiedlichen Bahnen verlaufen. Egan hat dabei nicht nur die persönlichen Schicksale im Blick, sondern versucht auch, die Veränderungen von generationalen Lebensmustern einzufangen. Sie beschreibt einen Zeitgeist, der sich von der Subversion gesellschaftlicher Verhältnisse hin zum Zurechtkommen mit straff ökonomisierten Strukturen wandelt. Eine zentrale Rolle kommt dabei einer Ökonomie der Aufmerksamkeit zu, die in einer vollständig mediatisierten nahen Zukunft zu einem stark umkämpften Gut geworden ist. In dieser Zukunft hat sich die Kulturindustrie ganz den „Patschern“ genannten 0- bis 3-Jährigen zugewandt und nicht nur Kiddie-Smart-Pads als Hardware entwickelt, sondern auch die Produzenten dazu gedrängt, sich ganz auf die Zielgruppe der Jüngsten einzulassen. Exemplarisch verdeutlicht Egan dies u.a. am imaginierten, nicht endenden post-posthumen Output des bereits in den 1990er-Jahren verstorbenen Gangster-Rappers Notorious B.I.G., dessen Original-Tracks mit neuem Text dauerhaft wiederverwertet werden. So wird zum Beispiel aus einem Stück mit dem einschlägigen Original-Titel „Fuck You Bitch“ ein Song namens „You’re big, Chief“ und der Rapper wird mit Indianer-Federschmuck und Kleinkind auf dem Arm auf das Cover montiert. So zotig sich dies zunächst anhört, gewinnt der Roman eine seiner Pointen daraus, dass manche seiner Figuren in dieser Zukunft Eltern geworden sind und ihre Kinder vor dem übermächtigen Sog der infantilisierten Popkultur schützen wollen. Dass sie daran scheitern (müssen), wird auch zur Last für ihre ohnehin fragilen familialen Verhältnisse. Der Roman ist nun kein kleines Nischenwerk, sondern kann als vielfach ausgezeichneter internationaler Bestseller durchaus als eine emblematische Illustration gegenwärtiger Unsicherheiten angesehen werden. Etwas knapper soll auf die von Manfred Spitzer eingebrachte alarmistische These der Digitalen Demenz (Spitzer 2012) verwiesen werden, nach der der frühe Gebrauch digitaler Medien die kognitive, motorische und soziale Entwicklung von Kindern negativ beeinflussen würde. Es geht dabei nicht um die Qualität der Spitzerschen Argumentation im Feld der Hirnforschung, sondern um seine Präsenz im Feuilleton. Dort hat Spitzer immer wieder beachtliche Aufmerksamkeit gewinnen können. So sagt er 2017 in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, in dem er als vehementer Verteidiger der seiner Sicht nach gefährdeten Handschrift

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auftritt: „Was Kinder nicht haben, braucht man ihnen nicht zu verbieten. Wer will, dass seine Kinder Informatiker werden, sollte sie im Kindergartenalter nicht über iPads wischen lassen. Dann können sie als Teenager besser programmieren“ (Spitzer 2017). Die sich hier zeigende Aversion gegen das Wischen scheint auf einem Verständnis nach der Art einer kulturellen Metapher zu beruhen, in der die leichte Bedienbarkeit digitaler Endgeräte als verführerische Falle erscheint. Das ist – wenn auch ohne die dort eingebrachte Reflexivität – zum Teil recht ähnlich der von Egan projizierten Bezeichnung der „Patscher“. Beides, der kunstvolle Roman und Spitzer als kulturpessimistischer Wiedergänger, sind nicht einfach nur Diskurspartikel, sondern haben eine erhebliche mediale und öffentliche Resonanz. Sie lassen sich als Diskursereignisse lesen, in denen kulturtypische Gesten als Verdichtung einer tiefgreifenden Veränderung begriffen werden, auf die sich ein kulturelles Unbehagen richtet. Woher kommt dieses Unbehagen? Es zeigt sich nicht nur eine historisch (etwa bei der Verbreitung des Romans im 18. Jahrhundert) wiederkehrende Skepsis gegenüber medialen Neuerungen. Darüber hinaus lassen sich die Vorbehalte, die digitale Medien gerade im Kontext von Kindheit und Familie erfahren, auch im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen „Bildungsdispositiv“ (Lange 2010a) sehen, das im ersten Teil dieses Beitrags angesprochen wurde. Die Attraktivität digitaler Medien wird als Bedrohung für kindliche Bildung wahrgenommen und in Folge dessen digitale Medien und der familiale Mediengebrauch unter besondere Beobachtung gestellt. Diese Haltung kann Familien durch viele Akteur*innen in ihrem Umfeld begegnen, wie die folgenden zwei exemplarischen Funde illustrieren: So weiß der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte: „Eltern bringen ihren Kindern nicht mehr bei zu spielen oder sich sinnvoll zu beschäftigen, sondern parken den Nachwuchs vor den Geräten. Teilweise am Essenstisch! Ein furchtbarer Trend mit katastrophalen Folgen für die kindliche Entwicklung“ (Welter 2019). Und die Grundschule Oberdieten ruft in ihrer „Erziehungsvereinbarung“ (Grundschule Oberdieten 2019) Eltern dazu auf, „mit Medien verantwortungsvoll umzugehen (keinen Fernseher im Kinderzimmer, begrenzte Bildschirmzeit, kontrollierte Computerspiele)“ (ebd.). Wie Familien mit Medien umgehen, ist vor diesem Hintergrund ein Aspekt des displaying family (Finch 2007) in der sozialen Umgebung, gegenüber der Familien darauf bedacht sind, ein positives Bild von sich zu präsentieren. Eine besondere Rolle spielt auch, dass sich im Vergleich mit dem Fernsehen als lange unangefochtenem Leitmedium andere Anforderungen ergeben. Gegenüber der zeitlichen und relativen lokalen Fixierung sowie den unidirektionalen und linearen Inhaltsströmen des Fernsehens stellen die mobil nutzbaren, zeitlich entbundenen und durch die Nutzer*innen wählbaren Inhalte digitaler Medien eine ungleich größere Herausforderung für ein elterliches Monitoring dar. Auf die Schwierigkeit, digitaler Medien durch elterliche Kontrolle habhaft zu

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werden, dürfte ein Gutteil der gesellschaftlichen Besorgnis zurückzuführen sein. In diesem Punkt konvergieren ein allgemeiner Diskurs um Familie und Elternschaft und der Diskurs über Familien und Medien. Auf beiden Ebenen werden vor dem Hintergrund gesellschaftlich breit und oft einigermaßen vage artikulierter Besorgnis Eltern als Kontrollinstanz adressiert, die mit einer strategischen Steuerung familiale Lebenswelten regulieren soll. Dieser diskursive Knoten ist ein wichtiger Hintergrund für die Forschung zu den Zusammenhängen von doing family und digitalen Medien. Insbesondere erschwert er die analytisch wichtige Unterscheidung zwischen einem Mediengebrauch in Familien und einem familialen Mediengebrauch. Eine entsprechende Differenzierung wird im folgenden Abschnitt entfaltet, um die Frage nach der Konstituierung von Familialität im Kontext des Gebrauchs digitaler Medien präziser stellen zu können. 4

Mediengebrauch in und Mediengebrauch von Familien

Mit Andreas Lange lässt sich doing family als die Herausforderung verstehen, „angesichts multipler Raum-Zeit-Pfade der Familienmitglieder Routinen und Gemeinsamkeit, Verlässlichkeit und Flexibilität [zu gewährleisten, damit] sich Familien nicht nur als Ensemble von Individuen, sondern als Gemeinschaft erfahren können“ (Lange 2010b). Bei der Bearbeitung dieser Komplexität von Familie greifen die Akteur*innen auch auf Hilfsmittel zurück. Noch einmal Lange, für den „[…] die Herstellung des zeitgenössischen Familienlebens zentral und bis ins Mark der Alltagsorganisationen geknüpft ist an und mitbestimmt wird durch Artefakte wie das Familienauto, die Handys der Familienmitglieder, die Mikrowelle und das Fernsehgerät. All diese technischen Artefakte erleichtern, erzwingen und moderieren bestimmte Formen und Typen der alltäglichen Lebensführung von Familien.“ (Lange 2014, S. 485).

Damit ist doing family auch als ein medienbasiertes Geschehen beschreibbar. Einige Beiträge stellen in diesem Kontext etwa die gemeinsame Medienrezeption als Herstellung von Gemeinschaft heraus (z. B. Müller und Krinninger 2016). Daneben sind digitale Medien multifunktionale Hilfsmittel der Familien. Sie werden zur Kommunikation oder auch zur Sicherung von Kommunikation im Bedarfsfall eingesetzt und nicht selten ermöglichen sie kraft ihrer Aufmerksamkeit heischenden Wirkung ein familiales appeasement. Familien nutzen Medien auch zur Alltagsstrukturierung (Fleischer 2014), etwa wenn Kinder als Teil des Einschlafrituals Videos ansehen. Die tiefe Verflochtenheit von Familienleben und digitalen Medien und die auf dieser Grundlage entwickelte alltägliche Vertrautheit der

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Familienmitglieder mit dem Gebrauch digitaler Medien tragen ihrerseits dazu bei, dass Prozesse der Mediatisierung in weiteren Lebensbereichen verstärkt werden. In der Summe sind Familien so einer der zentralen „Transmissionsriemen“ (Theunert und Lange 2012, S. 18) der gesellschaftlichen Mediatisierung. Analytisch lässt sich nun von einem medienbasierten doing family – also einem Mediengebrauch von Familien – eine Dimension des Mediengebrauchs in Familien unterscheiden. Dies soll im Folgenden erläutert werden. Medien, darauf weisen etwa die gerade zitierten Theunert und Lange (2012) hin, induzieren generationale Differenzen im familialen Binnenraum, auf die sich familiale Arrangements der Medienerziehung richten. Hier zeigen sich deutliche Rückwirkungen des medienskeptischen Diskurses in familialen Praktiken. Lange konstatiert: „‚Lustvoller‘ und sozialitätsbezogener Mediengebrauch in Familien steht also nicht nur aufgrund der schon lange grassierenden Kulturkritik unter einem moralischen Vorbehalt, sondern dieser Vorbehalt wird aktuell noch durch die Tendenz einer forcierten Verantwortungszuschreibung an Eltern befeuert [...] Die Vorgabe beispielsweise, das kindliche Medienhandeln auf die von den »Experten« empfohlene Tagesration zu begrenzen, mag auf der kognitiven Ebene den Eltern einleuchten, stellt sich dann aber [...] als höchst diffizile und widersprüchliche Angelegenheit dar [...]“ (Lange 2014, S. 491).

Die elterlichen Reaktionen auf generationale Divergenzen werden empirisch differenziert. Wagner et al. (2013, S. 146 f.) etwa beschreiben sechs familiale Medienerziehungsmuster: „laufen lassen“, „beobachten und situativ eingreifen“, „funktionalistisch kontrollieren“, „normgeleitet reglementieren“, „Rahmen setzen“ sowie „individuell unterstützen“. De Almeida et al. (2012, S. 225) unterscheiden vier Typen, in denen die Nutzungsweisen digitaler Medien durch Kinder an elterliche Monitoringpraktiken gekoppelt sind: ‚Anfänger ohne elterliche Begleitung‘, ‚moderater, zielgerichteter Gebrauch mit elterlicher Begleitung‘, ‚intensiver Gebrauch bei intensiver elterlicher Begleitung‘ sowie ‚extensive, autodidaktische Nutzung ohne elterliche Begleitung‘. Im Kontext dieses Beitrags interessieren nun nicht so sehr die einzelnen Typisierungen, sondern die in der Summe deutlich werdende allgemeine Ausrichtung dieser Forschungen auf elterliche Praktiken, die exklusiv dem kindlichen Umgang mit Medien gelten. Gerade mit Bezug auf solche Praktiken der Medienerziehung lässt sich die angesprochene Differenzierung markieren. Im Rückgriff auf Morgan (2011a) ist dazu noch einmal auf die Besonderheiten familialer Praktiken hinzuweisen, die darin liegen, dass sie sich auf andere Familienmitglieder richten, dass sich die Familienmitglieder im Vollzug dieser Praktiken als Familienmitglieder adressieren und dass so die Familienbeziehungen bestätigt und aktualisiert werden. Zudem ist jenseits der im ersten Abschnitt dieses Textes angemahnten Ausdifferenzierung

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des Verhältnisses zwischen einem mikrosoziologischen Blick auf familiale Alltagspraktiken einerseits und einem weiter gefassten Interesse an familialen Strategien der Lebensführung andererseits ebenso festzuhalten, dass familiale Praktiken, wie sie Morgan bestimmt, ein konstitutives Element eines doing family darstellen. Vor dem Hintergrund dieser Justierungen lässt sich familiale Medienerziehung, so wie sie in den herangezogenen Forschungen erfasst wird, nur bedingt als Teil davon verstehen. Fragt man mit Schatzki nach der „teleoaffektiven Struktur“ (Schatzki 2002, S. 87), also nach den Zielen bzw. Zwecken, auf die Praktiken gerichtet sind, dann lässt sich hier zwischen der Familie selbst (der Zugehörigkeit zur Familiengemeinschaft, den Beziehungen zwischen Familienmitgliedern) und einer Steuerung der kindlichen Mediensozialisation unterscheiden. Anders gesagt: Medienerziehung in der Familie und ein doing family mit Medien lassen sich darin unterscheiden, wie sie sich auf die Familie und ihre Mitglieder beziehen. Nicht jeder Mediengebrauch in Familien ist also direkt und in engerem Sinn als Element eines doing family und insofern als Mediengebrauch von Familien zu verstehen. In der Analyse konkreter familialer Praxisvollzüge wird man mit dieser analytischen Unterscheidung zu graduellen Differenzierungen gelangen, weil Praktiken der Medienerziehung, auch wenn sie primär eine spezifische Gebrauchsweise von Medien durch Kinder avisieren, ihrerseits FeedbackEffekte auf die Familie als Gemeinschaft haben; wenigstens insofern, als sie die Eltern-Kind-Beziehung als eine pädagogische Beziehung rahmen. Gerade aber analytisch erscheint diese Präzisierung geboten; und zwar sowohl im Hinblick auf die bestehenden konzeptionellen Unschärfen von doing family, als auch in einer erziehungstheoretischen Perspektive. Erziehung in der Familie ist eingebunden in die sozialen Praktiken der Familie. Diesen Zusammenhang habe ich in meinen Arbeiten mit Hans-Rüdiger Müller und mit Kaja Kesselhut mehrfach beleuchtet. So haben wir etwa – in kritischer Positionierung zur Erziehungsstilforschung – grundlegende und regelmäßige Praxisformen in Familien in der Kategorie des Familienstils erfasst, der als eine Art mikrosozialer Mantel familialer Erziehung fungiert, mit ihr aber nicht in eins zusammenfällt (Müller und Krinninger 2016, Kesselhut et al. 2017). Für den familialen Umgang mit Medien kann in diesem Kontext weiterführen, die von Morgan beschriebenen family practices als Beschreibung der Vollzugsebene eines medienbezogenen doing family zu dimensionieren, das seinerseits einzelne Situationen und ihre praktische Bearbeitung übergreift. Damit werden Differenzierungen sowohl im Hinblick auf die Familie als soziale Hervorbringungsleistung als auch in Bezug auf Fragen nach der Erziehung in Familie möglich. In diesem Sinn lässt sich unterscheiden zwischen den konkreten Vollzügen medienbasierter oder -bezogener familialer Interaktionen einerseits und den in den entsprechenden Praktiken zum Tragen kommenden übergreifenden Ordnungs-

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mustern andererseits; etwa den Strukturen der Familienbeziehungen, der familienimmanenten Normativität (Erwartungen, Angemessenheitsvorstellungen) oder thematischen Affinitäten oder Interessen. So lassen sich zwei Fragerichtungen aufzeigen: ‚Wie werden (digitale) Medien in Familien gebraucht?‘ Und: ‚Welche Rolle spielen (digitale) Medien für Familie?‘ Praktiken der Medienerziehung werden von der ersten Frage erfasst, Aspekte wie die räumlich-zeitliche Organisation der Familie oder die Hervorbringung und Gestaltung der sozialen Ordnung der Familie von der zweiten. Mit dieser Differenzierung könnte empirisch und systematisch eine klarere Relationierung von doing family und Medien erreicht und auch die angesprochene erziehungstheoretische Frage nach Interferenzen geschärft werden: Wie ermöglicht oder rahmt oder begrenzt Familie-Sein im Sinne von doing family elterlichen Zugriff auf kindlichen Mediengebrauch? Am folgenden Ausschnitt aus einem ethnografischen Forschungsprojekt zur „Familialen Bearbeitung des Übergangs in die Grundschule“1 will ich diese Unterscheidung illustrieren.

Dieses Standbild zeigt Kristina (42) und Kai (6) Kowaljow. Familie Kowaljow ist jüdisch religiös, was sich auch auf das familiale Bildungsprogramm für Kai auswirkt. Neben der aktiven Teilnahme am Gemeindeleben in einer kleinen 1

Das vom Autor dieses Beitrags geleitete Projekt wurde an der Universität Osnabrück durchgeführt und von 09/2014 bis 01/2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen waren Kaja Kesselhut, Markus Kluge (bis 04/2016) und Richard Sandig (ab 08/2016).

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nordwestdeutschen Großstadt werden entsprechende kulturelle Gehalte Kai auch über non-formale religiöse Bildungsangebote vermittelt (Hebräisch-Kurs, liturgische Unterweisungen, Thora-Unterricht). Darüber hinaus zeigt sich ein familiales Bildungsverständnis, das man durchaus im Kontext einer Aufstiegsorientierung sehen kann, nach dem kindliches Lernen nicht nur Interessen des Kindes Raum geben, sondern auch zu Leistungen befähigen soll. Hier ist auf ein dichtes außerschulisches Programm Kais zu verweisen, zu dem auch Schwimmen, Krav-Maga und Englisch-Unterricht zählen. Kristina begleitet und stützt das Bildungsprogramm ihres Sohnes mit einem relativ engen Monitoring und in der Form motivationaler Anreize (oft durch kleine Geldbeträge von 20 oder 30 Cent). Die von der Familie selbst erstellte Videografie2, der das obige Standbild entnommen ist, dokumentiert einen Online-Hebräisch-Kurs, an dem Kai zuhause am Esstisch teilnimmt. Seine Mutter sitzt neben ihm – halb in unterstützender, halb in kontrollierender Funktion. Prägnant an dieser von der Familie selbst videografierten Szene ist die Kreuzung der Blickrichtungen zwischen den familialen Akteur*innen und ihren medial zugeschalteten bzw. repräsentierten Betrachter*innen. Entlang der Blickrichtung der aufzeichnenden Kamera verläuft die Sichtachse zwischen der Mutter und dem durch die Kamera repräsentierten Forschungsprojekt. Quer dazu verläuft die Sichtachse zwischen Kai und der Kursleiterin des Online-Sprachkurses, die ihn und die anderen Teilnehmer per Webcam sieht. In der räumlichen Anordnung ist dabei nur für die Kamera des Forschungsprojekts, nicht aber für die Webcam des Tablets die Gesamtkonstellation sichtbar. Auch die Mutter setzt sich ‚in den toten Winkel‘ dieser Webcam. Mit Blick auf die damit einhergehenden Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten lässt sich die Inszenierung der familial arrangierten Lernsituation als ein verschachteltes displaying family deuten, da in diesem Fall gleich zwei Bühnen (Forschungsöffentlichkeit und Online-Kurs) bespielt werden. Kristina Kowaljow sitzt nicht nur neben ihrem Sohn; mimisch und gestisch ermuntert sie Kai und sie souffliert ihm eine Antwort auf eine Frage. Bezogen auf die Kursleiterin – für die das ‚im Off‘ geschieht – separiert damit sie eine familiale Hinterbühne der stillen Unterstützung und der elterlichen Beobachtung von einer Vorderbühne, auf der Kai als kompetenter Teilnehmer am Kurs erscheinen soll. 2

Vor dem Hintergrund der in Familien eingeschränkten Möglichkeiten einer teilnehmenden Beobachtung wurden die beforschten Familien gebeten, videografische und fotografische Selbstdokumentationen zu erstellen. Dafür wurden den Familien u.a. Videokameras samt Stativ zur Verfügung gestellt, die Frau Kowaljow für die Aufzeichnung der hier herangezogenen Sequenz genutzt hat. Daneben fanden – verteilt über den Zeitraum eines knappen Jahres – fünf Forschungsbesuche statt. In der Analyse wurden die dabei erstellten fieldnotes und durchgeführten Interviews mit den Selbstdokumentationen verschränkt, wobei ethnografische und sozial-rekonstruktive Strategien zum Einsatz kamen (zur kooperativen Erzeugung der Daten auch Krinninger 2018).

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Demgegenüber ist für die Kamera des Forschungsprojekts etwa auch ihr stilles Lachen über eine fehlerhafte Antwort Kais sichtbar. Familie Kowaljow ‚zeigt‘ also dem Projekt, wie Kai sich im Online-Kurs präsentiert. Kai indes, das deutet sein Gähnen an, gibt sich keine große Mühe, seine Müdigkeit zu verbergen. Besonders fesselnd scheint der Online-Kurs nicht zu sein. Auch sucht er körperliche Nähe zu seiner Mutter und greift mit einer spielerischen Geste nach dem Anhänger an ihrer Halskette. Kristina weist ihn nicht gleich ab, sondern berührt ihrerseits zunächst kurz sanft seine Hand und lenkt erst einen Augenblick später seine Aufmerksamkeit mit einem Fingerzeig zurück auf den Kurs. Die sich in dieser Behutsamkeit zeigende Gleichzeitigkeit von Kontrolle und pädagogischem Unschärfeprinzip ist Kristina durchaus bewusst. In einem Interview gibt sie ihrer Erleichterung darüber Ausdruck, dass die anderen Kinder, die am Kurs teilnehmen und die man in kleinen Fenstern auf dem Bildschirm des Tablets sehen kann, auch „unaufmerksam“ sind: „Und manchmal sind die Kinder unter dem Tisch oder ja ja … sie laufen um den Tisch.“ Zwischen der tendenziell etwas laxen Beteiligung des Kindes sowie der zugleich aufmerksamen und nachsichtigen Begleitung durch die Mutter lässt sich ein komplementäres Verhältnis ausmachen. Die Mutter hält die Rahmung der Situation zwar durchgehend aufrecht, aber sie erzeugt selbst eine Binnendifferenzierung zwischen den Erwartungen, die in Bezug auf Kais Präsentation gegenüber der Kursleiterin bestehen, und den Spielräumen, die er dabei gegenüber ihr als Mutter hat. Innerhalb dieser Rahmung zeigt sich Kai als grundsätzlich geneigter Mitspieler, nimmt sich zugleich jedoch auch kleine Freiheiten. Man könnte hier in Analogie zum Konstrukt des „Schülerjobs“ (Breidenstein 2006) davon sprechen, dass Kai den ihm geltenden Erwartungen durchaus nachkommt und seinem ‚Kinderjob‘ insofern genüge tut, sich zugleich aber auch kleine Freiheiten nimmt. Der Online-Kurs hat dabei auch einen wichtigen Anteil für die Gestaltung der kulturellen Ordnung der jüdisch geprägten Familie. Deren Lebenssituation weist einige Aspekte auf, die sich auf das kulturelle Muster eines Lebens in der Diaspora beziehen lassen. Dazu zählt die starke Ausrichtung auf die jüdische Gemeinde vor Ort (sowohl in spiritueller als auch in sozialer Hinsicht). Auch die Migrationsgeschichte der Eltern ist zu nennen: Kristina und ihr Mann sind in den 1990er-Jahren als sog. Kontingentflüchtlinge aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland migriert. Schließlich spielen transnationale Momente der elterlichen Bildungsorientierung eine Rolle. Diese zeigen sich nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene (etwa im frühen Fremdsprachenunterricht), sondern werden von der Mutter im Interview auch explizit hervorgehoben. In ihren biografischen Aspirationen für Kai entwirft sie eine Zukunft die eventuell in einem anderen nationalen Kontext angesiedelt sein wird (Israel zieht sie dafür ausdrücklich in Betracht): „Man weiß nicht, wo man im nächsten Leben nun wohnen wird. Ja, das ist so eine Sache. Ja,

Dominik Krinninger

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dass man ruhig weiter das macht, wo man oder wie man studiert hat. Arzt, Pharmazeut, das sind immer Sachen, die man auch im Ausland weiter machen kann.“ Mit dem nicht ortsgebundenen Online-Kurs ist die Anbindung an eine spezifische Lerngemeinschaft möglich, die sich vor Ort so nur schwer finden ließe. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Online-Kurs als Hilfsmittel oder tool eines spezifischen doing family begreifen. Fallspezifisch bezeichnend ist nun, dass Kristina Kowaljow ihren Sohn zwar bei vielen Lerngelegenheiten (auch offline) begleitet, sich jedoch kaum einmal ein inhaltlicher Austausch über die Gegenstände seines Lernens ergibt. Diese bleiben, wie die Inhalte des Online-HebräischUnterrichts, die Sache Kais. Insofern führt dieser Fall eine mittelbare Relevanz des kindlichen Mediengebrauchs für die Familie vor. Wie seine Mutter ihn begleitet, hat eine deutliche Resonanz in der Eltern-Kind-Beziehung. Wobei sie ihn im Einzelnen konkret begleitet, scheint aus Perspektive der Akteur*innen weniger zentral zu sein. Um diese Mittelbarkeit – die dort zu finden ist, wo (digitale) Medien in bzw. von der Familie als tools im Sinne von Hilfsmitteln gebraucht werden – zu erfassen, ist die Unterscheidung zwischen einem Mediengebrauch in Familien und einem medienbasierten doing family wichtig. 5

Zum Schluss: bildungs- und sozialisationstheoretische Perspektiven

Nachdem der Beitrag bislang die erziehungswissenschaftliche Relevanz des familialen Gebrauchs digitaler Medien aus einer erziehungstheoretischen Perspektive beleuchtet hat, werden zum Schluss weiterführende, sozialisations- und bildungstheoretische Fragen aufgeworfen. Vor der Folie des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, der in der Allgegenwart digitaler Medien zum Ausdruck kommt, betreffen diese Fragen sowohl die Ausprägung von Selbstverhältnissen in der Familie als auch Strukturmomente der Familie selbst. Zum ersten Aspekt: Grundlegende Bildungsprozesse in der frühen und frühesten Kindheit vollziehen sich im Wechsel von De- und Rezentrierung. Diese Grundfigur findet sich in unterschiedlichen Gestalten etwa schon bei Plessner (1975) oder Mead (1978) und sie wird in Bezug zur frühen Kindheit etwa in neueren phänomenologischen Perspektiven aufgegriffen, die die Übergänge zwischen individuellen und sozialen Verfasstheiten des Menschen ausleuchten, um auf Erfahrungsräume in der Relation von individueller Identität und dem Eingebundensein in soziale Ordnungen hinzuweisen (z.B. Stenger 2017). Im Kontext dieses Beitrags stellt sich als empirische Frage, welche Bildungserfahrungen Kinder machen, wenn Exzentrizität im Sinne der Begegnung mit dem eigenen Bild technisch so leicht im Familienalltag über Handy-Fotos und -Videos herstellbar ist. Anders als Spiegelbilder (in denen auch der eigene Blick gespiegelt wird) können medial erzeugte Bilder die Perspektive Dritter wiedergeben und machen es in diesem Sinn

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Medium und tool. Doing family und digitale Medien

möglich, sich selbst durch die Augen anderer, also von außerhalb der eigenen Position zu sehen. Kinder begegnen im familialen Gebrauch der stark auf Visualität ausgerichteten digitalen Medien immer wieder bildhaften Repräsentationen von sich (bzw. erstellen diese selbst) und bekommen gesagt: „Das bist du!“ (siehe die Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital und Mohn in diesem Band). Zum zweiten Aspekt: Zu den zentralen Strukturmomenten der Familie zählt die Unterscheidung zwischen innen und außen. Dies ist ein in der Geschichte der Familie nicht zu überschätzender Aspekt (Wer gehört zur Familie? Welche Tätigkeiten haben wo ihren Platz? Wie differenzieren sich familiale Privatheit und gesellschaftliche Öffentlichkeit aus?). Die Moderation der Bewegungen von Personen, Dingen und Themen aus und in die Familie zählt aber auch in pädagogischer Hinsicht zu ihren grundlegenden Funktionen. Hier wäre etwa auf Michael Winkler (2012) zu verweisen, aber auch auf eigene Arbeiten zu den Formen dieses Grenzmanagements (Krinninger 2015). In diesem Kontext erscheint es nicht nur wichtig, die Reaktions- und Nutzungsweisen zu untersuchen, die Familien in Bezug auf die mit digitalen Medien einhergehenden Möglichkeiten der Translokalität entwickeln. Auch die Rückwirkungen auf das Verhältnis von innen und außen sollten in den Blick genommen werden. Etwa in Frage folgender Art: Wie stellen Familien familialen Binnenraum her, wenn es nicht reicht, einfach die Wohnungstür zu schließen? Hier wird abschließend noch einmal sichtbar, dass doing family als Konzept einerseits der theoretischen Ausdifferenzierung bedarf. In beiden angerissenen Fragerichtungen verschränken sich Perspektiven auf die gesellschaftliche Rahmung familialer Praktiken mit solchen, die familiale Praktiken als eine Sphäre der Emergenz avisieren. Wie sich diese Perspektiven systematisch aufeinander beziehen lassen, stellt eine theoretische Herausforderung dar. Andererseits zeigt sich auch, dass neue gesellschaftlich-kulturelle Verhältnisse wie sie durch die Digitalisierung gegeben sind, empirische Fragestellungen aufwerfen. Wie Familien alltäglich auch mit digitalen Medien Familie machen, stellt insgesamt also eine Frage dar, auf deren Bearbeitung eine erziehungswissenschaftliche Familienforschung sowohl in systematischer Hinsicht als auch in Bezug auf die empirische Kalibrierung des Blicks in familiale Lebenswelten nicht verzichten kann. Literatur Andresen, Sabine, Susann Fegter, Nora Iranee und Elena Bütow. 2016. Doing urban family: Städtischer Raum und elterliche Perspektive auf Kindheit. Zeitschrift für Pädagogik 62 1: 34-47. Baader, Meike Sophia. 2013. Kinder und ihre Familien. Kinder im „doing family“, Familienerziehung und „family care“ als Desiderate der Familienforschung.

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Medium und tool. Doing family und digitale Medien

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Medium und tool. Doing family und digitale Medien

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Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern Inka Fürtig

1

Einleitung1

Aufgrund der rapiden Verbreitung und damit einhergehender Veralltäglichung von Smartphones sind diese – ungeachtet öffentlicher Gefahrendiskurse (bspw. Montag 2018, Spitzer 2018) – Bestandteile heutigen Familienlebens und gehören damit auch zum Alltag der in diesen Beziehungsgefügen lebenden Kleinkinder (Wiesemann und Fürtig 2018). Im Familienalltag der (frühen) Kindheit sind Smartphones digitale Medien, die Facetten von (Familien-)Kindheiten in Bild, Film und Ton dokumentieren können: Durch die ihnen inhärente Speicherfunktion können die so entstandenen Bilder, Filme und Audioaufnahmen bewahrt und jederzeit in unterschiedlichen Situationen wiedergeben werden. Neben der Möglichkeit, Kleinkindern Aufnahmen von sich selbst zu zeigen, kennen die vernetzten Geräte mannigfaltiges aus deren Lebenswelt, z.B. ihre Lieblingslieder. Diese Lieder können Smartphones, oftmals im Kontrast zu den Eltern2 und anderen Erwachsenen, textsicher und nahezu überall wiedergeben. Damit stellen sie vielfache Ressourcen im Familienalltag bereit, die genutzt werden können. Im Zuge anhaltender Digitalisierungsprozesse durchdringen Smartphones gesellschaftliche Teilbereiche nahezu flächendeckend. Dadurch tragen sie zur Transformation sozialer Ordnung(en) bei: Die zunehmende Verbreitung zunächst von Mobiltelefonen und heute von Smartphones und ihre vielfältigen Nutzungsweisen machen eine Ausbildung angemessener Umgangsformen mit der ununterbrochenen Erreichbarkeit durch Abwesende sowie der ständigen Anwesenheit der Geräte in sozialen Situationen erforderlich. (Keppler 2019, S. 178)

Obgleich Smartphones im Familienalltag von Kleinkindern primär durch die Erwachsenen Verwendung finden, geht damit in der Regel kein exklusiver Gebrauchs1 2

Mein besonderer Dank gilt Torsten Eckermann und Annika Gruhn für ihre hilfreiche und anregende Kommentierung. Wenn in diesem Text von „Eltern“ die Rede ist, so sind aus Gründen der besseren Lesbarkeit darunter jedwede Personen zu fassen, die als Erziehungsberechtige der Kinder angesehen werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_7

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Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern

anspruch einher. Kleinkinder sind zudem aufmerksame Beobachter*innen des Smartphonegebrauchs ihrer Eltern und bringen durch ihre Aktivitäten und Interventionen das mediale Geschehen in der Familie und damit die jeweilige familiale Ordnung (mit)hervor. Sie sind daran beteiligt, die von Keppler angesprochenen „angemessenen Umgangsformen“ mit Smartphones in familialen Settings auszuhandeln, die sowohl sie selbst als auch die Eltern betreffen. Die Auseinandersetzung mit der wechselseitigen Hervorbringung einer solchen familialen Medienordnung bildet den Kern des vorliegenden Beitrags und wird anhand ethnographischer Beobachtungen aus dem Familienalltag und deren Analyse diskutiert. Im Rahmen dieses Beitrags wird eine praxeologische Perspektive eingenommen, die den Familienalltag von Kleinkindern und die darin eingebetteten Smartphonepraktiken der Familienmitglieder in den Fokus nimmt. Die erziehungswissenschaftliche ethnographische Studie (s. Abschnitt 2) ist an der Schnittstelle der New Childhood Studies und einer praxeologisch orientierten Familienforschung angesiedelt. Kinder werden in dieser Tradition als soziale Akteure (James und Prout 1990) – hier im Familienalltag – fokussiert, die an der Hervorbringung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beteiligt sind. Im Sinne der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung werden Kinder nicht unter Familie subsumiert, womit Kinder als eigenständige gesellschaftliche Gruppe marginalisiert würden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, sie als Akteure zu betrachten, ohne dabei zugleich die Relevanz der Eltern im Leben von Kleinkindern zu vernachlässigen. Hierzu erscheint eine praxeologische Perspektive als sinnvoll, die die sozialen Praktiken im Familienalltag in den Mittelpunkt rückt und Familie als wechselseitige Hervorbringung von Kindern und Eltern empirisch zu erschließen beabsichtigt. Die Handlungsfähigkeit (agency) von Kleinkindern wird in ihrem Wechselverhältnis mit der familialen und generationalen Ordnung betrachtet, in die sich Kleinkinder nicht einfach als passive Wesen einfügen, sondern die sie in unterschiedlicher Weise selbst mithervorbringen und gestalten. Der Kontext Familienalltag wird als wesentlich für die Konstitution von Elternschaft und früher Kindheit angesehen. Damit wird eine spezifische analytische Perspektive eingenommen: Familie ist, was sie alltäglich tut; sie konstituiert sich im alltäglichen doing family (Morgan 1996) der Familienmitglieder (zu den unterschiedlichen Ansätzen des doing family siehe Krinninger in diesem Band). Die Fokussierung auf Medienpraktiken, die sich auf das Smartphone beziehen, ermöglicht es, das alltägliche doing family als wechselseitige Hervorbringung einer familialen Medienordnung von Eltern und Kindern zu verstehen, die alltäglich in familialen Settings verhandelt wird. Im Folgenden wird zunächst die empirische Grundlage des Artikels erläutert und damit auf den methodenpluralen Forschungsstil der (Medien-)Ethnographie des Familienalltags eingegangen. Hierbei wird es auch um die Einbindung in

Inka Fürtig

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Prozesse des doing family und des familialen Mediengebrauchs gehen, die das ethnographische Vorgehen kennzeichneten. Im Anschluss daran werden Diskursstränge zum Mediengebrauch im Familienalltag der Kleinkinder aufgezeigt. Daran anschließend werden im Ergebnisteil ethnographische Beobachtungen und deren Analysen präsentiert und die Ausführungen abschließend zusammengefasst und bilanziert. 2

Familienalltag als (medien)ethnographisches Forschungsfeld

Die Grundlage des Artikels bilden Erkenntnisse aus einem ethnographischen Promotionsprojekt3 zum Familienalltag in der frühen Kindheit. Im Zuge dessen wurden zwei gemeinsam in einem Haus lebende Familien in ihrem Alltag teilnehmend und zum Teil kameragestützt über mehrere Jahre von mir beobachtet. Die ethnographische Arbeit versteht sich als Medienethnographie, die Familien und ihre Medien fokussiert. Es werden also Familienmitglieder in den Blick genommen, „die Medien nutzen, konsumieren, distribuieren und produzieren“ (Bachmann und Wittel 2011, S. 187). Mein Feld gestaltet sich aus dem Alltag zweier miteinander in einem Haus lebender Familien und deren Mediengebrauch. Zu Beginn der Feldforschung lebten im Haus neben den vier Elternteilen, die zwischen 30 und 40 Jahren alt waren, ein Baby, ein einjähriges und ein zweijähriges Kind. Innerhalb einer zweijährigen intensiven Feldphase, in der die Familien regelmäßig von mir besucht wurden, sind zwei weitere Kinder (hinein)geboren worden. Meine Besuche fanden zu Beginn monatlich und nach einigen Monaten immer häufiger und letztlich wöchentlich statt. Nach einem dreiviertel Jahr boten mir die Familien an, bei ihnen zu übernachten. Ab diesem Zeitpunkt blieb ich meist über mehrere Tage hinweg, sowohl unter der Woche als auch an den Wochenenden, und es wurde zur Routine für mich im Verlauf der mehrtägigen Aufenthalte bei den Familien zu übernachten. Während die Besuche zu Beginn der Forschung immer abgesprochen wurden, wurde dies nach etwa einem Jahr vonseiten der Eltern nicht mehr als notwendig erachtet („Komm einfach vorbei. Wir sind ja eh da.“). Dennoch kündigte ich meine Besuche weiterhin an, wenn auch meist erst am Tag der Ankunft. Sowohl das Ankündigen der Besuche als auch das Kontakthalten mit den Familien erfolgte fast ausschließlich über das Smartphone (zumeist über einen Messenger), was auch ein 3

Die Dissertation entsteht im Rahmen des Forschungsprojekts „Frühe Kindheit und Smartphone. Familiale Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation“ (Leitung: Jutta Wiesemann). Es handelt sich um ein erziehungswissenschaftliches Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 1187 „Medien der Kooperation“, der seit Januar 2016 an der Universität Siegen besteht und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

132

Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern

Verweis auf die Relevanz des Smartphones und dessen Gebrauchsweisen im Alltag der Familien ist (siehe hierzu auch Eisenmann, Peter und Wittbusch 2019). Meist blieb ich drei Tage, es kam aber auch vor, dass ich mich ganze Wochen bei den Familien aufhielt und mit diesen lebte. Dies ermöglichte es mir, neben einzelnen Auszügen auch Einblicke in die Abläufe ganzer Tage zu erhalten.

2.1

Alltagsorganisation der Familien

Familienalltag wird in vielfacher Hinsicht von den Eltern organisiert: Unter der Woche wurden die Kita-Kinder morgens mit dem Auto oder dem Fahrrad i.d.R. von einem Elternteil in die Kita gebracht und entweder als Mittagskinder, d.h. gegen zwölf Uhr, oder am Nachmittag wieder abgeholt. Hin und wieder blieben sie aus Krankheitsgründen zuhause und mit ihnen mindestens eine erwachsene Person. Vieles richtete sich danach aus, wer wann zuhause war und ‚Zeit hatte’, vieles musste abgesprochen und ausgehandelt werden, vor allem Fragen der Versorgung und Planung: Wer war wann zuhause? Wer kochte am Abend für alle? Wer kaufte (dafür) ein? Wann konnte mit dem Essen begonnen werden? In diese Planungsund Aushandlungsprozesse waren digitale Medien häufig integriert. An dieser Stelle seien nur zwei Beispiele für die Nutzung dieser angeführt: Erstens, der Einkauf wurde über eine gemeinsame, in einer Cloud erstellte, digitale Einkaufsliste geregelt, deren einzelne Punkte zumeist während des Einkaufs abgehakt wurden. Durch diese Praxis konnten die Familien ohne weitere Absprachen einen gemeinsamen Einkauf erledigen. Zweitens, spielten digitale Medien, wie Laptops, PCs und auch Smartphones, eine Rolle bei der Planung, wer wann zuhause sein konnte. Denn diese Frage hing davon ab, wer seine Arbeit ‚von zuhause aus‘ und im Beisein der Kinder (zumindest theoretisch) zu erledigen vermochte. Die Medien ermöglichten und unterstützten hier die Praxis des Homeoffice-Machens. Ein Elternteil organisierte z.B. regelmäßig seine Arbeit über das eigene Smartphone, indem Mitarbeiter*innen angerufen und Dienstpläne erstellt wurden. Die kurzen Ausführungen unterstreichen die Relevanz medialer Praktiken bei der Organisation des Familienalltags, insbesondere die Synchronisierung und Koordination des Alltags betreffend (vgl. Lange 2014, S. 496).

2.2

Partizipation an Praktiken des doing family

Auch ich wurde in die Organisation des Familienalltags miteinbezogen. Fragen an mich, wie „Bist du beim Abendessen dabei?“, „Wann kommst du wieder?“ und „Kannst du am Nachmittag eine halbe Stunde bei Marco [einjähriges Kind] sein?“, weisen darauf hin, dass mit mir geplant wurde.

Inka Fürtig

133

Dabei hatte ich im Feld unterschiedliche soziale Rollen („Feldrollen“: Dellwing und Prus 2012, S. 108ff.) inne, d.h. während meiner teilnehmenden Beobachtungen wurde ich unterschiedlich von Eltern und Kindern adressiert, bspw. als Spielkameradin, als Forscherin oder als beaufsichtigende Person. Daraus ergaben sich Handlungsunsicherheiten im Feld. In Bezug auf die Kinder manifestierte sich diese Unsicherheit in Fragen, wie den folgenden: Spielte ich mit, wenn sie es sich wünschten, obwohl ich mich gerade mit einem Elternteil unterhielt? Regte ich ein gemeinsames Spiel an und hatte ich die Kraft bis zum Ende durchzuhalten? Kam ich mit auf die Toilette, wenn sie nach mir riefen, oder überließ ich das den Eltern? Hatte ich schon ihre neuesten Sachen gesehen und fand ich sie schöner als die der Cousine? Hatte ich ihnen etwas mitgebracht? Diese Fragen dienen an dieser Stelle lediglich als Andeutung der Herausforderungen, die das Feld für mich bereithielt. Sie zeigen meine Involvierung in Praktiken des doing family und meinen eigenen Mitgliedsstatus, der immer wieder ausgehandelt wurde. Die Fragen veranschaulichen auch, dass Feldforschung Beziehungsarbeit ist: Familien sind dichte Beziehungsgefüge und als Ethnograph*in im Feld zu sein heißt, in diese Beziehungen verstrickt zu sein und eigentlich permanent mit Kindern und Eltern Beziehungen zu gestalten. Der Zugang zum Feld ist also nicht von vornherein festgelegt (siehe hierzu auch Jaeger in diesem Band), sondern wird kontinuierlich verhandelt. Es handelt sich um einen nie abgeschlossenen Kooperationsprozess zwischen Forscher*in und Feld (vgl. Wolff 2005, S. 336). Dazu gehört auch und insbesondere im Bezug auf intime Felder, wie das hier dargestellte, die beständige Pflege einer Vertrauensbeziehung als Voraussetzung dafür, wiederkommen und über längere Zeit hinweg im Feld beobachten zu können. Im Folgenden wird nun näher auf die Bedeutung von Forschungen zu familialem Mediengebrauch in der frühen Kindheit eingegangen. Es werden Besonderheiten und Relevanzen von Smartphones im Alltag von Familien aufgezeigt, die den daran anschließenden Teil, in dem Datenmaterial präsentiert und analysiert wird, fundieren. 3

Diskurse: Smartphones im Familienalltag mit Kleinkindern Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht. (Kinderreim)

Smartphones in Kinderhand werden in der Öffentlichkeit häufig im Zuge eines Gefahrendiskurses thematisiert, in welchem frühzeitiger Mediengebrauch mit Krankheitsbildern in Verbindung gebracht wird: So etwa mit Diagnosen wie Hyperaktivität, chronischer Vergesslichkeit und Konzentrationsschwäche (bspw. Spitzer 2014 und konkret in Bezug auf Smartphones Spitzer 2018) oder der nicht ausreichenden Ausprägung aller Sinne (vgl. Montag 2018, S. 31). Insbesondere

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Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern

im Bereich der Psychologie und der Medizin wird dafür plädiert, Kleinkinder vor den Smartphones zu schützen, die im Kinderalltag nichts zu suchen hätten. Die Eltern, in ihrer Rolle als Erziehende und Vorbilder, sind in diesem Zusammenhang im Fokus: Kinder ahmen Erwachsene nach. Punkt. Wenn Erwachsene immer wieder vor Tablets und Smartphones sitzen, scheint dies für Kinder das normalste Verhalten der Welt zu sein. (...) Smartphones und Tablets bauen eine Mauer zwischen Eltern und Kindern auf. Diese Mauer ist besonders bedenklich, wenn es sich um jüngere Kinder handelt. Junge Menschen haben bereits sehr sensible Antennen für die Einflüsse der sie umgebenden Welt. Wenn Vater und Mutter nur auf das Smartphone (oder auch auf das Tablet/Fernsehen) schauen, werden Kinder der direkten Interaktion mit ihren Eltern ‚beraubt’. (ebd. S. 30-31)

Die nahezu flächendeckende Digitalisierung hat dazu geführt, dass ‚neue’ Medien im Alltag immer selbstverständlicher geworden sind und Kleinkinder in zunehmend digitalisierten Haushalten leben. Es ist zu einem wichtigen gesellschaftlichen Thema geworden, ‚richtige’ Umgangsweisen mit den omnipräsenten Smartphones zu finden. Diese werden auch in Zusammenhang mit Bildung und Erziehung kontrovers diskutiert (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest 2019, S. 2). In der Pragmatik des Familienalltags stellen Tablets und Smartphones eine Erziehungsherausforderung dar, weil sie zwar einerseits als Verbot- und Gefahrenobjekte (etwa Zeitfresser, Aufmerksamkeit absorbierend) betrachtet werden können, andererseits aber durch diese Eigenschaften (aufmerksamkeitsfokussierend, zeitüberbrückend) Funktionen erfüllen, die sie im Familienalltag brauchbar machen: Bspw. als Unterhaltungs- oder Beaufsichtigungsmedium, als Spielzeug oder Nachschlagewerk, als Wecker oder Stoppuhr, als Aufnahme- oder Abspielgerät u.v.a.m. Smartphones sind mit ihrer Funktionsvielfalt in den „Medienwelten von Familien“ (Lange und Sander 2010, S. 182) mittlerweile fest verankert, sie sind aber, ähnlich wie ‚Messer, Gabel, Schere, Licht‘ oder – womöglich alltagsnäher – Süßigkeiten, in ihrer Nutzung limitiert: In der Regel sind Medien und Süßigkeiten für Kleinkinder nicht einfach erreichbar und unterliegen weiteren, zumeist durch die Eltern festgelegten, Restriktionen. Zum Beispiel Begrenzung der Menge an Süßigkeiten und der Dauer der Mediennutzung oder – häufig beides betreffend – ein generelles Verbot, zumindest zu bestimmten Zeiten.

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3.1

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‚Always on’

Das Smartphone ist als ständiger Begleiter der Erwachsenen4 im Familienalltag permanent anwesend und potenziell nutzbar: Smartphonegebrauch in Familien ist alltäglich. Reglementierungen bezogen auf das Smartphone sind im Familienalltag daher nicht immer leicht auszumachen. Diese Annahme unterstützt die Beobachtung, dass die Familien zu Beginn der ethnographischen Forschung der Ansicht waren, dass Smartphones in ihrem und dem Alltag ihrer (Klein-)Kinder kaum eine Rolle spielen würden. Man nutze Smartphones ja „nur selten“ und die Ethnographin würde da ja „eigentlich gar nichts“ zu sehen bekommen (siehe hierzu auch Vogelpohl in diesem Band). Im Laufe der Forschung zeigte sich jedoch, dass Smartphones in vielfältigen Gebrauchsweisen zum Familienalltag gehören. Sie werden zwar nicht ständig situativ relevant gemacht, aber sie liegen doch meistens ‚stumm’ oder potenziell vibrierend und ertönend irgendwo herum; durch ihre stetige Präsenz können die Blicke oder Ohren der Anwesenden sie erfassen. Zudem geht von den Geräten eine ständige Erreichbarkeit aus, die uns auf spezifische Weise „fesselt“: „We are tethered to our ‚always-on/always-on-us’ communications devices and the people and things we reach through them (...)“ (Turkle 2008, S. 122). Dieser Zustand des ‚always on’ wirkt sich auf den Alltag der Familien aus, denn alle anwesenden Familienmitglieder sind in dieses mediale Geschehen verstrickt, wenngleich in unterschiedlicher Weise. 3.2

(Un)sichtbare Relevanz

Zum Teil sind die Smartphones auch temporär unsichtbar, weil sie z.B. in den Hosentaschen stecken und somit für (videographierende) Beobachter*innen zur methodischen Herausforderung werden, da die Unsichtbarkeit eines Smartphones, nicht gleichzeitig eine Irrelevanz in der jeweiligen Situation bedeuten muss (vgl. ausführlicher Fürtig 2020; i.E.). Smartphones sind, ob sichtbar oder unsichtbar, zumeist online und anwesend. Die Tendenz, das eigene Smartphone in der Nähe zu lagern, ermöglicht einen ständigen und sofortigen Zugriff darauf und unterstreicht dessen potenzielle Relevanz. In diesem Sinne ‚geht das Smartphone im Familienalltag alle an’, weil es praktisch bewältigt resp. seine Relevanz ausgehandelt werden muss. Da sich die Smartphonepraktiken mit familialen Praktiken potenziell überlagern, können konkurrierende kontextuelle Rahmen für laufende 4

Nicht in allen Familien sind Smartphones die ständigen Begleiter der Erwachsenen. Es gibt durchaus Familien, in denen Smartphones nicht vorhanden sind oder die diese kaum nutzen. In den von mir beobachteten Familien begleitete das Smartphone die jeweiligen Erwachsenen. Aber auch hier sind Unterschiede in Nutzungspraktiken, Anwesenheit und Relevantmachung von Smartphones erkennbar gewesen, auf die an dieser Stelle nur hingewiesen werden kann.

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Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern

Interaktionen entstehen, die nicht unproblematisch sind (vgl. Mantere und Raudaskoski 2017, S. 151). Die Relevanzsetzung kann in situ durch das Gerät selbst eingeleitet werden, indem es – je nach Einstellung – blinkt, aufleuchtet, vibriert, piept oder stumm bleibt. Es kann von den Eltern ausgehen, wenn diese es bspw. als Kommunikations- oder Informationsmedium nutzen; aber auch, indem sie Smartphones regelmäßig mit sich führen oder außer Reichweite der Kleinkinder schaffen. Letzteres kann durch die Praktik des In-die-Tasche-Steckens oder des Hinter-dem-Rücken-verschwinden-Lassens geschehen. Wie sich noch zeigen wird (Beobachtung 3), kann gerade das Zur-Seite-Schaffen des Smartphones die Aufmerksamkeit Anwesender darauf lenken und es für diese relevant werden lassen. Von den Kleinkindern wiederum, kann – im Wissen darum, was das Smartphone ‚kann’ – eine Aufforderung erfolgen, etwas Bestimmtes auf dem Gerät sehen und hören oder etwas damit tun zu wollen. Oder die Eltern können von den Kindern dazu bewegt werden, etwas mit dem Smartphone zu tun, z.B. ein Foto zu machen. Damit sind es die Kleinkinder, die das Smartphone relevant machen, indem es für diese, im Wissen um die Gebrauchsmöglichkeiten, eine Interaktionsressource darstellt, die je nach Situation genutzt werden kann. Die eingangs erwähnte Beobachtung der Eltern, dass Smartphones im Familienalltag wenig gebraucht würden, verweist sowohl auf die Veralltäglichung von Smartphones (vgl. Wiesemann und Fürtig 2018) als auch auf ein unterschiedliches Verständnis dessen, was aus Elternsicht unter Smartphonegebrauch im Familienalltag mit Kleinkindern verstanden wird. Ersteres bezieht sich darauf, dass Smartphones in die Alltagsroutinen der Familienmitglieder eingebettet sind und daher das ‚Wissen’ um deren Gebrauch retrospektiv nur bedingt zugänglich ist. Letzteres deutet an, dass es im Feld Differenzierungen im Hinblick darauf gibt, was Smartphonegebrauch ‚ist’ oder – in Bezug auf die Forschung – was der Smartphonegebrauch ist, der mich als Ethnographin interessieren könnte. 3.3

Gestaltung familialer Routinen

Smartphones eröffnen eine ganze Bandbreite an sich kontinuierlich erweiternden technischen Möglichkeiten und gestalten das Zusammenleben von Kleinkindern und Eltern mit. Ein Beispiel ist die relativ ortsunabhängige Videotelefonie, die es den Kleinkindern ermöglicht, mit entfernt lebenden Bekannten oder Verwandten in Echtzeit zu kommunizieren. Die ortsunabhängige Nutzung von Smartphones kann zudem Einfluss auf familiale Routinen nehmen: So ist das Abendritual des Sandmännchen-Guckens nicht an einen fest stehenden Fernseher geknüpft und damit örtlich an dessen Standort gebunden. Mit Hilfe der Sandmännchen-App auf dem Smartphone kann das Sandmännchen, wenn es Bestandteil einer familialen Zu-Bett-geh-Routine ist, an unterschiedlichen Orten abgespielt und zum Beispiel

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auch ins Bett verlagert. Womit sich auch der Zeitpunkt, zu dem die Sendung gesehen wird, weiter nach hinten verschieben kann (etwa nach bestimmten Zu-Bett-GehRoutinen, wie Zähneputzen, Schlafanzug anziehen usf.). Dies ist ein Beispiel aus dem Familienalltag, das veranschaulicht, wie Smartphones familiale Praktiken medial durchdringen und so die familiale Ordnung mitgestalten. Smartphones sind in vielerlei Hinsicht involviert in Praktiken des doing family. So stellen sie eine Ressource für Eltern und Kinder dar: Z.B. wenn sie den Text eines Liedes nicht (mehr) wissen, wenn entschieden wird, was am Abend gekocht werden kann oder wenn dokumentierte Ereignisse aus dem Familienalltag darauf angesehen und miteinander besprochen werden. Bislang wurden die digitalen Medien(praktiken) vorrangig in ihrer Bedeutung für die Herstellung und Organisation des Alltags von Familien und wesentlich aus Sicht der Erwachsenen beschrieben. Im Folgenden wird nun eine Erweiterung vorgenommen: Anhand von ethnographischen Beobachtungen aus dem Alltag zweier Familien und deren Analyse wird eine Annäherung an die Perspektive der Kinder versucht. Wie partizipieren Kleinkinder am Familienalltag mit Smartphones? 4

Ethnographische Beobachtungen: familiale Medienpraktiken im Alltag von Kleinkindern

Anhand von ethnographischen Beobachtungen aus dem Feld werden nun drei alltägliche Kontexte beschrieben, in denen Smartphones relevant gemacht werden. Die Beobachtungen sind Beispiele für drei spezifische Gebrauchsweisen des Smartphones im Familienalltag: Erstens das Beenden einer spezifischen Anwendung, zweitens das Ausschließen des Smartphones aus einer familialen Praxis und drittens das Problematisieren des Smartphonegebrauchs. Im Anschluss werden die drei Beobachtungen noch einmal analytisch zusammengeführt. 4.1

Benutzerwechsel: „Komm wir machen aus.“

In den von mir beobachteten Familien besaß kein Kleinkind ein eigenes, funktionstüchtiges – ich möchte sagen – echtes Smartphone. Stattdessen hatte eines der Kinder im Laufe der Forschung ein Gerät, das eine Imitation eines Smartphones darstellte: ein optisch dem Smartphone ähnelndes Plastik-Ding ohne technische Funktionsweisen. Dieses zeigte sich mir eher selten und war kein ‚Dauerbegleiter’ des Kindes. Eine weitere Variante eines ‚Kinder-Smartphones’ habe ich bei anderen Eltern kennengelernt, die ihrem Kind ihr altes Smartphone entweder ohne Akku oder ‚gereinigt’ und ohne Internetzugang überließen. Die Geräte glichen

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Das Smartphone als Gegenstand sozialer Aushandlungen im Familienalltag von Kleinkindern

sich also eher optisch als in Bezug auf die technischen Möglichkeiten. Ein weiterer wesentlicher Punkt, in dem sich diese Smartphones, von denen es sicherlich noch weitere Variationen gibt, von den echten Smartphones unterschieden, ist allerdings der, dass sie nicht von den Eltern genutzt wurden (auch wenn dies, wie bei aussortierten oder abgelegten Geräten, in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag). Das Besondere der Smartphones im Familienalltag ist jedoch ihre Nutzung sowohl durch die Eltern als auch die Kinder. Wenngleich Eltern einen stärkeren Besitzanspruch auf ihr Smartphone geltend machen, als dies von Kleinkindseite her möglich zu sein scheint. Diese Besitzdimension der Smartphones bringen Kleinkinder mithervor, indem sie bspw. von „Papas Handy“ sprechen, auf dieses verweisen oder das Smartphone zum jeweiligen Besitzenden bringen oder wissen, wo es hingehört. Dennoch sind Smartphones nicht die alleinigen Geräte der Eltern, sondern werden im Familienalltag auf die ein oder andere Art und Weise auch von den Kleinkindern oder von Eltern und Kindern gemeinsam genutzt. In diesem Sinne sind sie Familienmedien. Auch deshalb, weil die Geräte Aspekte von Familien und Kindheiten in mannigfaltiger Weise konservieren, bspw. in Form eines Hintergrundbildes auf dem Display, in Form von Bildern oder Filmen in den Galerien oder aber in Form von spezifischen Apps ‚für Kinder’ oder ‚für Familien’, die auf Gebrauchsweisen des Geräts verweisen können. Die nachfolgende Beobachtung fokussiert nun eine Situation, in der sich Mutter und Tochter Familienfilme5 auf dem Smartphonedisplay anschauen. Die Mutter sitzt am großen Esstisch und schaut sich zusammen mit ihrer fast zweijährigen Tochter Maja eine selbstgefilmte Videoaufnahme aus dem Alltag der Familie auf ihrem Smartphone an. Dann gibt sie das Smartphone einige Minuten in die Hand von Maja ab. Diese sitzt auf ihrem Kinderstuhl neben der Mutter und hat die Unterarme auf den Tisch gestützt. Sie betrachtet auf dem Smartphonedisplay zwei weitere Familienfilme aus der Filmgalerie des Geräts. Beide Filme werden von der Mutter unterstützt aufgerufen. Nach Beendigung des ersten Films fragt die Mutter: „Wollen wir ausmachen?“, woraufhin Maja sagt: „Noch ein Bild.“ Sie hält das Smartphone weiterhin in der Hand, während die Mutter eine weitere Aufnahme aus der Galerie auswählt und diese anstellt. Hin und wieder richtet die Mutter zu den Filmen Fragen an Maja, guckt aber die meiste Zeit nicht mit der Tochter zusammen auf das Display. Während der dritte Film noch läuft sagt Maja: „Aufmachen.“ Sie hält das Smartphone nun in beiden Händen und hat den Blick weiterhin auf das Display gerichtet. Die Mutter sagt: „Gut“ und greift nun mit beiden Händen das Smartphone. In diesem Moment sagt Maja: „Andere Bild.“ Woraufhin die Mutter, die nun das Smartphone 5

Als „Familienfotos“ und „Familienfilme“ bezeichne ich (audio)visuelle Aufzeichnungen, die mit dem Smartphone von Familienmitgliedern im Familienalltag gemacht wurden und zu denen die Familienmitglieder daher (starke) Bezüge haben. Mit dem Familienfilm als spezifisches familiales und erzieherisches Medium habe ich mich bereits in einem anderen Artikel genauer auseinander gesetzt: Fürtig 2020, i.E.

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zu sich genommen hat, sagt: „Komm wir machen aus.“ Die Mutter behält das Smartphone und schließt die Anwendung. Maja hat sich nach der Übernahme des Smartphones von der Mutter abgewandt. Während sie bereits Anstalten macht vom Stuhl zu steigen, sagt sie: „Runtergehen.“ Die Mutter steckt das Smartphone in ihre Hosentasche und atmet laut aus.(...) (Verschriftlichung einer videographischen Beobachtung, Februar 2017, Auszug)

Die dargestellte ethnographische Beschreibung beginnt zunächst damit, dass sich Mutter und Tochter gemeinsam einen Familienfilm auf dem Smartphone ansehen. Das Smartphone wird dann von der Mutter in die Hand des Kindes gegeben, das sich daraufhin zwei weitere Familienfilme anschaut, die von der Mutter jeweils ausgewählt und angestellt werden. Bereits mit diesen Praktiken (Übergeben, Auswählen, Anstellen) bringt die Mutter das Smartphone als Gerät, das sie verwaltet, mit dem sie sich auskennt und das sie – vielleicht im Gegensatz zur Tochter – bedienen kann, hervor. Fokussiert wird nun auf die in der Beobachtung thematisierte Beendigung des Smartphonegebrauchs, als Restriktionsmoment, das die Besitzdimension des Smartphones als ‚Gerät der Mutter‘ sichtbar macht. Die Tochter lässt sich das Smartphone von der Mutter abnehmen. Dies geschieht ohne Protest oder ein Festhalten des Geräts, wodurch der Eindruck eines reibungslosen Ablaufs entsteht. Allerdings wird die Annahme, dass die Beendigung auch einvernehmlich verlief, zumindest durch die Äußerung oder den Wunsch der Tochter nach „andere Bild“ irritiert. Ein weiteres Irritationsmoment stellt die Wortwahl der Mutter „Komm wir machen aus“ dar, die darauf hinweist, dass das Smartphone, ähnlich wie der Fernseher, ausgemacht würde. Genau genommen wird jedoch nur eine Anwendung beendet; das Smartphone ist nach wie vor ‚on‘ und nicht ausgestellt. Der Satz „Komm wir machen aus“ markiert demnach einen Übergang: Das Smartphone ist nun final in den Händen der Mutter angekommen und die Zeit als geteiltes Familienmedium, das von der Tochter hier eine Zeit lang nahezu allein in einer spezifischen Funktionsweise genutzt werden kann, ist somit vorbei. Die Mutter schließt die Bildergalerie und der Bildschirm erlischt (vorerst). In der Praxis der Beendigung zeigt sich die soziale Ordnung des Mediengebrauchs im Familienalltag: Die Mutter bestimmt über die Smartphonenutzung, indem sie den Gebrauch für beendet erklärt und das Gerät an sich nimmt und in die Hosentasche steckt. Das Initial für die Beendigung setzt allerdings die Tochter, indem sie während der Film noch läuft „Aufmachen“ sagt, was unterschiedlich interpretiert werden kann. Durch die Anschlusshandlung der Mutter bringt diese ihr Verständnis des Wortes „Aufmachen“ als „Ausmachen“ hervor. Damit verschwindet das Smartphone aus dem Handlungs- und Sichtfeld der Tochter. Aufmachen könnte jedoch ebenfalls so interpretiert werden: Der Film soll ausgemacht werden, weil er der Tochter nicht gefällt und die Filmgalerie des Smartphones soll stattdessen geöffnet („auf“) werden, um ein weiteres Video („andere Bild“) auszuwählen. Der

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Smartphonegebrauch wird jedoch für beendet erklärt („Komm wir machen aus.“) und somit situativ von der Mutter reglementiert, die damit eine gewisse Handlungsmacht beansprucht, die sich etwa in ihrem, von der Tochter nicht sichtbar beanstandeten, Bestreben, die Anwendung zu beenden und das Gerät an sich zu nehmen, zeigt. Die Tochter zeigt, während sie das Smartphone in der Hand hält, vermehrt an, dass sie Wissen im Hinblick auf Gebrauchsweisen des Geräts besitzt: Majas Äußerungen „noch ein Bild“ und „andere Bild“ implizieren die Kenntnis davon, dass es erstens noch andere Filme auf dem Smartphone zu sehen gibt und zweitens die Mutter diese anstellen kann. Die Beobachtung zeigt die Partizipation des Kleinkindes am Medienalltag in der Familie. Dabei scheint die Tochter über Kenntnisse in Bezug auf das Gerät zu verfügen, die es ihr ermöglichen, Forderungen („Andere Bild.“) zu stellen und das Medium selbst, wenngleich unterstützt durch die Mutter, nutzen zu können. Die Mutter beobachtet ihre Tochter während diese das Smartphone als Abspielgerät von Familienfilmen benutzt und erklärt nach drei Filmen den Gebrauch für beendet („Komm wir machen aus.“). Hierin ist eine Erziehungspraktik der Mutter gegenüber dem Kind zu erkennen: die Reglementierung des Gebrauchs. Diese geht von der Mutter aus und bezieht sich einzig auf die Nutzung durch die Tochter. Denn nach dem Beenden bleibt das Smartphone an und verschwindet wieder in der Hosentasche der Mutter, womit letztlich nur der Gebrauch des Kindes beendet wurde. Anhand der dargestellten Beobachtung zeigt sich eine familiale Smartphonepraxis, an der Kinder und Erwachsene unterschiedlich partizipieren. In der Beendigungspraxis wird sichtbar, dass letztlich die Mutter die Hoheit über ihr Gerät hat. Sie bestimmt zudem über die Gebrauchszeit des Kindes. Im Beenden des Gebrauchs zeigt sich ebenfalls die Besitzdimension des Smartphones als zu den Eltern gehörig und eine generationale Ordnung, die die soziale Praxis des Smartphonegebrauchs in der Familie gewissermaßen rahmt: Kleinkinder besitzen kein eigenes echtes Smartphone, können aber die Geräte der Eltern – sozusagen ‚unter Auflagen’ – mit benutzen. 4.2

Situative Smartphoneverbote: „Mama, Handy weg!“

Dina ist fünf Jahre alt und geht in die Kita. An dem Tag der Beobachtung wurde sie von ihrem Vater von dort abgeholt und ist schon seit ein paar Stunden zuhause, wo sie mit drei anderen Kindern, das sind ihr dreijähriger Bruder Bert, ihre vierjährige Cousine Maja und ihr zweijähriger Cousin Marco, und mir zusammen ist. Der Vater ist auch zuhause, hat sich aber vor einiger Zeit zurückgezogen. Es ist später Nachmittag und die ankommende Mutter wird von ihrer Tochter an der Tür in Empfang genommen. Die anderen Kinder sind noch nicht in Sicht. In der Regel werden Ankommende von den Kindern beim Hineinkommen begrüßt. Da die

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Eltern einen Schlüssel haben und nicht klingeln müssen, kriegen die Kinder deren Ankunft nicht immer sofort mit. Dina ist hier die erste, die die ankommende Mutter bemerkt und zur Tür eilt. Es ist so gesehen eine Begrüßungssequenz, die sich hier darstellt. Ich beobachte Dina, die im Flur vor ihrer Mutter (Rosa) auf und ab rennt. Rosa, die gerade erst zur Tür hereingekommen ist, hat ihr Smartphone in der Hand. Dina nimmt Anlauf und springt ihrer Mutter auf den Arm, im selben Moment ruft sie: „Mama, Handy weg!“ Die Mutter, die Dina umschlungen hat, reagiert sofort und legt das Handy auf die Ablage neben der Tür. Dabei hat sie Dina kurz nur in einem Arm und beugt den Körper leicht nach hinten, so dass Dina nicht herunterrutscht. Dina ihrerseits hält sich aber auch gekonnt an der Mutter fest. Nachdem das Smartphone auf der Ablage liegt, legt Rosa den zweiten Arm um Dina und beugt sich hinab und wieder hinauf, so dass Dina durch die geöffneten Beine der Mutter schwingt. Es ist eine für die athletische Dina typische akrobatische Bewegung. (...) Später spreche ich Rosa darauf an und frage, ob die Aufforderung das Smartphone wegzulegen, öfter vorkomme. Sie sagt mir, dass sie selbst überrascht gewesen und dies das erste Mal vorgekommen sei. (Beobachtungsprotokoll Oktober 2019, Auszug)

In der hier angeführten Beobachtung ist mit Blick auf die Mutter ein Routinehandeln im Managen zweier unterschiedlicher Praktiken zu erkennen: Das Smartphone hält sie in der Hand, während sie ihre Tochter mit einer Umarmung begrüßt. Die parallele Ausführung bestimmter Tätigkeiten ist im Familienalltag eine immer wieder zu beobachtende Praxis. Hier kann von einem Aufmerksamkeitsmanagement gesprochen werden, da die Mutter zunächst sowohl dem Smartphone als auch ihrer Tochter Aufmerksamkeit schenkt und dann eine Entscheidung für einen Aufmerksamkeitsfokus trifft, indem sie das Smartphone weglegt und Dina mit beiden Armen umschlingt. Wird der Blick auf das Handeln von Dina und ihre Forderung an die Mutter, das Smartphone wegzulegen („Mama, Handy weg!“), gerichtet, fällt auf, dass die Gleichzeitigkeit des Handygebrauchs und des körperlichen Begrüßens für sie in dieser Situation nicht zu vereinbaren ist. Wobei die „akrobatische Bewegung“ vielleicht auch mit dem Smartphone in der Hand möglich gewesen wäre, was daran erkennbar ist, dass diese mit dem Smartphone in der Hand bereits eingeleitet wird. Für mich war das entschiedene Einfordern, das Handy wegzulegen, etwas Neues, was ich bislang noch nicht beobachten konnte. Als ich dann später bei der Mutter nachfragte, ob so etwas öfter vorkomme, antwortet diese, dass es für sie auch das erste Mal gewesen sei und es sie selbst überrascht habe. Die Forderung, das Smartphone wegzulegen, kann mit einem gewissen Exklusivitätsanspruch vonseiten Dinas in der Situation des Begrüßens der nach Hause kommenden Mutter zusammenhängen: Dina hat ihre Mutter nur am Morgen kurz gesehen und begrüßt diese als erste an der Tür. Die Praktik der Mutter, das Smartphone beim Eintreten in der Hand zu halten, ‚gerät‘

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in diesem Fall in Konflikt mit Praktiken der Begrüßung durch das Kind, wie die Mutter an der Tür abzufangen, auf sie zu springen und sie zu umarmen. Die Formulierung „Handy weg“ sorgt dafür, dass das Smartphone aus der Umarmung ausgeschlossen wird. Dina verbannt das Handy somit, stellt es aber weder aus noch fordert sie dies von der Mutter ein. Wie in der vorangegangenen Beobachtung bleibt auch hier das Smartphone ‚on‘. Diese Beobachtung zeigt einen Eingriff des Kindes in den Smartphonegebrauch der Mutter. Kind und Smartphone am Körper der Mutter scheinen aus Sicht des Kindes in dieser Begrüßungssituation nicht miteinander vereinbar zu sein. Hier wird erkennbar, dass die Partizipation des Kindes am Medienalltag in der Familie auch in einer Restriktionspraktik bestehen kann. 4.3

Legitimierungen: „Arbeit“

Ich bin seit über zwei Jahren regelmäßig bei den Familien über Nacht und es hat sich eingebürgert, dass ich von den zwei Geschwistern Dina (fünf) und Bert (drei) am Morgen geweckt werde. Die Kinder, vor allem Dina, wachen in der Regel vor ihren Eltern auf. Die Mutter ist dann zumeist die nächste, die wach wird, während der Vater häufig noch liegen bleibt. Sie kocht dann Kaffee, wenn die Kinder am Morgen zur mir ins Zimmer kommen und sich mit mir beschäftigen. Manchmal lesen wir ein Buch zusammen, häufig quatschen wir und die Kinder zeigen mir etwas, zum Beispiel ein neues Spielzeug, was ich noch nicht kenne oder etwas, das sie in der Kita hergestellt haben. Wenn die Mutter sich nach einer Weile dazu gesellt, bringt sie den Kindern mal etwas zu essen, mal einen Kakao und mir einen Kaffee, den ich meist auch dringend brauche, weil ich mich, gerade im Winter, nicht an das frühe Aufstehen gewöhnen kann. Wenn die Mutter dann duschen geht, bleiben die Kinder häufig noch bei mir. Die folgende Beobachtung setzt an einem solchen Morgen ein: (...) Ich habe wieder im Arbeitszimmer der Mutter auf dem ausgeklappten Schlafsofa übernachtet. Mein Smartphone hat mich um halb Sieben geweckt. Ich versuche immer ein wenig früher als die Kinder wach zu sein, um mich darauf vorzubereiten, dass sie gleich zu mir kommen. Dass sie mich am Morgen wecken dürfen, hat schon eine recht lange Tradition und gehört häufig dazu, wenn ich bei der Familie bin. (...) Ich höre ein leichtes Klopfen und richte mich auf. Ich sage „Ja?“ und sehe wie sich die Türklinke nach unten bewegt. Die Tür wird sachte aufgedrückt. Dann tritt Dina langsam ins Zimmer. Ich rücke im Bett zur Wand und nehme dabei schnell mein links neben mir liegendes Smartphone und den E-Book-Reader auf, beuge mich nach vorn und lege beides ans untere Ende des Bettes, wobei mich Dina beobachtet. Sie lächelt, läuft auf das Bett zu und springt auf das untere Ende. Sie wirft einen Blick auf den Haufen aus Smartphone und E-Book-Reader und krabbelt dann schnell zu mir

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hoch. Ich hebe die Decke etwas an, so dass sie darunter kriechen kann. Sie rückt in die Mitte des Bettes und ist nun nur noch ein kleines Stück von mir entfernt. „Papa wünscht sich das Schnurtelefon an der Wand zurück“, sagt sie. Ich schaue sie fragend an: „Warum das denn?“ Er hänge wirklich ständig am Handy, führt sie aus. Für mich klingt es etwas wehmütig. „Und was macht er da?“, frage ich. „Arbeit“, sagt sie und fügt dann hinzu: „Er schaut auch immer was er kaufen kann.“ (...) (Beobachtungsprotokoll Winter 2019, Auszug)

Auch diese Beschreibung stellt eine Begrüßungssequenz dar, die sich in meinem Alltag im Feld etabliert hat und zur Routine geworden ist. In der dargestellten Szene behindern meine Medien die Begrüßung von Dina: Während ich wach im Bett liege, rechne ich zwar bereits mit der Ankunft der Kinder, mein E-Book-Reader und mein Smartphone liegen allerdings meistens noch neben mir im Bett, wo in diesem Falle bald Dina sein wird. Häufig liegt dies daran, dass ich mich selbst noch mit dem Smartphone oder einem E-Book beschäftige und mir die Zeit vertreibe, während ich mich auf die Ankunft der Kinder einstelle. Als Dina langsam den Raum betritt, rücke ich zunächst an den Rand des Bettes, dabei nehme ich mein Smartphone und den E-Book-Reader mit und lege beides an das untere Ende des Bettes. Dann hebe ich die Bettdecke an, um Dina zu signalisieren, dass sie zu mir kommen kann. Damit im Bett neben mir Platz für Dina ist, werden die, für die Praktik des ‚Ins-Bett-Hüpfens‘ störenden, Medien schnell noch beiseitegeschafft. Dina scheint nun gerade durch die Praktik des ‚Zur-Seite-Schaffens‘ auf die Medien aufmerksam geworden zu sein und womöglich wird auch eine Erinnerung ausgelöst, die in dem Satz „Papa wünscht sich das Schnurtelefon an der Wand zurück“ ihren Ausdruck findet. In der hier angeführten Beobachtung wird somit – in Analogie zur vorherigen Beobachtung – der Mediengebrauch im Familienalltag durch das Kind problematisiert. Explizit thematisiert Dina den Smartphonegebrauch des Vaters. Dieser verbringe viel Zeit „am“ Smartphone und hat dies scheinbar in der Vergangenheit ihr gegenüber problematisiert. Was bei Dina im Wunsch des Vaters nach dem Schnurtelefon an der Wand ‚hängen geblieben’ ist. Warum sich dieser das Schnurtelefon an der Wand zurückwünscht, bleibt dabei offen. Das Smartphone werde, so Dina, vom Vater für „Arbeit“ genutzt. Hiermit legitimiert sie mir gegenüber den „ständigen“ Smartphonegebrauch des Vaters im Familienalltag und verweist damit auf eine mediale Ordnung in ihrer Familie: Das Smartphone, so lässt sich vermuten, hat hier Vorrecht vor Dina. Der Vater kann am Smartphone „hängen“, wenn er der „Arbeit“ nachgeht, ohne dass Dina etwas dagegen tun kann oder möchte. In der Beobachtung wird deutlich, wie Kleinkinder den Smartphonegebrauch in den Familien beobachten und kritisch begleiten können. Dina partizipiert am Medienalltag der Familie auf unterschiedliche Weise. Die hier dargestellte Beobachtung zeigt ihre Eingebundenheit in den familialen Mediendiskurs. Die Sor-

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gen ständig am Smartphone zu hängen und den daraus resultierenden Wunsch des Vaters nach dem Schnurtelefon, das an der Wand hängt und ihn nicht ständig begleiten kann, gibt Dina an die Ethnographin weiter. Während es für Dina bei ihrem Vater nicht so einfach zu sein scheint, das Smartphone aus einer Situation zu verbannen, wenn dieser mit „Arbeit“ beschäftigt ist, so scheint es bei der Mutter in der exklusiven Begrüßungssituation leicht zu sein, das Smartphone zu vertreiben („Mama, Handy weg!“). 4.4

Analytische Zusammenführung der ethnographischen Beobachtungen

Kinder sind aufmerksame Beobachter*innen der Medienpraxis der Erwachsenen. Sie nehmen deren Gebrauch auf eine Art und Weise wahr, die es ihnen ermöglichen kann, dies vor anderen zu thematisieren und ggf. zu problematisieren, so wie es Dina in der letzten Beobachtung tut. In der zweiten Beobachtung kann gegen den situativen Mediengebrauch im praktischen Vollzug des Familienalltags interveniert werden. Dinas Forderung, das Handy wegzulegen, ist für die Mutter eine Überraschung. Es ist möglich, dass Überschneidungen von familialen Praktiken und Smartphonepraktiken aus Sicht der Mutter bisher unproblematisch oder nicht auffällig gewesen sind. Es kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass eine Trennung von familialen Praktiken und Smartphonepraktiken nicht immer einfach zu vollziehen ist. Dies wird auch in der dritten Beobachtung deutlich, in der Dina den erhöhten Smartphonegebrauch des Vaters mit „Arbeit“ legitimiert. Arbeit – so könnte geschlussfolgert werden – ist essentiell für den Familienalltag und muss daher von Dina akzeptiert werden. Hierbei wird ein besonderes Merkmal des Smartphones sichtbar: Das Smartphone vereinigt in sich vormals getrennte Medien; im Smartphone konvergieren aber auch Lebensbereiche (vgl. Möller 2016, S. 192), wie die Arbeitswelt und der Familienalltag zuhause. Das Smartphone trägt dadurch zur „Entgrenzung von Arbeit und Familie“ (Schier, Jurczyk und Szymenderski 2011) bei, was neue Herausforderungen für Familien mit sich bringt und praktisch bewältigt werden muss. Die Beobachtungen zeigen, dass der Familienalltag und die sich darin vollziehende familiale Medienpraxis von vielfachen Aushandlungsprozessen gekennzeichnet ist, die sich in situ („Mama, Handy weg!“; „Wollen wir ausmachen?“) und retrospektiv („Papa hängt ständig am Smartphone.“) vollziehen können, wobei die Kleinkinder und ihre Eltern dabei in einem wechselseitigen Prozess familiale und mediale Praktiken miteinander aushandeln und zu vereinbaren versuchen. Kinder nehmen teil an den medienkritischen Diskursen in ihren Familien („Papa wünscht sich das Schnurtelefon an der Wand zurück.“) und positionieren sich dazu, wie Smartphones zum Familienalltag gehören. Die drei Beobachtungen zeigen auf, dass die Handlungsspielräume der Kinder resp. die Möglichkeiten der Partizi-

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pation am Medienalltag in der Familie durchaus unterschiedlich sind und das Feld des Medienalltags in der Familie dementsprechend komplex ist. 5

Fazit

Auf der Grundlage der bisherigen Analysen der ethnographischen Beobachtungen kristallisiert sich heraus, dass der Gebrauch von Smartphones im Familienalltag sowohl von Eltern- als auch von Kleinkindseite her reglementiert und – trotz zunehmender Veralltäglichung – problematisiert wird. Elterliche Praktiken der Reglementierung sind im Familienalltag von Kleinkindern keine Seltenheit. Sie werden bspw. auch auf andere ‚Gefahrenobjekte’ angewendet, etwa auf den Fernseher oder auf Süßigkeiten. Während Süßigkeiten sinnvoll versteckt werden können und ein Fernseher, der ortsgebunden ist, ausgeschaltet werden kann, sind vergleichbare Praktiken im Hinblick auf den Smartphonegebrauch nicht in gleicher Weise umzusetzen. Die Reglementierungspraktiken Weglegen und Ausmachen sind in Bezug auf Smartphones als ambivalent anzusehen: Die Geräte werden zwar weggelegt, sind aber als „sticky media device“ zumeist dennoch in Reichweite der Erwachsenen, die dadurch auch wieder verleitet werden, sie zu nutzen (vgl. Mantere und Raudaskoski 2017). Smartphones werden zwar ‚ausgemacht’ (der Bildschirm erlischt), können aber dennoch wieder auf sich aufmerksam machen oder relevant werden, weil sie im Endeffekt fast nie endgültig ausgeschaltet sind. In der Regel sind sie (oder die Menschen durch sie) permanent online und vernetzt (vgl. Vorderer 2015). Mit ihrer Bindung an die Erwachsenen geht zudem eine Sichtbarkeit ihres Gebrauchs für die Kinder einher, die anderen ‚Gefahrenobjekten’ im Familienalltag zuhause nicht zukommt. Süßigkeiten werden z.B. häufig dann hervorgeholt, wenn die Kinder im Bett sind. Die Umgangsweisen mit Smartphones und die Wahrnehmung ihres Gebrauchs sind vielfältig und widersprüchlich, was den Aspekt unterstreicht, dass Smartphones insofern ‚neu’ im Familienalltag sind, als dass die Eltern in dieser Hinsicht auf kein Erfahrungswissen aus ihrer eigenen Kindheit oder aus der Übermittlung ihrer Eltern zurückgreifen können. Mediengebrauch, das verdeutlicht die Analyse der ethnographischen Beobachtungen, ist in alltägliche Praktiken des doing family eingebunden. Alle Familienmitglieder sind an diesen Prozessen gestalterisch tätig, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Den hier beobachteten familialen Smartphonegebrauch kennzeichnet, dass auch Kleinkinder den Mediengebrauch der Eltern beobachten und je nach Situation intervenieren sie in unterschiedlicher Weise. Die Ethnographin selbst ist dabei in Prozesse des doing family und – wie in der letzten Beobachtung deutlich wurde – in die familialen Mediendiskurse involviert. Im praktischen Vollzug des Medienalltags in der Familie wird aber auch eine generationale Ordnung innerhalb der Familie sichtbar: Die Eltern entscheiden

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letztlich darüber, wann und wie lange Smartphones in die Interaktion mit Kindern eingebunden sind. Mit dem Ausschalten des Smartphones („Komm wir machen aus.“), wandert das Gerät wieder zu den Eltern zurück, für die die Geräte jedoch angeschaltet bleiben (‚on’ sind). Kinder haben im alltäglichen doing family mit Medien zwar ein Mitspracherecht, das sich aus ihrem (Beobachtungs-)Wissen um die Gebrauchsmöglichkeiten von Smartphones speist, sie besitzen aber zumeist noch keine eigenen echten Smartphones, d.h. Geräte, die so funktionieren, wie die der Eltern. Kleinkinder sind jedoch handlungsfähig in Bezug auf den Medienalltag in Familien, denn Eltern und Kinder bringen die mediale Ordnung in der Familie vielfach gemeinsam hervor. Dies wurde anhand von Beobachtungen der Einbindung von Smartphones in den Familienalltag exemplifiziert. Während Smartphones in nahezu allen Lebensbereichen der Menschen präsent sind, stellt es nach wie vor eine Forschungslücke dar, „wie und für welche Zwecke Mobiltelefone und Smartphones in das gemeinsame Handeln kopräsenter Interaktionspartner eingebunden werden“ (Keppler 2019, S. 179; Herv. i.O.). Im Zuge voranschreitender Digitalisierungsprozesse erscheint es jedoch als notwendig, sich dieser Fragen anzunehmen. Der vorliegende Beitrag bietet erste Ansatzpunkte zur Erforschung dessen im Hinblick auf Kleinkinder und deren Familienalltag und ist ein Plädoyer für weitere Forschungen, die im Besonderen Kinder als Medienakteure und Gestalter*innen sozialer Ordnungen in den Blick nehmen und die Perspektive auf den frühkindlichen Smartphonegebrauch dahingehend erweitern. Literatur Eisenmann, Clemens, Jan Peter und Erik Wittbusch. 2019. Doing media ethnography in everyday family life with young children. Media in Action: An Interdisciplinary Journal on Cooperative Media 1: 63-80. Fürtig, Inka. 2020; i.E. Das Smartphone als Familienmedium – „außerschulisches“ Lernen im digitalisierten Familienalltag. In Orte und Räume der Generationenvermittlung - außerschulisches Lernen von Kindern, hrsg. von Alexandra Flügel, Swaantje Brill, Irina Landrock und Jutta Wiesemann. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag. James, Allison und Alan Prout. 1990. Constructing and reconstructing childhood: New directions in the sociological study of childhood. Oxford: Routledge. Jurczyk, Karin, Andreas Lange und Barbara Thiessen, Hrsg. 2014. Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Keppler, Angela. 2019. „Zeig mal“: Smartphones im Gespräch. In Interaktion mit Medien. Interaktionsanalytische Zugänge zu medienvermittelter Kommuni-

Inka Fürtig

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Trumpfkarte Smartphone. Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse & die Ent-Pädagogisierung der Kindergarten-Ethnografin Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse

Ursina Jaeger

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Einleitung

Der vorliegende Artikel zum Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse entwirft mit Fokus auf Smartphones eine Heuristik, um divergierende soziale Ordnungen und deren Zusammenspiel adressieren zu können.1 Er stellt entlang des empirischen Materials einer kindszentrierten und multi-lokalen Ethnografie fest, dass Smartphones an verschiedenen sites der Forschung mit unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen, und als pädagogisierende sowie hierarchisierende Trumpfkarten in der Aushandlung sich kreuzender sozialer Ordnungen eingesetzt werden. Dabei fragt er auch nach den methodologischen Konsequenzen dieser Einsichten für die ethnografische Forschung. Im Beitrag treffen sich sodann mehrere lose gekoppelte analytische Blicklichter, um der Denkfigur Trumpfkarte Smartphone im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse zu ihrer Kontur zu verhelfen: Nach der Vorstellung der zentralen Fragestellungen der Studie folgt eine erste ethnografische Vignette aus einem Kindergarten. Es ist jener Kindergarten im diversifizierten Zürcher Außenquartier Mühlekon, den die Hauptinformant*innen dieser Studie während zweier Jahre besuchten.2 Die dabei festgestellte pädagogisierende Qualität des Smartphones wird aus dem Kindergarten mitgenommen; zuerst in den Hort, wodurch bereits verschiedene Orte für Kinder in ihrer gegenseitigen Bedingtheit beschrieben werden können. Ein nächstes Blicklicht wird hierauf in ein schulisches Teamgespräch geworfen. Es wird darauf abgeklopft wie es Lehrpersonen gelingt, über eine Moralisierung des Medienkonsums pädagogische Interventionen zu legitimieren und soziale Ordnung zu hierarchisieren. Diese 1 2

Das Argument dieses Beitrages gewann durch Inputs von Rebecca Mörgen, sowie das Mitdenken des Herausgeber*innenteams deutlich an Kontur. Ihnen sei herzlich gedankt. Der Kindergarten (fortan KiGa) ist im Kanton Zürich seit dem Schuljahr 2008/2009 Teil der elfjährigen Schulpflicht. Kinder besuchen ihn in aller Regel nach Vollendung des vierten Lebensjahres für zwei Jahre. Die Einführung des KiGa-Obligatoriums wurde bildungspolitisch u.a. mit der Aussicht auf mehr Chancengleichheit und früher(er) Förderung von Kindern mit s.g. Migrationshintergrund (EDK 1997) gerechtfertigt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_8

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Befunde wandern darauf mit der Ethnografin weiter ins Außerschulische, in dem erst einmal nachgefragt wird, was das Problem ist, wenn die Kindergarten-Ethnografin plötzlich auch zuhause auftaucht und bspw. mit der Mutter am Küchentisch sitzt, während das Kind mit deren Smartphone spielt. Die gesammelten Blicklichter werden im Fazit in ihrer Zusammenschau noch einmal auf das Verständnis sich kreuzender sozialer Ordnung im Alltag von Kindern befragt, insbesondere auch auf methodologische Konsequenzen. Dabei wird mitunter eine Ent-Pädagogisierung der Forscherin vorgeschlagen. 2

Die Ethnografie einer Kindergartenklasse3 und ihre multiplen sites

Das Nachdenken über die Trumpfkarte Smartphone ist Teil einer Ethnografie einer Kindergartenklasse in einem diversifizierten Zürcher Außenbezirk, der hier Mühlekon heißen wird. Die Kinder dieser Klasse – Zaylie, Harun, Arputha, Arian, Tereza und ihre Weggefährt*innen – wurden ausgehend vom KiGa über einen Zeitraum von gut zweieinhalb Jahren teilnehmend beobachtend durch ihren Alltag begleitet. Nach mehreren Monaten der ausschließlichen Forschung im Kindergarten folgte ich den einzelnen Kindern wohin auch immer möglich: in den Hort, von dort nach Hause, ins Freibad, zum Sozialamt, ins Einkaufszentrum, nach Ghana und in den Kosovo, und wieder zurück (Jaeger 2019). Leitend war das Interesse an Multi-Referentialität im kindlichen Alltag und damit Fragen nach Konfigurationen sozialer Zugehörigkeit. Die auf die Empirie eingenommene Beobachtungsperspektive war und ist von (kindheits-)theoretischen Auseinandersetzungen zu Migration und Differenz informiert (Glick Schiller 2004; Feldman-Savelsberg 2016; Brubaker 2004), und die Studie kann in der sozialwissenschaftlichen Bildungs- und Kindheitsforschung verortet werden, die sich besonders institutionellen Grenzüberschreitungen annimmt.4 Das Begleiten und Folgen der einzelnen 3

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Die Promotionsarbeit Everyday Multi-Referentiality ist in einem größeren Förderzusammenhang entstanden: Das vom Schweizerischen Nationalfonds unter #159328 geförderte, von A. Sieber Egger, G. Unterweger & C. Maeder geleitete Projekt „Kinder, die auffallen. Eine Ethnographie von Anerkennungsverhältnissen im Kindergarten“ rückt aus einer praxistheoretischen Perspektive die Unterscheidungspraktiken von Lehrpersonen im Kindergartenalltag in den Blick. Es rekonstruiert darüber hinaus die Normen der Anerkennung, welche hinter diesen Praktiken stehen, sowie die soziale Ordnung, welche aus diesen Differenzkonstruktionen resultiert (Sieber Egger und Unterweger 2019; Knoll und Jaeger 2019; Maeder 2018). Peter Cloos und Marc Schulz machen in diesem Zusammenhang Vorschläge zu einer systematischen vergleichenden und kontrastierenden Ethnografie divergierender pädagogischer Handlungsfelder mit dem Ziel einer präziseren Konturierung feldspezifischer Logiken (Cloos und Schulz 2012), Sabine Bollig wiederum begleitet zwischen Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen ‘pendelnde’ Kinder in Luxemburg, u.a. mit dem Ziel eines besseren Verständnis des ECEC Komplexes (2018). Florian Eßer und Wolfgang Schröer warnen ihrerseits Forschende in

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Kinder der Kindergartenklasse an verschiedene Orte ihrer Kindheit, orientiert am Forschungszugang der multi-sited ethnography (Marcus 1995), vermag in einem ersten Schritt auf verschiedene relativ profan voneinander zu unterscheidende Lokalitäten verweisen, deren Trennung als analytisch relevant markiert wird: Kindergarten – Hort – Familie – etc. Es ist aber just die lokale Entgrenzung des Forschungsfeldes, so wird hier argumentiert, die method(olog)ische und konzeptionelle Fragen der Feldkonstitution aufkommen, sowie Fragen von Innen- und Außenbeziehungen verschiedener sites und deren sozialer Ordnung in den Fokus rücken lässt (Neumann 2012). Gerade die Denkfigur der Grenzüberschreitung erlaubt es, neue Blicke auf das Verständnis sowie das Verhältnis von vormals beinahe naturalistisch gesetzten und klar voneinander trennbaren Orten wie der Schule und der Familie zu werfen. Die Ergründung der Frage, wer welche Grenzen auf welchem Terrain und mit welchen Mitteln zieht, ob es sich bei Überschreitungen also z.B. um staatlich kontrollierte oder symbolisch aufgeladene oder durch einzelne Menschen regulierte Grenzen wie die persönliche Haustüre handelt, ist für den vorliegenden Kontext zentral und empirisch zu klären (Brubaker 2015: S. 11). Das Smartphone als qualifizierendes Merkmal der Grenzaushandlungen soll helfen, Aufschlüsse über das Verhältnis dieser divergierender sites im kindlichen Alltag zu erlangen; Aufschluss darüber also, wie Grenzen gezogen und markiert werden, und wie innerhalb und über Grenzen hinweg Status verhandelt, Zugehörigkeit bestimmt, sowie ggf. allfälliges Fehlverhalten sanktioniert werden kann. Die meisten Orte dieser multi-lokalen Forschung befinden sich in Mühlekon, einem Zürcher Außenquartier, das nach derzeit gängigen Parametern (Sprachen, Kopfbedeckung, Hautfarbe, politische Couleur, …) als diversifiziert beschrieben werden kann. Das Quartier ist im Schweizer Kontext vergleichsweise arm, der Ruf vergleichsweise schlecht – mitunter wird medial auf Mühlekon als „Ghetto der Schweiz“ verwiesen und das Quartier kann wohl mit Duisburg Marxloh, Kopenhagen Nørrebro, oder Wien Ottakring verglichen werden bezüglich der Konnotation des Quartiernamens, d.h. dass es diskursiv ohne genauere Spezifikation oder Bezug auf Statistiken und Forschung als Sammelbegriff für soziale Probleme funktionieren kann. Es ist ein Arbeiter*innen-Wohnquartier und war dies schon immer. Auf dem Bau, im Supermarkt oder in der Reinigung arbeiten derzeit aber meist Menschen wie die Eltern von Harun, Zaylie und Arputha, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnten aus diversen Teilen der Welt zugewandert sind. Für den Alltag der Bewohner*innen in Mühlekon kann in diesem Zusammenhang jedoch festgestellt werden: der Migrations-Marker läuft der Referenz auf Klassenzugehörigkeit den Rang ab. Das bedeutet auch für die pädagogische Praxis, dass es nicht in erster Linie die Kinder der Arbeiter*innen sind, die im KiGa Wiesengrund Kindheitsinstitutionen – in Anlehnung an die Argumente der Transnationalismusforschung à la Nina Glick Schiller – vor einem methodologischen Institutionalismus (2019).

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beschult werden, sondern die Kinder der Migrant*innen.5 Die Lehrpersonen sind diesbezüglich sensibilisiert und versuchen, Diversität zu umarmen und kulturelle Differenzen anerkennend im Unterricht zu berücksichtigen. 3

Smartphones im Kindergarten?

Kindergärten werden als Orte verstanden, die für Kinder gemacht sind, die so konzipiert sind (von Erwachsenen), dass sie als «kindersicherer Schonraum» funktionieren und damit auch zu Orten werden könnten, in denen sich Kinder ihre eigenen Räume schaffen (Olwig und Gulløv 2003, S. 1). Somit werden Kindergärten von vermeintlichen Gefahren der Außenwelt abgetrennt, in der Erwachsene mitunter (spoiler alert!) Stöpsel in den Ohren haben, in der geraucht wird, in der es Autos, Sex und Verschmutzung gibt, und das Internet qua Smartphone solch Unerwünschtes an Kinder herantragen könnte. Die Ausstaffierung dieser Orte für Kinder resp. die sozialen Implikationen dieser Ordnung ermöglichen, wie auch die nachfolgende Vignette zu veranschaulichen sucht, analytische Schlüsse auf jeweilige Ideen von guter Kindheit. Die folgenden Ausführungen sind Teil der Feldnotizen der ersten Tage im Kindergarten und wurden für den vorliegenden Fall adaptiert und verdichtet: 7:40am: Sigrid ist schon früh im Kindergarten, richtet die Spiele für den Tag her, bespricht sich mit ihrer Stellenpartnerin Judith, räumt den Schreibtisch auf. Dann tippt sie etwas in ihr Handy, liest eine Nachricht, lächelt kurz in den Bildschirm, stellt dann das Handy auf lautlos und legt es in ihre Tasche, und die Tasche unter ihr Pult. Es wird während des ganzen Vormittages dort verborgen bleiben.

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Die Referenz auf die Migrationsgeschichte ist omnipräsent. Dass der Verweis auf die Kategorie ‘Migrant*in’ damit häufig nur als Konfiguration diverser Zugehörigkeitszuschreibungen auftaucht und Personen erst in Verbindung mit anderen Zuschreibungen wie geringeren oder geringer anerkannten Bildungsabschlüssen, schlechter bezahlten Jobs, dunklerer Haut oder Kopftuch zu Migrant*innen werden, während wiederum andere aufgrund fehlender relevanter Korrelationen Migrations-Zuschreibungen völlig verlieren (siehe dazu Gulløv und Bundgaard (2006) für den dänischen, resp. Horvath (2019) für den deutschen Kontext), muss in der Etablierung einer Sprache für eine Forschung wie der vorliegenden von Beginn mitgedacht werden. Dies nicht nur, aber auch, um der Gefahr unreflektierter Reifizierung durch die Forschung entgegenzutreten (siehe dazu auch Diehm et al. (2010)). Die hier benutzten Begriffe der Arbeiter*in resp. der Klassenzugehörigkeit sind wiederum ähnlich zu verstehen wie jener der Migrant*in, in dem es nicht darum geht, Menschen fix als etwas zu begreifen, sondern eine Sprache dafür zu finden, was als Problem markiert wird. Die Aufmerksamkeit liegt hier also weniger in der Theoretisierung und auch nicht der Hinterfragung der intellektuellen Sinnhaftigkeit von Begriffen wie Klasse und Ethnizität/Rasse/Migrationshintergrund, sondern in der Analyse der Auswirkungen für die pädagogische Praxis, in welcher Kategorien-Sprache auf die Kinder und mögliche Problematisierungen ihres Umfeldes zugegriffen wird.

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9:30am: Tereza (5), Zaylie (4), Arian (bald 5) und ihre Weggefährt*innen der neuen sogenannten Räupchen-Kohorte sitzen zum ersten Mal als Teil der diesjährigen Kindergartenklasse im Kreis, ihre Eltern stehen – auch diese sichtlich bewegt – darum herum. Sigrid hält die sogenannten Schmetterlings-Kinder der ein Jahr älteren Kohorte dazu an, die neuen Räupchen in das Spiel „Zigä-zagä-zoogä“ einzuführen. Jeweils ein Kind soll mit einem kleinen blauen und einem kleinen roten Stein in den zu Fäusten geballten Händen rhythmisch den Stuhlkreis entlang schreiten und die Fäuste abwechseln übereinanderschlagen, während gemeinsam das Verslein „Zigä-zagäzoogä, weli Farb isch oobä?“ aufgesagt wird. Nach erfolgtem Sprüchlein gilt es, vor einem Kind der Klasse stehen zu bleiben und dieses raten zu lassen, ob der rote oder der blaue Stein in der oben aufliegenden Faust versteckt sei. Während Sigrid vermittelnde Anweisungen gibt („Lass doch auch mal ein Räupchen-Mädchen raten!“ – „Frag sonst Abshiru, Arian war schon mal“) applaudieren die Eltern teils bei richtigem Erraten, zücken ihre Smartphones und dokumentieren den Start ins schulische Leben ihrer Töchter und Söhne. Das Spiel ist einfach, bedarf lediglich der Steine, des Versleins sowie – nicht unwesentlich – der Geduld der jeweils gut 20 nur marginal involvierten Kinder. Terezas Mutter muss bald zur Arbeit, auch Arputhas Vater verabschiedet sich, und schließlich werden alle verbleibenden Eltern der neuen Räupchen aufgefordert, den Kindergarten - teils unter Tränen der Kinder – Richtung Amphitheater der Schule zu verlassen. Dort werden sie noch einmal offiziell von der Schulleiterin begrüßt und informiert. Mit den Eltern verschwinden alsdann auch die letzten sichtbaren Smartphones und der Unterricht geht mit Holzspielzeug, Klatschen und Singen, mit Farben und Brettspielen weiter. (Mühlekon, KiGa Wiesengrund, 22.08.2016)

Während die hier vorgestellte Lehrperson Sigrid in ihrem Alltag vor und nach den vier Stunden, in denen sie die 21 Kinder der zwei Kohorten unterrichtet, häufig ihr Handy zur Hand nimmt und die diversen Applikationen nach Gutdünken oder Notwendigkeit aufruft, auch nota bene, um den Unterricht vorzubereiten oder sich im Kollegium in Gruppen-Chats auszutauschen, bleibt das Gerät nicht nur an diesem ersten Tag, sondern generell während der Präsenzzeit der Kinder im Kindergarten verborgen. Selbst die Fotos der Kinder, die am dritten Tag des neuen Schuljahres für die Garderobenhaken und die je persönliche Schublade gemacht werden, macht Sigrid nicht mit ihrem iPhone, sondern mit einer alten Digitalkamera mit deutlich schlechterer Auflösung und umständlicherer Übertragung auf den lokalen Computer, der dann das Signal zum Druck übermitteln kann. Das hatte auch Konsequenzen für die teilnehmende Beobachtung. Als Kindergarten-Ethnografin blieb auch mein Smartphone – ständiger Begleiter für Sprach-Notizen, ggf. Fotos oder kurze Filme – meist so versteckt wie eben möglich. Davon zeugen nun die Aufnahmen: verstohlen und verwackelt, mit sichtbar vorgehaltener Hand. Dass ich

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Fotos machen dürfe und als Gedächtnisstütze auch kleinere Sequenzen würde mitschneiden, war mit den KiGa-Lehrpersonen abgesprochen. Dass ich das Handy dennoch kaum zur Hand genommen habe, bestätigt das Opportunistische der Ethnografie als „mimetische Form empirischer Sozialforschung“, wie es Amann und Hirschauer in ihren Ausführungen zum Methodenzwang des Feldes treffend beschreiben (1997, S. 20, Herv. i. O.). Die ‘schlechten’ Bilder sind für die Analyse somit – insbesondere für die Denkfiguren in diesem Beitrag – „kein Horror, sondern geradezu der Modus Vivendi“ (Breidenstein et al. 2013, S. 37). Auf den Smartphone-Gebrauch wird also für die Zeit, in der Kinder im KiGa sind, ganz bewusst verzichtet, der Verzicht pädagogisch, im Sinne eines kompensatorischen Schonraumes für Kinder, erklärt. Es findet mittels Entbehrung eine Pädagogisierung statt. Mit Pädagogisierung sei hier in Bezug auf den SmartphoneVerzicht die von Boser und Kolleg*innen vorgeschlagene doppelte Lesart des Begriffs gemeint als sowohl das Verständnis einer „Umcodierung von als defizitär wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklung in pädagogisch zu behandelnde Probleme und deren Überweisung an Bildungsinstitutionen“ als auch die „Entgrenzung pädagogischer Handlungsoptionen im Sinne einer Übertragung von etwas genuin Pädagogischem auf neue, von der Pädagogik bisher noch nicht erfasste […] Lebensbereiche“ (2018, S. 306). Zum einen wird also eine von einem „Gefahrendiskurs“ getriebene Gesellschaftsdiagnose im pädagogischen Feld in einen bearbeitbaren „Abwehr- und Regulierungsdiskurs“ umgemünzt (Wiesemann und Fürtig 2018, S. 197). Mit der handy-freien Zone antwortet das schulische Feld also auf den antizipierten Medienkonsum im Außerschulischen, und sucht einen Raum herzustellen, in welchem Kindern qua „vor-digitaler schulischer Ordnung“ (ebd.: S. 198) temporär eine gute Kindheit ermöglicht werden soll. Zum anderen wird mittels Pädagogisierung des Smartphones das Außerschulische und der dortige Smartphone-Gebrauch problematisierbar und erweiterte Einflussnahme versucht. Bemerkenswerter wird in diesem Kontext der Umstand der handy-freie Zone im KiGa besonders im Zusammenspiel mit anderen sites der (transnationalen) Kindheit und den Möglichkeiten der sozialen Positionierung sowie der – wie noch zu zeigen sein wird – Mobilisierung moralischer Rechtfertigungen, die der Trumpfkarte Smartphone innewohnen können. Aufschluss darüber soll nun das teilnehmend beobachtende Begleiten der Kinder in divergierende soziale Felder geben. 4

Das Smartphone als pädagogisches Qualifizierungsmerkmal

Der empirische Befund der Verbannung des Smartphones aus dem KiGa und das Nachdenken über dessen Pädagogisierung gewann an Kontur, als ich begann, mit den Kindern gemeinsam den KiGa zu verlassen und in einem ersten Schritt die

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von ihnen besuchten Nachmittagshorte aufzusuchen. Umgehend zeigte sich, dass dort Smartphones als Begleitobjekte der Betreuungspersonen sehr wohl auftauchten, jedoch kaum in die Hände der Kinder gelangten. Mit ähnlicher Referenz auf ‚gute Kindheit‘ und die Gestaltung eines Orts, an dem „Kinder Kinder würden sein dürfen“, wurde hier der Gebrauch des Smartphones und anderer Objekte, die aus dem KiGa im Sinne eines kompensierenden Schonraumes verbannt wurden, alltäglich verhandelt. Für das vorliegende Interesse einer aus der Empirie entwickelten Heuristik divergierender sozialer Ordnung im Alltag einer Kindergartenklasse funktionieren also bspw. Zigaretten, Schokolade und Smartphones in ähnlicher Weise als Qualifizierungsmerkmale. Während es Zigaretten und Smartphones im KiGa eigentlich ‚nicht gab‘, Schokolade nur zu Kindergeburtstagen (und im Lehrer*innen-Zimmer) erlaubt war und Geschichten beispielsweise über Gewalterfahrungen der Kinder nur hinter vorgehaltener Hand im Kollegium zirkulierten6, waren im Hort Betreuer*innen zu beobachten, die ihre Handys vor sich auf dem Tisch liegen hatten und jene auch benutzten. Gleichermaßen gab es Mitarbeiter*innen, die sich für „eine schnelle Zigarette“ zurückzogen, Schimpfworte benutzten oder Gewalt thematisierten, auch – im Unterschied zum KiGa – im Beisein der Kinder. Als sich ein Mädchen beim Mittagessen in größerer Runde über die in ihren Augen mickrige Kette als Weihnachtsgabe des Vaters ausließ, erntete sie ein: „Stella, du weißt genau, wieso dir dein Papa kein größeres Geschenk geben kann! Weil er im Knast ist. Hör auf zu jammern!“ (Lucie, Betreuerin Hort WIE 2). Für das Verständnis der sozialen Ordnung im Hort, insbesondere auch im Zusammenspiel mit den antizipierenden Ordnungen in KiGa und im Außerschulischem, hat diese öffentliche Thematisierung des inhaftierten Vaters meines Erachtens ein ähnliches analytische Potential wie Smartphones im Vibrationsmodus und kurze Zigarettenpausen. Während diese Praxis im ‚Schonraum‘ KiGa unter derzeitigen Vorzeichen undenkbar gewesen wäre, gerade mit Referenz auf außerschulisch diagnostizierte Defizite, grenzt sich hier der Hort dezidiert vom KiGa ab, in dem er die Pädagogisierung von Objekten wie dem Smartphone ablehnt und den Hort als Ort der Kindheit ausstaffiert, an dem Kindern nichts vorgespielt werden solle. Professionalität wird hier mit Zugang der Hortbetreuer*innen zu einer Erwachsenenwelt ausgestattet. Die vor den Kindern praktizierte „Selbstdisziplin“ soll den Kindern zeigen, dass auf sie selbst in „den verführerischsten, die soziale Ordnung in Frage 6

In mehreren Familien kam es im Laufe der Forschung zu Polizeieinsätzen und sozialarbeiterischer Intervention wegen (vermuteter, gemeldeter) Häuslicher Gewalt. Mehrere Male mussten Kindergartenlehrpersonen ihre Einschätzung zum Verdacht auf Kindswohlgefährdung an andere Behörden melden und einige Male war aktuell, dass ein Kind bspw. nicht vom Vater abgeholt werden durfte oder darauf zu achten sei, ob die Mutter alkoholisiert sei. Zumindest an allen Tagen, an denen im Kindergarten teilnehmend beobachtet wurde (insgesamt rund fünfzig Mal), wurde Gewalt – sei es im familiären Nahraum oder in anderen Kontexten – nie im Beisein von Kindern thematisiert.

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stellenden Lebensmomenten Verlass ist“ (Zinnecker 1987, S. 239). Gerade dieser offenere Umgang mit im KiGa stark pädagogisierten resp. verbannten Objekten wie Smartphones gaben dem Hort eine Distinktionsmöglichkeit, einen anderen Raum für Kinder zu schaffen. Einen nämlich, „der die Lebensrealität der Kinder aufnimmt“ (Hortleitung Hort CU 2), ohne den auch hier antizipiert problematischen Umgang mit Smartphones, Zigaretten oder ähnlichem aus dem Familialen zu perpetuieren. Die Trumpfkarte Smartphone hat hier also, um im Bilde zu bleiben, einen anderen Stichwert. Auch dies hatte wiederum Einfluss auf die ethnografische Forschung – konkret wurde bspw. per WhatsApp gefragt, ob ich denn an gewissen Tagen wie angekündigt kommen würde und ggf. auch gerade die Kinder vom KiGa in den Hort begleiten könne, andererseits war auch mein eigenes Handy viel offener, aber dennoch kontrolliert, in der teilnehmenden Beobachtung mit von der Partie. Kinder posierten bspw. vor der Kamera und wir sahen uns gemeinsam Dinge auf meinem Smartphone an (Tore von Christiano Ronaldo beispielsweise, oder Bilder von Ladybug). In dieser kontrastiven Analyse der beiden für Kinder konzipierten Orte lässt sich als Zwischenfazit feststellen, wie u.a. mittels Pädagogisierung von Smartphones, deren Verbannung oder gerade eben nicht-Verbannung, Orte miteinander in Bezug gesetzt und erst über die Referenz auf andere soziale Ordnungen ihre jeweilige Kontur gewinnen. 5

„Stöpsel auf den Ohren!“: Smartphones als Rechtfertigung pädagogischer Intervention

Bislang wurde festgestellt, dass Smartphones als pädagogisierende Qualifizierungsmerkmale dazu genutzt werden können, Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse zu beschreiben. Das wurde bislang an den beiden sites KiGa und Hort, je mit Referenz auch auf das kindliche Außerschulische, gezeigt. Dass soziale Ordnungen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit nicht konfliktfrei nebeneinanderstehen und sich deren hierarchisierendes Zusammenspiel auch entlang der Frage, welche Rolle Smartphones spielen, entzünden können, zeigt bemerkenswert die nachfolgende Sequenz aus einem Team-Gespräch in der Schule über eine mögliche Rückstellung des Mädchens Dilek, das den Lehrpersonen im KiGa-Unterricht auf diversen Ebenen auffiel. Immer wieder kam es im „Fall Dilek“ zu Beratungsgesprächen im KiGa. Das Mädchen erhielt vor Forschungsbeginn eine Beistandschaft seitens der Kinderschutzbehörde (ausgelöst durch polizeiliche Intervention bei einer Meldung von Häuslicher Gewalt) und zusätzlich wurde das Kind im schulischen System heilpädagogisch begleitet. Mit ihrer Mutter verbringt Dilek in den Ferien Zeit bei Verwandten in der Nähe von Ankara, aber wie von der türkischsprachigen Mitarbeiterin des Hortes festge-

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stellt wurde: nicht nur ihr Deutsch, auch ihr Türkisch sei nicht gut. Kognitive Schwierigkeiten werden vermutet, sodass auch eine entwicklungspsychologische Abklärung eingeleitet wurde. Die Sorge um das Kind und dessen weiteren schulischen Verlauf war groß und gemeinsam (aber ohne Beisein der Eltern oder des Mädchens) wurde im Lehrer*innenzimmer diskutiert, ob nicht ein drittes Kindergartenjahr und damit eine Rückstellung die richtige Maßnahme für Dilek sei. Während minimal auf die anderweitig sehr wohl adressierten sozialen Probleme eingegangen wurde, bekam das Smartphone, resp. der Gebrauch des Gerätes seitens der Mutter, diskursiv im Verlaufe des Gesprächs eine immer größere Bedeutung. Heilpädagogin: Ihre Mutter hat einen Hörer auf dem- hat das Handy gehabt, und ein Hörer war auf dem Ohr, die ganze Zeit, und auf dem anderen hat sie dann hier zugehört, und da weiß ich nicht, ob sie jetzt Musik gehört hat, also einfach so, immer so komische Botschaften […] ich denke das auch- sie hat auch keine Vorbilder, die Mutter ist für sie kein Vorbild. Sie ist auch nicht ansprechbar, weil anscheinend hat sie den Stöpsel noch häufig auf den Ohren. Und Dilek sitzt nebendran und es findet keine Kommunikation statt. Schulleiterin: Man müsste ihr ein Ziel setzen, also z.B. den Medienkonsum einschränken. Heilpädagogin: Ja, dann müsste sie aber auch eine Vorbildfunktion haben, und dass sie die Stöpsel immer rausnimmt. (Frühling 2017, Schule Wiesengrund, Ausschnitt aus Transkript)

Der kurze Ausschnitt ist Teil eines längeren Gesprächs, in dem das Smartphone und die Stöpsel im Ohr zu gut drei Viertel der Zeit thematisch waren und letzten Endes die in der Sitzung beschlossene Rückstellung Dileks zu rechtfertigen schienen. Zum einen wird hier die soziale Ordnung in Dileks Familie über das Smartphone klar defizitär beschrieben, zum andern kann über die Rede von den Stöpseln in den Ohren offenbar ‘gute Mutterschaft’ angezweifelt werden (vgl. Haukanes und Thelen 2010, S. 15f.). Interessant ist in diesem Fall, dass sich die Rechtfertigung der pädagogischen Intervention fast ausschließlich in diesem moralischen Diskurs der als ungenügend befundenen Mutterschaft auffängt und zu einem gemeinsamen schulischen Narrativ verstrickt werden kann. Ein Narrativ, das Stöpsel im Ohr derart degradiert, dass jegliches Recht zur pädagogischen Intervention legitim scheint. Dass Stöpseln in den Ohren und nicht stattdessen andere Argumentationslinien greifen, ist bemerkenswert. Eine Erklärung dafür ist wohl im „normativ und moralisch aufgeladene[n] Anerkennungspostulat“ (Diehm und Kuhn 2005, S. 223) zu finden, dem sich das schulische Feld verpflichtet sieht. Damit soll es hier nicht darum gehen, das Wissen um Diversität oder die interkulturellen

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Kompetenzen der Lehrpersonen in Abrede zu stellen, sondern zu zeigen, wie die Spannung zwischen postulierter Gleichwertigkeit von divergierenden sozialen Ordnungen auf der einen und dem pädagogischen Auftrag zur vormals beschriebenen „Umcodierung von als defizitär wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklung in pädagogisch zu behandelnde Probleme und deren Überweisung an Bildungsinstitutionen“ auf der anderen Seite ausgetragen werden. Während bei anderer Argumentation (möglich wären beispielsweise Narrative zu Gewalt oder Kultur) immer auch das schulische Credo einer diversitäts-umarmenden Pädagogik riskiert würde, kann über die Trumpfkarte Smartphone unproblematisch moralische Überlegenheit hergestellt werden. Wie Wallerstein so anschaulich schreibt: „Intervention is in practice a right appropriated by the strong. But it is a right difficult to legitimate, and is therefore always subject to political and moral challenge. The intervenors, when challenged, always resort to a moral justification” (2006, S. 27). Der Stöpsel im Ohr der Mutter legitimiert in dieser Situation – mehr als andere Bezüge, die den Verantwortlichen des Schulfeldes in dieser Situation zur Verfügung stehen würden – zur Degradierung der sozialen Ordnung in der Familie. Über den Umweg der moralischen Rechtfertigung wird das Smartphone hier also zur Trumpfkarte mit hierarchisierender Qualität. Bislang wurde zur Darstellung der Trumpfkarte Smartphone auf eine weitere Öffnung des Feldes verzichtet und die Konzeptionsarbeit beschränkte sich auf den KiGa und den Hort. Familien und der kindliche Alltag im Außerschulischen wurden nur vermittelnd oder als antizipierte Ordnungen in die Verhandlung der beiden sites aufgenommen. Dies ist gleichermaßen diagnostisch für das schulische Feld, wie es für den vorliegenden ethnografischen Fall erst einmal zur Reduktion von Komplexität dienlich war: Immer wieder konnte im teilnehmenden Beobachten festgestellt werden, wie ephemer die Einblicke der jeweiligen Personen in andere sites im Alltag der Kindergartenklasse waren. Lehrpersonen wussten wenig Konkretes über familiale Belange, Hortbetreuer*innen wenig Konkretes über den Kindergarten, Eltern wenig Konkretes über den Alltag im Hort usw. Das muss a priori nicht problematisiert werden, spannend ist allerdings, dass die Konstitution der sozialen Ordnung je site mitunter stark mit Referenz auf den jeweils anderen Alltag der Kinder verstanden wurde. In einem letzten Teil sollen nun diese Erkenntnisse mit der teilnehmenden Beobachtung im Außerschulischen erweitert werden. 6

„Sorry, dass ich rauche!“ - das ethnografische Begleiten der Kinder ins Außerschulische

Die ersten vier Monate der Forschung fanden, wie oben ausgeführt, ausschließlich im KiGa Wiesengrund statt. Kinder hatten also bereits etwa 25 Tage oder ca. 100

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Stunden eine Kindergarten-Ethnografin an ihrer Seite, bevor jene plötzlich auch im Hort und noch einmal etwas später in ihren Familien auftauchte. Ihre Eltern waren anfänglich informiert, dass im KiGa eine Forschung zum Umgang mit Heterogenität stattfände, hatten am ersten Tag in einer großen Mappe voller anderweitiger Informationen einen Flyer des Projekts „Kinder, die auffallen“ erhalten und ich konnte mich am Elternabend als Projektmitarbeiterin persönlich vorstellen. Für die Eltern war ich somit zu Beginn des Jahres 2017, als ich an ihre Türen klopfte, keine neutrale oder neue Person, die sich für ihr Leben und das ihrer Kinder interessierte, sondern eine mit dem schulischen Umfeld ihrer Kinder assoziierte Frau, gar eine Mitarbeiterin einer staatlichen Institution und damit mitunter auch: eine weiße, privilegierte Schweizerin.7 Wie sich im Laufe der Forschung in den Familien zeigte, die ich alsdann intensiver begleiten konnte, waren die ‘Schweizer*innen’, die sich für die Kinder oder die Familien interessierten und damit eine Relevanz für ihren Alltag hatten, ihrer Erfahrung nach keine Bekannten, geschweige denn Freund*innen, sondern Mitarbeitende bei Behörden, in Schulen oder im medizinischen Sektor. Menschen also, deren Interesse qua beruflicher Aufgabe begründet war und damit teils auch über für Familien Einschneidendes entscheiden konnten. Menschen, die überprüfen konnten, ob sie denn bspw. ihre Kinder auch richtig erzögen und sich ordnungsgemäß verhielten (siehe zu dieser Problematik des Feldzugangs in nicht privilegierten Familien auch Kusserow 2004, S. 15ff.). Feldman-Savelsberg beschreibt die Auswirkungen dessen u.a. als migrantisches „Leben im Schatten des Staates“; einem Schatten, der manchmal als lindernder Schutz, oft aber auch als dunkle Bedrohung wahrgenommen werden könne (vgl. 2016, S. 164–208). Die Bedrohung, dass unpassend erscheinende Aussagen etwa zu erlebten Ehekrisen und Trennungsabsichten bspw. das laufende Einbürgerungsverfahren negativ beeinflussen oder kleinere Arbeiten am Fiskus vorbei ggf. die Aufenthaltsgenehmigung aufs Spiel setzen könnten, wirkte – so zeigt sich rückblickend auf die ersten Treffen mit den Familien – hemmend auf den Umgang mit mir als Forscherin. Auch ich war ja als Forscherin und Mitarbeiterin einer staatlichen Institution qua dieser Rolle am Alltag der Familie und ihrer Sprösslinge interessiert! Die Türen, an die ich anklopfte, wurden sodann häufig nicht, oder nicht sehr weit, geöffnet. Der Feldzugang in ethnografischer Forschung ist bekannterweise oft prekär, wird aber sowohl für die Positionierung der Forschenden im Feld als auch für die möglichen Erkenntnisse, die die Forschung überhaupt erhalten könnte, als wie7

Die wichtige Frage, wer in welchen sozialen Situationen als Schweizer*in gilt und anhand welcher In- und Exklusionsmechanismen je Kontext Zugehörigkeit markiert werden kann, muss hier zugunsten einer pragmatischeren Handhabe ausgelassen werden. Für den vorliegenden Fall ist es relevant, die eigene Schweizerische Zugehörigkeit und die nicht-Zugehörigkeit der Eltern der Kindergartenklasse im Sinne des Feldes zu reifizieren und in der Analyse mitzudenken.

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Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse

chenstellend für den gesamten weiteren Forschungsprozess gesehen (Strübing et al. 2018, S. 88; Ott 2012). So wurde im vorliegenden Fall auf später vertröstet, auf eine unbestimmte Zeit, in der weniger Stress auf der Arbeit (Mutter von Valentina) oder die Akkreditierungsprüfungen des in Äthiopien erworbenen Pflegediploms vorüber seien (Mutter von Abshiru), oder vielleicht würde ja seine Frau besser passen, er selber könne so etwas nicht (Vater von Natalja), oder zum schließlich verabredeten Treffen tauchte nur die Forscherin auf (Vater von Arputha, Mutter von Dilek). Es ist anzunehmen, dass im Alltag der mitunter Schicht arbeitenden teils alleinerziehenden Menschen mit wenig sozialem Kapital in der Nachbarschaft der Termin mit dieser Kindergarten-Ethnografin keine Priorität hatte. Die vorsichtigen und vertröstenden Erzählungen verweisen m.E. aber auch auf das Verhältnis von Staat und nicht privilegierten Zugezogenen. Manche Eltern ließen sich aber auf die Einladung zu einem Kaffee ein, manchmal mit ebenfalls unsicher wirkenden Kindergartenkindern an ihrer Seite, sich entschuldigend, dass sie keine Betreuungsperson hätten organisieren können. Valmira, Arians Mutter, meinte gleich beginnend: «Sorry, dass ich rauche!», eigentlich wolle sie aufhören, aber gerade habe sie so viel Stress. Während des ersten Gespräches bei Tereza zuhause spielte die Tochter auf dem Smartphone der Mutter, während diese mir von ihrer anstrengenden Arbeit und den schwierigen ersten Jahren nach der Flucht aus dem Kosovo erzählte. Während die Mutter stets auf Albanisch mit ihrer Tochter kommunizierte, folgte alsdann auf Deutsch: „Tereza gell du hörsch danach auf mit Handy!“ und zu mir: „Normalerweise darf sie nicht so lange spielen, aber so sie ist ruhig.“ Die Absagen, die zurückhaltenden Antworten auf Kontaktaufnahme oder die Narrative, die mir Eltern im Zuge dieser Erstgespräche darlegten, weisen auf die von den Eltern antizipierte soziale Position der Ethnografin (als drohender Schatten des Staates) hin. Eltern positionierten mich im KiGa und legten in diesen Erstgesprächen u.a. erfolgreich dar, dass sie um das Pädagogisierende von Smartphones und Zigaretten wüssten und folglich gut daran täten, sich und ihre Narrative in Referenz darauf auszuloten, indem sie beispielsweise die Tochter aufgrund ihrer zu langen Smartphone-Nutzung ermahnen und sich fürs Rauchen entschuldigen. Wenn in dieser Anfangszeit der teilnehmenden Beobachtung in den Familien Fragen an mich gestellt wurden, dann waren jene häufig mit Referenz auf den KiGaAlltag und das Pädagogische gerichtet: «Ursina, was ist besser, Fernsehen auf Albanisch oder Deutsch?» oder «Wie ist Harun im Kindergarten, streitet er oft? Zuhause ist er anders, aber dort kann ich es nicht sagen». Dass sich das jedoch in meiner Ethnografie nicht als Weichenstellungen für die relevanten Strukturmerkmale des Feldes (Strübing et al. 2018, S. 88) bestätigen ließ und sich gerade an Objekten wie dem Smartphone Aufschlüsse über die gegenseitige Bedingtheit von Orten der Kindheit gewinnen lassen, zeigt der Verlauf dieser Langzeitforschung.

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Je länger Familien teilnehmend beobachtend begleitet wurden, desto mehr verlor der KiGa als Referenzrahmen an Gewicht. Mit der damit einhergehenden Ent-Pädagogisierung der Ethnografin und der Verschiebung der sozialen Position im Alltag der Familien verschwanden auch die Entschuldigungen. Aus der KindergartenEthnografin wurde immer mehr eine Person, die von den pädagogischen Attribuierungen gewissermaßen befreit u.a. zur Facebook-Freundin verschiedener Familienmitglieder wurde, eine Person, die mit ihnen auch mal eine Zigarette rauchte oder auf dem eigenen Smartphone private Fotos zeigte. Somit verlor die Forscherin immer mehr – um im Bild zu bleiben – den bedrohlich anmutenden staatlichen Schatten. Dies ließ sie in ein Feld mit geänderter sozialer Ordnung eintreten, in der Türen offener erschienen. Die Erkenntnis hier ist also, dass der „Zugang zu den Kernzonen des interessierenden Geschehens“ (Breidenstein et al. 2013, S. 60) nicht nur durch längere Präsenz der Ethnografin ermöglicht wurde, sondern dieses Vertrauen mindestens genauso sehr von der Loslösung der Ethnografin aus dem schulischen Kontext abhing. Ohne die anfängliche Rücksichtnahme auf die soziale Ordnung im KiGa und sodann mit Blick auf andere Referenzrahmen ihres Alltages tauchten auch Smartphones in neuem Kleide auf, so etwa, wenn sich die ganze Familie und die Ethnografin um ein Handy versammeln, um den großen GesangsAuftritt des Vaters in der tamilischen Community in Paris zu sehen oder stolz gezeigt wird, wie sich die Tochter über YouTube-Videos von snow queen Elsa ein bemerkenswert elaboriertes Englisch aneignet.8 Fällt die Pädagogisierung, werden Spielarten sichtbar, in denen die Trumpfkarte Smartphone einen anderen Stichwert besitzt. Qua Smartphone lassen sich also auf einer kulturanalytischen Ebene verschiedene sich kreuzende soziale Ordnungen beschreiben, die im vorliegenden empirischen Fall erst an Dynamisierung gewinnen, wenn der Kindergarten als Referenzrahmen weniger Aufmerksamkeit bindet. 7

Fazit

Anhand einiger empirischer Blicklichter aus der vorgestellten Ethnografie einer transnationalen Kindergartenklasse wurde in diesem Beitrag der Frage nachgegangen, wie die jeweils beteiligten Personen Smartphones als Medium zur sozialen Positionierung verwenden (können) und wie Smartphones als mit je unterschiedlichem Stichwert ausgestattete Trumpfkarten in divergierenden Arenen der Statuszuschreibungen eingesetzt werden. Das Smartphone rückte also als qualifizieren8

Hier sind Bezüge zu einer online Welt angesprochen, deren Verbindungen zu lokalen sozialen Ordnungen noch kaum erforscht sind, besonders in transnationalen Feldern aber von größter Bedeutung sein können. Siehe zu diesem Forschungsdesiderat eines transnationalen online-offline-nexus erhellend Blommaert und Dong (2019)

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Konfigurationen sozialer Ordnung im Alltag einer transnationalen Kindergartenklasse

des Merkmal sozialer Ordnung und in der Konfiguration von sich gegenseitig bedingenden sozialen Ordnungen vor die analytische Linse. In dieser Optik konnte festgestellt werden, dass im KiGa während des Unterrichts ein Ort für Kinder geschaffen wird, der gleichsam als Kompensationszone gegenüber dem imaginierten außerschulischen Leben möglichst handy-frei ausstaffiert wird. Zusätzlich konnte anhand eines Gespräches über die Rückstellung eines Mädchens im Kindergarten verdeutlicht werden, wie es in der gegenwärtig diversitäts-umarmenden Rhetorik der Schule über die Referenz auf Stöpsel im Ohr möglich wird, gute Elternschaft resp. deren Fehlen zu problematisieren und pädagogische Interventionen moralisch zu legitimieren. Eltern wissen um jene „Pädagogisierung des guten Lebens“ (Boser et al. 2018) für ihre Kinder und referieren in den ersten Begegnungen mit der Ethnografin darauf, oder lehnen den Kontakt mitunter aus der Gefahr weiterer Stigmatisierung des „staatlichen Schattens” ab. Auch Hortbetreuer*innen wissen um die Pädagogisierung des Smartphones im Kindergarten, und setzen diese Trumpfkarte in ihrem professionellen Alltag bewusst mit anderen Spielregeln ein. Während die soziale Ordnung im KiGa als rigider bezeichnet werden kann, kann die Trumpfkarte Smartphone an anderen Orten der Kindheit eine andere Stichkraft bekommen, oder die Bedeutung als qualifizierendes Merkmal sozialer Ordnung überhaupt verlieren. Folgt man dem Stichwert dieser Trumpfkarte wird also deutlich, wie unterschiedliche soziale Ordnungen einander gegenseitig konstituieren. Im Artikel konnte entlang der konkreten ethnografischen Begegnungen und der dabei vorgeschlagenen analytischen Lesart auch eine methodologische Konsequenz gezogen werden. Der Feldzugang mit im Schweizerischen Kontext stigmatisierten transnationalen Familien hing, wie gezeigt wurde, stark von der Positionierung der forschenden Person ab. Im vorliegenden Fall wurde die Analyse divergierender sozialer Ordnungen erst über die Loslösung der Ethnografin vom Kindergarten und damit der Abkehr vom „staatlichen Schatten“ möglich, konkret mitunter über eine Ent-Pädagogisierung von Smartphones. Literatur Amann, Klaus und S. Hirschauer. 1997. Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In Die Befremdung der eigenen Kultur, hrsg. von Klaus Amann und Stefan Hirschauer, 7–52. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blommaert, Jan, und Jie Dong. 2019. When your field goes online. Tilburg Papers in Culture Studies Babylon 227: 1–14. Bollig, Sabine. 2018. Approaching the complex spatialities of early childhood education and care systems from the position of the child. Journal of Pedagogy 9, 1: 155–76.

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Teil IV: Medienkindheiten medienethnographisch erforschen

Unterscheiden, verbinden und teilen. Zur Resonanz und Differenz (digitaler) Medienpraktiken in der frühen Kindheit und beim Forschen Unterscheiden, verbinden und teilen

Bina Elisabeth Mohn

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Einleitung Wenn Welten (...) ebensosehr erschaffen wie gefunden werden, dann ist auch das Erkennen ebensosehr ein Neuschaffen wie ein Berichten. (Goodman 1978/deutsch 1984, S. 36)

Medienpraktiken, die im Familienalltag situiert sind, werden durch Medienpraktiken untersucht, die als medienethnographische Praktiken im Forschungsalltag situiert sind. Hieraus ergeben sich Resonanzen und Differenzen mit einem dynamischen Potential. Resonanzen entstehen z.B. durch die Verwendung gleicher oder ähnlicher digitaler Technologien und durch die performativen, bildhaften und zunehmend kurzen Formate alltäglicher Kommunikation, an die eine zeigende Ethnographie anknüpfen kann. Differenzen haben damit zu tun, dass sich die Situierungen von Praktiken in Feld und Forschung unterscheiden und Wissensprozesse nicht zuletzt hieraus resultieren. Digitale Kindheit(en) im Rahmen einer ethnographischen Entdeckungsstrategie zu untersuchen, bedeutet daher auch das Aufspüren und Einrichten von Resonanz- und Differenzverhältnissen, neben der Gestaltung und Aufrechterhaltung der grundlegenden Kooperationsverhältnisse beim Forschen. Der Beitrag macht dies aus einer forschungsreflexiven Perspektive heraus an Praktiken zum Thema, die in der frühen Kindheit wie auch bei deren kamera-ethnographischen Erforschung stattfinden: unterscheiden, verbinden und teilen. Situierungsdifferenzen einzubeziehen und sie konstruktiv zu nutzen nimmt Bezug auf ein situiertes Datenverständnis (in Anlehnung an Garfinkel). Der erkennbare Sinn und die erkennbare Tatsache oder Methodik oder Unpersönlichkeit oder Objektivität von Darstellungen existiert nicht unabhängig von ihren sozial organisierten Anwendungssituationen (Garfinkel 2020, S. 38). Demnach sind auch Daten immer Daten für etwas oder für jemanden und ein Dokumentcharakter steckt nicht in den audiovisuellen Forschungsmaterialien, sondern wird erst in situierten Datenpraktiken konkret hervorgebracht (vgl. Mohn 2002, S. 185).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_9

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Unterscheiden, verbinden und teilen

Nach einer kurzen Einführung in das Feldforschungssetting (Sofa-Ethnographie) und die Kamera-Ethnographie befasst sich der Beitrag anhand ausgewählter Szenen mit unterscheiden, verbinden und teilen. Hinter jedem dieser drei Begriffe lassen sich unterschiedlich situierte Praktiken finden, deren Verwandtschaftsgrade und Eigenheiten zum jeweiligen Sprachspiel gehören. ‚Sofa-Ethnographie‘ Mit dem Thema Frühe Kindheit und Smartphone begibt sich das Forschungsprojekt1 in einen normativen Diskurs zu digitalen Medien und Smartphone-Gebrauch und möchte durch einen ethnographisch beobachtenden Zugang zu alternativen Perspektiven auf Kindheiten im Zeitalter der Digitalisierung beitragen. Ziel dabei ist es zu klären, um welche alltäglichen Phänomene, Praktiken und Veränderungen es sich handelt, wenn wir von digitalen Kindheiten sprechen. So interessieren wir uns z.B. dafür, wie 0-6-jährige Kinder sich in Medienpraktiken ihrer Familien einbinden; wie sie lernen, sich selbst zu sehen und sich gegenüber anderen zu positionieren; wie sie die Dingwelt in Erfahrung bringen und dabei analoge wie digitale Medien erobern und erkunden; wie sich Familienmitglieder über die Orte hinweg an- und abwesend machen und Kinder schon früh daran partizipieren. Das Wohnzimmer ist ein geeigneter Ort, um Medienpraktiken in der frühen Kindheit in engem Austausch mit den Familienmitgliedern untersuchen zu können und zugleich auch ein Ort an der Schwelle von Privatem und Öffentlichem, da digitales Teilen und Veröffentlichen auch in Wohnräumen stattfinden. Als publizierende Ethnograph*innen sind wir am ‚doing public‘ beteiligt, bringen entstehende Forschungsfilme mit in die Familien, die ihrerseits mit Familienfotos und -videos die Forschungsmaterialien anreichern. Nach Sichtung durch die Beteiligten werden kamera-ethnographische Ergebnisse schließlich als Filme, Videoinstallationen oder in Form bebilderter Texte und Fotoessays publiziert. Eine Sofa-Ethnographie durchführen zu können zeigt etwas von der enormen Bereitschaft unter Eltern, zu den aktuellen öffentlichen Debatten um Kindheit und Medien etwas beizutragen, was den Familienalltag und das Heranwachsen der Kinder von heute ernst nimmt.

1

Im Rahmen des Forschungsprojekts Frühe Kindheit und Smartphone (Leitung: Jutta Wiesemann) des SFB Medien der Kooperation (Universität Siegen) forschen Bina E. Mohn, Pip Hare und Astrid Vogelpohl als Team mit der Kamera in Familien und entwickeln dabei zusammen mit Jutta Wiesemann den kamera-ethnographischen Forschungs- und Erkenntnisstil (in Anlehnung an Wittgenstein) weiter. Seit Herbst 2016 haben sich 14 Familien unterschiedlicher Nationalität an dieser kollaborativen Kamera-Ethnographie beteiligt. Gefördert wird dieses Projekt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187 „Medien der Kooperation“.

Bina Elisabeth Mohn

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Kamera-Ethnographie Unter dem Begriff Kamera-Ethnographie (Mohn 2020 im Erscheinen, 2019, 2013)2 ist in den vergangenen 20 Jahren ein eigenständiges Profil audiovisueller Ethnographie entwickelt worden, was mit filmischen Mitteln auf eine zeigende Ethnographie und performative Analytik zielt. Dabei wird das Filmen dem Forschen weder vorgeordnet (als Datenerhebung) noch nachgeordnet (als Verfilmung von Ergebnissen). Es geht um Prozessgestaltung, genauer: um eine reflexive Gestaltung ethnographischer Erfahrungs- und Entdeckungsprozesse, die stets in disziplinäre Kontexte eingebunden sind. Kamera-Ethnographie führt mediale Akzentverschiebungen vom Diskursiven zum Performativen durch und dies im Forschungsprozess wie auch in den Formaten der Publikation. Im Projekt Frühe Kindheit und Smartphone nähern wir uns den digitalen Kindheiten, mit ihren Tendenzen zum Zeigen (zeigen, gezeigt werden, etwas zu zeigen haben) mit den Mitteln einer zeigenden Ethnographie, was auf diese Weise ein besonderes Potential bietet, die Körperlichkeit, Materialität und Sinnlichkeit auch nonverbaler Medienpraktiken zum Thema machen und Praktiken in ihren bildhaften Figuren, raumzeitlichen Choreografien und soziomateriellen Konstellationen untersuchen zu können. Mit der Kamera werden weder ‚Situationen aufgezeichnet‘ noch ‚Kinder gefilmt‘ – beides ist, nebenbei bemerkt, auch prinzipiell unmöglich. Es wird jedoch in Situationen und mit einem Interesse an situierten Phänomenen und soziomateriellen bzw. soziotechnischen Praktiken mit der Kamera beobachtet. Alle und Alles, was an einer Beobachtungssituation vor und hinter der Kamera, am Schnittplatz oder bei Vorführungen beteiligt ist, wirkt daran mit und partizipiert. Dennoch bleiben neben dem Kooperieren und Partizipieren auch die Differenz entfaltenden Datenpraktiken, die im Forschungsprozess situiert sind, ein Qualitätsmerkmal kamera-ethnographischer Blicksuche, Verbildlichung und Entdeckung. Im Unterschied zu einer videographischen Aufzeichnungslogik wird zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Gegenstand ethnographischer Forschung bereits gegeben, unmittelbar sichtbar und mit einer Kamera zu dokumentieren sei. Stattdessen sind Filmen, Schneiden und Montieren daran orientiert, Sichtbarkeit, Beobachtbarkeit und schließlich die Entdeckung neuer Wissensaspekte, Phänomene und Praktiken im und am Forschungsmaterial hervorzubringen. Es geht um die Konstitution „epistemischer Dinge“ (siehe Rheinberger 2018 und 2001; Knorr-Cetina 1999), die es zu Beginn eines Forschungsprozesses noch gar nicht in einer sichtbaren, auf- und vorzeigbaren Form gegeben hat. Die Gegenstände des Wissens oder die Phänomene, über die man etwas in Erfahrung bringen will, sind als epistemische Dinge mit einem Quantum Unbekanntheit aus2

Siehe auch www.kamera-ethnographie.de.

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Unterscheiden, verbinden und teilen

gestattet, sonst würden sie gar nicht ins Visier der Forschung geraten. Und eben dieses Moment des Nichtgewussten macht sie wissenschaftlich interessant, während die Geräte, die technischen Objekte, mit denen man versucht, auf ein Phänomen zuzugreifen, eher auf der beherrschten Seite anzusiedeln sind. (...) Das Technische soll seinen eigenen Identitätsbedingungen gehorchen, wenn experimentiert wird, und das Epistemische soll als Differenzmaschine wirken. (Rheinberger 2018, S. 215)

Als „Grenzobjekte“ (Star und Griesemer 1989) neuen Wissens nehmen epistemische Dinge erst im Forschungsprozess allmählich konkrete Formen an. Auf dem Weg dorthin wird die Kamera im Sinne eines „Caméra Stylo“ (Astruc 1984) an die beobachtenden Ethnograph*innen gekoppelt und ihr Gebrauch nicht als ein Aufzeichnen oder Fixieren betrieben, sondern als Arbeit am ethnographischen Blick und an einem positionierten Hinschauen. Beobachtende Suchbewegungen und deren Fundstücke nehmen im Filmmaterial auf eine hybride Weise zusammen Gestalt an und tragen so in bildhafter Form dazu bei, Phänomene und Praktiken wahrnehmen und schließlich weiter beobachten zu können, auf eine medien- und methodenspezische Weise. Die schon beim Filmen begonnenen Versuche, etwas ‚als etwas‘ neu sehen zu lernen, setzen sich am digitalen Schnittplatz fort, dabei werden auch Schnitt und Montage zu epistemischen Praktiken, die im ethnographischen Entdeckungskontext situiert sind: Das Zerlegen des Materials bringt Relevanzen und Unterscheidungen hervor; beim Montieren lassen sich mögliche Zusammenhänge erproben und entdecken. Anknüpfend an die „dichte Beschreibung“ nach Geertz 1987 [1983] und die „übersichtliche Darstellung“ nach Wittgenstein (1989-1993) wird in der Kamera-Ethnographie mit einem dichten Zeigen und ordnenden Arrangieren filmischer Miniaturen und Fragmente experimentiert. Dies steht im Zusammenhang eines Wissens in Bewegung, das auf Möglichkeitssinn beruht und bis in die Ereignisse der Rezeption hinein eine Differenz des Entdeckens im Blick hat. 2

Unterscheiden Wenn aber die welterzeugenden Konstruktionsprozesse zugleich Verstehensprozesse sind, dann sind Verstehen und Welt zwei Seiten einer Medaille. (...) Verstehen aber stellt sich mit Goodman ein, wenn sich neue Einsichten gewinnen lassen, Probleme lösbar werden, sich gewünschte Anwendungen ergeben, aufschlussreiche Verbindungen hergestellt oder signifikante Unterscheidungen entdeckt werden. Wenn also im Verstehen umfangreichere Zusammenhänge deutlich werden, Strukturierungen vorgenommen werden, Abhängigkeiten festgestellt werden, zeigt sich hierin Welt, Verstehen ist ‚weltgeladen‘. (Ammon, S. 293)

Bina Elisabeth Mohn

Abbildung 1:

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„Das bist du!“. Videostandbild: Bina E. Mohn (2017)

Doppelfiguren und Blickdreiecke Bei einem Standbild wie diesem (Abb. 1)3 ist im laufenden Film die Stimme der Eltern zu hören: „Guck mal, das bist du!“. Die auf Familienvideos erkennbaren Personen werden gegenüber und zusammen mit dem Kind benannt und unterschieden, so wie es auch beim Anschauen von Bilderbüchern Routine ist: ein Bagger, eine Heuschrecke, ein Pilot. Mit einem Unterschied: die Benennung der Familienmitglieder auf Fotos und in Videos beansprucht Identität: nicht ‚ein Kind‘ ist dabei zu sehen, sondern „du!“. Perspektive und Fokus des Standbildes (Abb. 1) ergeben zusammengenommen eine Blickschneise, die räumlich und inhaltlich angibt, von wo aus beim Filmen wohin geblickt wurde. Im Standbild kommt etwas von der Positionierung und dem Interesse der filmenden Ethnographin zum Ausdruck: sie interessiert sich für sozio-technische Konstellationen und hat als Kameraeinstellung gewählt: das Kind gegenüber seiner medialen Repräsentation. Was hat eine solche bildgebende Praxis mit ethnographischer Erfahrung und Entdeckung zu tun? Wie ist hier das Kind und wie die Ethnographin in Praktiken des Unterscheidens eingebunden? Ein forschender Kameragebrauch gelingt, indem beim Filmen zunächst ein Gucken statt Sehen4 und ein interessiertes Ausrichten auf etwas hin statt bereits ein Zeigen praktiziert werden – wenn also noch nicht gewusst wird. 3

4

Die in diesem Text verwendeten Standbilder von Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl stammen aus der gemeinsamen Kamera-Ethnographie im Projekt Frühe Kindheit und Smartphone. Framegenau herausgesucht zeigen diese Bilder etwas von den Bezügen zwischen gewählten Kameraeinstellungen und Forschungsinteressen. Streeck (2017) unterscheidet „looking“ von „seeing“ und „pointing“ von „showing“. Diese Anregung aus der neueren Gestik Forschung wird hier auf kamera-ethnographische Forschungspraktiken und Entdeckungsprozesse übertragen.

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Unterscheiden, verbinden und teilen

Statt „Das bist du!“ lautet der Forschungsslogan zunächst: „Da könnte was sein!“. Die in den Beobachtungsituationen auf sich gestellten Kamera-Ethnograph*innen sind subjektive Personen und zugleich als Forscher*innen auch ‚disziplinäre Subjekte‘, eingebunden in ihre wissenschaftlichen Kollektive. "Erkennen ist kollektive Tätigkeit. (...) Träger und Schöpfer des Denkstils ist ein Denkkollektiv bzw. eine Denkgemeinschaft" (Fleck 1983, S. 108). Forschende Suchbewegungen, Blick- und Bildentwürfe beim Filmen gelingen an Schnittstellen, die sich aus dem unvorhersehbaren Geschehen vor Ort, den Forschungsinteressen im Projekt sowie dem Einfühlungsvermögen der Ethnograph*innen in beides ergeben. Das beobachtbare Geschehen ist ebenso komplex wie die Versuche, es durch Begegnung, Beobachtung und Erfahrung zu erfassen. Die Formulierung von Wie-Fragen ist der Schlüssel zu einem noch nicht wissenden und dennoch gerichteten Kameragebrauch. Im Anschluss daran lassen sich die Was-Fragen überraschend neu beantworten. Wie entsteht eine ‚mit sich‘ identische Person unter Bedingungen der Digitalisierung? Durch die mit der Kamera beobachtete Szene, aus der Abb. 1 stammt, gerät ein Phänomen in den Blick, das Auftreten von ‚Doppelfiguren‘ (Kind und mediale Repräsentation), die im selben Raum ‚agieren‘, verschieden blicken und tönen, unterschiedlich angesprochen werden und spezifische Ansprüche stellen. Erst einmal bemerkt, begegnet uns dies variantenreich wieder und regt ein fortgesetztes Fragen an: Wie greifen Datenpraktiken und Identitätspraktiken ineinander? Wie verhalten sich das körperliche und das latent öffentliche, bildhafte Selbst zueinander? Durch die Wahl und Variation beobachtender Blickschneisen beim Filmen wird dem sich entwickelnden Interesse an ‚etwas‘ die erforderliche, noch unbestimmte bildhafte Gestalt verliehen, in die hinein sich im weiteren Verlauf seine Entdeckung einzustellen vermag. Erst dann kann vom Sehen und Zeigen neuer Wissensaspekte die Rede sein. Epistemische Dinge verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß. Sie haben den prekären Status, in ihrer experimentellen Präsenz abwesend zu sein; aber sie sind nicht einfach verborgen und durch ausgeklügelte Manipulationen ans Licht zu bringen. Epistemische Dinge sind Mischgebilde wie Serres‘ Schleier, „noch Objekt und schon Zeichen, noch Zeichen und schon Objekt“ (Serres 1987, S. 191). (Rheinberger 2001, S. 25) Während das wenige Monate alte Kind an digitalen Fotos und Videos sich und andere zu sehen und zu unterscheiden lernt, bringen die Forschenden ihrerseits Unterscheidungen ein, die im Forschungsprozess situiert sind: sie unterscheiden zwischen digitalen Identitäts- und Lernpraktiken und bislang vorherrschenden Körperkonzepten; sie stellen Zusammenhänge her, beispielsweise zu dem von Reckwitz (2017, S. 244) prognostizierten „Digitalen Subjekt“. Wie verhalten wir uns, wenn wir uns zum ersten Male gegenüber einem uns unbekannten Gegenstand finden? So, wie ein Kind gegenüber einem verschmierten Klecks. Es sieht in ihm den Flügel eines Vogels, die Blätter eines Baumes, eine Blume, zwei zusammen-

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gewachsene Pferde, einen Engel, mit einem Wort, anderswoher bekannte Gestalten. (Fleck 1947, S. 159) Standbilder sind die kürzeste aller Formen, die aus zeitbasiertem Videomaterial gewonnen werden können. Sie zu generieren und damit zu arbeiten erlaubt den Forschenden weitere Erfahrungen und Beobachtungen. Durch den Entzug von zeitlichem Verlauf und Tonspur lassen sich im Standbild Figuren und soziomaterielle Konstellationen von Medienpraktiken in der frühen Kindheit herausfiltern. In Abb. 2 sind Smartphone, Mutter und Kind im Fokus des Bildes und wieder ist die gewählte Kameraeinstellung an der soziomateriellen Konstellation von Praktiken interessiert, die hier in der Figur eines Dreiecks beobachtbar wird. V-förmig aufgespannt treffen sich die Blicke beider Gesichter im Display, von wo aus sie als Live-Bild zurückstrahlen; der angewinkelte Arm stabilisiert die Spitze des Dreiecks; Smartphone und Gesichter scheinen sich wechselseitig in Position zu bringen und zu faszinieren: ein magisches Dreieck des Sehens und Zeigens. Von weiteren Dreiecksfiguren, die wir daraufhin in der Konstellation Smartphone, Kind und weitere Person(en) zu entdecken beginnen, lässt sich diese Variante unterscheiden: Besondere ‚Magie‘ besteht darin, dass die vom Smartphone eingenommene Ecke des Dreiecks als digitales Spiegelbild ‚mitblickt‘. Nach Dreiecken Ausschau zu halten oder sie versuchsweise an die beobachteten soziomateriellen Konstellationen anzulegen, lässt weiteres Beschreiben und Unterscheiden zu. Whereas definitive concepts provide prescriptions of what to see, sensitizing concepts merely suggest directions along which to look. (Blumer 1954, S. 7) Im Sinne solch „sensibilisierender Konzepte“ (Blumer) erweisen sich auch bildhafte Figuren als sensibilisierend5 und geeignet, durch eine Praxis des Unterscheidens genauer hinzuschauen: „Dies ist (nicht) das!“. Abb. 3 zeigt ein komplexeres Dreieck: Das Display des Smartphones wird nicht zum Treffpunkt der Blicke. Hier wird gefilmt, eine Bühne gebaut, animiert und dabei ist jede Ecke des Dreiecks mit einer anderen Rolle besetzt: das Baby als Protagonistin, der eine Onkel als Animateur und der andere als mit dem Smartphone filmender Chronist. Die Ethnographin beobachtet die gesamte Szene aus einer weiteren Position heraus, die sich als Perspektive wie eine Pyramidenspitze des beobachteten Dreiecks in die ethnographische Verbildlichung einschreibt. Die Medienpraxis der Kamerabeobachtung ist ein Teil dessen, über das ethnographisches Filmmaterial Auskunft gibt. „Untersuchungen, die Mitglieder durchführen, sind auf unendlich vielfältige Weise konstitutive Merkmale der Situation, die sie analysieren“, so Garfinkel (2020, S. 45).

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Siehe auch Barad (2007, S. 189), die Grahn (1989, S. 39) zitiert: “rather than ‚figuring it out‘. Figure it in“.

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Abbildung 2:

Selfie machen. Videostandbild: Bina E. Mohn (2016)

Abbildung 3:

Inszenieren. Videostandbild: Pip Hare (2017)

Abbildung 4:

Hören. Videostandbild: Astrid Vogelpohl (2017)

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Eine wiederum anders ausgerichtete Konstellation ist in Abb. 4 zu beobachten: ‚Gemeinsam Hören‘ zeigt sich hier in Blicken, die nicht auf einem Bildschirm landen. Tonquelle ist eine Langspielplatte, auf der ein Märchen erzählt wird. Als Dreieck betrachtet ergeben sich in diesem Fall mobile Fluchtpunkte, denn die Blicke schweifen in drei verschiedene Richtungen davon, kein Display lenkt sie in einen Rahmen. Gemeinsames Sichten, Zerlegen und Sortieren, Reden, Experimentieren, Beschreiben und Zusammenstellen der audiovisuellen Forschungsmaterialien ruft unterscheidende Beobachtungen hervor. Wie und woraufhin kamera-ethnographisches Material zerlegt, szenisch gegliedert und verdichtet wird ergibt sich in einem experimentellen Zusammenhang. Das heißt, das wir Wissenschaft als einen Prozess verstehen müssen, der tief in der Materialität unserer Welt verwurzelt ist, als eine kollektive Tätigkeit, die sich nicht auf die geniale Aktivität eines individuellen Geistes reduzieren lässt, der das letzte Wort hat. (...) Betrachten wir das experimentelle Subjekt als beteiligt an einer Aktivität, die mit den Worten von Ian Hacking, „ein Eigenleben“ hat (Hacking 1996, S.250), das vieler guter Augen bedarf, um zu sehen, und vieler guter Ohren, um zu hören.“ (Rheinberger 2018, 120f.) Welche Eigenzeiten der beobachteten Praktiken behaupten sich beim Zerlegen des Materials durch Schnitt und wie verhalten sie sich zu den unterschiedlichen Relevanzen, die im Forschungsprozess formuliert und gesetzt werden? Ein Beispiel: Als Kehrseite einer digitalen Kindheit, die zunehmend im Modus des Zeigens stattfindet, wird gleichermaßen die Rezeption dessen, was sich zeigen lässt, relevant. Über ein beobachtendes bildgebendes Verfahren können selbst subtile, nonverbale bis hin zu passiven Praktiken sichtbar gemacht werden, also auch Praktiken der Rezeption. Dies spiegelt sich in einigen Titeln kamera-ethnographischer Forschungsfilme wieder, die etwa Kinderpublikum, (Mohn und Wartemann 2009), Kinder als Beobachter oder Zeit zum Gucken (Mohn und Hebenstreit-Müller 2007) heißen.

Abbildung 5:

Face to Face – Face to Screen. Standbild aus der Installation: Astrid Vogelpohl, Pip Hare und Bina E. Mohn (2018)

Als Teil der Dreikanal-Videoinstallation Face to Face – Face to Screen (Vogelpohl et. al 2018) wurden drei Szenen nebeneinander angeordnet (in Abb. 5 als Standbild): Kinder beim Gucken gegenüber Displays. Das jeweilige Gegenüber

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der Kinder ist in den gewählten Kameraeinstellungen nicht sichtbar und dreimal ein je anderes. Dies stellt zunächst das Forschungsteam und später die Betrachtenden der Dreikanal-Videoinstallation vor die Aufgabe, genau hinzuschauen und danach zu fragen, inwiefern sich in den mimischen und gestischen Äußerungen der Kinder die jeweilige Situierung der beobachteten Praktiken zu erkennen gibt. Das ‚Gucken‘ findet mal gegenüber dem Display eines Laptops statt, auf dem ein Film der Ethnographin läuft, den sie am Esstisch der Familie vorführt und in dem das Kind sich, seinen Vater und kürzlich durchgeführte Tätigkeiten wiederentdecken kann (links); mal gegenüber dem umgeklappten Kameradisplay der Ethnographin, das im Livekameramodus zum digitalen Spiegel wird und dem Kind anbietet, sich selbst zu inszenieren und dabei zu beobachten (Mitte); und mal gegenüber dem Monitor eines älteren Computers, auf dem ein YouTube Video läuft, der beim Finger- und Fußnägel Schneiden die Aufmerksamkeit des Kindes zu fesseln vermag (rechts). Durch soziotechnische medienethnographische Praktiken lassen sich situierte soziotechnische Medienpraktiken – hier des Guckens gegenüber Displays und Monitoren – aneinander bemerken, unterscheiden und entdecken. Unter anderen Gesichtspunkten zerlegt, entstehen auch andere audiovisuelle Versuchsanordnungen und ermöglichen es dann, weitere Themen und Aspekte zu beobachten. Die im Forschungsprozess situierten Fragen und Fokussierungsentscheidungen – wie ‚Praktiken des Guckens vor Displays‘ oder ‚Praktiken mit Papieren gegenüber digitalen Geräten‘ – setzen Relevanzen beim Zerlegen der audiovisuellen Materialien durch digitalen Schnitt. Will man eine Spur hervorheben, ist man gezwungen, eine andere zu verwischen. (Rheinberger 2001, S. 119) Ein weiteres Beispiel:

Abbildung 6:

Face to Face – Face to Screen. Standbild aus der Installation: Astrid Vogelpohl, Pip Hare und Bina E. Mohn (2018)

An den Rändern und Übergängen digitaler und anderer medialer Praktiken werden z.B. Papiere zum Nebenbuhler und Mitspieler in der digitalen Kindheit. Papier lässt sich mobilisieren und umformen, während parallel dazu Laptops und Smartphones benutzt oder aus der Hand gelegt werden. Medialität und Materialität werden aneinander erfahrbar, wenn – wie in den laufenden Filmsequenzen zu sehen – papiernes Material und digitale Geräte zusammenhängend im Einsatz sind. Eine

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Küchenrolle wird auseinander genommen und das Smartphone beiseite gelegt; Umschläge werden in kleine Stücke gerissen und der am Smartphone spielenden, halb ‚abwesenden‘ Schwester schließlich als eine Handvoll Papierfetzen über den Kopf gestreut; die am Laptop arbeitende Mutter tauscht ein Papier, was ihr Kind gerade bearbeitet und mit dem Mund untersucht, gegen einen weniger verformbaren Stift aus. Im Nebeneinander der Filmfragmente wird vergleichend beobachtbar und somit unterscheidbar, wie digitale Geräte, andere Dinge und Materialien konkurrieren oder zusammenspielen und wie sie dabei gelegentlich auch (noch) nicht als analog versus digital unterschieden werden. Unterscheidbarkeit wird durch eine Kombination aus Zerlegen und Zusammensetzen hervorgebracht. Dies leitet zum analytischen Potential der Praktiken des Verbindens über. 3

Verbinden Nahtstellen sind einerseits die Grenzlinien, entlang derer sich die Gegenstände der Wissenschaft abzeichnen. Sind aber auch die sichtbaren Zeichen einer Verletzung. Nähte sind Linien, entlang derer man Zergliederungen versucht hat, und zugleich sind sie die nie verschwindenden Spuren ihres Fehlschlags. Sie Leben vom Versäumen im doppelten Sinn dieses Wortes, den man schon nicht mehr vernimmt: etwas zusammenfügen und etwas verpassen. (Rheinberger 2001, S. 247)

Etwas verbinden zu können setzt noch nicht Verbundenes doch Geformtes voraus. Seit einigen Jahren experimentieren wir mit kurzen und kürzesten Formen (wie Standbildern, audiovisuellen Fragmenten und filmischen Miniaturen). Dazu angeregt haben uns Kluge (2012), der den „Minutenfilm“ für eine zeitgemäße filmische Form hält, aus der sich stundenlange Arrangements bauen lassen, sowie Farocki (siehe 2012-2017), der in seinen Installationen die „weiche Montage/Quermontage“ systematisch erprobt hat. Zudem besteht ein Zusammenhang zu der Frage, wie ein ethnographisches Forschen darauf reagieren kann, dass die alltäglichen Formate digitalisierter Kommunikation zunehmend kürzer und bildhafter werden. Besondere Längen könnten als ‚Formate gegen den Strich‘ eine der möglichen Anknüpfungen sein oder aber besonders kompakte performative Formate. Kurze Formen als Bausteine analytischer Arrangements Die kurze Form ermöglicht forschungsspezifische Medien- und Datenpraktiken und stellt sich als kooperatives Format heraus: Im Rahmen der kollaborativen Kamera-Ethnographie, so wie wir sie im Projekt Frühe Kindheit und Smartphone bislang durchführen konnten, generieren die ethnographischen Filmautor*innen aus ihren jeweiligen Kamerabeobachtungen audiovisuelle Fragmente, Standbilder

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und filmische Miniaturen, in denen Praktiken und Bündel an Praktiken beobachtbar werden. Sie werden zu Bausteinen, lassen sich zusammentragen und in einem experimentellen Prozess ordnen, zerlegen und verknüpfen. Dies setzt nicht die Ergebnisse von Analysen um, sondern hierbei entsteht erst das, was wir eine (audio-)visuelle Analytik nennen können, die sich an, in und insbesondere zwischen den filmischen Bildern abspielt. Im zeitlichen Nacheinander oder im räumlichen Nebeneinander (als Installation oder webbasierte Sortierungen) lassen sich auf diese Weise Kontraste und Vergleiche, Unterscheidungen und Zusammenhänge wechselseitig hervorbringen und entdecken. Ein solches arrangierendes, statt ableitendes Forschen hat Potentiale im Sinne des „Sprachspiel Ansatzes“ und der „übersichtlichen Darstellung“ (nach Wittgenstein 1989/1993). Im Rahmen der Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital (Wiesemann et al. 2018–2019)6 haben wir unterschiedliche Anordnungen und Rhythmen des Neben- und Nacheinanders von Filmfragmenten systematisch durchgespielt und öffentlich gezeigt: eine framegenau synchronisierte Choreografie von Filmfragmenten als Dreikanal-Videoinstallation auf Leinwänden; eine Zweikanal-Videoinstallation auf Monitoren, mit versetzten Loops, durch die sich kontinuierlich neue Zusammenstellungen ergeben; sowie als interaktive Videoinstallation auf Tablets, die das Publikum selbst bedienen kann, das Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital. Von Filmfragment zu Filmfragment, nacheinander und nebeneinander angeordnet, sehen aufmerksame Betrachter*innen ihre soeben gewonnenen Erkenntnisse stets wieder mit einer weiteren Variation, einem neuen Aspekt konfrontiert. Dies ruft ein vergleichendes, kombinierendes Hinschauen und ein Zusammensehen hervor, ausgehend von Phänomenen und Praktiken, die selbst erst in einem solchen Prozess sichtbar werden. Wordless Language Games Wittgenstein hat nach Pichler seit 1936 eine Wende „vom Buch zum Album“ (Pichler 2004, S. 142) vollzogen, bei der das Buch fragmentiert wird und eine neue, mehrstimmige Art von Buchschreiben und Denken entsteht. Mit dem Format Wordless Language Game entwickeln wir ein kamera-ethnographisches Forschungsformat, das auf einen solchen arrangierenden Erkenntnisstil Bezug nimmt und damit experimentiert, die Idee „übersichtlicher Darstellungen“ (nach Wittgenstein) auf audiovisuelle Fragmente und ihre Verknüpfung zu offenen Netzen zu 6

„Das bis du!“ Frühe Kindheit digital ist der Titel einer Ausstellung des Forschungsprojekts Frühe Kindheit und Smartphone (Jutta Wiesemann) im Sonderforschungsbereich Medien der Kooperation (Universität Siegen), mit Video-Installationen von Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. Erstmals gezeigt: 27.09.2018 bis 06.01.2019 im Siegerlandmuseum, Siegen.

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übertragen.7 Dies schließt an Überlegungen von Griesecke an, die sich anhand der Philosophischen Untersuchungen (1949–1950) des späten Wittgenstein mit Theorien der Beschreibung befasst: Die Synopse, die Wittgenstein so sehr schätzt, wenn sie nicht als abgehobene Überschau, sondern als eine an den Kurs des Konkreten gebundene und nicht stillgestellte Ordnung sich entfaltet, impliziert keine Subsumtionsbewegung; die ganz „unspenglerische“ Ermahnung Wittgensteins lautet: „Nimm nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Unvergleichbarkeit als selbstverständlich hin.“ (VB:555) Und gerade jene eigentümlichen Zwischenglieder sind es, die die ‚übersichtliche‘ Darstellung in Bewegung halten, da sie ‚Übersicht‘ im Aufweisen der ‚Übergänge‘ zwischen den Kulturen herstellen, nicht im beschaulichen Panorama über die Kulturen hinweg. (Griesecke 2001, S. 72) Auch Praktiken, zu denen die Worte (noch) fehlen, lassen sich kreuz und quer vergleichend untersuchen, so unsere Überlegung. Dies bedeutet, „Sprachspiele“ (nach Wittgenstein 1989-1993) vom Nichtgesagten aus anzugehen und dennoch begrifflich zu bearbeiten. Bei einer ersten öffentlichen Umsetzung dieses Formats, dem Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital, haben die Autorinnen (Mohn, Hare und Vogelpohl 2018) den Ausstellungsbesucher*innen 178 Filmfragmente auf Tablets angeboten, die nach 22 Verben (Praktiken) und darüber hinaus nach 13 Substantiven (Medien) gefiltert und sortiert werden konnten. So lassen sich die filmisch beobachteten Medienpraktiken in der frühen Kindheit mit wechselnden Begriffen ‚schneiden‘ und an diesen Schnittstellen kann verglichen, hingeschaut, unterschieden und Zusammenhang erwogen werden. Ein solches ‚Sprachspiel ohne (passende) Worte‘ wird zum Instrument der Forschenden wie auch eines forschenden Publikums. Die vorgegebenen Begriffe haben Werkzeugcharakter und erweisen sich in Bezug auf die beobachtbaren meist nonverbalen Praktiken als unscharf, weiter zu bestimmen und an den Rändern der ihnen zugeordneten Szenen sogar in Auflösung begriffen. Es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle dasselbe Wort verwenden, sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. (Wittgenstein PU §65) Interessiere ich mich für mögliche Zusammenhänge von digitalen Medienpraktiken und Emotion, dann kann ich z.B. „lachen“ oder „weinen“ auswählen. Ich entscheide mich für „weinen“ und mir wird daraufhin ein Ensemble von 16 filmischen Miniaturen angeboten. Über den zweiten Filter kann ich die audiovisuellen Fragmente auch nach Medien sortieren und stelle fest: an sieben der 16 Szenen ist ein Smartphone beteiligt, an weiteren vier Szenen ein Tablet und an den restlichen zweimal ein Fernsehgerät. Was gibt es dabei zu hören und zu sehen und wie hängt all das miteinander zusammen oder auch nicht? Schnell geht es dabei 7

Siehe hierzu auch Mohn et. al. 2019; Mohn 2019; sowie unter der Bezeichnung Werkstatt Wittgenstein wortlos Mohn 2013.

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nicht zu, sich etwa eine Minute lang dies, 40 Sekunden das und dann 1 Minute 35 Sekunden jenes in aller Ruhe anzuschauen. *** Auf einem Smartphone läuft Musik. Taavi liegt auf derselben Decke wie das Smartphone. Er ist 5 Monate alt und hört ruhig zu. Als seine Mutter die Musik stoppt dauert es nicht lange, bis er selber Töne von sich gibt, die sich allmählich vom Knötern zum Quengeln steigern und dabei mehr und mehr einem Weinen nähern. „Soll ich wieder anmachen?“, fragt seine Mutter und schaltet die Musik auf dem Smartphone ein, woraufhin sich im Handumdrehen wieder ein zufriedenes Kind zeigt. Dieses Minutenfragment ist unter den Suchbegriffen „(nicht) wollen“, „hören“ und „weinen“ auffindbar, Begriffe, die zusammen gesehen hier auf eine spezifische Bündelung an Praktiken hinweisen. *** Als größere Schwester darf Alva (dreieinhalb Jahre) auf dem Smartphone einen Film gucken. „EINEN Film, dann ist Schluss“, erlaubt ihr der Vater, der sich währenddessen mit der kleineren Schwester beschäftigt. Danach beendet er den Gebrauch des Smartphones und versteckt das Gerät vor den Kindern. Alva heult auf, mit in den Nacken geworfenem Kopf, wie ein Wolf um Mitternacht bei Vollmond. „Jetzt ist Schluss, das ist Heulen ohne Grund“, kommentiert ihr Vater. In einer ähnlichen Szene wirft Alva sich auf den Boden, schmollt mit den Lippen, heult wieder wolfsähnlich auf und stampft mit dem Fuß, nach dem das Smartphone in die Hosentasche des Vaters hinein verschwunden ist. *** Bei ihren energischen Versuchen, an das von Mutter und größerer Schwester geteilte Smartphone zu kommen, fiept, quietscht und quengelt Nauka, die kleinere Schwester (eineinhalb Jahre) und sekundenweise steigert sich das zu einem Wutund Protestheulen. *** Im Blickfeld der Kamera drei Geschwisterkinder und ihre Mutter, alle auf einem Sofa sitzend. Weitere Personen sind an der Szene beteiligt, wie auf der Tonspur zu hören ist (ein viertes Kind, der Vater, ein Dolmetscher). Zubei (18 Monate) sitzt auf dem Schoß der Mutter und hält ein Smartphone fest in seinen Händen, während Bisan (zweieinhalb Jahre) als mittlere der Geschwister, zwei Versuche startet, es

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ihm abzunehmen. Während die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten, tobt unter den beiden Geschwistern ein Kampf, bei dem letztendlich Körperkraft über den Ausgang entscheidet. Begleitet wird dieser Vorgang von etwas, was wir „weinen“ zugeordnet haben, einem Begriff der sich bei näherem Hinschauen in andere Bezeichnungen verwandelt, damit dann seinen Zweck erfüllt hat und überflüssig wird. Der erste Übernahmeanlauf von Bisan wird von Zubei mit protestartigem Kreischen beantwortet. Er schlägt Alarm und seine Abwehr gelingt auch, da seine Mutter, die sich im Gespräch befindet, nebenbei kurz regelnd eingreift. Im zweiten Anlauf jedoch lassen die Erwachsenen die Kinder gewähren und trotz verzweifeltem Aufschreien und Klagen bis hin zu schmerzlichem Heulen des Kleineren gelingt Bisan die Entwendung des Geräts, an das sie in anderen Situationen gegenüber ihren beiden größeren Geschwistern selbst nicht heran gelassen wird. Zubei, in den Armen seiner Mutter getröstet, bleibt die Option, sich untröstlich zu zeigen. *** Es gibt auch solches „Weinen“, bei dem sich Zuschauen und Filmen verbieten. Carl (eineinhalb Jahre) hat sich beim Spielen mit einer Papprolle an der Lippe verletzt und er weint schmerzlich auf eine Weise, dass ich die Kamera abschalte. All dies passiert während eines Videotelefonats mit seiner Oma, der er – und mir vielleicht auch – sein Spiel mit der Papprolle vorführte. Auf dem Schoß seiner Mutter lässt Carl sich trösten – auch durch seine Oma, die ihm vom Tablet aus „Heidschi bumbeidschi“ vorsingt. Wer trösten kann muss wohl anwesend sein. Auffällig oft erscheint „weinen“ in „practice-arrangement bundles“ (Schatzki 2011, S. 3) zusammen mit „(nicht) wollen“, „aushandeln“ und/oder „beenden“ sowie einem Smartphone oder Tablet. Mal geht es darum, das digitale Gerät in die Hand zu bekommen oder es nicht hergeben zu wollen, mal darum, seinen Gebrauch noch nicht beenden zu müssen. Dabei kann sich „weinen“ unterschiedlich anhören und Verschiedenes bedeuten: fiepen und quietschen, quengeln, knötern, heulen, jammern, klagen, kreischen und aufschreien. Auch die spezifische Bündelung gibt Auskunft darüber, wie Praktiken gerade situiert sind. Dies regt dazu an, abzuzweigen und z.B. an der Schnittstelle eines weiteren, naheliegenden Begriffs, wie „beenden“ oder „aushandeln“, die Erkundung fortzusetzen. Ein Smartphone durch Körperkraft an sich zu bringen stellt dann eine der Varianten des Ensembles zum Begriff „aushandeln“ dar, an der die Frage aufkommen mag, ob damit eine Grenze des untersuchten Sprachspiels erreicht oder schon überschritten ist. Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Wittgenstein PU §68) Das Wordless Language Game ist ein nicht enden wollendes weites ‚Spielfeld‘. Von Filmfragment zu Filmfragment stellen sich die beobachtbaren Praktiken

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und Bündel an Praktiken immer wieder neu und ein wenig anders dar. Weitere Zusammenhänge sind zu entdecken, z.B. wenn eine neue Wahl getroffen und „lachen“ statt „weinen“ Gegenstand der Betrachtung wird oder wenn neben dem digitalen Gerät in einigen Fällen auch die Ethnographin als Medium herausgefiltert werden kann. *** Carl will der Ethnographin (mir) – auf Anregung seiner Mutter – ein kurzes Familienvideo auf dem Smartphone zeigen, auf dem er wiederum mit seiner Oma am Videotelefonieren ist. Im nächsten Moment erscheint er selbst wie in die Videoszene eingetaucht und es ist nicht mehr zu erkennen, ob er mir gerade etwas zeigt. Er betrachtet eine Szene, in der er mehrfach hellauf lacht und dieses mediale Lachen bringt ihn lauthals zum Auflachen: „Mit sich lachen“ nennen wir schließlich diese Filmminiatur und ordnen sie dem Kanon an Szenen zu, in denen Kinder sich selbst beim Aufwachsen zusehen. So bietet eine digitale Kindheit den Kindern neue soziotechnische Praktiken des Verbindens an. Erlebbare, medial gefasste Ereignisse lassen sich übereinanderstapeln und vielleicht auch auftürmen, bis sie umkippen. *** Ein „Wordless Language Game“ zu erstellen und daran zu arbeiten, fordert nicht allein zum Experimentieren und Hinschauen, sondern auch zum Reden und Schreiben heraus; differenzierende Wortfindungsprozesse kommen in Gang, bei denen es herauszufinden gilt, wie beobachtbare Praktiken hier und jetzt was genau sind und wie sich dieselbe Frage dann und dort wohl beantworten lassen würde. Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele. Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muss ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ‚unterhaltend‘? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren? Oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft

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und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. (Wittgenstein, PU §66) Als weiterhin auszubauende Perspektive bedeutet das Format Wordless Language Game ein fragmentarisches ethnographisches Arbeiten zu ausgewählten Praktiken und ihren Aspekten und dies in extrem weit gespannten bis hin zu imaginären Zusammenhängen einer radikalen Kontrastierung, was ein Zusammenwirken in Forschungskollektiven und interdisziplinären Forschungsverbünden nahe legt. Dies umzusetzen eröffnet eine erweitere Perspektive (kamera-)ethnographischen Forschens und interdisziplinärer Kollaboration, mit verfeinerten Minimalund zugespitzten Maximalkontrasten, etwa durch eine vergleichende Einbeziehung von Praktiken (desselben Sprachspiels) in verschiedenen Altersgruppen, Berufsfeldern, Technologien, Klimazonen, Lebenswelten oder Epochen. In Abb. 7 und 8 z.B. werden Blickdreiecke aufeinander bezogen, die aus ganz unterschiedlich situierten Zusammenhängen stammen.

Abbildung 7:

Autoradiographie entziffern im Labor. Videostandbild: Bina E. Mohn (1993)

Abbildung 8:

Selfie machen am Küchentisch. Videostandbild: Bina E. Mohn (2016)

Situierte Praktiken – hier und jetzt – werden zu anders situierten Praktiken – dann und dort – in Bezug gesetzt. Maximal unterschiedlich kontrastiert leitet dies ein Forschen an, was von Situation zu Situation springt und dabei einer weiteren Maxime Wittgensteins folgt, die darin besteht, stets zu fragen: Wie könnte es noch sein? Wordless Language Games zielen nicht auf die Rekonstruktion einer Situation und ihrer Ordnung. Als ein ordnendes Verfahren machen sie anstelle von Situationen und ihren Praktiken, Praktiken und ihre Situierung zum Gegenstand.

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Dabei werden mikro-ethnographische Beobachtungsfragmente in makro-ethnographische Möglichkeitsräume versetzt. 4

Teilen The empirical study of practices may be approached from different angles and with different knowledge interests, and consequently practice as a knowledge object is multiple and fluid. Knowledge objects are characterized by their question-generating character, and they can never be fully attained since – as Knorr-Cetina (2001: 190) writes: ‘epistemic objects are always in the process of being materially defined, they continually acquire new properties and change the one they have’. (Gherardi 2019, S. 8)

Über Videotelefonate ein Zusammensein miteinander zu teilen, gehört zum Alltag vieler Kinder. Familienmitglieder und Freunde werden ein- und ausgeschaltet, anund abwesend gemacht, begrüßt und wieder verabschiedet, auch wenn sie denselben physischen Ort dabei nicht betreten haben. Kinder sind dann mit einer Form des Miteinanders konfrontiert, bei dem Dinge nicht hin- und hergereicht und Körper nicht berührt werden können. Großeltern nehmen nicht auf einem Sessel im Wohnzimmer Platz, sondern erscheinen bild- und tonförmig auf dem Display des Smartphones oder Tablets, was durch Eltern navigiert und zum Kind hin ausgerichtet wird, wie in dieser Szene (Abb. 9 und 10): Carl (zweieinhalb Jahre) lädt Bauklötzer auf einen Anhänger, den er direkt zu seiner Oma schiebt, die ihm in Form eines Gesichts auf dem Tablet zuschaut und mit ihm spricht. Seine Mutter hilft bei der Navigation der medialen Sichtfelder. Als sie versucht, der Oma freie Sicht zu verschaffen und das Tablet woanders platziert, gerät der Spielaufbau des Kindes und seine ganz konkrete Bezugnahme auf die Oma, der er etwas regelrecht vor die Augen führt, aus den Fugen. Das Problem der Sichtbarkeit zu managen wird zur Herausforderung für alle Beteiligten und eine Krise entsteht (bei der auch kurz geweint wird). Sie lässt sich auf der akustischen Ebene wieder auffangen: Durch vertraute Laut- und Wortspiele zwischen Carl und seiner Oma entstehen geteilte Momente der Nähe und Verbindung: Sie rufen sich abwechselnd „oh là là – bolala – trullala“ zu und haben Spaß.8

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Die beschriebene Szene stammt aus der Filmminiatur Oh la la (Mohn) auf der DVD Face to Face – Face to Screen (Hare et. al 2019). In anderen Zuschnitten sind Fragmente derselben Szene auch im Rahmen des Wordless Language Game 01 (Mohn et. al 2018) zu sehen und verweisen dort auf Praktiken in ihren unterschiedlichen Bündelungen.

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Abbildung 9:

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Digitales Teilen. Videostandbild: Bina E. Mohn (2018)

Nach dem Abschied verweilt Carl noch einen Moment, seinen Fuß auf ‚Tuchfühlung‘ mit dem glatten, kühlen, nun schwarzen und schweigenden Display (Abb. 10). Zu sehen ist dies allerdings nur, da die Kamera-Ethnographin das Beenden der Skype Verbindung nicht als Signal zum Ausschalten der Kamera interpretiert. Übergänge beobachten zu wollen ist im Forschungsprozess situiert und der setzt eigene Relevanzen. Ob sich durch eine solche ‚verrückte‘ Situationsteilnahme durch Ethnograph*innen dann etwas ergibt, ist nicht gewiss, doch hier wurde ein sinnliches ‚Nachspüren‘ der Begegnung von Carl und seiner Oma deutlich.

Abbildung 10: Nachspüren. Videostandbild: Bina E. Mohn (2018) Neben dem Videotelefonieren sind Selfie Machen, Fotografieren, Filmen und das elektronische und physische Teilen medialer Repräsentationen sicherlich die vorherrschenden Medien- und Datenpraktiken in der frühen Kindheit. Wir konnten bislang beobachten, wie nicht allein über die Orte hinweg, sondern auch durch die

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Zeiten hindurch an Familienvideos gemeinsam Erinnerung konstituiert, Identitätsarbeit geleistet und zugleich Medienerfahrung gewonnen wird (siehe die filmischen Miniaturen und Kurztexte Videobeweis (Vogelpohl) und Fotos geh’n nicht an (Mohn) in Hare et al. 2019). Durch Filmvorführungen mit Diskussion, Video-DVDs, begehbare Medieninstallationen im Rahmen von Ausstellungen, webbasierte Plattformen oder auch anhand von Bildfolgen in elektronischen und Printmedien lassen sich Ergebnisse einer zeigenden Ethnographie veröffentlichen und nutzen. In Räumen aufgebaute Installationen bieten dem Publikum eine besondere Möglichkeit, beim Umhergehen, Stehenbleiben und Weiterziehen unterschiedliche Positionen und Blickwinkel zu den Video-Projektionen einzunehmen. Der Ausstellungsraum kann, anders als die Kinoleinwand, zwei Bilder so anordnen, dass sich der Zuschauer in unterschiedliche Verhältnisse zum Gezeigten bringt und das Dreieck zwischen den beiden Bildern und ihm selbst variabel ‚montiert‘. (Pantenburg 2006, S. 170). Wir verstehen kamera-ethnographische Publikationen als analytische Blickund Bildangebote, die sich beim öffentlichen Teilen in strukturierten Wahrnehmungsräumen noch weiteren Blicken, Blickstilen und Blickdifferenzen aussetzen (siehe auch Hare in diesem Band). Forschende Rezeption Ethnographische Forschungsergebnisse manifestieren sich nicht allein in Form von Texten, Büchern, Filmen oder Videoinstallationen, sondern sie werden in soziale Rezeptionsereignisse überführt. Dies bringt situierte Lesarten und Sichtweisen hervor, in denen Leser*innen von Texten bzw. das Publikum von Filmvorführungen oder Besucher*innen einer Ausstellung zu Co-Autor*innen ethnographischer Ergebnisse und die Ethnograph*innen wiederum zu Co-Rezipient*innen ihrer eigenen Werke werden (siehe Hausendorf et al. 2017; Mersch 2002, Pantenburg 2006). An der performativen Realisierung von Resultaten gibt es daher ergebnisoffene Anteile, geplant aber nicht planbar (Mersch 1997). Impliziert ist auf diese Weise eine strukturelle Differenz zwischen Konzeption und Geschehnis. Sie löst jene konstitutiven Dichotomien auf, die Kunst seit je beherrschten und die noch bis zur klassischen Avantgarde gültig blieben: Trennung zwischen Produktion und Rezeption, zwischen Künstler und Publikum, zwischen dem „Werk“ und seiner Deutung. Es waren diese Distinktionen, die Kunst von Nicht-Kunst schieden und dem „Werk“ seine Identität sicherten. Sie werden mit der Kunst des Performativen hinfällig. Das Ereignis derangiert sie. Nicht der Künstler schafft, sondern das Ereignis gewinnt seine Manifestation jenseits aller Autorschaft. (Mersch 2002, S. 235)

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Dies trifft nicht allein auf Kunstschaffende, ihre Werke und eine Kunst des Performativen zu, es lässt sich auf den Ereignischarakter ethnographischer Text-, Bild- und Filmkommunikation übertragen. Die Trennung zwischen einem Ergebnis (Werk) und seiner Rezeption löst sich latent auf und dies legt nahe, die Rezeptionsereignisse konzeptionell mit in den Forschungsprozess zu integrieren – etwa in Form öffentlicher Blicklaboratorien, über die eine forschende Rezeption gestaltet und gesteigert werden kann. Wenn wir Forschungsprozesse in Phasen9 unterteilen, dann befinden sich Ausstellungsbesucher*innen in einer Phase „forschender Rezeption“ (Mohn 2019, S. 16). Performative Formate, wie Videoinstallationen oder Wordless Language Games, sind ausgesprochen geeignet, Publikum bzw. Nutzer*innen in eine forschende Haltung zu versetzen: Beim Umhergehen in Ausstellungsräumen oder Aufrufen fokussierter Filme und Filmensembles, beim Hin- oder Wegschauen, Weiterziehen und Zurückkehren, Lauschen, Innehalten und Empfinden, Vergleichen, Unterscheiden und Zusammensetzen, beim Beobachten, Benennen und Fragen, Schreiben und Kommunizieren nehmen sie selbst daran teil, ethnographisches Wissen in Erfahrung zu bringen und zu teilen.

Abbildung 11: Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital. Bina Mohn, Pip Hare und Astrid Vogelpohl (2018) 9

Anstelle eines 2-Phasen-Modells (Aufzeichnung versus Interpretation) richtet die Kamera-Ethnographie 6 Phasen kamera-ethnographischer Blickarbeit ein (Mohn 2019, S. 6) und macht die unterschiedliche Situierung dieser Phasen zur Grundlage einer „situierten Methodologie“ (Mohn 2013, S. 186).

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Abbildung 12: Ausstellungsbesucherinnen am Wordless Language Game 01. Foto: Pip Hare (2018) Ethnographische Wissensprozesse und gesellschaftliche Diskurse lassen sich auf diese Weise zusammenführen. Kappelhoff und Wedel sehen im Medium Film und seiner Rezeption eine besondere Chance des Teilens: Filme bilden nicht die Wirklichkeit ab, die uns umgibt – nicht die Welt, wie sie ›wirklich‹ ist, und nicht die Art und Weise, in der sie ›dem‹ Menschen ein für alle Mal gegeben ist. Sie sind vielmehr Medien, die es einer nicht zu definierenden Vielzahl aller möglichen Menschen erlaubt, eine gemeinsame Welt, ein geteiltes Empfinden für die gemeinschaftliche Welt herzustellen. Filmische Bilder sind also Medien der Herstellung eines sinnlich-physischen Erlebens der Welt, das von höchst verschiedenen Leuten mit höchst unterschiedlichen Erfahrungshorizonten, Begehrlichkeiten und Absichten geteilt, das zwischen ihnen aufgeteilt und mitgeteilt wird, um so das Gefühl für eine gemeinschaftliche Welt entstehen zu lassen. (Kappellhoff und Wedel 2015) Wo geforscht und gelernt, identifiziert und erkannt wird, im Familienalltag wie im Forschungsalltag und seinen öffentlichen Ereignissen, finden Praktiken des Unterscheidens und Verbindens statt. Als soziale Praktiken sind sie stets geteilte Praktiken; durch digitale Infrastrukturen und zeigende Formate erscheint dieses Teilen jedoch quantitativ (überall und jederzeit) gesteigert und dabei qualitativ (latent mehr Zeigen als Berühren) in neue Körperverhältnisse integriert. 5

Fazit

Im Rahmen von „Sprachspielen“ (nach Wittgenstein) lassen sich Praktiken aneinander unterscheiden und im Versuch ihrer „übersichtlichen Darstellung“ (ebd.)

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entdeckend konstituieren. Dabei können Sprachspiele als „Apparaturen“ (im Sinne von Barad 2012) betrachtet werden, die in die wechselseitige Hervorbringung von Phänomenen und Wissensaspekten konstruktiv eingreifen. Apparate produzieren Unterschiede, die von Belang sind – sie sind Grenzen herstellende Praktiken, die sowohl Materie als Bedeutung formen und die produzierten Phänomene herstellen, deren Teil sie sind. (Barad 2012, S. 31) Als reflexive Forschungspragmatik nutzt die Kamera-Ethnographie Resonanzen, Differenzen und deren Verwicklungen im Sinne einer performativen Analytik, die sich aus dem Generieren von Beobachtbarkeit, Unterscheidbarkeit und dem Erproben möglicher Zusammenhänge ergibt. Im (Unter)-Bewusstsein der eigenen (zeigenden) Medien und Praktiken, Reflexivitäts- und Positionierungsbemühungen können schließlich auch auf der Gegenstandsebene ethnographischen Forschens Medienpraktiken des Zeigens in der frühen Kindheit und digitale Kindheiten als reflexive Kindheiten bemerkt, unterschieden, verbunden, entdeckt, öffentlich geteilt und in sich stets ändernden Fassungen hervorgebracht werden. Die im Forschungsfeld der digitalen Kindheit situierten Praktiken werden durch situierte Praktiken der Forschenden erkundet und dabei bezieht sich die jeweilige Situierung nicht (nur) auf ein und dasselbe. Mal sind unterscheiden, verbinden und teilen in einem Forschungs- und Entdeckungszusammenhang situiert, stellen sich als epistemische Praktiken heraus und betreiben eine Entfernung von bislang Gewusstem; mal sind sie in anderen alltäglichen Kontexten situiert, hängen mit pragmatischer Alltagsbewältigung, Dokumentation, Identität, Erinnerung oder noch Anderem zusammen. Die Medien und Praktiken der einen und anderen Situierung sind nicht miteinander identisch, da das, was durch sie hervorgebracht wird, es definitiv auch nicht ist. Miteinander verwandt und doch nicht dieselben zu sein, macht die Begriffe/Phänomene/Praktiken eines Sprachspiels aus. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘: denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie. (Wittgenstein, PU §67) Auch forschen, zeigen, entdecken und wissen bilden „Familien“. Eine Situierung von Praktiken im Forschungs- und Entdeckungszusammenhang ist nicht den Universitäten vorbehalten. Selbst (oder gerade) in der frühen Kindheit können unterscheiden, verbinden und teilen mit Versuch und Irrtum, Zufall und Experiment zu tun haben und sich als epistemische Praktiken erweisen. Es bleibt stets zu prüfen, inwiefern beobachtbare Praktiken und die Bündelungen, in denen sie auftreten, einem Sprachspiel Forschen und Entdecken zugeordnet werden können. Das in der Kamera-Ethnographie erprobte arrangierende Verfahren (nach Wittgenstein) bietet sich auch diesbezüglich an, Ähnlichkeiten, Verwandtschaftsgrade und

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Unterscheiden, verbinden und teilen

Zwischenglieder auszuloten und so die Grenzen vorläufiger Begriffe und der darunter zu verstehenden Praktiken aneinander herauszufinden und sie dabei ‚als etwas‘ (neu) zu entdecken. Anhand des Begriffs „erkunden“ (siehe Hare et. al. 2019, S. 37) haben wir hierfür bereits eine Schnittstelle eingerichtet, an der situierte (forschende) Lernpraktiken durch situierte (lernende) Forschungspraktiken weiter untersucht werden können. Der Mond Swedenborgs ist etwas anderes als der Mond Maxwells, sein Himmel und sein Gott haben weder bei Bergson noch bei Maxwell Entsprechungen. Sein Erkennen, d.h. zu enträtseln, was ein gewisser Gegenstand 'bedeutet', ist etwas anderes als das Erkennen Bergsons, d.h. sich in diesen Gegenstand einzufühlen, oder das Erkennen Maxwells, d.h. ihn zu vermessen. (Fleck 1983, S. 90)

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„Willst du mit gucken?“ Intervenieren – arrangieren – etwas sichtbar machen „Willst du mit gucken?“

Astrid Vogelpohl

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Einleitung

Am Beispiel meiner filmischen Beobachtung Takeover-Marathon1, (Vogelpohl 2019), die im Rahmen des Forschungsprojekts Frühe Kindheit und Smartphone2 entstanden ist, möchte ich in diesem Beitrag der Bedeutung von Interventionen in verabredeten Beobachtungssituationen nachgehen. Ich werde versuchen, entlang der Spur der Interventionen Schnittstellen aufzuspüren, an denen Methode und Forschungsgegenstand sich gegenseitig inspirieren und hervorbringen. Takeover Marathon ist im Rahmen der kollaborativen Kameraethnographie zusammen mit Bina E. Mohn und Pip Hare entstanden (siehe Hare und Mohn in diesem Band) und basiert auf Beobachtungen in einer Familie, die ich regelmäßig mit der Kamera besuche. Ausgangspunkt für den folgenden Beitrag ist die Annahme, dass meine Anwesenheit in der Familie meine Beobachtungen und die Analysen notwendigerweise mit konstituieren. Im Kontext ethnographischer Forschung ist das zunächst nichts Besonderes. Es ist der erkenntnistheoretische Kern teilnehmender Beobachtung, die Anwesenheit der Forscherin nicht als methodisches Problem zu betrachten, sondern im Gegenteil, diese Anwesenheit produktiv zu nutzen (vgl. Wiesemann 2010, S. 143). Trotzdem werden Film- und Videoaufnahmen nach wie vor oft für realistische Abbilder gehalten. Mohn (2013) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nicht möglich ist, Situationen ab zu filmen, sondern dass es vielmehr darum geht, in Situationen Beobachtungen durchzuführen und ein positioniertes dichtes Zeigen zu entwickeln. Der Forschungsprozess ist charakteri1

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Ich beziehe mich in diesem Text auf die 6:33 Min. Schnittversion des Takeover-Marathon, die auf der DVD mit Buch Face to Face – Face to Screen 2019 veröffentlicht wurde. Material von diesem Forschungstermin findet sich auch in der Dreikanal-Videoinstallation Face to Face – Face to Screen, sowie im Wordless Language Game 01- Frühe Kindheit digital, einer interaktiven Sortierung auf Tablets. Forschungsprojekt Frühe Kindheit und Smartphone. Familiäre Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation (Jutta Wiesemann). Das Projekt ist Teilprojekt B05 des SFB 1187 Medien der Kooperation (Universität Siegen). Siehe: https://www.mediacoop.uni-siegen.de/de/projekte/ b05/. Gefördert wird dieses Projekt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – SFB 1187 „Medien der Kooperation“.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_10

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„Willst du mit gucken?“

siert durch mediale Praktiken der Herstellung von Sichtbarkeit eines Forschungsgegenstandes (vgl. Hare et al. 2019, S. 81 und Mohn 2013), die Pink (2013, S. 36) als eine „verhandelte Version der Realität“ bezeichnet. Im Folgenden geht es um die Beschreibung dieser Forschungspraktiken als intervenierende Praktiken. Folgt man der Spur der Interventionen, stellt sich der kameraethnographische Forschungsprozess als eine dynamische Forschungsbewegung dar, an deren Ausgestaltung alle am Forschungsprozess Beteiligten permanent mitwirken und so Beobachtbarkeit gemeinsam wechselseitig hervorbringen. Gemeinsam mit den von uns beforschten Familien gestalten wir Forschungsarrangements und nehmen darin eine beobachtende Position ein. Diese Arrangements sind verabredete Begegnungen, in die sich Forschende und Beforschte gemeinsam begeben. Ich befasse mich mit Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst thematisiere ich den intervenierenden Charakter der Herstellung einer Forschungsbeziehung, um anschließend die Forschungsbegegnung selbst zu betrachten. Ich beschreibe, auf welchen Ebenen in einer Beobachtungssituation, in der eine Person mit Kamera anwesend ist, der Alltag der Familie intervenierend gestaltet wird und wie alle Akteure der Forschungssituation in diesen Prozess verwickelt sind. Im nächsten Schritt befasse ich mich mit dem Videoschnitt und der Montage als Intervention ins Filmmaterial. Ich beschreibe, wie durch Betrachten, Kürzen und neu Zusammenfügen die Forschungsbewegung fokussierend fortgeführt wird. Daraufhin widme ich mich der Frage, welchen Einfluss ein bereits in den ersten Forschungsphasen imaginiertes Publikum auf die Praktiken der Akteure hat und welchen intervenierenden Einfluss das tatsächliche Publikum des fertiggestellten Films. Im nächsten Schritt wage ich einen interpretierenden, und damit intervenierenden Blick auf das, was im Takeover-Marathon sichtbar wird, wenn man eine beobachtende erziehungswissenschaftliche Perspektive einnimmt. Es folgt ein Sprung in die Zukunft, zu einer späteren Beobachtung, die heute schon wieder Vergangenheit ist, und die einen kurzen Gedanken über die intervenierende Kraft der Zeit anregt. Am Ende ist es vor allem ein dynamisches Wechselspiel der Interventionen, das, im Film wie im Text, sichtbar wird, und an dessen Verfertigung Film und Text selbst teilhaben. 2

Eine Beziehung aufbauen

Auf der Suche nach einer Familie mit jüngeren Kindern, die Interesse hätte, an unserem kameraethnographischen Forschungsprojekt teilzunehmen, lernte ich,

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vermittelt über meinen weiteren Bekanntenkreis, die Familie der fast ein Jahr alten Lara3 und ihrer dreijährigen Schwester Mina kennen. Bei meinem ersten Gespräch mit Imke, Laras und Minas Mutter, war ich froh, dass sie sehr offen dafür war, forschend gefilmt zu werden und ich sie nicht erst überzeugen musste, an unserem Projekt teilzunehmen. Sie interessierte sich für unser Thema, das ja auch ihr Thema war, und fürchtete nur, dass es vielleicht in ihrer Familie nicht genügend Medienpraktiken für meine Forschung zu beobachten geben könnte. Außer dem hauptsächlich beruflich genutzten Smartphone des Vaters gab es zu diesem Zeitpunkt wenig digitale Medien in der Familie. Ich war zu erleichtert, einen Feldzugang gefunden zu haben, als dass ich mir darüber wirklich den Kopf zerbrechen wollte. Ich begann also, die Familie ca. einmal im Monat mit der Videokamera zu besuchen. Ich gesellte mich dann für ein paar Stunden zu ihnen, bekam einen Kaffee, beobachtete und filmte. Diese Situation des Filmens und Gefilmtwerdens im privaten Raum war für alle Beteiligten eine ungewohnte Erfahrung, eine manchmal auch unangenehme Suchbewegung, eine Annäherung aneinander und an wechselseitiges Forschen und beforscht werden. Es war ein Prozess des Vertrauensaufbaus und des Aushandelns der Modalitäten des für einen längeren Zeitraum geplanten Arrangements. Üblicherweise verabredeten wir uns zwei oder drei Tage im Voraus zu den Besuchsterminen. Ich wurde ins Wohnzimmer gebeten, packte meine Kamera aus, die Kinder untersuchten sie neugierig, bis sie etwas Interessanteres fanden und ich beginnen konnte, sie bei ihrem Tun zu filmen. Im ersten halben Jahr filmte ich die Kinder, sehr unspezifisch, bei allem was sie, mal mit und mal ohne ihre Eltern, im Wohnzimmer taten. Viele der Beobachtungen hatten nichts oder nur im weitesten Sinne etwas mit Medien zu tun, so dass ich mich an Imkes anfängliche Befürchtung von möglicherweise zu wenig Medienpraktiken in der Familie erinnerte. Ich filmte Lara, anfangs noch ein Krabbelkind, wie sie auf dem Wohnzimmerteppich herumliegende Gegenstände mit Mund und Händen untersuchte. Ich filmte die Kinder, wie sie sich für ein Fest schminkten und verkleideten, ich filmte, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter eine Märchenschallplatte hörten, wie sie Musik von CDs hörten und dazu tanzten, aber auch, wie sie gemeinsam mit ihrem Vater Urlaubsvideos und Familienfotos auf dem Smartphone anschauten und sich darüber unterhielten. Ich filmte Mina, Laras große Schwester, beim Die Sendung mit der Maus Schauen mit Papas Smartphone und wie sie dabei Lara, sehr zu deren Verdruss, das Mittun verweigerte. Ich filmte meist am späteren Nachmittag, in der Zeit zwischen Kita und Abendbrot, der Zeit gemeinsamer Familienaktivitäten.

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Alle Namen in diesem Text sind geändert.

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Im Zentrum meiner Beobachtung stand, im Hinblick auf unser als Langzeitbeobachtung angelegtes Forschungsprojekt, von Anfang an Lara, die Kleine, deren involviert Sein in die Medienpraktiken der Familie ich hoffte von vornherein beobachten zu können. Dabei ergab sich aber ein methodisches Problem. Imke erzählte mir immer häufiger von Smartphone-Praktiken in der Familie, von denen ich bei meinen Besuchen nichts mitbekam. Um gerade Laras erste eigene Medienerfahrungen nicht zu verpassen, variierten wir die Strategie meiner Besuche. Wir begannen, die Forschungstermine genauer zu planen, überlegten welche Termine sich zur gezielteren Beobachtung von Smartphone-Praktiken eignen könnten und wie wir sie aktiv als Smartphone-Situation gestalten könnten. Sensibilisiert für mein Forschungsinteresse übernahm Imke die Koordination zwischen den in der Familie aufkommenden Smartphone-Praktiken und meinem Forschungsinteresse. Sie schaffte nun nicht mehr nur die Voraussetzungen für meine filmischen Beobachtungen, indem sie Zeit und Ort unserer Treffen arrangierte, sondern sie initiierte auch die Rahmenbedingungen meiner Besuche, um mir die aktuell relevanten Medienpraktiken der Familie zeigen zu können. Den ersten Termin, bei dem wir auf diese Weise eine Smartphone-Situation mit Lara initiierten, möchte ich hier exemplarisch beschreiben. Ich möchte versuchen darzustellen, wie gewinnbringend Interventionen sein können, um Alltagspraktiken beobachtbar, filmbar und damit sichtbar zu machen. 3

Eine Situation schaffen

Unseren ersten thematisch abgesprochenen Termin organisierten wir in der Zeit, als Lara anfing, ein Smartphone eigenständig zu untersuchen und auszuprobieren. Imke erzählte mir, dass Lara sich neuerdings sehr für das Smartphone interessiere und so verabredeten wir, ihr bei unserem nächsten Forschungstreffen eines zum selbständigen Erkunden zu überlassen. Wir fanden einen günstigen Termin mit ausreichend Tageslicht zum Filmen. Mina, damals drei Jahre alt und ebenfalls sehr am Smartphone interessiert, würde zu dieser Zeit noch in der Kita sein. Das Problem, dass der Vater, und mit ihm das zu dieser Zeit einzige Smartphone der Familie, am frühen Nachmittag noch außer Haus sein würde, lösten wir dadurch, dass ich mein Gerät zur Verfügung stellte. Am verabredeten Tag suche ich mir im geräumigen Wohn- und Spielzimmer eine Position, von der aus ich Laras Tun, sie spielt auf dem Teppich mit Bauklötzen, gut beobachten kann. Ich finde einen Platz mit dem Rücken zum Fenster, die Sonne erhellt den gesamten Raum. Ich hocke mich auf den Boden, auf Augenhöhe mit Lara. Als ich die Kamera einschalte spielt sie, unbeeindruckt von meiner filmenden Anwesenheit, weiter auf dem Wohnzimmerteppich mit ihren Klötzen. Imke hockt sich zu ihr auf den Boden, in der Hand das Smartphone. Sie versucht

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herauszufinden, wann am Nachmittag die nahegelegene Kirmes öffnet. Etwas unbeholfen hantiert sie mit dem auch für sie ungewohnten Gerät und kommentiert ihre Recherche halblaut. Lara bemerkt die Mutter mit dem Smartphone schnell, wendet sich von den Bauklötzen ab, steht auf und geht zur Mutter hinüber. Sie lehnt sich an ihre Schulter und schaut auf das Display des Smartphones. „Willst du auch mit gucken?“, fragt Imke, schaut Lara dabei aber nicht an, sondern setzt ihre Suchanfrage fort. Lara manövriert sich geschickt auf ihr Knie und streckt die Hände nach dem Smartphone aus. Die Mutter lässt sie das Display berühren, Lara lächelt und streicht mit dem Zeigefinger über den Bildschirm. Sie greift nach dem Gerät, und Imke überlässt es ihr im sicheren Rahmen ihres Körpers. Lara hält es, teils mit beiden Händen, teils nur mit einer Hand, fest, um mit der anderen das Display zu berühren. Ihre Mutter hält ihre Hände schützend unter das Smartphone. Als sie es schließlich wieder an sich nehmen will, um nun doch noch die Öffnungszeiten der Kirmes herauszufinden, will Lara es nicht wieder hergeben. Die Mutter entwendet es der lautstark protestierenden Lara in einem Handgemenge und es gelingt ihr, ihre Suchanfrage erfolgreich abzuschließen. Jetzt fordert Lara das Gerät mit vollem Körper- und Stimmeinsatz, bis sie es schließlich zurückerobert. Im sicheren Abstand vom Zugriff der Mutter setzt sie sich auf den Teppich und beginnt, ungestört das Display zu betrachten und zu betasten. Die Mutter lässt sie gewähren und kommentiert: „Hast du es ergaunert?“. Sie beobachtet, wie Lara das Smartphone bearbeitet. Nach einer Weile versucht sie, Laras Interesse auf andere Gegenstände, wie einen orangen Ball, zu lenken, was ihr aber nicht gelingt. Vielmehr wendet Lara ihr den Rücken zu und betastet intensiv das Gerät. Nachdem die Versuche, Lara vom Smartphone zu trennen, fehlgeschlagen sind, versucht Imke, Lara etwas am Smartphone zu zeigen. Sie versucht die Foto-App zu öffnen, damit Lara auf dem Display etwas sehen kann. Aber Lara verteidigt das Gerät gegen die Einmischung. Eine Weile bearbeitet sie weiter das Display, ohne dass es reagiert. Ihre Mutter fragt noch einmal: „Soll ich es nehmen?“ und hält Lara den ausgestreckten Arm mit offener Hand entgegen. Lara zögert, macht mehrfach Anstalten, das Telefon in die dargebotene Hand zu legen, zieht es aber stets im letzten Moment zurück. Die Mutter unternimmt einen erneuten Versuch, ihr das Smartphone abzunehmen, indem sie ihr ein Tauschgeschäft mit einem nicht funktionierenden Handy anbietet. Zuerst geht Lara auf das Angebot ein, als sie aber den Schwindel bemerkt, fordert sie vehement das funktionierende Gerät zurück. Gerade noch gelingt es Imke, die Kamera-App zu öffnen, bevor Lara das Smartphone ergreifen kann. Sie zeigt Lara ihr Bild auf dem Display und kommentiert: „Schau, da bist du!“ und Lara greift zu. Das „du“ ist schnell nicht mehr zu sehen. Lara betastet wieder eine Weile intensiv das Smartphone, nimmt dann auch das Spielhandy wieder zur Hand und vergleicht beide Geräte. Plötzlich beginnt das Smartphone in Laras Hand zu klingeln. Lara schaut verdutzt. Sie lächelt ihre

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„Willst du mit gucken?“

Mutter und auch mich an und beginnt sich im Takt der Klingelmelodie zu wiegen. Als die Melodie abrupt abbricht und die Stimme des Anrufbeantworters zu sprechen beginnt, übergibt Lara ihrer Mutter das Smartphone. Wie das unerwartete Klingeln für Lara das Signal ist, ihre Smartphone-Erkundung zu beenden, ist es für mich intuitiv das Signal, die Kamera auszuschalten. Sarah Pink (vgl. 2013, S. 106) folgend, würde ich diese Forschungssituation als Zusammentreffen von gelebtem Leben, vorgeführtem Leben und dem Ereignis des Forschens beschreiben, das schließlich zu Erkenntnissen führt. Mohn (in diesem Band) schreibt: „Forschende Suchbewegungen, Blick- und Bildentwürfe beim Filmen gelingen an Schnittstellen, die sich aus dem unvorhersehbaren Geschehen vor Ort, den Forschungsinteressen im Projekt sowie dem Einfühlungsvermögen der Ethnograph*innen in beides ergeben.“. 4

Ins Filmmaterial einfühlen

Obwohl ich sicher war, eine dichte und erkenntnisreiche Beobachtung gefilmt zu haben, war ich mir nicht sicher, wieviel davon tatsächlich in meinem Filmmaterial wiederzufinden sein würde. Erst die Arbeit am Material bringt, manchmal auch in überraschender Weise, ethnographische Entdeckungen hervor. Sie ist eine neue Beobachtungsphase. In dieser Phase geht es nicht darum, ein gefilmtes Ereignis noch einmal genauer anzuschauen, sondern darum, die Aufnahmen als etwas Neues zu betrachten. Nicht nur beim Filmen im Feld, sondern auch am Schneidetisch, findet ein einfühlender Bildgebungsprozess statt. Beim wiederholten Betrachten meiner Aufnahmen entdeckte ich immer neue Momente, in denen Lara und ihre Mutter gemeinsam den Umgang mit dem ‚Objekt‘ Smartphone erprobten. Ich verfolgte diese Spuren. Ich suchte nach Praktiken, die Wendungen und Krisen auslösten und die so im Sinne des ‚Etwas gezeigt Bekommens‘ eine Form der Sichtbarkeit anboten. Ich suchte nach Gesten des Gebens und Nehmens, des Anbietens und Verweigerns, des Greifens und Loslassens, des Hinhaltens und Entziehens. Außerdem erprobte ich weitere Wie-Fragen, die in der Kameraethnographie der Schlüssel sowohl zu einem noch nicht wissenden und dennoch gerichteten Kameragebrauch, als auch zu einem fokussierenden, entdeckenden und analysierenden Schnitt- und Montageprozess sind. Im Fall des Takeover-Marathon lauteten diese Fragen beispielsweise: Wie entwickeln sich Situationen um das Smartphone herum? Wie handeln Mutter und Kind die Praktiken des Aushandelns, des Explorierens, des Kommunizierens miteinander und mit dem Smartphone aus? Wie wird dies in ihrem Tun sichtbar? Und wie sind immer wieder Interventionen Impulsgeber für diesen Prozess? Wie gestaltet das Smartphone die Beziehung zwischen Lara und ihrer Mutter? Und wie ist auch die Ethnographin in diesem Prozess sichtbar? Wie wird sie

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angeschaut, angesprochen, angelacht und wie werden ihre Ambitionen, Medienpraktiken sichtbar zu machen, durch Lara und ihre Mutter unterstützt? Schnitt und Montage geben der filmischen Beobachtung Rhythmus und Form. Wie in einem Text versuche ich Kristallisationspunkte herauszuarbeiten, an denen ‚etwas‘ sichtbar wird, einen visuellen Text zu formulieren, an dem entlang ich meine Beobachtungen auf das verdichte, was ich zeigen möchte. Ich konstruiere eine Version dessen, was ich an diesem Nachmittag bei Lara und ihrer Mutter beobachtet habe. So nutze ich Schnitt und Montage als konstruktive Interventionen, die auf reflektierende Art und Weise ‚etwas‘ sichtbar machen. 5

Imaginiertes und reales Publikum

Im Kapitel Beziehungen aufbauen habe ich bereits erwähnt, dass das Publikum als mitgedachte Zuschauende von Anfang an im kameraethnographischen Forschungsprozess anwesend ist. Es beeinflusst Entscheidungen bei der Aushandlung der Forschungsbeziehung, beispielsweise darüber, wie oft und wie lange die filmende Ethnographin in der Familie willkommen ist. Das mitgedachte Publikum spielt in der Kameraethnographie insofern eine große Rolle, als dass klar ist, dass die entstehenden Filme, Vignetten, Fragmente, Videostills, etc. vor der Veröffentlichung nicht anonymisiert werden. Das antizipierte Publikum hat daher großen Einfluss darauf, was die beforschte Familie während der filmischen Beobachtung bereit ist, von sich preiszugeben und wie sie sich darstellen wird. Auch bei der Montage schaut das imaginäre Publikum der Ethnographin über die Schulter. Es aktiviert ihren moralischen Zensor, der zwischen ihren eigenen, manchmal eitlen, Interessen und dem Schutz der ihr vertrauenden Familie vermittelt. Dieses mitgedachte Publikum ist bereits ein mehrstimmiger Chor, es kann jedoch nie so vielfältig sein wie das reale Publikum, das den Film schließlich zu sehen bekommt. Die Interventions-Situation Forschen mit der Kamera, die Sarah Pink (2013, S. 106) als ein „encounter between life as it is lived and performed and the event of doing research“ beschreibt, setzt sich im Austausch mit dem realen Publikum, dem wir unsere Forschungsergebnisse präsentieren, fort. Dieses reale Publikum bringt durch seine Fragen, sein Interesse, seine Kritik und Unterstützung die Forschungsbewegung voran (siehe Hare in diesem Band). Dieser Austausch wiederum fließt intervenierend in die parallel weiterlaufenden filmischen Beobachtungen, in Varianten des Filmschnitts und in die Gestaltung von Präsentationen ein. Nicht zuletzt finden sich die Eindrücke aus der Auseinandersetzung mit diesem Austausch auch in der schreibenden Betrachtung meiner Beobachtung wieder.

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„Willst du mit gucken?“

Eine filmische Beobachtung beschreibend interpretieren

Der Takeover-Marathon in seiner aktuellen Form hat einen starken Fokus auf dem Thema Interaktion. Einige der Fragen, die sich aus dem gemeinsamen Schauen und Diskutieren mit Teamkolleg*innen und Fachleuten aus der Erziehungswissenschaft entwickelten, gaben den Anstoß, den Takeover-Marathon unter dem Aspekt von Partizipation und Agency zu betrachten und, nach Charles Goodwin, das Verhältnis von Akteuren zu ihren ‚actions‘ als eines der wechselseitigen Bewohnerschaft ihrer Handlungen in den Blick zu nehmen (Wiesemann/Amann 2018, S. 203). Worum ging es beim Verhandeln und Aushandeln zwischen Imke und Lara? Ging es wirklich darum, wer das Smartphone halten durfte, wer es wann und wie berühren durfte, wer es wofür benutzen wollte und durfte? Und was bezweckten welche Strategien, körperlichen und stimmlichen Äußerungen? Die Interaktion zwischen Mutter, Kind, Ethnographin und Smartphone entspinnt sich als ein facettenreiches Wechselspiel aus Aktionen, bei dem einiges eingespielt und routiniert, anderes spontan, neu und improvisiert wirkt: ein Tanz um das Smartphone. Die Mutter erklärt das Smartphone zum Erwachsenengegenstand, indem sie sich gemeinsam mit ihm in der Forschungssituation positioniert. Sie zeigt sich als seine Verwalterin, die Zugang zu ihm gewährt und verbietet. Bereits die Übergabe des Smartphones an das Kind geschieht als eine hochkomplexe Interaktion. Es wird nicht mit einer einfachen Geste übergeben, sondern Imke gestaltet seine Übergabe an Lara fließend und subtil, in vielen kleinen Schritten. So zeigt sie sich von vornherein als kompetent, indem sie etwas Sinnvolles mit dem Smartphone tut. Dabei nähert sie sich Lara auf Augenhöhe und kommentiert ihre Recherche halblaut, wobei sie Lara aber nicht direkt adressiert. Lara muss das Smartphone erst entdecken, bevor sie mitschauen darf. Auch wenn die Mutter es Lara schließlich überlässt, mischt sie sich doch weiterhin ein. So bietet sie Lara an, ihr ‚etwas zu zeigen‘, Fotos z.B., oder mit ihr Telefonieren zu spielen. Sie schlägt ihr also Möglichkeiten vor, das Smartphone auf adäquate Weise zu nutzen. Außerdem versucht sie von Zeit zu Zeit, Lara vom Smartphone abzulenken oder es ihr wieder abzunehmen, ohne Erfolg. Sie kommentiert dies mir gegenüber achselzuckend: „Außer Rand und Band.“: Imke gestaltet den Forschungstermin so als ‚betreute Smartphone-Nutzung‘. Möglicherweise ist diese Positionierung einem antizipierten Publikum geschuldet. Imke signalisiert mir und diesem möglichen zukünftigen Publikum, dass sie Verantwortung für Laras Umgang mit dem Smartphone übernimmt und ihre Mediennutzung betreut. Dass Imke außerdem zwischen der beobachteten Situation und der sie beobachtenden Ethnographin vermittelt, zeigt sie durch Gesten, die direkt auf die Anwesenheit der Forscherin mit Kamera verweisen. So achtet sie beispielsweise

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darauf, dass Lara für die Kamerafrau gut zu sehen ist und richtet sie manchmal zur Kamera aus, wenn sie mir den Rücken zuwendet, und sie putzt ihr die Nase ab, damit ich sie nicht ‚zu rotznasig‘ filme. Von Zeit zu Zeit spricht sie mich auch direkt an. Sie teilt mir mit, dass sie sich Sorgen um mein Telefon macht oder sie sucht fragend Blickkontakt, wenn Lara das Smartphone wild und gefährlich herumschleudert. In solchen Momenten wird meine filmende Anwesenheit deutlich sichtbar. Beim Betrachten des Filmmaterials erinnerte ich mich daran, dass ich mich im Raum befand und mich dort bewegte, die Position wechselte, im Weg stand oder hockte und manchmal unauffällig ein Möbelstück umplatzierte. Ich erinnerte mich, dass ich während der Aufnahmen zum Greifen nah war, auf Ansprachen reagierte, sprach und verhalten lachte und daran, wie ich, während ich auf das Display der Kamera schaute, einen Ausschnitt und eine Perspektive suchte. Ich war filmende und beobachtende Teilnehmerin der beobachteten Situation gewesen, während ich mich auf Augenhöhe im Feld tummelte. Ich war eine wandelnde Intervention; sozusagen eine Mitbewohnerin der Situation, ohne die diese so nicht stattgefunden hätte. Und wie interveniert Lara? Anfangs reagiert sie wie gewünscht. Sie bemerkt Imke mit dem Telefon und nimmt die indirekte Einladung ihrer Mutter zum Mitspielen an. Langsam tastet sie sich an das Smartphone heran. Sie lehnt sich an Imkes Schulter an, drängelt sich auf ihren Schoß, berührt das Display, nimmt das Gerät in die Hand und entfernt sich mit ihm aus dem Zugriffsbereich der Mutter. Die Rolle des zu belehrenden Kindes, das sich zeigen lässt, wie man das Smartphone ‚richtig‘ nutzt, verweigert sie aber schnell. Sobald sich die Gelegenheit bietet, verlässt sie mit dem Smartphone den für sie vorgesehenen Schutz-/Nutzungsraum und erkämpft sich Freiräume, die sie verteidigt, indem sie weint, schubst und kämpft. Sie hält und bedient das Smartphone alleine, sie tippt und wischt mit den Fingern über das Display und sie nimmt die Angebote ihrer Mutter, sie bei der ‚sinnvollen‘ Nutzung des Smartphones zu unterstützen, nicht an. Sie lässt sich nicht vom Smartphone trennen, sie ignoriert Ablenkungsversuche und Tauschtricks. Indem sie ihrer Mutter den Rücken zudreht und ihr misstrauische Blicke über die Schulter zuwirft, sichert sie sich mit Gestik und Mimik ihren Freiraum/Spielraum zur selbständigen Erkundung des Smartphones. Da Lara noch nicht in der Lage ist, das Smartphone seinen Vorgaben (Affordanzen) gemäß zu nutzen, bleibt ihr alles, was seine eigentliche Attraktivität ausmacht und es von einem simplen schwarzen Kästchen unterscheidet, verschlossen. Ohne die Hilfe der Mutter gelingt es ihr nicht, ihm Töne, Bilder, Musik, Filme oder Spiele zu entlocken. Es bleibt vielmehr schwarz und stumm. Trotzdem akzeptiert sie nicht, dass das Smartphone gegen ein generell nicht funktionierendes Gerät ausgetauscht wird. Worum kann es Lara also in der Situation gehen, wenn

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nicht um das Aussuchen, Öffnen und Nutzen von Apps, wenn es aber trotzdem ein ‚echtes‘ Gerät sein muss, das sie in den Händen hält? Exkurs: Lernsituation mit Smartphone Lara weiß aus Beobachtung, was ein Smartphone kann und was die anderen Familienmitglieder tun, wenn sie es nutzen. Sie schauen aufs Display, wischen, streichen und tippen mit den Fingern darauf herum, halten es ans Ohr und sprechen. Lara tut es ihnen nach. Sie verfügt damit zwar noch nicht über die Kompetenz, das zu tun, was die anderen Familienmitglieder mit einem Smartphone tun, aber durchaus über das Wissen darüber, wie man es macht. Bezugnehmend auf Bollig und Kelle (2014) sehe ich in dieser Differenz zwischen dem Was und dem Wie der Smartphone-Nutzung in dieser Situation das Aushandeln dessen, was von den Beteiligten jeweils als ‚kompetentes Mitspielen‘ akzeptiert wird. Lara erkämpft sich durch ihr Tun aktiv praktisches Wissen über Spielräume für künftige Partizipation. Sie muss herausfinden, ob sie das tun kann, was die anderen tun, um mitspielen zu können. Indem sie sich den Belehrungsversuchen der Mutter entzieht und stattdessen die beobachteten Gesten von Smartphone-Nutzer*innen imitiert, beweist Lara sich, dass sie über Mitspielkompetenz verfügt und zeigt dies auch der Mutter. Weiter bezugnehmend auf Bollig und Kelle (2014) scheint es mir hier hilfreich, das Kontinuum, das sich zwischen Partizipation und agency aufspannt, zu betrachten. Die Mutter bindet Lara in die Aktion ein, ein Smartphone ‚richtig‘ zu bedienen, indem sie sie animiert z.B. zu telefonieren oder Fotos anzuschauen. Die vorgesehene Nutzung eines Smartphones setzt aber Fertigkeiten voraus, über die Lara noch nicht verfügt. Indem ihre Mutter sie aber zu diesen Praktiken einlädt, sie ihr vormacht und sie auffordert, daran teilzunehmen, ermuntert sie sie, rituelle Kompetenzen des Mitspielens in dieser Situation zu zeigen, um sie, "Zug um Zug, sozialisatorisch hervorzubringen" (Bollig und Kelle 2014, S. 278). Diese Fertigkeiten übt die Mutter mit ihr ein, wenn sie zum Beispiel das Telefon ans Ohr hält und „Hallo“ sagt, die Foto-App öffnet und Fotos zum Anschauen heraussucht oder die Kamera-App öffnet, um Lara zu zeigen, dass sie sich dort selbst sehen kann. Aber auch wenn Lara nicht Fotos anschauen oder telefonieren lernt, lernt sie etwas, und das ist im Film Takeover-Marathon zu beobachten, indem sie es tut. „Lernen kann nicht auf einen geistigen Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden reduziert werden, sondern entsteht aus der körperlichen Verstrickung der Menschen mit der materiell-symbolischen Welt“ (Alkemeyer und Buschmann 2017, S. 274). Wichtiger, als die Funktionen des Smartphones gezeigt zu bekommen, ist es ihr, sich selbst als Smartphone-Nutzerin zu erleben. Ich sehe das als ihre Intervention an. So betrachtet ereignen sich Interventionen in all jenen Momenten, in denen

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die Teilnehmer*innen durch Ausübung von Praktiken ihre Interessen ins Spiel bringen, damit der Situation neue Wendungen geben und Reaktionen herausfordern. Sie zeigen sich als Aktant*innen, indem sie in die laufende Handlung eingreifen, sie umformen und in eine neue Richtung lenken. Ob auch das Smartphone interveniert, indem es leuchtet, Bilder zeigt und tönt, möchte ich zumindest als Möglichkeit in Betracht ziehen. Das Smartphone hat für Lara eine besondere Ausstrahlung, die auch dann wirkt, wenn sie nur als Potenzial vorhanden ist. Das kaputte Smartphone ist kein adäquater Ersatz für das temporär nicht aktive. Originellerweise ist es ja das Gerät selbst, das schließlich durch sein lautes Klingeln das Ende der Beobachtung einleitet. Dieses Smartphone, das Lara um keinen Preis hergeben wollte, als es sich ihr gegenüber eher widerspenstig (schwarz und stumm) gezeigt hat, gibt sie freiwillig ab, als es aktiv wird, bzw. halbautonom aktiv(iert) wird. Nachdem sie erst überrascht schaut und sich dann im Takt der Klingelmelodie wiegt, gibt sie das Smartphone lächelnd ab, als es zu sprechen beginnt bzw. der Anrufbeantworter anspringt. 7

Eine neue Beobachtung

1 ½ Jahre später, Lara hat inzwischen eine kleine Schwester und Imke ein eigenes Smartphone, habe ich bei einem unserer Forschungstermine den Eindruck, an der direkten Fortsetzung der Takeover-Marathon-Episode teilzunehmen. Spontan schlägt Imke Lara vor, sie könne doch mir, der Ethnographin, die Fotos von ihrem Geburtstag auf dem Smartphone zeigen. Lara hüpft sofort zu ihr herüber, lehnt sich an sie an, mogelt sich auf ihren Schoß. Imke hat Probleme, die richtigen Bilder zu finden, Lara schnappt sich das Smartphone in einem Handgemenge. Imke würde gern in Ruhe die passenden Bilder aussuchen, aber Lara scrollt lieber wild durch die gesamte Bildergalerie. Inzwischen haben sich ihre Mitspielkompetenzen deutlich erweitert, sie weiß wie man dem Smartphone Bilder und Töne entlockt. Heute probiert sie etwas Neues aus: selber filmen. Bis das klappt konkurrieren kleine und große Finger wild wischend und tippend um das Display, gute Ratschläge werden erteilt und nur halbherzig angenommen. Als die Kamera endlich signalisiert, dass sie aufnimmt, schaut Imke Lara über die Schulter und kommentiert ihre Aufnahmen kritisch. Sie schlägt ihr vor, das Gerät doch anders zu halten, da sie so ja nicht die kleine Schwester, sondern nur ihre Beine filme. Lara greift den Hinweis auf ihre Weise auf. Sie filmt zwar weiter ihre Beine, das Lied, das sie zu ihren Aufnahmen gesungen hat, aber variiert sie von „Happy Birthday, Kackapoo“ zu „Happy Birthday, Beine!“ Das aufgenommene Video schaut und hört sie sich anschließend unzählige Male an. Als Imke die kleine Schwester auf den Arm nimmt, um sie zu stillen, krabbelt Lara in deren Trage und hält mir das Smartphone hin, so, dass ich den Happy Birthday-Film sehen und filmen kann. Nach einer

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Weile, Lara hat zwischendurch noch einige Fotos gemacht, geht das Smartphone wieder einmal aus. Lara versucht, es mit Tasten- und Displaydrücken zu reaktivieren. Als das nicht gelingt gibt sie es der Mutter und kauert sich in der Trage ihrer Schwester zusammen. Sie sagt: „Ich bin ein Baby.“ 8

Fazit

In meinem Beitrag habe ich die Bedeutung von Interventionen für unser kameraethnographisches Projekt am Beispiel einer Beobachtung dargelegt. Ich habe gezeigt, dass Interventionen keine ‚Störungen‘ sind, die ein vermeintlich reales Geschehen verfälschen, sondern notwendige ‚Störungen‘, die eine Forschungssituation erst herstellen. Interventionen sind also keine zu vermeidenden Verfälschungen, sondern im Gegenteil, Voraussetzung des (kamera-)ethnographischen Forschungsprozesses und seiner Ergebnisse. Ich habe nachgezeichnet, wie sich, über einen gesamten Forschungszyklus betrachtet, Interventionen als das tragende Netz der Forschungsbewegung spinnen. Angefangen beim Aufbau und Aushandeln der Forschungsbeziehung, über die Ausgestaltung der konkreten Forschungsbegegnungen, der Einbeziehung des Publikums (des realen und des imaginierten), bis hin zur Bearbeitung des Filmmaterials habe ich beschrieben, wie der Forschungsprozess sich im permanenten wechselseitigen Intervenieren in situ verfertigt und wie in diesem Prozess neues Wissen entstehen kann. So zeigt sich der Takeover-Marathon als eine Lernsituation, die erst sichtbar wird durch die Aufmerksamkeit auf das sozio-materielle Geschehen zwischen Mutter, Kind und Smartphone. Eine Aufmerksamkeit, die durch vielfältige Interventionen im Forschungsprozess hervorgebracht ist und bei der das Smartphone als ein genuiner Bestandteil der in dieser Weise analysierten Situation erscheint. Während ich diesen Beitrag zu Ende schreibe, vergeht Zeit in der ich weiterhin Erfahrungen im Feld sammle, die sich rückbeziehen lassen auf publizierte Analysen und Ergebnisse, und die auch diese in einem neuen Licht erscheinen lassen. Das Format einer kameraethnographischen Langzeitstudie kann auch die intervenierende Kraft der Zeit gezielt nutzen, um mögliche neue Foki, Verbindungen und Beziehungen zwischen Zeiten und Situationen herzustellen. So entsteht das, was wir beobachten und ins Bild bringen immer wieder aufs Neue.

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Bildteil

Abbildung 1:

Haben wollen. Videostandbildserie aus Takeover-Marathon: Astrid Vogelpohl (2017)

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Abbildung 2:

„Willst du mit gucken?“

Behalten wollen. Videostandbildserie aus Takeover-Marathon: Astrid Vogelpohl (2017)

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Abbildung 3:

Keine Tricks. Videostandbildserie aus Takeover-Marathon: Astrid Vogelpohl (2017)

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Abbildung 4:

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Die Ethnographin ist anwesend. Videostandbildserie aus Takeover-Marathon: Astrid Vogelpohl (2017)

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Abbildung 5:

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Happy Birthday, Beine. Videostandbildserie aus Material: Astrid Vogelpohl (2019)

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Literatur Alkemeyer, Thomas und Nikolaus Buschmann. 2017. Befähigen. In Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren, hrsg. von Markus Rieger-Ladich und Christian Grabau, 271–297. Wiesbaden: Springer VS. Bollig, Sabine und Helga Kelle. 2014. Kinder als Akteure oder als Partizipanden von Praktiken?. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation Jahrgang 34: 265–281. Mohn, Bina E., Pip Hare, Astrid Vogelpohl und Jutta Wiesemann. 2019. Cooperation and Difference. Camera Ethnography in the Research Project ‘Early Childhood and Smartphone’. Media in Action: An Interdisciplinary Journal on Cooperative Media 1: 81–104. Mohn, Bina E.. 2013. Differenzen zeigender Ethnographie. Blickschneisen und Schnittstellen der Kamera-Ethnographie. In Themenheft Visuelle Soziologie. Soziale Welt 1 (2) 2013, hrsg. von Bernt Schnettler und Alejandro Baer. 171– 189. Nomos. Pink, Sarah. 2006 (3. aktual. Aufl. 2013). Doing visual Ethnography. SAGE Publications Ltd. Wiesemann, Jutta. 2010. Ethnographie (machen) mit Kindern. Die Beobachtung der Beobachter. In Auf unsicherem Terrain. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens, hrsg. von Peter Cloos, Friederike Heinzel und Werner Thole. 143-151. Wiesbaden, Springer. Wiesemann, Jutta und Klaus Amann. 2018. Co-operation is a feature of sociality, not an attribute of people. Media in Action: An Interdisciplinary Journal on Cooperative Media 1: 203–216. Verzeichnis der Filme und Installationen Mohn, Bina E., Pip Hare und Astrid Vogelpohl. 2018. Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital. (Interaktive Sortierung auf Tablets). In Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018 – Januar 2019). Vogelpohl, Astrid, Pip Hare und Bina E. Mohn. 2018. Face to Face – Face to Screen. (Dreikanal-Videoinstallation, 12:54 Min.). In Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018 – Januar 2019). Vogelpohl, Astrid. 2019. Takeover-Marathon, 6:33 Min. In Face to Face - Face to Screen: Frühe Kindheit und Medien. 24 kamera-ethnographische Minia-

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turen. (DVD und Katalog deutsch/englisch), hrsg. von Pip Hare, Bina E. Mohn, Astrid Vogelpohl und Jutta Wiesemann. Münster: LIT Verlag. Wiesemann, Jutta, Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018–2019. Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019).

Bilder hier und dort. Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras1 Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras

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‚Dort.‘ Ich war dabei, als eine indische Freundin von mir in einem Dorf in Nordostindien einen Workshop für Frauen leitete. Ich verstand die Sprache nicht und schaute mich um. Für die Mittagspause brachten weitere Frauen Essen. Sie brachten auch ihre kleinsten Kinder mit. Ich beobachtete mit der Kamera, wie eins der Kinder für sich die Umgebung erforschte. Unermüdlich bewegte es sich durch den Raum, schauend, hörend, tastend, probierend. Immer wieder interagierten Frauen mit dem Kind, gaben ihr Dinge oder nahmen sie weg; immer wieder forschte das Kind weiter. Als ich ihre Erkundungen mit der Kamera verfolgte, fühlte ich mich belebt, außer mir, wie im Rausch – vielleicht annähernd das, was Jean Rouch (2003, S. 90) als „cine-trance“ beschreibt. ‚Hier.‘ Wochen später und weit entfernt schaute ich die aufgenommene Beobachtung an. Ich empfand wieder eine Faszination, fühlte mich hineingezogen in die Welt des Kindes, in der es einfach um die Dinge ging. Ich wollte die Sequenz möglichst nicht kürzen, wollte die Vielfältigkeit und Beharrlichkeit der Untersuchungen des Kindes nicht unterbrechen. Irgendwie wollte ich meine Erfahrung der Faszination teilen und war neugierig, ob andere Zuschauende die Aufnahme auch so sehen würden. Aber in welchem Kontext zeigt man ein Video, das über 10 Minuten lang dauert und keinen konventionellen narrativen Spannungsbogen bietet? *** ‚Dort.‘ Ein anderer Ort, ein anderes Kind; auch Nordostindien. Ich besuchte die Tante und die erweiterte Familie einer anderen indischen Freundin. Ich hatte erzählt, dass ich mich für Kinder und deren Mediengebrauch interessiere; mir wurde 1

Alles, was in diesem Beitrag vorkommt, bezieht sich auf meine Mitarbeit, seit 2016, zusammen mit Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl an der kollaborativen Kamera-Ethnographie im Projekt Frühe Kindheit und Smartphone. Familiäre Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation (Jutta Wiesemann). Das Projekt wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 262513311 – als Teilprojekt B05 des SFB 1187 Medien der Kooperation (Universität Siegen). Siehe: https://www.mediacoop.uni-siegen.de/de/projekte/b05/.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_11

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Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras

gesagt, hier gäbe es genügend Kinder, die Medien benutzen, die ich beobachten könnte. Am Samstagmorgen nach dem Frühstück waren nur noch wenige Personen im Wohnzimmer. Ein Cousin meiner Freundin, seine Oma und drei Jugendliche, die im Haushalt halfen. Das Kind war knapp drei Jahre alt und interessierte sich mehr für das Handy seiner Tante als für den laufenden Fernseher, obwohl er mir hindeutete, zum TV zu schauen. Er schien mich auch einzuladen, ihm beim Spielen auf dem Handy zuzuschauen. Mit der Kamera beobachtete ich sein Tun und war beeindruckt, wie geschickt er das Spiel zu navigieren wusste. Er berührte präzise die relevanten Stellen des Displays, um die Animationen zu steuern. Ich schaute auf seinen Körper im Raum, auf die Bewegungen seiner Finger, seiner Füße und auch in seinem Gesicht, während er die Bewegungen auf dem Handydisplay verfolgte. Er rieb sich zwischendurch die Augen. Der Soundtrack wiederholte einen monotonen Bass-Riff. Ungefähr 10 Minuten nachdem er mit dem Spielen begonnen hatte, machte ich die Kamera aus; er spielte weiter. Es schien mir, als würde die Situation ohne signifikante Veränderung weiter andauern. Aber dann klingelte das Handy. Ich nahm wieder auf: das Handy wurde an dessen Besitzerin überreicht. Nach einem kurzen Gespräch bekam er es wieder. Und spielte weiter. Ich hörte auf, ihn zu beobachten. Ich hatte das Gefühl, es reiche jetzt. ‚Hier.‘ Auch dieses Video schaute ich mir an, zu Hause in Berlin. Ich fragte mich, was das Kind empfand, während er das Männchen vor einem Hintergrund steuerte, der sich bewegte, als würde das Männchen sich dadurch bewegen. Er sagte etwas, als das Männchen hinfiel. Ein Ausdruck von Enttäuschung? Mit der Kamera hatte ich fast bildfüllend das Display aufgenommen, um genau zu sehen, worauf er schaute. Ich hatte auch sein Gesicht sehr nah aufgenommen. Zwischen Gesicht und Display war wenig Raum. Könnte man behaupten, er würde in die Welt im Display eintauchen? Bestimmt wäre es übertrieben zu glauben, er würde mit dem laufenden Männchen mitfühlen. Seine Beine übernahmen den Rhythmus der Musik – das taten aber auch die Beine einer der anderen Personen im Raum. Die Musik empfand ich als anstrengend. Das ewige ‚Laufen‘ auch. Und genau deswegen wollte ich das Video zeigen, zumindest meinen Kolleginnen im Forschungsprojekt. Ich fand es anstrengend, das Video überhaupt anzugucken und erst recht, es zu schneiden. Ich spürte einen trotzigen Wunsch, diese unbequeme Erfahrung weiteren Zuschauer*innen nicht zu ersparen. Für mich gehörten die Länge, die Ausdauer und die Beharrlichkeit des Kindes und die Monotonie des Soundtracks zum Erlebnis des Videos dazu. ***

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Bilder (mit)teilen Beide Videos regten mich an, sie anderen zeigen zu wollen. Es waren intime Momente, die ich erlebt hatte, die ich um so intimer und intensiver erlebt hatte dadurch, dass ich sie mit der Kamera beobachtet hatte. Diese intensiven Gefühle spürte ich beim Betrachten der Videos wieder. In unserem Projekt ist diese Intimität zwischen Kameraethnographin und beobachteten Kindern das, was uns ermöglicht, die ‚alltägliche‘ Mediennutzung (kleiner) Kinder zu erforschen und sichtbar zu machen. Als ich das Tun der beiden Kinder mit der Kamera beobachtet hatte, war meine Aufmerksamkeit vollkommen auf sie gerichtet. Ich fühlte mich eingesaugt, auch wenn so viel – Alter, Erfahrungen, Sprache – uns trennte, wir waren uns so fremd, wir hätten uns nie sprachlich unterhalten können. Ich habe mir nicht eingebildet, ihre Perspektiven einnehmen zu können oder die Welt durch ihre Augen zu sehen. Ich habe mich stattdessen einfach auf das konzentriert, was sie taten, womit sie sich beschäftigten. Meine Beobachtungen waren von unserem grundsätzlichen Forschungsinteresse daran geleitet, wie Kinder das, womit sie sich beschäftigen, zu Medien machen, mittels derer sie mit ihren Welten interagieren. Die beiden gefilmten Beobachtungen ziehen Betrachter*innen in die jeweilige sinnliche Erfahrung von Räumen und Gegenständen hinein. Den Betrachtenden der Videos wird angeboten, nachzuspüren und mitzuempfinden, was die Aufmerksamkeit und Konzentration der Kinder lockt und hervorruft. Aber die einzelnen Filme lenken die Betrachtenden jeweils auf nur ein Kind, eine Situation. Jeder Film bietet eine immersive, „transkulturelle“ Erfahrung (vgl. MacDougall 1998, S. 245) – aber das ist nicht das Ziel unseres Forschungsprojektes. Wir wollen mehr anstoßen. Uns geht es darum, den Blick der Zuschauenden zu erweitern, nicht nur in die Tiefe zu saugen. Uns geht es nicht allein um die Einzigartigkeit einer einzelnen Beobachtung, sondern insbesondere auch darum, Bezüge zwischen Beobachtungen zu erproben und anzuregen. Bilder zur Schau stellen Wir veranstalten kamera-ethnographische Blicklaboratorien, um verschiedene Publika einzuladen, unsere Forschungsarbeiten anzusehen und zu diskutieren. Es ist ein Prinzip unseres Projektes, unsere Forschung in verschiedenen Kontexten öffentlich zu machen, um den gesellschaftlichen Diskurs um Familien, (Klein-)Kinder und Mediengebrauch – der oft von normativen, urteilenden Aussagen dominiert wird (u.a. Spitzer 2012) – um ethnographische Perspektiven zu erweitern.

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Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras

Ein solches Blicklaboratorium war die Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital2, die aus mehreren unterschiedlichen Videoarbeiten bestand. Eine davon war All diese Dinge. Eine Zweikanal-Videoinstallation, in der die beiden oben beschriebenen Filme nebeneinander auf zwei Monitoren als loops liefen. Durch die unterschiedliche Länge der Videos ergaben sich stets neue Bildbezüge. Diese Nebeinandersetzung sollte Betrachtende dazu einladen, sich das Tun der beiden Kinder anzusehen, aber nicht allein in die jeweiligen einzelnen Welten einzutauchen, sondern ein Zusammensehen oder einen Meta-Blick einnehmen zu können und die Bezüge, Ähnlichkeiten und Gegensätze zwischen den Praktiken der beiden Kinder zu untersuchen. Ich hoffte, auf diese Weise, die Beharrlichkeit und Eigenständigkeit beider Kinder in ihren ganz unterschiedlichen Welten zeigen zu können, damit Zuschauende möglicherweise auch die Faszination erfahren könnten, die ich beim Beobachten gespürt habe. Bilder und Blicke Bei der Ausstellung hörte ich, wie zwei Studierende der Erziehungswissenschaften über die soeben gesehene Installation sprachen. „Erschreckend“ fanden sie es. Sie diskutierten, welches der zwei Videos aus der Installation schlimmer wirkte: Das mit dem Kind in der großen Halle, dem alles immer nur weggenommen wurde und mit dem niemand wirklich interagierte? Aber um das Kind, dass das Handyspiel gespielt hat, wurde sich noch weniger gekümmert, oder? Ich hatte ein unbehagliches Gefühl. Hatte ich die zwei Kinder – beziehungsweise deren Familien – den urteilenden Blicken der Studierenden ausgeliefert? Bilder von außerhalb des Bildrahmens Es spielten nämlich andere Bilder mit, als nur die, die in der Installation zu sehen waren. Ich selber hatte ambivalente Gefühle gespürt, als ich das Kind mit dem Handyspiel beobachtete. Ich hatte mich gefragt, ob es wohl ‚gut‘ sei, dass so ein junges Kind sich so intensiv und lange mit einem bildschirmbasierten Spiel beschäftigt. Mein Unbehagen hing irgendwie zusammen mit Bildern in meinem Kopf von früheren apokalyptischen Science Fiction Szenarien, in denen die Grenzen zwischen Menschen und Maschinen verschmelzen. Die Faszination, die ich spürte, als ich die Intensivität der Beschäftigung des Kindes mit dem Handyspiel 2

Wiesemann, J., P. Hare, B. Mohn und A. Vogelpohl: Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital, Siegerlandmuseum, Siegen (09.2018–01-2019). Im Folgenden: „Das bist du!“ genannt.

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bewunderte, hatte einen Hauch von Gruseln, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Die Faszination, die ich beim Beobachten des anderen Kindes empfunden hatte, als es mit den Dingen um sich herum interagierte, war weniger kompliziert: ich genoss es einfach, in eine Welt versetzt zu werden, in der alles spannend zu entdecken schien. Meine immersive Erfahrung der Teilhabe am Tun der beiden Kinder schien nicht das gewesen zu sein, was die Studierenden am meisten beeindruckt hatte. Dass ihre Blicke auf die Praktiken der beiden Kindern gelenkt wurden, regte sie zum Bewerten und Vergleichen an: Sie fragten sich, welche Szene besser/schlimmer sei, welches Kind weiter/regressiver in der Entwicklung sei, welches Setting intimer/weniger intim gewesen sei. Ob es Ähnlichkeiten oder Unterschiede in den Arten und Weisen des Umgangs der jeweiligen Kinder mit den unterschiedlichen Materialien gab, stand für sie nicht im Vordergrund. Unser Wunsch, Zuschauende in unseren Blicklaboratorien für sich forschen zu lassen, setzt voraus, dass wir auch offen dafür sind, diverse Sichtweisen auf das, was wir zeigen, zu erleben. Trotzdem merkte ich in der Unterhaltung mit den Studierenden, dass ich von deren Sicht auf die Installation enttäuscht war. Ihre Blicke wurden wohl von weiteren Bildern gelenkt: Bilder von ‚guten‘ und ‚falschen‘ Kindheiten – nicht nur aus ihrem Studium, sondern auch kulturell verankerte Bilder, von bösen Stiefmüttern in Märchen zu zeitgenössischen Rabenmüttern, Bilder von Eltern, die keine Zeit für ihre Kinder haben und sie deshalb vor laufenden Fernsehern oder Smartphones abstellen. Bilder unterwegs Die Eltern der beiden indischen Kinder hatten mir erlaubt, ihre Kinder mit der Kamera zu beobachten und das aufgenommene Material mit nach Deutschland zu nehmen – ohne dass sie wussten, was anschließend damit passieren würde, wer es sehen würde, wie es gesehen würde. Mit ihren Unterschriften hatten sie mir ihr Einverständnis gegeben; danach lag es an mir, mit den intimen Aufnahmen verantwortungsvoll umzugehen. Sie würden den Zuschauenden höchstwahrscheinlich nie begegnen; es könnte ihnen insofern egal sein, wie sie gesehen werden. Aber vermutlich möchte wohl niemand von Fremden in der Ferne kritisiert werden. Bilder und Wörter, Bilder für sich In einer geschriebenen Ethnographie würde ich Wörter und Sätze formulieren, um eine beobachtete Situation zu beschreiben. Ich würde das hervorheben, was mir

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Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras

relevant scheint; andere Aspekte würde ich möglicherweise als kontextualisierenden Hintergrund beschreiben oder gar nicht erst erwähnen. Wenn ich mit der Kamera etwas beobachte, wähle ich Einstellungen und Perspektiven, die das, was mir relevant scheint, am besten untersuchen lassen (vgl. „Blickschneisen“ Mohn 2013, S. 176). Manchmal bedeutet das, nah ran zu gehen, sich Details genau anzusehen, manchmal zurückzutreten, um das Drumherum mitzubekommen und die Situiertheit der untersuchten Praktiken zeigen zu können. Auch in einer geschriebenen Ethnographie würde ich das Setting mitbeschreiben, aber da hätte ich mehr Kontrolle darüber, wann und wie ich was ins ‚Blickfeld‘ rücken würde. Die Umgebung, die mit ins Bild rückt, lässt sich weniger stark in einer audiovisuellen Ethnographie kontrollieren, als in einer geschriebenen. Es können nicht einfach einzelne Details unerwähnt bleiben, weil sie der Ethnograph*in uninteressant oder gar irritierend scheinen. Wissenschaftler*innen haben aufgezeigt, wie dies zu einem „excess“ (Überschuss) an visuellen Details bzw. Bedeutungen beiträgt, der droht, die ‚Aussagen‘ (audio-)visueller ethnographischer Arbeiten zu unterlaufen, wie u.a. Poole (2005) am Beispiel von kolonialen ethnographischen Photographie-Projekten einsichtsvoll darlegt. Der ethnographische Filmemacher David MacDougall hebt diesen Aspekt als einen forschungsethischen Vorteil gegenüber der Deutungsmacht einer schreibenden Ethnograph*in hervor, die seit den Writing Culture Debatten (u.a. Clifford und Marcus 1986) stark kritisiert worden ist. Bilder und bewegte Bilder werden zwar gestaltet, lassen jedoch eine „self-sufficiency“ ihrer Subjekte (MacDougall 2006, S. 6) durchscheinen: „Through their stubbornness, photographic images dispute their consecrated meanings (what Barthes called the studium) or at least have the potential to undercut them. In films the complexity of people and objects implicitly resists the theories and explanations in which the film enlists them, sometimes suggesting other explanations or no explanations at all.“ Die Installation All diese Dinge sollte keine Erklärungen liefern, sondern Zuschauende einladen, selber zu schauen – zu erforschen. Bei einer naturwissenschaftlichen Forschung werden Kategorien ausgesucht, die mögliche Ursachen konstituieren, deren Effekte durch Experimente untersucht werden können. Anhand der Installation können keine Ursachen oder Wirkungen experimentell erforscht werden, aber die Platzierung der zwei Loops nebeneinander in der Installation „drängt den Vergleich auf“, wie die Studierenden bestätigten. Beim Vergleichen jedoch werden Kategorien entworfen und ausprobiert – „Induction requires taking some classes to the exclusion of others as relevant kinds“ (Goodman 1978, S. 10) – Relevanzen, anhand derer Unterschiede und Ähnlichkeiten festgestellt werden können. Im Falle der Installation wären die unterschiedlichen Arten („kinds“) von Medien, mit denen sich die beiden Kinder beschäftigen, eine solche mögliche Kategorie. Weitere wären beispielsweise das Alter der Kinder, das Ver-

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halten der anderen Anwesenden, die allgemeine Atmosphäre des Ortes, die Sprache, der Ort und das Aussehen der Kinder. Bilder unter Bildern, Bilder gegen Bilder Die Studierenden berichteten, eine „kalte“ Atmosphäre bei beiden Videos empfunden zu haben. In beiden Situationen „fehle“ es an Kontakt zwischen Kleinkind und anderen Anwesenden – es wäre besser, wenn Medien (digitale oder sonstige) gemeinsam genutzt würden. ‚Kälte‘ beschrieb dabei einen empfundenen Mangel an Intimität. Dieses Gefühl sei verstärkt, vermuteten die Studierenden, durch den starken Kontrast zu den „intimeren“ Familiensituationen, die in der gegenüberstehenden Dreikanal-Videoinstallation Face to Face – Face to Screen der Ausstellung zu sehen waren. Einige Videosequenzen der Dreikanal-Videoinstallation zeigten Kinder, denen von Mitgliedern ihrer Kernfamilie auf behutsame Weise beigebracht wurde, wie mit Smartphones oder anderen Medien umzugehen sei. Diese Sequenzen sind bei Forschungsterminen beobachtet worden, in deren Vorfeld verabredet wurde, die Mediennutzung von Kindern im Rahmen einer Langzeit-Studie zu untersuchen. Die Situationen, in der ich die Videos, die in All diese Dinge liefen, machte, sind hingegen nicht mit den Eltern im Voraus geplant worden, sondern haben sich relativ spontan dadurch ergeben, dass ich Freundinnen besucht und begleitet habe. Diese Hintergrundinformationen wurden den Zuschauenden nicht mitgeteilt, denn uns ging es darum, Bilder und Praktiken an und für sich wirken zu lassen. Jedoch weist die angemerkte ‚Kälte‘ der Videos darauf hin, dass es problematisch sein kann, wenn „excess“ (überschüssige Information) mitschwingt und ins Bild rückt, ohne erklärt zu werden. Die Jugendlichen, die sich zurückhaltend in dem Wohnzimmer mit dem am Handy spielenden Kind aufhielten, wurden von den Studierenden für Geschwister gehalten. Deren Zurückhaltung wurde dementsprechend als emotionale Kälte innerhalb einer Familie gedeutet, statt als ein Anzeichen ihrer Einordnung in die Haushaltsstruktur. In Indien haben viele Familien angestellte Haushaltshilfen, die im Hause wohnen; in Deutschland ist das selten und entsprechend ‚befremdlich‘. Statt kulturelle Eigenschaften zu thematisieren, wollen wir den Fokus auf die Medienpraktiken von Kindern setzen und wie diese möglicherweise die kulturellen Unterschiede übergreifen können oder nicht. Dieser unerklärte „excess“ an sichtbarer Differenz könnte aber eventuell den gegenteiligen Effekt haben, nämlich, dass die für deutsche Zuschauende unvertrauten, eventuell ‚befremdlichen‘ Aspekte der beiden Videos am meisten Neugier erwecken. Dabei könnten die Zuschauenden abgelenkt werden von dem, worum es gehen sollte: wie die Kinder mit den Medien umgehen.

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Affektive und ethische Dimensionen meiner Forschung mit Kindern und Kameras

Bilder, die repräsentativ werden Anders als in einer schriftlichen Ethnographie, kann es bei Bildern keine Anonymität geben. Gesichter sind sichtbar und sind das, womit als erstes eine öffentliche Identität verbunden wird. Es wäre auch nicht in unserem Sinne, unsere Forschungsteilnehmer*innen durch Verpixelung oder sonstige Techniken unkenntlich zu machen, denn sie sind keine Kriminellen, sondern freiwillig Mitwirkende. Zu den mitschwingenden visuellen Informationen gehören Gesichtszüge, die eine Person als Individuum zeigen und die auch deren ethnische Herkunft oder ‚race‘3 sichtbar machen. In unserer ethnographischen Forschung arbeiten wir eng mit Familien zusammen, die wir immer wieder besuchen, um deren Alltag zu beobachten. Es ist nicht unser Ziel, einen repräsentativen Querschnitt abzudecken, denn wir gehen davon aus, dass jede Beobachtung einzigartig ist: das gemeinsam hervorgebrachte Ergebnis einer situierten Begegnung zwischen Forschenden und anderen Teilnehmenden. Die Einzigartigkeiten einzelner Situationen verweisen jedoch auf Gemeinsamkeiten und Überschneidungen mit anderen Situationen, wenn sie zusammen gebracht werden. Auch wenn unsere teilnehmenden Familien keine demographisch repräsentativen Beispiele darstellen, haben wir uns bemüht, mit diversen Familien zu arbeiten. In den ersten drei Jahren unseres Projektes war eine Familie aus dem Libanon mit dabei, die nach Deutschland geflohen war, sowie einige Familien aus unterschiedlichen Orten und Kontexten in Indien, zu denen ich Kontakt bekommen hatte. Diese Diversität führte dazu, dass Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben in unterschiedlich eingerichteten Settings in unseren filmischen Arbeiten4 sowie in der Ausstellung „Das bist du!“ gezeigt wurden und werden. Es ist mir ein Anliegen gewesen, zu zeigen, dass die digitale Revolution in Indien genauso angekommen ist, wie in Deutschland. Für viele Menschen ist dies zwar bestimmt selbstverständlich, aber dank der Hartnäckigkeit orientalistischer Denkmuster (Saïd 1978) sind Handys und andere digitale Unterhaltungsmedien möglicherweise nicht das Erste, woran Europäer*innen denken, wenn sie sich eine indische Familie vorstellen. (Und auch nicht das, woran die meisten Mittelschichts-Inder*innen denken, wenn sie an Nordostindien denken – die Region ist eher für indigene/tribale separistische politische Bewegungen bekannt). Als Anthropologin ist es mir auch ein Anliegen, dem Aufruf von Abu-Lughod (1991) zu folgen und „entgegen der Kulturalisierung von Kultur“ zu arbeiten: z.B., indem sichtbare kulturelle Besonderheiten und Brauchtümer nicht thematisiert werden, sondern einfach als Hintergrund erscheinen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass diese 3 4

Ich benutze den englischen Begriff, um auf die soziale Positionierung hinzuweisen, die durch die Konstruktion von ‚Rassen‘ als gesellschaftlicher (keineswegs biologischer) Kategorie hervorgebracht wird (siehe Eggers et al. 2005). Z.B. Publizierte DVD, Konferenzvorträge, Video-Installationen.

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Weigerung der Kontextualisierung den gegenteiligen Effekt haben könnte. Die Studierenden, deren Kommentare ich oben zitiert habe, meinten, dass die Installation All diese Dinge umso ‚erschreckender‘ beziehungsweise ‚nicht intim‘ wirkte, weil sie in der Ausstellung räumlich gegenüber der Installation Face to Face platziert worden war, in der eher ‚kuschelige‘ Szenen deutscher Familien zu sehen waren. Diese stark kontrastierende Gegenüberstellung wird Folge eines temporalen ‚Zufalls‘ gewesen sein, denn Face to Face beinhaltet nicht nur ‚kuschelige‘ Szenen und zeigt auch nicht nur deutsche Familien. Aber da wir mit zeitlichen und räumlichen Anordnungen und Verschiebungen arbeiten, ist diese Anmerkung ein Ergebnis, das wir bei zukünftigen Blicklaboratorien mitbedenken sollten. Bei der Konzeption von All diese Dinge hatten wir uns entschieden, zwei Filme aus Nordostindien nebeneinander zu zeigen, um zu vermeiden, dass ethnische/kulturelle Vergleiche gemacht werden würden – wenn auch nur auf impliziter Ebene. Nichtsdestotrotz sind die zwei Settings, die in All diese Dinge gezeigt werden, in vielerlei Hinsichten eigentlich unvergleichbar – bis sie nebeneinander gestellt werden. Bei mir bleibt somit ein etwas mulmiges Gefühl. Einerseits geht es in unserem Projekt nicht um ‚race‘ oder ‚Kultur‘ und ich finde es gut, den Fokus von solchen Kategorien wegzulenken. Andererseits bleiben diese Kategorien sichtbar und können von Zuschauenden als mehr oder weniger „relevant kinds“ (Goodman) eingeordnet werden, bewusst oder implizit. Wie Eddo-Lodge (2017) so pointiert aufzeigt, reicht beabsichtigte „colour blindness“ nicht, um die Wirkungsmacht rassifizierter Kategorien abzusprechen; das behaupten meistens Menschen, die von solchen Kategorien nicht selber betroffen sind. Alternativ-Bilder Zwei Jahre nachdem ich ihr Kind beim Handyspielen beobachtet hatte, hat die Mutter des Wohnzimmerkindes ein Bild von ihm als ihr Whatsapp-Profilfoto eingerichtet. Das Kind posierte mit breitem Lächeln in einer dynamischen Pose draußen an der frischen Luft, seine Füße standen im Wasser eines sprudelnden Baches. Dieses Bild hatte seine Mutter ausgewählt, um sich durch ihn zu präsentieren – genau dieses Bild und keines, auf dem er sich mit digitalen Medien beschäftigte. Das Bild strahlte Wärme und Herzlichkeit aus: ein Kindheitsbild, wie ‚wir‘ es gerne sehen (vgl. Amann in diesem Band). Ich überlegte, ob ich dieses Bild nicht unmittelbar neben der Installation aufhängen würde, wenn sie wieder einmal gezeigt werden würde, um deutlich zu machen, dass das digitale Spielen nur eine von vielen Arten der Mediennutzung dieser Familie darstellt.

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Bilder eines größeren Bildes: Bilder zum Anfassen, Ordnen, Verknüpfen Die Ausstellung „Das bist du!“ bestand aber nicht nur aus den zwei Installationen, die ich bisher beschrieben habe. Ein weiteres Angebot an das Publikum war das Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital (im Folgenden: WLG). An drei Tablets mit Kopfhörern konnten Besucher*innen der Ausstellung 178 kurze Videofragmente für sich aufrufen und abspielen. Viel mehr ging es jedoch darum, dass sie 35 Begriffe als Filter benutzen konnten, um kleinere, nach Praktiken und Medien sortierte Untergruppen aus den Videofragmenten zusammenzustellen. 22 Begriffe betrafen Verben; 13 Begriffe Substantive. Anlehnend an Wittgesteins Konzept der „übersichtlichen Darstellung“ (Wittgenstein 1989 – 1993), sollte das WLG dazu anregen, Bezüge zwischen Praktiken, Medien und den sichtbaren Konstellationen, die sie gestalten, zu entdecken, zu vergleichen und (um)zuordnen. Dass in diesem Fall die Interaktion zwischen Publikum und audiovisuellem Angebot eine aktivere war, als das Zuschauen und Zuhören der Zwei- und Dreikanal-Videoinstallationen, zielte darauf, den Schwerpunkt zu verschieben. Bei dem WLG geht es, wie bei den anderen Installationen auch, um ein Vergleichen, aber der Vergleich wird weniger ‚aufgedrängt‘, als vielmehr selber – nach eigenem Interesse – ausgesucht. Die verfügbaren Videos und Begriffe sind vorbestimmt, aber dadurch, dass die Ausstellungsbesucher*innen selber davon auswählen, wird ihre Sicht beim Betrachten auf bestimmte „relevant kinds“ fokussiert. So kann beispielsweise erforscht werden, auf welche unterschiedlichen Weisen ‚gucken‘ in Zusammenhang mit unterschiedlichen Medienarten geschieht. Diese Fokussierung dient gleichzeitig zur Ablenkung von sonstigen „excess visual detail“ (wie zum Beispiel ‚race‘), die dann eher als mitschwingende statt als kennzeichnende Informationen wahrgenommen werden. Mit seiner großen Anzahl an Videofragmenten aus sehr diversen Situationen erlaubt das WLG, dass Praktiken und Medien als gemeinsame Nenner hervortreten, wobei kulturelle Unterschiede (nicht als Begriffe auswählbar) hintergründig erscheinen. Die Blicke auf die jeweiligen Praktiken werden dadurch weiter geschärft, dass die Videofragmente durch uns nach minimalen und maximalen Kontrasten ausgewählt worden sind. Die extreme Kürze (ca. 30–100 Sekunden) und die Diversität der Videofragmente wirken einer immersiven Seherfahrung entgegen. Mal mehr, mal weniger zeigen die Ausschnitte kurze Narrative in sich, mit Protagonist*innen, mit denen sich Zuschauende identifizieren können. Aber kurz nachdem die Zuschauenden in eine Situation eingestiegen sind, ist sie auch schon wieder vorbei. Und als nächstes kommt etwas, was möglicherweise auf den ersten Blick ganz anders wirkt, auf den zweiten dann doch etwas mit dem Vorherigen gemeinsam hat. Ein drittes Fragment zeigt einen anderen Aspekt, ein viertes eröffnet eine weitere Perspektive… (Siehe zum WLG auch Mohn und Amann in diesem Band).

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Das WLG macht deutlich, dass es in unserem Projekt nicht um einzelne Kinder geht, auch wenn wir einzelne Kinder beobachten. Es geht zwar auch um einzelne Kinder, aber umso mehr um das ‚auch‘. Es geht um das Dazwischen, die Verknüpfungen und Bezüge. Diese Fragmentierung und der erweiterte Blick wirken dem entgegen, was MacDougall das „Transkulturelle“ am ethnographischen Film nennt. Durch seine besondere Stärke, körperliche Aspekte und Praktiken über die Sinne statt sprachlich zu vermitteln, lässt der ethnographische Film die gemeinsame Menschlichkeit der Protagonist*innen, der filmenden Ethnograph*in und der Zuschauenden durchscheinen, behauptet MacDougall (1998). Dies erfolge vor allem durch einen Fokus auf die materielle Umwelt und durch Narrative, die mit und durch Protagonist*innen erzählt werden, um eine Identifikation mit fremden Menschen trotz ihrer ‚Fremdheit‘ zu ermöglichen. Die Videofragmente des WLGs zeigen kurze Narrative, die dank ihrer Kürze immer wieder unterbrochen werden. Das hat eine befremdliche Wirkung insofern, als dass es einer Identifikation der Zuschauenden mit den Protagonist*innen der jeweiligen Fragmente entgegenwirkt. Als wir anfingen, an dem WLG zu arbeiten, hat mich das gestört. Mir fiel es extrem schwer, die Fragmente kurz zu schneiden, die Praktiken aus ihrem (temporalen) Kontext herauszuhebeln. Für mich hatte der Vorgang und Entscheidungsprozess etwas gewaltsames, antiholistisches. Im Laufe des Prozesses musste ich jedoch erkennen, dass die entstehenden Fragmente eine neue Sichtweise ermöglichen: eine Meta-Ebene. Was MacDougall (2003) dem Film abspricht – oder zumindest betont, es sei nicht seine Stärke – nämlich, unterliegende Strukturen sichtbar zu machen, wird durch die Umsortierbarkeit der Fragmente ermöglicht. Dabei sind es weniger gesellschaftliche oder infrastrukturelle Beziehungen, die zum Vorschein kommen, sondern verbildlichte Varianten beobachtbarer Praktiken, deren Bezüge auf der Ebene des Bildes zur Beobachtung angeboten werden. Zum Beobachten und Beforschen viel mehr als zum Hineintauchen. Es wird somit zu allen Videofragmenten eine Distanz geschaffen, unabhängig davon, wie familial oder fremd ihre Settings wirken. Diese Befremdung von allem ‚Bekannten‘ sowie ‚Fremden‘ sehe ich als einen konstruktiven Beitrag im Sinne des Aufrufs von Abu-Lughod (1991), Ethnographien „against culture“ (gegen Kultur bzw. Kulturalisierung) zu produzieren. Das Format des WLGs setzt einen Rahmen, in dem „connections“ (Verbindungen) als sichtbar hervortreten können. Es bietet als mögliche (durch die Begriffe vorbestimmte) Bezüge, keine kulturellen, regionalen oder identitären Eigenschaften an, sondern Praktiken, die über solche konstruierten ‚Grenzen‘ hinweg praktiziert werden.

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Jedoch bleibt bei mir eine Ambivalenz gegenüber dieser Befremdung. In einem viel zitierten Gespräch5 warf einer seiner früheren Kollaboratoren, Ousmane Sembène, Rouch vor, Rouch und andere Afrikanisten würden in ihren Filmen Afrikaner*innen wie Insekten betrachten und untersuchen. Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, kam mir als Sinnbild dazu eine Vorstellung von ausgebreiteten hübschen Formen, als Matrix geordnet um genealogische Bezüge sichtbar zu machen, in den Kopf. Dieses Bild könnte ich auch provokanterweise in Verbindung mit dem Prinzip des WLGs zusammenbringen: viele kleine Prachtstücke, Exemplare ausgestellt, damit ihre Diversität bestaunt werden kann. Wie bewegte Exemplare in einem (ethnologischen) Museum, die, aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgerissen, nun distanzierten, prüfenden Blicken ausgesetzt werden. Dagegen könnte argumentiert werden, dass Blicke auf Andere nicht zwangsläufig gewalttätig sein müssen, wie sie es historisch allzu oft gewesen sind6, sondern auch wohlwollend neugierig und offen sein können; aber das ist eine philosophische Diskussion, die in Rahmen dieses Beitrags nicht entknotet werden kann. Die kolonialen Machtverhältnisse, die die Situationen gekennzeichnet haben, in denen Franzosen Filme über Afrikaner7 in französischen Kolonien gemacht haben, sind nicht mit denen, die unsere Forschungssituationen kennzeichnen, vergleichbar. Jedoch – wie schon unzählige Autor*innen nahegelegt haben, nicht nur im Rahmen der Writing Culture Debatten der 1980er und -90er Jahre – schafft jede Forschungssituation eine Machtdifferenz zwischen Beobachtenden und Beobachteten. Es geht um Deutungsmacht. Die Beobachtenden schreiben anhand ihre Beobachtungen schließlich Berichte, schneiden Filme oder vermitteln ihre Erkenntnisse mittels anderer Formate. Die Bedeutungen (eines Berichts, Films, einer Ausstellung, usw.) werden dabei nicht ausschließlich von deren Autor*innen festgelegt, sondern werden in Rezeptions-Ereignissen von Rezipient*innen mit-konstruiert. Die aktive Teilnahme an dieser Mit-Konstruktion von Bedeutungen wird umso offensichtlicher, wenn das WLG ‚gespielt‘ wird. Die Struktur des WLGs, die Videofragmente und Begriffe, die angeboten werden, legen gewisse Deutungen nahe, ohne sie festzuschreiben. Die Beteiligung der Zuschauenden/Nutzer*innen des WLGs an dem ‚Ordnen der Dinge‘ soll ihnen einen Zugang zum Forschungsprozess eröffnen. Provozierend könnte man jedoch fragen, ob wir uns scheinbar der Verantwortung für die produzierte ‚Ordnung‘ entziehen, in dem wir die Zuschauenden zu Kompliz*innen machen? Wir machen jedoch eine Langzeitforschung, kein sensations-journalistisches Jagen nach ‚krassen‘ Bildern. Mit den meisten Familien arbeiten wir über Jahren hinweg, begleiten die aufwachsenden Kinder und teilen unsere Videos mit den 5 6 7

Der Dialog wurde erstmals 1982 publiziert in CinémAction (17) Jean Rouch: Un griot gaulois. Vgl. z.B. hooks (1992). Hier verwende ich absichtlich die maskuline Form.

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Familien, beobachten, wie sie sich selber beobachten und wie sie auch uns beobachten. Die Videos, die wir weiteren Publika zeigen, werden vorher von den Familien ‚abgenommen‘. Bei den meisten Familien ist es so. Nur leider ist es mir bisher noch nicht gelungen, die zwei All diese Dinge Filme den jeweiligen Familien zu zeigen. Und trotzdem fand ich sie so faszinierend, dass ich sie weiter zeigen wollte. Die Eltern hatten mir ihre Einverständnisse dafür gegeben, zu beobachten und die aufgenommenen Beobachtungen weiter zu zeigen. Jetzt, in 2020, sind DVDs8 unterwegs zu den Familien, aber wegen Verkehrseinschränkungen zur COVID-19-Pandemie noch nicht angekommen. Ich bleibe gespannt auf Feedback von den Eltern… Literatur Abu-Lughod, Lila. 1991. Writing against Culture. In Recapturing Anthropology: Working in the Present, hrsg. von Richard G. Fox, 137–54, 161–2. Santa Fe: School of American Research Press. Cervoni, Albert. 1982. Jean Rouch — Sembene Ousmane: „Comme Des Insectes“ In Jean Rouch: Un griot gaulois. CinémAction 17, hrsg. von René Prédal. Clifford, James und George E. Marcus. 1986. Writing Culture: the Poetics and Politics of Ethnography: a School of American Research Advanced Seminar. Berkeley: University of California Press. Eddo-Lodge, Reni. 2017. Why I’m No Longer Talking to White People About Race. London: Bloomsbury. Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt, Hrsg. 2005. Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast. Goodman, Nelson. 1978. Ways of Worldmaking. Indianapolis: Hackett. Hare, Pip, Bina E. Mohn, Astrid Vogelpohl und Jutta Wiesemann. 2019. Face to Face – Face to Screen: Frühe Kindheit und Medien. 24 kamera-ethnographische Miniaturen. (DVD und Katalog deutsch/englisch). Berlin, Münster: LIT Verlag. hooks, bell. 1992. Race and Representation. Boston, Mass.: South End Press. Mohn, Bina E.. 2013. Differenzen zeigender Ethnographie. Blickschneisen und Schnittstellen der Kamera-Ethnographie. In Themenheft Visuelle Soziologie.

8

Die beiden Filme, die in der Installation All diese Dinge als Loops laufen, sind auch als eigenständige Filme auf der DVD mit Buch Face to Face – Face to Screen. Frühe Kindheit und Medien. 24 kamera-ethnographische Miniaturen (Hare et al. 2019) publiziert worden. Als ich Anfang 2020 in Indien war, habe ich Exemplare zur Weitergabe an die Familien der beiden Kinder an meine Freundinnen übergeben bzw. geschickt. Vorherige Versuche, digitale Dateien über eine Messaging App zu schicken, waren nicht erfolgreich gewesen.

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Soziale Welt 1 (2) 2013, hrsg. von Bernt Schnettler und Alejandro Baer. 171– 189. Nomos. MacDougall, David. 1998. Transcultural Cinema. Princeton, NJ: Princeton University Press. MacDougall, David. 2003. Beyond Observational Cinema. In Principles Of Visual Anthropology. 3. Aufl., hrsg. von Paul Hockings, 115-132. Berlin: Mouton de Gruyter. MacDougall, David. 2006. The Corporeal Image. Princeton, NJ: Princeton University Press. Poole, Deborah. 2005. An Excess Of Description: Ethnography, Race, and Visual Technologies. Annual Review of Anthropology 34:1. doi: 10.1146/annurev.anthro.33.070203.144034. Rouch, Jean. 2003. The Camera and Man. In Principles Of Visual Anthropology. 3. Aufl., hrsg. von Paul Hockings, 79–98. Berlin: Mouton de Gruyter. Spitzer, Manfred. 2012. Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Munich: Droemer Knaur. Wittgenstein, Ludwig. 1989–1993. Philosophische Untersuchungen (1949–1950). In Werkausgabe in 8 Bänden. Bd 1. Frankfurt/M: Suhrkamp. Verzeichnis der Filme und Installationen Hare, Pip, Bina E. Mohn, Astrid Vogelpohl und Jutta Wiesemann. 2019. Face to Face – Face to Screen: Frühe Kindheit und Medien. 24 kamera-ethnographische Miniaturen. (DVD und Katalog deutsch/englisch). Berlin, Münster: LIT Verlag. Hare, Pip, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018. Filme: Pip Hare. All diese Dinge (Zweikanal Videoinstallation mit versetzten Loops. 10:03 Min. & 6:05 Min.). In Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019). Mohn, Bina E., Pip Hare und Astrid Vogelpohl. 2018. Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital. (Interaktive Sortierung auf Tablets). In Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019). Vogelpohl, Astrid, Pip Hare und Bina E. Mohn. 2018. Face to Face – Face to Screen. (Dreikanal-Videoinstallation, 12:54 Min.). In Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018– Januar 2019). Wiesemann, Jutta, Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018–2019. Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019).

Kindheit unter Beobachtung Klaus Amann

1

Einleitung

In ihrer Siegener Ausstellung „Das bist du!“ Frühe Kindheit digital präsentierten die Forscher*innen Ergebnisse ihrer Langzeituntersuchung in zahlreichen Familien mit kleinen und großen Kindern. Sie luden die Besucher*innen in ihr kameraethnographisches Blicklabor ein1. In den folgenden Überlegungen nehme ich meine Besuchs- und Diskussionserfahrungen während der Ausstellung zum Anlass einer soziologisch informierten Rezension. Für diese Rezension werde ich mich auf zwei zusammen arrangierte Videos konzentrieren.2 Diese Rezension wechselt in ihrem Verlauf die Perspektiven. Obschon meine persönliche Involviertheit in die Entwicklung der Kamera-Ethnographie nicht auszublenden ist, nutze ich die Strategie einer Perspektivenübernahme eines informierten Ausstellungsbesuchers und verwende dabei entsprechende sprachliche Formate und Deutungsstrategien. Zu dieser strategischen Perspektivenwahl gehört, die Elemente der Ausstellung in einer befremdenden Weise und in einer Beobachtungssprache zur Darstellung zu bringen (Amann und Hirschauer 1997). Darüber hinaus verfolge ich mit diesem Text die Idee, dass ein hervorgehobenes Merkmal gegenwärtiger Kindheit ihre fortgesetzte Beobachtung ist – sei sie nun akademisch-wissenschaftlich, sei sie ein Alltagsphänomen.3 Zu sehen waren an einem eher universitätsfernen, musealen Ort mehrere Videoinstallationen und ein Mitmachspiel unter dem zunächst paradox klingenden Titel Wordless Language Game 01 (Mohn et al. 2018). Dieser Titel führt allerdings auf die erste Spur, die die Macherinnen für uns Rezipierende gelegt haben. 1

2

3

Jutta Wiesemann, Pip Hare, Bina Mohn und Astrid Vogelpohl (2018–2019): Ausstellung „Das bis du!“ Frühe Kindheit digital des Forschungsprojekts Frühe Kindheit und Smartphone. Familiäre Interaktionsordnung, Lernprozesse und Kooperation (Jutta Wiesemann). Das Projekt ist Teilprojekt B05 des SFB 1187 Medien der Kooperation (Universität Siegen). Siehe: https://www.mediacoop.uni-siegen.de/de/projekte/b05/. Es handelt sich dabei um die Zweikanal-Videoinstallation All diese Dinge (Hare et. al 2018). Die Filme hierzu wurden mir von den Autorinnen dankeswerter Weise zur Verfügung gestellt. Die dadurch möglichen Detailbeobachtungen hätten – vor Ort durchgeführt – dort einen hohen Zeitaufwand bedeutet. In einer vergleichbaren Perspektive argumentieren die Autor*innen des von Kelle herausgegebenen Bandes Kinder unter Beobachtung (2010) in dem sie u.a. die medizinische Praxis entwicklungsdiagnostischer Verfahren in den sozialwissenschaftlichen Blick nehmen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6_12

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Anders als in uns geläufigen Forschungsarbeiten aus den Sozialwissenschaften stehen bewegte Bilder, Videos und deren Präsentationen in unterschiedlichen medialen Darreichungsformen im Mittelpunkt. Die gesamte Ausstellung ist ein raffiniertes Spiel mit klug arrangierten Bildern. So steht in einer Ecke des Ausstellungsraums ein Monitor im Kreis gemütlicher Sitzmöbel. Wenn wir uns dazu setzen, sitzen wir drei Kindern gegenüber, die es sich ebenfalls auf einer Sitzlandschaft gemütlich gemacht haben und wir werden in eine kamera-ethnographisch beobachtete Wohnzimmersituation hineingezogen. An anderer Stelle fordert uns die triptychon- und diptychonartige Montage von Videoscreens fortlaufend auf, den Blick schweifen und wechseln zu lassen, sowohl das eine als auch das andere zu sehen. Schließlich ist bei dem auf mehreren ausgelegten Tablets vorbereiteten Spiel das aktive Manipulieren der Abfolgen von kleinen Videostückchen (Miniaturen) gefordert. Das ‚sich dazu setzen‘, das ‚Blicke schweifen lassen‘ vor den Screens und das ‚Handling‘, die ‚Mani-Pulation‘ mittels der Touch-Screens führt uns leibhaftig an die zentrale methodische Idee des Blicklabors heran: ein teilnehmendes, aktives, forschendes Verhältnis zur Visualität des Sozialen zu etablieren und dauerhaft aufrecht zu erhalten. Dieses aktive Verhältnis zum Forschungsgegenstand ist mit der Anfertigung von Forschungsergebnissen in Form von publizierten Filmen nicht beendet. Wir Rezipierende sind vielmehr aufgefordert, diese Ergebnisse als Zwischenresultate der analysierten Forschungsthemen zu betrachten und sie als Ausgangspunkt für eigene, weitere Beobachtungen und Blickexperimente zu begreifen und zu nutzen: mit ihnen weiter zu spielen. Das Wordless Language Game 01 (siehe auch Hare und Mohn in diesem Band) können wir in doppelter Hinsicht als Darstellung einer erkenntniserweiternden Spielweise verstehen. „An ‚Tablet-Stationen‘ stehen 178 Filmfragmente, 22 Verben (Praktiken) und 13 Substantive (Medien) zur Wahl, um daran spezifische Ensembles an Filmen zusammenzustellen und zu untersuchen. Dies bedeutet: sortieren und gucken, vergleichen, unterscheiden und verknüpfen, in Worte fassen, beschreiben und diskutieren“ (Ausstellungsheft). Die Forscherinnen präsentieren uns hier visuell argumentierende Ergebnisse ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den Phänomenen ihres Untersuchungsfeldes: als Zeuginnen und Kamera-Ethnographinnen in den Beobachtungssituationen und als Autorinnen des vorliegenden, geordneten Spiels.4 Man könnte dieses Arrangement technisch wie inhaltlich aufbereiteter, visueller Teilchen als eine Art Kaleidoskop betrachten. Die ordnenden Begriffe (hier kommt doch Sprache ins Spiel!) werfen 4

Bina Mohn hat mich an dieser Stelle zurecht darauf hingewiesen, dass der Begriff der Zeugenschaft problematisch ist, sobald er zu einer intendierten dokumentarischen Rhetorik wird. Die Zeugenschaft ist im Fall der musealen Rezeption jedoch ein unentrinnbarer Effekt und das Produkt der Autorenschaft. Wie bei einem Kippbild kann ich über diesen Eindruck der Bezeugung nur schwerlich hinwegsehen, sobald ich mich der Suggestivität der Bilder ausgesetzt habe.

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jeweils eine Anzahl dieser zugeschnittenen, ‚geschliffenen‘ Bilderfolgen in das – metaphorisch gesprochen – vorbereitete Rohr des Kaleidoskops und ermöglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede in beliebigen Durchgängen in unterschiedliche sequenziell-visuelle Beziehungen zu einander zu bringen. Man könnte dies als das instrumentelle Zentrum des vorgeführten Blicklabors verstehen. Sobald dieses Kaleidoskop gedreht wird, entsteht neben der Rekombination audio-visueller Partikel sowohl ein individuelles Assoziieren und Nachdenken, als auch ein Strom diskursiv anschlussfähiger Beobachtbarkeiten. Im gemeinsamen Betrachten kommen diese dann ‚zur Sprache‘. 2

Frühe Kindheit digital

Frühe Kindheit zeigt sich in den Ausstellungsstücken an Kindern in ihren ersten 36 Lebensmonaten. Es sind Szenen, die sich außerhalb von Bildungsinstitutionen, Krippe oder Kindergarten abspielen. Meist sind es Beobachtungen, die in – vor anonymen Blicken geschützten – privaten oder halböffentlichen Räumen in familialen Alltagszusammenhängen von Eltern ermöglicht wurden. Digitale Kindheit: Was mag das sein? Für manche der Besucher*innen möglicherweise die Wirklichkeit zu einem Schreckensbild, das ein Bestsellerautor wie der Kinderpsychiater Spitzer (Spitzer 2014 und 2019) nicht müde wird in düsteren Farben auszumalen? Digitale Kindheit ist zunächst digitalisierte Kindheitsbeobachtung, also die ästhetisch anspruchsvoll umgesetzte Verbildlichung mit technisch hochwertigem Gerät. Das Resultat ist paradox: eine naturalisierende Beobachtung von Kleinkindern im familialen Alltag. Wir bewegen uns mit der Kamera auf Augenhöhe und im Nahbereich der vor der Kamera agierenden Kinder und Erwachsenen. Wir dürfen dabei sein, wenn ‚Familie gemacht wird‘. 3

Was geht hier vor?5

Auf der einen Seite ein hoher, kahler und rohbauartiger Innenraum, in dem eine Vielzahl erwachsener Frauen sich versammelt haben. Die Kamera lenkt unseren 5

In diesem Abschnitt beziehe ich mich zunächst auf den links projezierten Film der ZweikanalVideoinstallation All diese Dinge (Hare et al. 2018). Aus dem Programmheft: „Zwei parallele Monitore, zwei Kinder, vielfältige Welten. Die Filme dieser Installation laufen asymmetrisch, in unterschiedlich langen Loops, was sich stets ändernde Gegenüberstellungen ergibt. Die Kinder bewegen sich durch unterschiedliche materielle und digitale Umgebungen und Räume, berühren, tasten und greifen, interagieren und probieren, bedienen und navigieren. Durch eine Kameraführung, die sich unbeirrt für das jeweilige Kind und sein Tun interessiert, werden die Betrachter*innen eingeladen, sich in die Welten der beiden Kinder abwechselnd hineinzuversetzen, während

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Blick zunächst auf ein Kleinkind (ca. 18 bis 24 Monate alt). Wir sehen das Kind mit einem Blechgeschirr, dann mit einem Pappteller hantieren. Der Blick auf das Ganze zeigt uns einen erhöhten Fußbodenbereich in einer größeren Halle. Dort haben sich mehr als zehn Frauen auf einem Teppich platziert. Drei Frauen sitzen auf der Kante dieses erhöhten Bereichs etwas abseits der Teppichsituation. Erkennbar sind Essen und Trinken. Erkennbar wird, dass das Kind und eine der sitzenden Frauen wiederholt füreinander aufmerksam sind. Das Kind sucht körperliche Nähe und Blickkontakt (Abb. 1a), die Frau spricht mit dem Kind, nimmt und gibt ihm Gegenstände, verschiebt es im Raum und lässt ihm wieder seinen freien Lauf.

Abbildungen 1a und 1b: Videostandbilder: Pip Hare (2017) Das Kind ist die einzige Person, die sich in der Szene laufend im Raum bewegt. Drohgesten (Abb. 1b) holen das Kind von einem in der Ecke liegenden Gegenstand zu sich an den Teppich zurück.6 Das Kind bleibt bei seinen suchenden und findenden Bewegungen im Raum, die Erwachsene beobachtet, greift ein, lässt wieder freien Lauf. Verschiedene Hände und Handgriffe unterschiedlicher Erwachsener greifen, schieben, bedienen, belehren das Kind. Es ‚entdeckt‘ und ‚begreift‘ unterschiedlichste Gegenstände, die Teil der Essensszene sind (Abb. 2a).

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sie zugleich durch das, was nebenan geschieht, stets aufs Neue zu Vergleich und Perspektivenwechsel animiert werden. Beide Filme wurden von Pip Hare 2017 in Nordost Indien gedreht.“ Ob es sich bei dem, was ich in der Szene bzw. im Video beobachte ‚tatsächlich‘ um eine Drohgeste handelt, soll hier dahingestellt bleiben. Ich könnte auf alle Fälle einige Indizien dafür benennen, die mich zu dieser Deutung gebracht haben. Klassisch zu diesem Interpretationsproblem: Geertz, Dichte Beschreibung 1973.

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Abbildungen 2a und 2b: Videostandbilder: Pip Hare (2017) Das Kind wird geschoben und getragen, von der erhöhten Ebene heruntergehoben (Abb. 2b). Die Essenssituation geht zu Ende, die Gegenstände werden durch die Frauen beiseite geräumt. Die Entdeckungstour des Kindes setzt sich fort. Die Frauen stehen und sitzen eng zusammengerückt am Rande des erhöhten Bereichs. Später in mehreren Gruppen, angelehnt in der Nähe der Fensteröffnungen im Raum. Das beobachtete Kind bleibt an den Sachen interessiert, die sich nun auf einem Haufen mitten im Raum befinden: Papier, Hefte, Ordner, eine Blechdose. Eine der Frauen greift wieder ein, nimmt Teile der Sachen auf. Ein zurückbleibender Stift gibt dem Mädchen die Gelegenheit, ein Brotstück7 in seiner Hand zu ‚bestochern‘. Dabei sucht ihr Blick nach unterschiedlichen Seiten anscheinend etwas/jemanden. Brotstück und Stift bleiben nun in den Händen, das Kind orientiert sich jedoch auf anderes im Raum. Etwas später. Zwei auf eine Plastik-Wasserflasche gestülpte Plastikbecher finden die Aufmerksamkeit des Kindes. Becher und Flasche werden zu Objekten, die mit Händen und Blicken manipuliert und inspiziert werden. Die umfallende Flasche wird von der daneben sitzenden Frau wiederaufgerichtet, ohne dass deren Aufmerksamkeit am Kind bleibt. Schließlich ‚verschleppt‘ das Kind Becher und die Flasche, was von der Erwachsenen mit Blicken begleitet wird. Die Kamerafrau bekommt erkennbar das Interesse des Kindes. Die dauerhafte Orientierung des Blickfokus auf das eine Kind zeigt im Verhältnis zum übrigen Geschehen an diesem Ort dessen fortgesetzte autonome Aktivitäten. Nichts erscheint für die Beobachtenden auf das Kind hin arrangiert, ausgewählt oder gar vorbereitet. Nur die Kamera ist es, die einen kontinuierlichen Handlungszusammenhang des Kindes überhaupt wahrnimmt und dadurch konstituiert, indem sie es ‚nicht aus den Augen lässt‘. Im Verhältnis dazu treten die Aktivitäten der Erwachsenen in den Hintergrund. Sie erscheinen im Verhältnis zu denen des Kindes bruchstückhaft und in zufälligen Ausschnitten, nämlich insbe7

Für die Identifikation der von mir benannten Gegenstände, Verwandtschaftsbeziehungen etc. gilt grundsätzlich dasselbe wie für die Charakterisierung beobachteter Aktivitäten (vgl. vorherige Fußnote).

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sondere dann, wenn sie selbst in den auf das Kind gerichteten Fokus geraten. Dann fällt auf, dass es gegenüber dem Körper des Kindes und den von ihm berührten und ‚behandelten‘ Gegenständen eine große Anzahl unmittelbarer Eingriffe von Erwachsenen gibt. Der kindliche Körper selbst erscheint in dieser Perspektive als einer, der eher als Gegenstand denn als Sitz einer Person behandelt wird. Die Blickweisen des Kindes teilen diese Einschätzung. Sie erwarten auf die eigene Aktion Reaktionen der Erwachsenen. Der übergroße, kaum unter Kontrolle zu haltende Topf-Deckel in der Hand lenkt den kindlichen Blick zur Mutter (?) und erwartet deren Blick und Reaktion auf das Ergreifen dieses Deckels. Dies wiederholt sich mit unterschiedlichen Objekten und reicht von bloßem Wegnehmen über gestisches und sprachliches Drohen aus der Ferne bis zu unterstützendem Mitmachen. Das im Weglaufen fallende Kind wird registriert, es steht auf und läuft ohne weitere Kommentierungen und erwachsene Eingriffe weiter. Eine handreinigende Geste des Kindes nach Eingreifen der Erwachsenen zeigt uns etwas über das Verstehen des Kindes bei der Wegnahme eines schmutzigen(?) Papptellers. (Vielleicht auch dessen, was zu ihm zugleich gesagt wurde?) 4

Teilhabe am kamera-ethnografischen Blick

Der durchgehaltene und im Schnitt der Aufnahmen verdichtete Blickfokus (die in situ etablierte Blickschneise) realisiert einen ethnologischen analytischen Blick. Anders als die anderen Personen, die Teil der präsentierten Beobachtungssituation sind, etablieren Pip Hare (als Kamerafrau) und das Forscherinnenteam eine kameraethnographische Perspektive, die nicht ‚vom Kinde aus‘, sondern von den geduldigen Beobachtungen des kindlichen Tuns aus einen eigenen Blick konstituiert (siehe Mohn 2013, S. 186). In der Verdichtung des Beobachteten entsteht erst die spezifische Sichtbarkeit dieses kindlichen Tuns. Wo ich bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung einen überwiegend leeren Raum sehe, wird er durch die realisierte Blickführung zu einem mit – durch das Kind zu erforschenden – Dingen angefüllten Universum. Das vorgefundene Setting dieser Gemeindeversammlung indischer Frauen eröffnet in technischer und sozialer Hinsicht die Chance zu einer solchen entdeckenden kameraethnographischen Vorgehensweise. Kameraethnographisches Ins-Bild-setzen erlaubt uns als Zuschauenden, an der spezifischen Situationserfahrung der Kamerafrau teilzuhaben. Ihr ‚sich-einBild-machen‘ wirkt in mehreren Hinsichten. Bei oberflächlicher Betrachtung mag es wie ein durch die Kamera ermöglichtes Blickfenster auf vergangenes Geschehen erscheinen, das uns als Zuschauende unmittelbar Zeugnis des ‚damals‘ Geschehenen ablegen ließe. Die von mir angefertigte Beschreibung setzte genau darauf: das Sichtbare als Grundlage für mein naturalisierendes Beschreiben zu nehmen. Wenn ich (be-)schreibe: „Zwei auf eine Plastik-Wasserflasche gestülpte

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Plastikbecher finden die Aufmerksamkeit des Kindes. Becher und Flasche werden zu Objekten, die mit Händen und Blicken manipuliert und inspiziert werden“, dann setze ich wiederum darauf, dass die Rezipierenden meines Textes die medientransformierende, zugleich hoch selektive Versprachlichungsoperation nachvollziehen können. Meine Leser*innen müssen meine Beschreibung als eine des für mich sichtbar Werdenden ratifizieren – oder auch nicht. Sie erhalten eine selektive Beschreibung, die beispielsweise weder die Handelsmarke des Wassers, die Größe der Flasche, ihre chemische Zusammensetzung noch die Füllhöhe zum Gegenstand machen. Am filmischen Produkt wirken andere selektive Entscheidungen gegenüber der bezeugten Situation und den dabei entstandenen Bildern. Sie sind verstehensorientiert, theoriegeladen und konzeptgesteuert. 5

Theoriegeladene Sichtbarkeit

Das bezeugte Geschehen, dessen medienspezifische Fixierung in kameraethnographisch generierten Bildern und montierten Filmen, wie auch die auf deren Grundlage angefertigten Beschreibungen teilen epistemologische Gemeinsamkeiten. Das bezeugte Geschehen folgt einem lokal hervorgebrachten Verstehenszusammenhang, den wir entlang der im Material beobachtbaren Aktivitäten/Praktiken rekonstruieren können. Dabei setzen wir notwendigerweise auf prinzipielle Verständlichkeit oder im Sinne ethnomethodologischer Analyse: auf accountability. Nehmen wir das, was als Geste in Abb. 1b gezeigt/gedeutet wird. Meine Beschreibung spricht von einer ermahnenden Geste. Der Film zeigt eine Körperbewegung in einem sequenziellen und visuellen Zusammenhang mit einer Aktivität des beobachteten Kindes (das Aufheben eines größeren, schweren Gegenstandes). So einfach, offenkundig und sichtbar Zusammenhang und (Be-)Deutung hier sein mögen: sie bedürfen einerseits eines wechselseitigen Herstellens und Erkennens von Mutter und Kind, andererseits der Beobachtungskompetenzen der Kameraethnographin und des Interpreten ihres Produktes. a.

Das Kind und die Mutter. Kind und Mutter sind darauf angewiesen, dass sie wechselseitig das verstehen und interpretieren, d.h. hervorbringen, was sie beide in koordinierter Weise tun. Dabei handelt es sich um eine leiblich und sprachlich mediatisierte Praxis: das Hochheben des in der Ecke liegenden Gegenstandes durch das Kind, der Blick zur Mutter, die Geste und der Zuruf, die Reaktion des Kindes, die weitere ermahnende und zugleich körperliche Handlung androhende Geste, die Zuwendung des Kindes (zum Körper der/ oder) zur Mutter. Beides verweist auf eine zeitliche Kontextierung dieses hervorgehobenen Ereignisses.

238 b.

c.

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Kamerafrau und Kamera. Die situierten Beobachtungen orientieren sich an einer durch das Kind spontan hervorgebrachten Handlungssequenz. Die Beobachtung setzt eine Selektion und Fokussierung auf das Kind und seine Aktivitäten in Gang. Deren Beobachtbarkeit wird fortlaufend aktiv hergestellt und umgekehrt zur Herstellung situierter Sichtbarkeit eines bezeugten Geschehens genutzt. Diese Praxis gerinnt zur Abfolge von kameratechnisch inszenierten und technisch fixierten Sequenzen. Situativ wird das Gesehene als zu Zeigendes und als Zeigbares gemeinsam mit den Anwesenden in eine neue mediale Form gebracht. Schließlich wird es weiter aufgearbeitet und in einen inhaltlichkonzeptuell begründeten Forschungszusammenhang eingebettet. Dieser erhält eine Bezeichnung, die die Rezeption rahmt: All diese Dinge. Film und Rezipient. Für die Rezipierenden stehen diese zwei ex post aufeinander bezogenen Darstellungen der Akteure und des kameraethnographischen Produkts zur Verfügung. Sie können beide genutzt werden, um eigenes Verstehen und weitere, eigene Beobachtungen zu generieren. Der Film zeigt in reflexiver Weise das Sichtbare und seine Weisen des Zeigens, er gibt eine sequenziell fixierte Lesart des Bezeugten und einen Zusammenhang des Entdeckten, nämlich den Handlungsstrang des Kindes, vor. Erst durch diese Vorgabe – man könnte sie wie die Forscherinnen als Resultat ihrer Autorenschaft bezeichnen – werden die damit verknüpften Implikationen wiederum durch die Rezipierenden zugänglich und diskutabel.

Die epistemologische Gemeinsamkeit dieser drei Sichtbarkeits- und Zeigeebenen ist deren konzeptuelle bzw. theoriebedingte Entstehung. Auf jeder Ebene gilt, dass die Sichtbarkeit der jeweils ‚behandelten‘ Phänomene nicht vorausgesetzt werden kann, sondern das Resultat unterschiedlicher medialer Hervorbringungsleistungen ist (vgl. Mohn 2019, S. 4). Es ist gerade nicht so, dass man ‚eigentlich‘ etwas sehen kann, was ohnehin ‚da‘ wäre, vorausgesetzt, man ließe entsprechende Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Geduld walten. Durch die kameraethnographische Praxis entstehen vielmehr eigene, neue Bilder, deren Verweisungszusammenhang – in unserem Fall – in ihrem akademischen Gebrauch liegt. Aus diesem Gebrauch heraus kann erst ihre spezifische Qualität beschrieben werden. 6

Durch-Blick8

Ein großzügiges, an drei Seiten mit Sitzmöbeln bestücktes Wohnzimmer. An der vierten Wand ein großes Display mit einem laufenden Animationsfilm für Vor8

In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf den rechten der nebeneinander gezeigten Filme des in Fußnote 4 beschriebenen Diptychons All diese Dinge.

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schulkinder, Peppa Pig, weltweit in mehr als 30 Sprachen vertriebenes, britisches Medienprodukt. Neben dem fokussierten Kleinkind erkennen wir noch zwei, zeitweise drei weitere Personen im Raum. Raum und Personen erscheinen allerdings eher als äußerliche Staffage eines Geschehens, das anderswo stattfindet. Das Kind sitzt gegenüber dem großen Display auf einem Sofa und beschäftigt sich alleine mit einem Smartphone. Ein kurzer Blick zwischendurch zum Fernsehdisplay, mehrere Blicke zur beobachtenden Kamera, das Smartphone bleibt in der Hand und in seiner Aufmerksamkeit. Auf dem Display wird berührt, gedrückt, geschoben (Abb. 3a). Die Kamerafrau bleibt in seinem Blick (Abb. 3b). Das Kind bewegt sich entlang des Sofas, wechselt seine Position, nimmt Blickkontakt mit einer anwesenden, älteren Frau (Oma?) auf. Landet schließlich vor dem Sofa mit durchgestreckten Beinen, die Knie an das Sofa anlehnend und legt das Smartphone weiterspielend auf der Sitzfläche ab. Das Gesicht ganz nah vor dem Smartphone, die Hände mit abgespreizten Fingern, mit denen abwechselnd bewegte Objekte auf dem Display manipuliert werden. Blick und Hände zeigen uns ein konzentriertes Geschehen im virtuellen Raum eines Videospiels. Der reale Raum der körperlichen Anwesenheit bleibt ausgeblendet. „YOU ARE DEAD“ lautet eine zwischendurch aufleuchtende Schrift im Display.

Abbildungen 3a und 3b: Videostandbilder: Pip Hare (2017) Das Kind versteht es, das Spiel neu zu initiieren und sich weiter in der dort gezeigten virtuellen Welt zu bewegen. Komplexere Abfolgen von unterschiedlichen Berührungen des Displays werden anscheinend in großer Routine bewältigt. Der analoge Körper macht sich nebenher bemerkbar: Füße kippeln in Schuhen, das (müde?) Auge wird gewischt. Eine ernsthafte Konzentration bleibt erhalten. Über die Schulter des Kindes blickend sehen wir, was es sieht und tut. Eine erwachsene Figur, die erkennbar durch die gezielten Bewegungen des Kindes gesteuert wird, durch virtuelle Straßen laufend, an Hindernissen vorbei. Das Kind beherrscht mindestens Teile des Spiels und kann gezielt Variationen einbauen, indem es auf zugehörige Steuer-Menüebenen wechselt.

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Ein weiterer Blick in das Wohnzimmer zeigt nun eine weitere Person im Raum, die sich für Peppa Pig interessiert. Das Kind ist dem Fernsehdisplay mit dem Rücken zugewandt. Die realen Personen verteilen sich auf drei Sitzmöbel an den Seiten des Wohnzimmers (Abb. 4a).

Abbildungen 4a und 4b: Videostandbilder: Pip Hare (2017) Zwischendurch verlässt das Smartphone den Raum und wir sehen im Hintergrund eine Person (Mutter?) damit telefonieren. Danach erhält das Kind es kommentarlos wieder zurück. In der nächsten Phase der Beobachtung erscheint das Kind z.T. von dem weiter laufenden Animationsfilm angezogen und aufgefordert sich mit tanzenden Bewegungen der älteren Frau zuzuwenden. Schließlich kommt es zu einer erneuten, konzentrierten Spielsequenz am Smartphone, die über den ‚Spieltod‘ (Abb. 4b) hinaus fortgesetzt wird. 7

Juxtaposition und visuelles Argumentieren

Die präsentierte räumlich-visuelle Annäherung und zufallsgesteuerte Parallelisierung beider filmischen Produkte aus Beobachtungen von Kindern in Indien zwingen uns als Rezipierenden ein fortgesetztes Vergleichen, das Bemerken von Differenzen und Ähnlichkeiten auf. Ich will mich auf die kurze Erläuterung von drei forschungsstrategisch möglicherweise relevanten Ähnlichkeiten beschränken. a)

Der eigene Blick

Wie am ersten Film bereits beschrieben, ist auch beim zweiten Filmbeispiel, das in der Ausstellung den anderen Teil des Diptychons bildet, die konsequente Verfolgung des kindlichen Handlungsgeschehens strukturierendes und stilbildendes kameraethnographisches Prinzip. Erst durch diese Forschungsstrategie des eigenen Blicks entsteht jenseits davon das Bild einer eigenen Handlungsagenda des jeweiligen Kindes.

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b)

Frühe Autonomie

Beide Beobachtungsbeispiele vermitteln wichtige Einsichten in Momente autonomen Handelns von Kleinkindern. Verbieten wir uns zunächst das Aufkeimen pädagogisch-moralischer Urteile über die beobachtbare (vermeintliche) ‚Vernachlässigung‘ der beobachteten Kinder, dann können wir jeweils deren vielschichtige und fokussierte Aktivitäten erkennen und beschreiben. Ob es nun im ersten Beispiel etwa das mit Plastikbecher und Wasserflasche ‚experimentierende‘ Kind oder im zweiten das Handyspiel spielende ist: Beide explorieren in konzentrierter und offenkundig ‚lernender‘ Weise die Materialität ihrer Welten. Beide nutzen das ‚Zuhandensein des Zeugs‘ (Heidegger) als ihr Spielzeug. Ob sich die Qualitäten dieses Lernens/Forschens/Explorierens wesentlich unterscheiden und wenn ja, worin: Dies kann aufgrund dieser Beobachtungen nicht entschieden werden. c)

Abwesenheit des Pädagogischen

Gerade im Vergleich zu weiteren Beobachtungsstücken, wie sie die Autorinnen in ihrem Wordless Language Game hinterlegt haben, zeichnen sich die betrachteten Beispiele des Diptychons durch das Fehlen jeglicher (und mir geläufiger) pädagogischer Gestaltungsideen aus. Beiden Kindern wird erkennbar kein explizit auf sie zugeschnittenes Beschäftigungs-, Erfahrungs- oder Lernangebot gemacht. Dagegen partizipieren sie an den Dingen und Situationen, die ausschließlich für Erwachsene gemacht erscheinen.

Abbildung 5:

Videostandbild: Bina E. Mohn (2017)

So gilt in einer ersten vorläufigen Schlussfolgerung aus dem argumentativen, visuellen Präsentieren der Beispiele, dass der inhaltlich relevante und interessante Unterschied im Fall dieser versuchsweisen Juxtaposition gerade nicht in der erkennbaren An- beziehungsweise Abwesenheit digitaler Medien liegt. Er zeigt sich dagegen

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deutlich im Verhältnis dieser beiden Beobachtungen zu anderen, insbesondere den in bildungsbürgerlichen deutschen Mittelschichtfamilien durchgeführten. Letztere beobachten wir in den publizierten Filmstücken wiederholt in längeren Phasen des zugewandten elterlichen Bezugnehmens auf die Kinder als individualisierte Personen. Wir beobachten dabei, dass sie deren gezeigtes Verhalten häufig kommentierten und evaluieren. Dies sehen wir unabhängig von unterschiedlichen Medien, egal ob gemeinsam ein Buch gelesen oder mit Oma geskypt wird. Eltern/Erwachsene übernehmen hier erkennbar die Kontrolle und die Gestaltung des Interaktionsverlaufs, prägen ihre Vorstellungen von der Situationsgestaltung dem kindlichen Verhalten auf. Eine zweite Schlussfolgerung ist methodisch-medialer Natur. Die argumentative Kraft und Bedeutung kameraethnographischer Filme für die untersuchten sozialen Phänomene entfaltet sich durch die definierte und explizierte Autorschaft, durch hohe Selektivität, die ästhetische Komposition des Gezeigten sowie durch die klaren Fokussierungsleistungen in den Aufnahmen. Paradox formuliert: Ihre stark naturalisierende Impression9 auf die Rezipierenden ist – vergleichbar einem dichten (überzeugenden) ethnographischen Text – das Resultat einer in vielen Details durchkomponierten, audiovisuellen Konstruktion und eben keiner vermeintlich ‚objektivierten‘ Dokumentarisierung oder ‚Abbildung‘. Exkurs: Die Anbetung der Könige (1481) „Die Darstellung der Anbetung der Heiligen drei Könige ist ein traditionelles Sujet der christlichen Malerei. Das Besondere an der Komposition Leonardos ist vor allem der neuartige Aufbau. Zuvor wurden die Könige und Hirten in horizontaler Aufreihung nebeneinander angeordnet. Leonardo gruppiert die Figuren um die Madonna als Mittelpunkt herum. Die scheinbare Willkür der Verteilung findet einen Ausgleich in der strengen Dreieckskomposition, in der die Hauptfiguren eingebettet sind. Gesichter und Gebärden vermitteln eindrucksvoll die Wirklichkeit des Wunders, das sich ihren Augen darbietet“10. Zur religiösen und ästhetischen Bedeutung dieses unvollendeten Ölgemäldes Leonardo da Vincis kommt die für uns relevante Bedeutung ihrer technischen Kompositionsweise hinzu. Sie markiert den Übergang zur (zentral-)perspektivischen Konstruktion in der Renaissancemalerei. Deutlich wird dies an der dazu angefertigten Skizze, die diese Konstruktionsweise enthüllt. Mit deren geometrischem Vorgehen wird in der europäischen Malerei eine neue Weise der Sichtbarmachung, der künstlerischen Darstellung und des Zeigens – gerade auch von wohlbekannten Themen wie bei dieser Zeichnung 9 10

Ihre ‚zeigende‘ Qualität im Sinne der Forscherinnen. https://de.wikipedia.org/wiki/Anbetung_der_Könige_aus_dem_Morgenland_(Leonardo_da_Vin ci); (zuletzt aufgerufen 6.April 2020)

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etabliert.11 Diese Visualisierungstechnik potenziert das fokussierende Blick- und Körperarrangement der gezeigten Haupt- und Nebenakteure des Geschehens.12

Abbildung 6:

11 12 13

Die Anbetung der Könige: Leonardo da Vinci (1481)13

Die aktuelle Präsentation dieses Bildes in einer weltlichen Gemäldegalerie (Uffizien in Florenz) und nicht als Teil eines Altars in einem Sakralgebäude macht es zu einem kunsthistorischen Objekt und Gegenstand unserer Auseinandersetzung mit Kunst der beginnenden Moderne. Nur der Künstler selbst – die Kunsthistoriker gehen davon aus, dass sich Da Vinci in der rechten Figur im Vordergrund selbst dargestellt hat – wendet seinen Blick vom Geschehen ab. https://de.wikipedia.org/wiki/Anbetung_der_Könige_aus_dem_Morgenland_(Leonardo_da_ Vinci)#/media/Dat ei:Leonardo_da_Vinci_-_Adorazione_dei_Magi_-_Google_Art_Project.jpg (Gemeinfrei; zuletzt aufgerufen 6.April 2020)

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Abbildung 7:

Skizze zur Anbetung der Könige: Leonardo da Vinci (1481)14

Bei all dem steht kaum in Frage, dass es sich bei dieser Form der Darstellung, in deren Fokus Mutter (Maria) und Kleinkind (Christus) stehen, um eine in Kategorien des Ästhetischen und Religiösen zu beschreibende Darstellungsthematik handelt. Gleichwohl eröffnet sie uns eine Perspektive auf den Zusammenhang von medialen Konstruktionsweisen und Prinzipien der Herstellung von Sichtbarkeit. Darüber hinaus sehen wir eine an der Schwelle zur Moderne thematisierte, religiössymbolisch aufgeladene Darstellung von Mutter und Neugeborenem.15 8

Kinder- und Kindheitsbilder

Die Bilder in den hier ausgewählten Beispielfilmen und Installationen der Siegener Museumspräsentation verweisen auf ein – aus meiner individuellen Betrachterposition fernes – Kindsein in einem fremdartigen Lebenszusammenhang. Da wir das gezeigte, konkrete Kind nicht kennen und keinerlei alltagsweltliche Bezüge zu ihm haben, wird es in einer Ausstellung als museal Vorgeführtes und Gerahmtes not14 15

https://de.wikipedia.org/wiki/Anbetung_der_Könige_aus_dem_Morgenland_(Leonardo_da_ Vinci)#/media/Datei:Leonaredo,_studio_per_l'adorazione_dei_magi,_uffizi.jpg (gemeinfrei, zuletzt aufgerufen am 6. April 2020) Tatsächlich zeigt das Kind eine Zuwendungshaltung, die einem Neugeborenen nach heutigen Vorstellungen nicht möglich ist. Diese entwicklungsbiologische ‚Schwäche‘ des Bildes ist jedoch für seine Darstellungsqualität irrelevant.

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wendigerweise zu einem ‚Beispiel von oder für‘.16 Ein indisches Kind, ein weibliches Kind, ein zweijähriges Kind, ein ‚normales‘ Kind… Was es tut, wie es sich bewegt, was es zeigt bringt solche Eigenheiten und noch mehr hervor. Die Autorinnen geben uns über diese äußerlichen Merkmale im Programmheft Auskunft: „Beide Filme wurden von Pip Hare 2017 in Nordost Indien gedreht.“ Alles Weitere bedarf einer eigenen Bestimmung durch die Rezeption. Dabei werden folgende Bestimmungsmöglichkeiten eröffnet: a)

Kinder kommen vor

Das kameraethnographisch beobachtete Kind im ersten Film ist im Verhältnis zu den im Bild vorhandenen Erwachsenen durch diese nicht fokussiert. Blicke und Gesten sichern allerdings erkennbar seine gleichzeitige Anwesenheit am Ort eines ‚erwachsenen‘ Geschehens und regulieren sie, wenn es dessen selbsttätige Aktivitäten zu erfordern scheinen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die vorhandenen Gegenstände in die Aufmerksamkeit und die Hände des Kindes geraten. Während diese Momente für die Kamerafrau entscheidend für ihr Interesse am lokalen Geschehen sind, scheinen sie die übrigen Erwachsenen eher von dem sie interessierenden gemeinsamen Tun wegzuführen. Die Aufmerksamkeitszuwendung zum Kind erscheint als eine Unterbrechung des eigenen Tuns. Für das kindliche Tun führt es zu einer Art von Korrektur, Intervention oder einem Abbruch. Das Kind ist im Verhältnis zu den Aktivitäten der Erwachsenen da und kommt vor. Wir können mit guten Gründen vermuten, dass außer der beobachtenden Kamerafrau keine der übrigen anwesenden Personen daran interessiert war, die kontinuierlichen Aktivitäten des Kindes im Blick zu behalten, sie unter der Perspektive ihrer eigenständigen Qualitäten und individuellen wie gesellschaftlichen Relevanzen verstehen zu wollen. Zumindest finden wir in dem, was uns die Kamerafrau zeigt, keinerlei Hinweise darauf. Dies unterscheidet diese Beobachtung deutlich von anderen in der Ausstellung präsentierten. Dort fokussieren Erwachsene – in mit der Kamerabeobachtung vergleichbarer Intensität – das, was anwesende Kinder tun. Oder sie inszenieren darüber hinaus das gemeinsame Tun als erzieherisch-pädagogisches Setting, das sie über längere Zeiträume aktiv (mit-)gestalten. b)

Dinge, Menschen, Situationen

Der diskutierte kameraethnographische linke Teil der Zweikanal-Videoinstallation All diese Dinge gibt uns darüber hinaus Gelegenheit, über das Management und das realisierte Verhältnis von Gegenständen, Menschen und Situationen 16

So wie Da Vinci uns nicht ein ‚Abbild‘ der Mutter Gottes und ihres Kindes Jesus zeigt, sondern deren kunstvolle und ‚moderne‘ Darstellung.

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nachzudenken. Im Verhältnis der Gegenstände zu den Personen zeigen hier die Erwachsenen in unterschiedlicher Weise, dass es einerseits ‚ihre‘ Gegenstände sind (und nicht die des Kindes), diese andererseits ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Gebrauchsweisen implizieren. Zur Seite gelegte, schmutzige Pappteller sollen nicht mehr angefasst werden. Andere Dinge und Orte sind gefährlich für Kinder, wieder andere dürfen vorübergehend für ‚spielen‘ (um-)genutzt werden (Plastikbecher, Wasserflasche). Das Kind hat Plätze im Raum, die es nutzen darf, an anderen ist es ‚im Weg‘ und wird deplatziert. Gefährliche Orte (vor dem offenen Fenster) erfordern direkte Intervention. Das Kind erscheint zum Teil als ein zu bewachendes Objekt, an dem umstandslos körperlich-handgreifliche Manipulationen vollzogen werden dürfen: Dinge wegnehmen, geben, es selbst schieben, drehen heben, drücken usw. Im Verhältnis dazu stellt das Kind vielfach über Blicke Nachfragesituationen her, in denen es sich seiner ‚korrekten‘ oder ‚legitimen‘ Gebrauchsweisen der Gegenstände bei den Erwachsenen, insbesondere der Mutter, zu versichern scheint. In der kameraethnographisch verdichteten Sequenzierung erscheint der Handlungsablauf des Kindes gelegenheitsgetrieben. Die Agenda besteht darin, suchend und erforschend die unterschiedlichsten im Raum verteilten Objekte anzusteuern und meist so lange zu be’handeln‘, bis eine erwachsene Intervention stattfindet oder etwas anderes in seinen Blick gerät. c)

Kinderbilder

Mit diesen – interpretierenden – Beschreibungen meiner Rezeption liegt ein Vergleich zu dem nahe, was wir als Bilder vom Kinde oder als unsere Erwartungen an kindliches Verhalten und die Alltäglichkeit des Erlebens und Tuns von Kindern benennen können. Während die Anbetung der Könige uns kaum zu einer Verbindung zu realen Müttern und ihren Neugeborenen anregen mag (wann klopfen schon echte Könige an unsere Wohnungstür und wollen Geschenke für das Neugeborene vorbeibringen?), lädt jedes in der Ausstellung gezeigte Filmstück zu eben solchen Vergleichen ein. Im ersten Rezeptionsbeispiel ist nichts von frühe Kindheit digital zu sehen – außer in der Weise, wie diese Bilder zustande kamen und uns zugänglich gemacht wurden. Allerdings wird es gerade im inszenierten Kontrast des Diptychons in einen Verweisungszusammenhang gebracht, der informativ und instruktiv wirkt. Die beide Male durchgängig inszenierte/erlebbare ‚Beiläufigkeit‘ des im Fokus stehenden Kindes im Verhältnis zu seiner sozialen Umgebung lenkt unseren Blick auf die Eigensinnigkeit ihrer Personen. Damit verweisen beide Beispiele auf einen methodischen Eigensinn: Kinder und Kindheit audiovisuell zu ihrem eigenen Recht kommen zu lassen – auch gegen eine mögliche andere Rahmung durch das Beobachtungsfeld und seine Akteure. Hinter diesem methodischen Eigensinn verbergen sich sowohl ein theoretisch begründetes

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Bild vom Kind als auch ein methodologisch formiertes Vorgehen bei dessen Herstellung als audiovisuelles Erkenntnisobjekt.17 d)

Pädagogisches Kinderbild und Digitalität

„Die jungen Menschen wachsen heute in einer digitalisierten Welt auf und müssen den richtigen Umgang mit Smartphones lernen“ (Abb. 8). Feststellungen wie diese dominieren nach wie vor die aktuellen pädagogischen wie gesellschaftlichen Debatten18. Mehr oder weniger gut gemeinte Ratschläge und Ratgeber finden sich zuhauf. Das Siegener Forschungsprojekt geht erklärtermaßen einen anderen Weg. Es stellt die neugierige Frage, wie kleine Kinder in Familien aufwachsen, in denen die Digitalität angekommen ist. Und darüber hinaus, wie sich das entwickelt und verändert, was wir pädagogisch und allgemein sozialwissenschaftlich als Familienleben oder -alltag beschreiben können.

Abbildung 8:

17 18 19

Denn zu viel Daddeln – so eine neue Studie – kann krank machen. Screenshot19

Für dieses Vorgehen muss die Person des Kindes individualisiert, seine Aktivitäten dementsprechend als individuell bedeutsame begriffen werden. Erstaunlicherweise fühlen sich gerade Mediziner berufen, aus ihren selektiven Erfahrungen gesellschaftspolitische und pädagogische Maximen zu formulieren (vgl. etwa Spitzer). Screenshot https://www.t-online.de/digital/smartphone/id_81303476/smartphones-koennen-kinderkrank-machen.html zuletzt aufgerufen am 6.4.2020.

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Dass sowohl Smartphones überall intensiv genutzt werden, als auch die digitale Transformation des Alltäglichen bereits ubiquitär stattgefunden hat: das wird klugerweise als Voraussetzung zum forschungserfolgreichen Umgang mit diesen Wie-Fragen gesehen (vgl. Wiesemann und Fürtig 2018). Die bislang präsentierten kamera-ethnographischen Produktionen zeigen in überzeugender und teils überraschender Weise auf, wie vielfältig (junge) Kinder und ihre erwachsenen Bezugspersonen die – aus dem Blickwinkel älterer Erwachsener – neuen Medien und ihr Potential gebrauchen und als normale familiale Praktiken etablieren. 9

Fazit

Nicht nur Eltern haben ein schier unzerstörbares Bild von natürlicher Kindheit als einer Lebensphase, in der sich Kinder so entwickeln können sollten, wie es ‚ihrer Natur‘ entspricht. In diesem Bild hat – trotz einer über 100-jährigen Industrialisierungs- und Technikgeschichte – die Beschäftigung mit technischen Phänomenen meist gar keinen Platz. Allein schon die Vorstellung, dass sich Kleinkinder mehr und ausdauernder für ein flimmerndes Display als für eine blühende Wiese interessieren könnten, erregt Unbehagen und Ängste vor dauerhafter Deformation. Unser Kinderbild ist scheinbar unerschütterlich besetzt mit Assoziationen von Natur, Wachstum und Pflege. In gängigen frühpädagogischen Konzepten wird dem gesunden Verhältnis von Kind und Natur breiter Raum gegeben. Die Direktheit kindlicher Naturerfahrungen wird als unabdingbar für eine gesunde Entwicklung betrachtet. Erziehungsberater*innen formulieren dies u.a. so: „Natur tut Kindern gut. Kinder brauchen auch die Natur! Sie brauchen echte Naturerlebnisse, das draußen Spielen. Es ist unverzichtbar, um seine seelischen, körperlichen und geistigen Potentiale so entfalten zu können, dass man sich zu einem erfüllten Menschen entwickeln kann“ 20. Die exemplarischen Matscherfahrungen, die blühende Wiese, das Bachufer, die zu bekletternden Bäume: Die Nähe zu einer (biologisch verstandenen) Natur ‚da Draußen‘ sichert die Gesundheit kindlicher Entwicklung und Erfahrung. Die Bilder und Töne der Ausstellung sind nahezu frei davon. Sie zeigen Kinder und Erwachsene in Innenräumen und in unterschiedlichen Arrangements technisch-kulturell geprägter Objekte. Sitzmöbel, Arbeitsplätze, Fußböden. Erwachsene mit Kleinkindern hantieren mit Smartphones, begreifen sie, nehmen unterschiedlichste Objekte in prüfenden Gebrauch. Kinder bearbeiten Smartphones und mit Smartphones ihre Beziehungen zueinander. Bücher werden zusammen mit Erwachsenen betrachtet, besprochen und begriffen. Gespeicherte Videoaufnahmen

20

https://baerenstark-im-leben.com/2018/01/10/kinder-fuer-die-natur-begeistern-experteninterview/.

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bieten Gelegenheit, gemeinsam Erlebtes noch einmal zu betrachten und zu reflektieren. Natürliche Kindheit ist eine überkommene gesellschaftliche Fiktion, die einem nüchternen, empirischen Blick nirgendwo standhält. Die Unterstellung, dass es ‚eigentlich‘ ein natürliches Kind gäbe, wenn man in seiner Sozialisation nur bestimmte Vorkehrungen treffen würde, platziert junge Menschen sozial eher in die Nähe von Haustieren, deren natürliche Bedürfnisse von ihnen gefordert und durch ihre Besitzer zu befriedigen wären. Die Allgegenwärtigkeit technischer Medialität macht nun erstmals den Blick frei für eine empirische wie theoretische Neubetrachtung des Wechselverhältnisses von Kindheit und Gesellschaft. Aus den im Projekt erarbeiteten Visualisierungen von Kindern kann ein neues gesellschaftliches und erziehungswissenschaftliches Kinderbild entstehen (Wiesemann, pers. Mitteilung). Literatur Amann, Klaus und Stefan Hirschauer. 1997. Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, hrsg. von Stefan Hirschauer und Klaus Amann, 7–52. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kelle, Helga (Hrsg). 2010. Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik. Opladen: Barbara Budrich Verlag Mohn, Bina E.. 2019. Kamera-Ethnographie. Schauen, Sehen und Wissen filmisch gestalten. In Handbuch Filmsoziologie, hrsg. von Alexander Geimer, Carsten Heinze und Rainer Winter. Wiesbaden: Springer Reference Sozialwissenschaften. doi:10.1007/978-3-658-10947-9_69-2. Mohn, Bina E.. 2013. Differenzen zeigender Ethnographie. Blickschneisen und Schnittstellen der Kamera-Ethnographie. In Themenheft Visuelle Soziologie. Soziale Welt 1 (2) 2013, hrsg. von Bernt Schnettler und Alejandro Baer. 171– 189. Nomos. Spitzer, Manfred. 2014. Digitale Demenz. München: Droemer. Spitzer, Manfred. 2019. Die Smartphone Epidemie. Stuttgart: Klett-Cotta. Wiesemann, Jutta und Inka Fürtig. 2018. Kindheit zwischen Smartphone und pädagogischem Schulalltag. In Institutionalisierungen von Kindheit. Childhood studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft, hrsg. von T. Betz et al., Reihe Kindheiten – Neue Folge: 196-212. Weinheim/München: Beltz Juventa.

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Verzeichnis der Filme und Installationen Hare, Pip, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018. Filme: Pip Hare. All diese Dinge (Zweikanal Videoinstallation mit versetzten Loops. 10:03 Min. & 6:05 Min.) In Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019). Mohn, Bina E., Pip Hare und Astrid Vogelpohl. 2018. Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital. (Interaktive Sortierung auf Tablets). In Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019). Wiesemann, Jutta, Pip Hare, Bina E. Mohn und Astrid Vogelpohl. 2018–2019. Ausstellung “Das bist du!” Frühe Kindheit digital. Siegerlandmuseum, Siegen (September 2018–Januar 2019).

Autorinnen und Autoren

Dr. Klaus Amann. Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Soziologie, Kultursoziologie, Ethnographie. [email protected] Dr. Clemens Eisenmann. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB-1187: „Medien der Kooperation“, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Soziologie des Körpers, Digitalisierung, Interaktionssoziologie und qualitative Methoden. [email protected] Dipl-Soz. Inka Fürtig. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: ethnographische Kindheits- und Familienforschung, Bildung und Lernen in der frühen Kindheit, digitale Medien im Familienalltag. [email protected] Yumei Gan, MA. Doktorandin in der Forschungsgruppe „Video Analysis, Science, and Technology“ (VAST), Fachbereich Soziologie, The Chinese University of Hong Kong. Forschungsschwerpunkte: Videoanalyse, Videovermittelte Kommunikation (VMC) und Interaktionssoziologie. [email protected] Prof. Dr. Christian Greiffenhagen. Associate Professor für Soziologie, The Chinese University of Hong Kong, Leiter der Forschungsgruppe „Video Analysis, Science, and Technology“ (VAST). Forschungsschwerpunkte: Ethnomethodologie und Konversationsanalyse (EMCA), Wissenschafts- und Technikforschung (STS), MenschComputer-Interaktion (HCI). [email protected] Pip Hare, M.A. Visuelle Anthropologie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, SFB Medien der Kooperation, Universität Siegen. Forschungsinteressen: Visuelle Anthropologie, Kamera-Ethnographie, Medien und Globalisierung, Postkoloniale Theorien. Philippa.hare@uni-siegen-de Mag.a Ursina Jaeger. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Allgemeine Pädagogik, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Migration und Schule, transnationale Kindheit(en), Zugehörigkeit, Ethnografie. [email protected]

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Wiesemann et al. (Hrsg.), Digitale Kindheiten, Medien der Kooperation – Media of Cooperation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31725-6

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Dominik Krinninger. Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Kindheits- und Familienforschung, Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Erziehung und Bildung in der Familie, Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, insb. Erziehungswissenschaftliche Ethnographie. dominik.krinninger@uni-osnabrück.de J.-Prof. Dr. Jochen Lange. Juniorprofessor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Mediendidaktik und Unterrichtsforschung, Abteilung Grundschulpädagogik, Pädagogische Hochschule Freiburg. Forschungsschwerpunkte: ethnographische Unterrichts- und Lernforschung, Kindheitsforschung, Materialität, Medien und Digitalisierung. [email protected] Prof. Dr. Christian Licoppe. Professor für Soziologie, Fakultät für Sozialwissenschaften, Telecom ParisTech, Universität Paris-Saclay. Forschungsschwerpunkte: Ethnomethodologie und Konversationsanalyse (EM/CA), medienvermittelte Interaktion, Video-Ethnographie. [email protected] Dr. Bina Elisabeth Mohn. Zentrum für Kamera-Ethnographie (Berlin). Wissenschaftliche Mitarbeiterin, SFB Medien der Kooperation, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Ethnographie und Medien, Kamera-Ethnographie, performatives Wissen, situierte Methodologie, frühe Kindheits- und Unterrichtsforschung, Laborstudien. [email protected] Dipl. Kult.-Päd. Astrid Vogelpohl. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkt: Kameraethnographische Familienforschung, frühe Kindheit und Smartphone. [email protected] Prof. Dr. Jutta Wiesemann. Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grund- und Vorschulpädagogik, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Unterrichts- und Lernforschung; Ethnographie, Digitalisierung und Mediengebrauch in Kindheit und Schule. [email protected]